I
I
PSYCHIATRIE
Ein kurzes Lehrbuch
für
Studirende und Aerzte
von
Dr. Emil Kraepelin
Professor in Heidelberg
Tierte, vollständig- umgearbeitete Auflage
Leipzig-
Verlag von Ambr. Abel (Arthur Meiner)
1893
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Druck von Otto Dttrr, Leipzig.
Dem Andenken
Bernhard von Guddens
gewidmet.
Yorwort zur vierten Auflage.
Seitdem mich ein freundliches Greschick in das Yaterland zurück-
geführt hat, war es mir vergönnt, unter günstigeren Bedingungen,
als je zuvor, meine ganze Aufmerksamkeit der Sammlung von klini-
schen Beobachtungen zuzuwenden. Die Folge davon ist eine weit-
gehende Umgestaltung des vorliegenden Buches gewesen. Nament-
lich der zweite Theil desselben wurde trotz Beibehaltung der früheren
Gesammtanordnung fast vollständig neu geschrieben. Mein Bestreben
bei dieser Arbeit war die Erreichung möglichster Naturwahrheit.
Den einzelnen Darstellungen liegen überall so zahlreiche Kranken-
geschichten zu Grunde, dass ich glaube, jeden Satz, soweit nichts
Anderes angegeben ist, durch eigene Erfahrung belegen zu können.
In dieser persönlichen Färbung, deren EinheitHchkeit absichtlich
nicht durch Herbeiziehen zahlreicher Literaturangaben gestört wurde,
liegt die Eigenart des Buches. In ihr liegen naturgemäss auch seine
Schwächen. HoffentHch beeinträchtigen sie nicht allzusehr die Er-
füllung der Aufgabe, welcher diese Arbeit dienen soll, der Yer-
breitimg ärztiicher Kenntnisse auf einem Gebiete, dessen gewaltige
praktische Bedeutung jeder Tag eindringlicher verkündet.
Heidelberg, den 14. September 1898.
E. Kraepelin.
InMtsverzeiclmiss.
Einleitung
Lehrbücher der Psychiatrie
Die allgemeine Pathologie und Therapie des Irreseins.
I. Allgemeine Aetiologie
A. Aeussere Ursachen
1. Körperliche Ursachen
Hirnkrankheiten
Hyperaemie — Anaemie — Stauung — Traumen — Localisation
der psychischen Störungen.
Nervenkrankheiten
Periphere Nervenkrankheiten (Eeflexpsychosen) — Allgemeine
Neurosen.
Allgemeine Erkrankungen
Acute Infectionskrankheiten (Fieber, Erschöpfung) — Chronische
Ernährungsstörungen — Chronische Infectionskrankheiten
(Syphilis, Ergotismus, Pellagra).
Vergiftungen
Stoffwechselproducte — Giftige Gase — Alkohol — Morphium —
Cocain — Andere giftige Genussmittel — Blei; Quecksilber.
Organerkrankungen
Sinnesorgane (Ohren, Augen) — Lungenaffectionen — Herz-
leiden — Schilddrüsenerkrankungen — Erkrankungen des
Verdauungstractus — Nierenleiden — Genitalerkrankungen
(Ausschweifungen, Onanie, Enthaltsamkeit, Menstruations-
störungen, Erauenkraukheiten).
Schwangerschaft, Wochenbett und Säugegeschäft
I
Vni InhaltsverzeichnisB.
Soite
2. Psychische Ursachen 37
Psychische Ansteckung 38
Epidemien — Zwülingsirresein — Irresein nach hypnotischen
Versuchen.
Gemiithsbewegungen 40
Acute und chronische Affecte.
Gefangenschaft 42
Krieg 43
Ueberanstrengung 43
Eohe und wahre Ursachen 45
B. Innere Ursachen (Praedisposition) 47
1. Allgemeine Praedisposition 48
Lebensalter 48
Kinderpsychosen — Pubertätsentwickelung — Lebenshöhe —
Livolution — Greisenalter.
Geschlecht 54
Eace und Nationalität 56
Cultur 56
Beruf 57
Civilstand 58
Politische und religiöse Bewegungen 58
Eosmische Einflüsse 59
2. Individuelle Praedisposition 59
Erblichkeit 59
Entwickelungsstörungen 64
Erziehung 64
Grundlage der Praedisposition 66
II. Allgemeine Symptomatologie 69
Ä. Störwngen des Wahrnehmvmgsvorgcmges 70
Sinnestäuschungen 70
Elementare Trugwahrnehmungen — Perceptionsphantasmen
(Hallucination und Illusion) — Eeperception — Apperceptions-
phantasmen — Keflexhallucinationen — Gesichts-, Gehörs-,
Geruchs-, Geschmacks-, Gefühlstäuschungen.
Trübungen des Bewusstseins 85
Störungen der Auffassung 86
B. Störwigen der mtellectuellen Leistmigen 89
Störungen des Gedächtnisses 90
Erinnerungslosigkeit — Gedächtnissscliwäclie — Partielle Amne-
sie — Störungen der zeitlichen Localisation — Erinnerungs-
fälschungen.
InhaltsverzeichnisB. IX
Soite
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe ... 97
Associative und apperceptive Verbindungen — Erscliwert'e und
verschwommene Begriffsbildung. •
Störungen im Ablaufe der Vorstellungen 100
Verlangsamung und Beschleunigung der psychischen Functionen
— Zwangsvorstellungen — Ideenflucht — Verwirrtheit.
Störungen des ürtheils und der Schlussbildung 107
Wahnideen (hypochondrische, telepathische, Verfolgungswahn,
Versündigungswahn, Grössenwahn) — Entstehung der Wahn-
ideen — Localisation derselben.
Störungen des Selbstbewusstseins . . . ' 119
0. Stiyrwngm des Gefühlslebens 121
Störungen in der Stärke der Gefühle 121
Herabsetzung und Steigerung der gemüthlichen Erregbarkeit.
■ Qualitative Gefühlsstörungen 126
Psychische Hyperalgesie — Angst — Idiosynkrasien —
Euphorie — Ekstase.
D. Stönmgen des Handelns 131
Herabsetzung der Willensimpulse 131
Steigerung der Willensimpulse 134
Zwangshandlungen 135
Automatie und Stereotypie 137
Hypnose — Befehlsautomatie — Nachahmungsautomatie —
Negativismus — Zwangsbewegungen — Verbigeration.
Krankhafte Triebe 141
Conträre Sexualempfindung — Perversitäten des Geschlechts-
triebes — Monomanien.
Handlungen in Folge von Wahnideen und Gefühlsstörungen . . 143
Mimik — Sprache und Schrift — Beziehungen zur Eechtspflege.
ni. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins 148
Ä. Ve^-lauf des Irreseins 148
Beginn der Erkrankung 149
Höhe der Erkrankung 150
Reconvalescenz I53
B. Ausgänge des Irresems I55
Heilung I55
Unvollständige Heilung 158
Unheübarkeit Igl
Tod 162
C. Dauer des Irreseins 164
IV. Allgemeine Diagnostik 166
Ä. Unterstichungsmethoden 166
Anamnese 167
3^ InhaltsverzeichnisB.
Seite
169
Status praesens , •
• Körperliclie Untersuclaung - Psyeliisclier Zustand — Feinere
Untersuchungsmethoden (Aufmerksamkeit, Ermüdbarkeit, Ge-
dächtniss, UebuDgsfähigkeit, Zeitsinn, Schnelligkeit der
psychischen Functionen, Statistik der Associationen).
Beobachtung
Autopsie
183
B. Kriterien des Irresems •
Krankhafte Processe und Zustände — Grenzgebiete (Beschrankt-
heit, moralische Schwäche).
G. Simulation umd Dissimulation
V. Allgemeine Therapie
193
A. Prophylaxis • •
Heirathen Geisteskranker — Erziehung — Berufswahl — AU-
gemeine Prophylaxe.
B. Körperliche Behandlung
Arzneimittel
Narkotica (Opium, Morphium, Codein, Eschholtzia, Hyoscm,
Hyoscyamin, Duboisin, Haschisch, Piscidia, Boldin) .... 197
Schlafmittel (Chloralhydrat, Ghloralamid, Paraldehyd, Amylen-
hydrat, Sulfonal, Trional, Tetronal, Urethan, Ural, Hypnon,
Methylal, Alkohol) 201
Chloroform, Aether, Bromaethyl 206
Bromsalze
Amylnitrit, Digitalis, Cytisin, Cornutin ^Jjo
Blutentziehungen, Derivantien ^09
Physikalische Heilmethoden
Hydrotherapie — Kälte — Elektrotherapie — Massage.
Diätetische Massregeln
Ernährung — Mastcur — Beruhigung (Bettlagerung) — Iso-
lirung — Mechanische Beschränkung.
PI K
C. Psychische Behandlung
Allgemeine Regeln — Beschäftigung — Suggestion.
D. Behtmdlung eimzelner Symptome -'^'^
Psychische Erregung — Angst — Schlaflosigkeit — Selbst-
mordneigung — Zerstörungssucht — Unreinlichkeit — Mastur-
bation — Nahrungsverweigerung (künstliche Fütterung, Koch-
salzinfusion).
E. Die Irrenanstalt
Historisches — Wirkung der Anstalt — Verbringung in die
Anstalt — Stadtasyle (Wachabtheilung) — Colonien —
Famüiare Verpflegung — Entlassung aus der Anstalt.
Inlialtsverzeichniss.
XI
Saito
Die specielle Pathologie iiiul Therapie des Irreseins.
Die Eintheilung
der SeelenstöruDgeii 239
I. Die Delirien
Ä. Das Fieb&i-deliriwn
Grade der Störung — Grundlage derselben — Prognose — Be-
handlung.
B. Bas Intoodkationsäelirium 250
Vergiftungen durch Milcroorganismen (Initialdelirien) — Delirien
durch nicht organisirte Gifte.
II. Die acuten Erschöpfungszustände 254
A. Das Collapsdelirmm 254
Krantheitsbild — Dauer — Ausgang — Diagnose (Delirium
acutum) — Behandlung.
B. Die acute Verwiirtheit (Ämentia) 260
Meynert's Amentia — Asthenische Verwirrtheit — Verlauf —
Ursachen — Diagnose — Behandlung.
C. Die Dementia acuta 267
Manische und stuporöse Form — Verlauf — Ursachen — Patho-
logische Grundlage — Diagnose — Behandlung.
in. Die Manie 275
Krankheitsbüd — Leichtere und schwerere Formen — Grund-
lage der Krantheit — Abgrenzung (periodische Formen) —
Behandlung.
IV. Die Melancholie 288
.1. Mela/ncholia simplex 288
Krankheitsbild — Verlauf — Prognose — Ursachen — Grund-
lage der Krankheit — Diagnose — Behandlung.
B. Die Ängstmelancholie 304
Krankheitsbild — Verlauf — Ausgang — Grundlage der Krank-
heit — Diagnose — „Hypochondria gastrica" — Behandlung.
C. Mela/ncholia attonita 310
Krankheitsbild — Verlauf — Ausgang — Grundlage der Krank-
heit — Diagnose — Behandlung.
V. Der Wahnsinn ". 318
A. Der hallucinatorische Wahnsinn 319
a. Einfache Formen ....... 319
Vergiftungswahnsinn (acute und subacute Form) — Gefangenen-
wahnsinn.
XII
Inlialtsverzeichniss.
Seite.
b. Aengstlich-stuporöse Formen 326
c. Progressive Formen 331
d. Labile Formen 334
B. Der depressive Wahnsimn 340
Krankheitsbild — Verlauf — Prognose — Grundlage der Krank-
heit — Behandlimg.
VI. Die periodisclien Geistesstörungen 348
A. Deliriöse Formen 349
Krankheitsbild — Ursachen — Diagnose — Behandlung.
JB. Manische Formen 352
Formen mit kurzen Zwischenzeiten 353
Formen mit langen Zwischenzeiten 356
Typische Manie — Hypomanie — Manische Erregung mit Sinnes-
täuschungen und Wahnideen — Stupor.
G. Circuläre Formen 363
Depressives Stadium 363
Einfache Hemmung — Typische Melanchoüe — Deliriöse De-
pression.
Expansives Stadium 366
Typische Manie — Manischer Stupor — Hypomanie.
Continuirliche und discontinuirliche Formen 371
Ursachen — Grundlage der Krankheit — Prognose — Diagnose
— Behandlung.
D. Depressive Formen 379
Typische Melancholie — Depressiver Wahnsinn — Leichte
Verstimmung.
VII. Die Verrücktheit (Paranoia) 384
Definition der Krankheit.
A. Depressive Formen 386
Der hallucinatorische Verfolgungswahn 386
Der phantastische Verfolgungswahn 391
Hypochondrischer Verfolgungswahn — Sexueller Verfolgungswahn
— Eifersuchtswahn — Physikalischer Verfolgungswahn —
Besessenheitswahn.
Die hypochondrische Verrücktheit 400
Der combinatorische Verfolgungswahn 402
Der Querulantenwahn '. 407
B. Eocpansive Foi-men 410
Der hallucinatorische Grössenwahn 410
Der combinatorische Grössenwahn 416
Die erotische Verrücktheit.
Inhaltsverzeiphniss.
XIII
Seite
Verlauf der Verrücktheit 424
Verbindung mit periodischen Erregungszuständen — „Katatonische
Verrücktheit" — „Paranoia coinpleta".
Ursachen der Verrücktheit 428
„Originäre Verrückheit".
Prognose 430
Behandlung 432
Vm. Die psycMschen Entartungsprocesse 435
Ä. Die Dementia praecox 435
Leichte Formen — Schwere Formen (Hebephrenie).
JB. Die Katatonie 445
Krankheitsbild — Verlauf — Ausgang — Ursachen — Diagnose
— Behandlung.
C. Die Dementia para/noides 456
Depressive Formen — Expansive Formen.
IX. Die allgemeinen Neurosen 467
A. Das nmrastTienische Irresein 467
Erworbene Neurasthenie 467
Angeborene Neurasthenie 476
Constitutionelle psychische Depression — Zwangsvorstellungen
(Onomatomanie,Grübelsucht) — Zwangsbefürchtungen (Zweifel-
sucht, Berührungsfurcht, Platzangst, Kleiderangst) — Zwangs-
impulse.
Die traumatische Neurose (Schreckneurose) 487
B. Das hysterische Irresein 491
Hysterischer Charakter — Hypochondrie — Dämmerzustände
(Schlafanfälle, Nachtwandeln, Delirien, läppische Erregung)
— Depressionszustände — Wesen der Hysterie — Verlauf —
Prognose — Diagnose — Behandlung.
C. Das epileptische Irresein 507
Periodische Verstimmungen — Dämmerzustände — Prae- und
postepileptisches Irresein (Nachtwandeln, epileptischer Stupor,
acutes ängstliches Delirium, räsonnirendes Delirium) — Ur-
sachen — Prognose — Diagnose („Mania transitoria") — Be-
handlung.
X. Die chronischen Intoxikationen 526
A. Der Alkoholismus 526
Bausch — Pathologische Eauschzustände — Alkoholischer
Schwachsinn — Delirium tremens der Trinker — Hailucina-
torischer "Wahnsinn — Chronisches Delirium — Dipsomanie
— Eifersuchtswahn der Trinker — Alkoholparalyse.
XJY InhaltsverzeichnisB.
Seite
551
B. Der Morphinismus
Acute Morphiumwirkung - Chronische Vergiftung - Abstinenz-
svmptome — Behandlungsmethoden.
^ . . . 566
C. Der Cocamismus
Charakterveränderung — Cocainwahnsinn.
573
XI. Die Dementia paralytica
574
Psychische Symptome
Körperliche Symptome
Klinische Krankheitshilder ' ' k-u
Demente Form (weibliche, ascendirende Paralyse) • • • • "
Depressive Form (hypochondrische, ängstliche Paralyse) ■ ' '
Expansive Form (circuläre Paralyse)
Agitirte Form (galoppii'ende Paralyse)
Verlauf der Krankheit
Ausgang ' ' ' 614
Pathologische Anatomie . ■ "
Ursachen der Paralyse 622
Diagnose ■ .
Behandlung
XII. Die erworbenen Schwächezustände
Ä. Die Dementia senilis
Einfacher Altersblödsmn ^"^
Depressionszustände
Hypochondrische Formen - Melancholische Formen - Aengst-
liche Formen.
Manische Formen '
Deliriöse Formen .
B. Der Schwachsinn lei organischen Hirnerhranhungen ' ' ' '
Diffuse Erkrankungen ' " ' "j- ■
GMose der Hirnrinde - Diffuse Hirnsklerose - Lues hereditaria
tarda — Multiple Sklerose.
Localisirte Erkrankungen
Geschwülste - Abscesse - Blutungen - EmboHen, Thrombosen.
XIII. Die psychischen Entwickelungsanomalien ...... 646
Ä. Die Idiotie
Verschiedene Grade — Anergetische und erethische Formen —
Ursachen — Pathologische Anatomie — Diagnose - Behand-
lung.
B. Der Cretinismus ' '
Krankheitsbild — Ursachen und Wesen des Cretinismus — Be-
kämpfung desselben.
Inhaltsverzeichniss.
XV
Seite
0. Der a/ngeborene Schwaclmrm 661
Intellectueller Schwachsinn 661
Anergetische und erethische Formen.
Moralischer Schwachsinn 670
TJebergänge zum „gehorenen Verbrecher".
Emotiver Schwachsinn 673
Impulsiver Schwachsinn 675
Brandstiftungstrieb — Stehltrieb — Mordtrieb — Geschlechtliche
Veiirrungen (Sadismus, Masochismus, Fetischismus) — Mono-
manien, ,,Forza irresistibile".
Degeneratives Irresein, „Psychopathische Minderwerthigkeiten" . , 682
D. Die conin-äre Seooualempfimdwng 683
Krankheitsbild — Psychische Hermaphrodisie — Effeminatio,
Viraginität — Androgyne, Gynandrier — Verlauf — Häufig-
keit — Erkennung — Ursprung und Wesen des Zustandes —
Behandlung.
Eegister 693
Einleitung.
Psychiatrie ist die Lehre von den psychischen Krankheiten
lind deren Behandlung. Sie gehört dem Kreise der ärztlichen
Wissenschaften an und bedient sich wie diese letzteren bei ihren
Untersuchungen der Hillfsmittel und Methoden naturwissenschaft-
licher Forschung. Allein die Psychiatrie erhält gegenüber den an-
deren ärztlichen Disciplinen eine besondere Stellung durch den
Umstand, dass das Object ihres Studiums zum grossen Theile einem
durchaus eigenartigen G-ebiete der Lebenserscheinungen angehört,
dem Grebiete der sog. psychischen Vorgänge. Psychische Vor-
gänge, Vorstellungen, Gemüthsbewegungen, Willenserregungen spielen
sich als solche einzig in der inneren Erfahrung des einzelnen In-
dividuums ab; sie sind der objectiven Beobachtung nicht unmittel-
bar, sondern nur insoweit zugänglich, als man aus gewissen äusseren
Veränderungen, der Sprache, den Geberden, den Handlungen, auf
ihr Vonstattengelien schliessen kann. Dieser eigen thümliche Gegen-
satz zwischen innerer und äusserer Erfahrung, zwischen der Wahr-
nehmung von Zuständen des eigenen Innern und von Veränder-
ungen in der Aussenwelt, ist es, welcher zu einer principiellen
Abgrenzung der psychischen von den physischen Erscheinungen
geführt hat. Auf ihn stützt sich die landläufige dualistische Hypo-
these einer selbständigen, immateriellen, vom Körperlichen loslös-
baren Seele.
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass gerade diese Betracht-
ungsweise einer wissenschaftlichen Entwickelung der Psychiatiie
ausserordentlich hindernd im Wege gestanden hat, da sie das
Kraopelin, Psychiatrio. 4. Aufl. 1
2
Einleitung.
Forschimgsobject derselben aus dem Bereiche der Erfahrungswissen-
schaften in denjenigen der Speculation verpflanzte. Während schon
die Aerzte des Alterthums durch die ruhige Beobachtung auf den
nahen Zusammenhang zwischen körperlichen (insbesondere Gehirn-)
Erkrankungen mit dem Irresein aufmerksam geworden waren, ging
diese Erkenntniss bis in die neuere und neueste Zeit hinein fast
gänzlich in einer religiös -abergläubischen Auffassung der Geistes-
störungen unter. Erst gegen das Ende des 18. Jahrhunderts ver-
mochte die Medicin sich des verlorenen Forschungsgebietes erfolg-
reich wieder zu bemächtigen. Lange Kämpfe zwischen einseitig
psychologischen und sogar moralistischen Anschauungen einerseits,
exteem somatischen Begründungen des Irreseins andererseits führten
schliesslich in den letzten Jahrzehnten unter dem Einflüsse der
mächtigen Fortschritte in der Medicin zu einer „physiologischen"
Auffassung der psychischen Erscheinungen und Erkrankungen. Nach
ihr steht das Seelenleben, das man bis dahin meist als die Aeusser-
ungen eines selbständigen Wesens betrachtet hatte, in engster
physiologischer Abhängigkeit von gewissen körperüchen Vorgängen.
Die psychischen Erscheinungen sind nichts, als „Functionen" des
Gehirns; psychische Störungen sind diffiise Erkrankungen der Hirn-
rinde. Die Psychiatrie ist demnach nur ein besonders entwickelter
Zweig der Nervenpathologie, ihre Aufgabe die Pathologie der
Hirnrinde, eine möglichst genaue Kenntniss aller jener ki-ank-
haften Veränderungen in Form und Verrichtung, welche die ein-
zelnen Bestandtheile derselben unter irgend welchen Einflüssen
erleiden.
Allein es kann nicht energisch genug ausgesprochen werden,
dass die Erreichung dieses in neuester Zeit vielfach aufgestellten
Ideales der Erkenntniss zwar von unschätzbarem wissenschaftlichen
Werthe, aber durchaus nicht im Stande sein würde, uns wirklich
eine Lehre von den Geistesstörungen zu liefern. Dies wäre nur
dann der Fall, wenn das Gehirn die Vorstellungen, Gefühle u. s.w.
wirklich in ähnlicher Weise absonderte, wie „die Niere den Harn",
wenn somit eine genaue Kenntniss der Hirnmechanik ohne Weiteres
auch das Verständniss der psychischen Vorgänge in sich schliessen
würde. Niemand wird jedoch bestreiten Avollen, dass wir eine
<■ durchaus vollständige Anschauung von den feinsten molecularen Vor-
gängen im Gehirn haben könnten, ohne darum auch nur zu ahnen,
Einleitung.
3
dass wii' es in ilini mit dem Organe des Seelenlebens zu thun haben.
Der innere Zusammenhang zwischen cerebraleii und psychischen
Verrichtungen ist uns bisher physiologisch absolut unver-
ständlich; wir wissen in Wahi'heit nur dieses Einzige, dass er
überhaupt besteht und dass er allem Anscheine nach ein gesetz-
mässiger ist. Aus dieser unabweisbaren Ueberlegung ergiebt sich
mit JSTothweudigkeit die Forderung, das psychiatrische Forschungs-
gebiet von zwei verschiedenen Seiten her in Angriff zu nehmen,
indem man einmal die körperlichen Grrundlagen des krankhaften
Seelenlebens, dann aber die Erscheinungen dieses letzteren selbst
mit den Hülfsmitteln und Methoden der Erfahrungswissenschaften zu
Studiren sucht. Nur auf diesem Wege, durch die innige Ver-
knüpfung der Hirnpathologie mit der „Psychopathologie",
kann es gelingen, die Gesetze der Wechselbeziehungen zwischen
körperlichen und psychischen Störungen aufzufinden und somit zu
einem wirklichen, tieferen Verständnisse der Erscheinungen des
Irreseins vorzudringen.
Lehrbücher der Psychiatrie.
"W". Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten.
4. Aufl. 1876. Eine 5. Auflage ist 1892 von Levinstein- Schlegel
herausgegeben worden.
H. Schale, Klinische Psychiatrie (v. Ziemssen's Handbuch der Pathologie und
Therapie, XVI). 3. Auflage. 1886.
H. Emmi;nghaus, Allgemeine Psychopathologie zur Einführung in das Studium
der Geistesstörungen. 1878.
E. V. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie. 4. Auflage. 1890.
J. Salgo (Weiss), Compendium der Psychiatrie. 2. Auflage. 1889.
K. Arndt, Lehrbuch der Psychiatrie. 1883.
H. Neumann, Leitfaden der Psychiatrie für Mediciner und Juristen. 1883.
Th. Meynert, Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen dos Vorderhh-ns Erste
Hälfte. 1884.
J. L. A. Koch, Kurzgefasster Leitfaden der Psychiatrie. 2. Auflage. 1889.
Th. Meynert, Klinische Vorlesungen über Psychiatrie. 1890.
Th. Kirchhoff, Lehrbuch der Psychiatrie. 1892.
Fr. Scholz, Lehrbuch der Irrenheilkunde. 1892.
1*
4
Einleitung.
Aus der neueren französischen Literatur wären Mer etwa noch die grösseren
Werke von Dagonet (1876), Euys (1881), Ball (2. Aufl., 1890), Voisin (1883),
Eegis (2. Auflage, 1892), aus der englischen diejenigen von Maudsley (deutsch
von Böhm, 1870), Clouston (1887), Savage (deutsch von Knecht, 1887),
aus der amerikanischen dasjenige von Spitzka (1883) und Hammond (1883),
sowie aus der russischen dasjenige von Kowalewski (1887) zu erwähnen.
Die allgemeine Pathologie und Therapie
des Irreseins.
I. Allgemeine Aetiologie.
Für die vollständige Erkeuntniss des Yorganges der psychischen
Erkrankung ist das Studium von drei verschiedenen Eactoren noth-
wendig, nämlich der äusseren Ursachen, welche denselben veran-
lassen, des inneren Zustandes der Persönlichkeit, auf welche die-
selben einwirken, und endlich der Erscheinungen, welche sich als
die nothwendige Folge aus dem Zusammenwirken jener ersten beiden
Momente herausentwickeln.
Der zunächst vorKegende Stoff würde sich demnach in drei
Hauptabschnitte gliedern lassen, von denen der erste die äusseren
Veranlassungen, der zweite die inneren Ursachen und der
dritte die Erscheinungen des Irreseins umfasste. Aus prak-
tischen Gründen indessen pflegt man zumeist die beiden erst-
genannten Gebiete als allgemeine Aetiologie zusammenzufassen
imd dieselbe dem dritten, der allgemeinen Symptomatologie
der Geistesstörungen, gegenüberzustellen.
Das gegenseitige Yerhältniss der äusseren zu den inneren Ur-
sachen ist bei dem Zustandekommen der psychischen Störungen ein
ausserordentlich wechselndes, so zwar, dass sie einander gewisser-
massen ergänzen. Je weniger ein Mensch zu Geisteskrankheiten
veranlagt ist, lun so stärker muss der Eeiz sein, der sein psychisches
Gleichgewicht erschüttert, und umgekehrt giebt es Psychosen, die
sich schon unter dem Einflüsse der kleinen Kelze des täglichen
Lebens entwickeln, weil die Widerstandsfähigkeit des Individuums
zu gering ist, um selbst diese ohne tiefere krankhafte Störung er-
tragen zu können.
6
I. Allgemeine Aetiologie.
A. Aeussere TJrsaclieu.
Die grosse Klasse der äusserea Ursachen des Irreseins pflegt
man weiter in die beiden Gruppen der körperlichen und der
psychischen Ursachen auseinander zu trennen. Natüiiich hat
eine derartige Scheidung keine tiefere theoretische, sondern lediglich
classificatorische Bedeutung, da nach den überall festzuhaltenden
G-rundanschauungen jede Beeinträchtigung der psychischen Er-
scheinungen durchaus von einer Störung im Ablaufe der körperlichen
Yorgänge begleitet werden muss.
1. Körperliche Ursachen.
Hirnkrankheiteii. Unter den körperlichen Ursachen sind die
nächstliegenden jene Störimgen, die unmittelbar das Centraiorgan
unseres Bewusstseins, die Hirnrinde, betreffen.*) Genau genommen
müssen wir sogar sagen, dass sie die einzigen wirklichen Ursachen
sind, da höchst wahrscheinlich die letzte Grundlage aller Formen
des Irreseins ohne Ausnahme in krankhaften Yorgängen oder Zu-
ständen der Rinde des Grosshirns zu suchen ist. Yon einer ein-
gehenden Kenntniss jener feineren Hirnpathologie sind wir freilich
heute noch so weit entfernt, dass diese letztere vor der Hand mehr
eine nothwendige Annahme, als eine wissenschaftliche Thatsache
genannt werden muss. Unter den uns bisher bekannten Cerebral-
erkrankungen verlaufen jedoch in der That zumeist diejenigen mit
psychischen Erscheinungen, welche entweder gerade in der Einde
ihren Sitz haben, oder welche doch dui'ch Erhöhung des Hirndruckes,
Störungen der Blutvertheilung u. dergl. die Kinde in Mtleidenschaft
ziehen. Es kommt indessen vor, dass selbst directe B,indenerkrank-
ungen, namentlich wenn sie sich langsam entwickeln, die psychischen
Leistungen, wenigstens anscheinend, völlig unbeeinflusst lassen. Ziu-
Erklärung derartiger Thatsachen ist einmal die so vielfach bestätigte
Möglichkeit einer weitgehenden Stellvertretung gesunder Rinden-
partien für erkrankte, dann aber der Umstand in Erwägung zu
*) Nothnagel, Topische Diagnostik der Gehinikrankheiten. 1879. Wer-
nicke, Lehrbuch der Gehiriikrankhciteu. 1881. Gowers, Vorlesungen über die
Diagnostik der Gehirnkrankheiteu, deutsch v. Moniuisen. 1886.
Hirnkrankhoiten.
7
ziehen, dass eine leichte Yerniinderung der psychischen Leistungs-
fähigkeit, besonders wo sie sich ganz allnicählich einstellt, mit unseren
heutigen unvollkommenen Hiilfsmitteln schwer aufzufinden und ge-
nau zu bestimmen ist.
Ihren psychischen Ausdi'uck finden die krankhaften Störungen
unserer Hii^nfunctionen einerseits in dem acuten Auftreten von
Eeizungs- oder Lähmungserscheinungen, andererseits aber in der
Entwickelung dauernder Zustände von Herabsetzung der psychischen
Leistungsfähigkeit oder Widerstandsfähigkeit. Als eine der ein-
fachsten Ursachen functioneller Eeizung darf die fluxionäre Hy-
perämie gelten, wie sie bei den verschiedensten Anlässen sich zu
entwickehi pflegi, unter denen das Fieber, die Wärmebestrahlung
des Kopfes, gewisse Gemüthsbewegungen, manche Herzfehler und
Störimgen der Gefässinnervation vielleicht die v^dchtigsten sind. Die
unter solchen Yerhältnissen beobachteten psychischen Reizungs-
erscheinungen werden daher zum Theil gewiss auf die Blutüber-
füllung des Schädelinhaltes zu beziehen sein, ebenso die ersten
Symptome einiger schwereren Erkrankungen des Hixns und seiner
Häute, welche erfahrungsgemäss mit vermehrtem Blutreichthum in
der Rinde einhergehen, namentlich die verschiedenen Formen der
Meningitis an der Hirnoberfläche. Ausgiebigere Reizerscheinungen
können ferner ausgelöst werden durch den örtlichen Druck rasch
entstehender Exsudate, Blutungen (eitrige Meningitis, Pachymenin-
gitis interna hämorrhagica, Rindenapoplexien), schnell wachsender
Geschwülste, sowie endlich durch manche Gifte, welche das cen-
trale Nervengewebe direct chemisch beeinflussen.
Die psychischen Symptome, welche derartigen Reizeinwirkungen
entsprechen, sind im Allgemeinen Unruhe, Schlaflosigkeit, in den
höheren Graden Delirien, Ideenflucht, Sinnestäuschungen, Angst-
zustände oder Exaltation, Jactation, heftige motorische Erregung.
Mit diesen psychischen Erscheinungen verbinden sich dann die ner-
vösen Störungen auf motorischem oder sensorischem Gebiete, welche
speciell von dem Sitze und der Art der Reizursache abhängig sind
und daher in erster Linie für die Erkennung des körperlichen
Leidens Verwerthung finden.
Alle jene Ursachen, die eine erheblichere plötzliche oder all-
mähliche Beeinträchtigung der Hirnernährung herbeizuführen im
Stande sind, vermögen auf das Centraiorgan unseres Bewusstseins
8
I. Allgemeiae Aetiologie.
eine lähmende "Wirkung auszuüben. Der einfachste Fall ist hier
durch das Abschneiden der Blutzufuhr, durch die acute Hirn-
anämie, gegeben. In grösserem Umfange und mit dem raschen
Erfolge völliger ßewusstlosigkeit wird dieselbe hervorgerufen durch
den Versuch beiderseitiger Carotidencompression; von anderweitigen
Ursachen sind namentlich Herzschwäche, grosse Blutverluste und
diejenigen Affecte (Schreck) zu nennen, welche mit einem plötz-
lichen Krämpfe der Arterien des Kopfes einhergehen. Wie es
scheint, sind hierher auch die unmittelbaren Wildungen der sog.
Commotio cerebri zu rechnen. Functionen gleichwerthig mit der
Anämie sind Stauungen, z.B. in Folge von chronischen Hyperämien
(Feuerarbeiter), Gefässerkrankungen oder von Herzfehlern, da auch
sie die mangelhafte Zufuhr leistungsfähigen Blutes bedeuten. Ebenso
wirken ferner jene chemischen Yeränderungen der Ernährungs-
flüssigkeit, welche dieselbe zur Erfüllung ihrer Aufgabe mehr oder
weniger untauglich machen. Sehr wichtige Ursachen schwerer Er-
nährungsstörungen des Gehirns sind endlich aUe erheblicheren all-
gemeinen Druckst eigeruugen in der Schädeikapsel dui-ch
Volumszunahme ihres Inhalts.
Wie wir durch Grashey's Untersuchungen*) wissen, führt jede
Erhöhimg des Druckes im Schädel über ein bestimmtes individuelles
Mass hinaus sehr rasch zur Compression der Hirnvenen in ihren
peripheren Theilen, weiterhin aber zur Entstehung von Gefäss-
schwingungen mit erheblicher Yerlangsamimg der Kreislaufsgeschwin-
digkeit und deren Folgezuständen (Stauungen, Oedeme). Die grössere
oder geringere Leichtigkeit, mit welcher eine derartige Drucksteiger-
ung im einzelnen Falle zu Stande kommt, hängt wesentlich ab von
der Ausbildung, welche die Abflussbahnen der Cerebrospinalflüssig-
keit besitzen. Vermag diese letztere bei einer Volumsvermehrung
des Schädelinhaltes rasch nach allen Eichtungen hin auszuweichen,
so bleibt der Druck im Schädel unverändert, und die Blutversorgimg
erleidet keine Störung. Sind aber die Ausgleichsvorrichtuugen
mangelhaft entwickelt, so genügt schon eine massige Zunahme des
Schädelinhaltes, um das Aufteeten der Gefässschwingungen zu ver-
anlassen und damit das erste Stadium einer schweren Ernähruugs-
*) Experimentelle Beiträge zur Lehre von der ßlutcirculation in der Scliädel-
Eückgratshöhle. 1892.
Hirnkrankheiteii.
9
Störung einzuleiten. "Vielleicht verdient gerade nach dieser Eichtung
die neuerdings von Thoma festgestellte Thatsache besondere Be-
achtung, dass Yon sämmtlichen Gefässen des Körpers das Gebiet der
Carotis interna bei weitem am meisten zur Erkrankung an Arterio-
sklerose disponii't ist. Weit günstiger liegen bei einer Zunahme des
Schädelinhaltes die Yerhältnisse dann, wenn sich dieselbe langsam,
alimählich einstellt, so dass die Abflussbahnen sich bis zu einem
gewissen Grade den wachsenden Anforderungen anzupassen ver-
mögen. Hier kann die lähmende Wirkung auf das Centraiorgan des
Bewusstseins ziemlich lange hintangehalten werden: jede acute Yo-
lumsvermehrung des Schädelinhaltes dagegen hat unausbleiblich die
rasche Erstickung der Hirnrinde zur Folge. Umgrenzte derartige
Ernährungsstörungen werden durch die Vorgänge der Embolie und
Thrombose bedingt; ob hier eine Lähmung der psychischen Func-
tionen eintritt, hängt ebenso, wie bei den örtlichen Druckwirkimgen
kleinerer Geschwülste (z. B. Cysticerken), von der Ausdehnung und
vielleicht von dem Sitze der Störung ab. Endlich müssen natürlich
auch alle krankhaften Processe, die eine umschriebene oder diffuse
Structurveränderuug oder Zerstörung in der Hirnrinde erzeugen,
mit einer mehr oder weniger ausgedehnten Functionsbeeinträchtigung
derselben einhergehen.
Das psychische Symptom einer acuten allgemeinen Lähmung
der Hirnrinde ist eine rasch eintretende absolute Bewusstlosig-
keit, die entweder unmittelbar in den Tod übergebt oder nach
einiger Zeit wieder schwindet, wenn die Wirkung der anämisirenden
Ursache abnimmt. Ganz anders gestalten sich die psychischen Er-
scheinungen bei langsamer Entwickelung der Eindenlähmung. Ab-
gesehen von den Eeizsymptomen , die in solchen Fällen vielfach
aufzutreten pflegen, macht sich allmählich eine Abnahme der
psychischen Leistungen geltend, Erschwerung der Auffassung
und Yerarbeitung äusserer Eindrücke, Gedächtnissschwäche, Ideen-
armuth und Yerlangsamung des Yorstellungsverlaufes, Kiitiklosigkeit,
bei höherer Ausbildung geradezu Schlafsucht, traumartige Benom-
menheit, Blödsinn, ferner weinerliches, verdriessliches Wesen oder
Stumpfheit und Theilnahmlosigkeit bis zur völligen Apathie. Das
gleiche Bild kann sich natürlich auch im Ansclilusse an eine acute
Hiralähmung, ein Trauma (Eisenbahnunglück), eine Apoplexie
u. dergl., entwickeln, wenn sich die augenblickliche Störung ausge-
10
I. Allgemeine Aetiologie.
glichen hat und eine dauernd wii-kende Krankheitsursache zaräck-
geblieben ist. Zumeist vollzieht sich indessen die Ausbildung der
psychischen Erscheinungen nicht einfach in der hier angegebenen
Weise, sondern das Krankheitsbild setzt sich in den verschieden-
artigsten Formen aus den Zeichen der Reizung und der Lähmung
zusammen; es wird ausserdem noch begleitet von den mannigfachen
uervösen Störungen, die ebenfalls der Reizung oder Lähmung dieser
oder jener Hirntheile ihre Entstehung verdanken und in ihrer be-
sonderen Zusammensetzung als Anhaltspunkte für eine Localdiagnose
der Brkrankimg zu. dienen vermögen. Ihre genauere Schilderung
gehört dem Gebiete der Hirnpathologie im engeren Sinne an.
Als eine letzte Art von psychischen Yeränderungen, die durch
Hirnerkrankungen bedingt Averden kann, hatten wir die Erzeugung
eines chronischen Zustandes verminderter psychischer Wider-
standsfähigkeit bezeichnet. Diese Störung scheint sich vor Allem
im Anschlüsse an traumatische Einwirkungen*) zu entwickeln.
Sie ist gekennzeichnet durch eine raschere geistige Erschöpf barkeit,
erhöhte Ablenkbarkeit und Zerstreutheit, grosse gemüthliche Reiz-
barkeit und Empfindlichkeit gegen die verschiedenartigsten, das Hii'n
treffenden Schädlichkeiten, insbesondere gegen den Alkohol. Bis-
weilen ist dieser Zustand, zu dem sich übrigens sehr gewöhnlich
die Erscheinungen verminderter Leistungsfähigkeit hinzugesellen,
nur das erste Anzeichen tieferer, fortschreitender organischer Hirn-
erkrankungen, die dann in ihrem weiteren Verlaufe allmählich
andersartige psychische Krankheitsbilder erzeugen. Am häufigsten
sind unter solchen Umständen progressiver Blödsinn mit Lähmungs-
symptomen, häufig wiederkehrende Aufregungszustände oder epilep-
tisches Irresein, namentlich psychisch-epileptische Anfälle. Anderer-
seits aber kann auch jener Zustand verminderter Widerstandsfähig-
keit lange Zeit hindurch stationär (functionell) bleiben, bis etwa ein
mehr zufälliger Anlass auf Grund der dui-ch sie erzeugten Prädis-
position eine acute, selbständige psychische Erkrankung zur Ent-
wickelung gelangen lässt.
Die regelmässige Yerbindung gröberer und ausgedehnterer Er-
krankungen der Hirnrinde mit greifbaren psychischen Störungen
legt im Hinblicke auf die neuerdings so sehr in den Vordergrund
*) Guder, Die Geistesstörungen nach Kopfverletzungen. 18S6.
Hirnln-ankheiten.
11
des Interesses gerückten Localisationsuntersuchungen die Frage nahe,
wie weit wir etwa jetzt schon im Stande sind, aus bestimmten psy-
chischen Erscheinungen allein Eückschlüsse auf den Sitz der ihnen
zu Grunde liegenden Ernährungsstörung in der Hirnrinde zu ziehen.
Die allgemeine Möglichkeit einer derartigen topischen Diagnostik
kann bei dem heutigen Stande der Localisationsfrage nicht wol
mehr in Zweifel gezogen werden, ja es liegen sowol klinische wie
experimentelle, wenn auch nur sehr vereinzelte Thatsachen vor,
welche Ausblicke nach der angedeuteten Kichtung hin zu eröffnen
scheinen. Dahin gehören in erster Linie jene Beobachtungen über
Paraphasie, welche es gestatten, Störungen in der Verknüpfung von
Begriffen mit den zugehörigen sprachlichen Symbolen auf Yer-
letzungen in der Gegend der linken dritten Stirnwindung zu be-
ziehen und vielleicht auch für die Localisation der vielfachen para-
phasischen Störungen bei Irren ohne gröbere Hirnerkrankungen
fruchtbar gemacht werden können. Weiterhin legen es die von
Charcot und Wilbrand mitgetheilten Fälle von Verlust der op-
tischen Phantasiebilder im Zusammenhalte mit vielfachen Erfahrungen
an operirten Thieren nahe, die Ursache ähnlicher Störungen bei
verschiedenen Formen acuter und chronischer Psychosen in der
Hinterhauptsrinde zu suchen. Endlich hat bekanntlich Goltz die
interessante Beobachtung gemacht, dass Verlust der vorderen ßinden-
gebiete bei Hunden neben anderen Veränderungen grosse Reizbar-
keit und directionslose Unruhe erzeugt, während Exstirpation der
Hinterhauptslappen im Gegentheü Trägheit und Stumpfheit selbst
bei vorher bösartigen Thieren zur Folge hat. Auch diese Ergebnisse
würden sich etwa mit den bekannten klinischen Erscheinungen
agitirter und apathischer Schwachsinnsformen einigermassen in Par-
allele setzen lassen.
Selbstverständlich indessen sind aUe diese Analogien, so lange
wir nur sehr grobe Veränderungen des feinen Gehirnmechanismus
pathologisch-anatomisch zu erkennen vermögen, mit grosser Vorsicht
zu verwerthen. Denkbar wäre es wol, dass uns etwa eine ein-
gehende Kenntniss mikrochemischer ßeactionen, wie das die ver-
wickelten Bilder der Nissl 'sehen und vielleicht auch die räthselhafte
Lavmenhaftigkeit der Golgi 'sehen Färbungsmethode andeuten, der-
einst feinere Structur- und Functionsverschiedenheiten des centralen
Nervengewebes auffinden lässt und uns so eine massgebende Prüfung
12
I. Allgemeine Aetlologie.
der oben ausgesprochenen Yermutliungen ermöglicht. Man wird
jedoch kaum erwarten dürfen, auf Grund von psychischen Sym-
ptomen jemals zu einer so sicheren Localdiagnose zu gelangen, wie
das schon jetzt vielfach an der Hand isolirter nervöser Eeizungs-
oder Ausfallserscheinungen (Krämpfe, Lähmungen, Gesichtsfelddefecte)
möglich ist. Abgesehen von dem bisher fast völligen Mangel ver-
werthbarer Methoden zur genaueren Bestimmung feinerer psychischer
Störungen, scheinen mir Gründe der allerge wichtigsten Art mit
Entschiedenheit dafür zu sprechen, dass alle höheren psychischen
Yorgänge, die Bildung und Yerlrnüpfung von Yorstellungen, die
Entstehung von Gefühlen und "Willen sentschlüssen, regelmässig mit
Erregung umfangreicher Gebiete des nervösen Centraiorgans ein-
hergehen. So sehr daher auch an sich die Uebertrag-ung der sinn-
reichen Unterscheidung zwischen Herd- und Allgemeinsymptomen
aus der Hu'npathologie im engeren Sinne auf die Psychopathologie
zu wünschen wäre, so steht doch leider zu befürchten, dass die An-
wendbarkeit derselben hier nur eüie sehr beschränkte wii-d sein
können. Allerdings deutet die ausserordentliche Mannichfaltigkeit
der psychischen Krankheitsbilder darauf hin, dass die einzelnen Be-
standtheile derselben bis zu einem gewissen Grade von einander
unabhängig sind. Es fragt sich indessen, ob diese relative Selbst-
ständigkeit mehr auf eine Yerschiedenheit des Entstehungsortes, als
auf eine solche der physiologischen Entstehungsbedmgungen zurück-
zuführen ist.
Nervenkranklieiteii. Weniger unmittelbar, als bei den directen
Erkrankungen des Schädelinhaltes, gestaltet sich der ursächüche
Zusaromenhang mit psychischen Krankheiten bei denjenigen Leiden,
denen als nächster Angriffspunkt andere Theile des Nervensystems
dienen. Für die bei Tabes beobachteten Seelenstörungen freilich
ist es mir am wahrscheinlichsten, dass sie nur Symptome jener de-
generativen Hirnerkrankung darstellen, welche nicht so selten zu dem
Kückenmarksleiden sich hinzugesellt.
Durch die Annahme reflectorischer Circulationsstörungen in
Folge von heftigen Keizungen peripherer Nervengebiete hat
man zum Theil jene Fälle psychischer Erkrankung zu erklären ver-
sucht, welche sich bisweüen an schAvere Operationen oder Nerven-
verletzungen anschhessen und unter dem Namen des Delirium trau-
maticum zusammengefasst worden sind. Allein es handelt sich hier
Nervenkrank h eiten .
13
zumeist wol um alkoholische, in anderen Fällen um septicämische
oder auch um Erschöpfungsdelirien, deren Eintreten gelegentlich
noch durch hohes Alter oder psychopathische Prädisposition be-
günstigt wird. Dagegen sind vereinzelte Beobachtungen bekannt,
in denen anscheinend durch die dauernde Zerrung von Nerven,
welche in Narben eingeheilt waren (meist Quintusäste), chronisch
verlaufende psychische Störungen hervorgerufen wurden (Eeflex-
psychosen). Dieselben bestanden in einer gewissen Benommenheit
mit zeitweiligen Anfällen gewaltthätiger Aufregung, auch Sinnes-
täuschungen, die bisweilen dui-ch Druck auf die schmerzhafte Narbe
ausgelöst werden konnten. Nur dort, wo dann die Excision dieser
letzteren zur Heilung führt, ist natürlich die Annahme eines wirk-
lichen Causalzusammenhanges zwischen ihr und der Psychose statt-
haft. Derartige Beobachtungen erinnern auch klinisch sehr an die
bekannten ätiologischen Beziehungen der Epilepsie zu peripheren
Nervenreizungen und sind vielleicht geradezu unter diesem Gesichts-
punkte zu erklären. Möglicherweise handelt es sich hier überall
um eine directe irritirende Wirkung lebhafter Schmerzen auf ein
zu epileptoiden Störungen besonders prädisponirtes Gehirn.
Eine sehr grosse ursächliche Bedeutung wird zumeist jenen
allgemeineren Erki-ankuugen des Nervensystems zugeschrieben, die
man als Neurosen bezeichnet. In der That pflegen dieselben ganz
gewölmlich mit leichteren psychischen Störungen einherzugehen, ja
sie verknüpfen sich sogar häufig genug mit schweren und schwersten
Formen des Irreseins. Allein es ist gewiss zuti-eff ender, die ver^
schiedenartigen bei ihnen beobachteten Geistesstörungen nicht sowol
als die Folge der Neurosen, sondern vielmehr als die "Wirkungen
einer und derselben centralen Ursache aufzufassen, welche auch
jenen zu Grunde liegt. Bei der Chorea*) sieht man hauptsächlich
erhöhte psychische Eeizbarkeit, kindisches, launenhaftes Wesen,
raschen Stimmungswechsel, Schlaflosigkeit, in schweren Fällen ver-
wirrte Aufregungszustände vom Charakter des Collapsdelhiums oder
derAmentia; bei der Tetanie habe ich ebenso wie Frankl-Hoch-
wart vorübergehende deliriöse Zustände mit Sinnestäuschungen
beobachtet, die vielleicht als Yergiftungssymptome aufgefasst werden
dürfen. Die Epilepsie endlich und die Hysterie führen nicht
*) Koppen, Archiv für Psychiatrie, XX, 3.
14
I. Allgemeine Aetiologie.
nur regelmässig zu mehr oder weniger ausgeprägten degenerativen
Charakterveränderungen, sondern sie bilden auch die Grundlage füi'
eine ganze Reihe verschiedenartiger, mehr vorübergehender psy-
chischer Störungen, welche im speciellen Theile eingehendere Be-
sprechung finden werden.
Allgemeine Erkrankungen. Der durchgängige Zusammenhang
aller Theile des Organismus macht es leicht erklärlich, dass ausser
den am Nervensystem unmittelbar und allein angreifenden Schäd-
lichkeiten auch eine ganze Reihe sonstiger Erkrankungen dui^ch ihre
allgemeinen und mittelbaren "Wirkungen mehr oder weniger stark
das Centraiorgan unseres Bewusstseins in Mitleidenschaft ziehen und
somit Störungen der psychischen Functionen herbeiführen können.
Am leichtesten verständlich ist dieser Zusammenhang bei den acuten
Infectionskrankheiten*) mit ihren rasch hereinbrechenden ge-
waltigen Umwälzungen der gesammten Lebensvorgänge. Das ge-
meinsame wii'kende Element bei der ganzen Reihe derselben ist
das organisirte Güt, welches bald direct das centrale Nervensystem
beeinflusst, bald durch Erzeugimg allgemeinerer Krankheitserschein-
ungen (Fieber), oder durch Yermittelung gewisser Organerkrankungen
Ernährungsstörungen in der Hirnrinde hervorbringt. Im Einzehien
gestaltet sich natürlich dieser Zusammenhang ausserordentlich ver-
schieden, je nach der besonderen Beschaffenheit des Krankheitsgiftes
und der Art seiner Localisation im Körper. Am wichtigsten sind
von diesen Krankheiten für die Entstehung psychischer Störungen
Typhus, acuter Gelenkrheumatismus, Pneumonie, acute
Exantheme, Kopfrose, Influenza,**) Wechselfieber und
Cholera.
Eine directe giftige Wirloing der beti-effenden Krankheitsgifte
auf das Gehirn ist einigermassen sicher bisher nur für den Typhus,
die Pocken und das Wechselfieber, vielleicht auch die Influenza,
weil nur bei ihnen unzweifelhafte Beobachtiingen psychischer
Störung während des fieberlosen oder doch sehr gering fieberhaften
Yerlaufes (im Yorläuferstadium) vorUegen, bevor andere Ursachen
haben zur Entwicklung gelangen können. Beim Gelenkrheumatis-
*) Kraepelin, Archiv für Psychiatric, Bd. XI und XII.
**) lutrosinski, liifluenzapsychosen, Dissertation, 1890; Kirn, Volkmanns
Min. Vorträge, Neue Folge, XUI, 1890.
Allgemeine Erkrankungen.
15
mus kommt aber, wenn auch selten, eine Localisation des Giftes
in den Hirnhäuten vor, die dann natürlich ebenfalls psychische
Eeizungs- und Lähmungserscheinnngen hervorruft. Eine weitere
wirksame Ursache bei dem Zustandekommen des Irreseins in acuten
Infectionskrankheiten ist sicherlich das Fieber, einmal durch die
Steigerung der Körperwärme, dann aber durch die Circulations-
beschleunigung in der Schädelhöhie. Fast regelmässig sieht mau
daher axich die „Delirien" dem Gange des Fiebers parallel gehen,
ein Yerhalten, welches sich namentlich deutlich bei dem typischen
Verlaufe der Typhuscurve herauszustellen pflegt, allerdings vielleicht
auch auf toxische Einflüsse bezogen werden kann. Diese letztere
Annahme gewinnt durch die Erfahrung an Wahrscheinlichkeit, dass
bei manchen anderen Leiden, z. B. bei der Tuberculose, lange
dauernde beträchtliche Temperatuxsteigerungen verhältnissmässig
selten mit psychischen Störungen einhergehen. Eine sehr wichtige
Rolle für die Entstehung der Delirien bei Infectionskrankheiten
spielt jedenfalls nicht selten der Zustand der Kreislaufsorgane, viel-
leicht auch der Lungen, da wir jene Störungen nicht nur verhält-
nissmässig häufig bei begleitenden Herzerkrankungen (Gelenkrheu-
matismus), sondern bei den verschiedensten Formen der Herzinsuf-
ficienz, sogar neben kaum fieberhaften Temperaturen aufti'eten sehen
(Septicämie). Wie viel gerade bei den so leicht delirirenden Säufern
auf die Herzschwäche und die Gefässer krankungen, wieviel auf die
dauernden Giftwirkungen im Gehirn zurückzuführen ist, lässt sich
schwer sagen; wahrscheinlich ist das Verhältniss in den einzelnen
Fällen ein sehr verschiedenes, wie sich auch klinisch alle Ueber-
gangsformen vom typischen Delirium tremens bis zum gewöhnlichen
Fieberdelirium hier beobachten lassen.
Das Symptomenbild der Fieberdelirien setzt sich im Allgemeinen
aus den Erscheinungen der Hirnreizung und der Lähmung zusam-
men, die sich in der verschiedenartigsten Weise mit einander ver-
binden können und in den schwersten Graden der Störung, bei
denen wol immer tiefgreifende Circulationshemmnngen, Stauungen,
Oedeme sich entwickeln, endlich in völlige Functionslähmung der
Hirnrinde, in komatöse und soporöse Zustände übergehen.
Der Wirkungsweise einiger der genannten Infectionskrankheiten
in mancher Beziehung verwandt ist diejenige der Lyssa, insofern
es sich auch hier wol um eine directe Vergiftung der nervösen
16
I. Allgemeine Aetiologie.
Centralorgane haadelt. Emminghaus*) führt als eialeitende Sym-
ptome depressive Verstimmuag imd Aengstliohkeit au ; auf der Höhe
der Erkraukung wechselu die Erscheiuuugeu höchster psychischer
Erregung, furibuude Delirieu, Sinnestäuschungeu , Gewaltacte, mit
vorübergehender völliger Klarheit des Bewusstseins ab, bis endlich
mit dem Eintritte psychischer Lähmung im paralytischen Stadium
die Scene abschliesst.
"Wesentlich anders dagegen, als bei den Fieberdelirien, gestaltet
sich wahrscheinlich der Zusammenhang zwischeii Ursache und Wir-
kung bei jenen ziemlich häufigen Geistesstörungen, welche sich nicht
auf der Höhe, sondern nach dem Ablaufe acuter Infectionskrank-
heiten entwickeln. Allerdings könnte man auch hier in manchen
Fällen an mehr mittelbare Giftwirkungen der infectiösen Krankheits-
ursache denken, etwa analog den neuritischen Erkrankungen, welche
sich an Pocken, Typhus, Influenza und namentüch an Diphtherie bis-
weilen anschliessen. Allein einmal sind jene Psychosen gerade nach
Diphtherie verhältnissmässig selten, und andererseits zeigen sie zu-
meist in ihrem klinischen Verlaufe eine so grosse Aehnlichkeit mit
den durch nicht infectiöse erschöpfende Einflüsse veriu'sachten Formen
des Irreseins, dass wir genöthigt werden, auch hier der durch schwere
und andauernde Fieberzustände, durch die allgemeinen Ernährungs-
störungen, vielfach auch durch verschiedenartige Begleiterkrankungen
bedingten Erschöpfung des gesammten Organismus die ätiologische
Hauptrolle zuzuschreiben. Dies güt besonders für Typhus und Ge-
lenkrheumatismus. Auf der anderen Seite sehen wii-, namentlich
bei der Pneumonie, aber auch nach acuten Exanthemen, Erysipel,
Influenza, schweren Anginen die psychische Störung sich unmittel-
bar an einen plötzüchen Abfall der Körperwärme und der Puls-
geschwindigkeit anschliessen. Endlich giebt es dann noch eine An-
zahl von Fällen im Gefolge des Typhus, der Variola, der Intermittens,
bei denen es sich offenbar um dauernde organische Veränderungen
in der Hirnrinde handelt, die wir doch wol als Ueberreste der durch
die infectiöse Krankheitsursache bewirkten Ernährungsstörungen im
Centrainervensystem aufzufassen haben. Abgesehen von dieseu
schwersten Formen, kommt übrigens der psychopathischen Veran-
lagung bei der Entstehung der Erschöpfungspsychosen eine weit
*) Archiv der Heilkunde XV, p. 239; AUg. Zeitschr. für Psychiatrie XXXI, 5.
Allgemeine Erkrankungen.
17
gi-össere Bedeutung zu, als bei den Fieberdelirien. Offenbar sind
die Erkrankungsursachen im letzteren Falle viel mächtigere; sie
überwältigen ohne viel Unterschied auch ein kräftiges Nervensystem,
während dort vorzugsweise nur die weniger widerstandsfähigen
Organisationen den schwächenden Einflüssen unterliegen.
Bis zu einem gewissen Grade spiegelt sich dieser Unterschied
der ätiologischen Bedingungen auch in dem klinischen Bilde der
Erschöpfimgspsychosen wider. Während die Fieberdelirien in der
Hauptsache überall die gleichen G-ruppen von Erscheinungen er-
kennen lassen, sehen wir hier, wo die persönliche Anlage stärker
hervortritt, eine ganze Reihe verschiedenartiger und selbständiger
sich entwickelnder Krankheitsformen zur Ausbildung gelangen. Dies
güt natürlich nicht für die mit organischen Verändenmgen (InM-
tration der ßinde, Degeneration der Ganglienzellen, PigmentemboKen)
einhergehenden Psychosen, welche einfach eine mehr oder weniger
ausgesprochene allgemeine Abnahme der psychischen Leistungen,
das Bild des Schwachsinns bis zum tiefsten apathischen Blödsinn
darbieten. Die meist sehr trübe Prognose ist hier einfach an die
Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Rückbildung der bestehenden
Gewebsveränderungen geknüpft.
"Wo die krankmachende Ursa*che in Form von plötzlichem kri-
tischem Sinken der Temperatur und der Pulsfrequenz sehr acut
hereinbricht, entstehen unvermittelt rasch verlaufende Collapsdelirien
mit Sinnestäuschungen, völUger Yerwirrtheit, Ideenflucht und Auf-
regungszuständen. In anderen Fällen verschwinden die Fieber-
delirien mit dem Eintritte der Reconvalescenz nicht, sondern spinnen
sich, wenn auch in veränderter Form, noch einige Zeit hindurch
fort. Viel häufiger aber kommt die Psychose erst in den ersten
Tagen oder Wochen nach dem Ablaufe der Erkrankung, oft unter
dem Einflüsse mehr zufälliger Reize (Gemüthsbewegungen), zum
Ausbruche, um nun bald die Form der Amentia, der acuten Demenz,
bei weniger stürmischer Entwickelung diejenige neurasthenischer
oder melanchohscher Zustände anzunehmen; seltener, und wol nur
auf Grund bestimmter psychopathischer Veranlagung, beobachtet
man auch hallucinatorischen oder depressiven Wahnsinn. Der Zu-
sammenhang der psychischen Störung mit der acuten Krankheit ist
bei der zuletzt genannten Gruppe nicht nur innerüch, sondern häufig
auch zeithch viel lockerer, als bei den früheren. Zuweilen beginnt
KraepeUn, Psychiatrie. 4. Aufl. 2
18
I. Allgemeine Aetiologie.
die Psychose bei dem wenig widerstandsfähigen Eeconvalescenten
erst Wochen oder gar Monate nach dem Ablaufe der hier eigentUch
nur noch prädisponirenden Erkrankung, ja wir wissen, dass nament-
lich nach Typhus unter Umständen selbst Jahre lang eine reizbare
Schwäche zurückbleiben kann, welche den günstigen Boden für die
Entwickelung späterer Geistesstörungen bildet.
In ähnlicher Weise, wie bei diesen letzterwähnten Formen,
dürfte sich die Entstehungsweise derjenigen Psychosen gestalten,
welche wir im Anschluss an gewisse chronische und die all-
gemeine Ernährun g schwer beeinträchtigende körperliche
Erkrankungen beobachten. Es muss dabei vorerst dahingesteUt
bleiben, ob als die pathologische Grundlage solcher Geisteskrank-
heiten nur functionelle, oder aber, wenigstens in den schwereren
Fällen, nicht auch anatomische Yeränderungen in der Hirnrinde an-
gesehen werden dürfen. Wenn die acute Anämie gewöhnlich sehr
rasch zur Lähmung des Centralorganes unseres Bewusstseins führt,
so pflegt die langsam entstandene Ernährun gsinsufficienz, wie sie
durch wiederholte Blutverluste oder chronische Inanition,
schwere Stoffwechsel- und Blutkrankheiten (Diabetes, Kar-
cinome, Leukämie, Myxödem) bedingt werden kann, zunächst eine
grössere Ermüdbarkeit, sowie eine geringere Widerstandsfähigkeit
gegenüber den kleinen und grossen SchädHchkeiten und Eeizen des
Lebens in ihrem Gefolge zu haben. Damit ist dann eine schwer-
wiegende Prädisposition zur Entstehung verschiedenartiger psych-
ischer Störungen gegeben. Namentlich Melancholien mit hypochon-
drisch-seniler Färbung, sowie deren Uebergangsformen zum depres-
siven Wahnsinn entwickeln sich leicht auf solcher Grundlage.
Wesentlich nach denselben Gesichtspunkten muss zum Theil
wol die ätiologische Bedeutung mancher chronischen Infections-
krankheiten beurtheilt werden; aiich hier sind ja zumeist die Be-
dingungen zur Entstehung von Inanitionszuständen verwirkücht
Bei der Tuberculose kommt es hie und da zu acuten Geistesstörimgen
von der Art der CoUapsdeürien mit vorwiegend expansiver Färbung,
entsprechend der so häufig beobachteten Euphorie der Phthisiker. In
anderen Fällen sehen wir hier den Alkoholismus eine wesentHche
ätiologische KoUe spielen, und endlich können natürhch gelegentüch
auch meningitische Processe den psychischen (und nervösen) Keiz-
erscheinungen zu Grunde liegen.
Allgemeine Erkrankungen.
19
Bei der Syphilis*) tritt dagegen, anders als bei der Tuber-
culose, wol die "Wirkung des specifischen Krankheitsgiftes ganz in
den Yordergrund. Hier haben wir es fast überall mit greifbaren,
auf die Infection als solche zurückführenden pathologischen Ver-
änderungen im Centrainervensystem zu thun. In Folge dessen sind
auch die syphilitischen Geistesstörungen regelmässig Ton mannig-
faltigen nervösen Erscheinungen begleitet, deren verschiedenartige
Verbindung im Einzelnen häufig überhaupt erst die Erkennung des
Leidens ermöglicht, wo die psychischen Symptome zu unbestimmt
sind, um eine Abgrenzung von anderen, nicht luetischen Erkrank-
ungen zu gestatten. Dass nach dieser Eichtung besonders die
Störungen der Augenmuskelnerven Beachtung verdienen, ist hin-
länglich bekannt. Von psychischen Urankheitsbildern kann man
nach Heubner's eingehender Schilderung hauptsächlich drei unter-
scheiden, die sogar an differente pathologische Processe sich zu
knüpfen scheinen. Die erste Eorm, häufig auf der Eeizwirkung
gummöser Neubildungen an der Convexität der Hirnrinde beruhend,
zeigt anfangs massige Verstimmung und Gereiztheit bis zu de-
pressiven oder expansiven Aufregungszuständen, im weiteren Ver-
laufe Abnahme der Intelligenz, Gedächtnissschwäche, Langsamkeit
des Denkens, Oberflächlichkeit und Veränderlichkeit der Affecte,
daneben aphasische Störungen und epileptische Insulte, die gewöhn-
lich auch den ganzen Symptomencomplex einleiten. In der zweiten
Gruppe von Fällen handelt es sich um eine Erkrankimg namentlich
der basalen Hirnarterien, die zur Verengerung und schliesslich
gänzlichen Obliteration ihres Lumens führt. Hier wird das Krank-
heitsbild durch apoplektische Zufälle mit einfachem Schwachsinn
und länger dauernden Lähmungen beherrscht, ein Zeichen häufiger
Verstopfung von Endarterien in den Stammganglien. Der gleiche
Vorgang in der ßinde dagegen erzeugt wegen der hier gebotenen
Möglichkeit collateralen Ausgleiches derartiger Störungen nui- eigen-
thümliche rauschartige Zustände halber Bewusstlosigkeit mit JSTeigung
zu unmotivirter, triebartiger Geschäftigkeit und halbverkehrten Hand-
lungen. Endlich ist noch eine Eeihe von Beobachtungen bekannt,
in denen das Krankheitsbild durchaus die klinischen Züge der später
*) Heubner, v. Ziemssen's Handbuch, Bd. XI, 1; Eumpf, Die syphilitischen
Erkrankungen des. Nervensystems. 1887.
2*
2Q I. Allgemeine Aetiologie.
ausführlicher zu schildernden Dementia paralytica darbietet. Eine
irgendwie befriedigende Abgrenzung ist hier nicht mehr mögüch,
um so weniger, als auch in der Aetiologie der progressiven Paralyse
die Syphüis, fr^eiUch wol nur als vorbereitende Ursache, eine un-
gemein vnchtige Rolle spielt.
In weit beschränkterem Masse, als die Syphiüs, wird der Er-
gotismus, die Vergiftung mit Mutterkorn, Ursache psychischer
Störungen.*) Bisweilen scheinen hier directe Intoxikations- (oder
Collaps-?) deürien vorzukommen; in der Mehrzahl der FäUe da-
gegen ist vielmehr an secundäre Giftwirkungen in der Hii'nrinde zu
denken. Allerdings ist der schwierige Nachweis pathologisch-
anatomischer Yeränderungen im Gehii^n hier noch nicht gelungen,
und da die Krankheitserscheinungen bei geeigneter Behandlung
wieder verschwinden können, so besteht die Möglichkeit, dass es
sich hier nur um „functionelle^ vieUeicht etwa vasomotorische
Störungen handelt. Die psychischen Symptome waren im Allge-
meinen diejenigen einer Herabsetzung hauptsächlich der mtellec-
tueUen Functionen, mehr oder weniger ausgesprochene Benommen-
heit des Sensoriums bis zum Stupor, Yerlangsamung des Denkens,
Gedächtnissschwäche, Yerwirrtheit; daneben häufige Angstzustande
und tiefes Krankheitsgefühl. Bisweüen fr-eten articiüatorische Sprach-
störungen ein; ferner sind regelmässig epileptische Krämpfe und die
obiectiven Anzeichen einer in mehi'eren FäUen diu-ch die Leichen-
öffiiung festgestellten, nicht fortschreitenden Rückenmarksaffection
(Hinterstrangsklerose) vorhanden. _
Dem Ergotismus in ätiologischer und künischer Beziehung
offenbar sehr ähnlich ist das hauptsächlich in Oberitahen vorkom-
mende Pellagra, welches sehr wahrscheinlich auf den Genuss von
verdorbenem Mais zurückzuführen ist und ausser Verdauungs-
störungen und Hautaffectionen auch chi'onische Ruckenmai-ks-
(Hinterseitensti-angsklerose nach Tuczek) und Geisteski^ankheiten
(psychische Depression mit Selbstmordneigung, seltener Aufregungs-
zustände, schliesslich Blödsinn) zur Folge hat.
Vergiftimgen In Verwandtschaft zu allen diesen infectiösen oder
endemischen Giftwirkungen stehen als weitere Ursachen geistiger
*) Siemens, Archiv für Psychiatrie XI, 1. u. 2; Tuczek, ibid. XIH. 1:
xvm, 2.
Vergiftungen.
21
Störung die verschiedenen gelegentlichen Intoxikationen durch
Stoffwechselproducte, durch giftige Gase, Narkotica und
Metallgifte. Die häufigste, ja sub finem vitae vielleicht regelmässig
dem psychischen Leben ein Ende bereitende Vergiftung ist die-
jenige durch die Anhäufung physiologischer Zerfallproducte im Blute.
Je nach der Reihenfolge, in der die einzelnen Organe des Körpers
aufhören, zu arbeiten, gestaltet sich auch dieser Vorgang etwas ver-
schieden. Wenn die Unzulänglichkeit der Kreislaufsorgane die
nächste Todesursache bildet, so müssen die Bestandtheile des venösen
Blutes allmählich die Erscheinungen rascherer oder langsamerer Hirn-
lähmung herbeiführen. Ungenügende Athmung erzeugt Kohlen-
säurevergiftung mit den Symptomen rauschartiger Benommenheit
und heftigen Angstgefühlen, in höheren Graden Bewusstlosigkeit;
mangelhafte Ausscheidung durch die Meren bedingt acute oder
chronische Urämie mit deliriösen und komatösen Zuständen oder
länger dauernden Geistesstörungen melancholischen Charakters; in
Folge der Ansammlung von Gallenbestandtheilen im Blute (Chol-
ämie) kommen Benommenheit und psychische Depression, bei der
acuten gelben Leberatrophie (Icterus gravis) furibunde Delirien mit
starker motorischer Erregung und Sinnestäuschungen, im weiteren
Verlaufe Sopor und Koma zur Beobachtung u. s. f.
Von giftigen Gasen ist hauptsächlich das Kohlen oxydgas zu
erwähnen, welches den Sauerstoff aus dem Hämoglobin verdrängt
und Hirnhyperämie erzeugt. Auch hier entwickeln sich die An-
zeichen psychischer Reizung (ängstliche oder ekstatische Aufregungs-
zustände), denen diejenigen der Lähmung (Bewusstlosigkeit) folgen.
Eine gewisse Verworrenheit und Schwäche der psychischen Leistungen
pflegt die Vergiftung einige Zeit lang zu überdauern, ja es kommt
sogar bleibender Blödsinn in Folge von Erweichungsherden zur Be-
obachtung. Dass auch die Einathmung von Leuchtgas, Schwefel-
wasserstoff, Schwefelkohlenstoff, Stickstoffoxydul psych-
ische Eeizungs- und Lähmimgserscheinungen verschiedener Art
hervorzurufen im Stande ist, soll hier wegen des geringen prak-
tischen Interesses dieser Vergiftungen nur erwähnt werden.
Dagegen haben wir uns nunmehr der Betrachtung eines Giftes
zuzuwenden, welches für- die Psychopathologie eine ganz ausser-
ordentliche Bedeutung gewonnen hat, ich meine den Alkohol.*)
*) Baer, Der Alkoholiemus. 1878.
22
I. Allgemeine Aetiologie.
Die Angaben über die Hänfigkeit, nüt welcher der Missbrauch dieses
G-ennssmittels zur Aufnahme in die Irrenanstalt führt, schwanken
je nach der Nationaütät und den besonderen Yerhältnissen zwischen
10_30, ja bis 40 »/o aller psychisch Erkrankten. Das männliche Ge-
schlecht ist an der Tnmksucht mindestens 10 Mal so stark betheUigt,
als das weibliche; nur in den niederen Gesell Schaftsschichten ist
dieses Yerhältniss für die Weiber ungünstiger. Wie es scheint,
nimmt der Alkoholismus im Allgemeinen noch immer zu, allerdings
vorzugsweise in der Fabrikarbeiterbevölkerung, während für die ge-
bildeten Stände der Missbrauch berauschender Getränke im Vergleich
zu früheren Jahrhunderten wesentlich zurückgegangen sein dürfte.
In emzelnen Ländern, namentlich in Skandinavien, welches noch vor
wenig Jahrzehnten als das klassische Land des Alkoholismus galt,
ist es den energischen Anstrengungen der Gesetzgebung gelungen,
eine sehr erhebliche Einschränkung jener Yolksseuche zu erzielen.
Die eigentlich verderbliche Form alkoholischen Getränkes ist
der Schnaps, besonders der Kartoffelbranntwein, welcher häufig
ausser dem Aethylalkohol auch noch die weit verderblicher wii-ken-
den höheren Alkohole (namentlich den Amylalkohol) enthält, und
der in Südfrankreich und Oberitalien verbreitete Absynth (ätherisches
Oel der Axtemisia Absynthium). Im biertrinkenden Süddeutschland
und selbst in den Weinländern spielt daher der Alkoholismus auch
nicht im Entferntesten die KoUe, wie etwa in Posen, wo der Kar-
toffelfusel das wichtigste alkoholische Genussmittel des Arbeiters
büdet.
Yen den Wirkungen des Alkohols auf den Organismus haben
hier vor Allem die Störungen in der Gehirnernähi-img für uns In-
teresse. Durch die acute Vergiftung werden zunächst die Gefäss-
nerven gelähmt, bei grösseren Dosen auch Athmung und Herz-
bewegung verlangsamt; weiterhin findet sicherlich noch eioe directe
giftige Wirkung auf die Hirnrinde statt, die wahrscheinlich in einer
fortschreitenden allgemeinen Lähmung mit anfänglicher vorüber-
gehender Steigerung der centralen motorischen Erregbai'keit besteht.
Beim chronischen Alkoholmissbrauch wird ausser dem centralen
auch das periphere Nervensystem in mehr oder weniger ausgedehn-
tem Masse ergriffen (degenerative Neuritis). Sodann kommt es zur
Entwickelung von Gefässerkrankungen und dauernden Circulations-
störungen mit ihren Folgezuständen (Blutaustritte, Trübimgen, Ter-
Vergiftungen.
23
dickiing-ea der Hirnhäute, Infiltration und weiterliin Atrophie der
Eindensiibstanz u. s. w.), ferner zu einer tieferen Entartung der Blut-
masse (Abnahme des Fibrins) und endlich durch Yermittelung der
vielfachen alkoholischen Organerkrankungen (Herzverfettung, Magen-
katarrh, Lebercirrhose, Nierenschrumpfung) zu einer allgemeinen,
folgenschweren Störung der ernährenden und ausscheidenden Func-
tionen des gesammten Organismus. Ja, diese Degeneration erstreckt
sich sogar noch über den Bereich des Individuums hinaus auf seine
Nachkommenschaft und bringt in ihr Idiotie oder die Anlage zu
mannigfachen psychischen und nervösen Erkrankungen hervor, in-
sonderheit zum Alkoholismus, zu den psychischen Entartungsformen
und endlich auch zum Yerbrechen.
In dieser seiner verhängnissvollen Einwirkung auf das Indi-
viduum und die Eace wird der Alkohol zumeist noch unterstützt
durch eine Anzahl ähnlicher Schädlichkeiten, die zumeist mit dem
Missbrauche jenes Genussmittels Hand in Hand zu gehen pflegen.
Der Schnaps ist vorzugsweise das Getränk des armen Mannes, der
von ihm Anregung und Erwärmung erwartet, ja dem er zum Theil
die Nahrung zu ersetzen hat; die tägliche Noth des socialen Elendes,
der Armuth, ungenügende Ernährung, schlechte hygienische Ter-
hältnisse u. s. f. ebnen seinem Einflüsse hier den Weg. So kommt
es, dass der Anfangs nur aus bestimmtem Anlass, nach starker An-
strengung, am Lohntage oder in verführerischer Gesellschaft genossene
Schnaps allmähhch zum Lebensbedürfnisse wird und der Gewohn-
heitstrinker nun regelmässig, Tag für Tag, auch aUein und nur um
des Alkohols willen zur Flasche greift. Umgekehrt aber ist es
gerade der Alkohol, der durch seine vernichtenden "Wirkungen auf
das körperliche, geistige und sociale Wohlergehen des Trinkers mit
Nothwendigkeit über ihn den ökonomischen Kuin hereinbrechen
lässt und auf diese Weise einen Circulus vitiosus herstellt, aus dem
es kein Entrinnen mehr giebt. Die Gefahr, auf diese schiefe Ebene
zu gerathen, ist wegen der euphorischen Wirkungen des Alkohols
und wegen der überall bereiten, zur Yolksunsitte gewordenen Yer-
führung weit grösser, als gemeinhin angenommen wird. Ich bin zwar
der Ansicht, dass die nachtheiligen Folgen eines massigen Alkohol-
genusses und selbst eines gelegentlichen TJebermasses im Interesse
einer heilsamen Agitation gegen den schweren Nothstand der Trunk-
sucht vielfach in zu schwarzen Farben gemalt werden. AUein es
24
I. Allgemeine Aetiologie.
ist zweifellos, dass in den gebildeten Kreisen kaum weniger als in
den breiten Massen unseres Yolkes der Alkobolmissbrauch mit einer
Nachsicht geduldet, ja mit einem Wohlwollen gezüchtet wird, welches
als eine der wichtigsten Ursachen für die gewaltige, verderben-
bringende Macht jener Volksseuche betrachtet werden muss. All-
jährlich zahlen wir nicht nur an Landstreichern und Tagedieben oder
ähnlich werthlosem Menschenmateriale, sondern auch an begabten,
ja genialen Naturen dem Gifte einen reichen Tribut. IVeilich sind
es vorzugsweise haltlose und schwache Charaktere, welche dem Ein-
flüsse des Alkohols unterliegen, aber wir dürfen dabei nicht ver-
gessen, dass dieses Grift gerade selbst die Energie und Widerstands-
kraft des Menschen vernichtet und sich auf diese Weise die Prä-
disposition schafft, welche ihm den endlichen Sieg ermöghcht.
Die psychischen Störungen, welche der Alkoholmissbrauch er-
zeugt, sind ausser dem Eausch und dem chronischen Alkoholismus
vor Allem das Delirium ü-emens, ferner der acute hallucinatorische
Wahnsinn, sowie der Yerfolgungswahn der Trinker. Weiterhin bildet
der Alkoholismus eine sehr wichtige Ursache der Epilepsie und der
sie begleitenden Seelenstöruugen, und endlich scheint demselben
auch bei der Entstehung der Dementia paralytica eine nicht un-
wesentliche ätiologische Kolle zuzukommen. Zu beachten ist in-
dessen, dass häufig die Neigung zu Alkoholexcessen nicht sowol
die Ursache, sondern vielmehr ein Symptom des ausgebrochenen
Irreseins darstellt.
Eine dem Alkoholismus in vieler Beziehung durchaus analoge
und an Häufigkeit noch immer mit erschreckender Schnelligkeit zu-
nehmende psychische Entartungsform haben uns die letzten Jahr-
zehnte in der Morphiumsucht kennen gelehrt, wie sie sich bei
lange fortgesetztem Gebrauche von Morphiumeinspritzungen ent-
wickelt. Auch beim Morphium begegnen wir im AJlgemeiaen einer
"Verbindung von lähmenden und erregenden Wii-kungen des Giftes
auf das centrale Nervensystem; wie es indessen scheint, betreffen
die ersteren mehr die motorischen, die letzteren mehr die sensori-
schen und intellectuellen Leistungen. Da das anfängliche Wohl-
behagen schon nach einigen Stunden einer sehr quälenden Erschlaf-
fung und Depression weicht, die nur durch das Mittel selbst wieder
beseitigt werden kann, so bildet sich überall dort, wo dem Kranken
das Morphium zugänglich ist, ein beständiger Wechsel zwischen
Vergiftungen.
25
scheinbarem Wohlbefinden unter dem Einflüsse des Giftes und jenem
unangenehmen Nachstadium des morphinistischen Katzenjammers
heraus. Dazu kommt, dass mit der Zeit eine wachsende Gewöhnung
an das Mittel eintritt, welche gebieterisch eine oft ins Unglaubliche
gehende Erhöhung der Dosis fordert. Auf diese Weise entsteht das
Bild des chronischen Morphinismus mit seinen schweren Folgen für
die körperliche, intellectuelle und moralische Leistungsfähigkeit, mit
dessen Betrachtung im Einzebien wir uns späterhin noch sehr ein-
gehend zu beschäftigen haben werden.
Zur- Milderung der Abstinenzsymptome bei der Morphiument-
ziehung ist in neuerer Zeit das Cocain vielfach in Anwendung
gezogen worden. Niir zu bald hat sich indessen herausgestellt, dass
dieses Mittel noch schlimmere Gefahren mit sich führt, als das
Moi-phium. Die psychische Degeneration des Cocainisten schreitet
weit rascher, nicht nur als beim Morphinisten, sondern auch als beim
Trinker fort, und führt sehr bald zu hochgradigster Abschwächung
der gesammten psychischen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit.
Ausserdem, aber entwickelt sich unter dem Einflüsse jenes Giftes
ein typisches Krankheitsbild, welches die Züge des acuten hallu-
cinatorischen Wahnsinns in ganz eigenartiger Gestaltung ti'ägt.
In grösster Ausdehnung werden ferner noch das Opium, das
Haschisch, der Fliegenschwamm und eine Eeihe ähnlicher
Droguen in yerschiedenen Ländern zur Erzeugung narkotischer
Rauschzustände gewohnheitsmässig angewandt; alle diese Genuss-
mittel führen bei dauerndem Missbrauche ähnliche Entartungszustände
herbei, wie die bisher genannten. Yereinzelte derartige Beobacht-
ungen liegen bei uns auch für die gewohnheitsmässige Einathmung
des Chloroforms und Aethers vor; der letztere hat in manchen
Gegenden Irlands bereits vollständig die EoUe des Alkohols über-
nommen. Zu lange fortgesetzte Anwendung der Bromsalze führt
eine Abschwächung der psychischen Leistungen bis zur völligen
Demenz mit gleichzeitigen nervösen Lähmungserscheinungen herbei.
Yorübergehende deliriöse Verwirrtheit mit heiterer oder ängstlicherEr-
regungimd zuweilen auch Sinnestäuschungen hat man bei sehr verschie-
denartigen Yergif tun gen gelegentlich auftreten sehen (Hyoscyamus,
Datura, Atropa, .Conium, Chinin, Chloralhy drat, Jodoform^
Salicylsäure, Wurstgift u. s.w.). Endlich ist noch zu erwähnen,
dass man auch übermässigen Tabaksgenuss, namentlich das Kauen
26
I. Allgemeine Aetiologie.
Yon Schnupftabak bei Seeleaten, wie er zweifellos nervöse Störungen
hervorzurufen im Stande ist (Amblyopie), in ätiologische Beziehungen
zum Irresein gesetzt hat. Derselbe soll nicht nur unter den Ent-
stehungsursachen der Dementia paralytica eine gewisse Eolle spielen,
sondern eine eigenartige Psychose erzeugen können, Avelche im Be-
ginne mit Sinnestäuschungen und depressiver, später expansiver Ver-
stimmung einhergeht, schliesslich aber zur allmählichen Verblödung
führt.
Von metallischen Giften stehen besonders das Blei und das
Quecksilber in näherer Beziehung zu psychischen Störungen;
beide scheinen direct auf die Nervensubstanz der Hirm'inde einzu-
wirken. Die Erscheinimgen der „Encephalopathia saturnina" bestehen
hauptsächlich in vorübergehenden verwirrten, expansiven oder de-
pressiven Auiregungszuständen mit Sinnestäuschungen, die nicht
selten mit stuporösen oder komatösen, bisweilen sehr schweren Zu-
fällen abwechseln und von epileptiformen Krämpfen begleitet sind.
Die mercuriellen Psychosen bieten hauptsächlich die Symptome sehr
erhöhter Keizbarkeit dar, Schreckhaftigkeit, Verlegenheit, Verwirrt-
heit, ängstliche Träume und Schlaflosigkeit, Sinnestäuschungen. Auf
dieser Grundlage können dann weiterhin Aufregungszu stände ver-
schiedener Art, oder aber eiue allmähliche Abnahme aller psychischen
Leistungen zur Entwickelung gelangen, Schwäche des Gedächtnisses
und Urtheils, Gemüthsstumpfheit und Apathie.
Organerkrankimgen. Eines der schwierigsten und umstrittensten
Capitel in der Aetiologie der Psychosen ist die Lehre von dem Ein-
flüsse einzelner Organerkrankungen. Hier ist der Zusammenhang
näturgemäss stets ein sehr verwickelter, selbst durch die statistische
Methode nicht immer sicher nachweisbarer, so dass die Deutung der
einzelnen Erfahrung bis zu einem gewissen Grade zumeist dem per-
sönlichen Ermessen des Beobachters überlassen bleibt. Unter den
Erkrankungen der Sinnesorgane sind es namentlich Ohrenleiden,
welchen ein Einfluss auf die Entstehung von Psychosen zuzukom-
men scheint. Einerseits findet man bei Gehörshallucinanten so häufig
alte Mittelohrerkrankungen mit Veränderungen der elektrischen
Acusticusreaction*), dass man sich der Annahme eines gewissen Zu-
sammenhanges nicht wol erwehren kann, dann aber sieht mau bis-
*) Buccola, Eivista di freniatria sperimeatale, 1885, 1.
Organerkrankungeu.
27
weilen bestehende subjective Geräusche mit der Entwickelung psy ch-
ischer Störungen sich verschlechtern und wieder bessern (gemein-
same Ursache?). Endlich hat man hier und da auch ängstliche
Aufregungszustände bei acuteren oder bei Verschlimmerung chro-
nischer Ohrenleiden beobachtet. Augenerkrankungen pflegen, soweit
sie nicht Theilerscheinungen eines Gehirnleidens sind, in keiner
näheren Beziehung zum Irresein zu stehen. Man hat indessen nach
Katai-aktoperationen und überhaupt nach längerem Aufenthalte im
Dnnkelzimmer*) deliriöse Zustände mit lebhaften Sinnestäuschungen,
namenthch des Gesichtes, aber auch des Gehörs, seltener reine Ge-
sichtshallucinationen bei klarem Bewusstsein auftreten sehen , welche
eine interessante Analogie mit den in der Einzelhaft beobachteten
Störungen darbieten. Hier wie dort scheint der Ausschluss ge-
wohnter Sinnesreize das Auftreten der Trug Wahrnehmungen zu be-
günstigen. Im Uebrigen sind hier vor AUem das Greisenalter, in
zweiter Linie schlechte Ernährung, Gemüthsbewegungen, bisweilen
wol auch alkoholische Gewohnheiten als Entstehungsursachen zu
berücksichtigen.
Von den Lungenaffectionen haben wir die Taberculose und
die fieberhaften acuten Erkrankungen schon oben erwähnt; es lässt
sich über sie weiter nicht viel sagen, als dass die Verkleinerung
der Athmungsüäche mit ihren Folgen für den Gasaustausch, dann
aber die Beklemmungsgefühle bei emphysematischen und namentlich
asthmatischen Beschwerden wol auch auf den Ablauf der psych-
ischen Vorgänge einigen Binüuss gewinnen können.
Herzleiden**) scheinen bei Geisteskranken etwas häufiger
vorzukommen, als sonst; sie dürften einmal (bei Hypertrophie des
linken Ventrikels) durch gelegentliche active Hyperämien, dann aber
(bei uncompensirten fflappenfehlern, bei Perikarditis und Entartung
des Herzmuskels) durch venöse Stauungen und allgemeine Ab-
schwächung des Blutkreislaufes von Bedeutung werden. Im ersteren
Falle scheinen vorzugsweise Aufregungszustände, im letzteren häufiger
depressive Formen zur Ausbildung zu kommen. Als Andeutung der-
*) V. Frankl-Hochwart, Jahrbücher f. Psychiatrie IX, 1 u. 2, 1889.
**) Witkowski, AUgem. Zeitschr. f. Psychiati'ie, XXXII, p. 347. Karrer
in Hagen, Statistische Untersuchungen über Geisteski-ankheiten. 1876. Mickle,
Goulstonian lectures, März 1888.
28
I. Allgemeine Aetiologie.
artiger Einwirkungen darf wol schon die in der Breite des Normalen
gelegene bekannte gemüthliche Keizbarkeit Herzkranker gelten. Dass
ausserdem die BeHemmungsgefühle und das Herzklopfen nicht ohne
Einfluss sind, ist sehr wahrscheinüch. Ungenügend studirt ist bis-
her noch die Bedeutung der Gef ässerkrankungen bei Psychosen.
Zwar werden circulatorische und vasomotorische Störungen, deren
Bestehen im einzelnen Falle sich kaum beweisen noch widerlegen
lässt bei jeder Gelegenheit für die widersprechendsten Erscheinungen
verantwortlich gemacht, aUein unsere Kenntniss der thatsächlichen
pathologisch-anatomischen Yerhältnisse lässt noch Yieles zu wünschen
übrig. Nur bei Lues, Alkoholismus, Dementia senilis. Dementia
paralytica sind ausgedehnte und tiefgTeifende Yeränderungen an den
Gefässen beschrieben, die ohne Zweifel zu den Entartungsvorgängen
in der Hirnrinde in nahen Beziehungen stehen.
Vielleicht dürfen wir an dieser Stelle auch der eigenthümlichen
psychischen Störungen gedenken, welche man im Zusammenhange
mit Schilddrüsenerkrankungen beobachtet hat. Bei jugendlichen
Individuen erzeugt die Atrophie oder Degeneration jenes Organs di&
kretinistische Entartung des gesammten Organismus, wie sie neuer-
dings von Grützner experimenteU bei Thieren erzeugt worden ist.
Auch ich sah Zurückbleiben des Körperwachsthums nach Heraus-
nahme der Schilddrüse bei einem jungen Fuchse. Dagegen steUt
sich beim Erwachsenen nach operativer Entfernung der ganzen
Schilddrüse das Bild der Kachexia sti:umipriva ein, dessen wesent-
üche Züge in einem allmählich fortschreitenden Schwachsinn mit
myxödematösen Veränderungen der Haut und gewissen nervösen
Reizerscheinungen (Krampfan fäUe, Tetanie) bestehen. Eine nahe
Verwandtschaft zu diesem Krankheitsbild zeigt dasjenige des spon-
tanen Myxödems, welches höchst wahrscheinlich durch eine Atrophie
der Schilddrüse zu Stande kommt. Hier gesellen sich zu dem leich-
teren oder schwereren Schwachsinn noch die Erscheinungen einer
psychischen Depression, nicht selten auch lebhafte Angstzustände
hinzu. Als die gemeinsame Grundlage aller dieser Störungen sind
wol Blutveränderungen anzusehen, welche durch den Ausfall der
Schüddrüsenfunction herbeigeführt werden. Möglicherweise spielt
die gleiche Ursache beim Zustandekommen jener psychischen Al-
terationen eine Rolle, die wir beim Morbus Basedowii gelegentüch
beobachten; freilich kommen dabei wol auch vasomotorische uud
Organerkrankimgen.
29
Herzinnervationsstörungen iu Betracht. Am häufigsten sind es die
Erscheinungen einer Herabsetzung der psychischen Widerstands-
fähigkeit, die uns hier begegnen, erhöhte gemüthliche Keizbarkeit,
Stimmungswechsel und grosse Ermüdbarkeit.
Eine sehr weitgehende ursächliche Bedeutung hat man von jeher
den Erkrankungen desYerdauungstractus zugeschrieben ; nament-
lich in der älteren Psychiatrie spielten die Hämorrhoiden, die Stau-
ungen im Pfortadersystem, die „Verstimmungen" der Unterleibs-
geflechte eine sehr grosse RoUe. In der That ist der Einfluss schon
leichter Yerdauungsstörungen auf das aUgemeine psychische Wohl-
befinden, namentlich bei nervös veranlagten Personen, ein ganz
unverkennbarer. Es scheint sich hei diesem Zusammenhange einer-
seits um die psychische Wirkung unangenehmer dauernder Organ-
gefühle, dann aber vielleicht auch um Störungen der Blutvertheüung
im Organismus durch Stauungen in den grossen abdominellen Venen-
plexus zu handeln. Für letztere Erklärung spricht die bekannte
Erfahrung von Nicolai (des „Proktophantasmisten" aus Groethe's
Walpurgisnacht), dessen Hallucinationen durch eine Blutentziehung
am After verschwanden. Bei chronischen Magen- und Darmleiden
kommt als wichtiges ursächliches Moment noch die empfindliche
Beeinträchtigung der allgemeinen Ernährung hinzu, auf die natür-
lich das Centraiorgan des Bewusstseins ebenfalls durch Störungen
in den psychischen Leistungen antwortet. Verdauungsanomalien
sind bei allen frischen Greisteskrankheiten fast ausnahmslos vor-
handen, aber sie sind hier sicherlich vielfach als Folge der psychisch
bedingten IJnregehnässigkeiten in der Nahrungsaufnahme und nicht
als Ursache derselben anzusehen, wenn sie auch im weiteren Ver-
laufe natürlich für die Entwickelung des Zustandes von sehr grosser
Bedeutung werden können. Bei schwerem Darniederliegen aRer
psychischen Leistungen scheint allerdings häufiger Herabsetzung der
Salzsäureabscheidung im Magen vorzukommen; auch starke Schwank-
ungen des Salzsäuregehaltes im Magensaft sind bei verschieden-
artigen Geistesstörungen nicht selten.*) Parasiten im Darm können
durch die Beeinträchtigung der Ernährung, mehr wol noch auf dem
Wege reflectorischer Reizung bei Kindern deliriöse Erregungs-
*) Leubuschor und Zielaen, Klinische Untersuchiuigen über die Salz-
säureabscheidung des Magens bei Geisteskranken, 1892.
30
I. Allgemeine Aetiologie.
zustände, auch Pruritus in den Genitalien und allerlei Stimmungs-
anomalien herbeiführen.
Unter den Nierenerkrankungen*) dtirften hauptsächlich die-
jenigen in Anschlag zu bringen sein, die eine dauernde Verkleiner-
ung der secretorischen Fläche erzeugen und somit zur Entstehung
von acuten oder chronischen urämischen Yergiftungen Anlass
geben. Der psychischen Erscheinungen ist bereits kurz gedacht
worden.
Weitaus die grösste Beachtung haben von Seiten der Irrenärzte
im Hinblick auf die Entstehung des Irreseins die mannigfaltigen
physiologischen und pathologischen Yorgänge in den Genital-
organen gefunden. Die nahen Beziehungen, in welchen das Ge-
schlechtsleben zu dem psychischen AUgemeinzustande des Menschen
steht, wird ja auf das Beste durch die eigenthümlichen Wandlungen
der Pubertäts- und der Involutionsperiode, durch die Charakter-
veränderung der Castraten und endüch durch die Schwankungen
des gemüthlichen Gleichgewichtes bezeugt, welche schon normaler
Weise den Ablauf der sexuellen Functionen begleiten. Es ist daher
wol begreiflich, dass Krankheitszustände im Bereiche der Geschlechts-
organe einen entscheidenden Einfluss auf das psychische Leben aus-
zuüben vermögen, wenn auch der Zusammenhang im Einzelnen
bisher nur mit Hülfe mehr oder weniger wahrscheinlicher Yer-
muthungen construirt werden kann.
Als eine erste Gruppe von Schädlichkeiten, die hier in Beti-acht
kommen, hat man geschlechtliche Ausschweifungen und
Onanie**) bezeichnet. Yon vornherein ist sehr zu beachten, dass
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle diese Yorgänge nicht
so wol die Ursache des Irreseins, als viehnehr einfach Anzeichen
einer erhöhten nervösen Reizbarkeit, einer krankhaften Anlage dar-
steUen. Sie werden in der Eegel nur dort eine sehr erhebüche
Ausdehnung gewinnen und nur dort einen wii'klich verderblichen
Einfluss auszuüben vermögen, wo sie auf bereits prädisponii-tem
Boden erwachsen sind. Andererseits werden, namentiich von Me-
lancholikern, Neurasthenischen, hypochondrischen Paralytikern häufig
in offenbar krankhafter Weise Jahre oder gar Jahrzehnte zurück-
' *)R^en, ADgem. Zeitsclir. f. Psychiatrie. XXXVm, 1; Vassale, Eivista
sperimentale di freniatria XVI, 1890.
**) V. Krafft-Ebing, Allgem. Zeitsctr. f. Psychiatrie, XXSI, 4.
Organerkrankungen .
31
liegende „Jugendsünden" als die Ursache ihrer Leiden angegeben;
die Leetüre einer gewissen Klasse von Schriften, welche die Folgen
der Onanie in den grellsten Farben schildern, liefert dazu nicht
selten die Anregung.
Dennoch lässt sich die Möglichkeit einer gelegentlichen wirk-
lichen Schädigung des Nei-pensystems durch die hier besprochenen
Ursachen nicht ganz in Abrede stellen, zumal ja auch auf diesem
Gebiete ohne Zweifel das Mass der individuellen Leistungs- und
"Widerstandsfähigkeit ein äusserst verschiedenes ist. Es wäre denk-
bar, dass einmal (wol nur bei Männern und im jugendlichen Alter)
der Säfteverlust eine gewisse Bedeutung für die Gesammternährung
gewinnen kann; es wäre ferner möglich, dass die häufige starke
Erregung des Nervensystems die allgemeine Reizbarkeit desselben
steigert und seine Widerstandsfähigkeit herabsetzt. Dann ist aber
namentlich noch auf die psychische Bedeutung aller triebartig ge-
wordenen, eingewui-zelten Leidenschaften hinzuweisen, auf den ent-
sittlichenden Einfluss, welchen das stete Unterliegen im fruchtlosen
Kampfe mit übermächtig angewachsenen Antrieben auf die Charakter-
festigkeit des Individuums ausübt. Gerade in dieser letzteren Be-
ziehung dürfte die Masturbation weit verderblicher wirken, als der
normale Geschlechtsverkehr, da sie ja ihr Ziel viel häufiger und
leichter zu erreichen vermag, als der letztere. Beachtenswerth sind
übrigens auch wegen ihrer offenbar psychisch-nervösen Entstehungs-
weise jene vereinzelten Beobachtungen, m denen (namentlich bei
jungen Frauen) der erste Coitus acute Aufregungszustände herbei-
führt. Allerdings waren in einem derartigen Falle meiner Beobach-
tung die Anzeichen einer beginnenden Psychose schon vor der
Hochzeit vorhanden, ja man hofi'te thörichter "Weise, die Erkrankung
durch die Heirath heilen zu können.
Aus dem Umstände, dass regelmässig die Hauptursache der aus
der Masturbation hervorgehenden Geistesstörungen in der psycho-
pathischen Yeranlagung des Erkrankten liegt, erklärt sich die Mannig-
faltigkeit der hier beschriebenen Krankheitsbilder, in deren Zügen
eben zumeist einfach die psychische Entartung sich ausprägt. Am
häufigsten wird bei Onanisten eine fortschreitende Abnahme der
psychischen Leistungsfähigkeit berichtet, Unvermögen zur Auffassung
\md geistigen Verarbeitung äusserer Eindrücke, Gedächtnissschwäche,
Interesselosigkeit, Gemüthsstumpfheit; in anderen Fällen treten mehr
32
I. Allgemeine Aetiologie.
die Erscheinungen erhöhter Reizbarkeit in den Vordergrund, barocke
Ideenverbindungen, Neigung zu Mysticismus und exaltirter Schwär-
merei oder hypochondrische und melancholische Verstimmung. Dazu
gesellen sich dann mannigfaltige nervöse Störungen, besonders ab-
norme Gemeinempfindungen, aus denen sich nicht selten unsinnige
Wahnideen von dämonischer oder geheimnissvoller physikalischer
(magnetischer, elektrischer, sympathischer) Beeinflussung heraus-
entwickeln. Wir erkennen darin unschwer das Bild der Dementia
praecox und der ihr verwandten Krankheitszustände.
Auch die geschlechtliche Enthaltsamkeit ist bisweilen unter
den Ursachen des Irreseins aufgeführt worden. Leider sind alle
statistischen Belege über die Erkrankungshäufigkeit der Ehelosen
u. s. f. für die Entscheidung dieser Frage aus nahe liegenden Gründen
von nur sehr zweifelhaftem Werth. Im Allgemeinen lehrt indessen
die Erfahrung, dass bei gesunden Individuen nach länger dauernder
Enthaltsamkeit aUmählich die geschlechtüche Erregbarkeit abnimmt,
dass die Natur somit selber die hier etwa drohenden Gefahren be-
seitigt. Etwas anders liegen, wie es scheint, die Dinge bei psycho-
pathisch veranlagten Personen. Erzwungene Enthaltsamkeit, nament-
lich nach vorheriger Gewöhnung an geschlechtliche Befriedigung,
disponirt hier jedenfalls zur Onanie und kann auf diese Weise ver-
derbliche Folgen nach sich ziehen, wenn man auch andererseits bei
Menschen mit krankhafter sexueUer Eeizbarkeit häufig genug die
Masturbation neben und trotz geregelten geschlechtüchen Verkehi-s
sich entwickeln sieht. Wo die Enthaltsamkeit eine freiwilHge ist,
muss sie wel richtiger als Folge und nicht als Ursache einer krank-
haften Anlage aufgefasst werden, die ja so oft mit unvollständiger
Ausbildung der Genitalorgane und des Geschlechtstriebes einhergeht.
Eine nicht unbedeutende RoUe bei der Entstehung mannigfacher
nervöser und psychischer Störungen scheinen aber nach vielfachen
Erfahrungen für das weibliche Geschlecht häufige sexuelle Reizungen
ohne gehörige Befriedigung zu spielen, wie sie mit der Dm-chführung
des „Zweikindersystems" nicht selten verbunden sind.
Beim weiblichen Geschlechte pflegt schon der physiologische
periodische Vorgang der Ovulation regelmässig von einer leichten
Steigerung der nervösen und psychischen Reizbarkeit begleitet zu
sein, die bei einzelnen Individuen sogar fast kranldiafte Grade
(äusserste Verstimmung, lebhafte Erregung) erreichen kann.
Organerkranlcungen.
33
Störungen der Menstruation*) scheinen nicht selten in einem
gewissen Zusammenhange mit psychischen Zustandsveränderungen
zu stehen; so hat man nach plötzlichem Aufhören der Menses in
einzelnen Fällen tobsüchtige Aufregungen mit den Erscheinungen
der Himcongestion, andererseits bei Menorrhagien solche mit den
Zeichen der acuten Anämie auftreten sehen. Namentlich im Ver-
laiife psychischer Störungen ist recht häufig eine Yeränderuug des
Krankheitsbildes mit dem Wiedereintritte der cessirenden oder dem
Aufhören der so lange regelmässigen Menses nicht zu verkennen.
Allein es muss für die unbefangene Würdigung derartiger Yor-
kommnisse stets der Umstand im Auge behalten werden, dass er-
fahrungsgemäss den psychischen Yorgängen ein entschiedener Ein-
fluss auf die menstruelle Blutung zukommt und somit die Fest-
stellung des wirklichen Zusammenhanges hier durchaus nicht immer
zweifellos ist. Yasomotorische Yorgänge düi^fen vielleicht als die
Orundlage dieser wechselseitigen Beziehungen angesehen werden;
dass profuse Blutungen auch durch acute oder chronische Anämi-
sirung des Gesammtorganismus wirken können, wurde bereits an-
gedeutet.
Nicht selten sind bekanntlich die Menstruationsstörungen nur
Begleiterscheinungen von Erkrankungen der Genitalorgane,**)
unter denen namentlich chronische Entzündungen, Lageveränderungen,
Geschwülste des Uterus von Wichtigkeit sind. Allen derartigen
Leiden, wie auch denjenigen der Ovarien und Tuben, dem Pruritus
vulvae, Yaginismus hat man vielfach eine grosse Bedeutung für die
Entstehung des Irreseins zugeschrieben, die man sich durch die
Annahme einer Ausstrahlung der bestehenden Eeizungszustände auf
das Centraiorgan des Bewusstseins zu erklären suchte. Diese An-
sicht stützt sich zunächst auf gewisse Beobachtungen, in denen durch
das Einlegen eines passenden Pessariums, durch die Behandlung
eines Cervicalkatarrhs und dergleichen eine bestehende Psychose
gebessert oder gar zur Heilung gebracht wurde. Im Allgemeinen
*) V. Krafft-Ebing, Archiv f. Psychiatrie, VEI, 1; Powers, Beitrag zur
Kenntniss der menstrualea Psychosen, Diss. 1883.
**) L. Mayer, Die Beziehungen der ki-ankhaften Zustände und Yorgänge in
den Sexualorganen des Weibes zu Geistesstörungen. 1870; Hegar, Der Zusam-
menhang der Geschlechtskrankheiten mit nervösen Leiden und die Castration bei
Neurosen. 1885.
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Anfl. 3
2^ I. Allgemeine Aetiologie.
dürfte in allen solchen Fällen stets die Hauptursache der Geistes-
störung in der krankhaften Anlage des Individuums gelegen sein,
von der wir ja wissen, dass sie unter dem Einflüsse der verschie-
densten Anlässe, ja „von selbst", d. h. durch die Wirkung der nor-
malen Kelze des täglichen Lebens, zum Irresein führen kann. Dass
darum die therapeutische Beachtung solcher Keizmomente trotzdem
von grosser praktischer Wichtigkeit werden kann, bedarf keiner
weiteren Erörterung. Als der psychopathische Ausdruck der
genanuten ursächlichen Erkrankungen wird vielfach noch das
formenreiche Krankheitsbüd der Hysterie betrachtet, weü gerade
bei diesem Leiden durch die Beseitigung leichterer oder schwererer
körperücher Störungen ausserordentüch überraschende Besserungen
des Gesammtzustandes erreicht werden. Man hat daher zur Heilung
Hysterischer nicht selten die operative Entfernung erkrankter oder
sogar gesunder Ovarien ausgeführt. Auf der anderen Seite ist es indessen
bemerkenswert!!, dass gerade im Anschlüsse an grosse gynäkologische
Operationen mehrfach das Auftreten psychischer Erkrankung be-
obachtet worden ist (künstliches Klimakterium). Den Geschlechts-
leiden bei Männern scheint eine irgend erhebüche ursächliche Be-
deutung für das Irresein nicht zuzukommen.
Schwangerschaft, Wochenbett und Sängegeschäft. Dagegen
zeigt sich die hervorragende KoUe, welche das Geschlechtsleben auch
für die psychische Persönlichkeit des Weibes spielt, weiterhin in
jener Gruppe von Geistesstörungen, deren Entwickelung sich im Zu-
sammenhange mit den verschiedenen Phasen des Portpflanzungs-
geschäftes, der Schwangerschaft, dem Wochenbett und der Lactation
vollzieht.*) Die Angaben über die Häufigkeit dieser Ursachen beim
Zustandekommen psychischer Erkrankungen gehen ziemlich weit
auseinander; im Mittel sind etwa U% aUer in Irrenanstalten be-
obachteten Geistesstörungen beiPrauen auf dieselben zurückzuführen.
Davon kommen S^/o auf die Schwangerschaftspsychosen. Der
ursächliche Zusammenhang scheint während dieser Zeit hauptsäch-
lich durch die Yeränderungen in Mischung (Abnahme der Blut-
körperchen und der Salze, Yermehrung des Pibrins) und Circulation
der Ernährungsflüssigkeit (Ausbüdung des Placentarkreislaufs) ver-
*) Fürstner, ArcHv f. Psychiatrie, V, 505; Eipping, Die Geistssstönmgen
der Schwangeren, Wöchnerinnen und Säugenden. 1877.
Schwangerschaft, Wochenbett und Säugegeschäft.
35
mittelt zu werden, doch dürfte auch, namentlich bei erstmalig und
bei unehelich Schwangeren, den psychischen Momenten (Schweben
zwischen Hoffnung und Furcht vor den Gefahren der Geburt, Sorgen
u. s. f.) ein gewisser Einfluss zuzuschreiben sein. Die Form der
Erki-ankung ist meist eine melancholische Verstimmung von ver-
schiedener Intensität ; ich sah bei einer Frau in mehreren Schwanger-
schaften wiederholt rasch verlaufende, deliriöse Aufregungszustände
eintreten. Am günstigsten gestalten sich die in den ersten Monaten
zur Entwickelung gelangenden Störungen; die später beobachteten
pflegen länger zu dauern. Durch die Geburt wird die Psychose ge-
wöhnlich nicht erheblich beeinflusst ; vielmehr geht jene meist ohne
besondere Eeactionserscheinungen von statten. In einem von mir
beobachteten Falle gebar eine stuporös-melancholische Frau ihr todtes
Kind in den Nachtstuhl, ohne einen Laut von sich zu geben, so dass
man erst später durch die Blutmig auf das Ereigniss aufmerksam wurde;
auch hier dauerte die Geistesstörung noch mehrere Monate lang fort.
Keinesfalls kann daher aus dieser letzteren etwa die Indication zur
künstlichen Frühgeburt hergeleitet werden.
Weit häufiger (bei 6,80/0 aller in die Irrenanstalten aufgenom-
menen Frauen; unter etwa 400 "Wöchnerinnen bei je einer) wird
das Wochenbett*) Ursache des Irreseins. Füx die Pathogenese
ist hier einerseits auf die Schmerzen, den Blutverlust, die raschen
Kreislaufsänderungen, sowie auf die psychischen Einwirkungen des
Geburtsactes selbst und etwaiger Störungen bei demselben Gewicht
zu legen. Unter dem Einflüsse dieser Ursachen können sich wäh-
rend der Geburt plötzliche deüriöse Aufregungszustände, bisweilen
mit Neigung zu impulsiven Gewaltacten entwickeln, die gerade des-
wegen eine grosse forensische Bedeutung besitzen und meist von
sehr kurzer Dauer sind (einige Stunden); eine Puerpera meiner
Beobachtung stürzte sich in einem derartigen Zustande aus dem
Fenster durch das darunter befindliche Glasdach eines Treibhauses.
Andere erdrosseln ihre Kinder oder lassen dieselben doch unbeachtet
ohne Nahrung und Pflege zu Grunde gehen.
Die eigentlichen Puerperalpsychosen dagegen beginnen gewöhn-
lich erst am 5. bis 10. Tage des Wochenbettes (auch bisweüen nach
einem Abortus mit starkem Blutverlust). Sie müssen mit den mäch-
*) Hansen, Zeitschr. f. Geburtshülfe u. Gynäkologie, XV, 1.
3*
I. Allgemeine Aetiologie.
tigen Umwälzungen der ersten Tage des Wochenbettes (Ausscheid-
ungen, Gewichtsabnahme), vielfach auch wol mit infectiösen Er-
krankungen der Genitalorgane in Zusammenhang gebracht werden.
Wo schwere infectiöse Erkrankungen zu Grunde liegen — l^Iastitis,
Endokarditis ulcerosa (Westphal), Parametiitis, Perimeti^itis und
ähnliches — hat die psychische Störung natürlich in der Eegel
wesentlich den Charakter der Fieberdelirien mit baldigem Ausgange
in komatöse Zustände.
Sonst aber sind am häufigsten, besonders bei jüngeren Indi-
viduen, das rasch verlaufende CoUapsdelirium und die Amentia,
der ein kurzes Stadium erhöhter Keizbarkeit in depressivem oder
expansivem Sinne, Schlaflosigkeit, Unruhe vorherzugehen pflegt. In
schweren Fällen kann sich an die anfängüchen deliriösen Aufi-egungs-
zustände ein kürzeres oder längeres Stadium acuter Demenz an-
schliessen, aus dem die Kranke erst ganz allmählich, nach Monaten
oder selbst Jahr und Tag, wieder erwacht. Prognostisch ungünstiger
und von durchschnittlich längerer Dauer sind die etwas seltener zur
Beobachtung kommenden Melanchoüen, die sich durch die Neigung
zu stuporösen Zuständen einerseits, zu impulsiven Acten ßlord,
Selbstinord, ti-iebartiges Mastiu^biren) andererseits auszeichnen.
Endüch büdet die durch das Wochenbett; hervorgerufene Ernährungs-
störung nicht selten die Grundlage, auf welcher sich in weniger un-
mittelbarem Anschlüsse aUe möglichen Formen psychischer Er-
krankung entwickeln können. Zweimal sah ich das Puerperium den
Anlass zum Ausbruche einer progressiven Paralyse geben; ebenso
scheint der Beginn des Wahnsinns und der Verrücktheit bisweilen
mit vorangegangenen Wochenbetten in einem gewissen Zusammen-
hange zu stehen, wenn auch dieselben hier sicherüch nicht als die
einzigen Ursachen der Psychose aufgefasst werden dürfen.
In der Mitte zwischen den Psychosen der Gravidität und des
Puerperiums stehen nach ihrer Häufigkeit (4,9o/o aller weiblichen
Aufnahmen in Irrenanstalten) die psychischen Erki-ankungeu der
Lactationsperiode. Körperliche Erschöpfung durch Wochenbett imd
das Säugegeschäft, ferner örtüche Erkrankungen der Genitaüen smd
hier als die wesentlichen ursächlichen Momente zu beti-achten.
Ausserdem aber spielt die psychopathische Yeranlag-ung eine mass-
gebende Rolle. Dementsprechend sehen wk neben der Amentia häu-
figer Melancholien und subacuten hallucinatorischen Wahnsinn sich
Schwangerschaft, "Wochenbett und Säugegeschäft.
37
entwickeln. Die Zeit des Ausbruchs der Störung ist meist der 3.
bis 5. Monat nach der Entbindung.
2. Psychische Ursachen.
Schon wiederholt haben wir in unserer bisherigen Darstellung
Gelegenheit gehabt, neben der unmittelbaren, körperlichen Einwirkung
der besprochenen Krankheitsursachen auch ihres psychischen Ein-
flusses zu gedenken. Man hat von diesem Gesichtspunkte aus
auch wol die gemischten Ursachen als eine Zwischengruppe zwischen
den körperlichen und den psychischen hingestellt. Abgesehen von
der aus unserer Grundanschauung sich mit N^othwendigkeit ergeben-
den allgemeinen Forderung, dass alle Störungen der psychischen
Leistungen an solche der Hirnthätigkeit geknüpft sein müssen, ist
der eigentliche Mechanismus der psychischen Einwirkungen begreif-
licherweise noch völlig unbekannt; nur einzelne Glieder des ver-
niutheten Zusammenhanges können wir mit grösserer oder geringerer
"Wahrscheinlichkeit namhaft machen. So geht namentlich der Ein-
fluss der AJfecte regelmässig mit Yeränderungen der Circu-
lation und Athmung einher, welche ja die sphygmographische
Untersuchung schon bei den leichtesten Gemüthsbewegungen ohne
Schwierigkeit nachweisen lässt; auch Yerdauungsstörungen
scheinen durch psychische Ursachen sehr häufig hervorgerufen zu
werden, wie die alltägliche Erfahrung des Appetitmangels nach hef-
tigem Aerger oder bei grossem Kummer darthut. Das wichtigste
Bindeglied bei der Entstehung des Irreseins aus psychischen Ur-
sachen ist aber wol ohne Zweifel die hier niemals fehlende Be-
einträchtigung des Schlafes. "Wo die lebhafte Erregung des
Gehirns die Möglichkeit des Ruhens und eines gehörigen Ersatzes
des verbrauchten Ernährungsmaterials ausschüesst, da müssen sich
mit Nothwendigkeit fortschreitende krankhafte Veränderungen heraus-
bilden, die durch den Erschöpfungszustand der reizbaren Schwäche
hindurch immer tiefere Störungen der psychophysischen Leistungen
heraufführen. Zu der "Wirkung psychischer Schädlichkeiten pflegt
sich aber fast immer noch diejenige mannigfacher körperlicher
Schwächungen durch Elend, Entbehrungen, schlechte Ernährung,
unregelmässige Lebensweise, Ausschweifungen aller Art, hinzuzu-
gesellen, so dass es im Einzelfalle gänzlich unmöglich ist, den An-
theil der verschiedenen Ursachen an dem Zustandekommen des
38
I. Allgemeine Aetiologie.
psychopathisclien Gesammtergebnisses auch nur annähernd festzu-
stellen. G-riesinger ist der Ansicht, dass im Allgemeinen die
psychischen Ursachen in der Aetiologie des Irreseins ziemlich be-
deutend die EoUe der körperlichen überwiegen. Eine genauere
Feststellung dieses Verhältnisses dürfte übrigens aus den früher
angeführten Gründen nur einen sehr untergeordneten wissenschaft-
lichen Werth haben.
Nirgends vielleicht spielt die persönliche Eigenart, die
Eeactionsweise des Betroffenen, eine grössere Eolle, als bei der Ent-
stehung des Irreseins aus psychischen Ursachen. Allerdings wissen
wir ja, dass auch die körperliche Widerstandsfähigkeit verschiedener
Menschen innerhalb recht weiter Grenzen schwankt, aber die Er-
fahrung lehrt, dass auf psychischem Gebiete die Unterschiede viel-
leicht noch um ein Beträchtliches grösser ausfallen. Sind es doch
gerade diese Yerschiedenheiten in der Eeaction auf die wechselnden
Eindrücke des Lebens, in welchen sich uns die fast unabsehbare
Mannigfaltigkeit der psychischen Individualitäten, der „Naturen",
„Charaktere" und „Temperamente" ausdrückt! So kommt es, dass
psychische Ursachen allein im Allgemeinen bei gesund entwickelten,
rüstigen Persönlichkeiten wol nur äusserst selten wirkliche Geistes-
störungen zu erzeugen im Stande sind, während sie auf dem Boden
einer krankhaften Constitution zweifellos zu den wichtigsten Yeran-
lassungen des Irreseins gerechnet werden müssen.
PsycMsclie Ansteckung. Zunächst haben wir hier des Vor-
ganges der uneigentlich so genannten „psychischen Contagion" zu
gedenken, der Ausbreitung psychischer Störungen diu^ch „Ansteckung".
Dass gewisse einfache unwiUkürüche Bewegungen, das Gähnen,
Lachen, Eäuspern, Husten, Erbrechen, durch «"achahmung, d. h. durch
die Erzeugung der YorsteUung dieser Bewegungen, hervorgerufen
werden, ja dass sogar Ohnmächten (Soldaten beim Impfen), epilep-
tische, hysterische, choreatische Krämpfe (Mädchenschulen) auf gleiche
Weise ausgelöst werden können, ist eine sehr bekannte Thatsache.
Die Medicinalgeschichte berichtet uns ferner von dem endemischen
Auftreten religiöser Aufregungszustände in grösserem Massstabe,
offenbar ebenfalls unter dem Einflüsse der Nachahmung*), und an-
*) Hecker, Die grossen Volkskraukheiteu des Mittelalters, herausgegeben
von Hirsch. 1865.
.Psychische Ansteckung.
39
scheinend ganz ähnliche Vorgänge werden unter verschiedenen Be-
zeichnungen noch heute bei gewissen leicht erregbaren Völker-
Stämmen und religiösen Secten beobachtet. Endlich zeigen uns die
Erfahrungen an Hypnotischen, in welcher Weise man experimentell
eine willenlose Abhängigkeit des Vorstellungs Verlaufes and der
Handlungen eines Menschen von gewissen äusseren Eindrücken her-
stellen kann. So kommen denn auch Fälle zur Beobachtung , in
denen mehi-ere mit einander in Berührung lebende Personen gleich-
zeitig oder kurz nacheinander unter ihrem gegenseitigen Einflüsse
in der gleichen Weise psychisch erkranken (inducirtes Irresein*),
folie ä deux); ich selbst hatte G-elegenheit, im Zeitraum von acht
Tagen di-ei mit religiöser Aufregung und Sinnestäuschungen erkrankte
Geschwister in die Anstalt aufzunehmen. Die Psychose kann dabei
entweder einfach durch die gemüthliche Erregung, welche sie bei
der Umgebung erzeugt, als Gelegenheitsursache krankmachend
wirken, oder aber es werden geradezu gewisse Krankheitserschein-
ungen durch eine Art von Suggestion dauernd oder vorübergehend
von einer Person auf die andere übertragen. Namentlich bei Ver-
rückten und Querulanten macht man bisweilen die Beobachtung,
dass sie die eine oder andere Person ihrer Umgebung gänzlich in
ihre Wahnideen hineinziehen und dieselbe von der Berechtigung ihrer
Ansprüche vollständig überzeugen. Die secundär Erkrankten sind
in solchen Fällen regelmässig krankhaft veranlagte, beschränkte
Personen mit sehr geringer psychischer Widerstandsfähigkeit. Nicht
ohne Weiteres mit dem inducirten Irresein zusammenzuwerfen sind
natürlich jene selteneren, aber interessanten Fälle, in denen Ge-
schwister (besonders Zwillinge!) auch ohne gegenseitige Beeinflussung
eine mitimter geradezu verblüffende Aehnlichkeit in den Kjank-
heitserscheinungen darbieten.
Eine gOAvisse Verwandtschaft mit dem Vorgange der psychi-
schen Ansteckung zeigen die in der neueren Zeit mehr beachteten
Erfahrungen von geistigen Störungen im Anschlüsse an hypnotische
Versuche. Die Gefahr liegt hier in dem Umstände, dass bei stark
neuropathisch belasteten Personen der wiederholt ihnen aufge-
*) Lehmann, Archiv f. Psychiatrie, XIV, 1; Jakowenko, Wjestnik Psy-
chiatrii, 1887; Werner. Allgom. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLIV, 4 u. 5; Wollen-
berg, Arciiiv f. Psychiatric, XX, 1,
40
I. Allgemeine Aetiologie.
drungene hypnotische Zustand bisweilen später in Folge von Auto-
suggestion von selbst häufig und immer häufiger wiederkehren kann,
wie ich es in einem schliesslich mit Selbstmord endenden Falle zu
beobachten Gelegenheit hatte. Die Hauptursache der Psychose liegt
auch hier wol immer in der krankhaften Anlage, doch mahnen
solche Vorkommnisse jedenfalls zu grosser Vorsicht in der prak-
tischen Handhabung des Hypnotismus.
Gemiitlisbeweguiigen. Am mächtigsten wirken natürlich solche
Eindrücke auf die psychische Persönlichkeit ein, welche mit starken
Schwankungen der gemüthlichen Gleichgewichtslage verbunden sind
und Aifectzustände erzeugen. Drückt sich doch gerade in der Stärke
der Gefühle, die einen Eindruck begleiten, der Grad des inneren An-
theils aus, welchen der Mensch an demselben nimmt! Die äussere
Ursache des Affectes ist dabei an sich gleichgültig; „jedes Geschlecht,
jeder Stand, jedes Individuum", sagt Griesinger, „holt sich seine
geistigen Wunden auf dem Kampfplatze, den ihm die Natur und
die äusseren Umstände angewiesen haben, und Jeder hat wieder
einen andern Punkt, auf dem er am verletzlichsten ist, eine andere
Sphäi-e, von der am leichtesten heftige Erschütterungen ausgehen,
der Eine sein Geld, der Andere seine äussere Werthschätzung, der
Dritte seine Gefühle, seinen Glauben, sein Wissen, seine Familie
u. dergl. m." Fast ausschliesslich sind es die depressiven Äff ecte,
die wir hier in Betracht zu ziehen haben; wir wissen ja auch, dass
gerade sie die mächtigsten und dauerndsten Stürme im Menschen
zu erzeugen vermögen, während selbst die höchsten Grade dßr Freude
rasch in das ruhige Gefühl des gesicherten Glückes überzugehen
pflegen. Angst vor einem bevorstehenden Unglück, Schreck über
ein unerwartetes Ereigniss, Zorn über ein widerfahrenes Unrecht,
Verzweiflung über einen erlittenen Verlust, das sind die gewal-
tigsten plötzlichen Erschütterungen, welchen unser psychisches
Gleichgewicht ausgesetzt ist, und die daber verhältnissmässig häufig
als Ursachen tieferer und länger dauernder Störungen aufgeführt
werden. Gerade hier dürften die regelmässig vorhandenen vaso-
motorischen Erregungs- und Lähmungszustände für die Entstehung
des Irreseins von entschiedenem Belange sein.
Als symptomatische Formen beobachten -wir nach rasch ein-
wirkenden Gemüthsbewegungen ganz vorwiegend das Collapsdetirium
und die Amentia, in sehr schweren Fällen acute Demenz. Bei stärker
Gemüth sbewegiuigen .
41
psjchopathisch yeranlagten Personen können sich auch ängstliche
oder stuporöse Melancholien oder "Wahnsinnsformen, nach leichteren
Einwirkungen manische Aufregungszustände entwickeln. Vielfach
scheint das Bild der Psychose noch durch die Art des auslösenden
Alfectes beeinflusst zu werden und sich in Yorstellimgskreisen
zu bewegen, die denselben hervorriefen. In PoJge von Angst und
Yerzweiflung sehen wir vorzugsweise depressive, nach zornigen
Alfecten gewöhnlich wüthende Aufregungszustände und unter dem
Einflüsse des Schrecks zumeist stuporöse Pormen der psychischen
Störung entstehen. Allein dieses Yerhalten zeigt durchaus keine
zwingende Eegelmässigkeit; auch ein heiteres DeUrium mit völhgem
Yerlust der Erinnerung für den veranlassenden Yorfall kann z. B.
auf einen schreckhaften Eindruck hin zur Entwickelung gelangen.
Der Anschluss der Psychose an die Gemüthsbewegung ist bisweilen
ein ganz unmittelbarer, plötzlicher; weit häufiger aber stellt sie sich
erst nach einigen Tagen oder selbst Wochen heraus. Ich hatte Ge-
legenheit, den sehr deutlichen TJebergang des normalen Schmerzes
einer Mutter über den Tod ihres Kiades in den krankhaften Affect
direct zu beobachten. Nachdem zunächst die Trauerbotschaft selbst
sie ausschhesslich beschäftigt hatte, machten sich am dritten Tage
unmotivirte Selbstanklagen, die Purcht, hingerichtet zu werden, sowie
ängstigende Sinnestäuschungen bemerkbar, während der Gedanke an
das verstorbene K"ind von da ab und für den ganzen weiteren Ver-
lauf einer mit vielfachem Stimmungswechsel verbundenen Amentia
gänzlich in den Hintergrund trat.
Auch die chronischen depressiven Affecte sind ohne Zweifel,
und zwar vielleicht in höherem Grade, als die acuten, im Stande,
eine krankhafte Störung des Seelenlebens zu verursachen. Den Ein-
fluss schnell eintretender, aber kurz dauernder Schädlichkeiten ver-
mag auch der psychische Organismus oft leichter zu verwiaden, als
jene langsamen, fortdauernden Einwirkungen, welche eine beständige
Trübung des Stimmungshintergrundes herbeiführen, mit immer
stärkerem Drucke allmählich jede freiere, freudige Eegung zurück-
drängen imd das Gefühl des Unglückes bis zur Unerträglichkeit
anwachsen lassen. Schlaflosigkeit, chronische Yerdauungs- und
Kreislaufsstörungen mögen hier als die körperlichen Einflüsse an-
gesehen werden, deren Wirkung derjenigen der psychischen Ur-
sachen parallel geht. Hierher gehört namentlich die Sorge in ihren
^2 I- Allgemeine Aetiologic.
mannigfaltigen quälenden Formen, der Kummer über erlittene Ent-
täuschungen, unglückliche Liebe, Trennung von geliebten Personen
und Versetzung in ungewohnte, peinigende Verhältnisse (Nostalgie,
Heimweh), endüch die Eeue über begangene Fehltritte. Auch hier
besteht zumeist ein gewisser symptomatischer Zusammenhang
zwischen Inhalt des Affectes und Form der Psychose. Es sind ganz
vorwiegend schwer neurasthenische und melancholische Zustände,
bei stärkerer psychopathischer Veranlagung die chronischen Formen
des hallucinatorischen und der depressive Wahnsinn, die wir unter
solchen Verhältnissen sich ausbilden sehen. Im Ganzen ist jedoch
hier der Zusammenhang zwischen äusserem Anlass und geistiger
Störung ein weit weniger durchsichtiger und zwingender, das klinische
Bild und der Verlauf dieser letzteren ungleich selbständiger, als bei
den Psychosen nach acuten Gemüthsbewegungen.
Gefangenscliaft. Eine ganze Eeihe von psychischen Ursachen
findet sich vereinigt in der Gefangenschaft, namentlich in der Einzel-
haft, die erfahrimgsgemäss einen grossen Procentsatz (2— 3«/o) von
Geistesstörungen erzeugt.*) In der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle besteht hier schon eine mehr oder weniger schwere krank-
hafte Veranlagung, theils auf Grund angeborener Entartung, theüs
durch mannigfache Lebensschicksale (uneheUche Geburt, schlechte
Erziehimg, Krankheiten, Traumata, Alkoholismus) erworben. Dazu
kommen die besonderen hygienischen Verhältnisse des Gefängniss-
lebens (Kost, ungenügende Bewegung, Mangel frischer Luft), die
Nachwirkungen der Untersuchungshaft, der Verlust der persönüchen
Freiheit und vor Allem die Einsamkeit, welche dem Eingesperrten
zur grübelnden Beschäftigung mit den eigenen Gedanken gründliche
Müsse giebt und ihn die Angst vor der Zukunft, die Reue über das
Begangene um so lebendiger empfinden lässt, je weniger ihn sein
Büdungsgrad und sein Charakter zur moralischen Selbsterziehung
befähigt. Der Ausbruch der Psychose erfolgt bisweüen schon in
den ersten Tagen oder Wochen (Untersuchungshaft), häufiger nach
einigen Monaten, selten nach Ablauf des ersten Jahres. Bei Weitem
am häufigsten wird in der Stille des Isolii-zimmers das Krankheits-
bild des hallucinatorischen Wahnsinns, namentüch der acut auf-
*) Gutsch, Allgem. Zeitsclir. f. PsycMatrie, XIX, p. 1; Kirn, ibidem XLV,
p. 1. '
Gefangenschaft, Krieg, Ueheranstrengiing.
43
tretenden, rasch verlaufenden Formen, meist mit heftigen Angst-
zuständen und Selbstraorddrang, seltener mit expansiven Wahnideen
und Sinnestcäuschungen, beobachtet. Diese, zum Theil allerdings von
ihm als acute hallucinatorische Melancholie aufgefassten Zustände
bezeichnet Kirn als die geradezu charakteristische Psychose der
Einzelhaft. "Wo indessen nicht sowol die Isolirung, als vielmehr
andersartige Einflüsse die hauptsächliche Ursache der Psychose
bilden, können natürlich auch alle möglichen anderen Formen psych-
ischer Erkrankung zur Beobachtung gelangen. Ausser den ver-
schiedenen Arten des Schwachsinns mit oder ohne Epilepsie und
periodischen, triebartigen Aufregungen („Zuchthausknall") kommt
hier namentlich die hallucinatorische Yerrücktheit mit Grössen- und
Verfolgungsideen, sowie der Querulantenwahn in Betracht.
Krieg. Ganz besonders reich an psychischen Ursachen des Irre-
seins ist der Krieg. Wenn Sommer*) den ^Tachweis geliefert hat,
dass der Militärdienst im Frieden wesentlich nur psychopathisch
veranlagte Personen krank macht und keinesfalls mehr Opfer an
Geistesstörungen fordert, als in der entsprechenden Civilbevölkerung
beobachtet werden, so pflegen doch Kriegsjahre**) regelmässig mit
einer mächtigen Steigerung der psychischen Erkrankungen in der
Armee einherzugehen. Der Grund dieses Verhaltens liegt zum
Theil in der grösseren Häufung von Gelegenheitsursachen, nament-
lich von Kopfverletzungen und acuten Krankheiten, hauptsächlich
aber in der mehr chronischen Erschöpfung durch körperliche Ueber-
anstrengungen, Schlaflosigkeit und tiefgreifende, anhaltende gemüth-
üche Erregungen. Die klinischen Bilder sind demgemäss einmal
schwere neurasthenische Zustände, Unfallspsychosen bis zur acuten
Demenz, andererseits ganz besonders die Paralyse, seltener Melan-
cholien und hallucinatorischer Wahnsinn. Häufig genug entwickelt
sich das Irresein (namentlich die Paralyse) auf der durch den Feldzug
gelegten Grundlage erst einige Zeit nachher, um dann meist einen
chronischeren und ungünstigeren Verlauf zu nehmen.
Ueberanstrenguug. Alle diese Betrachtungen lassen unschwer
erkennen, dass wir es bei den chronisch wirkenden Ursachen des
*) Allgemeine Zeitschr. f. Psychiatrie, XLII.
**) Sanitätsbericht über die deutschen Heere im Kriege gegen Frankreich
1870/71, Bd. Vn.
44
I. Allgemeine Aetiologie,
Irreseins sehr gewöhnlich mit einer erst allmählich sich ausbildenden
Zustandsveränderung zu thun haben, die zunächst noch nicht selbst
als Krankheit zu bezeichnen ist, aber den Boden mehr und mehr
vorbereitet, auf dem dann schliesslich unter dem Einflüsse der fort-
wirkenden äusseren Schädlichkeiten die eigentliche Psychose zum
Ausbruch gelangt. Es lässt sich daher hier die unmittelbar krank-
machende von der vorbereitenden "Wirkung auch theoretisch nicht
mehr trennen. Geistige Thätigkeit und Gemüthsbewegung beruhen
auf den normalen Leistungen des Centraiorgans unseres Bewusst-
seins; nur das TJebermass dieser Eunctionen ist es, welches die-
selben zu schädigenden Einflüssen heranwachsen lässt. Wie auf
dem Gebiete des peripheren Nervensystems, so führt auch im Gehirn
jede übermässig gesteigerte Arbeitsleistung ziinächst zu einer bleiben-
den Erhöhung der Eeizbarkeit, zu jenem Zustande, den wir als
reizbare Schwäche bezeichnen, und der dann endlich bei Fortdauer
der Erregung in die Erschöpfung, in die Abschwächung aller
psychischen Leistungen übergeht. Die grössere oder geringere
Schnelhgkeit, mit welcher diese Zustandsveränderungen sich im
einzelnen Falle ausbilden, hängt natürüch ganz von der Ursprung-,
liehen persönlichen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit ab.
Das sind ungefähr die Gesichtspunkte, von denen aus sich die
prädisponirende Wirkung geistiger und gemüthlicher Ueberan-
strengung auffassen lässt. Die nächste Folge solcher fortgesetzter
Schädlichkeiten sind regelmässig die Erscheinungen der Neurasthenie,
Erhöhung der psychischen Eeizbarkeit, Zerstreutheit, Verstimmung,
hypochondrische Befürchtungen, Schlaflosigkeit, verbunden mit
mannigfaltigen „nervösen" Störungen, im weiteren Verlaufe dagegen
Erschöpfung, Unfähigkeit zu geistiger Anstrengimg, wachsendes
Kuhebedürfniss und Apathie. Diese Stöningen, deren leichteste
Formen ein Jeder an sich gelegentlich beobachten kann, wenn
irgend eine Lebenslage erhöhte Anforderungen an seine psycMschen
Leistungen stellt (Examen), entwickeln sich zu dauernden Zustands-
veränderungen dort, wo übermässige Beize immer von Neuem auf
den Menschen einwirken, oder dort, wo der Organismus von vorn-
herein nicht die genügende Elasticität besitzt, um die schädigenden
Einflüsse in der Buhe rasch und erfolgreich ausgleichen zu können.
Praktisch kommt die Ueberanstrengung als Ursache psychischer
Störungen hauptsächlich nach zwei Bichtungen in Betracht, einmal
Kohe und wahre Ursachen.
45
als Uebermass rein intellectueller Leistung bei Schülern, Studenten,
Gelehrten, dann aber als Ueberbürdung mit Pflichten verschiedener
Art bei Krankenpflegerinnen, Erzieherinnen, Eisenbahnbeamten u. s.f-
Die erstere Form birgt ernstere Gefahren nur für jugendliche oder
bereits prädisponirte Individuen; hier können vor Allem Dementia
acuta oder bei chronischerer, tiefer greifender Einwirkung Dementia
praecox zur Entwickelung gelangen, während sich sonst die in der
Eegel einfach neurasthenischen Erscheinungen bei längerer Euhe
leicht wieder zu verlieren pflegen. Im zweiten Falle wird die
geistige Ueberanstrengung meist von beständiger gemüthlicher An-
spannung, vom Gefühle der Yerantwortlichkeit sowie von körper-
lichen Strapazen begleitet. "Wir begegnen daher hier im Allgemeinen
schwereren und länger dauernden psychischen Erkrankungen, ausser
den oben genannten besonders Melancholien und den verschiedenen
Formen des Wahnsinns; auch für die Entstehungsgeschichte der
Paralyse scheint die gemüthliche Ueberanstrengung eine gewisse
Bedeutung zu haben.
Rohe und wahre Ursachen. Das Endziel der ätiologischen
Forschung ist ohne Zweifel die Feststellung eines derart gesetz-
mässigen Zusammenhanges zwischen Ursache und "Wirkung, dass in
jedem einzelnen Krankheitsfalle derselben Schädlichkeit überall die
nämliche Störung entspricht und umgekehrt. Thatsächlich sehen
wir iadessen, dass man bisher den gleichen äusseren Einwirkungen
die Erzeugung verschiedenartiger Formen des Irreseins zuschreibt,
und dass dieselben psychischen Erkrankungen anscheinend aus einer
Reihe differenter Ursachen hervorgehen. Dieser Widerspruch, der
sich übrigens bei allen unentwickelten Erfahrungswissenschaften
wiederfindet, hat seinen Grund einmal darin, dass uns die wichtigste
Gruppe der Ursachen, das grosse Gebiet der krankhaften Praedis-
position, dem Wesen nach fast ganz unbekannt ist, weiterhin aber
in dem Umstände, dass wir wesentlich nur die rohen, nicht aber
die wahren Ursachen und Wirkungen zu berücksichtigen vermögen.
Wäre z. B. eine bestimmte chemische Yeränderimg in der Zusammen-
setzung des Blutes die wahre Ursache einer bestimmten Psychose, so
könnten sehr verschiedene rohe Ursachen, etwa eine Krebskachexie,
häufige Blutungen, chronische Malariainfection, Erkrankungen der
blutbildenden Organe u. s. f. neben anderen Wirkungen gerade den
gemeinsamen Effect haben, dass die Ernährungsflüssigkeit nach der
46
I. Allgemeine Aetiologie.
hier in Beti-acht kommenden Kichtung hin functionsunfähig wird.
Umgekehi-t ist es gewiss möglich, dass psychische Störungen, die
der äusserlichen Betrachtung völlig verschieden erscheinen, in Wahr-
heit doch nahe verwandt, etwa nur verschiedene Stadien oder Stärke-
grade eines und desselben Krankheitsprocesses sind. Den Grössen-
und den Kleinheitswahn des Paralytikers wird man vielleicht zunächst
als Anzeichen diametral entgegengesetzter Störungen anzusehen
geneigt sein, bis man entdeckt, dass sie beide in der psychischen
Schwäche, sowie in der Benommenheit der Kranken eine gemein-
same Grundlage haben.
Diese TJeberlegungen können uns die TJnvollkommenheit unserer
jetzigen ätiologischen YorstelluDgen verständlich machen und zu-
gleich vielleicht den Weg zeigen, den wir weiterhin zu gehen haben
werden. Immerhin lässt auch der heutige Stand unseres Wissens
wenigstens in grossen Umrissen einige allgemeine Beziehungen
zwischen Ursache . und Krankheitsform erkennen. Massgebend er-
scheint überall die Schnelligkeit, mit welcher die Ursache einwirkt.
Alle plötzlich den Organismus treffenden Schädlichkeiten erzeugen
im Ganzen dieselben Krankheitsbilder, mögen sie selbst körperlichen
oder psychischen Ursprungs sein. Kegelmässig begegnen wir hier
auch acut verlaufenden Geistesstörungen, deren eine Gruppe die
Yergiftungs- und die ihnen nahe verwandten Fieberdelirien dar-
stellen, während auf der anderen Seite die Erscheinungen der acuten
Hirnerschöpfung stehen. In beiden Gruppen können wir ferner ver-
schiedene Stärkegrade der Störung unterscheiden, von den leichtesten
Anzeichen einer erhöhten psychischen Erregbarkeit an durch die
eigenthümlichen deliriösen Zustände hindurch bis zum schwersten
und unter Umständen dauernden Darniederliegen aller psychischen
Leistungen. Wo dagegen die Ursachen langsam einwirken und
damit selbst erst eine gewisse Prädisposition, eine allmähliche Um-
wandlung in dem Gesammtverhalten des Organismus erzeugen, da
sehen wir zumeist subacut oder chronisch verlaufende Psychosen
sich entwickeln. Hierher gehören die verschiedenen Formen der
Melancholie und des Wahnsinns einerseits, die Entartungszustände
bei chronischen Vergiftungen, die Dementia paralytica und ver-
wandte Erkrankungen andererseits, je nachdem die Krankheits-
ursachen ausgleichbare Functionsstörungen oder tiefer greifende Ver-
änderungen in der Zusammensetzung unseres Nervengewebes herbei-
Innere Ursachen.
47
führen. Selbstverständlich aber werden diese Beziehungen zwischen
Ursache und Krankheitsform überall auf das durchgreifendste be-
einflusst durch den ursprünglichen Zustand der erkrankenden Per-
son. Wo bereits im Organismus die Entstehungsbedingungen der
Psychose gegeben sind, kann sehr wol eine acut einwirkende Schäd-
lichkeit zum Ausbruche einer chronisch verlauf enden Geistesstörung
den Anlass geben, und umgekehrt können lange fortgesetzte leise
Reize, die vom gesunden Menschen einfach ausgeglichen werden, bei
krankhafter Veranlagung sich summiren und zu plötzlichen, rasch
vorübergehenden Entladungen führen. Noch verwickelter werden
die Verhältnisse durch den Umstand, dass wir praktisch mit den
verschiedensten Graden der Prädisposition zu rechnen haben und
demnach im Leben alle möglichen Beziehungen zwischen rohen
äusseren Ursachen und klinischen Eormen der Geistesstörung zur
Beobachtung kommen können. Die hier bestehenden Gesetzmässig-
keiten sind daher ausserordenthch schwer zu entwirren. Dass sie
aber in gleicher Weise vorhanden sind, wie auf allen übrigen Ge-
bieten körperlichen und geistigen Geschehens, vermögen wir auch
heute schon mit grösster Wahrscheinlichkeit zu erkennen.
B. Innere Ursachen (Prädisposition).
Mit der Betrachtung der psychopathischen Veranlagung betreten
wir jenes zweite grosse Gebiet der ätiologischen Eorschung, welches
sich mit den in der Persönlichkeit des Erkrankten selbst
gelegenen Ursachen beschäftigt. Der Versuch, ein vollständiges
Verständniss für die Entstehung der Erkrankung zu gewinnen, weist
uns zurück auf die gesammte Entwickelungsgeschichte der vor-
liegenden psychischen Persönlichkeit und führt uns zu dem Studium
aller jener inneren und äusserlichen Einwirkungen, welche an der
eigenartigen Ausprägung derselben mitgearbeitet haben. Der Ueber-
sichtiichkeit wegen pflegt man diese Einflüsse in zwei Hauptklassen
abzutrennen, in allgemeine und individuelle, je nachdem sie
sich auf grössere Gruppen von Personen insgesammt erstrecken, oder
je nachdem sie nur einzelne Mitglieder derselben beti-effen und
somit diesen letzteren eine Sonderstellung gegenüber ihrer Umgebung
verleihen.
48
I. Allgemeine Aetiologie.
1. Allgemeine Prädisposition.
Zwei verschiedenartige Bedingungen sind es, die man zumeist
unter der Bezeichnung der allgemein prädisponirenden Ursachen
zusammenfasst, nämlich einmal die Herabsetzung der psych-
ischen und körperlichen Widerstandsfähigkeit, wie sie
durch die besondere Yeranlagung oder die besonderen Lebensver-
hältnisse einer Gruppe von Personen begründet wird, dann aber
auch die von den gleichen Umständen abhängige grössere oder
geringere Häufigkeit der äusseren Ursachen psychischer
Erkrankung. Streng genommen, kann natürlich nur im ersteren
Falle von einer wirklichen Prädisposition die Eede sein, doch em-
pfiehlt es sich aus praktischen Gründen, auch die Betrachtung der
letztgenannten Yerhältnisse hier anzuschliessen.
Lebensalter. Von den anthropologischen Eigenschaften, welche
die Entwickelung der psychischen Persönlichkeit entscheidend be-
einflussen, sind die wichtigsten das Lebensalter und das Geschlecht.
Das Gehirn des Neugeborenen ist in gewisser Beziehung ein
leeres Blatt; es ist wol die Anlage vorhanden, welche dasselbe zu
seinen späteren verwickelten Leistungen befähigt, und es bestehen
gewiss auch Dispositionen, welche die Entwickelung dieser Leistimgen
in eine bestimmte Bahn zwingen, aber der Inhalt des Bewusstseins
ist noch äusserst dürftig, die Verknüpfung der einzelnen psychischen
Vorgänge unvollkommen und die Eeproductionsfähigkeit in Folge
dessen überaus beschränkt: es besteht noch keine constante, den
Bewusstseinsinhalt und die Triebbewegungen beherrschende, von der
Aussenwelt abgegrenzte psychische Persönlichkeit.
Allerdings wird dieser Mangel sehr rasch ausgeglichen durch
die grosse Leichtigkeit, mit der sich im kindlichen Gehirne jene
functionellen Verbindungen ausbilden, die wir als die Grundlage der
psychischen Vorgänge anzusehen pflegen. Indessen dieses Verhalten
schliesst zugleich eine Gefahr für das psychische Leben des Kindes
in sich. Die Möglichkeit einer so raschen Bereicherung des Be-
wusstseinsinhalts beruht auf einer grösseren Empfänglichkeit, und
hat somit auch eine geringere Widerstandsfähigkeit gegen äussere
Eindrücke zur Folge. Die grössere Erregbarkeit des Interesses geht
naturgemäss mit einer leichteren Ablenkbarkeit und Zersb-eutheit
Lebensalter.
49
desselben einher; die Leichtigkeit, mit der sich die Vorstellungen
sm einander knüpfen, schliesst den Hang zu phantastischer Auffassung
und „märchenhafter Belebung" der Aussenwelt in sich. Dazu ge-
sellt sich eine grosse Unbeständigkeit der Stimmungen und Affecte
sowie die Neigung zu raschem, unüberlegtem Handeln. Physio-
logisch drückt sich diese Eigenthümlichkeit des Kindesalters, wie
wii- durch Soltmann's Untersuchungen wissen, in der geringeren
Ausbildung der hemmenden Einflüsse im Nervensystem aus.
Man sollte daher erwarten, dass diese geringere Widerstands-
fähigkeit des kindlichen Gehirns, wie sie auch im psychischen Leben
hervortritt, eine entschiedene Disposition zu geistiger Erkrankung
in sich schliesst. In der That spricht für diese Ansicht die tägliche
Beobachtung, indem sie uns zeigt, wie gewisse Schädlichkeiten, die
der Erwachsene ohne Störung erträgt, z. B. leichte fieberhafte Tem-
peratursteigerungen, im Kindesalter alsbald ausgeprägte Schwankungen
des psychischen Gleichgewichts herbeizuführen pflegen. Allein die
Energie der Lebensvorgänge und die Elasticität der kindlichen
Constitution ermöglichen gerade in diesem Alter offenbar einen
rascheren und vollständigeren Ausgleich der Störungen, so dass die
Dauer derselben, wenn nicht Unheilbarkeit eintritt, in der Eegel nur
«ine kurze zu sein pflegt. Sie entgehen auf diese Weise meist der
psychiatrischen Zählung. Dazu kommt, dass eine grosse Zahl jener
Schädigungen, die im Laufe des späteren Lebens als die wichtigsten
Ursachen des Irreseins angesehen werden müssen (Sorgen und
■üeberanstrengung, Geschlechtsleben, Excesse mit ihren Eolgen), im
Kindesalter so gut wie ausgeschlossen sind. Trotz der entschieden
grösseren Disposition sind daher psychische Störungen nach der
Angabe aller Beobachter in den ersten Lebensjahren verhältniss-
mässig selten*); aUe genauen Zahlenangaben verbieten sich wegen
der unsicheren statistischen Grundlagen von selbst.
Für die richtige Würdigung dieser Verhältnisse ist indessen
•noch ein weiterer Umstand in Betracht zu ziehen, nämhch die
symptomatische Form der Kinderpsychosen. Der Mangel einer
geschlossenen psychischen Persönlichkeit und die geringe Ausbildung
der höheren Geistesthätigkeit machen es begreiflich, dass einmal
*) Emminghaus, Die psychischen Störungen des Kindesalters, 1887;
Moreau, la folie chez les enfants, deutsch von Galatti. 1889.
Kraopelin, Psychiatrie, 4. Aufl. 4
50
I. Allgemeine Aetiologie.
solche Krankheitsbilder im Kindesalter nicht zur Entwickelung ge-
langen können, welche ihrem "Wesen nach eine allmähliche Um-
wandlung eben der psychischen Persönlichkeit bedeuten, und dass
andererseits gerade hier, sobald die Störung einmal eine tiefergi'eifende
geworden ist, ein gänzlicher Verfall des Seelenlebens sehr rasch
eintreten muss, wo beim Erwachsenen der Erwerb der gesunden
Vergangenheit noch lange den krankhaften Mangel der augenblick-
lichen psychischen Leistungsfähigkeit wenigstens theilweise zu ver-
decken vermag. So lange wir beim Kinde in der ersten Lebenszeit
überhaupt noch nicht von einer eigentlichen psychischen Thätigkeit
sprechen können, so lange werden wir auch keine Beeinträchtig-
ungen derselben symptomatisch aufzufassen vermögen; die Psycho-
pathologie gfällt hier mehr oder weniger mit der Hirnpathologie
zusammen und hat höchstens triebartige Aufregungszustände als
psychische Begleiterscheinungen der Hirnerkrankungen zu ver-
zeichnen.
Auch im späteren Kindesalter sind es fast ausschliesslich
gemüthliche Schwankungen (ängstliche oder expansive Erregung)
oder ganz einfache Störungen des Vorstellungsverlaufes (Delirien),
aus denen sich die psychopathischen Krankheitsbilder zusammen-
setzen. Sinnestäuschungen und vereinzelte Wahnideen sind eben-
falls häufig, aber wirkliche Systematisirung derselben, wie iu der
Verrücktheit, überaus selten. Auf der anderen Seite muss natür-
lich jede Entwickelungshemmung des Gehirns, wie sie durch fötale
Erkrankungen bedingt wird, und ebenso jede dauernde tiefere Be-
einträchtigung seiner Leistungen gerade hier das klinische Bild des
Blödsinns und Schwachsinns in seinen verschiedenen Graden, wie
es symptomatisch durch die Entwickelungsstufe jedes Neugeborenen
dargeboten wird, zu einem dauernden Zustande werden lassen. Die
geringe Zahl eigentlicher psychopathischer Krankheitspro cesse im
Kindesalter wird daher durch ein ausgedehntes Gebiet von Fällen
angeborener oder in den ersten Lebensjahren erworbener psych-
ischer Schwäche (Idiotie) weit mehr als ausgeglichen.
Mit der fortschreitenden Ausbildung der psychischen Persön-
lichkeit und mit dem gleichzeitigen Hervorti-eten mannigfacher neuer
Krankheitsursachen nimmt die Häufigkeit und symptomatische Keich-
haltigkeit der Geistesstörungen allmählich zu. Namentlich die
Pubertätsperiode mit ihren mächtigen Umwälzungen auf körper-
Lebensalter.
51
liebem und psychischem G-ebiete sowie mit den gesteigerten An-
forderungen an die gesammte Arbeitskraft ist es, die hier eine be-
deutsame Eolle spielt. Die eigenthümlichen Stimmen gsschwankungen
dieser Zeit (erhöhte Eeizbarkeit, Neigung zur Schwärmerei und Sen-
timentalität) können sich zu ausgeprägten depressiven oder expan-
siven Krankheitsformen entwickeln, vielfach den ersten Vorläufern
periodisch wiederkehrender Störungen; die unbestimmten, triebartigen,
der Geschlechtssphäre entstammenden Gefühle geben den günstigen
Boden ab für masturbatorische Aufregungen und allerlei impulsive
Handlungen, während gleichzeitig gerade in diesem Alter der mass-
gebende Einfluss jener individuellen Anlagen, durch welche die
Ausbildung des persönlichen Charakters und der persönlichen
Lebensauffassung bestimmt wird, stärker hervorzutreten beginnt.
In den kleinen Kämpfen und Stürmen dieses Alters macht sich
schon jetzt die triebartige Heftigkeit der Affecte, die leichte Be-
stimmbarkeit des Handelns oder die Gleichgültigkeit eines phleg-
matischen Egoismus geltend, als Zeichen innerer Haltlosigkeit oder
Gemüthsstumpfheit. Auch hier überwiegen noch durchaus die
affectiven Formen, des Irreseins; die bisweilen begleitenden intel-
lectuellen Störungen kündigen sich aber schon als die ersten Spuren
jener tiefgreifenden Krankheitsprocesse an, welche im weiteren Yer-
laufe vorzeitige Verblödung oder eine durchgängige Verfälschung
des gesamraten Bewusstseinsinhaltes herbeiführen. Gleichwol ver-
mag der Schutz, welchen die heranwachsende Jugend im elterlichen
Hause zu geniessen pflegt, die Morbidität dieser Altersklasse noch
verhältnissmässig günstig zu gestalten. Auf den nun folgenden
Entwickelungsstufen mit ihren allmählich immer wachsenden Ge-
fahren nimmt die Häufigkeit der psychischen Erkrankungen noch
stetig zu.
Die nächste Periode umfasst das Alter der Jugendblüthe,
bis etwa zum 25. Lebensjahre. Die in der Pubertätszeit angebahnte
Entwickelung des Verstandes und des Charakters schreitet fort, um
allmählich zu einem gewissen Abschlüsse zu gelangen. Noch immer
besteht eine grössere Empfänglichkeit, ein lebhafteres und imbestän-
digeres Gefühlsleben, leichte Bestimmbarkeit der Handlungen dm-ch
äussere Einflüsse, zugleich aber auch eine gewisse Elasticität, die
dem Individuum über widrige Erfahrungen vielfach leichter hinweg-
hilft, als in einem späteren Lebensalter. Eine Keihe von Schädlich-
4*
52
I. Allgemeine Aetiologie.
keiten beginnen jetzt mit der gi-össeren Selbständigkeit der Lebens-
stellung und den erhöhten Anforderungen an die geistigen und
moraKschen Kräfte ihi-e Wirksamkeit zu entfalten; die Unzulänglich-
keit der persönlichen Anlage tritt daher nunmehr deutlicher hervor,
wenn sie so lange in den. geschützteren Verhältnissen des Kindesalters
unbemerkt geblieben war. Jene psychischen Invaliden, die dem
Kampfe um's Dasein nicht gewachsen sind, scheiden sich durch die
eigenthümliche Art ihrer Reaction auf die Lebensreize, durch die
krankhafte Entwickelung ihrer Yorstellungskreise und ihrer Gefühle
von den „rüstigen" Lidividuen ab. Die angeborene neurasthenische
sowie die hysterische Veranlagung macht sich jetzt in ihren eigen-
thümlichen Erscheinungen geltend; circuläre oder periodische Er-
krankungen kündigen sich in ausgesprocheneren Anfällen an; die
Neigung zu paranoischen Wahnbildungen, aber auch zu raschem
geistigem Verfall, tritt deutlicher hervor. Als typische Psychosen
dieses Lebensalters fordern die Dementia praecox und die Katatonie
ihre Opfer. Die geringere Widerstandsfähigkeit auch der kräftiger
Veranlagten zeigt sich in der relativen Häufigkeit der Erschöpfungs-
psychosen, namentlich in der schweren Eorm der Dementia acuta.
Die grösste statistische Häufigkeit der psychischen Erkrankungen
fällt in die Zeit der vollen Kraftentfaltung vom 25. bis zum
40. Lebensjahre. Sicherlich ist nicht die besondere Prädisposition
der entvdckelten körperlichen und geistigen Persönlichkeit, sondern
lediglich die Zahl der von Aussen auf dieselbe einstürmenden Ki-ank-
heitsursachen als der Grund dieses Verhaltens anzusehen. Die
Widerstandsfähigkeit ist in diesem Alter zweifellos am gi'össten, aber
die Schädlichkeiten sind in rascherem Fortschritte angewachsen, als
jene. Die Schwierigkeiten der Lebensführung vergrössern sich mit
der zunehmenden Selbständigkeit und der Sorge um Weib und
Kind; aus der weiter reichenden Verantwortlichkeit entspringen
ernstere Conflicte und Sorgen; die höher gespannten Hoffnungen
bringen Enttäuschungen mit sich, und die dauernde Anspannung
aller physischen und geistigen Kräfte im Daseinskampfe wird nicht
lange ohne Ermüdung und Erschöpfung ertragen. Dazu gesellen
sich die vielfachen körperlichen Erkrankungen, denen die rücksichts-
lose Arbeit den Menschen aussetzt, die verhängnissvollen Vorgänge
des Geschlechtslebens beim Weibe und — last, not least — die
verderbliche Wirkung der Ausschweifungen in Baccho et Venere
Lebensalter.
53
(Syphilis!). Die yerschiedensten ätiologischen und symptomatischen
Gruppen des Ii-reseins gewinnen daher in diesem Alter ihre weiteste
Verbreitung; dennoch darf als einigermassen charakteristisch für
dasselbe besonders die allgemeine Paralyse angesehen werden; auch
die ausgebildeten Formen der Verrücktheit stehen wegen ihrer lang-
samen Entwickelung hier noch mit im Vordergrunde.
In dem Quinquennium vom 36. bis zum 40. Lebensjahre ist die
psj^chische Morbidität auf ihrem Höhepunkte angelangt. Von da ab
werden die Erki-ankungen allmählich seltener, vielleicht deswegen,
weil nunmehr das Ziel einer gesicherten Lebensstellung in der Mehr-
zahl der Fälle erreicht ist und damit eine Anzahl von Sorgen nnd
Aufregungen in Wegfall kommt, andererseits, weil das reifere Alter
der Verführung zu Excessen weniger zugänglich ist und beim Weibe
die Gefahren des Fortpflanzungsgeschäftes nunmehr zurücktreten.
Zuerst langsam, von der Mitte der 50er Jahre aber rascher sinkt
die Häufigkeit psychischer Erkrankungen mit zunehmendem Alter.
Ohne Zweifel kommt hier, in den späteren Altersklassen, auch der
Abnahme der psychischen Eindrucksfähigkeit eine bedeutsame Eolle
zu. Der Gesichtskreis verengt sich, die Reproductions- und Combi-
nationsfähigkeit nimmt ab, das Gefühlsleben verödet und zieht sich
mehr und mehr auf das Gebiet der unmittelbarsten egoistischen
Literessen zurück. Gerade diese mehr oder weniger ausgesprochene
Stumpfheit ist es, welche den Greis im Allgemeinen weniger em-
pfänglich gegen psychische Schädlichkeiten ' macht und ihn vor all-
zugrossen Schwankungen des gemüthlichen Gleichgewichts bewahrt.
Zudem ist dieses Lebensalter ja gewissermassen bereits „durch-
seucht"; die grosse Mehrzahl der psychischen Livaliden ist schon
früher den verderblichen Einflüssen der Krankheitsursachen unter-
legen. Andererseits hat nicht selten die aufreibende Arbeit des
Lebens hier eine neue, erworbene Prädisposition geschaffen, in-
dem sie die Widerstandsfähigkeit des verbrauchten, auch körper-
lich erschöpften Individuums untergraben hat. Von Wichtigkeit
sind nach dieser Richtung hin namentlich die somatischen Ver-
änderungen, welche sich in dieser Periode vollziehen, das Klimak-
terium der Frauen, die Atheromatose der Gefässe, die Rückbildungs-
vorgänge im Nervensysteme und in den verschiedensten Organen.
Wenn daher auch einerseits die psychische Empfänglichkeit beim
Greise abgenommen hat und andererseits die meisten jener Krank-
54
I. Allgemeine Aetiologie.
heitsursachen, welche die kräftigsten Lebensalter bedrohen, liie^
wegzufallen pflegen, so birgt doch schon der normale Gang der
Ereignisse eine Eeihe von Gefahren für die geistige Gesundheit des
Menschen in sich, denen bis zu einem gewissen Grade ein Jeder
unterliegen muss. Der gemeinsame Grundzug aller senilen Psychosen
ist die Schwäche, die Unzulänglichkeit der psychischen Leistungen.
Abnahme des Gedächtnisses, Unfähigkeit zur Auffassung und Yer-
arbeitung neuer Eindrücke, Terwirrtheit und Zerfahrenheit, Ober-
flächlichkeit der Affecte, hypochondrische Befürchtungen, nächtliche
Unruhe, dabei ü^eigung zu rascher Yerblödung sind die hervor-
stechendsten Züge der hierher gehörigen llrankheitsbilder, unter
denen die ungemein typischen senilen Melancholien und (namentlich
bei Erauen im Klimakterium) der depressive Wahnsinn im Yorder-
grunde stehen. Bemerkenswerth ist die Häufigkeit von Gehirn-
symptomen, Schwindel, apoplektiformen Anfällen, convulsiven und
Lähmungserscheinungen.
GresclilecM. Die Erage nach der Disposition der beiden
Geschlechter zu psychischer Erkrankung ist auf Grund statistischer
Erhebungen vielfach verschieden beantwortet worden. Ohne weiteres
Eingehen auf die Würdigang der Eehlerquellen jener Methode sei
hier nur bemerkt, dass die statistische Häufigkeit des Irreseins im
Allgemeinen keine erheblichen und sicheren Unterschiede zwischen
beiden Geschlechtern erkennen lässt. Li Wirklichkeit dürfte es
kaum zweifelhaft sein, dass das Weib mit seiner zarteren Organi-
sation, mit der geringeren Ausbildung des Yerstandes und dem
stärkeren Hervortreten des Gefühlslebens weniger Widerstandsfähig-
keit gegen die körperlichen und psychischen Ursachen des Irreseins
besitzt, als der Mann. Allein die Bedeutung dieser Veranlagung
für die wirkliche Häufigkeit psychischer Erkrankungen wird aus-
geglichen durch die verhältnissmässig geschützte Stellung, die das
Weib dem unvergleichlich mehr gefährdeten Manne gegenüber ein-
nimmt. Alle jene Schädlichkeiten, die der Kampf um's Dasein mit
sich bringt, treffen in erster Linie und vorwiegend den Mann, dem
die Sorge für die Familie obliegt, wenn auch die Mühsalen des
Lebensunterhaltes für das unverheirathete Weib vielfach weit grösser
sein mögen. Ferner ist vor Allem auf die Wirkung der Excesse
nach den verschiedensten Eichtungen hinzuweisen, Gefahi-eu, denen
ganz vorzugsweise der Mann wegen der socialen und ökonomischen
Geschleclit.
55
Unabhängigkeit seiner Stellung ausgesetzt ist, während das Weib,
durch Erziehung und Sitte gebunden, stets ein eintönigeres, regel-
mässigeres und ruhigeres Leben zu führen gezwungen ist. Wo
dieser Zwang einmal durchbrochen und der Leidenschaftlichkeit der
weiblichen Individualität freier Spielraum gegeben ist, bei Prosti-
tuirten, sehen wir daher sofort die geringere Widerstandsfähigkeit
des weiblichen Geschlechtes in erschreckenden Procentsätzen des
Irreseins und der Selbstmorde zum Ausdi'uck gelangen.*) Allerdings
dürfte gerade hier die relative Häufigkeit ursprünglicher psycho-
pathischer Veranlagung wesentlich in Rechnung zu ziehen sein.
Die besondere Aetiologie der weiblichen Psychosen wird durch-
aus beherrscht durch die Zustände des Genitalap parates. Die
Bedeutiing der Sexualerkrankungen, der Schwangerschaft, des
Wochenbettes, der Lactation ist schon früher berührt worden; sie
tragen die Schuld, dass zwischen dem 16. und 35. Lebensjahi-e that-
sächlich die Morbidität des weiblichen Geschlechtes eine etwas
höhere ist, als diejenige des Mannes. Nach jenem Zeitpunkte zeigt
dieselbe eine absolute und relative Abnahme, bis mit den mannig-
fachen Umwälzungen und Störungen im klimakterischen Alter, etwa
von Mitte der 40er bis Mitte der 50er Jahre, die Zahl der psych-
ischen Erkrankungen beim Weibe wieder etwas überwiegt. Ja,
zwischen dem 61. und 65. Lebensjahre lässt sich sogar eine absolute
Zunahme der Geistesstörungen beim weiblichen Geschlechte nach-
weisen, die allerdings im späteren Alter wieder eiuer raschen Ab-
nahme Platz macht. Dennoch erscheint das Weib von da ab dauernd
mehr gefährdet, als der Mann.
Den Yerschiedenheiten in den ursächlichen Yerhältnissen bei
beiden Geschlechtern entspricht auch das Vorwalten der einzelnen
Krankheitsformen bei ihnen. Die Dementia paralytica, die Intoxi-
kationspsychosen, die Verrücktheit mit ihrer vorzugsweise intellec-
tuellen Störung, die erworbene Neurasthenie überwiegen beim
männlichen Geschlechte, während dem weiblichen die grosse Gruppe
der hysterischen Erkrankungen vorzugsweise eigenthümlich ist;
auch Collapsdelirien, Amentia, sowie Melancholien imd depressiver
Wahnsinn sind hier verhältnissmässig häufig, letztere ganz besonders
im höheren Lebensalter.
*) V. Dettingen. Moralstatistik. 3. Auflage. 1882, p. 767 ss.
56
I. Allgemeine Aetiologie.
Race und Nationalität. Sehr wenig Sicheres lässt sich bei dem
jetzigen Stande der Statistilc und der grossen Schwierigkeit der
Frage über den prädisponirenden Einfluss der Race und Nationalität
aussagen. Man kann eben nicht ermitteln, wie weit die sich heraus-
stellenden statistischen Unterschiede nicht vielmehr durch die socialen
Unterschiede bedingt sind; jedenfalls sind die häufigen Angaben
über Seltenheit des Irreseins bei „Naturvölkern" aus dem genannten
und vielen anderen Gründen mit grosser Yorsicht aufzunehmen.
Jene Fehlerquelle fällt nur dort aus, wo verschiedene Racen unter
annähernd gleichen Lebensbedingungen zusammenwohnen. So scheint
sich für die Juden in der That eine grössere Neigung zu psych-
ischen und nervösen Erkrankungen zu ergeben.
Cnltur. Ton den socialen Verhältnissen ist es namentlich die
Höhe der allgemeinen Culturentwickelung, die man als die Ursache
einer grösseren Häufigkeit des Irreseins angeschuldigt hat. Soweit
die bisher allerdings noch ziemlich unzulänglichen Anfänge einer
internationalen Irrenstatistik reichen, scheint wol in dem civilisirteren
"Westeuropa, namentlich in der Schweiz, das Verhältniss der Greistes-
kranken zur Bevölkerung ein höheres zu sein, als im Osten. Allein
dieses Ergebniss hat wegen der verschiedenen Zuverlässigkeit der
Yergleichszahlsn nur einen sehr zweifelhaften "Werth ; im Allgemeinen
dürften doch heute überall im Durchschnitt auf 1000 Einwohner
eines Landes etwa 3 Geisteskranke zu rechnen sein. Andererseits
kann allerdings kaum in Abrede gestellt werden, dass die rasche
Zunahme der Geisteskranken, welche uns periodische Zählungen er-
kennen lassen, nur zum Theil eine scheinbare, durch die grössere
Sorgfältigkeit der Erbebungen bedingte ist, und dass die wirkliche
Zunahme ein rascheres Fortschreiten aufweist, als das allgemeine
Anwachsen der Bevölkerung. Dieses Verhalten wird treffend ülustrirt
einmal durch die ebenfalls unzweifelhafte Steigerung der Selbst-
mordhäufigkeit, dann aber durch den eigenthümlichen Gegensatz,
der sich zwischen Stadt- und Landbevölkerung herausstellt. Gerade
die grossen Städte mit ihren erhöhten Anforderungen an die in-
tellectuelle und moralische Kraft des Einzelnen, mit ihrer Er-
schwerung der Lebensbedingungen und ihren mannigfachen Ver-
führungen zu Excessen aller Art sind es, welche bei Weitem den
grössten Beitrag zu der raschen Vermehrung der Geisteskrankheiten-
und des Selbstmordes liefern. Je schärfer und verwickelter sich
Eace und Nationalität. Cultur. Beruf.
57
der "Wettbewerb der Menschen und der Lebensinteressen gestaltet,
desto grösser ist der Procentsatz Jener, die den gesteigerten An-
sprüchen nicht gewachsen sind und in dem friedlichen Kampfe
invalide werden. Nicht etwa die grössere „Immoralität" oder
„materialistischere Eichtung" der allgemeinen Besti'ebungen, die
sicherlich in den Massen niemals viel „moralischer" oder „idealisti-
scher" gewesen sind, als heute, darf man für die Zunahme des
Irreseins verantwortlich machen, sondern dieselbe ist eine noth-
w endige Folge unserer rasch fortschreitenden Entwickelung, und
sie beruht insofern sogar theilweise auf einem stärkeren Hervor-
treten echter Menschenliebe, als diese das Loos der unglücklichen
Kranken zu verbessern und selbst das invalide Leben derselben so
lange wie möglich zu erhalten sucht.
Beruf. Die Prädisposition einzelner Berufsarten zum Irresein
ist natürlich zumeist nur in der grösseren Häufigkeit und Wirksam-
keit der mit ihnen verknüpften Schädlichkeiten begründet; höchstens
könnte man aus der "Wahl mancher künstlerischen Berufsarten, z. B.
des dichterischen und schauspielerischen, einen bisweilen zutreffen-
den Eückschluss auf die grössere psychische Empfänglichkeit des
Individuums machen. Auch die Berufslosigkeit (Vagabunden,
Gewohnheitsverbrecher u. s. f.) düiite vielfach eine ähnliche Deutung
(unvollkommene oder abnorme Entwickelung des Charakters) zu-
lassen. Im Uebrigen aber sind es entweder psychische oder körper-
liche Ursachen, welche, an eine bestimmte Art der Lebensführung
sich knüpfend, eine grössere Häiifigkeit der psychischen Erkrankung
zur Folge haben. Geistige Ueberanstrengung kann bei Gelehrten
oder im jugendlichen Alter bei Schülern prädisponirend wirken
oder auf anderweitig vorbereitetem Boden dem Ausbruche des
In-eseins Yorschub leisten. Gerade die Erkrankungen an Dementia
praecox sieht man auffallend häufig bei jungen Leuten, die wegen
besserer Fortschritte in der Schule dazu bestimmt werden, einen
Beruf zu ergreifen, der höhere Anforderungen an ihre geistige
Leistungsfähigkeit stellt. Gemüthliche Erregungen spielen bei Mi-
litärs im Kriege, bei Börsenmännern, bei Künstlern, bei Gouver-
nanten ihre verderbüche Rolle. Matrosen, Schankwirthe, Prostituirte
sind dem Einflüsse aufreibender Excesse, besonders in Alkoholicis,
ausgesetzt, während der Fluch der Noth, der Entbehrung, der
Nahrungssorgen, hygienischer Missstände hauptsächlich die band-
58
I. Allgemeine Aetiologie.
arbeitenden Massen der Bevölkerung drückt. Körperliche Ueber-
anstrengung, Strapazen, Nachtwachen sind die Schädlichkeiten, welche
der Militärdienst mit sich bringt; im Verein mit den beständigen
Erschütterungen des Fahrens treffen sie den Eisenbahnbediensteten.
Wärmebestrahlung, Kopfverletzungen, Tergiftungen verschiedener
Art (Blei, Quecksilber) sind weitere Gelegenheitsursachen, denen
•wieder andere Berufsarten vorzugsweise ausgesetzt zu sein pflegen.
Der symptomatische Ausdruck dieser Berafsprädisposition wird
natürlich wesentlich durch die besondere Art der vorherrschenden
Ursachen bestimmt; wir können daher in dieser Beziehung auf die
frühere Besprechung der betreffenden ätiologischen Verhältnisse
zurückverweisen,
Civilstand. Ein nicht unerheblicher Einfluss auf die Häufigkeit
des Irreseins muss, wie es im Hinblicke auf statistische Zusammen-
stellungen den Anschein hat, dem Civilstande zugeschrieben werden.
Allerdings hat Hagen mit Kecht darauf hingewiesen, dass die zu-
nächst sich ergebenden Differenzen vor Allem auf die verschiedene
Morbidität des durchschnittlichen Lebensalters zurückzuführen sind,
in welchem sich die Ledigen und die Verheiratheten befinden.
Haben wir doch oben gesehen, dass psychische Erkrankungen
zwischen dem 20. und 40. Lebensjahre überhaupt häufiger zu sein
pflegen, als in späterem Alter. Auf der anderen Seite ist es un-
zweifelhaft, dass in einer grossen Zahl von FäUen die Ehelosigkeit
schon als die Folge einer unvollkommenen psychischen Entwickel-
img, einer bestehenden oder (namentlich beim weiblichen Ge-
schlechte) überstandenen Geistesstörung anzusehen ist. Endlich aber
kann auch der Ehe selbst trotz der aus dem Fortpflanzungsgeschäfte
erwachsenden Gefahren, trotz der Sorgen, die sie mit sich bringt,
dennoch wegen der grösseren Befriedigung und Sicherheit des ge-
meinschaftlichen Lebens und auch wol wegen des relativen Schutzes
vor Excessen eine gewisse prophylaktische Bedeutung nicht abge-
sprochen werden. Am meisten gefährdet scheinen die Verwittweten
und Geschiedenen zu sein; haben sie doch häufig fast alle Sorgen
und Gefahi-en der Ehe zu tragen, ohne deren schützende und
sichernde Wirkungen zu gemessen.
Politisclie und religiöse Bewegungen. Von den socialen Be-
dingungen des Lebens ist endUch noch der politischen und religiösen
Civilstand. Kosmische Einflüsse. Erbliclilieit.
59
Stürmo zu gedenken, welche gelegentlich die Massen in stärkere
Erregung versetzen. Die wii-kliche ätiologische Bedeutung derartiger
Yorgänge ist wol häufig überschätzt worden, da dieselben zwar
den Vorstellungsinhalt der Erkrankten, weit weniger aber das Zu-
standekommen der Krankheit selbst beeinflussen dürften. Sicherlich
sind die socialen, politischen, religiösen Missstände mit ihren
Polgen, aus denen derartige Bewegungen herauszuwachsen pflegen,
weit bedeutsamere prädisponirende Ursachen des Irreseins, als jene
Eeactionsbestrebungen gegen die bestehenden Uebel.
Kosmisclie Einflüsse. lieber die prädisponirende Wii-kung kos-
mischer Einflüsse liegen bisher noch keine sicheren Angaben, vor,
wenn sich auch nach Analogie anderweitiger Erfahrungen über die
Häufigkeit der Yerbrechen und der Selbstmorde einige allgemeine
Beziehungen der psychischen Morbidität zu den Jahreszeiten und
zum Küma erwarten Hessen. Es scheint allerdings schon jetzt, dass
frische Aufregungszustände im Sommer und vielleicht auch in
heisserem Klima häufiger zur Entwickelung kommen, als im Winter
und im Norden.
2. Individuelle Prädisposition.
Wenn uns die bisherige Betrachtung gezeigt hat, wie den ver-
schiedenen Gruppen von Individuen entweder nach ihrer allgemeinen
Anlage eine geringere Widerstandsfähigkeit gegen schädigende Ein-
flüsse zukommt, oder wie sie nach ihrer eigenthümlichen Organi-
sation und den besonderen Lebensverhältnissen einer grösseren oder
geringeren Zahl von Grefahren ausgesetzt sind, so werden uns ähn-
liche Gesichtspunkte einen Einblick in das zweifache Wesen jener
vielgestaltigen Krankheitsursachen verschaff"en, die man unter dem
Namen der individuellen Prädisposition zusammenzufassen
pflegt.
ErbHchkeit. Die Analyse der einzelnen Persönlichkeit weist
uns auf die Entstehung derselben und damit über das individuelle
Leben hinaus auf dasjenige der Erzeuger zurück, welches uns über
die erste und in mancher Beziehung wichtigste Frage Aufschluss
zu geben hat, über die Frage nach dem Einflüsse der Erblichkeit.
Die Bedeutung dieser Verhältnisse in der Entstehungsgeschichte
60
I. Allgemeine Aetiologie.
psychischer Ki-ankheiten ist jederzeit und von allen Irrenärzten auf
das Einmüthigste betont worden, so sehr auch bei den naheliegen-
den Fehlerquellen einer Statistik über diesen Punkt die Zahlen-
angaben im Einzelnen auseinandergehen*) (von 4 bis 90»/o). Der
Grund für diese grossen Unterschiede liegt hauptsächlich in der
verschieden weiten Fassung des Begriffes der Erblichkeit, in der
grösseren oder geringeren Genauigkeit der Anamnese und in der
Besonderheit des verarbeiteten Krankenmaterials. Wenn man be-
rücksichtigt, dass nicht nur eigentliche Psychosen, sondern eine
Eeihe von verwandten Zuständen, Alkoholismus, Neui'osen, auffallende
Charaktere, verbrecherische Neigungen und dergl. als Erscheinungs-
form neuropathischer Yeranlagung angesehen und somit bei der
Feststellung hereditärer Yerhältnisse in Pechnung gebracht werden
müssen, so ergiebt sich, dass im Mittel bei mindestens 30 bis 40% aller
psychisch Erkrankten unter den nächsten Anverwandten das Be-
stehen derartiger Abnormitäten sich nachweisen lässt. Für die
WürdigTing dieses rein statistischen Kesultates ist es indessen sehr
wichtig, zu bedenken, dass einmal das Zusammentreffen psycho-
pathischer Züge bei Gliedern derselben Familie noch keinen noth-
wendigen hereditären Zusammenhang zwischen diesen Störungen
erweist, und dass uns ferner gänzlich der statistische Nachweis für
die Häufigkeit einer derartigen erblichen Yeranlagung bei der
grossen Masse nicht geisteskranker Personen mangelt. Müssen wir
somit jene Zahlenangaben ledigüch als Erfahrungsthatsachen an-
sehen, ohne in ihnen zunächst etwa den Ausdruck eines ,,Gesetzes"
zu erblicken, so steht dennoch die allgemeine Bedeutung der Erblich-
keit in der Entstehungsgeschichte der Psychosen über allem Zweifel
fest, so wenig wir uns auch von dem tieferen Zusammenhange der
Yorgänge hier eine irgendwie genügende Yorstellung machen
können.
"Wie die Erfahrung lehrt, kann die Erblichkeit entweder eine
directe, von den Eltern ausgehende, oder eine indirecte sein.
Im letzteren Falle lässt sich wieder die atavistische, von den
Grosseltern hergeleitete, und die collaterale unterscheiden, die sich
auf psychopathische Zustände in einer Seitenlinie (Onkel, Gross-
*) Legrand du Saulle, Die erbliche Geistesstörung, übersetzt von Stark.
1874; Saury, etude clinique sur la folie hcreditaire. 1886.
Erblichkeit.
61
tante, Yetter u. s. f.) ziirückbezieht. Am stärksten wirkt sicherlich
die clirecte Heredität, namentlich wenn beide Eltern (cumulative
Vererbung), und wenn sie schon bei der Zeugung des Kindes geistes-
krank waren; doch kann auch auf ein vor dem Ausbruche des
Irreseins erzeugtes Kind die psychopathische Veranlagung über-
tragen werden. Der Einfluss des Vaters scheint bei der Vererbung
im Allgemeinen mächtiger zu wirken, als derjenige der Mutter; in.
Uebereinstimmung damit steht die Erfahrung, dass die weiblichen
Eamiliengheder wegen der so häufigen gekreuzten Vererbung nicht
unerheblich stärker gefährdet sind, als die männlichen.
Die Wirkung der Erblichkeit lässt je nach Art und Stärke ge-
wisse Verschiedenheiten erkennen. Wo die hereditären Einflüsse
sich häufen, wie das namentlich bei Verwandtschaftsheirathen in
neui'opathisch veranlagten Familien der Fall zu sein scheint, da
entsteht schliesslich eine „organische Belastung", da treten bei
der Nachkommenschaft die schwereren Formen psychischer Ent-
artung, besonders intellectuelle und moralische Störungen hervor.
Morel giebt für diese fortschreitende erbliche Degeneration das
folgende allgemeine Schema: 1. Generation: nervöses Temperament,
sittüche Depravation, Excesse. 2. Generation: Neigung zu Apo-
plexien und schweren Neurosen, Alkoholismus. 3. Generation:
psychische Störungen, Selbstmord, intellectuelle Unfähigkeit. 4. Ge-
neration: angeborene Blödsinnsformen, Missbildungen, Entwickelungs-
hemmungen. Es würde also diese Art der Züchtung von selbst
mit Nothwendigkeit den Untergang des entarteten Geschlechtes
herbeiführen. Von einer so einfachen Regelmässigkeit ist natürlich
bei diesen ungemein verwickelten und nur in den gröbsten Um-
rissen bekannten Verhältnissen keine Rede; doch scheint in der
That vielfach das häufigere Auftreten angeborener Schwächezustände,
bisweüen neben hervorragender Begabung bei anderen Famüien-
gliedern, das Endstadium hereditärer Entartung anzukündigen. Von
sonstigen psychischen Erkrankungen sind es namentlich das perio-
dische und noch mehr das circuläre Irresein, die epileptischen,
hysterischen und die angeborenen neurasthenischen Geistesstörungen,
endlich die Verrücktheit, besonders die originäre Form derselben,
welche am häufigsten gerade auf ererbter Grundlage sich entwickeln.
Relativ wenig durch die Erblichkeitsverhältnisse beeinflusst zeigen
sich die Delirien, die Erschöpfimgszustände und die progressive
Q2 I- Allgemeine Aetiologie.
Paralyse, während Manie und Melancholie, der "Wahnsinn und der
Alkoholismus eine Art Mittelstellung einnehmen. Es ergiebt sich
somit, dass hereditär belastete Individuen im Allgemeinen die
Neigung haben, constitutioneU , dauernd oder doch in häufiger
wiederkehrenden AnfäUen zu erkranken. Je mehr die eigentHche
Ursache der Psychose im Menschen selber ihren Sitz hat, desto
geringfügiger braucht eben auch hier der äussere Anstoss zu sein,
um eine dauernde und in der Kegel unheilbare Störung der ge-
sammten Persönlichkeit herbeizuführen. Nicht selten erscheint dabei
die Störung, rein symptomatisch genommen, als eine verhältnitss-
mässig geringe, da wir es mehr mit einem eigenartig, degenerativ
entwickelten Menschen, als mit einem Krankheitsprocesse von typ-
ischem Ablaufe zu thun haben. Gerade die Mischung ausgeprägter
Krankheitserscheinungen mit verhältnissmässig normalen psychischen
Leistungen, wie sie auf diese Weise zu Stande kommt, darf bis za
einem gewissen Grade als charakteristisch für die Psychosen auf
erblicher Grundlage angesehen werden.
Nur bei den schwersten Formen der erblichen Entartiing werden
pathologische Zustände als solche vererbt; in der Eegel findet nur
die Uebertragung einer krankhaften Disposition, einer geringeren
Widerstandsfähigkeit des psychischen Organismus statt, welche erst
dann zur wirküchen Erkrankung führt, wenn ungünstige Einflüsse
auf dem Boden der hereditären Anlage ihre verderbliche Wirksam-
keit entfalten. So erklärt es sich, dass der Beginn der Geistes-
störung bei erblich Belasteten besonders gern in jene Lebensab-
schnitte zu faUen pflegt, in denen aus inneren oder äusseren Gründen
das psychische Gleichgewicht stärkeren Schwankungen ausgesetzt
ist namentiich in das Pubertätsalter, ferner in die Zeit des Kampfes
um eine selbständige LebenssteUung und der beginnenden senilen
Kückbüdung resp. des Klimakteriums beim Weibe. Wenn wir
diesen Erfahrungen gegenüber bei „rüstigen", nicht erblich be-
lasteten Individuen im Allgemeinen Geistesstörungen nur durch
intensiv wirkende Schädlichkeiten entstehen und dann entweder m
Genesung oder aber in mehr oder weniger schweres psychisches
Siechthum ausgehen sehen, so bedaii es kaum besonderer Betonung,
dass es natürlich zwischen diesen beiden GrenzfäLlen alle mögüchen
Uebergänge geben muss, deren Entstehung sich eben aus der sehr
verschiedenen ursächlichen Bedeutung erklärt, welche der erbhchen
Erblichkeit.
63
Yeraiilagiing in der Reihe der einzelnen klinischen Formen des
Irreseins zukommt. Ebenso ist es selbstverständlich, dass die Be-
ziehungen zwischen Heredität und bestimmten psychischen Krank-
heitsbildern zunächst nur statistische sind, dass also im gegebenen
Falle die erbliche Veranlagung zweifellos auch durch eine Häufung
andersartiger ungünstiger Momente ersetzt werden, und dass
umgekehrt auch ein hochgradig hereditär belastetes Individuum
an einer acuten, nicht periodischen, heilbaren Psychose erkranken
kann.
Die symptomatische Form, wie der Verlauf der psychischen
Störung wiederholen in einzelnen Fällen mit grösster Treue das
Krankheitsbild des Vorfahren, von dem sich die Vererbung herleitet
(gleichartige Vererbung). Mehrere Generationen können auf diese
Weise nach eiaa^nder mit Selbstmord endigen, oder es kann bei
gleichen Anlässen, im gleichen Lebensalter dieselbe Erkrankung bei
Vorfahren und Nachkommen zur Entwickelung gelangen. "Weit
häufiger ist indessen eine Transformation der Vererbung, die sich
in der allermannig-faltigsten Weise vollziehen kann. Alle jene oben
genannten Erscheimtngsformen der neuropathischen und psycho-
pathischen Constitution ti:eten als Glieder derselben hereditären Kette
neben einander auf, wenn es auch nach Siolis sorgfältigen Unter-
suchungen den Anschein hat, als ob die affectiven Formen des Irre-
seins einerseits und die Verrücktheit andererseits bei der Vererbung
bis zu einem gewissen Grade einander ausschhessen.*) Gemeinsam
ist allen den hereditären Aequivalenten die krankhafte Grundlage,
während die Ausbildung der Störungen im Einzelnen durch ver-
schiedenartige zufällige Ursachen bestimmt zu werden scheint. Am
leichtesten verständlich wird dieses Verhalten dort, wo eben über-
haupt nur eine krankhafte Anlage zur Vererbung kommt und wo
die Einflüsse des individuellen Lebens erst für die Weiterentwickel-
ung derselben massgebend werden.
Als körperhche Anzeichen der erbhchen Entartung (stigmata
hereditatis) pflegt man gewisse Entwickelungsanomalien zu beti-achten,
welche sich mit einiger Häufigkeit bei erblich belasteten Individuen
vorfinden. Dahin gehören Vorbildungen des Schädels, der Zähne,
*) Sioli, lieber directe Vererbung von Geisteskrankheiten, Archiv fär
Psychiatrie XVI.
I. Allgemeine Aetiologie.
der Ohren,*) Asymmetrien, Inner vationsstöruugen, mangelhafte
Ausbildung der Genitalien, umschriebenes Ergrauen der Haare
und Aehnliches. Das Zusammentreffen derartiger Erscheinungen
mit psychischer Entartung hat gewiss ein nicht unbedeutendes
theoretisches Interesse; für die praktische Beui'theilung des einzelnen
EaUes ist es wegen des Eehlens einer durchgreifenden Gesetzmässig-
keit nahezu werthlos.
EntwlckelungsstörimgeE. Fast gänzlich unbekannt ist bisher
der Einfluss solcher Schädlichkeiten auf die Veranlagung des Indi-
viduums, welche, ohne erbUche zu sein, die erste Zeit seiner Ent-
wickelung betreffen, obgleich dieselben höchst wahrscheinlich bis-
weilen von sehr einschneidender Bedeutung sein können. So wird
angegeben, dass Berauschtheit während des Zeugungsactes Epüepsie
der Nachkommen zur Folge haben, dass heftige Gemüthsbewegung
der Mutter während der Schwangerschaft eine psychopathische Yer-
anlagung des Kindes hervorrufen kann. Dass ferner aUerlei körper-
liche Ursachen, ungenügende Ernährung, hohes oder sehr jugend-
liches Alter der Eltern, endüch Krankheiten dieser letzteren oder
des Fötus für die Hirnentwickelung und 'somit auch für die
psychische Anlage des Individuums eine grosse, wenn auch noch
nicht im Einzelnen bestimmbare Wichtigkeit erlangen dürften,
bedarf keiner weiteren Ausführung. Dagegen muss es heute, na-
mentüch im Hinbücke auf die Verhältnisse bei Thieren, zum Min-
desten als recht zweifelhaft gelten, ob wii'klich, wie man vielfach
gemeint hat, nahe Verwandtschaft der Eltern an sich schon eine
Entartung der Kinder zur Folge hat. Die anscheinend in diesem
Sinne sprechenden positiven Erfahrungen lassen sich vielmehr höchst
wahrscheinlich auf eine cumulative Vererbung von Krankheitsanlagen
in bereits degenerirten Familien zurückführen. Wo beide Eltern
völlig gesund sind, wird die Entwickelung der Nachkommenschaft
durch die Blutsverwandtschaft schwerlich in krankmachender Weise
beeinüusst.
Erzielmiig. Unserem unmittelbaren Verständnisse leichter zu-
gängüch erscheint die Bedeutung der Erziehung für die Entwickel-
ung der psychischen Persönlichkeit. Allerdings wissen wir heute
*) Binder, Archiv f. Psychiatrie, XX, 1889, p. 514.
Entwickelungsstörungen. Erziehung.
65
noch nicht, wieweit die Erziehung überhaupt in das Wesen des
Mensehen einzugreifen und dasselbe umzugestalten vermag. Die
Anschauungen über diesen Punkt schwanken zwischen fatalistischem
Zweifel und hoffnungsvollem Optimismus vielfach hin und her. Die
einfache Erfahrung scheint mir zu lehren, dass hier die verschieden-
ai'tigsten Yerhältnisse in der Natur wirklich vorkommen. So gewiss
es Menschen giebt, die von vorn herein auf die psychische Er-
krankung unrettbar zutreiben, ja, die schon geisteskrank geboren
werden, so gewiss alle wesentlichen Eigenschaften des Verstandes
imd Charakters schon beim Kinde in der Anlage vorhanden sind, so
unzweifelhaft ist es auch, dass die Art der Jugenderziehung für die
weitere Ausbildung jener Anlagen und damit auch für die gesammte
Gestaltung der Lebensschicksale von eingreifender Bedeutung werden
kann. Wir erkennen das nicht nur aus der starken Betheiligung
der unehelich Greborenen und Verwahrlosten am Verbrechen, am
Selbstmord und Irresein, sondern auch an der Ausbildung von
Menschentypen je nach den Eindrücken der Kindheit. Die Gegen-
sätze zwischen Stadt- und Landbevölkerung, die Eigenthümlich-
keiten der Strand-, Gebirgs- und Grenzbewohner verwischen sich
auch dann nicht, wenn die Menschen später in ganz andere Ver-
hältnisse hineingeworfen werden. Allerdings ist hier überall, wie
bei den Verbrecher-, Gelehrten- und Künstlerfamilien, der Ein-
fluss der Erblichkeit von demjenigen der Erziehung schwer ab-
zutrennen.
Die allgemeinen Aufgaben der Erziehung sind einmal die intel-
lectuelle Ausbildung desEandes, die dasselbe befähigt, Erfahrungs-
material zu sammeln und zu verarbeiten, dann aber die Begründung
eines constanten, das Handeln nach einheitlichen sittlichen Grund-
sätzen leitenden Charakters. Nach beiden Eichtungen hin kann
die Pädagogik hinter den Anforderungen zurückbleiben, die der
Kampf des Lebens an die Leistimgs- und Widerstandsfähigkeit des
socialen Menschen stellt. Vernachlässigung der Verstandesbildung
giebt denselben allen Gefahren der Kritiklosigkeit und des Aber-
glaubens Preis, und erschwert ihm die Ueberwindung jener Schwierig-
keiten, welche die Erringung einer selbständigen Lebensstellung
bietet. Andererseits aber führt auch die TJeberanstrengung des
jugendlichen Gehirns schwere Schädlichkeiten mit sich, indem sie
dasselbe frühzeitig erschöpft und damit die volle Ausbildung des-
Krao pol in, Psychiatrie. 4. Aufl. 5
66
I. Allgemeine Aetiologie.
selben unmöglich macht. Behinderung der freien persönlichen Ent-
wickelung durch übermässige Sti-enge und Pedanterie macht den
Menschen engherzig und verschlossen, und erstickt im Keime jene
gemüthlichen Regungen des Wohlwollens und der Menschenliebe,
von deren Stärke vor Allem die sittliche Ausbildung des Charakters
abhängig ist. Verzärtelung endlich durch weichliche Nachgiebigkeit
lässt die augenblicklichen Launen und Begierden zur unbezwing-
lichen Herrschaft über das Handeln gelangen und verhindert dadurch
die Entwickelung eines abgeschlossenen und einheitlichen, fest in
sich selbst gegründeten Charakters.
Den Einflüssen der Erziehung schliessen sich diejenigen der
späteren Lebenserfahrungen an, bald bessernd und veredelnd, bald
zerrüttend und untergrabend, was jene schuf. Alle die schon früher
aufgezählten körperlichen und psychischen Ursachen, Traumen,
Krankheiten und Yergiftungen aUer Ali, Ueberanstrengungen, Ge-
müthsbewegungen, Excesse u. s. f., können hier, soweit sie nicht
geradezu eine psychische Erkrankung herbeiführen, umwandelnd und
vorbereitend auf das Individuum einwirken. Auch hier zeigt uns
die typische Gestaltung, welche die einzelnen Stände, Berufsarten
und sonstigen socialen Gruppen ihren Mitgliedern in der gesammten
Auffassung, der Moral, in der Lebensführung und selbst in allen
möglichen Aeusserlichkeiten aufprägen, dass nicht nur die Anlage
des Einzelnen seine Lebensschicksale bestimmt, sondern dass um-
gekehrt auch eine Rückwirkung dieser letzteren auf die besondere
Entfaltung seiner persönlichen Eigenart stattfindet.
Grundlage der Prädisposition. Nichtsdestoweniger giebt es wol
gewisse Eigenschaften, welche von vornherein für den Menschen
charakteristisch sind und durch keinerlei spätere Einwirkungen sich
mehr verwischen lassen. Dafür spricht die überraschende Deutiich-
keit, mit welcher schon bei ganz kleinen Kindern in den ersten
Lebensjahren Yerschiedenheiten hervortreten, die sich ti-otz aller
nivellirenden Einflüsse durch das ganze Leben hindurch erhalten.
Es liegt nahe, hier an Unterschiede in der körperlichen Veranlagung
zu denken. Abweichungen in den Grössenverhältnissen der einzelnen
Organe untereinander, in der chemischen Zusammensetzung der
Gewebe könnten wol auch jene Differenzen in den Lebensleistungen
zui- Folge haben, welche uns als dauernde persönliche Eigenthüm-
lichkeiten entgegentreten.
Erziehung. Grundlage des Prädispoeition.
67
Das besondere Merkmal der psychopathischen Yeranlagung ist,
soweit ich sehe, die allgemeine Eigenschaft der herabgesetzten
"Widerstandsfähigkeit im Bereiche des gesammten Seelenlebens.
Sie kennzeichnet sich auf intellectuellem Gebiete durch die beiden
einander wahrscheinlich nahe verwandten Erscheinungen stärkerer
Ermüdbarkeit und Ablenkbarkeit. Die Grösse der geistigen Arbeits-
leistung in einer bestimmten Zeit nimmt hier bei dauernder An-
strengung ungemein rasch ab und wird in besonders hohem Maasse
durch die Zufälligkeiten der äusseren und inneren Disposition be-
einflusst. Im Bereiche der Gefühle begegnen wir erleichterter Aus-
lösimg stärkerer Gleichgewichtsschwankungen, grösserer gemüthlicher
Erregbarkeit, aber geringer ISTachhaltigkeit der AJffecte. Dem ent-
spricht endlich leichte Bestimmbarkeit des Handelns durch äussere
und innere Einflüsse, Haltlosigkeit auf der einen, zwangsmässige
Pedanterie auf der anderen Seite. In stärkerer Ausbildung geht die
psychopathische Prädisposition geradezu in bestimmte krankhafte Zu-
stände über, bei deren Besprechung wir späterhin die einzelnen kli-
nischen Gestaltungen verminderter psychischer Widerstandsfähigkeit
eingehender zu betrachten haben werden.
Physiologisch kann man den hier geschilderten Zustand etwa
mit demjenigen der Asthenie in Parallele setzen, den man an peri-
pheren Nerven beobachtet, wenn dieselben in Folge oft wiederholter
Keizung ihre normale Eeactionsform verKeren und nun eben durch
ein Stadium wachsender Erregbarkeit mit Abnahme der Hemmungen
hindurch schliesshch in den Zustand der Erschöpfung, der sinken-
den Eeizbarkeit, übergehen.
Ohne Zweifel kennzeichnet sich auch auf dem Gebiete der
psychischen Leistungen das erste Stadium der Ermüdung durch eine
Zunahme der Erregbarkeit, welche erst bei dauernder Arbeit weiter-
hin einem fortschreitenden Nachlasse derselben Platz macht. Bei
rüstigen, leistungsfähigen Menschen vollzieht sich dieser ganze Vor-
gang langsam und allmählich, während die geringere Widerstands-
fähigkeit sich eben durch das rasche Auftreten der Erregbarkeits-
steigerung kennzeichnet. Schon unter dem Einflüsse der normalen
Lebensreize steüt sich dieser Zustand leicht und häufig ein, und
kann bei oberflächlicher Beurtheüung unter Umständen sogar den
Anschein einer erhöhten Leistungsfähigkeit erwecken, bis die ge-
ringe Ausdauer und Stetigkeit auf allen Gebieten des Seelenlebens
5*
68
I. Allgemeine Aetiologie.
die Sachlage klärt. So lange uns eine genauere Kenntniss dieser
Verhältnisse fehlt, ist es daher vieUeicht gestattet, in etwas zuge-
spitzter Form den Zustand der psychopathischen Prädisposition
wesentlich als den Ausdruck einer dauernden leichterenprschöpf-
barkeit unserer nervösen Centraiorgane aufzufassen.
n. Allgemeine Symptomatologie.
Die Gesammtheit aller krankhaften Punctionsstörungen im
Centraiorgane unseres Bewusstseias bezeiclinen wir als die Sym-
ptome des Irreseins. Yon denselben haben für die allgemeine Be-
trachtung hier ein unmittelbares Interesse nur diejenigen, welche
uns als psychische Veränderung'en entgegentreten. Die ver-
schiedenen körperlichen Krankheitserscheinungen, nervöse Eeizungs-
und Lähmungssymptome aller Art, vasomotorische, trophische etc.
Störungen, gehören ihrer Natur nach dem Gebiete der Neuropatho-
logie an; sie bieten als solche nichts für das Irresein Charakte-
ristisches und werden daher erst später, bei der Darstellung der
einzelnen klinischen Krankheitsformen, nähere Berücksichtigung
finden.
Drei Hauptrichtungen sind es im Grossen und Ganzen, in denen
sich die psychischen Lebenserscheinungen bewegen, die Aufnahme
und geistige Verarbeitung des Erfahrungsmaterials, die
Schwankungen des gemüthlichen Gleichgewichts und die
Umsetzung der centralen Erregungszustände in Hand-
lungen. Auf diesen drei Gebieten werden wir daher die Elementar-
störungen der psychischen Leistungen aufzusuchen haben, aus deren
verschiedenartiger Yerbindung wir die klinischen Krankheitsbilder
hervorgehen sehen. Bei weitem die grösste Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen bietet dabei unserer Analyse diejenige Gruppe von
psychischen Vorgängen dar, welche die Sammlung sinnlicher Ein-
drücke und dann weiter die Verarbeitung derselben zu Vorstellungen
und Begriffen, sowie die Ausbildung der höheren logischen Ge-
dankengänge zum Gegenstande hat.
70
n. Allgemeine Symptomatologie.
A. Störungen des Wahrnelimungsvorganges.
Die "Wahrnehmung eines äusseren Sinnesreizes steht im All-
gemeinen in Abhängigkeit von zwei verschiedenen Bedingungen,
nämlich einmal von Bau und Leistung des gesammten peri-
pheren und centralen Sinnesgebietes, dann aber von dem
Zustande des Bewusstseins, welches den zugeführten Eindruck
in sich aufnehmen soll. Alle Störungen, welche das eine oder das
andere dieser beiden Grebiete in krankhafter Weise verändern, müssen
auch im Stande sein, die Auffassung der Aussenwelt in mehr oder
weniger hohem Grade zu beeinträchtigen. Wo die peripheren reiz-
aufnehmenden Organe leistungsunfähig geworden sind (Blindheit,
Taubheit), oder wo sich unüberwindliche Leitungshiudernisse ent-
wickelt haben, welche die Fortleitung der B,eize unmöglich machen,
fallen bestimmte Arten von Sinnesvorstellungen in dem Erfahrungs-
schatze einfach aus. Hier hängt es von der allgemeinen psycho-
logischen Wichtigkeit derselben, sowie von der Möglichkeit einer
Stellvertretung durch andere Sinne ab, wie weit dadurch die Ge-
sammtausbildung der psychischen Persördichkeit zurückgehalten
wird. Wenn auch vereinzelte Fälle bekannt sind, in denen durch
eine überaus mühevolle Erziehung sogar der Yerlust des Gesichtes
und Gehörs mit Hülfe des Tastsinnes einigermassen wieder ausge-
glichen werden konnte, so bleiben doch nicht unterrichtete Taub-
stumme lebenslänglich auf der Stufe des Schwachsinnes stehen,
während Blinde durch den Sinnesdefect in ihrer geistigen Ent-
wickelung durchaus nicht in höherem Grade zu leiden pflegen.
Sinnestäusclmiigen. Ein weit grösseres klinisch-psychiatrisches
Interesse nehmen indessen diejenigen Anomalien des Wahrnehmimgs-
vorganges in Anspruch, welche nicht auf dem vollständigen Fehlen,
sondern auf functionellen Störungen im Gebiete der Sinnesbahn be-
ruhen, durch die somit nicht ein Ausfall von Sinneserfahrung,
sondern eine qualitative Yeränderung, eine Verfälschung
derselben erzeugt wird. Jedes Sinnesorgan reagirt auf irgend welche
Eeize in einer ihm eigenthümlichen, „specifischen" Weise. Es muss
daher überall, wo der Reiz, der einen Eindi-uck erzeugt, nicht der
normale, dem getroffenen Sinne angemessene ist, eine Täuschung
über die Natur der Reizquelle entstehen. So ist, streng genommen,
Sinnestäuschungen.
71
der Liclitblitz, die Klangempfiudung bei elektrischer Durchströmung
dos Auges und Ohres, der Greschmackseindruck bei mechanischer
Reizung der Chorda tympani als eine Trugwahrnehmung anzusehen,
Avenn wir dieselbe auch vermöge unserer physiologischen Erfahr-
ungen sogleich als solche erkennen und corrigiren, so dass eine
weitere Verfälschung unseres Bewusstseinsinhaltes daraus nicht her-
vorgeht. Dennoch können unter Umständen bei Geisteskranken
(namentlich bei stärkerer Bewusstseinstrübung) die subjectiven Licht-
erscheinungen in Folge von Blutüberfüllung des Auges, das Brausen
und Klingen in den Ohren die Yorstellung drohender Feuers- und
"Wassersgefahren und dergl. wachrufen und auf diese "Weise das
Zustandekommen einer wirklichen, nicht ausgeglichenen Täuschung
vermitteln. Derartige peripher bedingte Sinnestäuschungen hat man
elementare genannt, weil sie eben wegen ihres Entstehungsortes
in den reizaufnehmenden Flächen den Charakter einfacher, nicht
zusammengesetzter Sinnesempfindungen tragen.
Yerfolgen wir indessen die Bahn der Sinnesnerven weiter
centralwärts, so gelangen wir an diejenigen Organe, in denen sich
die einzelnen "Wahrnehmungselemente, wie sie von der Peripherie
geliefert werden, zu einem Gesammteindrucke verbinden, der sodann
als Sinnesvorstellung ins Bewusstsein gelangt. lieber die anatomische
Lage dieser Centren können wir freilich bisher nichts Sicheres aus-
sagen; am wahrscheinlichsten ist es jedoch, namentlich im Hinblick
auf die klinischen und experimentellen Erfahrungen über die
„Seelenblindheit", dass, wenigstens beim Menschen und bei höheren
Thieren, die sog. centralen Sinnesflächen in der Rinde als solche zu
betrachten sind. Es ist ohne Weiteres klar, dass auch hier nicht
adäquate Reize, also z. B. Yeränderungen in der Circulation, Gifte
und dergl, Erregungszustände hervorzurufen vermögen, welche den
normalen Reizungen durch Sinneseindrücke sehr ähnlich sind, um
so leichter, wenn die Erregbarkeit des betreffenden Centruras im
gegebenen Augenblicke durch liegend welche Einflüsse ohnedies ge-
steigert ist. Unter solchen Umständen kann daher irgend eine mehr
oder weniger zusammengesetzte Sinnesvorstellung in das Bewusst-
sein eintreten, die nicht durch einen peripheren Reiz, sondern dui-ch
central bedingte, physiologische oder krankhafte Erregungszustände
in der betreffenden Sinnesbahn hervorgerufen wurde. Da dieselbe
gleichwol auf einen äusseren Gegenstand bezogen vsärd, so haben
72
n. Allgemeine Symptomatologie.
wir es demnach hier mit einer Fälschung des Wahrnehmungsvor-
ganges zu thun, die auf einer Täuschung über den wahren Ursprung
der Sinnesreizung beruht.*)
Diese Gruppe der Sinnestäuschungen, die man wegen ihi-er
yermuthlichen Entstehung in den „Perceptionscentren" vielleicht als
Perceptionsphantasmen bezeichnen kann, ist es, welche der nor-
malen Wahrnehmung symptomatisch am nächsten steht. Allerdings
pflegen diese Täuschungen beim gesunden Menschen, bei dem sie
sich häufig vor dem Einschlafen einstellen (hypnagogische Hallu-
cinationen), nur ganz ausnahmsweise (im Bereiche des Gehöi-s) eine
grössere Lebhaftigkeit zu gewinnen; unter krankhaften Yerhältnissen
dagegen werden die Gegenstände wirklich gesehen, die Stimmen
wirklich gehört u. s. f.; eine Berichtigung der Fälschung ist nur mit
Hülfe der anderen Sinne möglich. Yom sonstigen Gedankengange
sind sie im Allgemeinen unabhängig imd treten auch deswegen dem
Bewusstsein als etwas Fremdes, Selbständiges, von aussen Kommen-
des gegenüber, dessen subjective Entstehung ihm völHg verborgen
bleibt. Aus demselben Grunde haben sie auch meist einen ziemlich
gleichförmigen, wenig wechselnden Charakter (stabüe Hallucinationen
Kahlbaums): Wiederholung derselben, bisweilen sinnlosen Worte,
häufiges Wahrnehmen desselben Geruches, Sehen bestimmter Figuren,
Thiere und dergl. Da sie auf centralen Erregungszuständen be-
ruhen, so sind sie von der Thätigkeit der peripheren Sinnesorgane
im Allgemeinen unabhängig und kommen auch bei gänzlicher Yer-
nichtung der Sinnesnei-ven und ihrer ersten Endigungen, der Nerven-
kerne, zur Beobachtung.
Es hat jedoch den Anschein, dass auch periphere Einwii-k-
ungen bisweilen in den höheren Centren direct oder auf reflectorischeni
Wege Erregungszustände auszulösen vermögen, die zur Entstehung
von Sinnestäuschungen führen. Dies geschieht ojffenbar um so
leichter, je grösser die Reizbarkeit jener Centren ist. Unter ki-ank-
haften Yerhältnissen genügen bisweilen schon die gewöhnlichen
Lebensreize, um die besprochenen Fälschungen des Wahrnehmungs-
vorganges zu erzeugen; in anderen Fällen treten sie sogleich hervor,
*) V. Krafft-Ebing, Die Sinnesdelirien, 1864; Kahlbaum, AUgem. Zeit-
schrift flir Psychiatrie, XXIII; Hagen ibid. XXV; Kandinsky, Kritische imd
klinische Betrachtungen im Gebiete der Sinnestäuschungen. 1885.
Sinnestäuschungen.
73
wenn sich die Aiifmerksamkeit aiif das betroffene Sinnesgebiet
richtet und die leisen Erregungszustände in demselben über die
Schwelle des Bewusstseins erhebt, oder wenn ein Affect eine
vorübergehende Steigerung der Reizempfänglichkeit zu Stande bringt-
Sie schwinden daher auch, sobald der Kranke sich beruhigt oder
durch ein Gespräch, interessante Leetüre, die Versetzung in eine
neue Umgebung u. dergl. abgelenkt wird. Endlich spricht noch für
die Mitwirkung von Eeizzuständen in den Sinnesorganen das ge-
legentlich beobachtete Yorkommen von einseitigen Gehörstäuschungen,
sowie der Nachweis, dass bei Gehörshallucinanten häufiger chronische
Erkrankungen des Mittelohrs, sowie Anomalien in der elektrischen
Eeaction des Acusticus*) vorhanden sind. Ausser der einfachen
Hyperästhesie findet man hie und da paradoxe Eeaction des nicht
armirten Ohres und namentlich auch die schwerste Form der
Störung, die Umkehrung der Eormel für die einfache Hyperästhesie.
Wie Jelly gezeigt hat, gelingt es hier auch gar nicht selten, durch
elektrische Eeizung des Acusticus die Täuschungen hervorzurufen,
und Nägeli war in der Lage, bei einer Yerbrennung seiner Horn-
haut mit heissem Spiritus an sich selbst längere Zeit ausgeprägte
G esichtshallucinationen von vollkommener sinnlicher Deutlichkeit zu
beobachten.
In der Eegel pflegt es nur ein einzelnes Sinnesgebiet zu sein,
auf welchem in dieser Weise Fälschungen der äusseren Erfahrung
sich [vollziehen. Am häufigsten sind sicherlich diese Punctions-
störungen im Gebiete des Gehörs und Gesichts, seltener in dem-
jenigen der drei übrigen Sinne und in dem dunklen Bereiche jener
Wahrnehmungen, die wir unter dem Sammelnamen des Gemein-
gefühls zusammenfassen.
Für die klinische Betrachtung hatEsquirol und nach ihm aus
praktischen Gründen die Mehrzahl der Forscher zwei Arten von
Sinnestäuschungen unterschieden, solche nämlich, bei denen eine
äussere Eeizquelle gar nicht vorhanden ist: Hallucinationen, und
solche, die nur als die Yerfälschung einer wirklichen Wahrnehmung
durch hinzugetretene subjective Elemente zu betrachten sind: Illu-
sionen.**) Im EinzeKaUe ist diese Trennung nicht selten äusserst
*) Jelly, Archiv f.' Psychiatrie, IV, Buccola, Eivista di freniatria sperimen-
tale, XI, 1885.
**) Sully, Die Illusionen. Internat, wissenschaftliche Bibliothek, 1883.
74
II. Allgemeine S}Tiiptomatologie.
schwierig oder gänzlich unmöglich. So sind wir namentlich bei den
Contactsinnen (Geruch, Geschmack, Hautsinn) fast niemals im Stande,
mit Sicherheit das Yorhaudensein irgend einer äusseren Reizursache
.(Zersetzungsvorgänge in Mund- oder Nasenhöhle, Temperaturschwank-
ungen und dergl.) auszuschliessen, noch weniger natürlich bei den
Störungen des Gemeingefühls. Auch beim Gesicht geben nicht selten
uncontrolirbare Reize, z.B. das Eigenlicht der Retina, beim Gehör
entotische Geräusche u. s. f. gewissermassen das erste Material für die
Ausbildung der Trugwahrnehmungen ab. In anderen Fällen jedoch
ist die verschiedenartige Entstehungsweise ohne Weiteres klar. Der
Furchtsame, der ragende Baumstämme, wallende Nebel für Ge-
spenster hält („Erlkönig"), der Kranke, der aus dem Läuten der
Glocken, dem Kritzeln der Feder, dem Bellen der Hunde, dem
Knarren der Wagen Schimpfworte und Yorwürfe heraushört — sie
haben zweifellos „Illusionen", während wir die typischen Gesichts-
phantasmen des Alkoholisten, die „Stimmen", welche den Sträfling
im stillen Zellengefängnisse quälen oder beglücken, höchst wahr-
scheinlich als Haliucinationen zu bezeichnen haben. Zwischen beiden
Formen giebt es alle möglichen Uebergänge; ist doch die Illusion
im Grunde nichts Anderes, als eine vielfach wechselnde Mischform
von normaler Wahrnehmung mit hallucinatorischen Zuthaten.
Das Gemeinsame dieser ganzen Gruppe von Sinnestäuschungen
Hegt in der vollkommen sinnlichen Deutlichkeit derselben. Der
centrale Erregungszustand entspricht durchaus demjenigen beim nor-
malen Wahrnehmungsvorgange, und das entstehende Phantasma
ordnet sich daher unterschiedslos in die Reihe der übrigen Sinnes-
eindrücke ein. Die Kranken glauben nicht nur, zu sehen, zu hören,
zu fühlen, sondern sie sehen, hören, fühlen wirklich.
Ein in vieler Beziehung abweichendes Yerhalten bieten dagegen
diejenigen nur uneigentlich so genannten Sinnestäuschungen dar,
die nichts Anderes sind, als Erinnerungsbilder von besonderer
Intensität. Das Wiederauftauchen eines früheren Eindruckes pflegt
in der Regel niemals die sinnliche Deutlichkeit der Sinneswahr-
nehmung selbst zu erreichen, sondern sich jederzeit ganz unzwei-
deutig durch die geringere Lebhaftigkeit und Schärfe von jener zu
unterscheiden. Indessen bestehen in dieser Beziehung bedeutende
persönliche Differenzen. Während von manchen Beobachtern den
Erinnerungsbildern jede genauere Ausprägung nach Farbe und Form
Sinnestäuschungen.
75
abgesprochen wird, versichern Andere, besonders bildende Künstler
dass dieselben bisweilen an sinnlicher Deutlichkeit der unmittel-
Jbaren Wahrnehmung nur sehr wenig nachgeben.
Unter pathologischen Yerhältnissen kann ojffenbar die Eepro-
duction von Erinnerungsbildern nicht selten einen so hohen Grad
von sinnlicher Deutlichkeit erreichen, dass sie von den Kranken als
wirkliche Wahrnehmungen besonderer Art aufgefasst werden. Eine
ganze Reihe von Forschern ist sogar der Ansicht, dass alle Trug-
wahrnehmungen unmittelbar als Phantasievorstellungen von ausser-
gewöhnücher sinnlicher Lebhaftigkeit aufzufassen seien. Allein der
Umstand, dass bei Hallucinanten durchaus nicht alle, sondern nur
bestimmte Gebiete der reproducirten Eindrücke in den Sinnes-
täuschungen eine Eolle zu spielen scheinen, und dass neben diesen
letzteren stets auch Yorstellungen von dem gewöhnlichen, abgeblassten
und gestaltlosen Charakter zu verlaufen pflegen, deutet darauf hin,
dass noch eine besondere Ursache hinzukommen muss, wenn ein
Erinnerungsbild die greifbare Deutlichkeit der Wahrnehmung er-
halten soll.
Die nächstliegende und zumeist adoptirte Erklärung dieses Yer-
haltens ist die Annahme einer gleichzeitigen centrifugalen Er-
regung der centralen Sinnesflächen. Wir haben früher ge-
sehen, dass die Erregungszustände dieser letzteren in der Eorm
sinnlicher Wahrnehmung ins Bewusstsein treten müssen, weil ja
alle Sinneseüidrücke eben nur durch Vermittelung jener Erregungen
auf unser Bewusstsein einwirken können. Wenn es demnach diese
Centren sind, durch deren Erregung die Wahrnehmung ihren sinn-
lichen Charakter erhält, so liegt es nahe, eine grössere oder ge-
ringere Betheiligung derselben an dem Vorgange der lebhaften Re-
production zu vermuthen. Eine derartige Anschauung würde
namentlich gut die Thatsache erklären, dass zwischen der Sinnes-
täuschung von vollkommenster sinnlicher Deutlichkeit und der ab-
geblasstesten Reproduction eine ununterbrochene Reihe von Ueber-
gangsstufen Hegt, ein Yerhaiten, das sich durch die Annahme einer
stärkeren oder schwächeren Miterregung der Sinnesflächen am un-
gezwungensten erklären lassen würde. Möglich, dass sogar beim
gewöhnlichen Denken die centrifugale Reizung, die „Reperception",
wie Kahlbaum sie genannt hat, in sehr geringer Stärke immer
stattfindet, und dass erst dann, wenn dieser Vorgang eine krankhafte
76
II. Allgemeine Symptomatologie.
Ausdehnung gewinnt, oder wenn die Sinnesflächen sich in einem
Zustande erhöhter Erregbarkeit befinden, die Lebhaftigkeit der Re-
production derjenigen der sinnlichen Wahrnehmung sich annähert-
Es würde somit gewissermassen ein bestimmtes Yerhältniss zwischen
der Stärke der Reperception und der Reizbarkeit der Sinnesflächen
bestehen: Je grösser die Reizbarkeit dieser letzteren, desto leichter
würden die Erinnerungsbilder den Charakter der sinnlichen Deut-
lichkeit erhalten, desto schwächer brauchte die centrif ugale Erregungs-
welle zu sein, um dieselben auszulösen, und desto unabhängiger
würden sie vom Vorstellungsverlaufe sein. Der Grenzfall wäre in
den früher besprochenen, auf örtlichen Reizungsvorgängen beruhen-
den Perceptionshallucinationen gegeben, die dem Kranken ganz
fremdartig, als etwas von aussen sich Aufdrängendes gegenüber-
stehen.
Auf der anderen Seite giebt es zahlreiche Fälle, in denen es
sich gar nicht um eigentliche Sinnestäuschungen, sondern lediglich
um Yorstellungen von grosser Lebhaftigkeit handelt. Bei genauerem
Eingehen gelingt es, die zunächst auf Trugwahrnehmungen deuten-
den Aeusserungen der Kranken dahin zu begrenzen, dass die Ein-
drücke nicht eigentlich sinnliche, sondern „innerliche" gewesen sind,
die aber dennoch wegen ihrer aufdringlichen Deutliclikeit von den
gewöhnlichen Yorstellungen unterschieden werden. Hier würde man
sich etwa die Reperception sehr stark entwickelt, aber die Reizbar-
keit der Sinnesflächen nicht erhöht vorzustellen haben. Für diese
Auffassung spricht der Umstand, dass diese letztgenannte Gruppe
der Reproductionen, die man auch als psychische Hallucinationen
(Baillarger), Pseudohallucinationen (Hagen) oder Apper-
ceptions hallucinationen (Kahlbaum) bezeichnet hat, zumeist
mehrere oder alle Sinnesgebiete in zusammenhängender Weise um-
fassen, und dass sie stets in nahen Beziehungen zu dem sonstigen
Bewusstseinsinhalte stehen, während die an der entgegengesetzten
Seite unserer Scala befindlichen Perceptionsphantasmen begreiflicher
Weise in der Regel nur einem einzelnen Sinnesgebiete anzugehören
pflegen und dem Yorstellungsverlaufe gegenüber sich durchaus
selbständig verhalten.
Eine interessante Erläuterung erhält die Theorie der Stunes-
täuschungen durch eine eigenthümliche Störung, die man als „Doppel-
denken" bezeichnet hat. Sie besteht wesentlich in dem hallucina-
Siimeätäuschungeu.
77
torischen Mitklingen der G-edanken des Patienten. Unmittelbar
an die auftauchende Yorstellung schliesst sich eine deutliche Ge-
hörswahrnehmung des gedachten Wortes. Am häufigsten tritt dieses
Mithaliuciniren beim Lesen, etwas seltener beim Schreiben auf, also
dann, wenn eine Vorstellung sich mit einer gewissen Stärke in's
Bewusstsein drängt. Leises oder lautes Aussprechen der "Worte
bringt die hallucinatorischen Fachkläuge in der Eegel zum Yer-
schwinden. Stets bestehen ausserdem noch anderweitige Gehörs-
täuschungen. Zur Erklärung dieser Erscheinung wäre etwa eben
wegen der Hallucinationen eine erhöhte Eeizbarkeit der centralen
Sinnesflächen anzunehmen, die sehr wol unter dem Einflüsse
der Eeperception zur fortiauf enden Entstehung von Trugwahrnehm-
ungen führen könnte, welche den Gedankengang inhaltlich Schritt
für Schritt verfolgen. Die Ablenkung der centralen Erregungs-
zustände auf motorische Bahnen scheint dann die centrifugale
Reizung der Sinnesflächen durch den Yorstellungsverlauf und somit
die Entstehung des Doppeldenkens bis zu einem gewissen G-rade
verhindern zu können.
Die Schwierigkeit, Apperceptionshallucinationen, reproducirte
Yorstellungen von fast sinnlicher Lebhaftigkeit, scharf von der wirk-
lichen Wahrnehmung zu trennen, ist die Ursache, warum bei Geistes-
kranken gerade die Yermischung von Sinneseindrücken mit sub-
jectiven, dem eigenen Yorstellungsverlaufe entstammenden Elementen
eine so verhängnissvolle Quelle der Yerfälschung ihrer Erfahrung
wird. Dieser Yorgang, den wir als Apperceptionsillusion den
früher berührten Formen der Illusion gegenüberstellen können, ist
in geringerem Umfange schon unter normalen Yerhältnissen überaus
häufig. Niemandem kann es entgehen, wie sehr auch die Wahr-
nehmung des Gesunden unter dem Einflüsse der Erwartung, der
vorgefassten Meinung steht, namentlich dann, wenn lebhafte Afi'ecte
die klare und sachliche Auffassung unserer Umgebung trüben. Auch
der ruhigste naturwissenschaftliche Beobachter ist nicht immer ganz
sicher, dass seine Wahrnehmungen sich nicht unmerklich den An-
schauungen anpassen, mit denen er an seinen Gegenstand heran-
tritt; der eifrige Leser ergänzt und verbessert die Yersehen des
Setzers aus dem Schatze seiner Yorstellungen, ohne ihrer nur ge-
wahr zu werden, und die Affecte sind bekanntlich im Stande, in
unserer Gesammtauffassung der Umgebung eine so rasche und durch-
78
II. Allgemeine Symptomatologie.
greifende Umwandlung herbeizuführen, dass die einzelnen Eindrücke
in sehr stark veränderter, mit eigenen Zuthaten verfälschter Gestalt
in unser Bewusstsein gelangen. Bei Geisteskranken sind aber die
Bedingungen für die Entstehung von Apperceptionsillusionen häufig
ausserordentlich günstige: lebhafte Affecte, grosse Deutlichkeit der
reproducirten Yorstellungen und endlich — ein später noch näher
zu berücksichtigender Umstand — Unfähigkeit zu einer kritischen
Sichtung und Berichtigung des Erfahrungsmaterials. So kommt es,
dass hier vielfach die sinnlichen Eindrücke in der Auffassung des
Kranken ganz abenteuerliche und phantastische Formen annehmen
und auf diese Weise auch dort, wo keine eigentlichen Hallucinationen
vorhanden sind, die Bausteine zu einer durch und durch verfälschten
Anschauung von der Aussenwelt zu liefern im Stande sind.
Am leichtesten kommt natürlich eine derartige Verfälschung
der Erfahrung dann zu Stande, wenn die von den Sinnen gelieferten
Eindrücke nicht klar und scharf ausgeprägt, sondern unbestimmt
und verschwommen sind. "Wie wir im gewöhnlichen Leben un-
deutliche Wahrnehmungen am häufigsten missverstehen, d. h. un-
willkürlich durch subjective Beimischungen ergänzen und auslegen,
so spielen auch bei Geisteskranken die Apperceptionsillusionen be-
sonders dann eine grosse Kolle, wenn die scharfe Auffassung der
Sinneseindrücke aus irgend welchen peripheren oder centiralen
Ursachen eine Beeinträchtigung erlitten hat.
In der Kegel vollzieht sich dieser Yorgang der Vermischung
von Wahrnehmung mit selbst erzeugten Bestandtheilen auf einem
und demselben Sinnesgebiete; es giebt indessen auch eine ebenfalls
hierher gehörige Gruppe von Störungen, welche in der Auslösung
einer Trugwahrnehmung eines Sinnes durch einen normalen Eiu-
druck im Bereiche eines anderen bestehen, die von Kahlbaum
so genannten Eeflexhallucinationen. Man kann sich dabei etwa
vorstellen, dass der centiipetale Sinnesreiz Erregimgszustände her-
vorruft, die bei ihrer centrifugalen üebertragimg auf eine über-
erregliche Sinnesfläche dort zur Entstehung des Phantasma Veran-
lassung geben. Normale Beispiele dieses Vorganges sind alle die
sogenannten sympathischen Empfindungen, die Tastempfindung bei
einem blinden, gegen uns gerichteten Stosse, die unangenehmen
Sensationen des nicht abgehärteten Zuschauers bei schmerzhaften
Operationen u. s. f. In pathologischen Zuständen sind dieselben bis-
Sinneatäuschungen.
79
weilen sehr hochgradig und zugleich in sehr bizarren Formen ent-
wickelt; die Kranken fühlen sich mit der Suppe „ausgefüllt", von
ihrer Nachbarin „eingeucäht", „eingestrickt" und Aehnliches. Nament-
lich Bewegungsempfindungen, wie sie sich schon normaler Weise
so häufig an Sinneseindrücke anschliessen, scheinen vielfach auf
diesem Wege zu entstehen.*) Es giebt Kranke, welche die in ihrer
Umgebung gesprochenen Worte in ihrer Zunge fühlen, denen ein
Blick, eine Berührung eigenthümliche Spannungs- oder Erschlaffungs-
empfindungen im Körper erregt. Dabei ist indessen zu berücksich-
tigen, dass es sich hier vielfach gewiss nicht um die einfache Ueber-
tragung der Sinnesreize auf eine andere Bahn, sondern um Apper-
ceptionshallucinationen handelt, die lange vorbereitet sind und auf
dem Wege einer mehr oder weniger klar bewussten Ueberlegung
sich an irgend eine Wahrnehmung anknüpfen.
Eine sehr bemerkenswerthe Eigenschaft der Sinnestäuschungen,
welche einmal auf ihre Entstehungsweise hindeutet, andererseits
ihre Wichtigkeit als psychopathisches Symptom kennzeichnet, ist die
gewaltige, unwiderstehliche Macht, welche sie alsbald über den ge-
sammten Bewusstseinsinhalt des Kranken zu erhalten pflegen. Es
ist wahr, dass auch bei psychisch vöUig gesunden Menschen aus-
nahmsweise einmal eine ausgesprochene Hallucination auftreten kann,
und dass im Beginne der Geistesstörung die Täuschungen wegen
ihres unwahrscheinlichen Inhaltes häufig genug corrigirt werden,
allein man sieht fast immer, wie andauernde Sinnestäuschungen
rasch jede gesunde Kritik überwältigen, und wie schon nach kurzer
Zeit selbst die unsinnigsten und abenteuerlichsten Annahmen von
dem Kranken erfunden werden, um an der Wahrheit der Trug-
wahrnehmungen allen besonnenen Gegengründen zum Trotz fest-
zuhalten. Ja, wenn etwa in der Eeconvalescenz die Ueberzeugung
von der täuschenden Natur der Phantasmen sich schon zu festigen
beginnt, wird der Kranke im Augenblicke der Hallucinationen
selbst doch fast regelmässig wieder von ihnen mit fortgerissen.
Diese eigenartige Erscheinung, welche in der Ohnmacht der
wirklichen Wahmehmungen, des offenbaren Augenscheins, gegenüber
der krankhaften Täuschung ein weitere Erläuterung findet, kann
*) Gramer, Die Hallucinationen im Muskelsinn bei Geisteskranken und ihre
klinische Bedeutung, 1889.
80
n. Allgemeine Symptomatologie.
eben deswegen natürlich nicht etwa in der sinnlichen Deutlichkeit
der Trugwahrnehmung ihren tieferen Grund haben; im Gegentheil
scheint die Erfahrung dafür zu sprechen, dass die Macht der Phan-
tasmen mit dem Zurücktreten des alltäglich sinnlichen Charakters
eher wächst, als abnimmt. Jener Grund ist daher yielmehr in dem
tiefgehenden, dem Kranken vielleicht selber unbewussten Zusam-
menhange mit den ihm geläufigen Ideenkreisen, in der inneren
Uebereinstimmung der Täuschungen mit seinen krankhaften Be-
fürchtungen und "Wünschen zu suchen. In vollem Masse kann dies
natürlich nur für jene Fälle gelten, in denen nicht eine tiefere
Trübung des Bewusstseins , wie etwa bei Deliranten uud Epilep-
tikern, jede klare Vorstellungsverbindung überhaupt ausschliesst.
Wenn aber auch dort wenigstens der allgemeine Inhalt der Phan-
tasmen ungefähr der gleichzeitigen Stimmung entspricht, so ist das
in weit höherem Masse im halluciaatorischen Wahnsinn und in der
Verrücktheit der Fall. Es sind daher hier nicht etwa die Täusch-
ungen, welche nach Art gewöhnlicher Sinneserfahrungen als äussere
Ursachen in das Denken und Handeln des Kranken eingreifen,
sondern dieselben sind nichts Anderes, als eiu Anzeichen des krank-
haften Gesammtzustaades, geradeso wie die phantastischen Gedanken-
gänge und die abnormen Stimmungen. Keiu G-esunder würde die
Worte eines Vorübergehenden „das ist der Kaiser" sofort auf sich
beziehen, oder sich nun gar deswegen wirklich für den Kaiser halten
— auf den Verrückten, bei dem sie den Schlussstein einer langen
Kette geheimer Ahnungen und dunkler Combinationen bildet, macht
eiue derartige hallucinatorische Wahrnehmung den allertiefsten,
überwältigendsten Eindruck, und lässt unmittelbar die feste TJeber-
zeugung in ihm entstehen, nicht nur, dass jene Worte wirklich ge-
sprochen seien, sondern dass sie auch die thatsächliche Wahrheit
enthalten.
Die klinischen Formen der Trugwahrnehmungen auf den ein-
zelnen Sinnesgebieten zeigen eine grosse Mannigfaltigkeit. Unter
den Gesichtstäuschungen sind am häufigsten nächtliche Er-
scheinungen, sogenannte Visionen, entweder leuchtende Gestalten,
Gott, Christus, Engel, Verstorbene, lebhaft bewegte bunte Menschen-
mengen, Blumen, oder schreckhafte Fratzen, Teufel, wilde Thiere
und dergl. Diese Erscheinungen werden entweder als übersinnliche
Offenbarungen oder täuschende Vorspiegelungen aufgefasst, oder
Sinnestäuscliuiigen.
81
aber sie gleichen in ihren etwas fremdartigen und phantastischen
Formen, in ihrem raschen "Wechsel und ihrer Yielgestaltigkeit den
Trugwahrnehmungen des lebhaften, unruhigen Traumes, besitzen
jedoch eine noch grössere Deutlichkeit. Ungleich mehr der
"wirklichen Wahrnehmung sich nähernd und daher weit schwieriger
zu corrigiron sind die seltener zur Beobachtung kommenden Ge-
sichtstäuschungen, die sich am hellen Tageslichte zwischen die
übrigen Eindrücke hineindrängen. Bisweilen sind es einzelne
stereotype Grestalten, ein schwarzer Hund, Löwenköpfe, die zum
Fenster hineinsehen, huschende Schatten, Blut, ein Leichenantlitz,
oder die Gegenstände der Umgebung haben ein ganz anderes
Aussehen angenommen, zeigen bestimmte Gesichter, Todtenköpfe,
bewegen, verändern sich und dergl. Hierhin gehören auch gewisse
Fälle von Personenverwechselung, bei welchen die Kranken
in fremden Personen ihre Angehörigen wiederzuerkennen glauben
oder umgekehrt ihre Angehörigen nicht als solche recognosciren,
behaupten, dass dieselben Personen immer andere Gesichter und
Gestalten annehmen, Fratzen schneiden u. Aehnl. Im Allgemeinen
sind Gesichtstäuschungen einer Correctur durch andere Sinne, nament-
lich den Tastsinn, verhältnissmässig leicht zugänglich und werden
daher von Gesunden unter einigermassen günstigen Verhältnissen
auch regeknässig als solche erkannt. Nur wo heftige Affecte,
namentlich Angst, oder weit fortgeschrittene psychische Schwäche
eine unbefangene Prüfung der Täuschung verhindern, werden selbst
gröbere und fremdartigere Verfälschungen der Gesichtswahrnehmung
als wirkliche Sinneserfahrungen hingenommen und verarbeitet.
Weit verderblicher aber sind in dieser Beziehung jene Gehörs-
täuschungen, welche als „Stimmen" auftreten, ein Ausdruck, den
der wahre Gehörshallucinant fast immer sogleich richtig versteht.
Der Grund dafür liegt offenbar in der tiefgreifenden Bedeutung,
welche -die Ausbildung der Sprache für unser Denken besitzt. Da
wir zumeist in Worten denken, pflegen die „Stimmen" in sehr
innigem Zusammenhange mit dem Gesammtinhalte des Bewusstseins
zu stehen, ja sie sind häufig nichts, als der sprachliche Ausdruck
dessen, was die Seele des Kranken bewegt, und haben daher für
ihn eine weit grössere überzeugende Gewalt, als alle sonstigen sinn-
lich concreten Täuschungen und insbesondere als die wirklichen
Eeden der Umgebung selbst. Der Kranke hört, zuerst gewöhnlich
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Aufl. 6
82
II. Allgemeine Syniptoiiiatologie.
hinter seinem Rücken, allerlei unangenehme, aufreizende Bemer-
kungen, die sich auf ihn beziehen und ihn zu beleidigen bestimmt
sind. Namentlich nicht ganz deutliche Reden, halblaute Worte fasst
er in diesem Sinne illusionär auf, bis er dann später auch gerade
in's Gesicht hinein verhöhnt und verspottet wird. Schliesslich
knarren und ertönen dann die Wagen auf ganz ungewöhnliche
Weise und liefern Erzählungen, die Schweine grunzen Namen und
Erzählungen sowie Yerwunderungsbezeugungen, die Hunde schimpfen
und bellen Vorwürfe, Hähne krähen solche, selbst Gänse und Enten
schnattern Namen, einzelne Redensarten und Bruchstücke von Refe-
raten". Aus dem Schwirren der Stahlfedern, dem Läuten der
Glocken tönen dem Kranken Rufe entgegen, oder aus der Wand,
aus dem Bette, in dem er liegt, ja aus den eigenen Ohren heraus,
im Kopfe, im XJnterleibe vernimmt er die quälenden Stimmen.
Nicht selten haben dieselben verschiedene Höhe und Klangfarbe
und werden daher verschiedenen Personen zugeschrieben; bisweilen
ist es ein ganzer Chorus, dessen einzehie Mitglieder genau unter-
schieden werden, bisweilen nur einige wenige oder eine einzige.
Yielfach sind die Stimmen leise, flüsternd oder zischelnd, wie aus
der Ferne, von oben herunter, oder dumpf, aus dem Boden herauf-
kommend; seltener sind sie laut und schreiend, alles Andere über-
tönend. Ausser den Stimmen werden hier und da laute schiessende
und knatternde Geräusche, Glockenläuten, wirres Geschrei, seltener
angenehme Musik, Gesang imd dergl. gehört. In diesen letzteren
Fällen dürften vorwiegend die centralen und peripheren Sinnes-
flächen an der Entstehung der mehr elementaren Täuschungen be-
theiligt sein.
Der Inhalt der Gehörstäuschungen ist, wie schon angedeutet,
zumeist ein aufreizender und peinigender; er steht besonders bei
den Stimmen fast immer in sehr nahen Beziehungen zu dem Wohl
und Wehe des Individuums und gewinnt dadurch meist eineA ausser-
ordentlichen Einfluss auf sein Handeln. Die fortwährenden Schmä-
hungen, Beschimpfungen und höhnischen Bemerkungen, der Jammer
gemisshandelter Angehöriger machen den Kranken misstrauisch und
aufgeregt, und bringen ihn zu entrüsteter Reaction gegen seine ver-
meintlichen Peiniger; furchtbare Drohungen setzen ihn in Angst
und Yerwirrung, und zwingen ihn zu rastloser Flucht, um den Yer-
f olgern zu entgehen; gebieterische Befehle lassen ihn die unsinnigsten
Sinnestäuschungen.
83
imd bisweilen unnatüi-lichsten Thaten begehen, weil er übernatür-
lichen Mächten gehorchen zu müssen glaubt. Die Unmöglichkeit
einer überzeugenden Correctur der Täuschungen, denen er nirgends
zu entfliehen vermag, ist es, die ihn schliesslich dem verderblichen
Einflüsse derselben gänzlich unterliegen lässt. Aus einem Affecte
in den andern gejagt, verliert er immer mehr die Fähigkeit einer
ruhigen Kritik gegenüber den durch die Aufregung verstärkten
Trugwahrnehmungen, und es entwickelt sich so ein Circulus vitiosus,
dessen Wii-ksamkeit durch die stete phantastische Verfälschung der
Erfahrung allmählich die Grundlagen der gesammten psychischen
Persönlichkeit erschüttert. Erst dann, wenn die Gemüthsbewegungen
nach und nach ihre gesunde Lebhaftigkeit eingebüsst haben, wenn
der Kranke mit einem gewissen stumpfen Gleichmuthe seine Täusch-
ungen über sich ergehen lässt, verlieren dieselben allmählich die
gewaltige Macht über seinen Willen. Die lange Gewohnheit lehrt
ihn sogar bisweilen, die Trugwahrnehmungen unbeachtet zu lassen;
sie giebt ihm eine gewisse Fertigkeit in der äusserlichen Correctur
derselben und bewahrt ihn vor gemeingefährlichen Handlungen.
Zugleich aber ist jetzt auch der ganze Mensch ein anderer geworden,
eine Ruine, die zur Noth wieder bewohnbar gemacht wurde.
In anderen Fällen tritt namentlich der übernatürliche Cha-
rakter der gehörten Stimmen stärker hervor; sie sind dann nicht
selten von Visionen begleitet. Gott oder Christus geben dem Kran-
ken einen Auftrag, eine Verheissung, oder klären ihn über ein Ge-
heimniss seiner Persönlichkeit auf. Der ganze Vorgang hat hier
gewöhnlich etwas Traumhaftes, Uebersinnliches, während die quälen-
den und verfolgenden Stimmen durchaus den Charakter directester
Sinneswahrnehmung zu besitzen pflegen. Im FieberdeLirium und
bei sehr verwirrten Kranken zeigen auch die Gehörstäuschungen den
raschen Wechsel und die unklare Verworrenheit der unter gleichen
Verhältnissen vorkommenden Gesichtsphantasmen.
Von den eigentlichen Gehörstäuschungen abzutrennen und meist
als reine Apperceptionshallucinationen zu betrachten sind die soge-
nannten „inneren Stünmen", „Einflüsterungen", die „Weltsprache",
das „Telephoniren", „Telegraphiren" und dergl. Es handelt sich
hier um Wahrnehmungen, die von dem Kranken selbst nicht als
sinnliche aufgefasst werden. Hier ist vielfach die innige Beziehung
zu dem eigenen Gedankengange sehr deutlich. Entweder schliesst
6*
IL Allgeiiioino Symptomatologie.
sich dieses leise Sprechen in der Art der Rede und Wechselrede
im Bewusstsein des Kranken aneinander, so dass die Wahnidee
einer förmlichen stillen Unterhaltung mit fernen Personen entsteht.
Oder aber die „Gewissensstimmen" begleiten jede Handlung des
Kranken mit entsprechenden Bemerkungen, feuern ihn an, kritisiren
ihn oder die Umgebung, ertheilen ihm Yerbote, und können auf
diese Weise anscheinend einen sehr erheblichen Einfluss auf sein
Thun und Lassen ausüben, während sie in Wirklichkeit nichts sind,
als der unwillkürliche sprachliche Ausdruck seiner mehr oder weniger
klar bewussten Gedankengänge. In allen diesen Fällen entwickelt
sich ebenso wie bei dem früher beschriebenen „Doppeldenken" leicht
die Idee, dass die eigenen Gedanken der Umgebung bekannt seien,
oder gar, dass sie durch fremde Einwirkung gemacht und beein-
flusst würden. „Ich bin durchsichtig", sagte mir ein derartiger
Kranker.
Yon weit geringerer unmittelbarer Bedeutung, als die Phantas-
men des Gesichts und Gehörs, deren Gebiet ja vor Allem das sinn-
liche Material unserer Yorstellungen entnommen wird, sind die
Täuschungen im Bereiche der übrigen Sinne für das psychische
Leben des Kranken. Der geängstigte Kranke empfindet den Ge-
ruch giftiger Dünste, die ihn tödten sollen, oder den Schwefel-
gestank des Teufels, der ihn bedroht; er schmeckt allerlei unappe-
titliche und schädliche Dinge, Menschenfleisch, Koth, Arsenik, Can-
thariden in seinem Essen, die ihm von seinen Feinden beigebracht
werden. Diese Trugwahrnehmungen deuten, soweit sie eben in dem
Ideenkreise des Kranken und nicht in peripheren Störungen ilire
Ursachen haben, vielfach auf eine tiefere Umwälzung in der ganzen
Stellung desselben zur Aussenwelt hin. Dasselbe gilt von den ent-
sprechenden Paraesthesien des Haut- und Muskelsinnes sowie des
G-emeingefühls. Hier ist ja die ausschliessende Controle etwaiger
äusserer Einwirkungen an sich überaus leicht und einfach; wo also
dennoch die Wahnideen des Elektrisirtwerdens, des Besessenseins,
der Verwandlung einzelner Körpertheile, des Yerschwindens von
Kopf, Mund, Magen, After u. s. f. auftreten, da handelt es sich nicht
mehr um einfache Yerfälschungen der Wahrnehmung, sondern fast
immer um eine tiefere Störung der gesammten psychischen
Persönlichkeit. Zwar können hier gewiss die einzelnen Ein-
drücke, welche das Erfahrungsmaterial bilden, auf hallucinatorischem
Sinnestäuschungen; Trübungen des Bewusstseins.
85
oder illusorischem Wege entstanden resp. verändert sein, allein die-
selben sind dennoch an sich meist zu unbestimmt, um etwa in
ähnlicher "Weise wie die Gehörs- und Gesichtstäuschungen den Be-
wusstseinsinhalt beeinflussen zu können. Erst dadurch, dass eine
geschwächte oder zu unkritisch -phantastischer Auslegung geneigte
Intelligenz sich dieser verfälschten Wahrnehmungen bemächtigt, um
sie zur Grundlage einer veränderten Auffassung des eigenen Ich
und seiner Umgebung zu gestalten, gewinnen sie eine Bedeutung
für den Yorstellungsverlauf, welche sie in einem gesunden Bewusst-
sein niemals erlangen könnten.
Trübungen des Bewusstseins. Ausser den Vorgängen im peri-
pheren und centralen Sinnesgebiete ist für die Erwerbung des Er-
fahrungsmateriales noch ein weiterer Umstand von hervorragender
Wichtigkeit, nämlich das Verhalten unseres Bewusstseins. Aeussere
Reize erzeugen in unserem Innern gewisse eigenthümliche, nicht
näher definirbare Zustandsveränderungen, die wir unmittelbar auf-
fassen und als Vorstellungen, Gefühle, Strebungen und dergl. be-
zeichnen. Diese allgemeinste Thatsache der inneren Erfahrung be-
zeichnen wir im Anschlüsse an Fechners Anschauungen als das
Bewusstsein. UeberaU, wo äussere Eindrücke in psychische Vor-
gänge umgesetzt werden, ist Bewusstsein vorhanden, denn dasselbe
ist eben nichts Anderes, als ein Ausdruck für das Stattfinden dieser
Umwandlung. Das Wesen des Bewusstseins ist für uns völlig
dimkel; wir wissen nur, dass der Bestand desselben in gesetz-
mässiger Abhängigkeit von den Eunctionen der Hirnrinde steht, und
dass auch die einzelnen Vorgänge im Bewusstsein höchst wahr-
scheinlich gewissen, bisher noch unbekannten, physiologischen Pro-
cessen im Centraiorgane parallel gehen, resp. an sie gebunden sind.
Wie von der Beschaffenheit der peripheren Sinnesorgane die Um-
setzung der physikalischen Reize in Sinneserregung abhängig ist,
so sind weiterhin die Zustände des Centralorganes für die Umwand-
lung der physiologischen Erregungen in Bewusstseinsvorgänge von
massgebender Bedeutung. Ob und in welchem Masse diese letztere
Umwandlung stattfindet, das ist bisher im Einzelfalle oft äusserst
schwierig zu erkennen, da uns in die innere Erfahrung eines Indi-
viduums kein unmittelbarer Einblick, sondern nur ein Rückschluss
aus seinem äusseren Verhalten möglich ist. Aus diesem letzteren
allein entnehmen wir mit grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit,
gg n. Allgemeine Symptomatologie.
ob dasselbe als Ausdruck psycMscber Vorgänge zu betrachten ist
oder nicht. i. • i • v.
Denjenigen Zustand, in welchem die Umsetzung physiologischer
in psychische Processe gänzlich aufgehoben ist, bezeichnen wir als
Bewusstlosigkeit. Jeder Reiz, der überhaupt über die Schwelle
des Bewusstseins treten und somit einen psychischen Eindruck her-
vorrufen soll, muss eine gewisse Stärke besitzen, die nicht unter
einen bestimmten Werth, den sogenannten Schwellenwerth,
heruntersiuken darf. AUein die Grösse des SchweUenwerthes wech-
selt je nach den Zuständen unseres Centraiorgans ausserordentlich.
Während sie bei gespannter Aufmerksamkeit ihr Minimum erreicht,
kann sie in tiefster Ohnmacht unendlich werden, d. h. es genügen
hier bisweilen selbst die allerstärksten Reize nicht mehr, um Be-
wusstseinsvorgänge auszulösen. Man kann demnach je nach der
Grösse des SchweUenwerthes verschiedene Helligkeitsgrade des
Bewusstseins annehmen, wie sie auch praktisch häufig unterschieden
werden; ein ähnliches Princip ist bereits benutzt worden, um die
Festigkeit des Schlafes in den einzelnen Stadien desselben zu be-
stimmen. Auch dort, wo äussere Reize keine Bewusstseinsvorgänge
auszulösen vermögen, findet übrigens sicherlich nicht selten wenig-
stens noch ein Wechsel Yon dunklen Vorstellungen oder Gemein-
gefühlen stati;, welche durch die Zustände des eigenen Innern er-
zeugt werden. Am deutlichsten sehen wir ja in der alltäglichen
Erscheinung des Traumes, dass die Schwellenwerthe für innere und
äussere Reize eine sehr verschiedene Grösse besitzen können.
Stöningen der Auffassimg. Die grosse Mehrzahl der Ein-
drücke, welche wir tagtäglich in uns aufnehmen, ist an sich ziemlich
undeutlich und verschwommen; sie werden erst dadurch zu klaren
und verwerthbaren Wahrnehmungen, dass sie in den bereitliegenden
Erinnerungsbildern gewissermassen Resonatoren vorfinden, durch
deren Miterregung der sinnliche Reiz verstärkt wird. Durch diesen
Vorgang, den Wundt als „Apperception" bezeichnet, bildet sich
auch sofort die Verknüpfung der einzelnen Wahrnehmung mit unserer
Gesammterfahrung, ein Zusammenhang mit zahlreichen anderen Vor-
stellungen und damit das „Verständniss" des vorliegenden Eindruckes.
Gerade die Beobachtungen über die tagtäglichen Dlusionen zeigen
uns am besten, in wie hohem Masse die sinnliche Erfahrung immer-
fort durch die Resonanz unseres Erinnerungsschatzes beeinflusst wird.
Störungen der Auffassung.
87
Sobald diese Mitwirkimg unseres früheren geistigen Erwerbes
beim Wahrnehmungsvorgange fortfällt, wird derselbe unklar und
inhaltlos. Es können sich wol einzelne sehr starke Eindrücke in
unser Bewusstsein eindrängen, aber sie hafteu nicht und werden
nicht verstanden, da ihnen die Einordnung in das System unserer
Vorstellungen und Begriffe mit allen ihren Folgen für die weitere
geistige Verarbeitung fehlt. In dieser Lage befinden wir uns z. B
gegenüber dem völlig Unverständlichen, sofern nicht etwa durch
besondere Nebenumstände, ErwartungsafPecte und dergl. die An-
regung bestimmter Vorstellungen durch die Wahrnehmung ver-
mittelt wird. Die Einzelheiten einer Maschinenausstellung, eines
auf dem Kopf stehenden Landschaftsbildes entgehen uns vollkommen,
obgleich die sinnlichen Eindrücke an sich ebenso intensiv auf uns
wirken, wie auf den Ligenieur, oder wie das aufrechtstehende Bild.
Andererseits kann der Verlust der normalen Anknüpfung unserer
Wahrnehmungen an die frühere Erfahrung auch durch das Ver-
halten unseres Bewusstseins bedingt sein. Auf diese Weise werden
natürlich nicht nur einzelne Wahrnehmungen unverständhch, sondern
die Helügkeit des gesammten Bewusstseinsinhaltes nimmt ab;
es entwickelt sich eine „Trübung" desselben, ein Dämmerzustand.
Dieser Vorgang vollzieht sich regelmässig, sobald die Resonanz-
fähigkeit unserer Vorstellungen gegenüber äusseren Eindrücken ab-
nimmt, sei es durch Sinken ihrer allgemeinen Erregbarkeit, sei es
durch das Auftreten von Eigenerregungen. Im ersteren Falle
werden nur sehr intensive oder sehr beziehungsreiche äussere Reize
noch Erinnerungsbilder anzuregen im Stande sein. Diesem Ver-
halten begegnen wir bei der einfachen Ermüdung und den ihr ver-
wandten pathologischen Zuständen schwerer und schwerster geistiger
Erschöpfung. Hier fassen wir nicht mehr auf, weil wir abgestumpft
sind und höchstens noch durch eine stärkere Anstrengung ganz
vorübergehend das Verständniss des Dargebotenen erzwingen können.
Ebensowenig vermögen die psychischen Resonatoren der Differeu-
zirung äusserer Eindrücke zu dienen, sobald sie durch lebhafte
innere Reize angeregt werden. Jede intensive geistige Arbeit macht
uns mehr oder weniger verständnisslos gegenüber dem Inhalte
äusserer Wahrnehmungen. Auf pathologischem Gebiete begegnen
wir dieser Unfähigkeit, sich in der Aussenwelt zurechtzufinden,
überall bei starken Erregungszuständen im Bereiche der Vorstel-
88
II. Allgemeine Symptomatologie.
lungen, beim „Phantasiren". In der Regel geht dabei auch die
Ordnung in dem eigenen Gedankeninhalte verloren; die Kranken
sind unbesinnlich, wie im Fieberdelirium, Collapsdelirium und ver-
wandten Psychosen. Doch giebt es auch Formen, in denen nur
das klare Yerständniss der Umgebung gestört ist, während die
Kranken über sich selbst und ihre eigenen Zustände sich noch
Rechenschaft zu geben vermögen. Diesen leichteren Graden der
Desorientirtheit begegnet man namentlich beim Wahnsinn, bei ge-
wissen Formen der psychischen Epilepsie und ganz besonders aus-
geprägt im Delirium tremens.
Endlich aber befinden wir Alle uns gewissermassen in einem
normalen Dämmerzustande während der ersten Zeit unserer psych-
ischen Entwickelung, so lange eben die Einwirkungen der Aussen-
welt noch keine bleibenden Spuren in unserer Erinnerimg zurück-
gelassen und damit jenes Netz psychologischer Beziehungen geknüpft
haben, welches alle kommenden Lebenserfahrungen sofort mit dem
geistigen Erwerbe der Yergangenheit in Yerbindung setzt. In den
schwereren Formen der psychischen Entwickelungshemmungen ist
die Möglichkeit einer fortschreitenden Aufhellung dieses geistigen
Dämmerlebens für immer abgeschnitten; das Bewusstsein bleibt hier
dauernd von einem unklaren Gemisch einzelner verschwommener
Yorstellungen und dunkler Gefühle erfüllt, in welchem keine deut-
liche Auffassung, keine übersichtliche Ordnung und Gruppirung
möglich ist.
Die wichtigste Folge des Einflusses, den allmählich der er-
worbene Yorstellungsschatz auf die Wahrnehmung erlangt, ist die
Möglichkeit einer Auswahl unter den sich darbietenden Eindrücken.
Der Bewusstseinsinhalt des Kindes steht in hüfloser Abhängigkeit
von der zufälligen Umgebung; es nimmt nur die jeweils intensiv-
sten Reize wahr, ohne Rücksicht auf den inneren Zusammenhang
der Dinge, weil ihm jene allgemeinen Yorstellungen fehlen, welche
auch die weniger aufdringlichen Wahrnehmungen als wesentliche
Glieder in der Kette der Erfahrungen hervortreten lassen. Beim
Erwachsenen dagegen wird der -Wahmehmungsvorgang mehr und
mehr durch die besonderen Dispositionen beherrscht, welche sich
allmählich aus der individuellen Lebenserfahrung heraus entwickeln.
Wir üben uns darin, einzelne Eindrücke vorzugsweise zu beachten,
indem sich die Resonanz unserer Yorstellungen für sie fortschreitend
Störungen der Auffassung.
89
verstärkt, so dass schon leise Anklänge genügen, um in unserem
Inneren lebhaften "Widerhall zu finden. Andererseits gewöhnen
wir uns daran, alltägliche Reize unbeachtet zu lassen und ihnen
keinen Einfluss auf den Ablauf unserer psychischen Yorgänge mehr
einzuräumen. Diese Ausbildung bestimmter „Gesichtspunkte", ge-
wisser Richtungen unseres „Interesses" gestattet uns eine überaus
mannigfache Yariation des Schwellen werthes , so dass wir im
gleichen Augenblicke sehr intensive Reize völlig zu ignoriren im
Stande sind, wo wir die minutiösesten Yeränderungen irgend eines
Gegenstandes mit der grössten Schärfe auffassen.
Natürlich ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit dauernd einer
bestimmten Gruppe von Wahrnehmungen zuzuwenden, sich geistig
zu concentriren, für die gesammte psychische Entwickelung von der
allergrössten Bedeutung. Je ablenkbarer ein Mensch ist, je mehr
seine Auffassung durch die Zufälligkeiten der äusseren Reize statt
durch innere, der eigenen Erfahrung entspringende Motive geleitet
wird, desto weniger ist er im Stande, sich ein zusammenhäugendes
und einheitliches Yerständniss der Aussenwelt zu erwerben. Bruch-
stückweise und unvermittelt werden sich die einzelnen verschieden-
artigen Wahrnehmungen aneinander schliessen, ohne jenes innere
Band, welches durch die systematische Auswahl nach Massgabe
leitender Allgemeinvorstellungen gebildet wird. Grosse Ablenkbar-
keit der Aufmerksamkeit ist daher ein wichtiges Zeichen einer
Herabsetzung der psychischen Widerstandsfähigkeit. Die leichtesten
Grade derselben beobachten wir in jenem Zustande von Zerstreut-
heit, welcher sich bei geistiger Ermüdung einstellt. In krankhafter
Ausbildimg dagegen ist dieses Symptom in neurasthenischen Zu-
ständen entwickelt, bei Reconvalescenten nach psychischen Erkran-
kungen, noch ausgeprägter bei manchen Erschöpfungspsychosen, in
der Manie und in der Paralyse. Endlich aber giebt es gewisse an-
geborene Schwachsinnsformen, bei denen eine ausserordentliche
Ablenkbarkeit die wesentliche dauernde Grundlage des gesammten
Krankheitszustandes bildet.
B. Störnngen der intellectuelleu Leistungen.
Das durch die Sinne gelieferte und mittels der Apperception
aufgefasste Erfahrungsmaterial bildet die Grundlage aller weiteren
geistigen Arbeit und somit auch des gesammten Yorstellungsschatzes
90
II. Allgemeine Symptomatologie.
des Menschen. Man begreift daher, dass die aufgeführten Störungen
der Sinneserkenntniss, wie sie durch die Sinnestäuschungen, durch
Aufhebung und Verdunkelung des Bewusstseins, endlich durch die
Unfähigkeit zu planmässiger Auswahl der Eindrücke erzeugt werden,
nicht ohne die weitreichendsten Folgen für die Gestaltung des ge-
sammten Bewusstseinsinhaltes und der psychischen Persönlichkeit
bleiben können. Je unvollkommener und verfälschter die Nach-
richten von der Aussenwelt zur Wahrnehmung gelangen, desto
lückenhafter und unzuverlässiger wird die Anschauung bleiben,
welche sich im Bewusstsein des Menschen von seiner Umgebung,
vom eigenen Ich und von der Stellung dieses letzteren zu seiner
Umgebung entwickelt. Dazu kommt, dass zu jenen Störungen,
welche die Sammlung des Erfahrungsmaterials beeinträchtigen, fast
ausnahmslos sich noch solche gesellen, die eine weitere Yerarbeit-
ung desselben in krankhafter Weise beeinflussen.
Störungen des GedacMiiisses. Die allgemeinste Grundlage aller
geistigen Thätigkeit ist das Gedächtniss.*) Jeder einmal in's
Bewusstsein getretene Eindruck hinterlässt nach seinem Schwinden
aus demselben eine allmählich abnehmende „Disposition" zu seiner
Wiedererneuerung, die entweder durch eine zufällige Yorstellungs-
verbindung oder durch eine Willensanstrengung des Subjectes, das
Besinnen, vermittelt werden kann. Diese Disposition, diese bleibende
Spux, welche die einmal gemachte Wahrnehmung auf längere Zeit
hinaus dem Erfahrungsschatze des Menschen einreiht und sie seinem
Gedächtnisse zur Yerfügung stellt, haftet im Allgemeinen um so
stärker und länger, je klarer der ursprüngliche Eindruck aufgefasst
worden und je allseitiger er zu dem übrigen Bewusstseinsinhalte
in Beziehung getreten war, je mehr er, mit anderen Worten, das
Interesse des Menschen erregt hatte.
Die dauerndste und treueste Erinnerung finden wir daher
überall dort vor, wo eine Erscheinung oder eine Folge von Ein-
drücken in möglichster Klarheit aufgefasst und, noch besser, mit
HUfe der auswählenden Aufmerksamkeit nach bestimmten Gesichts-
punkten verfolgt wurde. Wir werden daher erwarten dürfen, dass
Trübungen des Bewusstseins, wie sie die Sammlung äusserer Er-
fahrung beschränken, so auch die weitere Verwerthung der
*) Eibot, Das Gedächtniss und seine Störungen. 1882.
Störungen des Gedächtnisses..
91
etwa noch gemachten unvollständigen Wahrnehmungen beeinträch-
tigen, da die Eeproductionsfäliigkeit derselben hier eine äusserst
geringe ist und rasch gänzhch verschwindet. Aus dem Fehlen der
Erinnerung an einen gewissen Zeitabschnitt wird daher meistens
auf eine Aufhebung des Bewusstseins während derselben zurück-
geschlossen, ja streng genommen ist die Erinnerungslosigkeit,
die Amnesie, fast der einzige Anhaltspunkt, welcher uns mit einiger
Sicherheit die Annahme einer vorangegangenen Bewusstlosigkeit
gestattet. Allein die täghche Erfahrung des Vergessens von Ti'äumen,
an die wir bisweilen nur durch einen zufälligen Eindruck wieder
erinnert werden, zeigt uns, dass sehr wol ein psychisches Leben
also Bewusstsein, bestehen kann, ohne dass doch die Spuren der
Eindrücke und Yorstellungen fest genug im Gedächtnisse haften,
um ohne Schwierigkeit eine Wiedererneuerung derselben zu ge-
statten. Ganz ähnlich sind sicherlich jene Bewusstseinsstörungen
der Epilepsie, vieler Delirien, des schweren Bausches, des Hyp-
notismus zu beurtheilen, in denen die klinische Beobachtung häufig
genug unzweideutige Anzeichen psychischer Thätigkeit aufzufinden
vermag, trotzdem nachher nicht die mindeste Erinnerung an die-
selbe besteht oder wachgerufen werden kann. Für diese Auffassung
sind besonders wichtig die bisweilen beobachteten Fälle, in denen
unmittelbar beim Abklingen der Störung noch eine eevnsse Eepro-
duction des Vorgefallenen möglich ist, die aber späterhin rasch ver-
schwindet.
Wenn es besonders der Vorgang der activen Erfassung eines
Eindruckes durch die Aufmerksamkeit ist, der eine dauernde Be-
reicherung unseres Erinnerungsmaterials vermittelt, so werden wir
weiterhin auch dort Beeinträchtigungen der Erinnerung zu erwarten
haben, wo zwar das deuthche Bewusstwerden der Wahrnehmungen
nicht aufgehoben ist, wo sich aber ihre Anknüpfung an die be-
stehenden Vorstellungen nur in unvollkommenem Masse vollzieht.
Diese Störung ist es, auf welcher vornehmlich die bekannte Er-
scheinung der Gedächtnissschwäche beruht, welche die ver-
schiedensten Zustände des gesunden und krankhaften psychischen
Lebens begleitet. Schon die einfache Ermüdung lässt zwar im
Augenblick noch klare Vorstellungen von unserer zufälligen Um-
gebimg in uns entstehen, aber sie bedingt, wie sich durch den Ver-
such darthun lässt, wegen der geringeren Erregbarkeit unseres Interesses
92
II. Allgemeine Symptomatologie.
ein rascheres Verschwimmen und Schwinden derselben aus unserer
Erinnerung. Im späteren Greisenalter ist dieser Zustand fast immer
ein dauernder. Die Auffassung neuer Eindrücke geschieht gewohn-
heitsmässig ohne rechte innere Antheilnahme, imd die Keproductions-
fähigkeit bleibt daher für sie eine beschränkte, während so oft die
Erinnerungen aus vergangener Zeit, nicht mehr verdrängt durch"
neuen Erwerb, mit erstaunlicher Lebhaftigkeit und Treue im Yor-
stellungsverlaufe wiederkehren. Mit dieser Erfahrung steht die
Thatsache in bestem Einklänge, dass von allen Yorstellungsverbin-
dungen, mit denen wir zu arbeiten pflegen, etwa TO^/o aus der
Jugend stammen.
In krankhafter Ausprägung begegnet uns die hier besprochene
Erscheinung bei der Dementia paralytica und bei anderen Formen
der fortschreitenden Verblödung. Obgleich die Erfassung auf-
fallender äusserer Eindrücke noch leidlich gut von Statten geht,
werden dieselben dennoch sehr rasch, oft schon in der nächsten
Minute, wieder vergessen, während Vorstellungen aus früherer, ge-
sunder Zeit noch immer, theilweise wenigstens, ün Gedächtnisse
haften. Erst dann, wenn die Störung immer weiter zunimmt, er-
lischt schliessKch auch die Eeproductionsfähigkeit der geistigen
Ueberreste vergangener Tage, und es kommt somit bei dem Mangel
jedes neuen Erwerbs zum völligen Untergänge des gesammten Vor-
stellungslebens, so dass das schwache Fünkchen des Bewusstseins
nur noch durch den Wechsel dunkler, unbestimmter Gefühle glim-
mend erhalten wird.
Ganz ähnliche praktische Folgen, wie die bisher aufgeführten
Störungen, hat natürlich die erhöhte Ablenkbarkeit des Interesses
für die Gestaltung des Erinnerungsschatzes. Wo die einzelnen
Wahrnehmungen in bunter, zusammenhangsloser Folge sich an-
einanderreihen, bleiben sie ebenfalls nur in sehr geringem Grade
reproductionsfähig. Die Erinnerung an Zustände höhergradiger
Zerfahrenheit der Aufmerksamkeit pflegt daher regelmässig eine
summarische und verworrene zu sein. Wir versuchen vergebens,
uns den Gedankengang eines Aufsatzes zu vergegenwärtigen, bei
dessen Leetüre wir zerstreut waren und alle Augenblicke den Faden
verloren.
Nur kurz erwähnt soll hier Averden, dass ausser den zeitlich
begrenzten Erinnerungslücken bekanntlich auch der Verlust be-
Störungen des Gedächtnisses.
93
stimniter G-ruppen von Yorstellungeu aus dem Gedächtnisse
beobachtet wird, ein Yorgang, dessen bestgekanntes Beispiel durch
die amnestische Aphasie, die Unfähigkeit der Eeproduction ein-
zelner oder aller sprachlicher Klangbilder dargestellt wird, und der
sich, wie es scheint, in ähnlicher Weise auch auf dem Gebiete ge-
wisser Gesichts Vorstellungen abspielen kann. Aeusserst merkwürdige
und interessante Beispiele derartiger ganz umschriebener Gedächtniss-
lücken hat neuerdings Kieger bei der Untersuchung eines Falles
von schwerer Hirnverletzung beobachtet. Die Deutung solcher Er-
fahrungen ist ausserordentlich schwierig. Zumeist pflegt man sie
auf die Unterbrechung bestimmter Leitungsbahnen zu beziehen, doch
reicht diese Erklärung höchstens für gewisse sehr grobe Störungen
aus. Beachtenswerth erscheint es, dass auch unter normalen Yer-
hältnissen das Gedächtniss für verschiedene Gruppen von Yorstel-
hmgen individuell sehr verschieden entwickelt ist. Das Orts-,
Zahlen- und Namen-, Farben-, Tonhöhen-, Formen gedächtniss sind
anscheinend in hohem Masse von einander unabhängig. Manche
Erfahrungen sprechen ferner dafür, dass auch die motorischen und
sensorischen Bestandtheile der einzelnen Yorstellungeu, die sprach-
liche Bezeichnung und die sinnlichen Elemente, mit verschiedener
Festigkeit haften können, so dass schliesslich auch eine allgemeinere
Störung je nach der besonderen Zusammensetzung der gegebenen
Yorstellung eigenthümlich begrenzte Ausfallserscheinungen zur Folge
haben könnte. Für die Psychiatrie im engeren Sinne sind jedoch
derartige Symptome noch nicht nutzbar gemacht worden.
Die ununterbrochene und allseitige Yerknüpfung, welche sich
zwischen allen gleichzeitigen und unmittelbar aufeinanderfolgenden
Yorgängen in unserem Bewusstsein stetig vollzieht, ist die Ursache,
dass sich die ganze Summe unserer Erinnerungen in eine fort-
laufende Reihe einordnet, deren Endpunkt der gegenwärtige Augen-
bhck bildet, während das Anfangsglied mehr oder weniger weit in
die Yergangenheit zurückreicht. Nur die jüngsten Bestandtheile
dieser Reihe sind jeweils in grösserer Yollständigkeit und Klarheit
Inhalt unseres Gedächtnisses; je weiter wir nach rückwärts gehen,
desto mehr verwischen sich die Einzelheiten, und desto rascher
schrumpft die Reihe auf vereinzelte, besonders bedeutsame Er-
innerungsthatsachen zusammen, au welche sich ein Gemisch von
Einzelreminiscenzen in mehr oder weniger lockerer "Weise anknüpft.
n. Allgemeine Symptomatologie.
Jene Marksteine sind es, welche sich in bestimmte Beziehungen za
allgemeineren Ereignissen, insbesondere zur Zeitrechnung setzen und
uns damit eine wenigstens annähernde zeitliche Localisation unserer
Erfahrungen in der Yergangenheit ermöglichen.
Störungen dieser zeitlichen Localisation finden sich bei
Geisteskranken häufig genug, vor Allem regelmässig mehr oder
weniger ausgesprochen in der Paralyse. Die Kranken wissen mcht,
wie lange sie sich schon in der Anstalt befinden, wann sie zuletzt
Besuch gehabt, ja wann sie zu Mittag gegessen haben, auch wenn
sie sich der betreffenden Thatsachen selbst noch leidüch gut er-
innern. Die augenblicklichen Eindrücke haften bei ihnen zu locker,
um sich zu jener festgegliederten Keihe an einander schliessen zu
können, welche dem rückschauenden Blicke die Abschätzung der
zeitlichen Entfernung von der Gegenwart gestattet. Aehnlich, wie
wir uns nach einförmigen, reizlosen Wochen des letzten bedeut-
samen Ereignisses entsinnen, als sei es „erst gestern" gewesen, so
erscheinen auch dem Paralytiker die Monate, die keine bleibende
Spur in seiner Erinnerung zurückgelassen haben, wie wenige Tage.
Oder aber die Bilder der letzten Yergangenheit verblassen so schnell,
dass sie ihm weit zurückzuliegen scheinen, und er sich schon Monate
in der Umgebung glaubt, in die er gerade erst eingetreten ist. Das
gewohnte Mass des Wechsels der Tageszeiten, das uns vor dem un-
wmkürlichen Schätzungsfehler bewahrt, geht füi' seine gestörte Auf-
merksamkeit verloren, so dass er rathlos, nur auf die Hilfe seines
unzuverlässigen Gedächtnisses angewiesen, der Aufgabe einer zeit-
Kchen Localisation gegenüber steht.
Endlich aber ist es auch die Treue der Erinnerung, die
inhaltüche Uebereinstimmung der Reproduction mit der vergangenen
Erfahrung, welche bei Geisteskranken mannigfaltige und erhebliche
Störungen darbieten kann. Wir wissen aus Yersuchen, wie aus
alltäglichen Erfahrungen, dass selbst die allereinfachsten Erinnerungs-
bilder schon unter normalen Yerhältnissen niemals vollständig den
Wahrnehmungen gleichen, sondern sofort eben dui'ch die Aufbe-
wahrung im Gedächtnisse und die Einordnung in den sonstigen
Bewusstseinsinhalt nicht unbeta:ächtiiche Wandlungen dui'chzumachen
pflegen. Man denke nur daran, wie klein dem Erwachsenen nach
langer Abwesenheit die Dimensionen erscheinen, die ihm als Kind
imponirten. Mit der Yeränderung des allgemeinen Grössenmass-
Störungen des Gedächtnisses.
95
Stabes ist hier auch das Erinnerungsbild unvermerkt gewachsen, so
dass dann der Conh-ast desselben mit der Wirklichkeit völlig über-
raschend wii'kt. In ähnlicher "Weise Averden durch die krankhaften
Veränderungen der psychischen Persönlichkeit, durch die Gefühls-
schwankungen, die Wahnideen sehr häufig nachträglich die Ke-
miniscenzen aus der Vergangenheit in krankhafter Weise verfälscht.
Dem Melancholischen erscheint sein ganzes Yorleben als eine Kette
von trüben Erfahrungen oder schlechten Handlungen; der Ver-
folgungs- und der Grössenwahn werfen ihren Schatten zurück aui
frühere Zeiten und lassen den Kranken schon in der Jugend die
Andeutungen eines feindseligen Verhaltens seiner Umgebung, auf-
fallender Beachtung durch hochgestellte Personen oder hervorragen-
der Leistungsfähigkeit auf den verschiedensten Gebieten mensch-
lichen Könnens ausfindig machen.
In der Eegel handelt es sich dabei nur um eine theilweise
Vermischung wirklicher Erlebnisse mit eigenen Zuthaten, also um
einen Vorgang, der mit den Illusionen in eine gewisse Parallele zu
stellen wäre. Bisweilen jedoch kommt es auch zu „Hallucina-
tionen der Erinnerung" (SuUy), zu völlig phantastischer Er-
findung scheinbarer Reminiscenzen, denen gar kein Vorbild in der
Vergangenheit entspricht. Namentlich bei Paralytikern und Ver-
rückten wird diese Form der Erinnerungsfälschung nicht selten
beobachtet. Die Kranken erzählen' von fabelhaften Reisen, die sie
gemacht, wunderbaren Abenteuern, die sie erlebt, gewaltigen Käm-
pfen, die sie überstanden, schrecklichen Verwundungen, die sie er-
litten haben, und lassen sich durch Zwischenfragen und Einwürfe
zu allen möglichen, vielfach einander widersprechenden Einzelan-
gaben verleiten. Meist liegen solche Erlebnisse Jahre, selbst Jahr-
hunderte oder Jahrtausende zurück; nur von Paralytikern und
Altersblödsinnigen hört man völlig erfundene Reminiscenzen auch
in die jüngste Vergangenheit, die letzten Tage oder Stunden ver-
legen. In anderen Fällen werden die Erinnerungsfälschungen nicht
frei producirt, sondern sie schliessen sich an irgend welche zu-
fälligen äusseren Eindrücke an. Die Kranken (zumeist Verrückte)
glauben einzebie Personen oder Gegenstände ihrer Umgebung früher
schon einmal gesehen oder von ihnen gehört zu haben, ohne sie
doch mit wirklichen Erinnerungsbildern zu identificiren. Sie ver-
kennen daher jene Objecto keineswegs, wie das bei den Apper-
96
II. Allgemeine Symptomatologie.
ceptionsillusionen, bei der Beeinflussung einer Wahrnehmung durch
die Erinnerung der Fall war, sondern es vollzieht sich hier der
umgekehrte Vorgang: an die vollkommen scharf aufgefasste Wahr-
nehmung knüpft sich eine durchaus phantastische Reminiscenz, deren
vermeintliches Vorbild gewöhnlich einige Monate oder seltener Jahre
zurückdatirt wird.
Die letzte Form der Erinnerungsfälschung, der wir hier noch
zu gedenken haben, ist am besten von Sander beschrieben worden.
Schon im gesunden Leben begegnet es uns bisweilen, namentlich
in der Jugend und im Zustande einer gewissen Abspannung, dass
sich uns in irgend einer Situation plötzlich die Vorstellung auf-
drängt, als hätten wir dieselbe schon einmal in ganz derselben
Weise erlebt. Zugleich haben wir eine dunkle Ahnung dessen, was
nun voraussichtlich kommen wird, ohne uns jedoch ein klares Bild
davon machen zu können. In der That scheint uns irgend ein als-
bald eintretendes Ereigniss wirklich unsere Ahnung zu erfüllen.
Auf diese Weise stehen wir eine kurze Zeit lang gewissermassen
als passive Zuschauer dem eigenen Vorstellungsverlaufe gegenüber,
der in unbestimmten Andeutungen dem wirklichen Verlaufe der
Dinge vorauseilt, bis plötzlich die ganze Erscheinung verschwindet.
Gefühle einer peinlichen Unsicherheit und Spannung pflegen sich
regelmässig mit derselben zu verknüpfen.
In sehr ausgeprägter Weise wird diese Störung hier und da
unter pathologischen Verhältnissen, besonders bei Epileptikern im
Zusammenhange mit den Anfällen, beobachtet. Was dieselbe von
den früher genannten Formen der Erinnerungsfä,lschung unter-
scheidet, ist die völlige Identificirung der gesammten
Situation unter Einschluss des Subjectes selbst mit einer an-
scheineuden Eeminiscenz. Während dort einzelne Eindrücke als
von früher her mittelbar oder häutiger unmittelbar bekannt reco-
gnoscirt werden, ist hier die ganze Situation mit allen Einzelheiten
vermeintiich nur das getreue Abbild eines identischen Erlebnisses
aus der eigenen Vergangenheit. So kommt es, dass in den seltenen
FäUen, in denen sich diese Fälschung Wochen, Monate, ja durch
Jahrzehnte hindurch fortspinnt, mit einer gewissen ISTothwendigkeit
in dem Kranken die Vorstellung erzeugt wird, dass er ein sich
selbst wiederholendes Doppelleben führt. Die Grundlage dieser
Störung ist durchaus dunkel. Möglich ist es, dass bisweilen wirkliche
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe.
97
Terschwommene Erinnerungen, namentlich aus Träumen, auf Grund
entfernter Aehnlichkeiten mit der vielfach nur in allgemeinen Um-
rissen aufgefassten gegenwärtigen Situation fälschlich identificirt
werden, doch dürfte diese Erklärung schwerlich für alle Fälle zu-
treffen. Die unangenehmen Erwartungsgefühle lassen sich wol am
wahrscheinlichsten auf das vergebliche Bingen nach einer deutlichen
Auffassung des verschwommenen Bewusstseinsinhaltes zurückführen.
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe. Wie
sich bei dem Vorgänge der Illusion ein äusserer Eindruck mit
reproducirten "Wahmehmungselementen zu einem Gesammtbüde ver-
einigt und als einheitlicher psychischer Vorgang in das Bewusstsein
tritt, so liefert die Fähigkeit der Beproduction auch die Möglichkeit
einer Verbindung der Vorstellungen untereinander. Sehr
selten nur oder nie sind es einfache Vorstellungen, welche den
Inhalt des entwickelten Bewusstseins bilden; in mannigfaltigster
Combination verschmelzen und verknüpfen sie sich mit einander zu
mehr oder weniger zusammengesetzten psychischen Gebilden, deren
einzelne Bestandtheile nur durch eine sorgfältige Zerlegung noch
von einander getrennt werden können.
Zwei grosse Gruppen von derartigen zusammengesetzten Ge-
bilden unserer Vorstellungsthätigkeit sind es, die wir wegen ihrer
verschiedenen intellectuellen Bedeutung ziemlich scharf auseinander-
halten können, die associativen und die apperceptiven Ver-
bindungen. Die erstere Gruppe umfasst jene lockeren Ver-
knüpfungen, wie sie durch eine theilweise, wenn auch ganz äusser-
liche Aehnlichkeit, durch zufällige Gewöhnung, durch räumliche
oder zeitliche Coesistenz u. s. f. vermittelt werden, während wir
als apperceptive Verbindungen die innigen Verschmelzungen der
Vorstellungen zu Begriffen zusammenfassen, bei deren Zustande-
kommen eine bewusste Auswahl der constituirenden Gebilde aus
der ganzen Zahl der sich darbietenden Associationen getroflFen wird.
Dort finden wir die widerstreb endsten Bestandtheile durch den
Zufall ebenso leicht an einander gebunden, wie von einander ge-
trennt und wieder zu neuen Complexen vereinigt; hier dagegen
besteht eine innere Einheit, ein wesentlicher Zusammenhang der
einzelnen Elemente, der nur durch neuen Erfahrungserwerb Avieder
aufgehoben werden kann. Die Associationen bieten der Vorstell-
ungsthätigkeit das Eohmaterial zur Verarbeitung dar; aus ihnen
Kraepolln, Psychiatrio. l. Aufl. 7
gg « II. Allgemeine Symptomatologie.
bilden sich durch Befestigung des Nothwendigen und Ausscheidung
des Zufälligen die festgefugten Grundlagen aller geistigen Arbeit,
die Begriffe, auf deren Schärfe, Klarheit und VoUständigkeit die
gesammte Verstandesentwicklung des Menschen beruht. Aus den
Begriffen leiten sich durch Zerlegung die Urtheile, aus diesen
durch logische Gedankenarbeit die Schlüsse ab, durch deren immer
wiederholtes, festgegliedertes Ineinandergreifen dann endlich jene
systematische Zusammenfassung der Gesammterfahrung entsteht, die
wir als die Weltanschauung des Menschen bezeichnen. In ihr
gelangt die Auffassung der eigenen Persönlichkeit und ihrer Um-
gebung, sowie des gegenseitigen Verhältnisses beider zu einander
zum Ausdruck.
Man sieht leicht, dass diese stiifenweise Entwicklung der Ver-
standesthätigkeit eine innige Abhängigkeit derselben von aUen jenen
Vorgängen zur Folge haben muss, die wir als die Vorbedingungen
der höchsten geistigen Leistimgen kennen gelernt haben. Jede Ver-
fälschung der Sinneswahrnehmung, jede Störung des Gedächtnisses
muss sich in der Büdung der Begriffe widerspiegeln, und die Un-
vollkommenheiten dieser letzteren werden dann weiter für die ver-
wickeltere logische Gedankenarbeit verhängnissvoU.
Auf den niederen Stiifen des geistigen Lebens, wie sie haupt-
sächlich von [dem erworbenen oder angeborenen Blödsinn darge-
steUt werden, findet überhaupt keine engere Verknüpfung der ein-
zelnen, in das Bewusstsein eintretenden Wahrnehmungen statt. Nur
durch das lockere Band der zufälügen f Aufeinanderfolge einer
bruchstückweisen Eeproduction fähig, fehlt ihnen jener innere Zu-
sammenhang, der durch die begriffliche ^ Verarbeitimg,' sowie durch
die Einordnung in das System des früher erworbenen VorsteUungs-
materials vermiti:elt wird. Die [Einzelvorstellungen'' behalten daJier
ihre Selbständigkeit sowol wie ihren sinnlichen Charakter; das Un-
wesentiiche in ihnen wird nicht von dem WesentUchen, das AUge-
meine nicht von dem Besonderen geti:ennt, und [die Bildung der
Urtheüe und Schlüsse kann daher nicht über das Gebiet der un-
mittelbarsten sinnlichen Erfahrung hinaus "zur Erfassung höherer
und weiterblickender Gesichtspunkte sich erheben. Selbstversümd-
lich werden diese Folgen nur dort wii'klich unmittelbar hervor-
treten, wo der krankhafte Zustand ein angeborener oder doch sehr
früh erworbener und lange dauernder ist; im andern Falle muss
Störungea in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe.
99
natürlich, so wenig auch während der Störung selbst eine geistige
Verarbeitung von Erfahrungsmaterial möglich ist, der aus gesunden
Tagen vorhandene Schatz von Vorstellungen und Begriffen eine
mehr oder weniger vollständige Ausgleichuag der krankhaften Wirk-
ungen herbeiführen.
Die geringe Ausbildung der Vorstellung s Verbindungen ist eine
Störung, welche uns in gradweiser Abstufung bei sehr verschiedenen
Krankheitsformen, so auch innerhalb der Gesundheitsbreite wieder
begegnet. Wo dieselbe, wie das bei den leichteren Graden zunächst
der Fall zu sein pflegt, hauptsächlich nur die apperceptiven Ver-
schmelzungsproducte betrifft, da keunzeichnet sie sich durch das
Stehenbleiben der Vorstellungen auf der Stufe der sinnlichen Wahr-
nehmungsbilder, sowie durch die Unfähigkeit, das Gemeinsame und
Allgemeine in den Erscheinungen aufzufassen und die Zusammen-
gehörigkeit gleichartiger Erfahrungen zu erkennen. Mangelhafte
Entwicklung auch der associativen Verbindungen dagegen hat
ausserdem nothwendig noch geringe Ausdehnung des Vorstellungs-
schatzes und Beeinträchtigung der Reproduction zur Folge, da diese
letztere zum guten Theil sicherlich eben auf der associativen Ver-
knüpfung der einzelnen Erinnerungsbilder beruht. Beschränkt-
heit der Weltanschauung auf das unmittelbar sinnlich
Gegebene ist demnach im Allgemeinen, das Kennzeichen der
ersteren, Ideenarmuth u.ad Gedächtnissstumpfheit dasjenige
der letzteren Störung
Ganz regelmässig finden wir diese Erscheinungen in grösserer
oder geringerer Ausbildung bei allen länger dauernden und tiefer
in die geistige Persönlichkeit des Kranken eingreifenden Psychosen,
das Zurücktreten und Verblassen der höheren und allgemeineren
geistigen Interessen gegenüber dem Greifbaren und Naheliegenden
das eigene Ich unmittelbar Berührenden, die Verkleinerung des
Gesichtskreises und des Vorstellungsschatzes, sowie das rasche
Schwinden des gleichgiltig aufgefassten und mit dem übrigen Be-
wusstseinsinhalte nicht in lebendige Verbindung getretenen, neuen
Erfahrungsmaterials aus dem Gedächtnisse. Am deutlichsten tritt
natürlich diese Wandlung, welche die intellectuelle Seite der soge-
nannten „Verblödung" darstellt, in der Dementia paraljtica hervor,
wo die Geschwindigkeit des psychischen Verfalles den Vergleich
der einzelnen Stufen desselben mit einander sehr erleichtert.
7*
n. Allgemeine Symptomatologie.
Kaum Tiel weniger verderblich, als die mangelnde Ausbildung
der Yorstellungsverbindungen pflegt für das Seelenleben die krank-
hafte Uebererreglichkeit der Phantasie zu werden, welche mit ab-
normer Leichtigkeit die associative Brücke zwischen den verschieden-
artigsten Ideen zu schlagen weiss. Ihr genügen schon entfernte
Aehnlichkeiten und theilweise Uebereinstimmungen, um zwei Vor-
stellungen in nahe Beziehungen zu setzen; der Mangel an Zwischen-
gliedern wird rasch durch immer bereite Combination ergänzt und
die Widersprüche in mehr oder weniger willkürlicher Umgestaltung
verwischt. So entwickelte mir ein kranker Ingenieur einmal an der
Hand umfangreicher und sehr eingehender Zeichnungen die Idee,
durch die verschiedenartige Anordnung gewisser architektonischer
Ornamente ganze Musikstücke in symbolischer Form wiederzugeben
imd auf diese Weise Auge und Ohr gleichzeitig künstlerisch anzu-
regen. Eine solche Subjectivität der Ideenverbindung, welche die
Fühlung mit dem sicheren Boden der Wirklichkeit mehr und mehr
verliert, macht natüiiich bei der Begriffsbüdung eine Auswahl des
Zusammengehörigen und die Ausscheidung des Unwesentlichen,
E ntlegenen fast gänzlich unmöglich. So kommt es, dass die Begriffe
hier durchaus jener - Schärfe und Klarheit entbehren, welche sie zur
Grundlage höherer Geistesarbeit tauglich macht; sie werden ver-
schwommene und unklare psychische Gebilde, mit deren Hilfe
nur einseitige und verschrobene Urtheile von zweifelhaftem Werthe,
sowie vage und unsichere Analogieschlüsse zu Stande kommen
können, sobald sich der Gedankengang aus dem Bereiche der un-
mittelbaren Sinneserfahrung entfernt. Es ist daher leicht verständ-
lich, dass die hier geschilderte Störung, als deren Ausdruck uns der
Hang zum Schwärmen und Träumen, der unpraktische Mangel des
Interesses für das Wirkliche und Einzelne begegnet, nicht ohne die
schwersten Folgen für die psychische Gesammtentwicklung bleiben
kann. Sie büdet die Signatur für gewisse Formen des angeborenen
Schwachsinns und der auf ihrem Boden sich mit Yorliebe ent-
wickelnden originären Yerrücktheit.
StörnDgen im Ablaufe der Vorstelluiigeii. Die successive Ver-
knüpfung von VorsteUun gen und Begriffen mit einander nimmt, wie
sich durch Messungen zeigen lässt, eine bestimmte, nicht unbeträcht-
liche Zeit (etwa 0,5—1,0") in Anspruch, deren Dauer je nach der
Leichtigkeit wechselt, mit welcher sich die Elemente an einander
Störungeu iin Ablaufe der Vorstellungen.
lOi
fügen. Sie gestattet umgekehrt Kückschlüsse aaf die innigeren oder
entfernteren Beziehungen der psychischen Yorgänge za einander.
Unter pathologischen Yerhältnissen kann, wie es scheint, die Dauer
jener Verknüpfungen und damit die Schnelligkeit des Vorstellungs-
verlaufes erhebliche Yercänderangen erfahren. So ist es nachgewies en
worden, dass bei psychischer Depression und beim Schwachsinn
selbst die einfachsten psychischen Leistungen, wie das Wahrnehme n
eines Sinneseindruckes und die Ausführung einer Willkürbewegung,
diu-chschnittlich etAvas längere Zeit in Anspruch nehmen, als
bei Gesimden. Bei verwickeiteren Yorgängen lässt sich dieses Yer-
halten noch deutlicher nachweisen. Auch die einfache Beobachtung
zeigt hier schon, dass die einzelnen Yorstellungen einander langsam
und träge folgen. Die Antworten werden zögernd und nach längerer
Pause hervorgebracht, höhere geistige Leistungen entweder gar nicht
oder nur unter grossem Zeitauf wände ausgeführt. Im einen Falle,
bei psychischer Depression, scheint diese Yerlangsamung auf einer
allgemeinen Hemmung der psychischen Yorgänge durch
den begleitenden Affect zu beruhen, wie ja auch unter normalen
Yerhältnissen jede ernstere Yer Stimmung mit einer Unfähigkeit zu
raschem und klarem Denken einherzugehen pflegt. Bei Schwach-
sinnigen dagegen haben wir es wol mit einer dauernden Herab-
setzung der psychischen Leistungsfähigkeit zu thun, als deren vor-
übergehendes physiologisches Gegenstück wir den Zustand der Er-
müdung betrachten können. Dass in diesem letzteren, ebenso wie
imter dem Einflüsse depressiver Affecte, schon die einfachsten und
noch mehr die verwickeiteren psychischen Yorgänge regelmässig
eine Yerlängerung ihrer Zeitdauer erfahren, lässt sich ebenfalls durch
Messungen ohne Schwierigkeit nachweisen. Überall sieht man hier
zugleich die Schwankungen der gemessenen "Werthe, die Buccola
mit Eecht als das Dynamometer der Aufmerksamkeit bezeichnet
hat, in mehr oder weniger beträchtlichem Masse zunehmen.
Während sonst die psychischen Yorgänge gerade bei langsamerer
Arbeit gleichmässiger zu verlaufen pflegen, geht also hier die Herab-
setzung der geistigen Leistungsfähigkeit mit einer unvollkommenen
Beherrschung der Aufmerksamkeit einher, ein Zeichen, dass auch
die psychische Widerstandsfähigkeit abgenommen hat.
Beschleunigung der psychischen Functionen ist ohne
Zweifel ein sehr viel selteneres Yorkommniss bei Geisteskranken,
-j^Q2 n. Allgemeine Symptomatologie.
als die Yerlangsamung derselben. Nach der Minischen Erfahrung
sollte man diese Erscheinung etwa in maniakalischen Zuständen,
namentlich in denjenigen des circulären Irreseins, erwarten. In der
That hat Marie Walitzkaja bei Maniakalischen Verkürzungen der
Associationszeit bis auf die Hälfte, ja bis auf ein Drittel der nor-
malen Dauer gefunden. Der Annahme einer derart erheblichen
Beschleunigung der Yorstellungsverbindungen widersprechen indessen
meine eigenen Erfahrungen durchaus, so dass ich jenes Ergebniss
einstweilen als durch Fehlerquellen getrübt betrachten muss. Im
Ganzen scheinen für eine grosse Zahl von Geisteskranken weniger
Veränderungen in der mittleren Dauer ihrer psychischen Vorgänge,
als vielmehr abnonn grosse Schwankungen zwischen den gewonnenen
Einzelwerten, allerdings mit der vorwiegenden Neigung zu längeren
Zahlen, charakteristisch zu sein.
Das Verhalten der fortlaufenden geistigen Arbeit bei Geistes-
kranken ist bisher leider fast gar nicht untersucht worden. Dasselbe
würde nicht nur über die absolute Grösse der Arbeitsleistung, die
natürlich sehr von der Vorbildung abhängt, sondern auch über die
üebungsfähigkeit, sowie namentlich über die Ermüdbarkeit und
Ablenkbarkeit voraussichtlich werthvolle Aufschlüsse liefern. Gerade
nach den beiden letzteren Eichtungen hin finden wir bei ange-
borenen und erworbenen Schwächezuständen so häufige und ein-
greifende Störungen, dass an der grundlegenden Bedeutung der-
selben nicht gezweifelt werden kann. Einiges Material in dieser
Eichtung liegt mir bereits vor, doch ist dasselbe noch zu lückenhaft,
als dass sich schon jetzt weiterreichende Schlüsse daraus ableiten
Hessen.
Ausser diesen mehr formalen Störungen haben wir nunmehr
aber auch noch gewisse Veränderungen des Vorstellungsverlaufes
einer kurzen Betrachtung zu unterziehen, bei denen der Inhalt
der Gedankenreihen eine mehr oder weniger tiefgToifendB Beein-
flussung erfährt. Wie es scheint, ist die gemeinsame Grundlage
hier der dauernde oder vorübergehende Verlust der Herrschaft des
Kranken über seine Ideenkreise, die Unfähigkeit, nach bestimmten
Motiven aus der Zahl der sich darbietenden Associationen Auswahl
zu treffen. Auf diese Weise kann sich dann entweder eine und
dieselbe Vorstellungsgruppe immer von Neuem wieder dem Bewusst-
sein aufdrängen, oder aber es erlangen gewisse allgemeine Eichtungen
«
Störungen im Ablaufe der Vorstellungen.
103
der associativen Anknüpfung die Oberhand und zwingen dadurch
den Gedankengang in ganz bestimmte Bahnen hinein.
Beide Störungen sind der normalen Erfahrung geläufig. Wir
AUe wissen, dass sich bei uns gewisse stehende Wendungen und
Ideenverbindungen ausbüden, die mit erstaunlicher Unvermeidhch-
keit bei gegebenem Stichworte auftauchen und ablaufen, ohne unser
Zuthun, ja selbst gegen unseren Willen. Ich konnte nachweisen,
dass von einer grösseren Gruppe eingeübter Associationen nach fast
zwei Jahren noch etwa 70o/o in stereotyper Weise wiederkehrten.
Wie oft begegnet es uns ferner, dass wir irgend eine Vorstellungs-
gi-uppe, meist solche von rhythmischer Gliederung, einen Yers oder
eine Melodie, „nicht los werden können" und, vielleicht zu unserem
grössten Yerdrusse, in steter Wiederholung auf dieselbe zurück-
kommen müssen. Auf diese Weise kann eine Reproduction, die
uns zunächst gleichgiltig und sogar angenehm ist, bei häufiger
Wiederkehr schliesslich die peinlichsten Gefühle in uns hervorrufen,
sobald wir uns ausser Stande finden, dieselbe zu unterdrücken.
Experimentelle Erfahrungen lehren diese Erscheinung als Ermüdungs-
symptom kennen. Man- hat derartige Vorstellungen, die sich gegen
unsern Willen in unser Bewusstsein drängen, Zwangsvorstell-
ungen*) genannt. Yon anderen mit Macht hervortretenden Vor-
stellungen unterscheiden sie sich somit nicht an sich selbst, sondern
es ist der eigenthümliche Zustand des Bewusstseins, das Widerstreben
des Individuums, nicht der Zwang selbst, sondern das unangenehme
Gefühl des Zwanges, welches dem ganzen Vorgange seine be-
stimmte Färbung giebt.
Der Widerstand und weiterhin das Unlustgefühl, welches die
TJeberwindung desselben durch die Zwangsvorstellung begleitet, kann
ausser der Beeinträchtigung des Gedankenverlaufes durch die häufige,
ja unablässige Wiederholung jener letzteren, noch aus ihrem der
sonstigen Denkweise des Menschen widersprechenden Inhalte ent-
springen. Die einzelnen klinischen Eormen dieser Störung, die regel-
mässig auf dem Boden einer verminderten psychischen Widerstands-
fähigkeit zur Entwickelung kommt, werden wir späterhin noch einer
näheren Betrachtung zu unterziehen haben.
Eine schwerwiegende Bedeutung für das psychische Leben
*) Wille, Archiv f. Psychiatrie, XII, 1; Meynert, Wiener klin. "Wochenschr.
1888, 5—7.
104
II. Allgemeine Symptomatologie.
können die Zwangsvorstellungen gewinnen, wenn sie nicht als ein-
fache lästige Erinnerungsbilder, sondern als Befürchtungen oder
Hoffnungen auftreten und damit die Auffassung thatsächlicher Ver-
hältnisse zu verfälschen drohen. Freilich wird eine ruhige Kritik
auch hier überall einer wirklichen Assiniilirung der krankhaften
Eindringlinge dauernd Widerstand zu leisten vermögen ; wo aber die
Besonnenheit sich trübt, z. B. durch lebhafte Affecte, da kann die
kritische Sichtung des Vorstellungsmaterials ausbleiben und damit
jenen pathologischen Gedankengängen ein weitgehender Einfluss auf
den gesammten Bewusstseinsinhalt eröffnet werden. Natürlich tragen
dieselben nur so lange den Charakter der Zwangsvorstellungen, wie
das gesunde Urtheil noch gegen sie ankämpft und sie als Eindring-
linge in den normalen Fluss der Ideenverbindungen auffasst.
Auch das Vorherrschen bestimmter Eichtungen in den Ideen-
verbindungen ist uns eine Avohlbekannte Erscheinung. Nicht nur
die individuelle Lebenserfahrung pflegt regelmässig die Art der
associativen Bewegung zu beeinflussen, sondern wir sehen, dass in
noch höherem Masse vielleicht die persönliche Veranlagung hier eine
wichtige KoUe spielt. Die Neigung zu abstractem Denken oder zu
rhetorischem Schwünge, zu lyrischer Schwärmerei oder praktischer
Sinnlichkeit sind constitutionelle Eigenthümlichkeiten, die sich in den
gewohnheitsmässigen Gedankengängen überall geltend machen. Noch
eigenartiger gestaltet sich der nicht so seltene Drang, überall Wort-
spiele und -Verdrehungen anzubringen, Citate zu produciren oder
aber, wie man es bei einzelnen grossen Bechenkünstlern beobachtet
hat, umfangreiche Eechnungen auszuführen.
Wie es scheint, kommen derartige Störungen vielfach dadurch
zu Stande, dass die verschiedenartigen Bestandteile, aus denen sich
unser Erfahrungsmaterial zusammensetzt, in verschiedener Stärke
entwickelt sind, oder dass durch eine allgemeine Störung überall
eine bestinnnte Seite unserer Vorstellungen das TJebergewicht über
die anderen gewinnt. Manche Erfahrungen sprechen dafür-, dass
z. B. der Gegensatz zwischen den sensorischen und den motorischen
Elementen der Vorstellungen eine gewisse Bolle spielt Es giebt
Zustände, in denen die Ideenverbindung ganz vorzugsweise dui'ch
einzelne sinnliche Erinnerungsbilder vermittelt zu werden scheint,
so im Traume, in gewissen Vergiftungsdelirien, namentlich im Opium-
rausch. Lebhafte Phantasievorstellungen schliessen sich hier in
Störungen im Ablaufe der Vorstelluagen.
105
bunterFolge an einander, entwickeln sich anseinancler, losgelöst von dem
festgefügten Gerüste der absti-acten Vorstellungen. In Folge dessen ent-
steht eine lockere Reihe phantastischer Situationen ohne inneren Zu-
sammenhang und ohne Correctur durch die allgemeineren Lebens-
erfahrungen, deren schärferes Hervortreten in unserem Bewusstsein so-
fort die zahli-eichen Widersprüche und die innere Unwahrheit der
deliriösen Erlebnisse deutlich erkennen lassen Avürde. Andererseits aber
dürfte nij3ht selten vielmehr' ein Ueberwiegen der motorischen Bezieh-
ungen, insbesondere auf Grund der motorischen Sprachvorsteliungen,
sich herausbilden. Es kommt dann zu einer Häufung sprachlich ein-
geübter Associationen, gewohnheitsmässiger Wortverbindungen, oder
aber zur Terknüpfung nach der Klangähnlichkeit. Regelmässig geht
auch hierbei natürlich der innere Zusammenhang der Ideen mehr
oder weniger verloren. . In leichten Andeutungen tritt diese Störung
schon bei der normalen Ermüdung hervor; unser Gedankengang
lenkt dabei mehr- und mehr in die Bahnen eingeübter Redensarten
ein. Auf pathologischem Gebiete beobachten wir sie namentlich bei
solchen Psychosen, welche mit motorischen Reizerscheinungen einher-
gehen. Der Redeschwall reisst hier den Gedankengang gewissermassen
vollständig mit sich fort. Die Banken sind nicht im Stande, zusamme n-
hängend zu erzählen, da sich überall stehende Redewendung en
einschieben, die der Ideenverbindung eine neue Richtung geben,
so dass sie ,,vom Hundertsten ins Tausendste" kommen und schon
nach wenigen Augenblicken das ursprüngliche Ziel ihrer Reden aus
dem Auge verüeren. „Der Nagel an der Wand" begann eine solche
Kranke, auf einen Nagel zeigend, fuhr aber sodann fort: „hört seine
eigene Schand."
Man bezeichnet diese Erscheinung mit dem Namen der Ideen-
flucht, obgleich in der Regel eine Beschleunigung der Ideenfolge
gar nicht vorhanden ist. Nur das Aussprechen der Gedanken
ist erleichtert, sodass jede auftauchende Vorstellung sich sofort in
eine Sprachbewegung umsetzt, die dann andere eingeübte oder ähn-
liche Redewendungen nach sich zieht, während wir unter normalen
Verhältnissen zahllose derartige motorische Antriebe einfach unter-
drücken. Unter dem Einflüsse des Alkohols geht uns bekanntlich diese
letztere Fähigkeit verloren, und es entwickeln sich nun jene halb ideen-
flttchtigen, halb stereotypen Reden, in denen der Einfluss der moto-
rischen Sprachvorstellungen deutlich genug über denjenigen des Ge-
-j^Qg II. Allgemeine Symptomatologie.
dankeninhaltee überwiegt. In den höheren Graden der Ideenflucht
schreitet die Lockerang des begrifflichen Zusammenhanges der Yor-
stellungen immer weiter, bis schüesslich jede inhaltliche Verknüpfung
in einer sinnlosen Aneinanderreihung von Assonanzen, Alüterationen,
Reimen, Citaten und Bruchstücken verloren geht. Diese chaotische
Folge von Yorstellungen kann dann bisweilen höchstens noch durch
sehr energische äussere Eindrücke (kräftiges Anreden) vorübergehend
soweit aufgehalten werden, dass es geüngt, von dem Kranken etwa
eine richtige Antwort auf eine einfache Frage zu erhalten.
Das gemeinsame Resultat aller Störungen, welche den Einfluss der
Constanten psychischen Persönlichkeit auf den Ablauf der Yorstell-
ungen beeinträchtigen oder vernichten, ist das Aufü^eten einer sehr
wichtigen und häufigen Krankheitserscheinung, der Verwirrtheit.
Sie bedeutet den Verlust des inneren Zusammenhanges zwischen den
Vorstellungen und die daraus sich ergebende Unfähigkeit, dieselben
zu ordnen und zu überbücken. Die Entstehungsweise dieses Symptoms
ist wahrscheinlich eine vielfach verschiedene; dasselbe bildet in
stärkerer oder schwächerer Ausprägung gewissermassen das allgemeine
Prodromalstadium der acuten Psychosen. Eine ganz besonders
wichtige Rolle spielen dabei jedenfalls die Affecte, deren gewaltigen
Einfluss auf den klaren Zusammenhang unserer Gedanken ims schon
die normale Erfahrung kennen lehrt, von den leisesten Regungen
der Verlegenheit und Befangenheit an bis zu den mächtigen Ge-
fühlsschwankungen der Angst, des Zornes und der Verzweiflung.
Weiterhin vermag ein abnorm starkes Hervortreten der sinnlichen
Elemente unserer Vorstellungen anscheinend eine deliriöse, Vor-
herrschen der psychomotorischen Erregung dagegen die charakter-
istische Erscheinung der ideenflüchtigen Verwirrtheit zu erzeugen.
Bei rascher Steigerung der combinatorischen Phantasiethätigkeit
entwickelt sich jene Form der Verwirrtheit, welche wir bei dem
plötzlichen Anstürmen neuer Gedanken und ungeahnter Consequenzen
empfinden; uns schwindelt der Kopf, weil wir nicht im Stande sind,
die massenhaft aufschiessenden Vorstellungen zu ordnen und zu
überblicken. Diese „combinatorische Verwirrtheit'' findet sich als
Episode in jenen Krankheitsformen, in deren weiterem Verlaufe
das rasch entstandene phantastische Material zu einem dauernden Wahn-
system verarbeitet wird, ähnlich wie auch wir die uns anfangs ver-
wirrende neue Idee allmählich unsern Gedankenkreisen assimilii-en
Störungen im Ablaufe der Vorstellungen.
107
und dadiirch die innere Einheit und den Zusammenhang derselben
wiederherstellen. Ein solcher Patient bezeichnete mir diese ver-
wirrende Ueberproduction an phantastischen Combinationen als eine
wahre „Hunnenschlacht des Geistes". Yielleicht kann ferner auch
das Auftauchen massenhafter Sinnestäuschungen eine hallu-
cinatorische Yerwirrtheit einfach in der Weise hervorrufen, wie beim
Gesunden die Orientirung verloren geht, wenn er sich plötzlich in ein
unentwirrbares Gemisch neuer rätselhafter Sinneseindrücke versetzt
sieht. Bei alten Paranoikern und in gewissen Eormen des hallucinato-
rischen "Wahnsinns sehen wir allerdings, dass vollkommene Ordnung
der Gedanken trotz zahlreicher Sinnestäuschungen bestehen kann.
Im Ganzen ist übrigens zu bemerken, dass die hier theoretisch aus-
einandergehaltenen Formen der Yerwirrtheit sich praktisch fast immer
mit einander verbinden. Fast alle acuten Psychosen gehen mit leb-
haften Affecten einher; zu den Störungen im Ablaufe der Yorstell-
ungen gesellen sich sehr häufig Sinnestäuschungen, sodass es im
einzelnen Falle kaum möglich erscheint, den Anteil genauer zu be-
stimmen, der den verschiedenen Ursachen beim Zustandekommen
der Yerwirrtheit zugeschrieben werden muss.
Endlich bedarf es kaum noch einer besonderen Ausführung,
dass sich auch mit der Entwickelung des Schwachsinns, mit dem
Fortschreiten des geistigen Yerfalles der Zusammenhang der
YorsteUungen lockert. Leider sind die auf diese Weise zu Stande
kommenden mannigfaltigen Formen der secundären Yerwirrtheit
in ihren Einzelheiten bisher noch sehr wenig bekannt.
Störungen des Urtheils und der Schlussbildung. Die höchsten
und verwickeltsten Leistungen auf intellectuellem Gebiete sind TJrtheil
und Schluss. Da sie sich aufbauen auf den vorbereitenden Functionen
der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, der Bildung und Yerbindung
von YorsteUungen, so ist es natürlich, dass alle Beeinträchtigungen
irgend eines dieser Yorgänge regelmässig in mehr oder weniger
nachhaltiger Weise das in Drtheil und Schluss sich darstellende End-
resultat der geistigen Arbeit in Mitleidenschaft ziehen müssen.
Abgesehen davon jedoch kann eben die logische Yerarbeitung des
Yorstellungsmateriales selbst gewissen krankhaften Störungen unter-
liegen, welche für das ganze psychische Leben in der Eegel äusserst
verhängnissvoll werden.
Die wichtigste dieser Störungen ist die Neigung zu subjectiver
108
II. Allgemeine Symptomatologie.
Interpretation der Aussenwelt. Wenn schon im gesunden Leben
vielfach die Versuchung an uns herantritt, an geringfügige und viel-
deutige thatsächliche Anhaltspunkte zu weitgehende Wahrscheinlich-
keitsschlüsse zu knüpfen oder ohne zureichenden Grund Causal-
verhältnisse zwischen zufällig zusammenfallenden Ereignissen zu
vermuthen, so begünstigt unter pathologischen Verhältnissen der
Hang zu phantastischer Verbindung der Vorstellungen und Wahr-
nehmungen in ganz hervorragendem Masse das Suchen nach Be-
ziehungen der Dinge, wo die Vorstellungen in Beziehung getreten
sind, die Vermuthung eines realen Zusammenhanges der Erschein-
ungen auf Grund des leicht geschürzten psychologischen Bandes
derselben. Für den Kranken kann der harmloseste äussere Vorgang
zum tiefsinnigen Symbol verborgener Ereignisse werden; in die
nüchternsten Thatsachen Avird ein versteckter und entlegener Sinn
hineingeheimnisst. Der Flug eines Vogels ist ihm ein verheissungs-
volles Zeichen für die Zukunft, eine zufällig beobachtete Geberde
signalisirt drohende Gefahr, der Fund einiger Kastanien bedeutet
die Zusicherung künftiger Weltherrschaft.
Auf diese Weise entsteht nicht selten jenes wichtige psychopa-
thische Symptom, welches man als „Wahnidee" bezeichnet. Jede
Wahnidee ist eine krankhaft verfälschte Vorstellung, die regelmässig
in irgend einer Beziehung zu den persönlichen Verhältnissen des
Individuums steht. Sie kann erzeugt werden diu'ch eine einfache
Sinnestäuschung, und ist dann der Correctur leicht zugänglich, so-
bald die Irreahtät jener Täuschung erkannt worden ist. Zumeist
indessen, auch wenn sie durch Trugwahrnehmungen genährt und in-
haltlich bestimmt wird, hat sie ihre eigentliche Wurzel in der
intellectiiellen Verarbeitung von Vorstellungen, die allerdings wieder
von anderer Seite her, z. B. durch Gefühle und Affecte, beeinflusst
werden können.
Ein physiologisches Seitenstück der Wahnidee gewissermassen ist
der Aberglaube, insofern auch er auf einem mystischen Hange,
auf der Neigung zu phantastischer Auslegung der äusseren Er-
scheinungen beruht, die nur beim Kranken vielfach in weit absonder-
hcheren und unkritischeren Formen auftritt. In der That ist es bis-
weilen bei der Beurtheilung des einzelnen Falles überaus schwer,
zu sagen, wie weit der Aberglaube und wie weit ein wirklich
pathologischer Wahn von der Weltanschauung des Individuums ße-
Störungen des TJrtheils und der Scblnssbildung_
109
sitz ergriffen haben. Nur die FeststelliiDg des Durchschnittsaberglaiibens
bei der Umgebung des Kranken kann hier einen einigermassen sicheren
Anhalt an die Hand geben.
Kegelmässig stehen die Wahnideen in nahem Znsammenhange
mit dem eigenen Ich des Kranken. Die Yorstellungsgruppe
der eigenen Persönlichkeit, das Selbstbewusstsein, bildet ja schon
nnter normalen Yerhältnissen den Mittelpunkt des individuellen
Interesses; darum knüpfen sich auch hier alle die symbolischen
Ausdeutungen der Eindrücke vor allem an dieses Centrum an und
setzen das Netz geheimnissvoller Zusammenhänge und phantastischer
Projectionen in unmittelbare Yerbindung mit dem eigenen "Wohl
und Wehe. Ausserordentlich begünstigt wird diese Entwickelung
einer egocentrischen Auffassung der Umgebung durch die Wirkung
lebhafter Gefühle. Es giebt kein Wahnsystem, welches dem
Kranken gleichgiltig wäre, sondern dasselbe ist stets auf das Engste
verwebt mit seinen persönhchen Interessen und übt auf seine Stimm-
ung, wie auf seine Stellung in der Welt einen entscheidenden Ein-
fluss aus.
Nach dem begleitenden Gefühlstone lassen sich somit zwei grosse
Gruppen von Wahnideen unterscheiden, depressive und exaltirte,
deren Inhalt im Einzelnen eine Eeihe verschiedener, meist bis zu
einem gewissen Grade typischer Formen annehmen kann. Unter
denjenigen mit depressiver Färbung sind zunächst einige Formen zu
nennen, die sich direct auf den eigenen Körper beziehen. So besteht
der hypochondrische Wahn in der Idee, von einer schweren
körperlichen Krankheit befallen zu sein, deren Symptome und
Wirkungen häufig in phantastischer Weise ausgemalt werden. Wie
■der angehende Arzt die Anzeichen so mancher der gerade von ihm
studierten Leiden an sich zu entdecken glaubt, so werden hier die
harmlosesten, durchaus normalen Erscheinungen am eigenen Körper
für die Folgen der Syphilis, der Hundswuth, mannigfacher Ver-
giftungen, schwerer Blutstockungen, sexueller Ausschweifungen und
dergl. angesehen. Bei Aerzten sind Tabes, Paralyse, Phthise der
häufigste Inhalt hypochondrischer Wahnideen. In schweren Fällen
gewinnen dieselben, namentlich unter dem Einflüsse abnormer
Empfindungen aller Art, nicht selten ganz barocke Formen; ein
lebendiges Thier sitzt im Körper; Mund und After sind verschlossen,
die Eingeweide sämmtlich ruinirt oder herausgenommen, der Athem
110
II. Allgemeine Symptomatologie.
und das Blut vergiftet, der Kopf ausgehöhlt, der Hirnschauni ab-
geschöpft, die Knochen durch Holzstücke ersetzt; der ganze Körper
ist mit Gestank erfüllt, in einen Kikerikihahn verwandelt, von Eisen
und Aehnliches.
Das hypochondrische Wahnsystem geht dabei schon in zwei ver-
wandte Ideenkreise über, die Idee der körperlichen Beein-
flussung und diejenige der Metamorphose. Im ersteren Falle wird
die Yeränderung und Yerschlechterung des ganzen Körpers feind-
lichen Einwirkungen zugeschrieben, die entweder im Schlafe vor-
genommen werden oder ganz mystischer Natur sind (Telepathie).
Die Hypothese des Behextwerdens, des Besessenseins, die ja in den
Hexenprocessen des Mittelalters eine so grosse culturhistorische Be-
deutsamkeit erlangt hat, liegt hier dem abergläubischen Kranken
äusserst nahe; sie wird gestützt durch abnorme Gemeingefühle, fremd-
artige, ihm aufsteigende Gedanken und Reden, die Wahrnehmung
von Stimmen im eigenen Körper, lebhafte Träume. Ein- etwas
anderer Bildungsgang macht den Kranken mehr zur Annahme ma-
gischer, magnetischer, elektrischer, physikalischer, hypnotischer Ferne-
wirkungen geneigt, die durch allerlei Maschinen, Telephone, galva-
nische ^Batterien, sympathetische Manipulationen von unsichtbaren
Feinden vermittelt werden. Die Ausbildung derartiger Hypothesen
ist bisweilen eine äusserst eingehende und spitzfindige. Die Idee
der Metamorphose findet noch eine weitere Entwickelung in dem
ebenfalls culturhistorisch wichtigen Wahne der Thierverwandlung,
des Abgestorbenseins, der Yerwandlung in andere Personen, nament-
lich solche anderen Geschlechts, in leblose Dinge u. s. f.
Ueberaus häufig ist das allgemeine Symptom des Yerf olgungs-
wahns. Derselbe kann sich weit über den Bereich der rein körper-
lichen Beeinflussung hinaus, die wir soeben erwähnt haben, auf das
ganze Gebiet der Beziehungen des Menschen zur Aussenwelt er-
strecken. Sehr gewöhnlich beginnt derselbe mit der wahnhaften
Deutung einzelner hingeworfener Aeusserungen oder zufällig wahr-
genommener Geberden; genährt wird er vor Allem am ergiebigsten
durch Gehörstäuschungen. Der Kranke wird argwöhnisch und miss-
trauisch gegen seine Umgebung; er beginnt das Benehmen derselben
mit anderen Augen anzusehen und seine Wahrnehmungen unter dem
neugewonnenen Gesichtspunkte zu verwerthen. Ueberall entdeckt
er geheime Yerschwörungen gegen sich, Andeutungen drohender Ge-
Störungen des Urtheils und der Schlussbildung. III
fahren, übercall Spione, die ihn auf Schritt und Tritt beobachten und
Verfolgen. Wohin er kommt, fühlt er die Aufmerksamkeit auf sich
gerichtet; harmlose Bemerkimgen, Zeitungsartikel, Gassenhauer,
Predigten enthalten versteckte Verhöhnungen und den Hinweis auf
seine verzweifelte Lage; Jedermann weiss um das quälende Geheim-
niss, und die Yersichenmgen der Liebe und Freundschaft sind eitel
Heuchelei, um ihn desto sicherer in die Falle zu locken. In anderen
Fällen richten sich diese Yerfolgungsideen nur gegen bestimmte
Personen, gegen Vorgesetzte, Nachbarn, Freunde, Gatten, oder gegen
gewisse, sehr mystisch organisirt gedachte Parteien, die Geistlichen,
Freimaurer, Socialdemokraten. Der besondere Inhalt des Wahn-
systems ist gewöhnlich durch Trugwahrnehmungen verschiedener
Art motivirt. Vermeintliche Vergiftungsversuche und sexuelle Attentate
pflegen dabei eine grosse RoUe zu spielen.
Als weitere Form von depressiven Wahnideen haben wir noch
den Versündigungswahn zu erwähnen. Der Kranke glaubt, ein
grosses Unrecht begangen zu haben, klagt sich der scheusslichsten
Verbrechen an, oft nur in allgemeinen Ausdrücken, bisweilen aber
auch in ganz bestimmter Erzählung, hält sich für ein schlechtes,
verworfenes, gemüthloses Geschöpf, für von Gott Verstössen und ver-
dammt. An jede seiner Aeusserungen oder Handlungen knüpft
sich sehr bald die Idee, dass er dadurch Andere geschädigt, ge-
täuscht, ins Unglück gebracht habe. Er fürchtet und wünscht zu-
gleich eine schrecküche Strafe, um seine Sünden zu büssen, und
lebt in der beständigen Erwartung, dass er nunmehr von den
Polizisten geholt, hingerichtet, verbrannt, zur Richtstätte geschleift,
lebendig begraben werden solle. Diesen Wahnideen nahe verwandt
sind gewisse Befürchtungen allgemeiner Art, die häufig mit ihnen
sich vergesellschaften, die Idee zij verarmen, arbeitsunfähig zu
werden, ein grosses Unglück erdulden zu müssen oder über die
Angehörigen heraufzubeschwören. Namentlich die Vorstellung, dass
irgend etwas Schreckliches passirt, die Familie erkrankt und
gestorben sei, oder dass etwas Furchtbares bevorstehe, scheint zu-
meist aus einer directen Beeinflussung des Bewusstseinsinhaltes
durch die allgemeine depressive Verstimmung ihren Ursprung zu
nehmen; begegnen wir doch ähnlichen, allerdings gewöhnlich rasch
vergessenen „Ahnungen" auf dem Hintergrunde einer gemüthlichen
Erregung nicht selten auch im alltäglichen Leben.
II. Allgemeine Symptomatologie.
Auch die exaltirten Wahnideen können unmittelbar den
eigenen Körper zum Gegenstande haben. Hier gewährt uns die
Euphorie der Phthisiker und die Selbsttäuschung Betrunkener ein
normales Beispiel für jene Störungen des Selbstbewusstseins, in
denen das Gefühl erhöhter Leistungsfähigkeit in Widerspruch mit
dem wirklichen Verhalten geräth. So rühmen gebrechliche Paralytiker
ihre Körperkräfte, ihre ausgezeichneten Lungen, ihre sexuelle Potenz,
sprechen von ihrer schönen Stimme, von ihren gymnastischen Fertig-
keiten, während sie keinen musikalischen Ton hervorbringen und
nicht auf den Füssen stehen können. Den hypochondrischen Ideen
inhaltlich verwandt sind die Grössenvorstellungen, dass der eigene
Koth Gold, der Urin Kheinwein sei und Aehnliches. Zuweilen ge-
winnen auch Ideen depressiven Inhaltes durch die Art ihrer Yer-
werthung Seitens der Kranken den Charakter von expansiven. Wir
hören solche Patienten mit grosser Genugthuung sich dessen rühmen,
dass ihnen schon 30000 Mal das Haupt abgeschlagen worden sei,
dass sie den schrecklichsten Kopfkrankheiten ausgesetzt gewesen
seien, jeden Tag einen Centner Strychnin eingeblasen bekämen.
Hier dienen die unerhörten Gefahren nur dazu, die eigene Kraft
und Wichtigkeit in ein um so glänzenderes Licht zu setzen.
Sehr häufig ist die Idee geistiger Gesundheit trotz tiefgreifender
psychischer Störung, der Mangel der Krankheitseinsicht, der
für manche Formen des Irreseins geradezu als pathognomonisch
angesehen werden kann. Namentlich dort, wo die Combinations-
fähigkeit erhöht ist und die Yerbindung der Vorstellungen mit
krankhafter Leichtigkeit vor sich geht, glaubt der Kranke, gesünder
zu sein, denn je, und giebt seiner Umgebung die Insinuation
psychischer Erkrankung ohne Weiteres zurück. Bisweilen steigert
sich das Gefühl geistiger Leistimgsfähigkeit in so ausserordentlichem
Masse, dass der Kranke sich für ein Universalgenie, für einen
grossen Entdecker und Weltverbesserer hält, für den es keine
Schwierigkeiten und keine unlösbaren Probleme mehr giebt; er ver-
steht alle Sprachen, kennt alle Geheimnisse der Natur und ergründet
die tiefsten Käthsel des Daseins mit spielender Leichtigkeit. Wer
wird dabei nicht an die erstaunliche Gewandtheit erinnert, mit der
wir bisweilen im Traume die schwierigsten Aufgaben überwältigen,
um nachher beim Erwachen zu entdecken, dass unsere Producta
baarer Unsinn gewesen sind !
Störimgeu des Urtheils uad der Schlussbildung.
113
Die äusseren Yerhiiltnisse des Kraaken werden durch exaltirte
Wahnideen in ähnlicher Weise umgewandelt. Nach der einen Seite
hin beziehen sich dieselben auf seine social e Stellung, nach der
anderen auf seinen Besitz, ohne dass natürlich im Einzelfalle eine
scharfe Trennnng dieser beiden Formen! möglich wäre. Der Kranke
ist von hoher Abkunft, Fiirstenkind, Thronerbe, oder er steht
wenigstens in nahen Beziehungen zu weltlichen und geistlichen
distinguirten Persönlichkeiten, ja er hat Verbindungen mit über-
irdischen Mächten, Verkehr mit der Jungfrau Maria, mit Christus
oder Gott selbst. In weiterer, sehr häufiger Steigerung ist er selber
Bismarck, König, Kaiser, Papst (sogar Beides in einer Person); er
ist ein HeiHger, Christus, Braut Christi, Grott^ die personificirte Drei-
einigkeit und Obergott. Andererseits rühmt der Kranke seine schönen
Kleider, seine Pferde und Schlösser; er besitzt grosse Ländereien
und ungeheuer viel Geld, Millionen mal Milliarden; ihm gehört
Deutschland, Europa, alle f ünf ' Erdtheile, ja schliesslich die ganze
Welt. An diese Vorstellungen der Macht und des Eeichthums
knüpfen sich sehr gewöhnlich mannigfache Pläne, welche mit Hülfe
der zur Verfügung stehenden Mittel zur Ausführung gebracht werden
sollen. Vom einfachen Ankaufe allerlei unnützer Dinge geht es
zum Projecte gewaltiger Bauten, grossartiger Feste, zur Austrocknung
ganzer Oceane, Durchbohrung der Erde, Kelsen nach dem Monde
und durch das Weltall. In dieser speciellen inhaltlichen Ausprägung
des „Grössenwahns" macht sich gerade der Einfluss der individuellen
Erfahrung geltend. Die allgemeine Eichtung desselben ist offenbar
in dem zu Grunde liegenden Krankheitszustande vorgezeichnet, aber
das ausfüllende Detail wird durch den Vorstellungsschatz des
Subjectes geliefert und spiegelt somit die Anschauungen, Interessen
und Wünsche desselben, bisweilen in sehr drastischer Weise, wider.
Depressive und exaltirte Wahnideen sind indessen durchaus
nicht etwa als gegensätzliche und einander ausschliessende Richt-
ungen der Vorstellungsthätigkeit zu betrachten, sondern sie ver-
binden sich sogar sehr gewöhnlich mit einander. Der ver-
meintlich Verfolgte sieht die Ursache der gegen ihn gerichteten
Feindseligkeiten in seinen besonderen Vorzügen, in seinen natür-
lichen Ansprüchen auf ein grosses Besitzthum, in seiner Anwartschaft
auf einen Fürstenthron, und umgekehrt glaubt der wahnhafte Spröss-
ling aus hohem Hause, der Besitzer ideeller Reichthümer die Nicht-
Kraepolin, Psychiatrie. 4. Anfl. 8
II. Allgemeine Symptomatologie.
anerkenDurg seiner Eechte auf die Machinationen geheimer Feinde
und Neider znrückbeziehen zw müssen, betrachtet seine Zurückhalt-
ung in der Irrenanstalt als das "Werk erbschleicherischer Ver-
wandten oder auch als eine von Gott auferlegte Prüfung, nach deren
glücklichem Ueberstehen das ganze Füllhorn des Glückes sich über
ihn ergiessen werde. Das Zustandekommen dieser Vermischung, wie
überhaupt der Wahnideen, ist im einzelnen Falle sicherlich recht ver-
schieden und bisher oft nicht ganz klar zu stellen.
Affective Zustände, die oben geschilderten Anomalien in
der Verbindung der Voistellungen und endlich Verfälsch-
ungen der Wahrnehmung, namentlich Sinnestäuschungen, sind
die wesentlichen Quellen, aus welchen die wahnhaften Veränder-
ungen des Selbstbewusstseins hervorgehen. Mit dieser mannigfaltigen
Entstehungsweise hängt sicherlich zum grossen Theile eine sehr
wesentliche klinische Differenz der Wahnideen zusammen, welche
uns zwei Formenkreise derselben mit verschiedener pathologischer
Bedeutung von einander zu trennen erlaubt, die fixen und die
wechselnden Wahnideen. Nur bei den ersteren kann man, streng
genommen, von einem „Wahnsysteme" sprechen; hier ist der
krankhaft veränderte Vorstellungsinhalt zum dauernden Bestand-
theile des Erfahrungsschatzes geworden und übt somit auf die
gesammte weitere Verarbeitung der äusseren Eindrücke s*einen ent-
scheidenden Einfluss aus. Die Stellung des Subjectes zur Aussen-
welt verschiebt sich auf diese Weise allmählich in bestimmter Eicht-
ung; die psychische Persönlichkeit mit ihren früher gewonnenen
Anschauungen erleidet eine vollständige Umwandlung, in mancher
Beziehung analog derjenigen des gesunden Menschen, der in eme
fremde Welt voll neuer Eindrücke versetzt wird. Gerade diese voll-
ständige Assimilation des Wahnes, die innigen Beziehungen
desselben zu der Vorstellungsgruppe des eigenen Ich sind es,
welche den inneren Zusammenhang seiner einzelnen Bestandtheile,
die geistige Verarbeitung derselben zu einem Systeme, einer Welt-
anschauung vermitteln.
Dem gegenüber stellen sich die wechselnden Wahnideen im
Allgemeinen als eine mehr äusserliche Functionsstörung im
Bereiche des Verstandes dar. Sie sind nicht so sehr ein Ausdruck
der persönlichen Weltauffassung, als vielmehr Vorstellungen, die aus
irgend einem Grunde (Affect, Sinnestäuschungen) vorübergehend
Störungen des Urtheils und der ScMussbildung.
115
die Herrschaft über den Bewiisstseinsinhalt des Kranken erlangt
haben, ohne darum bereits von demselben fest assimilirt worden zu
sein. Sie werden nicht geistig verarbeitet, haften daher nicht lange
und pflegen die spätere Erfahrung nicht dauernd massgebend zu be-
einflussen. Für den Augenblick vermögen sie wol die Herrschaft
über den Bewusstseinsinhalt zu gewinnen, aber sie verlieren schliess-
lich ihre Macht und werden dann von der wieder hervortretenden
gesunden Kritik leicht corrigirt, oder sie werden wenigstens von
neuen Ideen abgelöst, wenn die tiefe Störung der Intelligenz eine
kritische Ausmerzung bereits unmöglich gemacht hat. Es liegt auf
der Hand, dass auch hier eine durchgreifende Trennung der beiden
Formenkreise nicht möglich ist. Fixe "Wahnsysteme pflegen sich
meist aus anfänglichen wechselnden und schwankenden "Wahnvorstell-
ungen herauszuentwickeln, die erst allmählich eine dauernde Herr-
schaft über das widerstrebende Subject gewinnen; andererseits können
unter Umständen derartige detaillirt ausgearbeitete Systeme bisweilen
nach Monate, selbst Jahre langer Dauer dennoch wieder corrigirt
werden, namentlich dann, wenn sie auf der Basis einer endlich sich
ausgleichenden Gleichgewichtsstörung des Stimmungshintergrundes
entstanden waren.
Die Entstehung der Wahnideen erscheint dem gesunden Be-
wusstsein zunächst als ein durchaus fremdartiger und un-
begreiflicher Vorgang. Es ist uns unverständlich, wie eine
plötzlich auftauchende Idee dauernde Macht über den gesammten
Erfahrungsinhalt gewinnen kann, und wie die grössten Absurditäten
trotz ihrer handgreiflichen Unhaltbarkeit, trotz des unmittelbar
entgegenstehenden Zeugnisses der Sinne, dennoch unbeirrt festgehalten
werden. Allerdings begegnet es auch dem Gesunden gelegentlich,
dass ihm einzelne absonderliche Ideenverbindungen, namentlich
solche, die sich auf die abergläubische Deutung auffallender Ereig-
nisse beziehen, durch den Kopf schiessen, dass seine schweifende
Phantasie ihm Luftschlösser vorgaukelt und ihm allerlei unwirkliche
Situationen vormalt, aber derartige Vorstellungen erhalten keine
Gewalt über sein Denken und Handeln — sie schwinden, sobald
er beginnt, den Bewusstseinsinhalt kritisch zu verarbeiten. Wir
werden durch diese Ueberlegung auf die zweite und wichtigste
Störung geführt, welche ausnahmslos der Entwickelung von Wahn-
ideen zu Grunde liegt: den Mangel an Kritik. Aus der abnormen
8*
116
II. Allgemeine Symptomatologie.
Steigerung der Combinationsfähigkeit erklärt sich wol der oft so
seltsame und fremdartige Inhalt der Ideen, die in dem Bewusst-
sein des Kranken auftauchen — dass sie aber wirklich im Stande
sind, sein Urtheil zu trüben, seine Auffassung der Aussenwelt zu
verfälschen und sogar dauernde Bestandtheile des Yorstellungs-
schatzes.zu werden, liegt einzig und allein an der Unfähigkeit des
Kranken zu scharfer und durchgreifender kritischer Berichtig-
ung der neuen Yorstellungen an der Hand der früher gewonnenen
Erfahrung.
Dies ist der Grund, weshalb die Ausbildung eines dauernden
Wahnsystems stets auf eine tiefe Erkrankung der gesammten
psychischen Persönlichkeit hindeutet, auf eine einschneidende
ünzulänghchkeit seiner intellectuellen Leistungen. Je unsinniger
die Wahnideen, je grösser also der Widerspruch derselben mit der
gesunden Erfahrung ist, desto leichter sollte ihre Correctur sein, und
desto zerstörender muss demnach der Krankheitsprocess auf die
Intelligenz eingewirkt haben, welche nicht mehr im Stande ist,
diese Berichtigung auszuführen. Gerade auf diesem Gebiete ist es
überaus wichtig, sich bei der Beurtheilung der geistigen Leistungs-
fähigkeit des Kranken nicht durch die gedächtnissmässige Beherrsch-
ung einfacher logischer Gedankenreihen und des Yorstellungsmaterials
aus gesunden Tagen täuschen zu lassen. Die Thatsache, dass er
nicht im Stande ist, seine Wahnideen zu corrigiren, zeigt auf das
Unzweideutigste die wahre Grösse der geistigen Schwäche an. In
diesem Sinne ist die Auffassung der fixen Idee als einer isolirten,
„partiellen" Störung, als eines „Herd Symptoms" bei sonstiger psychischer
Gesundheit durchaus unhaltbar. Der Vorgang kritischer Berichtig-
ung des Bewusstseinsinhaltes mit Hülfe von Urtheil und Schluss ist
eben hier in weiterem oder engerem Umfange nicht mehr möglich
und somit eine der wichtigsten allgemeinen psychischen Leistungen
als krankhaft gestört zu betrachten.
Dass nun trotzdem die Kritik zuerst bei ganz bestimmten Yor-
stellungsgruppen versagt, nämlich bei denjenigen, welche sich auf
das eigene Ich beziehen, hat seinen Grund in der intensiven Ge-
fühlsbetonung derselben. Die landläufige Thatsache, dass lebhafte
Gefühle und Affecte das klare Urtheil ü-üben, und dass daher kein
Gebiet des menschlichen Denkens gröberen Täuschungen ausgesetzt
ist, als die Selbsterkenntniss, wird auch durch das Yerbalten der
Störungen des ürtheils und der Schlusstildung.
117
Wahnideen bestätigt, nur in vergrössertem Massstabe. Nach dem
Beispiel des Splitters im fremden und des Balkens im eigenen Auge
sehen wir daher oft unsere Krauken die Wahnideen Anderer ohne
Weiteres corrigiren, während es ihnen unmöglich ist, die anscheinend
selbstrerständliche Nutzanwendung auf den eigenen, durchaus
analogen Fall zu ziehen. Man wird indessen darum die geistige
Störung, welche diesen „partiellen" Wahnsystemen zu Grunde liegt,
mit demselben Kechte eine allgemeine nennen müssen, wie z. B.
die Kreislaufsalterationen in Folge eines Herzfehlers, auch wenn
hier die Stauimgserscheinungen zunächst nur an den exponirtesten
Theilen zur Ausbildung kommen. So sehen wir denn auch häufig
die Kritiklosigkeit weitere Fortschritte machen und schliesslich den
Kranken unfähig werden, die einfachsten Yerstandesleistungen aus-
zuführen. Die Beobachtung des progressiven psychischen Yerfalls,
wie er von dem Auftreten immer unsinnigerer Wahnideen bis zur
völligen Zusammenhangslosigkeit derselben untereinander begleitet
wird, zeigt auf das Beutlichste, dass es sich hier um ein einheit-
liches Grrundleiden handelt, welches sich als eine zunehmende Un-
fähigkeit zu kritischer Bearbeitung des verfälschten Bewusstseins-
inhaltes darstellt.
AUe diese Bemerkungen treffen nur theilweise zu dort, wo
mächtige Gefühle den allgemeinen Stimmungshintergrund
überhaupt in starken Schwankungen erhalten, und wo die Kritik-
losigkeit gegenüber den auftauchenden Wahnideen daher wesentlich
durch krankhafte gemüthliche Alterationen bedingt sein kann. Der
Aengstliche, der Zornige, der Begeisterte sind keiner sachlichen,
ruhigen Ueberlegungen fähig; ebenso machen die gewaltigen Affecte
des Wahnsinns oder der Melancholie die nüchterne Berichtigung
der immer wieder aufsteigenden, gefühlsstarken Wahnvorstellungen
häufig unmöglich. Erst dann, wenn mit dem Zurücktreten der
krankhaften Affecte die Wahnideen nicht verschwinden, sondern
dauernd den Bewusstseinsinhalt beherrschen, schliessen wir mit
Eecht auf ein tieferes Ergriffensein der Intelligenz. Bei wirklich
gesunder Verstandesthätigkeit müssten ja die wahnhaften Vorstell-
ungen aus den Zeiten gemüthlicher Erregung nach dem Abklingen
derselben mit der gleichen Leichtigkeit und Sicherheit ausgemerzt
werden, wie wir tägKch die abenteuerlichen Phantasien des Traumes
oder der Pieberdelirien berichtigen, Zustände, denen gerade das Fehlen
118
n. Allgemeine Symptomatologie.
einer kritischen Sichtung des Bewusstseinsinhaltes gemeinsam ist.
Die Ursache der Kritiklosigkeit ist hier ein vorübergehender mehr
oder weniger vollständiger Yerlust des Einflusses, ' den die gesunde
psychische Persönlichkeit auf den Verlauf und die Verbindung der
Vorstellungen auszuüben pflegt. Die handgreiflichsten Ungereimt-
heiten fallen uns gar nicht auf, weil wir nicht frei über unsern Er-
fahrungsschatz verfügen, und weil uns die vielen allgemeinen Be-
griffe und Urtheile, die wir in demselben angesammelt haben, nicht
in vollem Umfange zur sofortigen kritischen Anwendung auf die
Erzeugnisse unserer spielenden Phantasie zu Gebote stehen.
Wesentlich anders haben wir uns indessen das Zustandekommen
der Kritiklosigkeit dort zu denken, wo sich dieselbe als eine dauernde,
angeborene oder erworbene Eigenschaft des Individuiuns darstellt,
ohne dass eine Bewusstseinstrübung oder langwierige affective Stör-
ungen derselben zu Grunde lägen. In solchen Fällen dürfte vor
Allem die unvollkommene oder krankhaft verschwommene Begriffs-
bildung als die Ursache des Defectes betrachtet werden müssen.
Ungenügende Abstraction und Verschmelzung der Vor-
stellungen, Stehenbleiben derselben auf der Stufe sinnlicher
Wahrnehmungen verhindert die Ausbildung der höheren Verstandes-
thätigkeit vollständig, während die unklare Ausprägung und
mangelnde Schärfe der Begriffe dieselben ungeeignet macht,
als Grundlage eindeutiger Urtheile und zwingender Schlüsse zu
dienen. Je weniger sich in den Begriffen das Wesentliche von^dem
Nebensächlichen, das Allgemeine von dem Einzelnen scheidet, je
mehr in dieselben verfälschte und oberflächlich erfasste Wahr-
nehmungselemente eingehen, desto weniger wird der Mensch im
Stande sein, sie zur kritischen Verarbeitung seines jeweiligen Be-
wusstseinsinhaltes zu benutzen, und desto willenloser wird er den
wahnhaften Erfindungen seiner geschäftigen Phantasie sich hingeben,
bis schliesslich auch die ungeheuerlichsten Ideen in dem an-
gesammelten Erfahrungsschatze keinen Widerspruch mehr wachrufen.
Es bedarf kaum noch der Ausführung, dass nach der hier ver-
tretenen Anschauung über die Entstehung der Wahnideen von einer
strengeren anatomischen Localisiruug dieser letzteren im Gehirn
nicht nur heute, sondern principiell nicht die Eede sein kann. Die
Wahnidee an sich ist zunächst eine Phantasievorstellung, wie jede
andere, wie etwa die Traimivorstellungen auch, bei denen wir ja
Störungen dos Selbstbewiisstseins.
119
ebenfalls gewisse stereotype Gestaltungen beobachten. Ihre besondere
Stellung im Seelealeben des Kranken aber und ihre eigenartige Aus-
bilduüg erhält sie durch das augenblickliche oder dauernde Ver-
halten der gesatninteii psychischen Persönlichkeit. Sie ist also nicht
sowol die Wirkung eines umschriebenen Krankheitsvorganges, als viel-
mehr das Zeichen einer allgemeinen Beeinträchtigung der gesammten
Hirnleistung. Man hat allerdings versucht, jeder einzelnen Vor-
stellung eine besondere Rindenzelle als Sitz anzuweisen, sodass etwa
die Aufnahmefähigkeit des Hirns einfach durch di e Zahl eben jener
Zellen bestimmt würde, und man könnte von diesem Standpunkte
aus immerhin die Erkrankung gewisser Ganglienzellengruppen oder
Fasersysteme für das Auftreten von Wahnideen verantwortlich
machen. Allein jene Hypothese ist im Hinblicke auf psychologische
und klinische Thatsachen ebenso unhaltbar, wie etwa die An-
schauung, dass die Zahl der möglichen optischen Bilder von der
Menge der empfindenden Elemente in unserer Netzhaut abhängig
sei. Zudem sehen wir thatsächlich auch Wahnideen regelmässig
nicht bei corticalen Herderkrankungen, sondern vielmehr bei solchen
allgemeinen Störungen (Vergiftungen, Affecte, angeborene Schwäche-
zustände) auftreten, welche die Verrichtungen der ganzen Hirnrinde
in Mitleidenschaft ziehen.
StörmigeE des Selbstbewusstseins. Als Selbstbewusstsein be-
zeichnen wir die Summe aller jener Vorstellungen, aus denen sich für
uns das Bild unserer körperlichen und geistigen Persönlichkeit zu-
sammensetzt. Diese Vorstellungsgruppe bildet den dauernden Hinter-
grund unseres Seelenlebens und übt daher auf den Ablauf unserer
gesammtenpsychischen Vorgänge einen massgebenden Einfluss aus. Ihr
Inhalt wie ihr Umfang wird wesentlich durch die Lebenserfalirungen
des Einzelnen bestimmt. Es ist daher erklärlich, dass alle Um-
stände, welche jene letzteren in krankhafter Weise beeinflussen, die
Auffassung der eigenen Persönlichkeit und ihres Verhältnisses zur
Aussen weit in Mitleidenschaft ziehen müssen. Verfälschungen des
Selbstbewusstseins ,sind denn auch überaus häufige Störungen,
deren wichtigste Formen wir bei der Besprechung der Wahnideen
bereits gestreift haben.
Regelmässig wächst in der Krankheit die Bedeutung der
eigenen Person im Verhältnisse zur Umgebung, sei es in expan-
sivem oder depressivem Sinne. Wie jeder körperliche Krank-
120
II. Allgemeine Symptomatologie.
heitsprocess die Aufmerksamkeit des Patienten auf seine eigenen
Zustände lenkt, und alle sonstigen Interessen dahinter mehr oder
weniger zurücktreten, so begünstigen auch psychische Störungen
ganz allgemein die natürliche Neigung des Menschen, seiner Person
eine ganz besondere Wichtigkeit beizulegen. Namentlich bei traurigen
und ängstlichen Verstimmungen tritt das krankhafte Bestreben, alle
Ereignisse und Einrichtungen in der Umgebung in Beziehungen
zum eigenen Ich zu setzen, meist sehr deutlich hervor. Geradezu
typisch ist ferner diese Yerfälschung des Selbstbewusstseins in jener
schweren Form psychischer Erkrankung, deren wesentlichstes Symptom
eben eine chronische Umgestaltung der gesammten "Weltanschauung
bildet, in der Paranoia. Durch die krankhafte Combination wird hier das
Yerhältniss der eigenen Person zur Aussenwelt allmählich vollständig
„verrückt", so dass schliesslich das Denken und Handeln des Kranken
für den Unbefangenen ganz unverständlich wird, während der Ein-
geweihte von dem pathologisch veränderten Standpunkte aus den
inneren Zusammenhang des verfälschten Selbstbewusstseins vielleicht
noch zu erkennen vermag.
Bei weit vorgeschrittener psychischer Schwäche geräth schliess-
lich auch das Selbstbewusstsein in Yerfall, freihch meist ziemlich
spät. Es giebt Kranke, namentlich Epileptiker, deren Yorstellungs-
schatz schon eine hochgradige Yerarmung aufweist, die sich in
irgendwie verwickelten Yerhältnissen gar nicht mehr zurechtfinden,
aber dennoch über ein wohl erhalten es Selbstbewusstsein verfügen,
über ihre eigenen Zustände Kechenschaft geben können und ihre
spärlichen Gedanken in vollkommener Ordnung erhalten. Wie es
scheint, pflegen namentlich die secundären Schwächezustände, die
Ausgangsstadien schwerer acuter und subacuter Psychosen, am
häufigsten zu einer Zertrümmerung des Selbstbewusstseins zu
führen, ähnlich wie wir den Yorgang sich in der Paralyse mit be-
sonderer Schnelligkeit vollziehen sehen. Hier sind es dann schliess-
lich oft nur noch kümmerliche, zusammenhangslose Beste fi-üherer
normaler und krankhafter Ideen, welche, meist in ziemlich stereotyper
Weise, einander ablösen, ohne dem Kranken mehr ein deutliches
Bewusstsein seiner Umgebung und seiner eigenen Persönlichkeit zu
vermitteln.
Störungen in der Stärke der Gefühle.
121
C. Störungen des Gefühlslebens.
Jeder Sinneseindruck, der seinem Inhalte nach in nähere Be-
ziehungen zum "Wohl und Wehe des Menschen tritt, markirt sich
im Bewusstsein desselben durch ein begleitendes Gefühl der Lust
oder der Unlust, je nachdem er die allgemeinen^ Lebenszwecke zu
fördern oder zu hemmen geeignet erscheint. Die Gefühle können
somit gewissermassen als die subjective Eeaction des Ich an-
gesehen werden, in welcher dasselbe zu den 'Wahrnehmungen der
Aussenwelt Stellung nimmt. Unter pathologischen Yerhältnissen,
welche eine Yeränderung des psychischen Individuums hervorbringen,
ist es daher sehr häufig gerade diese subjective Gefühlsreaction, das
„Gemüthsleben" der Kranken, welches zunächst die auffallendsten
Störungen darbietet. Die Beurtheilung dieser Symptomengruppe
stösst jedoch deswegen auf gewisse eigenthümliche Schwierigkeiten,
weil uns hier weit w,eniger, als auf dem Gebiete des Verstandes,
eine feststehende Norm gegeben ist, mit Hülfe derer wir die
graduellen Abweichungen vom gesunden Yerhalten sicher bestimmen
könnten. Yerfälschungen der Sinneserfahrung, Yerstösse gegen die
•Grundsätze des logischen Denkens werden auch vom Laien ohne
Weiteres als abnorme Erscheinungen erkannt; die Lebhaftigkeit der
Gefühlsäusserungen zeigt aber schon bei Gesunden unter ver-
schiedenen Yerhältnissen so weite individuelle Schwankungen, dass
die Abgrenzung des Pathologischen gerade auf diesem Gebiete häufig
recht schwierig wird. Der Laie (in forensischen Fällen der Eichter)
ist stets weit eher geneigt, intellectuelle Defecte, besonders Wahn-
ideen, für krankhaft zu halten, als die eingreifendsten Störungen im
Gemüthsleben.
Störungen in der Stärke der Gefühle. Die einfachste und auch
wol häufigste Abnormität im Bereiche der Gefühle ist die Herab-
setzung ihrer Intensität. Während sich im Gemüthe des Ge-
sunden der innere Antheil, den er an seinen vielfachen Beziehungen
zur Umgebung nimmt, in beständigen, leiseren oder stärkeren
Schwankungen des Stimmungshintergrundes widerspiegelt, bedeutet
die Abnahme dieser Gefühlsbetonung Gleichgiltigkeit und Theil-
nahmlosigkeit gegenüber den Eindrücken der Aussenwelt, die bis-
weilen verstandesmässig aufgefasst und auch verarbeitet werden, ohne
irgend welche Regungen im Innern des Kranken wachzurufen. In den
■^22 n. Allgemeine Symptomatologie.
höchsten Graden dieser Störung, in denen völlige Stumpfheit be-
steht wie bei gewissen tiefen Blödsinnszuständen, ist allerdings regel-
mässig auch die sonstige psychische Thätigkeit auf ein sehr geriuges
Mass herabgesetzt.
Weit interessanter aber und klinisch wichtiger, als derartige
Formen des geistigen Bankerotts sind diejenigen Zustände, in denen
vorzugsweise nur gewisse Seiten des Gefühlslebens von der Stör-
ung betroffen sind. Am leichtesten gehen dem Kranken natürlich
verloren, resp. bleiben unausgebildet solche Gefühle, welche nicht
unmittelbar an die Yeränderungen des eigenen Ich anknüpfen,
sondern sich auf die Yerhältnisse der Aussen weit beziehen, und
ferner diejenigen, welche den Charakter des Sinnlichen verloren
haben und als Begleiter gewisser abstracter Ideen und Grundsätze
nur auf der Basis einer höheren geistigen Entwickelung in Wii'ksam-
keit treten. Mit anderen Worten: das Interesse des Ki-anken zieht
sich hier wesentlich auf die Zustände der eigenen Person zurück,
wird ein ausschliessüch egoistisches, und er verliert die Freude
an den edleren geistigen und ästhetischen Genüssen, das Gefühl für
die höheren Arforderungen des Anstandes, der Sittlichkeit, der
Keligion. Ein derartiger Defect ist vor Allem die regelmässige Be-
gleiterscheinung der verschiedenen Formen des angeborenen und
erworbenen Schwachsinns. Wie der Ideenkreis sich hier auf
das Einfachste, Nächstliegende und persönlich Wichtigste beschränkt,
so behalten auch die Gefühle ihren elementaren, sinnlichen Charakter
und erstrecken sich nur auf jene Eindrücke, die in dem unmittel-
barsten und einleuchtendsten Zusammenhange mit dem eignen Wohl
und Wehe stehen. Fremdem Schicksale steht das Herz des Kranken kalt
und gleichgiltig gegenüber, und die idealeren Bestrebungen ver-
mögen weder Verständniss noch Theilnahme in seinem Innern an-
zuregen. Es fallen also für ihn alle jene Motive und Hemmungen
fort, welche dem Gesunden aus der Rücksicht auf seine Umgebung
entspringen. Theilnahmlosigkeit des Kranken gegenüber seinen natür-
lichen Beziehungen, der Yerlust des Schamgefühles, des Tactes sind
daher wichtige Anzeichen einer beginnenden Entartung auf dem Ge-
biete des Gemüthslebens. Namentlich bei den angeborenen Schwäche-
zuständen verträgt sich damit ganz gut sogar eine gewisse Findig-
keit in der Verfolgung des sinnlichen Genusses, eine handwerks-
mässige Gewandtheit in der Wahrung egoistischer Interessen, durch
I
Störungen in der Stärke der Gefühle.
123
welche sich die Umgebung häufig über die geistige und geniüth-
liche Unfcähigkeit des Kranken hinwegtäuschen lässt.
Ein höchst bedeutsamer Unterschied zwischen den niederen,
sinnKchen und den höheren, abstracten (logischen, ethischen, ästhe-
tischen, religiösen) Gefühlen wird durch den Umstand bezeichnet,
dass die ersteren wol eine weit grössere augenblickliche Stärke, aber
eine ungleich geringere Eeproductionsf ähigkeit besitzen, als die
letzteren. Ein sinnlicher Grenuss oder Schmerz kann uns für kurze
Zeit in sehr lebhafte Erregung versetzen, aber er blasst in der Er-
innerung rasch ab, während z. B. die leiseren, aber andauernden
ethischen Gefühle unser Denken und Handeln durch das ganze Leben
hindurch fast unausgesetzt begleiten und bestimmen, wo sie iiicht
durch leidenschaftliche Gemüthsschwankungen übertönt werden. Ge-
rade die höheren Gefühle sind es, welche unserem Stimmungshinter-
grunde jene gleichförmige Ruhe, unserer psychischen Persönlichkeit
jene Festigkeit und innere Harmonie zu gewähren vermögen, die
man mit Recht als die Eigenschaften eines gesunden, normal ent-
wickelten Mannes betrachtet.
Auch nach dieser Richtung hin wird sich daher die mangel-
hafte Ausbildung der höheren Gefühle und das Yorherrschen grober
Eigenliebe in dem Krankheitsbüde des Schwachsinnes geltend machen
müssen. "Wo nicht eine hochgradige Stumpfheit alle Gefühlsregungen
überhaupt begräbt, sehen wir in der Ungleichförmigkeit der Stimm-
ung und ihrer Abhängigkeit von äusseren Zufälligkeiten, in der ge-
legentlichen Heftigkeit der sinnlichen Lust- und Unlustausbrüche,
in dem raschen Abklingen und der geringen Nachhaltigkeit solcher
Aufwallungen den Mangel der constanten, höheren Gefühle zum
Ausdrucke gelangen. Schon in der Gesundheitsbreite sind Menschen,
welche Andeutungen dieses Verhaltens erkennen lassen, sehr häufig,
jene phlegmatischen, kalten, egoistischen Naturen, die durch keine
Gemüthsbewegung aus ihrer Ruhe aufgerüttelt werden, oder die
wenigstens fremden Gefühlen theilnahmlos gegenüberstehen. Anderer-
seits ist das stärkere Hervortreten der Eigenliebe und der Sinnlich-
keit (Geiz, Schlemmerei) eine häufige Begleiterscheinung des höheren
Lebensalters. Aus ihr, wie aus der gleichzeitigen Abnahme in der
Lebhaftigkeit der Gefühle überhaupt, erklärt sich einerseits die
grössere Stumpfheit und Ruhe, andererseits die Launenhaftigkeit
und gelegentliche Heftigkeit des Greises, Eigenschaften, die trotz
■^24, II. Allgemeine Symptomatologie.
«
ihrer scheinbaren Yerschiedenheit dennoch in den gleichen all-
gemeinen psychischen Veränderungen ihre Wurzel haben.
In den schwersten Formen der gemüthlichen Entartung können
auch gewisse einfache Lust- und Unlustgefühle schwinden, besonders
solche, die einen mehr ästhetischen Charakter haben. Dahin gehören
vor Allem das Gefühl für Eeinlichkeit and die Ekelgefühle.
Allerdings sind dieselben schon unter normalen Yerhältnissen bei
verschiedenen Menschen sehr verschieden ausgebildet; dennoch aber
deutet der gänzliche Yerlust derselben, wie er sich in dem rück-
sichtslosen Herumschmieren und Yerzehren der ekelhaftesten Dinge
(sogar der eigenen Ausleerungen) kundgiebt, stets auf tiefgreifende
Störungen des Seelenlebens hin. Sehr gewöhnlich beobachtet man
gleichzeitig auch eine psychisch bedingte, auffallende TJnempfindlich-
keit gegen sinnlichen Schmerz, gleichmüthiges Ertragen schwerer
Yerletzungen und dergl. Aehnliche Erscheinungen können vor-
übergehend durch starke Affecte hervorgerufen werden, welche alle
anderen Gefühlsregungen unterdrücken. Auch unter normalen Yer-
hältnissen vermögen ja heftige Aufregungszustände uns gegen körper-
liche Unlust, wie gegen ästhetische und ethische Eücksichten für
einige Zeit unempfindlich zu machen.
In der Eegel kommt die Abstumpfung der normalen Gefühls-
reactionen, selbst wenn sie nicht angeboren, sondern erworben ist,
dem Kranken gar nicht zum Bewusstsein; er merkt es nicht, dass
er gleicbgiltiger und theiln ahmloser geworden ist, weil ihm eben
auch Neigung und Fähigkeit zur Beachtung der feineren gemüth-
lichen Eegungen in seinem Inneren gänzlich verloren gegangen sind.
Eine Ausnahme von diesem Yerhalten tritt uns häufig in den ein-
fachen Formen der Melancholie entgegen. Hier beklagen sich die
Kranken auf das Lebhafteste darüber, dass es ihnen so öde und leer
in der Brust sei, dass sie ihren eigenen psychischen Yorgängen
wie ganz unbetheiligte Zuschauer gegenüberständen, und dass [die
Berührung ihrer sonst heiligsten Interessen ihnen jetzt weder Freude
noch Schmerz zu bereiten im Stande sei. Gerade diese Unempfind-
lichkeit wird dann als eine äusserst qualvolle Yeränderung des
eigenen Innern empfunden. Ob dabei wirklich die Yerstimmung
erst nachträglich aus der peinlichen Wahrnehmung der Gefühls-
abstumpfung ihren Ursprung nimmt, oder ob vielmehr die Abschwäch-
ung der Gefühle durch einen krankhaften melancholischen Affect be-
Störungen in der Stärke der Gefühle.
125
dingt wird, äliulicli wie der Gesunde unter dem Einflüsse einer ge-
müthlichen Depression „den Sinn" für seine sonstigen Interessen
yerliert, muss zunächst zweifelhaft bleiben.
Das Gegenstück zu den bisher besprochenen Störungen bietet
die Steigerung der gemüthlichen Erregbarkeit dar. Dieselbe
kann entweder eine theilweise, auf einzelne Gebiete des Gefühls-
lebens beschränkte, oder eine allgemeine sein. Im ersteren Falle
spielt sich die Störung regelmässig im Bereiche der grob egoistischen
Kegungen ab und verknüpft sich demgemäss gewöhnlich mit einer
Abstumpfung der höheren Interessen. Namentlich eine krankhafte
Zornmüthigkeit (iracundia morbosa) mit heftigen, explosiven Aus-
brüchen bis zum völligen Verluste der Besonnenheit begegnet uns
häufiger bei degenerirten Individuen, Schwachsinnigen, Idioten,
Hysterischen, bisweilen auch ohne greifbare intellectuelle Störung.
Ein weiteres charakteristisches Beispiel bietet uns die Keizbarkeit der
Epileptiker mit ihren rücksichtslos gewaltthätigen Keactionen gegen
jede wirkliche oder vermeintliche Beeinträchtigung ihrer persönlichen
Rechte. So sehen wir auch im Leben gerade bei anscheinend torpiden
Naturen bisweilen den unvermutheten Ausbruch brutaler Leiden-
schaften, wenn durch einen Zufall gerade der empfindliche Punkt
bei ihnen getroffen wurde.
Wo die Steigerung in der Gefühlsbetonung sich auf jeden neuen
Eindruck und auf den ganzen Yorstellungsv erlauf erstreckt, da ist
das innere Gleichgewicht natürlich dauernd ein äusserst schwanken-
des, der Stimmungshintergrund in beständiger Bewegung begriffen;
ein kleiner Anlass genügt, um die Gefühle der Lust und Unlust in
massloser Heftigkeit wachzurufen. Eine derartige Yeränderung hat
mit Noth wendigkeit raschen Wechsel der Affecte, Schwanken der-
selben von einem Extrem in das andere zur Folge, weil ja gerade
die Erhöhung der Erregbarkeit eine Abhängigkeit der Stimmung
von jedem zufälligen Eindrucke bedingt, der in das Bewusstsein
des Individuums eintritt. Wie der Vorstellungsverlauf des Tob-
süchtigen oder Deürirenden haltlos von einem Gegenstande auf den
andern überspringt, so wird auch die Gemüthslage nicht durch die
Summe der früheren Lebenserfahrung bestimmt und gleichmässig
erhalten, sondern der Augenblick mit seinen wechselnden Eindrücken
lässt die Stimmung in bunter Folge die verschiedensten Töne der
Gefühlsscala durchlaufen. Häufig ist dabei allerdings eine bestimmte
126
II. Allgeineine Symptomatologie.
Richtung der Affecte Yorherrsohend, aber dieselbe wird leicht und
rasch durch entgegengesetzte Einflüsse abgelenkt, um dann ebenso
unvermittelt wieder mit der früheren Stärke hervorzubrechen. Ganz
ähnliche^ Erfahrungen pflegt man in den ersten Stadien der progressiven
Paralyse zu machen.
Leichtere Formen dieser Störung kommen bei Geisteskranken
überaus häufig zur Beobachtung, insbesondere bei gewissen Formen
des angeborenen Schwachsinns und bei Hysterischen, auch in der
Eeconvalescenz nach Erschöpfungszuständen. Sie kennzeichnen sich
durch häufigen unmotivirten "Wechsel der Stimmung, Launenhaftig-
keit, heftige Gefühlsreactionen auf geringe Anlässe, Neigung zur
Schwärmerei und zum Pessimismus. Als normales Beispiel derselben
kann in gewissem Sinne das Verhalten des weiblichen und kind-
lichen Gemüthslebens gelten, wie es sich ja im Allgemeinen durch
eine grosse Stärke der Gefühlswallungen einerseits, dm^ch Vergäng-
lichkeit und rasches Vergessen derselben andererseits charakterisirt.
Jäher Wechsel der Stimmungen ohne besondere Veranlassung ist
endlich eine auch in der gesunden Erfahrung bisweilen beobachtete
Erscheinung. Sie tritt besonders dann hervor, wenn die gemüthliche
Erregbarkeit gesteigert ist (z. B. durch Alkoholgenuss) und der
herrschende AfFect eine gewisse excessive Lebhaftigkeit erreicht hat
(ausgelassenste Heiterkeit, Verzweiflung; Galgenhumor).
Qualitative Gefühlsstörimgeii. Einen wesentlich anderen Charakter,
als die bisher besprochenen Erscheinungen, besitzen diejenigen Stör-
ungen des Gemüthslebens, in denen es sich nicht um eine Ver-
änderung in der Ausgiebigkeit der Gefühlsreactionen, sondern um
qualitative Abweichungen derselben handelt. Trotz vieler
individueller Unterschiede im Einzelnen pflegt doch die Art der
Gefühlsbetonung, welche wir den äusseren Eindrücken entgegen-
bringen, innerhalb der Gesundheitsbreite eine derartige allgemeine
TJebereinstimmung darzubieten, dass die krankhafte Natur qualitativer
Abweichungen fast immer leichter erkannt wird, als diejenige einer
mangelnden oder gesteigerten gemüthlichen Erregbarkeit. Auch
diese Störung kann entweder das ganze Gebiet des Gemüthslebens
umfassen, oder sie kann auf einzelne Theile desselben beschränkt
sein; sie kann ferner nach verschiedenen Eichtungen ausgebildet sein,
je nachdem es die Gefühle der Unlust oder diejenigen der Lust sind,
in denen sich die abnorme Eeactionsweise bewegt.
/
Qualitative Gefühlsstönirgen.
127
Als typische Erscheiniiiigsform der allgemeinen Gefühlsumwandel-
ung können wir jenes Symptom betrachten, welches man wol als
psychische Hyperalgesie (gesteigerte Schmerzempfindlichkeit) be-
zeichnet hat. Jeder beliebige äussere Eindruck, ja der Yorstellimgs-
verlauf selbst, erzengt hier immer von Neuem das Gefühl der Un-
lust, des Schmerzes. Der Kranke ist unfcähig, sich über irgend etwas
zu freuen; auch die normale Freude am Dasein selbst wandelt sich
in das Gefühl des schmerzlichen Lebensüberdrusses um. Gerade
diejenigen Beziehungen, die ihn früher am nächsten berührten,
werden jetzt für ihn eine Quelle beständiger trüber Gemtiths-
verstimmung, weil an diesem Punkte die gesteigerte Empfindlich-
keit besonders leicht und häufig Erschütterungen des inneren Gleich-
gewichts herbeiführt. Wie den Bekümmerten der Anblick heiteren.
Lebens sein Leid nur noch tiefer empfinden lässt, so erweckt auch
liier — nur in noch ausgedehnterem Masse — selbst freudiger An-
lass durch eine Art Contrastwirkung immer nur schmerzliche Ge-
fühle. Dort aber ist die gemüthliche Yerstimmung durch er-
fahrenes Leid begründet; hier ist sie eine ursprüngliche elementare
Störung des Gefühlslebens. Dort ist sie eine mehr oder weniger
rasch vorübergehende Schwankung, die durch ein frohes Ereigniss
leicht beseitigt wird; hier ist sie zum dauernden Zustande geworden,
der nicht durch äusseres Glück verändert werden kann, sondern ge-
rade durch die abnorme Gefühlsreaction die Aufi'assung desselben
im Sinne der Unlust umwandelt. Eegelmässig gewinnt die psychische
Hyperalgesie eine entscheidende Einwirkung auf die Kichtung des
Yorstellungsverlaufes, aus dem sie dann ihrerseits wieder neue
Nahrung zieht. In sehr ausgeprägter Form beobachten wir diese
Störung bisweilen in der Eeconvalescenz nach schweren Depressions-
zuständen, wenn die übrigen Krankheitserscheinungen, namentlich
die psychische Erregung, bereits verschwunden sind. Die Kranken
werden ungemein verdriesslich, missmuthig, mit Allem unzufrieden,
zerfallen mit sich und ihrer Umgebung, ärgern sich über jede
Kleinigkeit und queruliren, oft gegen ihre bessere Einsicht, in der
unerträglichsten Weise, bis dann allmählich die gesteigerte Unlust-
reaction sich ebenfalls verliert.
In nicht seltenen Fällen erhebt sich das Gefühl des psychischen
Schmerzes zu dem Affecte der Angst. Zweifellos ist die Angst
Geisteskranker an und für sich häufig genug durchaus nicht als ein
128
II. Aligemeine Symptomatologie.
krankhaftes Symptom zu betrachten, dort nämlich, wo dieselbe durch
Sinnestäuschungen, Wahnideen und dergl. vollständig begründet er-
scheint. Man würde es im Gegentheil für pathologisch halten
müssen, wenn ein Kranker etwa in der Erwartung seiner sofortigen
Hinrichtung keinerlei gemüthliche Erregung rerrathen würde Es
giebt indessen auch Angstzustände, die nicht in dieser Weise durch
Vorstellungen begründet sind, sondern sich ganz unvermittelt hervor-
drängen. Meist überfällt die Angst den Kranken in einzelnen An-
fällen, oder sie zeigt doch zeitweise deutliche Yerschlimmerungen,
ganz besonders in der Nacht. In der Melancholie, selbst in den
leichtesten Eormen derselben, sind unbestimmte Beängstigungen eine
überaus häufige Erscheinung; die Kranken können sich des quälenden
Gefühls nicht erwehren, trotzdem sie klar einsehen, wie völlig grund-
los dasselbe ist. Fast regelmässig geht die Angst hier mit der
Empfindung von Druck und Beklemmung in der Herzgegend ein-
her (Präcordialangst) ; weit seltener wird ihr Sitz in den Kopf hin-
ein verlegt. Ob jene Beklemmung wirklich als die Ursache der
Beängstigung oder nur als Begleiterscheinung derselben anzusehen
ist, lässt sich schwer entscheiden. IJebrigens wissen wir ja, dass die
Angst schon unter normalen Verhältnissen, das gesammte Nerven-
system in lebhafte Mitleidenschaft versetzt; ihre Wirkung auf die
Herzthätigkeit (Herzklopfen), auf die Gefässnerven (Blasswerden), die
Athmung, die willkürlichen Muskeln (Zittern, Schlottern), endlich
die Schweiss-, Harn- und Darmsecretion sind genugsam bekannt.
In manchen Fällen bildet der Spannungszustand der Angst
dauernd den allgemeinen Hintergrund der Stimmung und bringt
entweder Unruhe und Aufregung mit Entladung in den bekannten
Ausdrucksbewegungen oder aber eine durchgreifende Hemmung
aller willkürlichen Bewegungen zu Stande, so dass die Kranken
regungslos und starr in der einmal eingenommenen Lage verharren.
Jede äussere Einwirkung pflegt hier die Angst zu vermehren und
einen rasch anwachsenden passiven Widerstand hervorzurufen,
namentlich jeder Versuch, eine Lageveränderung mit dem Kranken
vorzunehmen, oder ihn zu irgend einer Handlung zu veranlassen.
Derartige allgemeine Angstzustände werden am häufigsten bei gewissen
Formen der Melancholie und des Wahnsinns, auch in der Paralyse
beobachtet, ferner bei der Lyssa und bei manchen körperlichen, mit
Kreislaufsstörungen oder Athemnoth verbundenen Krankheiten.
Qualitative Gefühlsstörungan.
129
Wo die Angst sehr leicht und häufig, auf ganz geringfügige
Veranlassungen hin auftritt, entsteht der Zustand der Aengstlich-
keit, das dauernde Gefühl der Hülflosigkeit gegenüber einer drohen-
den Gefahr. Auf ihm beruht die KleinmütMgkeit und Verzagtheit
In so vielen, namentlich senilen und constitutionellen Depressions-
zuständen. Das sind die Kranken, die jedem kommenden Ereignisse
mit banger Furcht entgegensehen, stets die schlimmsten Möglich-
keiten in's Auge fassen und in ihren pessimistischen Erwartungen
das Vertrauen auf die Zukunft, wie auf die eigene Persönlichkeit
verloren haben. Man sieht leicht, dass diese Störung in allmählichen
Abstufungen unmerklich in die Breite des Normalen zu jenen ängst-
lichen Gemüthern hinüberleitet, denen jede freie Regung der Lust,
jeder Augenblick des Genusses durch die Besorgniss möglichen Un-
heils verkümmert wird.
Bisweilen beherrscht indessen die Angst nicht in der angedeute-
ten Weise fortdauernd die Gemüthsstimmung, sondern sie wird nur
durch gewisse Einflüsse wachgerufen, die den Gesunden im All-
gemeinen vollkommen gleichgiltig lassen. Hierher gehören die so-
genannten Idiosynkrasien, die man bei neuropathischen Individuen
beobachtet, Angstanfälle, welche, meist ohne klare Motivirung,
beim Anblicke bestimmter Dinge, kleiner Thiere, stechender oder
schneidender Instrumente (Messer, Nadeln), beim Hineinsehen
in den Spiegel und dergl. auftreten. Oder aber die Angst knüpft
sich an gewisse Zwangsvorstellungen an, wie bei dem von
Legrand du Saulle beschriebenen „Dölire du toucher". Die
Kranken sind hier von der Idee gequält, dass ihre Kleider ihnen
nicht richtig sitzen, dass sie sich beim Anfassen von Gegenständen
beschmutzen oder vergiften, dass sie Nadeln oder Glasscherben mit
herunterschlucken könnten, dass sie in einem beliebigen Fetzen
Papier etwa ein werthvolles Document vernichten könnten oder
Aehnliches. Demgemäss pflegt der Affect jedesmal beim Ankleiden,
bei der Nothwendigkeit einer Berührung, beim Trinken, Essen, Ver-
nichten von Papier u. s. w. hervorzutreten. Eine besondere Form
dieser nur zeitweise entstehenden Angst ist endlich die Agoraphobie
die durch heftige, bis zur Ohnmacht sich steigernde Angstgefühle
bedingte Unmöglichkeit, über einen weiten Platz, durch eine lange
menschenleere Strasse olme Begleitung zu gehen. Einige andere
ähnliche Zustände werden später noch nähere Berücksichtigung finden.
Kraopelln, Psychiatrie. 4. Anfl. 9
130
II. Allgemeine Symptomatologie.
Ebenfalls in dieses Gebiet gehören jene abnorm entwickelten
Unlustaffecte, welche wir nicht selten bei Neuropathischen auftreten
sehen, sobald sie irgendwie in Beziehung zu anderen Menschen treten
sollen. Schon aus dem täglichen Leben ist uns die Hemmung bekannt,
welche die Befangenheit auf unser Denken und Handeln ausübt, und es
giebt zahlreiche Gesunde, die in Gegenwart Anderer nicht uriniren oder
keinen Brief schreiben können. Bei krankhafter Veranlagung können
diese Hemmungen eine gewaltige Ausdehnung gewinnen und die geistige
Freiheit in der empfindlichsten "Weise beeinträchtigen. Um sich
gegen die beständigen Einengungen durch zwanesmässige Unlust-
affecte einigermassen zu schützen, umgeben sich die Eranken nicht
selten mit einem System bizarrer Vorsichtsmassregeln, welche der
äusseren Einwirkung ebenso wenig Spielraum lassen, wie der
eigenen freien Entschliessung.
Der andauernden oder gelegenthchen Unlustbetonung gleich-
giltiger Reize stehen die Anomalien der Lustgefühle gegenüber.
Unmotivirte krankhafte Gehobenheit der Stimmung (Euphorie) ist
am häufigsten in der progressiven Paralyse und in der Manie. Wie
es scheint, ist es namentlich die ausserordentliche Leichtigkeit, mit
welcher hier die Umsetzung der Vorstellungen in Handlungen von
Statten geht, welche so lebhafte Lustgefühle erzeugt, dass der Kranke
sich glücklicher und gesünder fühlt, als je in seinem Leben. Ganz
dieselbe Störung liegt wahrscheinlich der „Seligkeit^ des Alkohol-
rausches zu Grunde. Anders dürfte es sich dagegen mit jenen
eigenthümlichen, als Ekstase bezeichneten Verzückungszuständen
verhalten, die wir . in manchen Eormen des Wahnsinns und der Ver-
rücktheit beobachten. Eier sind die motorischen Aeusserungen ge-
j hemmt; es fehlt vollständig die Thatenlust, das Gefühl der „Ge-
hobenheit", der Erleichterung der Bewegungen. Statt dessen ist die
Phantasie in lebhafter Thätigkeit; herrliche Visionen wechseln ein-
ander ab, und das Bewusstsein des Kranken ist von einem Gefühle
stiller, seliger Wonne und tiefster Befriedigung erfüllt, das ihn weit
über alle Noth des Daseins erhebt und häufig in religiösem Sinne
verarbeitet wird. Die Bewusstseinsstörungen des Haschisch- und
Opiumrausches, sowie manche Träume sind als verwandte Zu-
stände zu betrachten. Jener krankhaften Lustgefühle, welche die
Perversitäten des Geschlechtsti'iebes begleiten, werden wir später zu
gedenken haben.
Herabsetzung der Willensimpiilse.
131
Zu beachten bleibt, dass bisweilen Wandlungen im Gemüths-
leben, namentlich Abneigung und Hass gegen fi-üher geliebte Personen
und so manche sonderbare Sympathien Geisteskranker nicht auf
eine ursprüngliche Gefühlsstörung zu beziehen, sou dem durch krank-
hafte Yorstellungen, und zwar bisweilen sehr verständlich, begründet
sind. Besonders bei Yerrückten beruht die gemüthliche Yeränder-
ung, abgesehen von der Steigerung oder Abstumpfung der Erregbar-
keit, gewöhnlich auf intellectueller Grundlage.
D. Störungen des Handelns.
Das praktisch wichtige Eesultat aller krankhaften Störungen,
welche das psychische Leben erfährt, ist das Handeln des Kranken.
Die Richtung des Handelns wird im Allgemeinen bestimmt durch
Vorstellungen; die Stärke dagegen, mit welcher die Antriebe im
Bewusstsein hervortreten, ist abhängig von der Intensität der be-
gleitenden Gefühle. Grosse Heftigkeit dieser letzteren bei geringer
Klarheit der Vorstellungen charakterisirt diejenigen Strebungen, die
wir Triebe nennen, während das zielbewusste, planmässige
"Wollen mit Gefühlen von grosser Constanz und Dauer, aber relativ
geringer augenblicklicher Stärke einherzugehen pflegt und zugleich
eine deutliche Vorstellung des beabsichtigten Erfolges und der
Mittel zu seiner Erreichung einschliesst. So kommt es, dass das
Triebleben unter Umständen in einen entschiedenen Gegensatz zu
den Willkürhandlungen treten kann. Beim vollentwickelten, nor-
malen Menschen besteht die Fähigkeit, die natürlichen Triebe durch
den überlegenden Willen bis zu einem gewissen Grade zu be-
herrschen und dieselben nur dann zu befriedigen, wenn keine ander-
weitigen, verstandesmässig aufgefassten Rücksichten ihre Unter-
drückung fordern. Dieses Verhältniss ist in krankhaften Zuständen
nicht selten verändert, so dass wir also bei der Betrachtung der
Störungen, welchen Triebe und Willkürhandlungen unterworfen sind,
überall auf die gegenseitigen Beziehungen dieser beiden Grundlagen
unseres Handelns Rücksicht zu nehmen haben werden.
Herabsetzung der Willensimpnlse. Einfache Herabsetzung aller
Impulse findet sich in den schwersten Formen des angeborenen und
erworbenen Blödsinns. Regelmässig sind hier auch der Vorstellungs-
9*
132
II. Allgemeine Symptomatologie.
verlauf verlangsamt und träge, die Gefühlsschwankungen einförmig
und von geringer Stärke. Höchstens die vegetativen Triebe der
Nahrungsaufnahme vermögen noch vorübergehend einen Anstoss zu
einfachen Bewegungen zu geben, während im Uebrigen auf dem
Gebiete des Begehrens und Strebens völlige Ruhe herrscht. In den
höchsten Graden der Störung kann auch das Bedürfniss nach Nahr-
ung gänzlich fehlen (Anorexie), so dass sich die Lebensäusseruugen
des Individuums schliesslich nur auf die Fortdauer der automatischen
und einzelner reflectorischer Bewegungen beschränken.
Wenn im Allgemeinen diejenigen Triebe, welche der Selbst-
erhaltang dienen, am längsten noch mit einer gewissen Stärke Hand-
lungen auszulösen pflegen, so können doch in manchen Fällen ge-
rade einzelne dieser Triebe stark herabgesetzt oder erloschen sein,
wo im Uebrigen noch eine beträchtliche Lebhaftigkeit des Strebens
besteht. So wird häufig Mangel des Nahrungsbedürfnisses beobachtet,
trotzdem sogar geordnete Willkürhandlungen ausgeführt werden.
Am häufigsten ist dabei allerdings diese Störung durch mehr oder
weniger klare Vorstellungen begründet und als eine krankhafte
Unterdrückung des wol vorhandenen Triebes aufzufassen; hie und
da liegen demselben auch Erkrankungen der Yerdauungsorgane
zu Grunde, welche die Entstehung des Hungergefühles ver-
hindern.
Einen ganz anderen Charakter tragen diejenigen Fälle, in denen
vorzugsweise nur der Einfluss des zweckbewussten "Willens
auf das Handeln eine mehr oder weniger beträchtliche Abschwäch-
ung erkennen lässt. Man bezeichnet diese Stöning mit dem Namen
der Abulie. Die Intelligenz kann hier erhalten sein, und es kann
eine klare Einsicht in die Krankhaftigkeit, sowie ein peinliches Ge-
fühl der Yeränderung bestehen (Depressionszustände). Solche Kranke
erkennen die Nothwendigkeit dieser oder jener Handlung auf das
Klarste, aber sie vermögen dieselbe nicht auszuführen, „weil sie nicht
wollen können", weil ihnen die Möglichkeit eines selbständigen, tiiat-
kräftigen Antriebes fehlt. Bisweilen ist dabei überhaupt die Stärke
der Willenserregungen herabgesetzt; in anderen Fällen aber iet es
eben nur die einheitliche Leitung, welche krankhaft gestört ist,
während ungeordnete, triebartige Ausbrüche (Unruhe, Selbst-
beschädigungsversuche) von grosser augenblicklicher Heftigkeit in
auffallendem Gegensatze zu der von den Kranken selbst immer
Herabsetzung der Willeneimpulse.
133
wieder bejammerten Energielosigkeit die Gewalt der inneren Be-
Avegang deutlich erkennen lassen.
Während hier die Abulie aus einer krankhaften Hemmung der
gesunden Wülensantriebe hervorgeht, ist sie auf dem grossen Ge-
biete des Schwachsinns die Folge mangelhafter Entwickelung eines
zweckbewussten, von bestimmten Grundsätzen geleiteten WiUens
überhaupt. Im Gegensatze zu der peinlich empfundenen, erzwungenen
Unfähigkeit dort, entwickelt sich daher hier eine völlige Abhängig-
keit des Handelns von augenblicklichen Eindrücken und Antrieben.
Wer nicht weiss, was er will, oder wessen Wille zu schwach ist,
um dauernd in gleicher Richtung wirken zu können, dessen Hand-
lungen erscheinen nicht als das Ergebniss eines durch Anlage und
Lebenserfahrung bestimmten, feststehenden Charakters, sondern als
der Ausdruck zufälliger, augenblicklicher Eingebungen und äusserer
Einflüsse. Derartige Kranke sind daher passiv meist leicht lenkbar,
ohne irgend zu widerstreben, wenn nicht etwa Angst oder ein ähn-
licher Affect sie beherrscht; ihr- Treiben ist planlos, ohne Thatkraft,
voUer Halbheiten und Unbegreiflichkeiten. Gute Vorsätze werden
gefasst und Anläufe gemacht, aber es bleibt Alles unvollendet; ein
Augenblick kann die festesten Pläne über den Haufen werfen und
den schwachen Willen ohne Weiteres in ganz andere Bahnen lenken.
Das Beispiel in gutem und bösem Sinne, die äussere Einwirkung
vermag hier zeitweise ausserordentlich viel, aber der Einfluss ist
kein nachhaltiger; er wird eben durch neue Eindrücke immer rasch
wieder verdrängt. Es liegt auf der Hand, dass diese praktisch
ausserordentlich wichtige und leicht verkannte Störung uns ohne
scharfe Grenze in die Breite des Normalen zu den schwachen, halt-
losen Naturen hinüberführt, die stets einer leitenden Hand bedürfen^
wenn sie nicht straucheln sollen, die ihr Leben lang hülflose Einder
bleiben, sobald sie in Yerhältnisse und Kämpfe hineingeworfen
werden, welche Thatkraft und rasche Entschlossenheit erfordern.
Gewissermassen auf der Grenze des Gesunden stehend und viel-
fach unzweifelhaft in das Krankhafte hinüberreichend sind die
dauernden Entartungszustände , welche durch eingewurzelte schäd-
liche Gewohnheiten über den Charakter des Menschen herauf-
beschworen werden, häufiger allerdings vielleicht erst den günstigen
Boden abgeben, auf dem jene letzteren sich übermächtig zu ent-
wickeln vermögen. Der Trinker, der Morphinist, der Spieler, der
134
n. Allgemeine Symptomatologie.
Onanist, auch wenn sie gerade keine auffallenden psychischen Krank-
heitssymptome darbieten — sie verlieren sehr bald die Herrschaft
über ihre Leidenschaften; sie werden unfähig zu einheitlichem
Handeln und zur thatkräftigen Ueberwindung schwieriger Lebens-
lagen. Sinken sie doch schliesslich zu willenlosen Sclaven ihrer
triebartigen Begierden herab, die sie trotz besserer Einsicht, selbst
um den Preis ihres Lebensglückes, nicht mehr zu besiegen im Stande
sind. Bei jenen Giften spielt jedenfalls eine unmittelbar toxische
"Wülenslähmung die Hauptrolle, wie sie sich durch Versuche auch
für eine Reihe von anderen Stoffen nachweisen lässt, die ebenfalls
dauernde Charakterentartung erzeugen.
Steigerung der WiUensimpiilse. Eine Steigerung der Willens-
impulse tritt überall dort hervor, wo die Umsetzung psychischer
Erregung in Bewegungen abnorm erleichtert ist. Sobald daher jene
Hemmungen aufhören, zu wirken, welche normaler "Weise zahllose
in uns aufsteigende Antriebe unterdrücken, sind die Bedingungen
für die Entwickelung der allgemeinsten Form dieser Störung, des
Bewegungsdranges, gegeben. Die leichtesten Grade desselben
können wir jederzeit im ersten Stadium des Alkoholrausches beob-
achten. Bei Kranken macht sich derselbe zunächst in einer ge-
wissen Geschäftigkeit und Unstetigkeit, grosser Gesprächigkeit, Neig-
ung zum Renommiren, lebhaften Geberden, im Sammeln und Zu-
sammenkaufen unnützer Dinge, dem Inangriffnehmen zahlreicher
Pläne und Unternehmungen, ohne Durchführung eines einzigen, in
unsinnigen Ausschweifungen, in zwecklosem Herumtreiben und
Eeisen bemerkbar. Bei den schweren Formen kommt es weiterhin
zu beständigem Schreien und Singen, Laufen, Tanzen, zum Entkleiden,
Zerreissen der Kleidungsstücke mit mannigfacher Verwerthung der
Fetzen, Schmieren und Malen mit Koth, Waschen mit Urin, Zer-
stören aller erreichbaren Gegenstände, Trommeln und Klopfen mit
Händen und Füssen. Auch hier tritt auf das Deutlichste jene für
den Verlust des gesunden Willens charakteristische Unbeständigkeit
der einzelnen Antriebe, jener rasche Wechsel in der Richtung des
Handelns hervor, der in eigentümlichem Gegensatze zu der unver-
mittelten Rücksichtslosigkeit steht, welche die Bestrebungen des
Kranken auszeichnet. Von den schwersten Formen dieser Willens-
störung, die vor Allem der Manie und der Paralyse angehören,
^ühren uns leichtere Abstufungen, denen wir im cii-culäi-en und
Zwangshandlungen.
135
periodischen Irresein begegnen, ganz allmählich zn gewissen
schwachen Andentungen bei gesunden Personen hinüber; es sind
das jene zerfahrenen Menschen, die trotz steter Geschäftigkeit
doch nie etwas Brauchbares leisten, die Alles mit Begeisterung
ergreifen und nichts fertig bringen, deren Lebensgeschichte eine
einzige Kette von untiberlegten und übereilten Handlungen dar-
stellt. • , , . ^ . j-
Nach den verschiedenen Richtungen des Begehrens hin püegt die
Steigerung des Trieb lebens hauptsächlich alskrankhaftesNahrungs-
bedürfniss (Bulimie) und als abnorme sexuelle Begierde
(Nymphomanie bei Frauen, Satyriasis bei Männern) aufzutreten. Im
ersteren Falle kann die Grefrässigkeit so weit gehen, dass nicht nur alle
irgendwie durch Gewalt oder List zugänglichen Esswaren vom
Kranken mit Gier verschlungen werden, sondern dass auch gänz-
lich imgeniessbare, ja die ekelerregendsten Dinge (Sand, Steine, See-
gras, Kotb) den Weg in seinen Magen finden, stets ein Zeichen von
sehr hochgradiger Störung im Bereiche des Gefühlslebens und des
"Willens. Die Steigerung des Geschlechtstriebes drückt sich seltener
geradezu in sexuellen Angriffen, meist in obscönen Reden,
Schimpfereien und Beschuldigungen, in mehr oder weniger rück-
sichtsloser Masturbation, bei Weibern auch in schamlosen Entblöss-
ungen, äusserster Unreinlichkeit oder beständigen Waschungen mit
Wasser, Speichel, Urin, Kämmen und Auflösen der Haare aus, in
leichteren Formen durch Putzen und Coquettiren, Wechsel zwischen
herausforderndem und verschämtem oder sentimentalem Wesen,
durch Händedrücken, Briefschreiben, verständnissvolle Blicke u. dgl.
Diese Symptome können in sehr verschiedenartigen Krankheits-
zuständen zur Beobachtung kommen; sie sind in der Regel einfach
Theilerscheinungen psychischer Erregung bei Tobsüchtigen, Paraly-
tischen, Hysterischen, senil Dementen, hier und da vielleicht auch
durch örtliche Reize an den Genitalien hervorgerufen.
Zwangshandlungen. Weniger verständlich, als diese Störungen,
die im Wesentlichen doch nur graduelle Steigerungen normaler
Triebe bedeuten, sind dem gesunden Bewusstsein die vielfachen von
Geisteskranken vollzogenen Handlungen, welche aus krankhaften,
zwangsmässigen Impulsen entspringen und sie nicht selten zur VoU-
briugung von Thaten treiben, gegen die sich ihre Einsicht und ihre
gesunden Gefühle vergebens sträuben. In der überwiegenden Mehr-
136
n. Allgemeine Symptomatologie.
zahl der Talle handelt es sich hier um vorübergehende Störungen.
Dahin gehören die sogenannten „Gelüste" (Picae) der Schwangeren,
denen früher eine grosse Bedeutung beigemessen wurde, plötzliche,
unwiderstehliche Antriebe zu unsinnigen oder gar verbrecherischen
Handlungen, zum Beissen, Stehlen, Genuss bestimmter Speisen oder
selbst ekelhafter Dinge und dergl. Ferner sind hierhin zu rechnen
die namentlich bei psychopathisch veranlagten Personen und im
Verlaufe verschiedener Psychosen bisweilen auftretenden „Zwangs-
handlungen". Die Yorstellung einer Handlung drängt sich hier
mit gebieterischer Gewalt in das Bewusstsein des Kranken, so dass
er trotz heftigen Kämpfens den pathologischen Antrieb nicht zu
unterdrücken vermag.
Einen gewissen Anhaltspunkt für das Verständniss dieser
Zustände giebt uns allenfalls die bekannte Erfahrung aus dem
gesunden Leben, dass uns in gewissen Situationen, am Eande
eines Abgrundes, auf einer Brücke, der Gedanke auftaucht, uns
selbst oder unsere Begleiter hinabzustürzen, bei feierlichen Ge-
legenheiten irgend eine lächerliche oder unpassende Handlung zu
begehen, im Theater plötzlich „Eeuer" zu rufen und Aehnliches.
Im gesunden Bewusstsein werden diese Antriebe ohne Schwierig-
keit unterdrückt; unter pathologischen Verhältnissen dagegen ver-
mögen sie eine unbezwingliche Macht über den Willen zu erlangen
und den Kranken trotz klarer Einsicht völlig zu überwältigen.
Selbstmord, Mord und Brandstiftung kommen auf diese Weise zu
Stande; ausserdem sind aber auch zahllose Verkehrtheiten und Ge-
waltacte, die man die Kranken begehen sieht. Zerstören von Gegen-
ständen, Zerchlagen von Scheiben, Entkleiden, Kothessen (Koprophagie)
gar nicht selten auf den gleichen Ursprung zurückzuführen. Der
Mangel jedes verstandesmässig greifbaren Motivs, die Easchheit und
Heftigkeit der Ausführung sind es, welche die Zwangshandlungen
kennzeichnen. Mütter können unter dem Einflüsse solcher Antriebe
zur Ermordung ihrer heissgeliebten Kinder gedrängt werden; ein zu-
fällig bereit liegendes Messer lässt den Impuls in dem kranken Ge-
müthe zu so unwiderstehlicher Höhe anwachsen, dass schliesslich
alle Gegenmotive überwunden werden. Bisweilen haben die Patienten
dabei das Gefühl, als ob ihre Glieder, ihre Zunge von einer unsicht-
baren Macht (Gott, der Teufel, elektrische Eeinde) in Bewegung ge-
setzt würden, die sich ihrer einfach als Werkzeug bedient. Einzelne
Automatie und Stereotypie.
137
Kranke besitzen ein so. klares Yerständniss für die Lage, dass sie
ihre Umgebung vor sich warnen und beim Hexannahen solcher An-
triebe alle möglichen Yorsichtsmassregeln treflen, um sich selbst
die Ausführung gefährlicher Handlungen unmöglich zu machen.
Der vollbrachten That pflegt zunächst ein Gefühl gi'osser Erleichter-
ung zu folgen, das erst im weiteren Yerlaufe bei besonnenen Kranken
dui-ch die volle Einsicht in die Tragweite derselben und die bitterste
Keue über das Geschehene verdrängt wird.
Eine andere Entstehungsweise haben gewisse, in den Irrenanstalten
sehr häufige, ebenfallszwangsmässigvonStatten gehende, aber sich durch
die fortn^ährende Wiederholung von den eigentlichen Zwangshandlungen
abgrenzende Bewegungen. Sie stellen zumeist rudimentäre Ueberbleibsel
ehemaliger zweckbewusster oder wenigstens durch einen Wahn moti-
virter Bewegungen dar, denen Bedeutung und Absicht längst abhanden
gekommen ist. Dahin gehört auch das sinnlose Auszupfen der Haare,
das Zerkauen der Nägel, das von einzelnen Kranken mit unerschütter-
licher Beharrlichkeit geübt wird, das automatische Wischen, Schmieren,
Rutschen aufgeregter Blödsinniger u. s. f. Durch ihre ursprüngliche
psychische Motivirung unterscheiden sich diese Erscheinungen von
den sogleich zu besprechenden eigentlichen Zwangsbewegungen oder
Stereotypen.
Automatie und Stereotypie. Den Zwangshandlungen nahe ver-
wandt sind gewisse Störungen, welche Kahlbaum vor längerer
Zeit bereits als katatonische beschrieben hat. Dieselben zerfallen in
zwei Hauptgruppen, welche zwar äusserlich sehr verschieden zu
sein scheinen, aber eine gemeinsame Entstehungsweise haben müssen,
da sie häufig ganz unvermittelt in einander übergehen. Die Schil-
derung der ersten Klasse von Symptomen, die wir insgesammt
unter dem Namen der Automatie zusammenfassen können, knüpft
am besten an die bekannten hypnotischen Erscheinungen*) an, da
der Zustand, der ihnen zu Grunde liegt, mit demjenigen der Hypnose
grosse Aehnlichkeit zu haben scheint.
Es gelingt bekanntlich bei einer sehr grossen Zahl von Individuen
(80 — 90<*/o), durch verschiedenartige Manipulationen, namentlich durch
*) Kieger, Der Hypnotifimus. 1884; Beaunis, etudes physiologiques et
psychologiques sur le eonnambulisme provoque,' 1886; Forel, Der Hypnotismus,
2. Auflage, 1891; Moll, Der Hypnotismus, 2. Auflage.
138
n. Allgemeine Symptomatologie.
lebhafte Erweckaag der Yorstellaag des Einschlafens, eine Alteration
des Bewusstseins in dein Sinne zu erzielen, dass das gesammte Seelen-
leben in eine mehr oder weniger vollständige Abhängigkeit von dem
Willen des Experimentators geräth. Durch Saggestion, d. h. durch
energisches Anregen dieser oder jener psychischen Vorgänge mit Hülfe
des' Wortes oder geeigneter Handlungen, kann unter solchen Umständen
nicht nur der Inhalt der Wahrnehmungen ganz nach Belieben frei
erzeugt oder modificirt, nicht nur frei erfundene Erinnerungen
können mit allen Einzelheiten dem Individuum eingepflanzt werden,
um bei ihm weitere phantastische Verarbeitung zu finden, sondern
vor Allem stehen auch seine Handlungen, ja sogar viele seiner un-
willkürlichen Functionen gänzlich unter dem Einflüsse der ge-
bieterisch die eigenen Willensregungen knebelnden Eingebungen.
Der Hypnotisirte sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt Alles das, was
der Experimentator ihm vorredet, und er nimmt von der wirklichen
Umgebung nichts wahr, was ihm gewissermassen wegdisputirt wird.
Er beschwört bona fide, Dinge erlebt zu haben, die nie geschehen
sind, und leugnet mit derselben kategorischen IJeberzeugungstreue
das jüngst Vergangene; er vermag kein Grlied zu rühren ohne Er-
laubniss des Hypnotiseurs und begeht auf G-eheiss dieses Letzteren
unbedenklich die unsinnigsten, selbst verbrecherische Handlungen.
In einer ganzen Reihe von Fällen dauert dieser nur mangelhaft
durch den Ausdruck Bef ehlsautomatie gekennzeichnete Zustand
auch nach dem Erwachen aus der Hypnose noch kürzere oder
längere Zeit hindurch fort (Möglichkeit posthypnotischer Suggestionen),
bis der eigene Wille wieder die Herrschaft über den Ablauf der
psychischen Functionen gewinnt; zuweilen aber kann trotz völliger
Rückkehr des Normalzustandes im Voraus |für einen fernliegenden
Termin (anscheinend selbst bis zu einem Jahre) der spontane Ein-
tritt suggerirter Wahrnehmungen und Handlungen erzwungen werden
(Suggestion ä echeance). Ja, es kann hie und da die hypnotische
Willenslähmung sogar 'ohne eigentliche Hypnose, wenigstens ohne
irgend tiefere Bewusstseinstr Übung, in anscheinend wachem Zustande
erzielt werden. Die Erinnerung an alle diese psychischen Beein-
flussungen ist nach dem Erwachen aus der Hypnose bald völlig
erhalten oder doch durch äussere Anregungen wieder wachzurufen,
bald getrübt, bald ganz erloschen; jedenfalls ist auch ihr Ver-
halten in hohem G-rade von dem Willen des Experimentators abhängig.
Aiitomatie und Stereotypie.
139
Wenn uns das Wesen dieser viel discutirten Erscheinungen
zur Zeit noch in vielen Beziehungen räthselhaft ist, so lässt sich
ein psychologisches Yerständniss für dieselben immerhin durch die
Annahme gewinnen, dass es sich dabei um die vorübergehende Be-
seitigung jenes regulirenden Einflusses handelt, welchen unser Wille
fortdauernd auf den Ablauf unserer psychischen Functionen durch
Unterdrückung dieser und Begünstigung jener Bewusstseinsvorgänge
ausübt. Die Analogie der hypnotischen mit unseren Traurazuständen
ist gerade unter diesem Gesichtspunkte eine so handgreifliche, dass
wir kaum erst des so häufig beobachteten Ueberganges zwischen
Hypnose und Schlaf oder umgekehrt bedürften, um eine physio-
logische Verwandtschaft Beider anzunehmen. Auch im Traume
acceptiren wir kritiklos die widerspruchsvollsten Wahrnehmungen
nnd Yorstellungscombinationen als baare Wirklichkeit; wir erfinden
Erinnerungen und vergessen die alltäglichen Erfahrungen; wir be-
gehen ohne Gewissensbisse die zwecklosesten und schändlichsten
Handlungen, um uns andererseits auf das Peinlichste in der Aus-
führung unserer einfachsten Absichten immer und immer wieder
gehemmt zu sehen. Nur ist es hier das unwillkürliche, höchstens
episodisch durch äussere Reize beeinflusste Spiel unserer eigenen
Yorstellungen und Gefühle, welches durch die Ausschaltung der
regulirenden Einflüsse freie Bahn gewinnt, wälirond bei der Hypnose
der fremde Wille gewissermassen in unser entfesseltes Seelenleben
hineingreift und nunmehr als unumschränkter Machthaber in dem
herrenlosen Gebiete schalten kann.
Ein solcher Yersuch, den Träumenden von aussen her zu be-
einflussen und dadurch ohne Weiteres die Hypnose herzustellen, ge-
lingt freilich nur unter besonders günstigen Umständen. Zumeist
pflegt der Schläfer dabei zu erwachen, wenn er überhaupt der Ein-
wirkung zugänglich ist. Die Hypnose dagegen dauert trotz der
Wahrnehmungen von aussen fort: sie ist nichts als ein leichter
Schlaf mit der Autosuggestion, nicht ohne fremde Hülfe erwachen
zu können.
Was nun die Erscheinungen der Automatie denjenigen der
Hypnose so ähnlich macht, das ist vor Allem die willenlose Zugänglich-
keit der Kranken gegenüber äusserer Beeinflussung. Sie zeigen
regelmässig die eigenthümliche Erscheinung der wächsernen Bieg-
samkeit (flexibiütas cerea) : ihre Glieder lassen sich ohne den geringsten
140
II. . Allgemeine Symptomatologie.
Widerstand in jede beliebige Lage bringen und behalten dieselbe
so lange bei, bis man ihnen einen anderen Anstoss giebt oder bis
sie in Folge hochgradiger Muskelermüdung zittternd dem Gesetze
der Schwere folgen. Seltener gelingt es, die Kranken durch die Ein-
leitung einfacher, regelmässiger Bewegungen zur fortgesetzten Wieder-
holung derselben zu veranlassen oder die Nachahmung energisch
vor ihren Augen ausgeführter Geberden zu erreichen (Nach-
ahmungsautomatie). Häufiger schon beobachtet man das willenlose
Nachreden vorgesagter Worte (Echolalie). Andeutungen der Automatie,
besonders der flexibilitas cerea, werden bei den verschiedenartigsten
Ej-ankheitszuständen gelegentlich beobachtet. Ich sah sie bei Ver-
rückten, Hysterischen, Epileptischen, Maniakalischen, acut Dementen,
Paralytikern und Alkoholisten, bei traumatischem Hirnabscess und
bei enormem Hydrocephalus mit Hemiplegie, hier aus begreifhchen
Gründen nur auf der nicht gelähmten Seite. Endüch aber findet sie
sich in der ausgesprochensten Weise in jenem Krankheitsbüde, welches
späterhin als Katatonie abgegrenzt werden wird.
Gerade bei der zuletzt genannten Krankheitsform gesellt sich
zu den Erscheinungen der Automatie regelmässig eine zweite Gruppe
von Störungen hinzu, die ich mit dem Gesammtnamen der Stereotypie
bezeichnen möchte. Sie besteht ia langer Fortdauer oder häufiger
Wiederkehr derselben Muskelinnervationen. Nach der einen Seite
hin kommt es hier zur Fixirung ganz bestimmter Stelluagen, die
trotz aller äusseren Einwirkungen Wochen, Monate, Jahre lang un-
verändert festgehalten werden. Die Kranken stehen in der gleichen,
oft sehr unbequemen Haltung stets in derselben Ecke oder liegen
mit gespannten Gliedern im Bette, so dass man sie ohne Schwierig-
keit an dem starr gekrümmten Arme in die Höhe heben kann. Jeder
Ter änderung der Gliederstellung setzen sie den äussersten, aber nur
passiven Widerstand entgegen (Negativismus), der sich nicht selten
auch auf die Nahrungsaufnahme erstreckt. Auch in der mimischen
Musculatur bemerkt man starre Spannung, tiefe Stirnfalten, rüssel-
förmig vorgeschobene Lippen (Schnauzkrampf), Seitniii-tsrichtung der
Bulbi und dergl. Sprachliche Aeusserungen pflegen gar nicht zu er-
folgen (Mutacismus), höchstens einzelne ausser jedem Zusammenhang
mit der Situation stehende Ausrufe. Weit mannigfaltiger gestalten
sich naturgemäss die Bewegungsstereotypen (Zwangsbewegungeu)-
Dahin gehören alle Arten nicht psychisch motivirter, aus unklaren
Krankhafte Triebe.
141
Antrieben zahllose Male wiederholter Handlungen, Purzelbäume,
rhythmisches Klopfen, Herumgehen in absonderlichen Stellungen,
Aufspringen, Niederfallen, Herumrollen und Kriechen am Boden,
bizarre Essgewohnheiten u. s. f. In der Regel ist es ganz unmög-
lich, die Ki-anken in ihrem Beginnen zu hindern, trotzdem sie
sich dabei rücksichtslos anstrengen und sogar verletzen. Auf sprach-
lichem Gebiete äussert sich die Stereotypie in stunden- ja tagelanger
Wiederholung derselben, oft ganz unsinnigen, bisweilen in der üm-
gebung aufgefangenen Sätze und Redensarten (Verbigeration); dasselbe
Symptom kehrt auch in den Schriftstücken wieder.
Wie schon erwähnt, stehen Automatie und Stereotypie wahr-
scheinlich in sehr nahen Beziehungen zu einander. Es ist bisweilen
sogar möglich, durch gewisse Kunstgriffe ohne Weiteres Erscheinungen
der einen Gruppe in die' entsprechenden der anderen überzuführen.
Gemeinsam ist beiden die willenlose Unterwerfung des Handelns
unter zufällige Einflüsse, sei es dass dieselben von aussen einwirken
oder im Innern des Kranken selbst entstehen. Im letzteren Falle
dauert der Antrieb lange Zeit hindurch fort und wird zur Stereotypie
in Haltung und Bewegung, im ersteren kann er meist durch einen
weiteren Eingriff wieder abgelöst werden. Regelmässig aber er-
strecken sich diese Störungen in der geschilderten Weise nur auf
die niederen psychischen Functionen. Irgendwie verwickeitere
Suggestionen und Stereotypen, welche eine höhere geistige Arbeits-
leistung voraussetzen, werden nicht beobachtet, wahrscheinlich des-
wegen, weil hi*er überall eine tiefgreifende Störung des gesaramten
Seelenlebens überhaupt erst das Zustandekommen der Erscheinungen
ermöglicht. Gerade unter diesem Gesichtspunkte ist es bemerkens-
werth, dass wir bei Idioten ebenfalls Bewegungsstereotypen beob-
achten (rhythmisches Hin- und Herwiegen, Händeklatschen, Pfauchen
und Blasen), welche anscheinend automatischen, nicht gehemmten
Hirnerregungen ihre Entstehung verdanken.
Krankhafte Triebe. Einen viel reicheren psychischen Inhalt,
als diese mehr elementaren Störungen der Willkürbewegungen, haben
die krankhaften Triebe, welche den Willen entweder von Jugend
auf oder im Yerlaufe einer erworbenen psychischen Erkrankung
nach einer bestimmten Richtung hin in abnorme Bahnen lenken.
Hier kommt es daher nicht zu einzelnen einfachen Zwangsbeweg-
ungen, sondern zu sehr verwickelten, planmässig vorbereiteten
142
II. Allgemeine Symptomatologie.
Handllingen. Yon den früher betrachteten Zwangshandlungen wiederum
grenzen sich die Aeusserungen der ki'ankhaften Triebe dadurch ab,
dass es dort einzelne begrenzte Acte sind, zu welchen die Störung
drängt, während hier dauernd ein ganzes Gebiet unseres Sti-ebens
von abnormen Antrieben beherrscht wird. Dort kommt daher auch
das Gefühl des Erzwungenen, Fremdartigen der Handlung viel leb-
hafter zur Entwickelung, als hier, wo der Kranke sich zwar des Un-
moralischen seiner Neigungen bewusst ist, sie aber zugleich doch be-
greiflich und vielleicht sogar sehr natürlich findet. Zu den fast
immer angeborenen abnormen Trieben gehört vor Allem die
conträre Sexualempfindung, die das geschlechtliche Fühlen
und Begehren in unversöhnbaren Gegensatz zu der körperlichen
Organisation des Kranken bringt und ihn die sexuelle Befriedigung
beim eigenen Geschlechte aufzusuchen treibt. Dieselbe macht sich
regelmässig schon in der Jugend geltend und wird nur selten
auch als vorübergehendes Symptom während anderer psychischer
Elrankheiten beobachtet. Auch einige weitere Perversitäten des
Geschlechtstriebes, weichein der Neigung zum Stehlen weiblicher
Wäsche, Schuhe und dergl., in der "Wollust beim Msshandeln und
Verwunden oder gar beim Ermorden und Zerstückeln der sexuellen
Opfer (Lustmord), beim Saugen von Blut und beim Genüsse von
Menschenfleisch, in der geschlechtlichen Befriedigung mit Thieren
und der Leichenschändung glücklicher Weise sehr vereinzelt vor-
kommen, sind höchst wahrscheinlich auf eine ursprüngliche degenerative
Yeranlagung zurückzuführen.
Ferner werden bei Personen, die ebenfalls regelmässig ander-
weitige Zeichen psychischer Entartung, namentlich Anomalien im
Gefühlsleben, erkennen lassen, bisweilen gewisse ki-ankhafte An-
triebe beobachtet, die man früher als eigene Krankheitsformen, als
„Monomanien" (Esquirol) aufzufassen pflegte. Sie sind indessen
nur Theiler scheinungen einer krankhaften Ausbildung der gesammten
psychischen Persönlichkeit im Sinne des impulsiven Schwachsinns.
Am bekanntesten ist der „Stehltrieb" (die Kleptomanie) geworden,
eine besonders beim weiblichen Geschlechte vorkommende Neigung,
sich ohne Noth selbst ganz unnütze, werthlose Dinge durch Dieb-
stahl anzueignen, die zudem meist nachher dem Eigenthümer wieder
zugestellt werden. Aehnlich hat man auch einen Mordtrieb, einen
Brandstiftungstiieb (Pyromanie), einen WoUusttrieb (Aidoiomanie)
Handlungen in Folge von Wahnideen und Gefühlsstömngen.
143
u. s. f. imterschieden. Gemeinsam ist allen diesen Störungen die
degeneraüve Grundlage; sie sind Anzeichen einer unvollkommenen
Yeranlagung des Gemüths- und Trieblebens, welche die Ausbildung
eines .festen^ leitenden Charakters verhindert, die "Widerstandsfähig-
keit des Individuums gegen äussere und innere Antriebe herab-
setzt und somit dem Drängen augenblicklicher Impulse jeweils die
Herrschaft über seinen "Willen ermöglicht.
EaidluDgen in Folge von WaiDideen und Gefühlsstömiigen.
"Wir haben nun noch kurz jener Anomalien im Eandeha Geistes-
kranker zu gedenken, welche nicht sowol auf eine Willensstörung
selbst, als vielmehr auf einen Ursprung aus krankhaften Voraussetz-
ungen, aus Wahnideen oder abnormen Gefühlen, zurückzuführen
sind. Es liegt auf der Hand, dass von dieser Seite her die.Be-
dingungen zur Entstehung der mannigfachsten Abweichungen von
dem Yerhalten des Gesunden gegeben sein, und dass ferner die
gleichen Handlungen aus sehr verschiedenen Ursachen sich heraus-
entwickeln können.
Zunächst pflegt sich der allgemeine Charakter der psychischen
Störung vielfach schon in dem ganzen äusseren Benehmen des
Kranken auszudrücken. In seiner Mimik*) spiegeln sich jene Ge-
fühlserregungen wider, die sein Inneres bewegen. Der Deprimirte
steht theilnahmslos, vor sieb hinstarrend, an der Wand, oder er sitzt,
schlajff in sich zusammengesunken, mit bekümmerten Zügen da; der
Aengstliche wandert ruhelos, an den Nägeln kauend, das Gesicht
zerzupfend und die Hände ringend auf und ab, rutscht bald knieend.
am Boden herum, bald drängt er mit lautem Jammern zur Thüre
hinaus, während der Tobsüchtige, unter lebhaften Ausdrucksbeweg-
ungen, schwatzend, lachend, singend, tanzend und allerlei Schabernack
treibend, dem Gefühle erhöhter Leistungsfähigkeit Luft zu machen
sucht. Den GehörshaUucinanten sieht man mit lauschendem Ge-
sichtsausdrucke in einer Ecke stehen, unbekümmert um seine Um-
gebung; nur hier und da bewegt er die Lippen, als ob er antworte,
oder ruft auch plötzlich laut einige Worte, meist Selbstvertheidigungen
oder Schimpfereien. Der verkannte Graf oder Kaiser dagegen trägt
mit Würde die „Gefangenschaft" der Irrenanstalt, an der Brust
vielleicht die papiemen Orden und in der Tasche die selbstverfassten
*) Sikorsky, Neurolog. Cenü'alblatt, 1887, 20, 21.
144
n. Allgemeine Symptomatologie.
Beglaubigungsdocumente seines Prätendententhums. Die Melancholia
attonita endlich und der apathische Blödsinn lassen in dem fast
Tölligen Mangel jeder activen Reaction die Intensität der bestehen-
den Hemmung, resp. die ganze Grösse des psychischen Verfalles
erkennen. Aus diesen in grösster Mannigfaltigkeit wechselnden und
dennoch vielfach typischen Bildern vermag der Irrenarzt oft schon
beim ersten Anblicke eine ungefähre Diagnose der Störungen
zu stellen. Zahllos sind aber die Fälle, die für die oberflächliche
Beobachtung gar keine auffallenden Erscheinungen darbieten, ein
Yerhalten, welches durch die bekannte Erfahrung illustrirt wird,
dass laienhafte Besucher der Anstalt bei der Mehrzahl der Kranken
das Yorhandensein einer Geistesstörung nicht aufzufinden vermögen.
Yon besonderer Wichtigkeit sind noch die Yeränderungen in
Sprache und Schrift, welche durch die Geistesstörung bedingt
werden. Abgesehen von dem Inhalt derselben, der natürlich
meist die Wahnideen oder Stimmungen des Kranken erkennen
lässt, prägt sich auch in der Form oft schon der Grundzug der
Psychose aus. Die Ideenüucht kennzeichnet sich durch die Zu-
sammenhangslosigkeit der einzelnen abgerissenen, kaum vollständig
ausgesprochenen oder ausgeschriebenen Worte, der Beweg-ungs-
drang in unaufhörKchem Schwatzen und endlosen wirren Schnörkeln.
Die depressive Stimmung lässt nur leise, zögernde Worte zu ^Stande
kommen und den Kranken schon nach den ersten Buchstaben die Feder
wieder bei Seite legen. Der Paralytiker im floriden Grössenwahn be-
schreibt in grossen Lettern oder in Zahlen Seiten über Seiten, mit viel-
fachen Auslassungen und Fehlern, Yersetzungen der Buchstaben und
Worte, voller Kleckse und unsauberer Correcturen, indem gleichzeitig
hier wie in der Sprache die ataktischen Störungen in charakteristischer
Weise hervortreten. Yerrückte dagegen sind namentlich durch die
Neigung zur Bildung von neuen, selbsterfundenen Wörtern ausge-
zeichnet, mit denen sie ihre eigenthümlichen Sensationen, ihre Feinde,
ihre eigenen hohen Würden u. s. f. benennen. Häufig begegnet man
auch bei ihnen einer sonderbar verzwickten Anordnung ihrer Schrift-
stücke oder verwickelten, dem Uneingeweihten gänzlich unver-
ständlichen Zeichnungen von Maschinen, Situationenj fabelhaften
Wesen, die schon auf den ersten Blick den Eindruck des Krankhaften
erwecken.
Handlungen in Folge von Wahnideen und Gefühlsstörungen. 145
Sehr beachteuswertb, wenn auch noch gar nicht näher studirt,
sind endlich gewisse eigenthümliche Störungen der Sprache und
Schrift, welche man bisweilen in Zuständen secundärer Yerwirrtheit
zu beobachten Gelegenheit hat. Die Kranken sind in Haltung und
Benehmen durchaus correct, verstehen an sie gerichtete Auseinander-
setzungen und führen selbst etwas verwickeitere Aufträge richtig
aus; sie sprechen und schreiben geläufig und in zusammenhängen-
den Sätzen, aber der Inhalt ihrer Schriftstücke ist ein fast völlig
unverständliches Gewirr von zum Theil sinnlos zusammengewürfelten
Wörtern, deren allgemeine Tendenz sich bei längerer Bekanntschaft
mit ihnen ungefähr wenigstens aus einzelnen normalen Anklängen
errathen lässt. Diese Beobachtungen erinnern sehr an die Aeusser-
ungen mancher Paraphasischer, noch mehr aber an die oft ganz
ähnlichen Reden, die wir im Traume zu halten pflegen. Offenbar
handelt es sich dort, wie hier, um den dauernden oder vorüber-
gehenden Verlust der Fähigkeit, Yorstellungen und deren sprach-
liche Symbole in richtiger "Weise mit einander zu verknüpfen.
Auch nach den anderen Richtungen des Handelns sind natürlich
die krankhaften Störungen im Bereiche des Yerstandes und der Ge-
fühle im Stande, einen massgebenden Einfluss auszuüben. Depressive
Wahnideen und Stimmungen sind es vor Allem, die den Kranken
einerseits zu Acten der Verzweiflung, zum Kampfe gegen die eigene
Person, zu Selbstmord und Selbstverstümmelung, zu Nahrungsver-
weigerung oder zu Bussübungen, andererseits aber zu Angriffen aller
Art, zum Verfassen von Annoncen, Flugschriften, Beschwerden, zu Mord
und Todtschlag, oder zur Ersinnung der mannigfachsten Schutzmass-
regeln gegen seine vermeintlichen Verfolger, zu Beschwörungen,
geheimnissvollen Massnahmen und Einrichtungen, zu menschenfeind-
Hcher Absperrung oder zu unstetem Herumwandern in der Welt
antreiben. Die Standhaftigkeit und Consequenz, mit der auf Grund
von Wahnideen, namentlich reUgiöser Natiu-, bisweilen die raffi-
nirteste Selbstquälerei Monate und Jahre lang fortgesetzt wird (z. B.
freiwilHges Fasten, ununterbrochenes Knieen, immer wiederholte
Selbstverletzung), deutet hier auf eine völlige Unterjochung der
natürlichen Triebe durch die krankhaften Vorstellungen und Gefühle
hin. Bei Hypochondern namentlich sind peinliche Manipulationen
mit dem eigenen Körper nicht selten. Versuche, sich den Körper
airfzuschneiden, um ein vermeintliches lebendes Thier herauszuholen,
Kraepol in, Psychiatrie. 4. Aull. 10
146
II. Allgemeine Symptomatologie.
das Essen von Nägeln, um sich durch die „Schärfe" das Blut zu
reinigen, habe ich selber erlebt. Aehnliche Handlungen Hysterischer,
das Yerschlucken von Nadeln, Verletzungen und Einführen von
Eremdkörpern in die Genitalien, theatralische Selbstmordversuche
gehen in der Eegel aus ganz anderen Motiven hervor. Bisweilen
sind diese Handlungen offenbar rein impulsiver Natur; zumeist liegt
der Beweggrund wol in der krankhaften Sucht, aufzufallen und das
allgemeine Interesse zu erwecken.
Die psychische Exaltation hat häufig unsinnige Excesse in
Baccho et Teuere und auf diese Weise sehr leicht Conflicte mit
der öffentlichen Gewalt zur Folge. Oder aber der Kranke sucht
sich im Gefühle seiner Souverän etat über die bestehende Ordnimg
zu erheben und macht seine vermeintKchen Ansprüche ungenirt
geltend, so dass er durch die Schritte, welche er in seiner An-
gelegenheit unternimmt, Aufsehen erregt und lästig wird. Anderer-
seits führt die Yorstellung grossen Eeichthums nur allzu oft derartige
Kranke zu einer rücksichtslosen Zerrüttung ihres Vermögens dui'ch
unsinnige Einkäufe und Schenkungen, oder die Idee, däss alle Gegen-
stände ihrer Umgebung ihr Eigenthum seien, lässt sie ganz harmlos
von denselben Besitz ergreifen und bringt sie auf diese Weise in
Berührung mit dem Strafgesetze. Es würde zu weit führen, hier
auch nur annähernd alle die verkehrten Handlimgen aufzuzählen,
die im Einzelfalle aus Wahnvorstellungen hervorgehen können; so
verschieden die Beweggründe, so verschieden die Persönlichkeiten
sind, so mannigfaltig gestaltet sich die Haudlimgsweise, wie sie sich
als Ergebniss aus dem Zusammenwirken dieser beiden Bedingungen
schliesslich herausentwickelt. Nur darauf sei hingewiesen, dass im All-
gemeinen mit dem. Grade des psychischen Verfalles, dem Mangel
an Urtheil und logischer Schärfe sowie an Selbstbeherrschung auch
die TJnsinnigkeit und TJ-nbegreiflichkeit der Handlungen der.Ki-anken
zunimmt.
, Der praktischen Rechtspflege, die es ja gerade mit dem
Handeln der Menschen zu thun hat, haben die Störungen desselben
bei psychischen Erkrankungen nicht entgehen kömien. Das Bediü-f-
niss jener Wissenschaft hat daiier zur Aufstellung gewisser geistiger
Normalzustände, der Dispositionsfähigkeit und der Zurechnungs-
fähigkeit, geführt, welche als Grundlage für die rechtliche Tragweite
menschlicher Willensäusseruugen angesehen werden; Die psycholo-.
Handlurfgen in Folge von Wahnideen und Gefühlsstö rangen. I47
gischeu Voraussetzungen für die Dispositionsfähigkeit sowol, wie für
die Zareclmungsfähigkeit liegen zum Theil auf dem Gebiete des Ver-
standes, zum Theil aber in dqm Bereiche des "Wollens. Beide Zu-
stände erfordern einmal eine klare Auffassung der thatsäch-
lichen Verhältnisse, einen Einblick in die rechtliche oder
moralische Bedeutung der einzelnen Willenshandlung,
andererseits die Möglichkeit einer freien Entschliessung auf
Grund jener Motive, die der eigenen selbstbewussten
Persönlichkeit angehören. Wie man leicht sieht, werden bei
Geisteskranken in der Regel die beiden aufgestellten Bedingungen
unerfüllt sein. Wo Wahnideen die Stellung des Ich zur Aussenwelt
in krankhafter Weise verändern und verrücken, ist für die richtige
Beurtheilung des eigenen Handelns durch den Ej-ankeu keine Ge-
währ mehr gegeben, während die Herrschaft pathologischer Gefühle
und Triebe über die grundlegenden Willensdispositionen des Charakters
oder der Verlust dieser letzteren selbst dem Menschen zweifellos die
Freiheit eigener Entschliessung im gebräuchlichen Sinne des Wortes
rauben. Sowol die Fähigkeit, Rechtsacte zu vollziehen, wie die Zu-
rechnungsfähigkeit und somit die rechtliche Verantwortlichkeit für
gemeingefährliche Handlungen ist somit bei Geisteskranken grund-
sätzlich als aufgehoben zu betrachten. Eine allgemeine „Einsicht in
die Strafbarkeit der begangenen Handlung", ja auch bisweilen die
Möglichkeit, verbrecherische Antriebe bis zu einem gewissen Grade
zu unterdrücken, kann darum trotzdem recht wol vorhanden sein.
Die eingehendere Würdigung dieser rechtKchen Beziehungen der
Irren bildet den Gegenstand einer besonderen Wissenschaft, der ge-
richtlichen Psychopathologie*).
*) V. Krafft-Ebing, Xehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, 3. Aufl.,
1892. Maschkas Handbuch der gerichtlichen Medicin, Bd. IV, 1882.
10*
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
Wie die Erscheinungen, so werden auch Yerlaui', Ausgänge und
Dauer des Irreseins im Allgemeinen dui'ch jene zwei grossen Gruppen
von Ursachen bedingt, die wir in der Aetiologie der Psychosen kennen
gelernt haben, einerseits durch die Art und Wirkungsweise der
krankmachenden Einflüsse, andererseits dui'ch die körperliche
und geistige Eigenart der erkrankenden Person. Diese beiden
Bedingungen sind es, welche das Wesen und die klinischen Eigen-
thümlichkeiten des einzelnen Krankheitsprocesses bestimmen; je ge-
nauer daher der Antheü eines jeden derselben an der Entstehimgs^
geschichte des gegebenen Falles bekannt ist, mit desto gi-össerer
Sicherheit wird es möglich sein, die zukünftige Gestaltimg dieses
letzteren vorauszusagen. Allerdings fehlt für jetzt derartigen Ver-
suchen vielfach noch die nothwendige Grundlage völlig gesicherter,
widerspruchsloser klinischer Erfahrung, namentlich aber die Mög-
lichkeit eines tieferen Emblickes in den oft sehr verwickelten inneren
Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung.
A, Verlauf des Irreseins.
Nach ihrem Verlaufe haben wir die psychischen Störungen
vor Allem in krankhafte Processe und üi krankhafte Zustände
zu scheiden. Im ersteren Falle handelt es sich um den Ablauf be-
stimmter Veränderungen in einer gegebenen Zeit, im letzteren da-
gegen um ein dauerndes, sich gleichbleibendes abnormes Verhalten
der psychischen Persönlichkeit, das entweder eine Folge von Ent-
wickelungshemmungen, angeboren (z. B. Idiotie, Cretinismus), oder
Beginn der Erkrankung.
149
die AVirkung einer vorauf gegangenen Geisteskrankheit erworben sein
kann (secundäror Schwachsinn). In den krankhaften Zuständen hat
die äussere krankmachende Ursache längst aufgehört, zu wirken; in
den krankhaften Processen dauert ihr Einfluss fort. Zu beachten ist
übrigens, dass dauernde abnorme Zustände sehr häufig den günstigen
Boden abgeben, auf welchem andersartige, vorübergehende Krank-
heitsprocesse ihren typischen Verlauf nehmen können.
Den Vorgang der psychischen Störung fasste Griesinger im
Anschlüsse an seinen Lehrer Zeller als einen einheitlichen auf,
dessen einzelnen Stadien die verschiedenen klinischen Formen des
Irreseins (Melancholie, Manie, Verrücktheit, Verwirrtheit, Blödsinn)
entsprechen sollten. Allein die Erfahrung hat die Annahme eines
gesetzmässigen Ablaufes „der Geisteskrankheit" in bestimmten Stadien
nicht bestätigt und zunächst durch den Hinweis auf die Thatsache
einer „primären" Verrücktheit das künstlich aufgebaute Schema
durchbrochen. In der That lässt eben die Beobachtimg der Formen
psychischer Störung durchaus nicht den nach der angeführten
Hypothese erwarteten einheitlichen, sondern einen überaus verschieden-
artigen Verlauf derselben erkennen.
Beginn der Erkrankung. Der Beginn einer Geisteskrankheit ist
in der Regel ein allmählicher; weit seltener bricht die Störung
plötzlich, ohne alle Vorboten über das Individuum herein. Der
Grund für dieses Verhalten liegt in der Aetiologie der Psychosen.
Es giebt hier nur verhältnissmässig wenige Ursachen, die rasch eine
durchgreifende Schädigung in den Centraiorganen der psychischen
Thätigkeit heiworzubringen vermögen (Gifte, Schreck, Fieber, Gebär-
act); meistens erleidet der Organismus des Erkrankenden erst nach
und nach durch stetig wirkende Einflüsse mehr und mehr hervor-
tretende Veränderungen. Je geringer der Antheil äusserer Ursachen
an der Entstehung des Irreseins ausfällt, desto langsamer wird unter
sonst gleichen Umständen die Stömng sich ent^vickeln, bis ihre Aus-
bildung endlich, wo die Bedingungen der Psychose ganz in der eigen-
thümlichen Anlage der Person gelegen sind, zuweilen Jahrzehnte
in Anspruch nimmt, sobald kein heftigerer Anstoss, kein Conflict
u. dergl. den Ausbruch derselben beschleunigt.
Bemerkenswerth ist es, dass regelmässig kleine Veränderungen
im Gefühlsleben die ersten und bisweilen Wochen, Monate, selbst
Jahre lang einzigen Anzeichen einer herannahenden Geisteskrankheit
150
III. Verlauf, Ausgänge imd Dauer des Irreseins.
ZU bilden pflegen. Ueberall, wo überhaupt ein Stadium der „Prodrome'-
sich abgrenzt, spielen unter denselben erhöhte gemüthliche Reizbar-
keit nnd Launenhaftigkeit, Unruhe, uumotivirt heitere oder häufiger
deprimirte Stimmung die Hauptrolle, selbst wenn späterhin ,die Stör-
ungen der Gefühle ganz in den Hintergrund treten. Ausserdem sind
Zerstreutheit, Interesselosigkeit oder auffallende Geschäftigkeit häufige
prodromale Symptome. Zugleich lässt sich regelmässig eine mehr
oder weniger tiefgreifende Beeinträchtigung des Schlafes, häufig auch
eine Störung des Appetites und fortschreitendes Sinken der all-
gemeinen Ernährung beobachten. Bei den sehr langsam zui' Ent-
wickelung gelangenden Geistesstörungen ist der eigentliche Anfang
derselben häufig schwer festzustellen; der Zeitpunkt, an Avelchem von
der Umgebung die erste Yeränderung an dem Ki-anken wahi-genommen
■wurde, bietet oft nur einen sehr unzuverlässigen Anhalt für die
Beurtheilung dar.
An das Stadium der Prodrome schliesst sich bisweilen ein
solches der Initialsymptome an, in welchem zwar die Psychose
bereits deutlich hervortritt, aber doch erst nach und nach zu jener
vollständigen Ausbildung sich steigert, die man als die Höhe der
Krankheit bezeichnen kann. In andern Fällen erfolgt der eigentliche
Ausbruch der Geistesstörung nach den vorangegangenen unbestimmten
Symptomen mehr oder weniger plötzlich, besonders im Anschlüsse
an irgend eine äussere Veranlassung, welche die schon angebahnte
Störung rasch zur explosiven Höhe anwachsen lässt
Höhe der Erkrankung. Der weitere Verlauf lässt je nach der
Krankheitsform erhebliche Yerschiedenheiten erkennen. Die Krank-
heit kann sich lange Zeit auf derselben Höhe erhalten: continuir-
licher Verlauf; oder sie kann vielfache SchAvankungen in der Stärke
ihrer Erscheinungen und selbst zeitweise völliges Zuillcktreten der-
selben darbieten: remittirender und intermittirender Verlauf.
Die letzteren Formen des Verlaufes sind im Allgemeinen die häufigeren,
namentlich so lange das Gefühlsleben noch in höherem Masse von
der Krankheit in Mtleidenschaft gezogen ist, da gerade den Gefülilen
eine grosse Neigung zu gegensätzlichen Schwankungen eigen zu sein
pflegt. Bei vorwiegend intellectuellen Störungen wird ein derartiger
"Wechsel im Krankheitsbilde seltener beobachtet Die Eemissionen
und Intermissionen schliessen sich häufig mit einer gewissen Regel-
mässigkeit an den Ablauf bestimmter physiologischer Functionen,
ilühe der Erkrankung.
151
des Schlafes, der Nalirungsaiifnahme an, während die Menses nicht
selten mit einer Verschlechterung des ganzen Zustandes einhergehen.
Melancholiker erscheinen sehr gewöhnlich in den Morgenstunden
stärker deprimirt, als gegen Abend. Yereinzelt sind die Beobacht-
ungen von sogenanntem „doppeltem Bewusstsein", in denen eine
förmliche Yerdoppelung det Persönlichkeit stattfindet. Die Kranken
bieten hier in abwechselnden Perioden ihrer Psychose nicht nur
gänzlich verschiedene Zustände dar, sondern sie bewahren auch die
Erinnerung jeweils immer nur für den gleichartigen Zustand, wie
jener Packträger, der sich in der Betrunkenheit an dasjenige erinnerte,
was er in frülieren Eäuschen gethan hatte, während ihm in nüchternen
Zeiten diese Erinnerung vollkommen fehlte. Die Analogie mit hypno-
tischen Zuständen liegt hier nahe.
Sehr begreiflich ist der intermittii'ende Verlauf einer Psychose,
wo neue Anfälle auf Grund einer vorhandenen Prädisposition immer
durch neue Geiegenheitsursachen hervorgerufen werden, wie nament-
lich die alkoholischen Aufregungszustände in Folge von wiederholten
Excessen. Bei den epileptischen Bewusstseinsstörungen beruht das
intermittirende Aufti-eten in der eigenthümlichen Periodicität der zu
Grunde liegenden vasomotorischen Umwälzungen; die seltenen, den
Fiebertypus nachahmenden und an seiner Stelle einsetzendenPsychosen
in Folge von Malariavergiftung sind in ähnlicher "Weise an die regel-
mässige Wiederkehl' der krankmachenden Veränderung gebunden.
Das Individuum ist jedoch hier überall während der freien Zwischen-
zeiten nicht als gesund zu betrachten, sondern die Krankheits-
erscheinungen sind nur zurückgetreten. Die psychische Entartung
der Trioker und Epileptiker, die Unsicherheit ihres inneren Gleich-
gemchtes bildet gewissermassen ebenso das Bindeglied zwischen
den einzelnen Ausbrüchen des Irreseins, wie die Malariavergiftung
mit ihren Zeichen die einzelnen Fieberanfälle überdauert.
Ganz ähnlich sind diejenigen Geistesstörungen zu beurtheilen,
welchen man wegen ihres ausgesprochen remittirenden Verlaufes den
Namen der periodischen Psychosen beigelegt hat. Es handelt sich
dabei um einen ziemlich regelmässigen Wechsel krankhafter mit
nahezu normalen Zuständen; die einzelnen Perioden können Tage,
Wochen, Monate, ja selbst eine Eeihe von Jahren dauern. Die
wesentliche Ursache der Krankheit liegt hier offenbar im Organismus
des Erkrankten selber, da sich häufig gar kein oder doch nur ein
152
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
sehr geringfiigiger Anlass für den Ausbruch des Anfalles auffinden
lässt; auch hier knüpft sich derselbe besonders häufig an den
physiologischen Yorgang der Menstruation an. Es giebt indessen
auch TJebergangsformen, in denen die einzelnen Erkrankungen nur
im Gefolge ungünstiger ävisserer Lebensereignisse auftreten, die
allerdings bei rüstigem Gehirn schwerlich eine solche Schwankung
des psychischen Gleichgewichts herbeigeführt haben würden; hier
sind die Anfälle meist seltenere und unregelmässigere. Auch sonst
ist übrigens die Dauer der freien oder relativ freien Zwischenzeiten
durchaus keine gleichmässige ; sie pflegt aber in einem gewissen Yer-
hältnisse zu derjenigen der einzelnen Anfälle zu stehen. Einige
Tage oder "Wochen beträgt sie meist bei kurzdauerndem, bis zu einer
ganzen Keihe von Jahren bei langsamerem Krankheitsverlauf. Bei
starker Häufung kurzdauernder Anfälle kann endlich unter raschem
Fortschreiten der psychischen Schwäche der intermittirende Verlauf
in einen nur remittirenden oder gar völlig continuirlichen übergehen.
Auch während der freien Zwischenzeiten ist übrigens der Mensch in
der Regel nicht als völlig gesund zu betrachten ; gewisse Charakter-
eigenthümlichkeiten, verschlossenes oder sehr aufgeregtes Wesen,
ausfallende gemüthliche Reizbarkeit oder Stumpfheit, Schwäche oder
Einseitigkeit in den psychischen Leistungen, namentlich aber der
Mangel einer ganz klaren Einsicht in die eigenen Krank-
heitszustände lassen sich fast ausnahmslos auch dann nachweisen,
wenn der anscheinend Genesene wieder voll in seinen früheren
"Wirkungskreis eingetreten ist.
Ein in mehrfacher Beziehung abweichendes Bild bieten die so-
genannten cijculären oder cyklischen Psychosen dar. Die krank-
hafte Umwandlung der ganzen psychischen Persönlichkeit tritt hier
oft viel deutlicher hervor. Bisweilen ist das ganze Leben derartiger
Kranker ausgefüllt dm-ch immerfort einander ablösende Perioden
abwechselnd depressiver und expansiver Geistesstönmg : die an-
scheinend normalen Zwischenzeiten erweisen sich bei genauerer Be-
trachtung einfach als die allmählich sich vollziehenden üebergänge
aus einem Zustande in den anderen. Der Eintritt dieser Stadien
selber ist meist völlig unabhängig von äusseren Anlässen; er voll-
zieht sich mit der grössten Sicherheit und Regelmässigkeit, offenbar
desshalb, weil er schon von den Tagen der Kindheit her, durch
die ganze Veranlagung des Kranken mit Nothwendigkeit bedingt ist.
Eeconviiloscen/i.
153
Endlicli wird auch nicht selten in der Dementia paralytica eine
Ai't intermittirenden Verlaufes beobachtet. Diese fcankheit kann
lange Zeit, selbst eine Eeihe von Jahren hindurch, still stehen und
somit zur Herausbildung eines anscheinend stationären Zustandes
Veranlassung geben, dem allerdings fast immer ein früher oder
später erfolgendes Fortschreiten des Grundleidens ein Ende zu machen
pflegt. Während bei den periodischen und namentlich circulären
Psychosen der regelmässige "Wechsel der Perioden geradezu die
kemizeichnende Eigenthümlichkeit des ganzen Krankheitsprocesses
ausmacht, sind hier die Intermissionen oder richtiger Remissionen
mehr zufällige Ereignisse, die von ganz imberechenbaren, den Gang
des Leidens beeinflussenden Ursachen abhängig sind.
ReconvalesceEZ. Am häufigsten finden sich Schwankungen zum
Bessern oder Schlimmem im Stadium des Abklingens heilbarer
Psychosen; sie sind daher im Allgemeinen,- soweit sich ein periodisches
Leiden ausschliessen lässt, als ein prognostisch günstiges Zeichen an-
zusehen. Allerdings kommt auch, besonders bei den sehr rasch ent-
standenen und sehr kurz dauernden Geistesstörungen (alkoholische,
epileptische Aufregungen, Collapsdelirien, Fieberdelirien und ähnliche),
ein fast plötzliches Verschwinden der ganzen Ki-ankheitsersch einungen
vor, z. B. nach einem tiefen Schlafe. In der übergrossen Mehrzahl
der Fälle jedoch geschieht die Abnahme einer psychischen Störung
ganz allmählich, durch Lyse. Zuerst verliert sich, avo sie vorhanden
war, die Verwirrtheit; die Kranken beginnen sich in ihrer Umgebung
zurecht zu finden, Arzt und Mitpatienten richtig zu bezeichnen.
Weit später schwinden die Zeichen gemüthlicher Erregung, die
expansive oder deprimirte Stimmung; die Kranl^en werden ruhiger,
freier, gleichmässiger in ihrem Benehmen. Anfangs besteht diese
Besserung vielleicht nur für kurze Zeit, Tage oder Stunden, um
einem abermaligen Hervorti-eten der Krankheitserscheinungen bald
wieder zu weichen. Nicht selten beobachtet man gerade in dieser
Periode der Kranldieit einige Zeit hindurch einen förmlich alter-
nirenden Verlauf der Störung, in der Weise, dass gute und
schlechtere Tage ganz regelmässig mit einander wechseln. Nach und
nach aber werden die Remissionen ausgiebiger und gewinnen längere
Dauer; die Exacerbationen verlieren an Stärke, bis schliesslich nur
noch leichte Verschlimmerungen bei besonderen Anlässen den fort-
schreitenden Gang der Genesung unterbrechen.
154
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
Am längsten pflegt sich von den Kranklieitssymp turnen die
Empfindlichkeit des gemüthlichen Gleichgewichts, die leichte
Erregbarkeit in depressivem oder expansivem Sinne zu erhalten, auch
wenn die intellectuellen Störungen und die dauernden Stimmungs-
anomalien sich schon längere Zeit ausgeglichen hatten. So lässt sich
der Verlauf der Krankheit in seüien einzelnen Phasen am genauesten
an dem Verhalten der Gemüthssphäre verfolgen. Sind es doch aber
auch gerade die Gefühle, in denen sich unmittelbar die augenblick-
liche Reactionsweise der Person gegen die Eindrücke und Vorstell-
ungen seines Bewusstseinsinhaltes kundgiebt, die uns somit über den
Zustand desselben jeweils am besten aufzuklären vermögen, während
die intellectuellen Vorgänge weit mehr von dem Erwerbe vergangener
Tage, dem Schatze früher gebildeter Vorstellungen, BegTiffe und
Urtheile beherrscht werden. Eine Störung ihres Ablaufes kommt
daher erst verhältnissmässig spät zu Stande, und sie gleicht sich
unter dem Einflüsse der gesammelten Erfahrung früher wieder aus,
als die Veränderungen im Bereiche des Gefühls, wenn nicht die
Krankheit selbst eine so tiefgreifende Umwandlung der psychischen
Persönlichkeit hervorgebracht hat, dass dieselbe nicht mehr voUständig
die Herrschaft über die Producte ihrer ehemaligen geistigen Arbeit
wiederzugewianen im Stande ist.
Einen vollständigen und praktisch überaus wichtigen Paralleüs-
mus mit dem Gesammtveriaufe der psychischen Störimgen pflegt das
Körpergewicht unserer Ki-anken darzubieten. Während alle consti-
tutionellen Psychosen nur insoweit erheblichere Schwankungen des
Körpergewichtes erkennen lassen, als greifbare Ernährungsstörungen
oder etwa vorübergehende Aufregimgszustände dasselbe beeüiflussen,
beginnt jeder eigentliche psychische Ki'ankheitsprocess ausnahmslos
mit einem entschiedenen Sinken des Körpergewichtes, welches unter
Umständen 20, 30 Pfund und noch mehr in wenigen Monaten und selbst
"Wochen betragen kann. Während des Kranklieitsverfaufes schreitet
die Abnahme langsam fort; im Uebrigen pflegen nur geringfügige
Schwankungen vorzukommen. Dagegen hebt sich das Körpergewicht
regelmässig, sobald eine entscheidende Aenderung im Zustande des
Kranken eintritt, falls nicht körperiiche Leiden dem entgegenwirken.
Der Gang des KörpergCAvichtes kündigt eine bevorstehende A\ endung
des Krankheitsverlaüfes häufig schon längere Zeit an, bevor dieselbe
dem sonstigen Symptomenhilde erkennbar ist. Zunahme der
Heilung.
155
Ernälinmg bedeutet untor allen Umständen eine Beruhigung des
Kranken, die entweder der Genesung desselben oder dem Ausgange
in einen unheilbaren Schwächezustand entsprechen kann. Welche
dieser beiden Möglichkeiten im einzelnen Falle zuti-ilft, muss aus der
Gestaltung der psychischen Erscheinungen erschlossen werden, welche*
dort die Kückkehr ziu- Norm, hier die Anzeichen der beginnenden
Verblödung erkemien lassen.
ß. Ausgänge des Irreseins.
Heilung. Das Stadium der Eeconvalescenz geht ohne scharfe
Grenze in dasjenige der vollendeten Heilimg über. Die wenigen
Beste der üb erstandenen Ki-ankheit, vereinzelte Wahnideen oder
Sinnestäuschungen, unmotivirte Verstimmungen, erhöhte Keizbarkeit,
verlieren sich allmählich; die gesunden Anschauungen und Interessen
ti'Qten neu hervor; die gewohnten Beschäftigxmgen werden wieder
aufgenommen: die psychische Persönlichkeit mit üirer -ganzen
Eigenart knüpft über den krankhaften Zeitraum hinüber an die vor
demselben liegende gesunde Vergangenlieit an, ganz ähnlich, wie
wir nach wii-rem Traume beim Erwachen sogleich, vielleicht auch
erst nach einigem Besinnen, mit den Erlebnissen vor dem Einschlafen
wieder Fühlung zu gewinnen suchen. Ist diese Wiedereinsetzung der
psychischen Persönlichkeit in die Herrschaft über ihren Erfahrungs-
schatz^ in allen Punkten vollzogen, wird der Ablauf der psychischen
Vorgänge nirgends mehr dui-ch krankhafte Gefühle oder Vorstellungen
beeinträchtigt, dann haben wir- das Kecht, von einer völligen Ge-
nesung des Keconvalescenten zu sprechen, ein Ereigniss, welches in
etwa 30 — 40^/o jener Erkrankungsfälle zu verzeichnen ist, Avelche
in die Anstaltsbehandlung kommen. Zur Würdigung dieser Zahlen
ist zu beachten, dass einerseits viele chronisch' verlaufende, unlieil-
bare Fälle niemals in die Irrenanstalten gelangen, und dass anderer-
seits zahlreiche leichte Erkrankungen ebenfalls in Faniilienpflege ihren
günstigen Ablauf finden.
Unter Berücksichtigiuig dieser Verhältnisse zeigt es sich, dass
die Prognose der Geistesstörungen, entgegen der landläufigen Meinung,
sich nicht erheblich ungünstiger stellt, als diejenige schwerer
körperlicher Erkrankungen. Ei-wägt man die enormen Zahlen der
Phthisen, Herzfehler, Karcinome, der unheilbaren Hirn-, Nerven- und
Nierenkranken auf gi'ossen medicinischen Abtheilungen, so erkennt
156
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
man bald, wie der Unterschied der wirklichen Heilungsprocente
ZAvischen den letzteren und den Irrenanstalten wesentlich auf dem
Umstände beruht, dass man sich eben zum Eintritte in ein Kranken-
haus auch schon bei geringfügigeren Anlässen zu entscliliessen
pflegt.
Ebenso unzutreffend, wie hinsichtlich der Prognose psychischer
Störungen überhaupt, ist das verbreitete Yorurtheil, wenn es dem
einmal geistig Erkrankten häufige Rückfälle seiner Psychose Torher
sagt. Diese Meinung beruht auf der bekannten Erfahrung, dass
einzelne, besonders aufdringliche Beobachtungen, in diesem Falle
vor Allem die periodischen Geistesstörungen, das allgemeine Urtheü
weit nachhaltiger beeinflussen, als ganze Eeihen einfach negativer
Thatsachen. Wie Hagen überzeugend nachgewiesen hat, bleiben
etwa aller einmal als genesen aus der Anstalt entlassenen
Kranken ihr ganzes späteres Leben hindurch dauernd psychisch
gesund.
Das wichtigste Kriterium der ■ eingetretenen Genesung ist ausser
dem Schwinden der wahrnehmbaren Krankheitssymptome die Ein-
sicht in die krankhafte Natur des überstandenen Leidens und da-
mit zumeist das Auftreten einer gewissen Dankbarkeit für die ge-
nossene Behandlung und Pflege. Jene Einsicht ist es ja gerade,
welche uns die Gewähr dafür bietet, dass der Reconvalescent die
krankhaften Yeränderungen seines psychischen Lebens als etwas
Fremdartiges empfindet, dass er mit anderen Worten auf den Boden
der Beurtheilung zurückgekehrt ist, auf dem er vor der Erkrankung,
in gesunden Tagen stand. Mangel der Krankheitseinsicht deutet
stets auf die Umnögiichkeit einer kritischen Berichtigung des
wälirend der Geistesstörung gesammelten Erfahrungsmaterials hin.
Dieselbe hat ihren Grund entweder in der Assimilation krankliafter
Elemente, welche den Standpunkt der Person gegenüber seiner Um-
gebung verrückt haben und seine psychischen Leistungen entscheidend
beeinflussen, oder aber in der noch bestehenden Unfähigkeit zu
durchgreitendem Gebrauche des frülier erworbenen kritischen Rüst-
zeuges, dessen Handhabung einerseits Ruhe und Gleichgewichtslage
des Gemüthes , andererseits aber eine gewisse Ansti-engung und
geistige Regsamkeit eifordert. Kein Banker ist als ,wirklich ge-
nesen zu betrachten, der nicht klare und volle Einsicht in seine
Krankheit besitzt, während umgekehrt ganz wol ein Verständniss
Heilung'. ' 157
füi- die pathologische Natur der psychischen Störung bestehen kann,
ohne dass dai'uni immer die Heilung zu erwarten wäre. Ja, gerade
in manchen Fällen unheilbaren, tief in der ganzen Anlage des
Menschen wurzelnden Irreseins ist eine derartige Selbsterkenntniss
nicht so selten vorhanden. Darimi bleibt aber die Krankheitsein-
sicht dennoch fast immer ein prognostisch sehr günstiges Zeichen,
namentlich wenn sie mit dem Nachlasse stürmischerer Erschein-
ungen von selber hervortritt. In manchen Fällen allerdings nur
dann, wenn ein leichterer oder höherer Grad von Schwäche des Ver-
standes nebenbei besteht, kommt die Krankheitseinsicht erst sehr
spät und zögernd zu Stande, nachdem im üebrigen bereits sämmt-
üche Erscheinungen der Geistesstörung sich vollkommen verloren
haben.
Ganz regelmässig, wenigstens bei allen länger dauernden Geistes-
störungen, geht mit der fortschreitenden Genesung auch eine körper-
liche Erholung einher, ausser Zunahme des Gewichtes Besserung des
Appetites und Schlafes und das Gefühl des Wohlseins, Anzeichen,
die bei gleichzeitigem Hervortreten günstiger psychischer Veränder-
imgen einen bedeutenden prognostischen Werth besitzen und haupt-
sächlich mit einer Abnahme der gemüthlichen Erregimg in innerem
Zusammenhange zu stehen scheinen. In einer kleinen Anzahl von
FäUen hat man das Einti'eten psychischer Genesung während
oder nach einer fieberhaften Erkrankung (namentlich Typhus, Erysipel,
Intermittens) , seltener nach stärkeren Blutungen oder Kopfverletz-
ungen beobachtet*). Am häufigsten handelt es sicli dabei natüi'lich
um relativ fitische Erkrankungen, Melancholie, Manie, Amentia, Wahn-
sinn, aber bisweilen tritt die günstige Wendung auch nach längerer
Dauer und in prognostisch anscheinend aussichtslosen Fällen ein, ja
selbst bei ganz alten Yerrückten und Schwachsinnigen kaim man
hie und da während einer intercurrenten Erkrankimg die Wahn-
ideen ziu-ücktreten und einer unerwarteten geistigen Regsamkeit
Platz machen sehen, hier allerdings immer nur für kurze Zeit. Die
Erklärung derartiger Erfahrungen ist dunkel; wir müssen uns mit
der Erwägung begnügen, dass sich hier, wie ja auch der gelegent-
*) Fiedler, Deutsches Archiv f. klinische Mediciu, 1880, XXVI, 3; Leh-
mann, Allgem. Zeitschrift f. Psychiatrie, 1887, XLIII, 3; Wagner, Jahrb. f.
Psychiatrie, 1887 VII.
158
III. Verlauf, Ausgänfj;e und Dauer des Irreseins.
lieh kranlaiiachende Einfluss der besprochenen Ursachen darthut,
offenbar mächtige Unmälzungen in der Ernährimg der Himiinde
vollziehen.
YoUständige Heilung einer Geisteskrankheit wird im Allgemeinen
am leichtesten in den rüstigen Lebensaltern und dort zu Stande
konnnen, wo ein vorübergehender äusserer Anlass die Ursache
des ganzen Leidens bildete. Je weniger die Bedingungen der Er-
krankung in dem erkrankten Organismus selber liegen, desto rascher
und vollständiger wird derselbe ceteris paribus im Stande sein, die
Störungen auszugleichen und zum Normalzustande zurückzukehren,
In der That sehen wir daher namentlich diejenigen ätiologischen
Gruppen von Psychosen die günstigste Prognose darbieten, welche
durch stark wü^kende, aber gewöhnlich keine dauernde Yeränderung
hervorbringende Ursachen erzeugt werden (Vergiftungen, acute Krank-
heiten, Wochenbett, plötzliche Gemüthsbewegungen). Weit ungünstiger
schon, liegen die Yerhältnisse dann, wenn die Krankheitsursachen
ent^veder bleibende organische Störungen hinterlassen (Körperverletz-
ungen, Syphilis, Typhus bisweilen), oder aber, wenn sie diu'ch längere
Zeit hindurch stetig auf den Menschen einwirken und somit dui'ch
Häufimg ihres Einflusses nach und nach eine tiefere Yeränderung
in den Gesammtzuständen desselben herbeiführen (chronische Ge-
müthsbewegungen und Krankheiten, Alkoholismus, Morphinismus
u. s. f.). Durch derartige Ursachen wird nicht nm eine einzelne
psychische Erkrankung erzeugt, sondern es wird auch die gesammtß
Widerstandsfähigkeit des Menschen dauernd herabgesetzt.
Unvollständige Heümig. Yon der Grösse dieser dauernden
Störung und den Einflüssen, welchen der Kranke im weiteren Yer-
laufe ausgesetzt ist, hängt es hier ab, wie weit es möglich ist, eine
Wiederherstellung des früheren gesunden Zustandes zu erzielen.
Nimmt daher auch der ausbrechende Krankheitsvorgang selbst einen
günstigen Ablauf, so ist damit doch die Wirkung der eigentlichen
Grundursache nicht aufgehoben. Es bleibt eine „Disposition" zu
weiteren Erkranlamgen zurück, die namentlich dann ihren verderb-
lichen Einfluss geltend macht, wenn der Genesene sich in den Be-
reich der alten Schädlichkeiten zurückbegiebt. Er fällt jetzt weit
leichter, bei dem ersten gegebenen Anlasse, in die überstandene
Krankheit zurück. Jedes Eecidiv steigert wiederum die Dispoeition
für die Folgezeit, so dass immer geringfügigere Anstösse ge-
Un vol 1 st äiul i 1 f o i 1 1 1 n fj;.
159
nügen, um die krankhaften Zustände auf's neue wieder herbei-
zuführen.
Ganz ähnliche Verhältnisse, wie sie sich auf diese Weise unter
dem Einflüsse dauernder oder häufig wiederkehrender Ursachen
herausbilden können, finden sich bei ursprünglich krankhaft ver-
anlagten Menschen als angeborene Constitutionsanomalien vor. Die
Ki-ankheitsbedingungen sind hier nicht mehr • ausserhalb, sondern in
der Person selber zu suchen. Es ist leicht begreiflich, dass unter
solchen Umständen voneinereigentlichenHeilungpsychischerStönmgen
nicht in dem Sinne einer völligen Kückkehr zur Norm die Kede
sein kann, da ja der relativ gesunde GleichgCAvichtszustand selbst
nicht als ein wirklich normaler anzusehen ist. Das wichtigste Ei-
fordemiss einer jeden Heilung, die Entfernung der Krankheitsursache,
bleibt ja hier unerfüllbar, da diese letztere eben durch die ganze
Eigenart des Menschen dargestellt wird. Trotzdem sehen wir bei
solchen Personen nicht selten ausgeprägte und schwere psychische
Krankheitserscheinungen mit derselben Geschwindigkeit sich wieder
verlieren, mit welcher sie aus unbedeutenden Anlässen hervor-
gewachsen sind.
Das eigentlich Auffallende ist dabei mehr die letztere, als die
erstere Erscheinung. Die krankhafte Ausgiebigkeit der Gleich-
gewichtsschwankung auf geringfügige Kelze lässt wegen .der an-,
scheinenden Bedenklichkeit der Symptome die SchAvere der ganzen
Erkrankung weit bedeutender erscheinen, als sie wirklich ist. "Würde
es doch auch verfehlt sein, etAva aus dem Herzklopfen eines Herz-
kranken auf einen gleichen Grad psychischer Erregung schliessen zu
wollen, wie wir sie unter denselben Yerhältnissen beim Gesunden
vorauszusetzen hätten! Wir würden dann erstaunt sein, dort so
rasch völlige Beruhigung zu beobachten, wo wir glaubten, es mit
einer tiefen, dauernden Gemüthsbewegung zu thun zu haben. Aber
wie in diesem Beispiele der leiseste Anstoss genügt, das Anzeichen
der Krankheit sogleich in voller Stärke hervorzurufen, wie es schliess-
lich vielleicht durch die blosse Lebensarbeit dauernd fortbesteht, und
wie das eigentliche Leiden andererseits lange Zeit vorhanden sein
kann, ohne gerade lebhafte Störungen zu verursachen, so haben Avir
es auch bei den psychischen Invaliden mit einer Verminderung der
Widerstandsfähigkeit zu thun, welche schliesslich ohne irgend welchen
besonderen Eeizanstoss zur Entwickelung abnormer Geisteszustände
160
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des IiTeseins.
föliren kann, (iie eine krankhafte Vei'ändorung der ganzen Persön-
lichkeit bedeutet, auch Avenn sie nicht gerade zur Ausbildung einer
bestrinmten Psychose Veranlassung giebt. Die Heilung der vorüber-
gehenden Störungen ist daher etwa mit der BeseitigTing eines An-
falles von Palpitationen bei einem Herzkranken auf gleiche Stufe zu
stellen; das eigentliche Grundleiden besteht dabei unverändert fort.
Die vorstehenden Erörterungen haben uns bereits einen
weiteren Ausgang psychischer Krankheiten kennen gelehrt, den Aus-
gang in unvollständige Heilung, „Besserung" oder „Heilung mit
Defect". Die eigentlichen Ki-ankheitserscheinungen treten auch hier
iin Wesentlichen zurück, die Stimmung wird ruhiger und gleich-
mässiger, Wahnideen und Sinnestäuschungen verschwinden nach und
nach, aber es maclien sich die mehr oder weniger ausgeprägten An-
zeichen einer Herabsetzung der psychischen Leistungs- und Wider-
standsfähigkeit, der Schwäche, bemerkbar. Der Reconvalescent
denkt zwar formal richtig und hat auch eine gewisse Einsicht in
seine Krankheit, aber er ist nicht mehr derjenige, der er fi-üher
war; er hat einen Theil seiner Persönlichkeit eingebüsst. „Gerade
das Beste und Werthvollste ist", wie Griesinger sich ti-effend aus-
drückt, „von der geistigen Individualität abgestreift." Oft genug
bleibt indessen der volle Umfang der psychischen Schwäche im
Schutze des Anstaltslebens unbemerkt, weil an den Kranken in dem
ruhigen, geregelten Tageslaufe gar keine besonderen Anforderungen
herantreten. Der Versuch einer Entlassung aus der Anstalt ist da-
her die Cardinalprobe, welche häufig genug schon nach kurzer Zeit
die „mit Defect Geheilten" von den völlig Genesenen zu unterscheiden
gestattet, auch wenn vorher ein abschliessendes Urtheil noch nicht
möglich war. Allerdings kommt hier wieder sehr viel auf die
äusseren Umstände an. Ist die Häuslichkeit eine glückliche, die
Vermögenslage und die sociale Stellung günstig, so vermag der
Kranke auch wieder in das Leben zurückzukehren und in ge-
ordneten Verhältnissen leidlich seine Stellung auszufüllen.
Allein die Thatkraft und Festigkeit seines Charakters hat er ver-
loren; schwierigen Lebenslagen und drängenden Conf liefen ist er
nicht mehr gewachsen. Dieser Zustand pflegt den Endstadien der
senilen Psychosen, namentlich aber den Remissionen der Dementia
paralytica, selbst den weitgehendsten, eigenthümlich zu seiu. Als
regelmässiger Ausgang ist die unvollkommene WiederherstelluDg
Unheilbarkeit.
161
ferner dort zu betrachten, wo der ganze Krankheitsvorgang sich
schon auf dem Boden einer von vornherein unzulänglichen Persön-
lichkeit abspielte. Hier pflegt meist selbst die frühere Höhe nicht
wieder erreicht zu werden, sondern das Individuum geht noch mehr
geschwächt aus dem Anfalle hervor, so dass bei häufigerer Wieder-
holung der Erkrankungen auch der psychische Verfall jedesmal eiae
neue Steigerung erfährt.
Unheilbarkeit. Schon die Heilung mit Defect bedeutet die Ent-
stehimg einer unheilbaren Yeränderung in der Gesammtconstitution
der Person, aber diese Yeränderung besteht in einer einfachen, mehr
oder weniger hochgradigen Herabsetzung der psychischen Leistungs-
und Widerstandsfähigkeit, ohne eine qualitative Umwälzung in dem
Wesen und der Keactionsweise des Erkrankten zu bedingen. Man
kann daher weiterhin noch einen Ausgang in Unheilbarkeit
unterscheiden, der entweder das unveränderte Andauern der einmal
vollzogenen krankhaften Wandlung, oder aber den Eortschritt der-
selben bis zum völligen Zerfall der psychischen Persönlichkeit be-
deutet. Das erstere ist der Eall bei manchen periodischen und nament-
lich bei den continuirlich verlaufenden circulären Psychosen, sowie bei
jenen constitutionellen Formen der Verrücktheit, in denen eia langsam
entwickeltes Wahnsystem ohne wesentliche Zunahme der psychischen
Schwäche dauernd festgehalten wird. Völlig stationär freilich pflegt
auch hier der Krankheitszustand niemals zu bleiben, und einem auf-
merksamen Beobachter wird die Abnahme der psychischen Leistungs-
fähigkeit innerhalb längerer Zeiträume kaum entgehen; schon der
abstumpfende Einfluss des monotonen Anstaltsaufenthaltes muss sich
vielfach in dieser Eichtung geltend machen. Auch nach manchen
acuten Psychosen, besonders depressiven Eormen, beobachtet man
die Rückkehr zu einer Art dauernden Gleichgewichtszustandes mit
den Erscheinungen der psychischen Schwäche und einzelnen sonstigen
TJeberbleibseln aus der Krankheitszeit. Sie büden gewissermassen
den Uebergang zu den Heilungen mit Defect. Interessant sind hier
namentlich manche Ausgänge des haUucinatorischen Wahnsinns] und
der Amentia mit mässigen Graden der Schwäche.
Diese Kranken sind fähig, sich in einfachen Verhältnissen ohne
erhebliche Schwierigkeit zurechtzufinden, sich zu beschäftigen,
und besitzen auch eine gewisse oberflächliche Krankheitsein-
sicht, so dass sie von ihrer Umgebung zeitweise für nahezu
Kraepolin, Psj-chiatrie. 4. Anfl. 11
162
!in. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
gesund gehalten werden können. Bei den geringfügigsten Anlässen
jedoch treten die alten Sinnestäuschungen wieder hervor, und nun
lassen sich die Eianken, ein Zeichen ihrer unzulänglichen geistigen
und gemüthlichen Widerstandsfähigkeit, vorübergehend gänzlich von
denselben beherrschen, bis nach einigen Stunden oder Tagen die Auf-
regung vorüber und Alles rasch wieder vergessen ist, ohne irgendwie
wahnhaft verarbeitet zu werden.
Allen diesen nur sehr langsam sich ändernden Zuständen kann man
mitEecht den eigentlich progressiven Krankheitsverlauf gegenüber-
stellen, wie er bei gewissen Formen des periodischen und epileptischen
Irreseins, bei den meisten ungeheilten Fällen der acuten Psychosen, bei
der Hebephrenie und den verwandten Krankheitszuständen, namentlich
aber in der Paralyse typisch zur Beobachtung gelangt. Diese Entwickel-
img wird meist dadurch eingeleitet, dass zunächst die Stärke der dau-
ernden gemüthlichen Erregung abnimmt, während sich die begleitenden
intellectuellen Störungen überhaupt nicht oder doch nicht vollständig
zurückbilden, sondern inForm tiefgreifender Beschränktheit undKritlk-
losigkeit, widerspruchsvoller und zusammenhangsloser Wahnideen oder
völliger Yerwin-theit bis zum tiefsten Blödsinn bestehen bleiben. Natüi-
lich vollzieht sich dieser Yorgang einer fortschreitenden Yernichtung
der ursprünglichen Persönlichkeit, den man mit dem Namen der
Yerblödung zu bezeichnen pflegt, je nach der Form der G-eistes-
störung, welche er abschliesst, in symptomatisch verschiedener Weise
und namentlich in sehr verschiedenen Zeiträumen. Bei den affectiven
Psychosen pflegen Andeutungen der früheren Gemüthsschwankimgen,
zeitweise Auiregungen oder Depressionen, auch späterhin dem
Schwachsinne noch ein bestunmtes Gepräge zu verleihen, namentlich
im mimischen Ausdrucke, und ebenso können sich Beste früherer
Wahnideen bisweilen noch Jahrzehnte nach dem Eintritte der Yer-
blödung im Bewusstsein erhalten. Nur bei der Paralyse verschwindet
binnen verhältnissmässig knrzer Zeit oft auch die letzte Spur der
früher vielleicht iji Ueberfülle erzeugten Ki-ankheitsproducte.
Tod. Die letzte Form des Ausganges, welchen die Geistes-
störung nehmen kann, ist der Tod. Ohne Zweifel wii'd die Mortalität
durch die psychische Erkrankung beträchtlich gesteigert; sie ist bei
Irren etwa fünfmal so gross, als bei der erwachsenen geistesgesunden
Bevölkerung. Dabei ist die Fi-age, ob eine psychische Erkrankung
an sich zum Tode fuhren könne, wie diese oder jene körperliche
Tod.
163
Krankheit, dabin zu beantworten, dass zwar uicbt die Psychose, als
eine rein symptomatisch aiifgefasste Erscheinung, wol aber der
Ki-ankJieitsvorgang tödten kann, dessen psychopathischen Ausdruck
die Geistesstörung darstellt; ähnlich betrachten wir ja nicht die
Albuminurie, sondern die Nephritis, welche ihr zu Grunde liegt, als
die Ursache eines gegebenen Todesfalles. Der wichtigste aller der-
artigen krankhaften Processe ist die dilfuse, . chronische Degeneration
der Hirnrinde, welche die Grundlage der Dementia paralytica büdet.
Die fortschreitende Lcähmung der nervösen Centraiorgane ist es hier,
welche entweder unmittelbar, im paralytischen Anfalle, oder durch
die Yermittelung von Decubitus, Schluckpneumonien, septischen
Phlegmonen u. dergl. den tödtlichen Ausgang herbeiführt. Femer
können syphilitische Hirnerkrankungen, Geschwülste, embolische
Processe aus verschiedenen Ursachen, wie sie die Erscheinungen
einer psychischen Störung erzeugen, im weiteren Yerlaufe dem Leben
ein mehr oder weniger jähes Ende bereiten.
Auf indirectem "Wege wird der Tod durch die psychische Eö-ank-
heit verursacht, wenn nicht das Gehirnleiden, sondern einzelne
Symptome der psychischen Störung das Ende heraufbeschwören.
Yor Allem ist hier die Neigung zum S elbstmorde zu nennen, wie
sie sich so häufig aus depressiven Wahnideen oder Stimmungen heraus-
entwickelt. In ihr haben wir es mit einer äusserst verhängnissvoUen
und praktisch überaus wichtigen Erscheinung des Irreseins zu thun,
die bei schlechter Ueberwachung zahlreiche Opfer fordert. Nächstdem
ist es die Nahrungsverweigerung, dann die bis zur äussersten
Erschöpfung andauernde Unruhe und Schlaflosigkeit mancher
Kranker, schwerer Yerlauf chirurgischer Yerletzungen wegen
der UnmögKchkeit einer geeigneten Behandlung, welche als Todes-
ursachen bei Geisteskranken genannt werden müssen.
Endlich aber ist es eine sehr bemerkenswerthe Thatsache, dass
auch die Ausbildung gewisser körperlicher Erkrankungen durch die
psychische Störung begünstigt wird. Namentlich die Phthise fordert
in Irrenanstalten die fünffache Zahl von Opfern, wie bei Geistes-
gesunden. Das kasernenhafte Leben, die häufig bestehende Ueber-
füllung, die ausgiebige Gelegenheit zur Infection, namentlich aber die
Stumpfheit so vieler Kranker und die damit verknüpfte Herabsetzung
der Athmungs- und Kreislauf sthätigkeit sind wol in erster Linie für
dieses Yerhalten verantwortlich zu machen; ob sonst noch in den
11*
164
in. Verlaiif, Ausgänge und Dauer des^ Irreseins.
Störungen des Hirnlebens als solchen gerade Momente liegen, welche
eine besondere Disposition zu diesen oder jenen körperlichen Erkrank-
ungen („auf trophoneurotischem "Wege'') setzen, dürfte recht zweifel-
haft sein. Jedenfalls ist die Gesammtconstitution und die Lebensweise
der Kranken von weit erheblicherer Bedeutung.
C. Daner des Irreseins.
Die Dauer psychischer Störungen bietet sehr weitgehende
Yerschiedenheiten dar. "Wo die Psychose ihre EntstehuBgsbediuguDgen
im Menschen selbst besitzt, da dauert sie das ganze Leben hindurch;
je mehr sie dagegen Yon äusseren Ursachen abhängig ist, und je
rascher und vorübergehender die "Wirkung derselben ausfällt, desto
kürzer ist die Dauer der Krankheit. Keberdelirien, Yergiftungs-
delirien, CoUapsdelirien können nach wenigen Tagen, Stunden, ja
Minuten schon wieder verschwinden. Aber auch bei neuropathischen
Personen, bei Epileptikern, Hysterischen werden „Anfälle" von psy-
chischer Störung beobachtet, die nur eine äusserst kurze Dauer aufzu-
weisen haben. Hier ist jedoch, wie schon früher ausgeführt, zu beachten,
dass dieselben gewissermassen nur vorübergehende Yerschlimmerungen
eines an sich schon abnormen, lange dauernden Zustandes darstellen,
wenn derselbe auch für gewöhnlich nicht in auffallenden Erankheits-
erscheinungen hervortritt. Im Allgemeinen zeigen die Psychosen
trotz der genannten Ausnahmefälle eine beträchtlich längere Dauer,
als durchschnittlich [körperliche Krankheiten, so dass hier die Ab-
grenzung der acuten; und chronischen Pormen nach einem anderen
Massstabe zu geschehen pflegt. Selbst bei frischen Erkrankungen
zieht sich der Yerlauf in der Eegel über eine Eeihe von Monaten
hin; Eälle bis|zur Dauer eines Jahres werden daher häufig noch
als acute oder subacute bezeichnet. Lnmerhin pflegt die überwiegende
Mehrzahl der überhaupt heilbaren Psychosen innerhalb des ersten
Jahres den günstigen Ausgang zu nehmen. Heilungen nach mehr
als zweijähriger Dauer der Krankheit sind schon ziemlich selten,
doch kommen solche Ausnahmefälle in sinkender Zahl selbst nach
fünf, acht und zehn Jahren noch vor, ja es werden ganz vereinzelte
Beobachtungen berichtet, in denen nach einem Anstaltsaufenthalte
von zwei Decennien noch eine unerwartete Genesung sich einstellte.*)
*) Luys, L'Encepiale 1883, 3; Marandon d e Montyel, Irchives de neurologie
1884, 22; Gucci, Lo Sperimentale, 1888, Aprile.
Dauer des Irreseins,
165
In derartigen Fällen dürfte es sich allerdings wol nur um „Heilungen
mit Defect" handeln. Ausser der Form der Psychose und der Persön-
lichkeit des Erkrankten ist auf die Dauer derselben zweifellos auch
die Behandlung von Einüuss. Je früher G-eisteskranke in eine ge-
eignete Umgebung, in die Anstalt gebracht werden, desto rascher
vollzieht sich unter sonst gleichen Umständen der Ablauf der
psychischen Störung, und desto günstiger sind gleichzeitig die Aus-
sichten auf eine möglichst vollständige Genesung.
lY. Allgemeine Diagnostik.
Die Beantwortung der Frage nach dem Yorhandensein einer
Geistesstörung im einzelnen Falle setzt vor Allem die Beschaffung des
thatsächlichen Materiales voraus, welches uns von der Geschichte
und dem Zustande der gesammten Persönlichkeit ein möglichst Marcs
und vollständiges Bild zu vermitteln geeignet ist. Die Gesichts-
puntte für die Yerarbeitung dieses Materials liefert uns dann die
Minische Erfahrung, und sie ist es auch, welche uns in den Stand
setzt, die eigenthümlichen Fehlerquellen zu vermeiden,, welchen ge-
rade bei der Beobachtung und Beurtheüung psychopathischer Zu-
stände nicht zu selten eine verhängnissvolle Eolle zukommt. Die
Aufgabe der allgemeinen Diagnostik lässt sich somit nach drei ver-
schiedenen, aber in innigem Zusammenhange mit einander stehenden
Eichtungen hin präcisiren: sie hat die klinischen Untersuchungs-
methoden auszubilden, die allgemeinen Kriterien des Irre-
seins festzustellen und endlich die Erkennung der Simulation und
Dissimulation zu ermöglichen.
A. Untersuclmiigsmetliodeii.*)
Den nächsten und wichtigsten Anhaltspunkt für die Erkennung
einer Psychose geben uns naturgemäss die Symptome und der
Yerlauf derselben; für ein weitergehendes Yerständniss ist aber
immer auch die Eenntniss der äusseren und inneren Drsachen
erforderlich, aus denen heraus sich die Erscheinungen entwickelt
haben. Das Endziel der Minischen Untersuchung ist daher nicht
nur die Feststellung der etwa vorhandenen Anzeichen geistiger
Störung, sondern auch die Auffindung derjenigen Anhaltspunkte
welche in ätiologischer Beziehung von Bedeutung sein könnten. Die
Hülfsmittel, welche ihr für alle diese Zwecke zu Gebote stehen, sind
*) Morselli, Manuale cU semeiotica delle malattie mentali. 1885.
Anamnese.
167
einmal die rückscliauende Betrachtung' des Yorlebens bis in frühere
Generationen hinein, die Anamnese, Aveiterhin die eingehende
Prüfung des gesammten körperlichen und psychischen Verhaltens in
einem gegebenen Augenblicke, die Aufnahme des Status praesens,
ferner die fortgesetzte Beobachtung, und endlich in vereinzelten
Fällen auch die Erhebung eines Leichenbefundes.
Anamnese. Die erste Frage richtet sich auf die Erblichkeits-
Terhältnisse im weitesten Sinne. "Wer hier zuverlässige Angaben er-
halten will, wird gut thun, mit seiner Prüfung möglichst in das
Einzelne einzugehen und sich nicht mit allgemeinen Antworten zu
begnügen. Ausserdem empfiehlt es sich, verschiedene Angehörige,
vielleicht auch den Untersuchten selbst, gesondert auszufragen, da oft ge-
nug unabsichtlich, aus TJnkenntniss oder Mangel an Verständniss, bis-
weilen sogar absichtlich, wichtige Thatsachen verschwiegen werden.
In nicht wenigen Fällen giebt die persönKche Bekanntschaft mit den
verschiedenen Familiengliedern (absonderliche Vornamen) dem ge-
übten Beobachter schon an sich genügendes Material zur Beurtheil-
ung der hereditären Verhältnisse an die Hand. Völlige, dauernde
Einsichtslosigkeit mit rührendem Optimismus bei den tiefgreifendsten
Störungen ihrer Kranken, Kritiklosigkeit gegenüber deren "Wahnideen,
übertriebene oder affectirte Aengstlichkeit, unsinniges Misstrauen
gegen die Anstalt und deren Einflüsse, Neigung zu allen möglichen
Quacksalbereien und kindischen Einmischungen in die Behandlung,
auf der anderen Seite Gleichgültigkeit, ja Eohheit sind nicht
seltene charakteristische Züge bei den „Angehörigen" degeneiirter
Kranker.
Bei der historischen Verfolgung des individuellen Lebens wird
man naturgemäss sein Augenmerk der Eeihe nach auf alle jene
Schädlichkeiten zu richten hab en , welche wir früher als mö glich e Ursach en
des Irreseins kennen gelernt haben. Für die Zeit des inti-autertiien
Daseins haben wir auf schwere Gemüthsbewegungen , erschöpfende
Krankheiten oder sonstige Schädigungen des mütterlichen Organismus
Kücksicht zu nehmen. "Weiterhin sind von Wichtigkeit der Verlauf
der Geburt, Infectionskrankheiten oder Gehimleiden (Krämpfe, Lähm-
ungen) im ersten Kindesalter, Entwickelungsstörungen, die Einflüsse
der Erziehung und für das spätere Leben die ganze Keihe jener
persönlichen Schicksale, welche das psychische Gleichgewicht zu er-
schüttern oder dauernd zu vernichten im Stande sind, vor allem die
168
IV. Allgemeine Diagnostik.
mannigfachen physiologischen und krankhaften Umwälzungen auf
dem Gebiete des körperlichen Organismus, die Ausschreitungen, die
Entbehrungen, die depriniirenden Affecte. Oft genug freilich bleibt
das Forschen nach eiaer bestimmteren Ursache vollkommen resultatlos,
sei es, dass überhaupt kein greifbarer äusserer Anstoss zur Ent-
wickelung des Irreseins vorhanden war, sei es, dass er nicht beachtet
wurde oder doch für die Erklärung sich als durchaus ungenügend
erweist. So werden von der Umgebung nicht selten solche Vor-
kommnisse als Ursache der Psychose angesehen, welche sich bei
näherer Betrachtung unzweifelhaft als die Anzeichen der bereits aus-
gebrochenen Störung darstellen, z. B. die Excesse des Paralytikers,
die unglückliche Liebe des erotisch Verrückten, die Selbstbeschuldig-
ungen des Melancholikers u. s. f.
Ausser den Ursachen hat die Anamnese selbstverständlich die
etwaigen Erscheinungen des Irreseins in der Vergangenheit und
weiterhin deren Verlauf und Dauer zu untersuchen. Auch zu diesem
Zwecke greift sie bis in die erste Jugendzeit zurück. Die Schnellig-
keit der körperlichen und geistigen Entwickelung (Gehen, Sprechen,
Lesen), die geistige Befähigung (Schulzeugnisse) und moralische Ver-
anlagung, das Temperament, der Charakter, die persönlichen Neig-
ungen und deren Ausbildung, namentlich auch das Verhalten im
Pubertätsalter (Masturbation) haben unter diesem Gesichtspunkte für
uns Interesse. Von der grössten Bedeutung aber ist natürlich die
Feststellung desjenigen Zeitpunktes, an welchem eine unverkennbar
krankhafte Veränderung im Seelenleben sich einstellte. Gerade in
dieser Hinsicht ist der Arzt den allergröbsten, zumeist unabsicht-
lichen Täuschungen ausgesetzt. Fast bei allen chronisch verlailfen-
den Psychosen wird die Erkrankung längere Zeit hiudurch verkannt
und ihr Beginn daher viel später angenommen, als er wirklich statt-
fand. Erst bei eingehendem Befragen erfähi't man dann, dass doch
auch vor dem bezeichneten Termine, oft Monate und Jahre vorher,
schon diese oder jene, nicht weiter beachteten Anzeichen |der Stör-
ung vorhanden waren, dass die ersten krankhaften Spuren vielleicht
schon bis in die früheste Jugend zurückreichen. Gebildete Leute
sind in dieser Beziehung vielfach nicht bessere Beobachter,!] als
Ungebildete.
Die genauere anamnestische Erhebung der Symptome des Irre-
seins setzt natürlich eine vollständige Kenntniss der einzelnen Krank-
Status praesens.
169
heitsformen voraus. Schon aus den erstea allgemeinen Angaben
über die Aetiologie, über die chronische und acute Entwickelung,
über das Bestehen von Sinnestäuschungen, "Wahnideen, Q-edächtniss-
und Intelligenzstörungen, depressiven und expansiven Yerstimmungen,
körperlichen und besonders nervösen Anomalien, über den stationären,
progressiven, intermittirenden, cii'culären Verlauf, ergiebt sich zu-
meist bald der Verdacht auf eine bestimmte klinische Erkraukungs-
form, der dann durch Eingehen auf das Einzelne weiter begründet
oder widerlegt werden kann. Für praktische Zwecke und in der
Hand des Erfahrenen ist diese zunächst nach einer allgemeinen
Orientirung suchende Methode der anamnestischen Forschung un-
gleich zweckmässiger, als die methodische Erledigung eines bereiten
Schemas, welches alle überhaupt möglichen Erscheinungen des Irre-
seins umfasst. Weniger belangreich für die Diagnose, dafür aber
um so wichtiger für die Behandlung sind endlich die nie zu
unterlassenden Fragen nach der Neigung zu gemeingefährlichen
Handlungen, [zur ^Tahrungs Verweigerung und namentlich zum
Selbstmorde.
Status praesens. Wenn auch die Anamnese vielfach schon
hinreichende Anhaltspunkte liefert, um mit grosser Wahrscheinlich-
keit nicht nur eine Greistesstörung überhaupt, sondern die besondere
Form derselben diagnosticiren zu können, so ist doch für die Ab-
gabe eines ärztlichen Urtheils die persönliche Untersuchung auch in
den anscheinend einfachsten Fällen ebenso unab weisliches Er-
forderniss, wie bei irgend einer somatischen Erkrankung. Der
innige Zusammenhang zwischen psychischen und körperlichen Stör-
ungen wird uns dabei zur Berücksichtigung auch dieser letzteren
veranlassen, da wir in ihnen nicht selten Aufschlüsse über die Ursachen
des Irreseins, oder aber klinisch wichtige Begleiterscheinungen des-
selben aufzufinden erwarten dürfen.
Die somatische Untersuchung wird zunächst den allgemeinen
Zustand des Körpers ins Auge zu fassen haben. Missverhält-
nisse zwischen Lebensalter und Aussehen (pueriler Habitus, Senium
praecox), das Verhalten desKörperwachsthums,(Zwergwuchs,Kyphosen,
graciler Bau, Akromegalie), der Ernährung (Anaemie, Fettpolster,
Hautfarbe), der Kräfte (Musculatur), das Vorhandensein von Ent-
wickelungsanomalien (Spina bifida, Hasenscharte, Wolfsrachen,
Kryptorchismus, Missbildungen der Ohren, Zähne, Grenitalien), Struma,
170
IV. Allgemeine Diagnostik.
Myxödem u. dergl. können "werthvolle Fingerzeige für die ätiologische
Beurtheilung des Falles abgeben. Einige jener Bildungsfehler werden,
wie früher angeführt, vielfach direct als ..Degenerationszeichen" an-
gesehen. Allerdings wird man bei der Yeiwerthnng derselben mit
Vorsicht zu verfahren haben und ihnen nur in Verbindung mit
anderen, gewichtigeren Beweisgründen eine weiterreichende Be-
deutung zugestehen dürfen.
Unzweifelhaft der wichtigste Theil des körperlichen Status
praesens ist der Zustand des Nervensystems, speciell des Ge-
hirns, welches freilich am Lebenden unserer Beurtheilung nur
wenige Angriffspunkte darbietet. Ton der Grösse des Gehirns
vermag uns die Kranicmetrie, namentlich nach der von Eieger
ausgebildeten Methode, ein ungefähres Bild zu verschaffen, dem
indessen alle jene Fehlerquellen anhaften, welche in dem unvoll-
kommenen Barallelismus der Schädel- und Hirn Oberfläche ihren
Ursprung haben. Unmittelbare psychiatrische Wichtigkeit besitzen
daher nur diejenigen Yerbildungen des Schädels in Form und
Grösse, welche unzweifelhaft über den Bereich jener Fehlerquellen
hinausgehen; alle feineren, erst mit Hülfe genauer Messungen fest-
stellbaren Abweichungen können höchstens die allgemeine Yermuth-
ung begründen, dass mit ihnen vielleicht auch Störungen in der
Hirnentwickelung einhergehen. Sehr beachtenswert sind dagegen
die Spuren früherer Traumen, Narben, Impressionen und dergl., da
sie bisweilen den einzigen Schlüssel für das Verständniss sonst
räthselhafter Krank heitsbild er abzugeben im Stande sind.
Ueber die Circulationsverhältnisse des Gehirns vermag uns bis
zu einem gewissen Grade die Betrachtung benachbarter Gefässbezirke,
des Gesichtes und vor Allem des Auges Aufschluss zu geben. Für
die Hirnpathologie ist die ophthalmoskopische Untersuchung bekannt-
lich ein überaus wichtiges Hülfsmittel geworden. Bei Geisteskranken
dagegen sind ihre Ergebnisse leider noch allzu unsichere geblieben,
als dass man ihr heute einen praktischen Werth für die Diagnostik
zuerkennen könnte. Ob hier andere Methoden, die Theimometiie
und die Auscultation des Kopfes, bessere Ergebnisse liefern werden,
muss der Zukunft überlassen bleiben.
Yon durchschlagender Bedeutung für die Beurtheilung des Ge-
hirnzustandes ist dagegen die Prüfung seiner Functionen. Sehen
wir zunächst ab von den psychischen Symptomen, so werden wir
Status praesens.
171
in erster Linie die Sinnesorgane zw nnter?.uchen haben. Freilich
ist es hier, namentlich beim Gehör, oft recht schwierig, ja unmöglich,
periphere Ursachen, der etwa anfgefnndenen Störungen mit Sicher-
heit auszuschliessen. Ausser eingehender Functionsprtifung der
Sinnesorgane und ihrer Besichtigung mit dem Spiegel kann ins-
besondere beim Ohr noch die elektrische Untersuchung des Acusticus*)
in Frage kommen, -welche bisweilen bemerkenswerthe Abweichungen
Ton der Brenner'schen Normalreactionsformel zu Tage fördert.
Bereits weit in das psychische Leben hinein reichen jene centralen
Störungen der Sinnesthcätigkeit, die man als „Worttaubheit" und
„Seelenblindheit" bezeichnet hat. Allerdings wird hier, namentlich
bei der Seelenblindheit, auch die Diagnose der Gehiinläsion eine
ziemlich unsichere. Einigeimassen fester wird der Boden unter
unseren Füssen wieder auf dem Gebiete der aphasischen und der
ihnen verwandten Störungen.**)
Nach der motorischen Seite hin haben wir zunächst die
InnerTation der Pupille, der Augenmuskeln, der mimischen
Musculatur und der Zunge zu beachten. Fernerhin aber . pflegen
bekanntlich auch gewisse Formen des Krampfes (Eindenepilepsie,
Athetose) und der Lähmung (spastische Lähmung mit Contractur),
dann manche Coordinationsstörungen complicirter "Willkürbeweg-
ungen, des Gehens, Stehens, namentlich aber des Sprechens und
Schreibens, mehr oder weniger bindende Eückschlüsse auf den Zu-
stand der nervösen Centraiorgane, speciell des Gehirnes, zu ermög-
lichen. Andere motorische Störungen, die epileptischen und hyste-
rischen Krämpfe, die hysterischen Lähmungen weisen uns meist so-
gar unmittelbar auf eine bestimmte, freilich auch nur symptomatische
Diagnose hin. Ausserdem giebt es aber noch eine grosse Klasse
von InneiTationsanomalien, welche in mehr oder weniger nahen
Beziehungen zu dem Yerhalten des Seelenlebens zu stehen scheinen,
da sie bei den Hirnerkrankungen im engeren Sinne ohne psychische
Störung nur ausnahmsweise beobachtet werden. Dahin gehört
namentlich jene reflectorische Befehlsautomatie aller Muskelgruppen,
welche zur flexibilitas cerea führt (Katalepsie), ferner die Stereotypie
*) Chvostek, Beiträge zur Theorie der HalluciDaticn. Jahrb. f. Psychiatrie,
XI., 3.
**) Ballet, die iimerHche Sprache und die verschiedenen Formen der iphasie.
deutsch V. Bongers, 1890.
1'j2 > .IV. Allgemeine Diagaostik.
in Stellung und Bewegung der Glieder. Ihrer, wie der ver-
schiedenen Arten von Zwangs- und automatischen Bewegungen, die
bisweilen sehr bizarre G-estaltang annehmen können, warde früher
bereits kurz gedacht; ihnen schliessen sich endlich noch eine Reihe
verwickelterer Störungen der Stimme, der Sprache, der Trieb- und
"Willkürbewegungen an, die leider im Zusammenhange immer noch
wenig studirt worden sind.*)
Der Untersuchung der cerebralen schliesst sich eng diejenige
der spinalen Functionen, des Sympathicus und endlich der
peripheren Nerven an, um so enger, als ja selbst heute noch
nicht immer die Ursache einer krankhaften Erscheinung streng in
einem der grossen Abschnitte des Nervensystems localisirt werden
kann. Die Prüfung des Haut- und Muskelsinnes im weitesten Um-
fange, der Sensibilität in ihren verschiedenen Qualitäten, der Schmerz-
empfindlichkeit, elektrischen und mechanischen Erregbarkeit, der
Motilität in willkürlichen und unwillkürlichen Muskeln, der Reflexe,
endlich der vasomotorischen, trophischen, secretorischen Functionen
wird daher regelmässig den Status praesens des nervösen Central-
organes zu vervollständigen haben.
Nur mittelbar, auf dem Wege vielgliedriger Schlussfolgerangen,
kann uns natürlich die Untersuchung des übrigen Körpers zu
einer Diagnose krankhafter Vorgänge im Bereiche des Nervensystems
verhelfen, insofern wir in den aufgefundenen Veränderungen ent-
weder Ursachen, oder aber einfache Begleiterscheinungen vor uns
haben können. So werden wir uns erinnern, dass schwere allgemeine
Ernährungsstörungen (acute Krankheiten, Kachexien, chronische In-
fectionen und Vergiftungen) häufig genug die Grundlage psychischer
Erkrankungen büden, andererseits aber, dass jede acute Psychose
mit durchgreifender Beeinträchtigung des Appetites, des Schlafes und
des gesammten Stoffwechsels einherzugehen pflegt.
Selbstverständlich kann aber auch die körperliche Veränderung
im einzelnen Falle ganz zufällig mit psychischer Erkrankung zu-
sammenfallen. G-leichwol wird zur vollen Würdigung der Sachlage
eine möglichst sorgfältige Untersuchung aller zugänglichen Organe
und ihrer Verrichtungen stets unerlässlich sein. Besondere sympto-
matische Bedeutung hat man bisweilen der Form des Pulsbildes
*) Eoller, Allgem. Zeitsckr. f. Psychiatrie, XLII, 1886.
Status praesens.
173
beigelegt, ans der man die weitgehendsten Aufschlüsse über Diagnose
und namentlich Prognose des Irreseins überhaupt herauslesen wollte.
Ohne Zweifel sind den feinen und überraschend vielseitigen Yariationen
der Sphygmographencurve noch so manche werthvolle Andeutungen
für das Verständniss der Circulationsverhältnisse zu entnehmen, und
wir begegnen ja in derThat, namentlich bei den affectiven psychischen
Störungen, auffallenden Aenderungen der Gefässinnervation (Cyanose,
Congestionen) überaus häufig. Eine pathognomonische Beziehung
zwischen Pulsbild und Irresein besteht indessen nicht, sondern jenes
erstere kann im Verlaufe einer und derselben Erkrankung in Folge
verschiedenartiger Einflüsse (Affecte, Contractionszustand der
peripheren Gefässe, Eerzaction) mannigfaltigen Schwankungen unter-
liegen.*)]
Hat uns die körperliche Untersuchung gewisse Anhaltspunkte
für die ätiologische Auffassung eines Ealles oder Beweise für das
Bestehen gewisser Störungen im centralen Nervensystem zu liefern}
so muss das eigentliche Krankheilsbild durch die Prüfung der
psychischen Functionen festgestellt werden. Leider stehen uns
für die Erhebung dieses wichtigsten Theiles des Status praesens bis-
her kaum andere Hülfsmittel zu Gebote, als diejenigen, welche uns
die gewöhnliche praktische Lebenserfahrung an die Hand giebt. Die
Untersuchung des psychischen Zustandes pflegt daher auch für ge-
wöhnlich in keiner Weise von irgend welchen Zahl- und Mass-
bestimmungen Gebrauch zu machen. Sie begnügt sich vielmehr mit
der primitivsten Art der Beobachtung und mit dem einfachsten
psychologischen Experimente, der Stellung von Fragen; sie hält sich
in ihrem Gange nicht an ein vorherbestimmtes Schema, sondern sie
schreitet systemlos vom unmittelbar Yorliegenden und Auffallenden
zum Yerborgenen und schwerer Auffindbaren fort. Gerade gewisse
motorische Aeusserungen sind es somit, welche zumeist den Ausgangs-
punkt für unsere Untersuchung zu bilden pflegen. |
Aus der Körperhaltung, den mimischen Bewegungen, dem Ge-
sichtsausdrucke können in der Eegel schon von vornherein einige
Aufschlüsse über die Stimmung des Kranken gewonnen werden,
über Ausgelassenheit, Angst oder Yerzweiflung auf der einen, über
Euhe, Stumpfheit oder Gebundenheit auf der anderen Seite. Durch
*) Ziehen, Sphygmographieche Untersuchungen an Geisteskranken. 1887.
174
IV. Allgemeine Diagaostik.
einige einfache Fragen über Namen, Alter, Yorleben wird weiterhin
festgestellt, ob das Bewasstsein getrübt oder klar, ob die Besonnen-
heit, die Fähigkeit der Auffassung und unmittelbaren Verwerthung
von Sinneseindrücken erhalten ist. Zugleich wird sich dabei auch
ein annäherndes XJrtheil über die Schnelligkeit des Yorstellungs-
verlaufes, sowie über das G-edächtniss für die frühere Vergangenheit
ergeben. Im Fortgange unserer Unterhaltung werden wir festzu-
stellen suchen, ob die Erinnerung an die jüngste Zeit, die Orientir-
ung über die augenblickliche Umgebung (Aufenthaltsort wie Personen),
imd ob Krankheitsbewusstsein vorhanden ist; wir gewinnen
dabei die Aufklärung, ob wir es mit einem geordneten oder mit
einem ideenflüchtigen, deliriösen, verwirrten, stereotypen G-edanken-
gange zu thun haben. Inzwischen werden sich zumeist schon aller-
lei weitere Anhaltspunkte für die BeurtheUung der übrigen psychischen
Leistungen ergeben haben, die uns als Wegweiser für die Auffindung
weniger unmittelbar zu Tage tretender Störungen dienen können.
Nicht ganz leicht ist es bisweilen, über das Bestehen von
Sinnestäuschungen ins Klare zu kommen. Die einfache Frage
über diesen Punkt wird uns nur selten zum Ziele führen, sei es^
dass sich dem Kranken die Trugwahrnehmungen unterschiedslos der
sonstigen Sinneserfahrung einordnen, sei es, dass er aus irgend
welchen Gründen über dieselben eine misstrauische Zurückhaltung
bewahrt. Gleichwol pflegen die Bezeichnungen „Stimmen" und
„Büder" doch in der Regel vom Hallucinanten sofort auf seine
Täuschungen bezogen zu werden. Bisweilen sind die Sinnesphantasmen
trotz alles Ableugnens des Kranken mit ziemücher Sicherheit aus
seinem Benehmen zu erschliessen, aus der horchenden Stellung, in
der er längere Zeit "verharrt, plötzlichem unmotivirtem Auffahren
oder Lachen, lautem Sprechen und dergl. Umgekehrt kann man
aber auch gelegentlich zu der Annahme von Sinnestäuschungen
kommen, wo es sich nur um eigenthümlich aufgefasste und wieder-
gegebene wirkliche Wahrnehmungen handelt. Die Erfahrung hat
mir gezeigt, dass Yorsicht in dieser Beziehung sehr am Platze ist.
Auch die Erkennung von Wahnideen ist nicht immer ganz
leicht. Bisweilen treten dieselben bei der Versetzung in eine neue Um-
gebung zeitweise in den Hintergrund. Eine ganze Zahl von Kranken
pflegt ferner ihre Wahnideen, namentlich im Beginne der Erkrank-
ung und vor Femden, sehr sorgfältig geheim zu halten und jedem
Status praesens.
175
Versuche tieferen Eiadringens auszuweichen, bis irgend ein Punkt
getroffen wird, der sie in Erregung versetzt, oder bis es gelingt,
durch allerlei Suggestivfragen eine Anknüpfung zu finden, mit Hülfe
deren sich anscheinend absichtslos das ganze zusammenhängende
Netz krankhafter Ideen entwickeln lässt. Nicht zu selten leitet auch
hier schon das äussere Benehmen des Kranken auf die Snur
bcheues, missti-auisches Wesen wird uns geheime Eeinde und Yer-
folgimgen vermuthen lassen; eine gewisse excentrische Selbstgefällig-
keit, die sich bisweilen schon in der Tracht ausspricht, deutet auf
Grössenideen, während häufiges Knieen, Händefalten, weinerlich ver-
zagter Gesichtsausdruck das Bestehen von Versündigungswahn mit
religiöser Eärbung wahrscheinlich macht u. s. f. Trotz aller Mannig-
faltigkeit im Einzelnen pflegen dabei die G-rundzüge solcher Wahn-
systeme doch vielfach eine so weitgehende Uebereinstimmung mit
einander aufzuweisen, dass ein erfahrener Beobachter auf Grund
seiner aus Aeusserlichkeiten gezogenen Schlüsse dem verblüfften
Patienten öfters mit überraschender Schnelligkeit das Zugeständniss
seiner krankhaften Ideen zu entwinden vermag.
Ganz besondere Schwierigkeiten aber können dann erwachsen,
wenn der Inhalt der Wahnideen an sich nicht ohne Weiteres, sondern
nur auf Grund einer genaueren Kenntniss aller Verhältnisse als
krankhaft erkennbar ist. Hier bewegen wir uns nicht selten auf
Grenzgebieten, in denen das Urtheil oft erst nach längerer Beobacht-
ung, und auch dann bisweilen nur mit grösster Zurückhaltung ab-
gegeben werden kann. Zudem pflegen die Kranken gerade hier sehr
geschickt ihre Wahnideen zu verbergen oder scheinbar vollkommen
zutreffend zu begründen.
Andererseits kann die Erkennung bestimmter Wahnideen auch
dadurch erschwert werden, dass der Kranke benommen, verwirrt
ängstlich und dadurch ausser Stande ist, seine Gedanken zusammen-
hängend zu äussern. Hier können Monate vergehen, bevor sich
einigermassen klar erkennen lässt, welche Vorgänge sich in seinem Be-
wusstsein abspielen. Wir sind bei dieser Beurtheilung ganz auf die
nicht immer zuverlässige Deutung jener unwillkürlichen Aeusser-
ungen angewiesen, in denen sich die Seelenzustände nach aussen
kundgeben.
Die Untersuchung auf das Bestehen von Wahnideen bietet
gleichzeitig Gelegenheit, sich über den Zustand der Intelligenz und
176
IV. Allgemeine Diagnostik.
des Gedächtnisses überhaupt etwas näher zu iniormiren. Das
kritiklose Festhalten an widerspruchsvollen Vorstellungen ohne
motivirende Bewusstseinstrübung oder tieferen Affect, ferner die
Yermischung von Erinnerungen mit phantastischen Einzelheiten
werden in dieser Richtung zu verwerthen sein. Im TJebrigen müssen
uns hier die Eegeln der tagtäglichen praktischen Menschenkenntniss
darüberbelehren,wiedieallgemeinegeistigeyeranlagungundLeistungs-
f ähigkeit des Patienten beschaffen ist. Unter Berücksichtigung seiner
Yergan^enheit, seiner Erziehung und BUdungsmittel werden wir im
G espräche ungefähr denUmfang seiner Kenntnisse, seiner Interessen und
seiner gegenwärtigen TJrtheilsfähigkeit zu ermessen haben. Natürlich
kann die so gewonnene allgemeine Orientirung die Gewinnung brauch-
barer Typen und Abstufungen immer nur in den allergröbsten Um-
rissen gestatten. Yielleicht könnte unter Umständen der Yersuch
der Beschreibung eines bis dahin unbekannten Gegenstandes, die
mündliche oder schriftliche Schilderung und Beurtheilung der neuen
Eindrücke in der Anstalt, die Ausdauer bei einer bestimmten
geistigenBeschäftigung zum Krankenexamen mit herangezogen werden.
Eine tieferdringende Prüfung der Intelligenz unserer Kranken
stösst zur Zeit noch auf Schwierigkeiten, die im Hinblick
auf die Yielseitigkeit der Frage, sowie auf den weitreichenden Ein-
fluss der Erziehung und Bildung kaum überwindlich erscheinen.
Einen glänzenden Yersuch zur Eröffnung neuer Bahnen nach dieser
Richtiing hin hat indessen Rieger*) unternommen, indem er bei
einem Kranken mit schwerer Hirnverletzung ein genaues Inventar
seines Yorstellungsschatzes und seiner geistigen Leistungen aufnahm.
Das von ihm angewandte und eingehend beschriebene Yerfahren ist
ohne Zweifel auch auf eine Reihe anderer Formen psychischer
Störung, namentlich auf Schwächezustände übertragbar. Dabei wird
sich voraussichtlich allmählich das besonders Wichtige von 'dem
weniger Bedeutsamen abscheiden und damit die jetzt noch ungemein
mühsame und zeitraubende Methode praktisch verwertiibarer werden.
Nicht viel anders steht es mit den Gefühlen, Affecten und
Strebungen. Was wir bei der einmaligen Untersuchung auf diesen
Gebieten überhaupt zu erkennen vermögen, offenbart sich meist be-
*) Beschreibung der Intelligenzstörungen in Folge einer Hirnverletzung, nebst
einem Entwurf zu einer allgemein anwendbaren Methode der Intelligenzprüfung.
1889.
Status praesens.
177
reits bei der äusseren Betrachtuag, in den Ausdrucksbewegnngen.
Darüber hinaus sind wir wesentlich auf die nicht immer ganz zu-
verlässigen Selbstschilderuugen angewiesen, welche uns von dem
Zustande des eigenen Innern entworfen werden. Natürlich vermag
uns aber der Lauf der Untersuchung über die grössere oder ge-
ringere gemüthliche Eeizbarkeit, über Grleichmässigkeit oder häufigen
Wechsel der Stimmung, endlich über auffallende Gefühlsäusserungen
nach bestimmten Eichtungen hin, grundlosen Hass, religiöse
Schwärmerei und dergleichen mannigfache gewichtige Aufschlüsse
zu liefern. Auf etwa vorhandene krankhafte Neigungen, Selbst-
morddrang, gesteigerte geschlechtliche Begierde, Sucht zu kaufen, zu
trinken, werden wir ebenfalls bei unserer Prüfung Eücksicht nehmen
müssen; was sich aber hier nicht schon unwillkürlich in dem ge-
sammten Benehmen verräth, werden wir häufig genug dui'ch Aus-
fragen der Ejranken auch nicht erfahren, und wir müssen daher zur
Yervollständigung unseres Bildes nach dieser Eichtung hin die
Anamnese mit zur Hülfe nehmen.
Es wird kaum in Abrede gestellt werden können, dass für die
wissenschaftliche Betrachtung und auch im Vergleiche mit anderen
medicinischen Gebieten die Methode, nach welcher wir den psychischen
Status feststellen, eine äusserst unvollkommene genannt werden
muss; sie hat fast mehr Aehnlichkeit mit dem Yorgehen des
Criminalisten, als mit einer naturwissenschaftlichen Untersuchung.
Leider ist es weniger schwer, diesen Mangel zu erkennen, als ihm
abzuhelfen. Nicht nur setzt das Gebiet der psychischen Yorgänge
an sich der Einfühi-ung wirklich exacter Methoden den grössten
Widerstand entgegen, der nur allmählich überwunden werden kann,
sondern es ist auch nur allzu häufig gar nicht möglich, einen Geistes-
kranken der Eeihe nach systematisch allen den Prüfungen zu unter-
werfen, die man etwa für wünschenswerth erachtet. Oft genug ist
das Object ein widerwilliges, unzugängliches oder fast unverständ-
liches, so dass selbst eine ungefähre Erkenntniss desselben nur durch
sehr grosse Geduld, ein feinfühliges Geschick und eine genaue Yertraut-
heit mit allen den mannigfachen Erscheinungsformen erreicht werden
kann, in denen sich psychopathische Yorgänge zu offenbaren pflegen.
Trotz, oder vielmehr gerade wegen aller dieser Schwierigkeiten will
ich es nicht unterlassen, hier, wenn auch nur in kurzen Andeutungen,
auf einige der Wege hinzuweisen, welche in absehbarer Zeit uns
Kr aepe litt, Psychiatrie. 4. Aufl. -i o
178
IV. Allgemeine Diagnostik.
doch Yielleicht gestatten werden, wenigstens bei manchen chronischer
Terlanfenden Formen des Irreseins Messung nnd Zählung psychischer
Grössen zur Gewinnung eines tieferen Einblickes in die Art der
Störungen zu verwerthen. Alle diese "Wege sind bereits betreten
und praktisch erprobt worden.*)
Als Gang für eine exacte psychische Untersuchung würde sich
im Allgemeinen die Verfolgung jener Bahn empfehlen, welche unsere
gesammte Erfahrung gegangen ist. Zuerst wären somit der "Wahr-
nehmungsvorgang, das Yerhalten der Aufmerksamkeit, das Gedächt-
niss, dann die Verbindungen der Vorstellungen, die logischen Leist-
ungen, das Selbstbewusstsein, kurz die Intelligenz, endlich die
niederen und höheren Gefühle, die Stimmung, die Affecte und die
psychomotorischen Entladungen derselben, das Handeln, zu prüfen.
Von allen diesen Stationen sind es nur einige wenige, welche für
jetzt einer genaueren Prüfung bei Geisteskranken zugänglich er-
scheinen; sie liegen sämmtlich auf dem Gebiete der intellectuellen
Functionen.
In erster Linie ist es der Vorgang der Aufmerksamkeit, der
sich uns als Angriffspunkt darbietet. Ich will hier absehen Ton der
Möglichkeit, den Grad der Aufmerksamkeitsspannung direct durch
Bestimmung der jeweiligen Beiz- oder ünterschiedsschwelle zu messen,
und nur an jene eigenthtimlichen Schwankungen der Aufmerksam-
keit erinnern, deren Ausgiebigkeit, wie schon Buccola fand, bei
Geisteskranken regelmässig eine sehr grosse zu sein pflegt. Zu einer
möglichst einfachen Bestimmung derselben, die auf verschiedene
"Weise geschehen kann, habe ich in letzter Zeit z. B. das fortlaufende
Addiren einstelliger Zahlen benutzt. In regelmässigen kürzeren
Pausen wurde auf ein Signal durch einen Strich das bis dabin Ge-
arbeitete abgegrenzt, sodass die Schwankungen der Leistung in den
einzelnen Zeitabschnitten unmittelbar aus der Menge der addirten
Zahlen erkannt [werden konnten. Bei längerer Fortsetzung der-
artiger und ^hnlicher Versuche wachsen die Schwankungen der Auf-
merksamkeit bedeutend an, indem gleichzeitig die durchschnittliche
Grösse der geleisteten Arbeit abnimmt. Diese beiden Veränderungen
geben uns ein Mass für die Stärke der in jedem Zeitpimkte vor-
*'< Vergl. Kraepelin, Ueter die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge
durch einige Arzneimittel, 1892.
Status praesens.
179
handenen Ermüdung; sie gestatten uns ferner, die Ermüdungsgrösse
yerschiedener Personen nacJi derselben Arbeitsdauer mit einander
zu vergleichen und damit die relative Ermüdbarkeit genau auszu-
drücken. Ich habe Ursache, anzunehmen, dass die Grösse der Er-
müdbarkeit eine grundlegende Bedeutung für die Beurtheilung der
gesammten psychischen Yeranlagung eines Menschen besitzt. Es
giebt femer Thatsachen, welche darauf hindeuten, dass dieselbe
in nahen Beziehungen zu der Widerstandsfähigkeit gegen psychische
Einflüsse, wie gegen lähmende Gifte steht, und die Hoffiiung ist da-
her nicht unberechtigt, einmal in der höhergradigen Ermüdbarkeit
eine wesentliche Eigenschaft mancher Formen der psychopathischen
Constitution aufzufinden. Allerdings erfordert die praktische Mess-
ung der Ermüdbarkeit einstweilen noch grosse Vorsicht, da zufällige
Einflüsse leicht das Ergebniss trüben, doch lassen sich diese
Schwierigkeiten, wie mir die Erfahrung gezeigt hat, bei einiger Sorg-
falt ganz gut überwinden.
Die Untersuchung des Gedächtnisses hat sich einmal auf die
Festigkeit zu erstrecken, mit welcher früher erworbene Yorstellungen
in unserem Innern haften, dann aber auf die Fähigkeit, jetzt noch
neue- Vorstellungen zu assimiliren und aufzubewahren. Auf Stör-
ungen in der ersteren Eichtung pflegen wir gewöhnhch zu fahnden
durch die Frage nach gewissen, als selbstverständlich vorausgesetzten
Kenntnissen, seien es persönliche Erlebnisse, seien es anderweitig
erlernte Daten, namentlich die Kechnungsarten. Auch hier kann
man durch reihenartig fortlaufende, systematische Eechenversuche
mit periodischer Zeitregistrirung ein Mass für die Leichtigkeit ge-
winnen, mit welcher der Exanke noch über die in der Kindheit
erlernten einfachen Zahlenverbindungen verfügt. In ganz ähnlicher
Weise lässt sich die augenblickliche Aufnahmefähigkeit des Gedächt-
nisses durch Auswendiglernen langer Zahlen- oder sinnloser Silben-
reihen ohne erhebliche Schwierigkeit prüfen. Dabei ergiebt sich,
dass verschiedene Personen die zu lernenden Keihen mit individuell
bestimmter, aber sehr verschiedener Geschwindigkeit memoriren.
Wahrscheinlich handelt es sich hier um Abweichungen in der Lern-
methode. Berücksichtigt man, dass sich beim Lernen einer Zahlen-
reihe die Auffassung des Sinneseindruckes mit dem Aussprechen der
Bezeichnungen verbindet, so liegt die noch durch allerlei andere Be-
obachtungen gestützte Annahme nahe, dass sich bei langsamem
12*
180
IV. Allgemeine Diagnostik.
Memoriren die Aufmerksamkeit vorzugsweise auf die sensorischen
und associativen, bei schnellem Memoriren dagegen besonders auf die
motorischen Bestandtheile der Gesammtvorstellung richtet. Erstere
werden bei langsamer Einprägung, letztere bei häufiger Wiederholung
besser in unserem Gedächtnisse befestigt. Die Geschwindigkeit des
Memorirens gestattet demnach einen Schluss auf die gewohnheits-
mässige Bevorzugung dieser oder jener Seite unserer Vorstellungen,
zunächst bei der vorliegenden Arbeitsleistung. Es ist indessen nicht
unwahrscheinlich, dass diesen Yerschiedenheiten eine weit über das
einzelne Gebiet hin ausreichende Bedeutung zukommtr
Weiterhin tritt uns der Einfluss des Gedächtnisses bei fast allen
derartigen experimentellen Untersuchungen in der Grösse der im
Laufe der Zeit erlangten Hebung entgegen. Da die Uebung in
gesetzmässiger Weise die Dauer aller psychischen Yorgänge, wie
die Ausgiebigkeit ihrer Schwankungen herabsetzt, so ist es möglich,
die Grösse derselben durch einen bestimmten Zahlenausdruck wieder-
zugeben. Auch die Uebungsf ähigkeit ist selbstverständlich eine
persönliche Eigenschaft von weitreichendster Bedeutung. Wir werden
sie durch den Zuwachs an Schnelligkeit messen, den eine psychische
Arbeitsleistung erfährt, wenn sie so oft in bestimmten Zwischen-
räumen wiederholt wird, bis eine weitere Beschleunigung nicht mehr
eintritt. Verwickelt wird die praktische Feststellung der Uebungsf ähig-
keit durch den Umstand, dass die erreichte Uebung mit verschiedener
Geschwindigkeit wieder verloren geht. Allein der Einfluss der ver-
schiedenen Festigkeit der Uebung lässt sich durch geeignete Ver-
suche gesondert studiren und nach seiner Grösse in Anschlag bringen;
er liefert uns einen weiteren wichtigen Anhalt für die Beurtheilung
der gesunden und kranken Persönlichkeit.
Als eine besondere Form des Gedächtnisses haben wir endlich
den Zeitsinn aufzufassen, dessen Störungen bei Kranken ja oft
sehr augenfällige sind. Ueber das Verhalten beim gesunden Menschen
liegen schon verschiedenartige Untersuchungen vor. Für praktische
Zwecke Hess ich die Methode dahin vereinfachen, dass eine bestimmte
längere Zeitstrecke (30") von dem Kranken eine gewisse Anzahl von
Malen wiedergegeben wurde. Die dabei sich herausstellenden
Constanten und variablen Fehler geben interessante Aufschlüsse über
das Zeitgedächtniss und die dasselbe beherrschenden psychologischen
Einflüsse, namentlich über die Ermüdbarkeit,
Status praesens.
181
Das Studium der Yorstellungsverbindungen lässt sich nach
drei verscliiedeneu Eichtungen hin ausdehnen. Am häufigsten ist
bisher die Schnelligkeit derselben gemessen worden, obgleich sie
zuverlässig nur mit Hülfe complicirterer Apparate, z. B. des Hipp'schen
Chronoskops, bestimmt werden kann. Allenfalls lässt sich, wo das
Gedächtniss ungestört ist, auch durch die oben erwähnten Eechen-
versiichsreihen auf einfache "Weise ein Urtheil über diesen Punkt
gewinnen. Jene genaueren Methoden liefern aber nur in den Händen
wirklich geübter Untersucher brauchbare Ergebnisse; die meisten
bisher an Geisteski-anken angestellten derartigen Messungen sind
leider werthlos. Meine eigenen Erfahrungen haben mir gezeigt, dass
gerade bei der Untersuchung der Associationszeiten die systema-
tische Wiederholung derselben Yersuche mit denselben Reizworten
nach manchen Richtungen wichtigere und zuverlässigere Ergebnisse
liefert, als die meist geübte Vermeidung solcher "Wiederholungen.
Namentlich der Einfluss der Uebung auf die Schnelligkeit und
Festigkeit der Vorstellungsverbindungen lässt sich dabei sehr schön
verfolgen. Allein auch ohne Zeitmessungen sind Associationsversuche
nicht nur von mannigfachem Interesse, sondern auch ungemein leicht
ausführbar. Indem man einfach irgend ein "Wort ausspricht und die
erste daraufhin im Kranken auftauchende Vorstellung notirt, kann
man in kurzer Zeit das Material für eine Statistik der Associationen
sammeln, welche namentlich über das gewohnheitsmässige Verhältniss
der inneren zu den äusseren Vorstellungsverbindungen, die Häufigkeit
der Klangassociationen und Eeminiscenzen gewisse Aufschlüsse zu
liefern vermag. Auch auf diese "Weise lassen sich "Werthe für die
Festigkeit der einzelnen Associationsgruppen gewinnen. Als Mass für
dieselbe habe ich das Verhältniss der bei einer "Wiederholung neu
auftretenden Associationen zur Gesammtzahl der Versuche benutzt.
Mit diesen kurzen Hinweisen auf die wichtigsten derjenigen
psychischen Untersuchungsmethoden, welche es mir bisher gelungen
ist, in eine so einfache Form zu bringen, dass sie auch bei einer
grösseren Zahl von Geisteskranken ohne Schwierigkeit in Anwend-
ung gezogen werden können, muss ich mich hier begnügen. "Wenn es
auch zunächst nur unbedeutende Anfänge sind, die uns heute vorliegen,
so liefern sie doch immerhin den Beweis, dass es möglich ist, selbst auf
unserem schwierigen Forschungsgebiete für exacte naturwissenschaft-
liche Beobachtungsmethoden allmählich Boden zu gewinnen.
182
IV. Allgemeine Diagnostik.
Beobachtmig. Es ist leicht verständlich, dass in einigermassen
schwierigen Fällen die einfache Untersuchung eiaes Kranken niemals
ausreicht, sondern zur grösseren Sicherheit immer eiue mehr oder
weniger lang bemessene Beobachtungszeit gefordert werden muss.
Die Befangenheit bei dem ungewöhnlichen Examen, der psj'^chische
Eindruck der Yersetzung iu neue Yerhältnisse kann das Büd für
eioige Zeit völlig verändern, ganz abgesehen von jenen Krankheits-
formen, welche ihrer Natur nach mit Intermissionen verlaufen oder
nur- anfaUsweise hervortreten. Als Ort für [die Beobachtung dient
am besten die Irrenanstalt, weil nur in ihr eine dauernde, sach-
verständige Ueberwachung gesichert erscheiut. Sehr häufig fördern
hier che ersten Tage der Einbürgerung, die man ohne besonderen Eiu-
griff verstreichen lässt, gar keiu auffallendes Beobachtungsmaterial zu
Tage ; erst nach und nach tretenjjdie ki-ankhaf ten Erscheuiungen, falls
solche überhaupt vorhanden, deutlicher hervor. Alle jene eiuzebien
Züge des psychischen Büdes, welche im Status praesens nur ange-
deutet waren, prägen sich nun bei der häufigeren Untersuchung deut-
licher aus: das Wesenthche sondert sich vom Unwesentlichen und
Zufälligen. Dazu kommt, dass sich der Beobachtete Seinesgleichen
gegenüber und bei längerer Bekanntschaft mit dem Arzte unbefangener
giebt, sich mehr gehen lässt und achtlos Eigenthümlichkeiten, Ideen,
Gefühle verräth, mit denen er bei der eiumaligen Untersuchung zu-
rückhielt. Von besonderer Bedeutung in dieser Beziehung pflegen
Briefe zu seiu, welche oft mit eiuem Schlage ein kaum erwartetes
Licht über den Zustand ihres Yerfassers ausbreiten.
Weiterhin aber ist man nun in den Stand gesetzt, seiu Handeln
zu controlü'en, freilich nur in dem engen Kähmen der Anstaltsverhält-
nisse, der aber für den Kranken doch noch der Gelegenheiten genug
zu pathologischen WiUensäusserungen darbietet. Lebhaftigkeit oder
Interesselosigkeit, Zerstreutheit oder Yersunkenheit, Leistungsfähigkeit
oder Schwäche, Selbstüberschätzung oder Kleiumuth, Reizbarkeit oder
Stumpfheit, Energie oder Unentschlossenheit, Geschäftigkeit oder Träg-
heit — alle diese Eigenschaften und viele andere Averden sich in den
täglich beobachteten kleinen Zügen nach und nach auf das Unver-
kennbarste herausstellen müssen. Endlich ist es nur auf dem "Wege
fortgesetzter Beobachtung möglich, den fortsclueitenden oder gleich-
bleibenden Yerlauf des vermuthHchen Leidens, das Yorkommen von
Besserungen, Yerschlimiuerungen, „Anfällen" aUer Art, das Verhalten
ßjriterien des Irreseins.
183
des Schlafes, Appetites, der Verdaaaag uad vov Allem des Körper-
gewichtes in gesiclierter "Weise festzastellen. Soweit daher im einzelnen
Falle überhaupt eine Aufklärung über das körperliche und psychische
Verhalten möglich ist, wird sie durch die mannigfachen Erfahrungs-
quellen, welche die klinische Beobachtung gewähi-t, in der Regel erreicht
werden können.
Autopsie. Wenn wir in der übrigen Medicia gewöhnt siud, als
die letzte Instanz für die Bestätigung unserer Diagaose den Sections-
befund anzusehen, so können wir in der Psychiatrie der Leiohen-
nntersuchung bis jetzt nur einen sehr beschränkten Werth zugestehen.
Wo die Diagnose eiaer psychischen Erkrankung nicht aus den Er-
scheinungen am Lebenden gestellt werden konnte, vermag die Autopsie
heute ganz gewiss keine Entscheidung herbeizuführen. Bei der über-
grossen Mehrzahl aller Geisteskranken fäUt der Sectionsbefund Seitens
des Grehirns vöUig nichtssagead aus, oder er bietet doch nur uusichere
und vieldeutige Abweichungen, welche durchaus keine weitergehenden
Schlussfolgerungen zulassen. Freilich muss man dabei bedenken, dass
unsere Untersuchungsmethoden im Hiubücke auf die verwirrende
Feinheit und Complicirtheit des Objectes noch ganz ausserordentlich
roh und unvollkommen genannt werden müssen. Grleichwol gelingt es
auch jetzt schon bei vieleu Fällen schwererer Idiotie, bei länger
dauerndem Blödsinn, namentlich aber in der Dementia paralytica und
der Dementia ^nilis gröbere und feinere Veränderungen des Grehirns
aufzufinden, die wir ein gutes Recht haben, als die Grrundlagen der
im Leben beobachteten psychischen Störungen anzusehen^ Ob und
wie weit den einzelnen Veränderungen bestimmte klinische Erschein-
ungen oder Krankheitsbilder entsprechen, wird freilich erst die weitere
Erfahrung uns lehren müssen.
B. Kriterien des Irreseins.
Das Bedürfniss nach einer strengen Begriffsbestimmung der
Geisteskrankheit, nach einer Abgrenzung dieser letzteren von der Breite
des Gesunden, ist in der Geschichte der Psychiatrie der Ausgangspunkt
zahlloser, angestrengter Bemühungen, scharfsinniger Auseinandersetz-
ungen und spitzfindiger Beweisführungen gewesen, bis endüch die
unvermeidliche Erkenntniss sich immer mehr Bahn zu brechen begann,
184
IV. Allgemeine Diagnostik.
dass die FragesteJlurig you Yornherein eine falsche war, dass es hier
wirklich scharfe Grenzen und unfehlbare Kennzeichen der Natur der
Sache gemäss ebensowenig geben kann, wie hei der Unterscheidung
von körperlicher Gesundheit und Krankheit. Die Symptome des Irre-
seins sind eben durchaus nicht gänzlich fremdartige und durch das
Irresein neu erzeugte Erscheinungen, sondern sie haben ihre Wurzeln
in normalen Yorgängen und verdanken ihren eigenartigen Charakter
nur der einseitigen, masslosen Ausbildung oder dem Untergange
dieser oder jener Functionen, sowie der besonderen Yerbindung der
verschiedenartigen Elementarstörungen.
Yerhältnissmässig leicht wird indessen die Erkennung einer
Geistesstörung dann, wenn es gelingt, den Nachweis zu führen, dass
die verdächtigen Erscheinungen nicht von jeher bestanden haben,
sondern etwas Gewordenes sind. Zwar kommen ja auch im ge-
sunden Leben Wandlungen vor, die bis in das innerste Wesen der
Persönlichkeit eingreifen, aber im Allgemeinen legt dennoch die Be-
obachtung einer auffallenden Yeränderung im Denken, Kühlen und
Handeln eines Menschen den Gedanken an eine krankhafte Natiir
derselben sehr nahe. Zur Gewissheit wird diese Yermuthung, wenn
die hervortretenden Symptome sich widerspruchslos in eines
der bekannte n klinischen Krankheitsbilder einordnen, und
wenn vielleicht auch Ursachen sich auffinden lassen, welche er-
fahrungsgemäss jene Gruppe von Störungen häufigerzu erzeugen pflegen.
Es darf mit allem Nachdrucke betont werden, dass in solchen
Fällen die genaue Erhebung der Anamnese, sorgfältige Ausnutzung
aller Untersuchungsmethoden und eine gewisse Zeit fortlaufender Be-
obachtung bei wirklichem Sachverständniss regelmässig zum Ziele
führen wird. Die Psychiatrie ist in der Erkennung von Krankheits-
processen, auch solchen sehr langsamen Yerlaufes, in keiner Weise
hülfloser, als etwa die innere Medicin oder die Nervenheilkunde, die
ja ebenfalls oft genug erst nach längerer Beobachtiing ein sicheres
Yerständniss schwieriger Krankheitsfälle en-eichen. Nur die kühnste
Unwissenheit kann sich daher zu der häufig wiederholten Behaupt-
ung versteigen, dass der Irrenarzt wegen der Unvollkommenheit der
Psychiatrie vielfach Geistesgesunde als krank betrachte und sie da-
her widerrechtlich ihrer Freiheit beraube. Allerdings sieht der Sach-
vcrs trndige auch hier überall tiefer, als der meist von ganz abenteuer-
lichen YorsteUungen über das Irresein erfüllte Laie.
Kriterien des Irreseins.
185
Die unerbittliche Fordemng, uns niemals mit dem Nach-weise
einer Geistesstörung im j^Ugemeinen zu begnügen, sondern unter allen
Umständen zu einer bestimmten klinischen Diagnose zu gelangen, wird
uns namentlich davor bewahren, einzelne Erscheinungen als
pathognomonisch zu betrachten und darüber das Gesammtbild des
vorliegenden Falles ausser Acht zu lassen. Früher hat man z. B.
viel darüber gestritten, ob Sinnestäuschungen auch bei geistiger Ge-
sundheit vorkommen könnten, und ob der Selbstmord unter allen
Umständen als Krankheitserscheinung aufgefasst werden müsse; jetzt
wissen wir, dass Beides Symptome sind, welche im einzelnen Falle
nur durch den Zusammenhalt mit anderweitigen Beobachtungsthat-
sachen in ihrer wahren Bedeutung erkannt werden können. "Wenn
z. B. Esquirol den Selbstmord einfach als eine besondere Form des
Irreseins beschrieb, so habe ich in Uebereinstimmung mit den Er-
fahrungen Anderer durch die Beobachtung geretteter Selbstmörder
feststellen können, dass nur SC/o derselben wirklich khnisch ausgeprägte
geistige Störungen darboten.
Eecht schwierig kann sich die Entscheidung über psychische
Gesundheit oder Krankheit gestalten, wenn nicht über das Bestehen
eines krankhaften Processes, sondern über das Yorhandensein eines
krankhaften Zustandes entschieden werden soll. Im ersten FaUe
war uns die Norm der Beurtheilung in dem Verhalten des Kranken
selber vor der eingetretenen Yeränderung gegeben; hier dagegen sind
wir gänzlich auf die Abgrenzung nach den allgemeinen Begriffen an-
gewiesen, die sich in der Wissenschaft als Gradmesser für die Be-
stimmung des Pathologischen niedergeschlagen haben. Dazu kommt,
dass wir ein ausgedehntes Uebergangsgebiet zu verzeichnen haben,
auf dem es sich lediglich um die Abschätzung gradweiser Unter-
schiede handelt, sodass es vielfach dem Belieben und dem Stand-
punkte des Beobachters überlassen bleibt, wie weit oder wie eng er
die Grenze der {3 ei stesk rankheit stecken wiU. Dies ist der Grund,
warum so häufig die Gutachten selbst wissenschaftlich hochstehender
Sachverständiger bei der Beurtheüung solcher FäUe vollständig aus-
einandergehen: die allgemeinen Grundsätze versagen hier bisweilen
durchaus und lassen einzig dem persönlichen Ermessen die Ent-
scheidung zufallen.
Der Irrenarzt ist demnach hier etwa in derselben Lage, wie der
Kassenarzt bei der Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit, nur mit dem
186
rV. Allgemeine Diagnostik.
Unterschiede, dass die Tragweite seines Ausspruches eine häufig viel
grössere ist. Es erscheint daher ganz unvermeidlich, dass gelegentlich
sein ürtheil als Härte empfunden und von Ej-anken oder Angehörigen
angefochten wird, zumal den Ersteren immer, den Letzteren häufig
das Yerständniss für die in Betracht kommenden Zustände völlig ab-
geht. An diesem Punkte liegt wol die Öauptquelle für die nament-
lich in neuester Zeit mit ebenso viel Unkenntniss wie Gehässigkeit
betriebene Agitation gegen die Thätigkeit der Irrenärzte.*) Natürlich
würde Niemand froher sein, als diese Letzteren selbst, wemi man sie
von der leidigen Verantwortlichkeit für die Beurthedüng der Ueber-
gangsformen zwischen geistiger Gesundheit und Ejrankheit befreien
wollte. Leider ist dazu wenig Aussicht, da sich schwerlich Jemand
finden dürfte, der ihnen diese undankbare, Aufgabe dauernd abnimmt.
Das grosse, sicher noch viel zu wenig gekannte Gebiet klinischer
Eormen, mit dem Avir es hier zu thun haben, ist dasjenige des an-
geborenen Schwachsinns. Die Erscheinungen desselben treten uns
in allen Richtungen des psychischen Lebens entgegen, und wir
müssen daher wenigstens einen kurzen Blick auf die sich darbieten-
den Grenzgebiete werfen, nicht so wol, um die vorhandenen Schwierig-
keiten zu lösen, sondern um auf die Unmögüchkeit einer durch-
greifenden Lösung derselben hinzuweisen.
Im Bereiche der Intelligenz lassen sich der Hauptsache nach
zwei Formen der psychischen Schwäche auseinanderhalten, unge-
nügende Leistungsfähigkeit des Verstandes einerseits, dann aber
Kritiklosigkeit in Folge von überwuchernder Ausbildung der Phantasie.
Der ersteren Form, die sich durch das Fehlen abstracter Begriffe,
Enge des Gesichtskreises, Ideenarmuth, geringe geistige Regsamkeit
kennzeichnet, entspricht in der Gesundheitsbreite jene Form der
Dummheit, die man als Beschränktheit zu bezeichnen pfiegt. Die
höchsten Grade dieser Beschränktheit fallen aber mit den leichteren
Fällen des Schwachsinns unterschiedslos zusammen; es giebt kein
einziges Merkmal, welches eine aadere, als gradweise Abtrennung
gestattete.
Dem zweiten klinischen Bilde des Schwachsinns nähert sich die
Gruppe der Phantasten (Mystiker) durch die gemeinsamen Züge
*) Man vergleiche nur die durch ihre naive Unwissenheit und Unverfrorenheit
geradezu erfrischenden Bücher des Herrn E. A. Schröder: Das Recht im Irreni
wesen 1890; Zar Eeform des Irrenrechtes 1891.
Kxiterien des Irreseins.
187
einer Herrschaft der leichtgläubigen Einbildaugskraft über die ver-
standesmässige Ueberlegang. Aach hier ist es unmöglich, an irgend
einem Punkte scharfe Grenzen abzustecken. Den vereinzelten Bei-
spielen einseitiger Begabung bei Schwachsinnigen und Idioten lassen
sich manche der sogenannten verkannten Genies, Erfinder und Ent-
decker an die Seite stellen, bei denen die mangelnde Harmonie der
Gesammtanlage auch den hervorragenden Eigenschaften ihrer Persön-
hchkeit die fi-eie und segensreiche Entfaltung verkümmert. Es ist
endlich kein Zweifel, dass auch das wirkliche Genie nicht selten eine
gewisse Verwandtschaft mit der oben zuletzt genannten Form des
Schwachsinns erkennen lässt. Die überraschende Kühnheit der
Combinationen, die Lebhaftigkeit der Phantasie, der Blick auf das
Ganze bei Yernachlässigung der Einzelheiten sind Züge, welche beiden
Yeranlagungen gemeinsam sind, aber sie werden beim Genie durch
die gleichzeitige Ausbildung des abwägenden, prüfenden Yerstandes
in sicheren Grenzen gehalten, während sie dort die ungezügelte
Herrschaft über das geistige Leben an sich reissen. Gleichwol deutet
sich doch auch bei unsern Kranken hie und, da durch unerwartete
"Wendungen und vereinzelte treffende Einfälle jene Verwandtschaft
an, wie ja andererseits auch das Genie neben glänzenden Leistungen
fast regelmässig unbegreifliche Schwächen erkennen lässt. Sehr
wichtig ist es für diese Frage, dass Genialität und psjchopathische
Belastung sich nicht selten in derselben Familie neben einander
vorfinden.
Von grosser Tragweite und darum von jeher am eifrigsten ver-
sucht worden ist die Abgrenzung des Krankhaften von der Gesundheits-
breite auf dem Gebiete des Gefühlslebens und des Handelns, die wir
hier]gemeinsam in's Auge fassen woUen. Hier güt es ganz besonders,
jene Handlungen, welche aus krankhaften Voraussetzungen hervor-
gegangen ^sind, abzutrennen von denjenigen, die ihre QueUe in un-
moralischen Beweggründen haben. Man wird hier nicht lange im
Zweifel sein, wenn es gelingt, einei Wahnidee, eine Sinnestäuschung
oder auch ein unklares Angstgefühl, einen trieb artigen Drang als
die Ursache der That aufzufinden. Die aUergrössten Schwierigkeiten in-
dessen beginnen sofort, sobald nicht Veränderungen in der Ai't der
Gefühle, sondern nur gradweise Abstufungen derselben der ärzt-
lichen BeurtheUung unterliegen. Jede menschüche Handlung kommt
dadurch zu Stande, dass die treibenden Beweggründe das Ueber-
188
IV. Allgemeine Diagnostik.
gewicht über die etwaigeo hemmenden Gegengründe erlangen. Eine
unmoralische Handlung kann somit entweder auf einer starken Aus-
bildung der unmoralischen Antriebe oder aber auf einem Mangel
der moralischen Hemmungen beruhen, und endlich kann sowol jene
übermässige, wie diese ungenügende Entwickelung aus krankhaften
Ursachen hervorgegangen sein. Nun geht aber die pathologische
Zornmüthigkeit ganz allmählich in die Leidenschaftlichkeit des
Cholerikers über, die ihn vielleicht zum Affectverbrechen treibt, und
die wechselnden Verstimmungen des angeboren Ne urasthenischen
sind nur Steigerungen der oft ebensowenig sachlich begründeten
weltschmerzlichen Anwandlungen des Pessimisten, die ihn an dem
"Werthe des Daseins verzweifeln lassen. Der Selbstmord in den
letzteren, der Mord in den ersteren Fällen sollte je nach der Krank-
haftigkeit oder der gesunden Beschaffenheit des Gemüthszustandes
eine gänzlich verschiedene moralische Beurtheilung erfahren, aber
auch die genaueste Zergliederung vermag hier oft die Grenze nicht
zu finden, aus dem triftigen Grunde, weil eine solche überhaupt
nicht vorhanden ist.
Noch schlagender tritt dieses Yerhältniss hervor, wo der
krankhafte Mangel der sittlichen Gefühle von der „moralischen
Schlechtigkeit" abgegrenzt werden soll. So wenig wie das Fehlen
einer Niere in einem Falle krankhaft sein kann, im andern nicht,
so wenig geht es an, eine normale sittliche Yerwilderung neben einer
pathologischen aufzustellen. Bei der Beurtheilung der Unzulänglich-
keit einer Leistung kann es nicht in erster Linie massgebend sein,
ob sie angeboren, erworben oder wie immer sie entstanden ist; nur
nach der Ausdehnung derselben kann man normale und krank-
hafte Grade unterscheiden, wie ja auch die Kleinheit der Niere erst
unter einer gewissen, ziemlich willkürlichen Grenze anfängt, pathologisch
zu werden. Wenn der Yerlust der höheren moralischen Gefühle als
Theilerscheinung gewisser Krankheitsprocesse vorkommt (z.B. Dementia
paralytica), so schliesst dieser Umstand nicht aus, dass auch der durch
sitthche Verwahrlosung erzeugte Ausfall, sobald er ein gewisses
Mass erreicht hat und nicht beseitigungsfähig ist, als krankhaft zu
betrachten sei. Jedes Organ unseres Körpers bedarf der Uebung und
Ausbildung, um die geforderte Arbeit leisten zu können: der uner-
zogene Taubstumme bleibt anerkanntermassen auf der psychischen
Entwickelungsstufe des Schwachsinns stehen; sollte allein der
Simulatioa und Dissimulation.
189
moralisch Unerzogene eine Ausnahme machen, sollte nicht bei
ihm ebenfalls eine Unvollkommenheit der gemüthlichen Ausbildung
vorhanden sein, die unter Umständen eine ki-aukhafte Ausdehnung
erlangen kann? Eine anthropologische, naturwissenschaftliche Be-
trachtung der Unsitthchkeit führt uns unabwendbar zu dem Schlüsse,
dass auch der Mangel sittHcher Gefühle nicht nur zweifellos der Be-
gleiter bestimmter klinischer Krankheitsformen ist, sondern in seineu
höheren Graden überhaupt ohne scharfe Abgrenzung in das Gebiet
des Krankhaften hinüberspielt und als ein Anzeichen der Schwäche
im Gemüthsleben zu betrachten ist, welchem nach anderer Eichtung
die Unzulänglichkeit der Verstandeskräfte genau entspricht.
Es bleibt daher in derartigen Fällen bei der gerichtlichen
Diagnostik der Geistesstörung bis zu einem gewissen Grade häufig
Sache der persönlichen Ansicht, ob die gestellte Frage bejaht oder
verneint werden soll. So zuverlässig es fast stets gelingen wird,
wenigstens bei längerer Beobachtung das Bestehen einer Manie,
Melancholie, Verrücktheit oder gar einer Dementia paralytica mit
Sicherheit zu erweisen oder auszuschüessen, so rathlos steht selbst
.der ausgezeichnetste Scharfsinn den gradweisen Abstufungen des
Schwachsinns, vor Allem des angeborenen, gegenüber. Die Schuld
dafür trifil gewiss nicht die Psychiatrie, sondern lediglich die richter-
liche Fragestellung, welche nur scharfe Grenzen zwischen Zurechnungs-
fähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit kennt, alle die zahllosen Ueber-
gangsformen aber einfach vernachlässigt. Vielleicht wird auch uns
noch ein eingehenderes Studium des Schwachsinns zu einer schärferen
Erfassung der krankhaften Erscheinungen verhelf en ; die Ueberwind-
ung der grundsätzlichen Schwierigkeiten aber und die Gewinnung
allgemeiner, unzweideutiger Gesichtspunkte kann sicherlich nur durch
eine andere Fassung der richterlichen Fragen an den ärztlichen Sach-
verständigen erreicht werden.
C. Simulation und Dissimulation.
Erheblich einfacher liegt die Aufgabe dort, wo nicht allgemein
die Entscheidung über das Bestehen geistiger Gesundheit oder Krank-
heit gefällt werden soll, sondern wo es sich um die Aufdeckung von
Simulation*) handelt. Hier ist eine sichere Kichtschnur der Be-
*) Fürstner, Archiv f. Psychiatrie, XIX, 3; Eritsch, Jahrb. f. Psychiatrie
vni, 1 u. 2.
190
IV. Allgemeine Diagnostik.
urtheilung durch die schon früher angeführte Erwägung gegeben, dass
der vorliegende Symptomencomplex sich mit einem der erfahrungs-
gemäss feststehenden Xrankheitsbilder decken muss. Bei der Mannig-
faltigkeit psychischer Störungen erfordert es ziemlich weitgehende
fachmännische Kenntnisse, ein widerspruchsloses, in sich wahrschein-
liches, einheitliches Krankheitsbild zusammenzusetzen, ausserdem aber
noch eine ganz ungewöhnliche Geschicklichkeit und Ausdauer, die an-
genommene EoUe wirklich durchzuführen und festzuhalten. Die An-
schauungen über Geisteskrankheiten unter Laien weichen fast durch-
gehends so sehr von dem wahren Yerhalten ab, dass es in der Regel
für den Irrenarzt ein Leichtes ist, die Simulation zu erkennen und
zu entlarven. Am häufigsten werden tiefer Blödsinn oder Aufregungs-
zustände („Tobsucht") sinäulirt; dabei ist es überall die Sucht der
Simulanten, zu übertreiben und ihre Geisteskrankheit möglichst glaub-
haft zu machen, welche sie widersprechende Erscheinungen durch-
einander mischen lässt und auf diese "Weise die Unterscheidung von
wirklich Kranken ermöglicht. Häufig gelingt es auch, durch allerlei
Yexirversuche, durch hingeworfene Bemerkungen gewisse Krankheits-
erscheinungen zu suggeriren, namentlich völlige TJnempfindlichkeit
gegen Nadelstiche u. dgl. Ueberaus selten sind die Fälle, in denen
selbst bei längerer Beobachtung die Simulation nicht zweifellos fest-
gestellt werden kann.
Indessen, so leicht und sicher die absichtliche Täuschung als
solche erkannt zu werden pflegt, so schwierig ist es oft genug, das
Bestehen einer psychischen Störung ausser der Simulation aus-
zuschliessen. Neumann fordert mit Eecht, dass überhaupt kein Arzt
jemals dasZeugniss geistiger Gesundheit ausstellen soUe; bei Simulanten
ist in dieser Hinsicht doppelte Yorsicht geboten. Die erfahrensten
Irrenärzte theilen mit, dass wirklich geistig gesunde Individuen unter
den Simulanten nur in verschwindend geringer Zahl vorkommen,
wenn auch die eigentliche Störung eine ganz andersartige' ist, als die
simulirte. Namentlich Yerrückte, Querulanten, Schwachsinnige sind
hierher zu rechnen. Die Mittel und Methoden, welche zur Entlarvung
von Simulanten in Anwendung gebracht werden, die Schlüsse, welche
man aus dem Benehmen eines Individuums vor, während und nach
einer verbrecherischen That auf seinen Geisteszustand- ziehen kann,
und eine Reihe ähnlicher Punkte müssen wir hier übergehen, da sie
den Aufgaben der gerichtlichen Psychopathologie angehören.
Simulation und Dissimulation.
191
Wir haben endlich noch der Dissimulation von Geistesstör,
ungen zu gedenken, die namentlich von Yerrückten bisweilen mit
grosser Gewandtheit geübt wird, um die Entlassung aus der Irren-
anstalt zu erreichen. Die Erfolge einer veralteten Behandlungs-
methode, der „Intimidation", d. h. der systematischen Misshandlung
der Kranken bei jeder krankhaften Aeusserung, gründeten sich auf
diese Fähigkeit. Es giebt unheilbare Irre, die Jahre lang ihre äussere
gesellschaftliche Haltung zu bewahren wissen und das Nest ihrer
Wahnideen tief in ihrer Brust verschliessen, bis eine unbedachte
Aeusserung, ein gelegentlicher AfPect plötzlich der erstaunten Um-
gebung die Augen öffnet und ihr die Erklärung für so manche
Sonderbarkeiten des Benehmens giebt, die man so lange für „be-
rechtigte Eigenthümlichkeiten" gehalten hatte. Wer nicht mit dem
geheimen Zusammenhange und den Anknüpfungspunkten der Fäden
bekannt ist, aus welchen sich das Wahnsystem zurechtspinnt, dem
wird häufig die tiefe Störung manches Terrückten völlig ver-
borgen bleiben, auch wenn dieselbe gar nicht besonders dissimulirt
wird. Selbst dem Arzte begegnet es bisweilen, dass er trotz seines
allgemeinen, bestimmten Yerdachtes sich lange vergebens abmüht
in das Innere eines Kranken einzudringen, und dass ihm erst die
Nachrichten über das Vorleben, das Benehmen in der Freiheit eine
klare Einsicht in die wirkliche Ausdehnung der krankhaften Stör-
ung verschaffen. Solche Kranke zeigen sich in der Anstalt über-
aus harmlos und ungefährlich, stellen alle Berichte der Angehörigen,
alle Wahnideen völligin Abrede und wissen ihre auffallendenHandlungen
so ungezwungen und söhlau zu begründen, dass es recht schwierig
wird, die krankhaften Züge klar zu erfassen. Unerfahrene lassen
sich daher oft vollständig von solchen Kranken täuschen,|und auch
die öffentliche Meinung wird gelegentlich immer wieder durch ihre
sensationellen Flugschriften beunruhigt, in denen das Justizunrecht
der willkürlichen Freiheitsberaubung, die Gefahren der geistigen
Ermordung in den grellsten Farben ausgemalt zu werden pflegen.
Da diese Patienten nicht selten recht gefährlich sind, so ist äusserste
Torsicht bei der Beurtheilung derselben geboten. Nur dem Arzte
ohne wahre Sachkenntniss können daher in schwierigen Fällen schon
einige Unterredungen genügen, um das Bestehen einer geistigen
Störung auszuschliessen.
Besonders sei hier schliesslich noch auf die Dissimulation be-
192
IV. Allgemeine Diagnostik.
sonnener, selbstmordsüchtiger Melancholiker hingewiesen, die bisweilen
mit grossem Geschick ihre krankhaften Vorstellungen und Gefühle
zu verbergen, Besserung und heitere Stimmung zu simuliren wissen,
um den stillen Vorsatz des Selbstmordes bei weniger sorgfältiger
Ueberwachung zur Ausführung bringen zu können. Selbst die ge-
naueste Vertrautheit mit dieser höchst beachtenswerthen Gefahr und
unausgesetzte Wachsamkeit vermag hier nicht immer vor bitteren
Erfahrungen zu schützen.
Y. Allgemeine Therapie.
IDie leitenden Gesichtspunkte für eine zweckmässige Behandlimg
der Geisteskrankheiten ergeben sich einmal ans der Aetiologie, dann
aber ans der Symptomatologie derselben; es gilt, die Grundursachen
zu bekämpfen und die Erscheinungen zu beseitigen oder zu mildern.
Die erstere Aufgabe beginnt schon mit der Prophylaxis.
A. Prophylaxis.
In dieses Gebiet gehört bei der gi^ossen Bedeutung der Erb-
hchkeit für die Verbreitung des Irreseins die Beantwortung der
Frage, ob ein Geisteskranker heirathen darf oder nicht.
Namentlich in manchen Formen der hysterischen Psychosen hat man
bisweilen die Ehe geradezu für ein Heilmittel gehalten; die Erfahr-
ung hat indessen gezeigt, dass zwar gesunde Eheleute anscheinend
eine etwas geringere Disposition zu Geistesstörungen besitzen, als
Ledige, dass aber bei schon bestehender Krankheit die Ehe viel-
fach geradezu schädlich wirkt. Dazu kommt die Gefahr einer Ver-
erbung der krankhaften Anlage auf die Nachkommenschaft. So er-
scheint denn der ziemlich allgemein angenommene Grundsatz ge-
rechtfertigt, vom ärztlichen Standpunkte aus bei schon bestehender
Geistesstörung, besonders bei jenen Formen, die auf eine psychische
Entartiing hinweisen, die Ehe unter allen Umständen zu wider-
rathen, während die blosse Prädisposition, insbesondere die erbliche
Anlage, wenn sie nicht bereits in Krankheitserscheinungen zu Tage
tritt, trotz der immerhin drohenden Gefahren, doch kein unbedingtes
Verbot der Ehe begründen kann.
Ein weiterer bedeutsamer Punkt, an dem die Vorbeugung des
Irreseins einzusetzen hat, ist die Erziehung. Gerade abnorm ver-
Kraepolln, Psychiatrie. 4. Aufl. 13
194
V. Allgemeine Therapie.
anlagte Eltern vermögen häufig nicht die rechte Mitte zwischen
pedantischer Strenge und weichlicher Yerzärtelung zu halten, Ein-
flüsse, welche nur ein kräftig organisirtes Individuum ohne dauern-
den Schaden für seine Charakterentwickelung zu ertragen im Stande
ist. Der ärztliche Berather wird hier nicht so selten Gelegenheit zu
warnendem Eingreifen finden.
Allgemeineres Interesse hat in letzter Zeit auch die Ueber-
bürdungsfrage der Schuljugend erregt. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, dass kein jugendliches Gehirn auch nur im Entferntesten
wirklich das zu leisten im Stande ist, was die Schule vorschrifts-
mässig verlangt. "Wenn schon ein Erwachsener einer sehr einfachen
geistigen Arbeitsleistung nicht länger als etwa eine Stunde zu folgen
vermag, ohne deutliche, sich rasch steigernde Ermüdungserscheinungen
zu zeigen, so tritt in jüngerem Lebensalter und bei den schwierigeren
Aufgaben des Schulunterrichtes die Erschlafl'ung natürlich noch sehr
viel rascher ein. Freilich wird sie durch das Einschieben von Er-
holungspausen immer einigermassen wieder ausgeglichen, allein die-
selben können in ihrer heutigen Gestaltung keineswegs als aus-
reichend betrachtet werden. Glücklicherweise indessen giebt es ein
Sicherheitsventil, welches verhindert, dass nicht in Folge der geistigen
Ueberanstrengung schwere Gefahren über die heranwachsenden
Generationen heraufgeführt werden — das ist die Unaufmerksam-
keit, welche gerade dann hülfi^eich eintritt, wenn die Anspannung
nothwendig zu einer Erholung drängt. Gerade die guten, tüchtigen
Lehrer sind bekanntermassen deswegen am schädlichsten für ihre
Schüler, weil sie deren Aufmerksamkeit auch dann noch zu fesseln
verstehen, wenn im Laufe der ausgedehnten Unterrichtsstunden die
Ermüdung schon lange das zulässige Mass überschritten hat.
Unter allen Umständen wird gerade vom Standpunkte des
Irrenarztes aus eine Reform des Unterrichtes nach verschiedenen
Seiten hin angestrebt werden müssen. Yor Allem ist zu berück-
sichtigen, dass die Ermüdungseinflüsse eine fortschreitende Abnahme
der geistigen Leistungsfähigkeit bedingen. Darum ist vor einer
Häufung der Lehrstunden zu warnen; viel besser würde die Yer-
theilung derselben auf zwei tägliche Hauptabschnitte sein, deren
erster bald nach dem Erwachen aus dem Schlafe gelegen sein muss,.
während der zweite etwa zwei Stunden nach der Hauptmahlzeit zu
beginnen hätte. Das sind die beiden Tageszeiten, an denen die Er-
Prophj'laxis.
195
müdbaxkeit am geringsten ist. Jeder dieser Abschnitte soll durch
Pausen in mehrere Unterabschnitte zerlegt werden, in denen ein
Wechsel des Lehrstoffes stattfindet, da wir auf diese Weise in der
gleichen Zeit erheblich mehr zu leisten vermögen, als bei gleichartigem
ununterbrochenem Fortarbeiten. Entsprechend dem Anwachsen der
Ermüdung müssen diese Pausen fortschreitend länger werden, wenn
sie ihrem Zwecke entsprechen sollen. Aus dem gleichen Grunde
werden die schwierigsten Lehrstoffe zuerst zu behandeln und die
sogenannten häuslichen Arbeiten bei der Bemessung der Gesammt-
arbeitszeit sorgfältig mit zu berücksichtigen sein.
Da das mechanisch Eingelernte, wie der Versuch lehrt, sehr
rasch wieder aus unserem Gedächtnisse schwindet und zudem nur
in äusserst geringem Masse begrifflich verarbeitet wird, so ist das
einfache Auswendiglernen zielbewusst und unerbittlich aus dem
Lehrplane zu verbannen. Jene Arbeitsleistung ist völlig unnütz und
ungemein anstrengend zugleich, alles Gerede von einer Stärkung des
Gedächtnisses durch mechanisches Lernen eine sinnlose Eabel. Es
darf sogar als nicht unwahrscheinlich bezeichnet werden, dass jene
Lernmethode geradezu ein Hemmniss der höheren geistigen Aus-
bildung werden kann, nicht nur dadurch, dass sie die Arbeitskraft
in Anspruch nimmt und damit die Empfänglichkeit nach anderen
Eichtungen hin vermindert, sondern auch durch allzustarkes Betonen
der motorischen Sprachvorstellungen und der rein gewohnheitsmässigen
Ideenverbindungen in unserem Seelenleben.
Endlich aber darf selbstverständlich nicht ausser Acht gelassen
werden, dass nur in einem gesunden Körper eine gesunde Seele
wohnen kann. Die ausgiebigste Pflege und Entwickelung der körper-
lichen Kraft und Gewandtheit durch Leibesübungen aller Art, reich-
liche Bewegung im Freien, häufiges Baden, Handfertigkeitsunterricht
und dergl. wird das beste Gegengewicht gegenüber den Gefahren
abgeben, welche aus der einseitigen und übertriebenen Anspannung
der geistigen Kräfte erwachsen können. Zu berücksichtigen ist da-
bei indessen, dass auch körperliche Ermüdung die geistige Leistungs-
fähigkeit herabsetzt, dass daher anstrengende körperhche Uebungen
nicht in die Mitte, sondern nur an das Ende des eigentlichen Schul-
unterrichtes gelegt werden dürfen.
Im späteren Leben fällt der psychiatrischen Prophylaxe die
doppelte Aufgabe zu, einmal das einzelne Individuum vor den nach
13*
196
V. Allgemeine Therapie.
seiner besonderen Anlage drohenden Gefahren zu schützen, anderer-
seits jene allgemeineren Ursachen zu bekämpfen, welche erfahrungs-
gemäss bei der Entstehung psychischer Erkrankungen eine hervor-
ragende Kolle spielen. Nach der ersteren Eichtung hin wird ein ein-
sichtsvoller Hausarzt ohne Zweifel sehr segensreich wirken können
Hier gilt es vor Allem, zu individualisiren. Da die Leistungs- und
Widerstandsfähigkeit der Menschen überaus ungleich vertheilt ist, so
wird es Sache des Arztes sein, mit Eücksicht auf diese beiden Eigen-
schaften die Wahl des Berufes und die gesammte Lebens-
führung nach Möglichkeit zu überwachen. Namentlich dort, wo
eine krankhafte Yeranlagung besteht, sind alle Berufsarten, welche
die Gefahren geistiger oder gemüthlicher TJeberanstrengung, grosser
Yerantwortlichkeit in sich schliessen, auf das Entschiedenste zu
widerrathen. Hier passen nur Beschäftigungen, welche ein ruhiges,
gleichmässiges Leben, ohne Aufregungen und Kämpfe, am besten
mit reichlichem Aufenthalte im Freien, gestatten. Ebenso muss bei
gefährdeten Individuen von vornherein auf die Fernhaltung von Aus-
schweifungen, auf die Sorge für ausreichende Erholung und Ernähr-
ung, sowie für guten Schlaf in besonderer "Weise Bedacht genommen
werden. Natürlich kann sich das ärztliche Handeln im einzelnen
Falle hier überaus mannigfach gestalten; die zuverlässigste Eicht-
schnur desselben wird dabei immer aus einer genauen Berück-
sichtigung der ätiologischen Yerhältnisse des IiTCseins zu ent-
nehmen sein.
Die allgemeine Prophylaxe psychischer Störungen bietet
zwar ebenfalls vielfache Angriffspunkte, aber zumeist sehr weitaus-
sehende und über den Bereich der ärztüchen Thätigkeit hinaus-
gehende Aufgaben. Alle Massregeln, welche die aufreibende Ge-
walt des Daseinskampfes zu mildern, welche Noth, Elend und Krank-
heit zu lindern vermögen, dienen auch zugleich der Verhütung des
Irreseins. Ein besonderes ärztliches Interesse haben von denselben
vor Allem der Kampf gegen Trunksucht und Syphilis, sowie die
Organisation einer schnell und umsichtig arbeitenden Irrenfürsorge,
welche nicht nur die Uebertragung der psychischen Entartung auf
die Nachkommenschaft bis zu einem gewissen Grade beschränken
kann, sondern gewiss auch vielfach im Stande ist, die Entwickelung
schwererer Krankheitsformen durch rechtzeitiges Eingreifen zu ver-
hüten. Als ein wichtiger Zweig der allgemeinen Prophylaxis ist
Arzneimittel.
197
endlich ganz gewiss auch der psychiatrische Unterricht zu betrachten,
die Heranbildung ärztlicher Generationen, welchen eine tiefere Kennt-
niss der Entstehungsbedingungen und der Erscheinungen des Irre-
seins auch wirklich die Fähigkeit an die Hand giebt, drohenden Ge-
fahren bei Zeiten vorzubeugen und das werdende Uebel in seinem
Keime zu ersticken.
In Aveit höherem Masse, als durch jene allgemeineren Aufgaben
pflegt das Interesse des ärztlichen Praktikers durch die Behandlung
des einzelnen Falles angeregt zu werden. Die ganze Zahl der
Mittel, welche uns hier zu Gebote stehen, zerfällt in zwei natürliche
Gruppen, je nachdem dieselben die Krankheit von den körper-
lichen Grrundlagen des gestörten Seelenlebens aus oder von
"er psychischen Seite her in Angriff nehmen. In die erstere
^ruppe gehören die Arzneimittel, die physikalischen Heilmethoden
nd die diätetischen Massregeln, in die letztere die mannigfachen
sychischen Einwirkungen, welche durch das Anstaltsleben und ins-
esondere die zieibewusst handelnde Persönlichkeit des Arztes er-
zeugt werden.
B. Körperliche Behandluiig.
Arzneimittel. Unter den Arzneimitteln sind es besonders die
Narkotica, die wegen ihrer beruhigenden Wirkung eine hervor-
ragende Stelle in dem Heüapparate der Geistesstörungen einnehmen.
Seit alter Zeit ist das Opium im Gebrauch. Es wirkt auf unsere nervösen
Centraiorgane beruhigend, besonders, wie es scheint, bei anämischen
Zuständen derselben. Eine genaue Kenntniss seines Einflusses auf
die verschiedenen psychischen Leistungen fehlt bisher noch. Auf-
regungen, vor AUem Angstzustände oder solche, die durch schmerz-
hafte Eeizungen erzeugt oder unterhalten werden (Neuralgien, abnorme
»Sensationen, Präcordialangst), sind das wichtigste Gebiet seiner
therapeutischen Anwendung, durch welche (in nicht zu kleinen Gaben)
Beruhigung und mittelbar Schlaf erzielt wird. Dagegen ist das
Opium nicht am Platze bei starken venösen Hyperämien des Gehirns
(andauerndes hohes Fieber), grosser körperlicher Hinfälligkeit und
namenthch Herzschwäche. Als unangenehme Nebenwirkungen sind
die Yerdauungsstörungen (Appetitlosigkeit, hartnäckige "Verstopfung)
zu beachten. Im Allgemeinen wird das Opium von Geisteskranken
meist überraschend gut vertragen; nur einige Male schien es mir,
als wenn bei sehr hohen Opiumgaben die bekämpften ängstlichen
198
V. Allgemeine Therapie.
Aufregungszustände geradezu schliiiuner Avurdeii; Vorsicht ist also
im einzelnen Ealle jedenfalls gerathen. Das gebräuchliche Präparat
ist Tinctura Opii simplex innerlich (oder eine Lösmig von
Extr. Opii aquos. 1 : 20 subcutan, zur Vermeidung von Abscesseu
oft frisch zu bereiten), bei methodischer Anwendung in steigender
Gabe von 10—20 Tropfen (0,05—0,1 Extract) 2— 3 mal täghch, selbst
bis zum 3- oder 4fachen, wenn nicht schon fi'üher die erstrebte Be-
ruhigung eintritt; später allmähliches Heruntergehen mit der Dosis.
"Wegen der grösseren Gleichmässigkeit der "Wirkung, der
sichereren Dosirung und der bequemeren (subcutanen) Handhabung ist
an die Stelle des Opiums in neuerer Zeit vielfach das Morphium ge-
treten, welches wesentlich dieselben Indicationen und Contraindica-
tionen besitzt, wie jenes Mittel. Das Morphium erzeugt, wie es
scheint, in massigen Gaben wesentlich eine Herabsetzung der centralen
Schmerzempfindhchkeit, sowie eine Lähmung des Willens, ohne Er-
schwerung der intellectuellen Vorgänge. Es ist daher kein Schlaf-
sondern ein Beruhigungsmittel; bei chronischem Missbrauche stellt
es vorübergehend die verloren gegangene geistige Frische und Leistungs-
fähigkeit wieder her.
Die Morphiumbehandlung ist ebenfalls zu einer methodischen Cm-
ausgebildet worden, welche bei chronisch-melancholischen, besonders
ängstlichen Zuständen mit Parästhesien, Schmerzen und dergi. in der
That oft gute Dienste zu leisten scheint. Im Ganzen muss indessen
unser Bestreben dahin gehen, den Gebrauch des Morphiums soweit
wie nur irgend möglich einzuschränken. Abgesehen davon, dass
einzelne Kranke, namentlich Frauen, schon auf sehr kleine Gaben
Morphium (0,01 imd weniger) mit recht unangenehmen Symptomen
(Erbrechen, Aufregung, Collapse, Ischurie) reagiren, und dass bei An-
Avendung grösserer Dosen auch nach Stunden noch unvermuthet
schwere, selbst tödtlich ausgehende Vergiftungserscheinungen sich
einstellen können, ist vor Allem an die kaum hoch genug anzu-
schlagende schwere Gefahr des chronischen Morphinismus zu erinnern,
mit der wir uns später eingehend zu beschäftigen haben werden.
Von den übrigen Bestand theilen des .Opiums ist in letzter Zeit
das Codein*) vneder wärmer empfohlen worden. Es soll ähnlich,
aber viel schwächer wirken, als das Morphium und selbst beijlängerer
Anwendung nicht die kachektischen Zustände erzeugen, Avie jenes.
*) Fischer', Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte 1888, 19.
Arzneimittel.
199
Im Wesentlichen scheint es sich um einen minder werthigen, aber schwer-
lich ungefcährliclien Ersatz des Morphiums zu handeln. Die ebenfalls
als Hypnoticum und Anodynum gerülimte, Morphin enthaltende
Papaveracee Eschholtzia californica harrt noch weiterer Prüfung.
Dagegen können wir als ein für die psychiatrische Therapie
recht Averthvolles Mittel das von Gnauck*) zuerst bei Geisteskranken
angewandte Hyoscin (Ladenburg) bezeichnen. Dieses Alkaloid
(Chlor-, Brom- oder Jodverbindung) erzeugt in subcutaner Gabe von
0^0005—0,001 gr mit nicht üb er tr offener Sicherheit einen nach 10
bis 15 Minuten eintretenden tiefen Schlaf. Bei innerlicher Anwend-
ung, die wegen der völligen Geschmacklosigkeit des Mittels keine
Schwierigkeiten hat, kann die Dosis auf das Doppelte steigen. Die
Nebenerscheinungen sollen dabei schwächer ausfallen, als bei der
Einspritzung unter die Haut.
Die Narkose wird eingeleitet durch Eingenommenheit des Kopfes,
Trockenheit im Halse, Schwere der Zunge, Unsicherheit beim Gehen
und eine mehrere Tage, selbst Wochen lang andauernde, hochgradige
Mydriasis. Bei grösseren Gaben scheinen TJebelkeit, Unregelmässig-
keit des Pulses, Eespirationsstörung, Gesichtshallucinationen, selbst
Deürien und CoUapszustände auftreten zu können, doch haben hier
vielleicht gelegentlich Yerunreinigungen eine gewisse Polle gespielt.
Ich selbst konnte wenigstens niemals bedrohlichere Erscheinungen
beobachten, obgleich ich wegen ungünstiger äusserer Yerhältnisse
das Mittel durch eine Reihe von Jahren überaus häufig habe in An-
wendung ziehen müssen. Nur besteht nach dem Erwachen gewöhn-
lich das Gefühl von Abgeschlagenheit und ein leichter Druck im
Kopfe, der sich meist bald verliert. Das Hyoscin ist demnach ein
äusserst energisches Mittel, welches überall dort, wo die dringende
Nothwendigkeit besteht, rasch Beruhigung und Schlaf zu verschaffen,
zuverlässig und meist ohne schwerere Nachtheile seine Wirkung thut.
Schwere tobsüchtige oder deliriöse Erregungszustände bei periodischen
Störungen, Paralyse, Epilepsie, unter Umständen auch im Delirium
tremens oder Collapsdelirium kommen hauptsächlich in Betracht.
Gegen die Angst leistet das Hyoscin nichts. Bei längerem Ge-
*) Charitc-Annalen VII; Sohrt, Pharmakotherapeutische Studien über das
Hyo3cm. Diss. 1886; Konrad, Erlennioyers Centralbl., 1888, 18; Klinke,
ibidem, 1889,' 7; Dornbliith, Therap. Monatshefte, 1889, 8, p. 361; Serger,
Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLVII. p. 308.
200
V. Allgemeine Therapie.
brauche tritt allmählich eine gewsse Gewöhnung ein, welche zu
langsamer Erhöhung der Gabe führt. Besondere Störungen, wie
etwa Appetitlosigkeit, Rückgang der Ernährung oder dergi. haben
sich mir dabei niemals herausgestellt; ebensoAvenig führt das Aus-
setzen des Mittels zu Abstinenzsymptomen. Da aber auf der anderen
Seite auch keine dauernde Beruhigung erzielt wird, sondern nach
dem Yerschwinden der Ermattung die Aufregung in alter Weise
mederzukehren pflegt, so dürfte sich das Mttel wegen seiner ge-
waltigen Wirkung im Ganzen doch mehr für die gelegentliche, wurf weise
Anwendung eignen. Ferner wird man gut thun, bei sehr herunter-
gekommenen Kranken und beim Bestehen von Circulationsstörungen
das Mittel zu vermeiden oder doch mit grosser Vorsicht zu handhaben.
Auf Beimengungen von Hyoscin ist wahrscheinlich auch die
schlafmachende Wirkung des früher viel angewendeten Hyoscyamin
zurückzuführen. Das Mittel ist jetzt wol ziemlich allgemein ver-
lassen worden, da es recht gefährliche Nebenwirkungen mit sich
führen kann (Delirien, Collapse, Sinken des Körpergewichtes).
Neuerdings ist zum Ersatz des Hyoscin das Duboisinum sul-
furicum*) mehrfach empfohlen worden, da es weniger gefährlich
sei. Es wird in Gaben von 1 — 2 Milligramm subcutan gegeben,
scheint ziemlich sicher zu wirken, aber nach den vorliegenden Be-
richten doch nicht so ganz harmlos zu sein. Ein wesenthcher Yor-
theil vor dem gut erprobten Hyoscin lässt sich bisher nicht erkennen.
lieber das Haschisch sind nur wenige verwerthbare Be-
obachtungen bekannt geworden, ein Umstand, der seinen Grund
hauptsächlich in der Unsicherheit und Yerschiedenheit der zugäng-
lichen Präparate haben dürfte. Man hat daher in neuerer Zeit
mehrere Bestandtheile desselben isolirt in Anwendung gezogen, das
Cannabinum tannicum (Merck), das Cannabinum purum
(Bombeion) und das Cannabinon. Am meisten praktische Yer-
werthung hat von diesen Mitteln das Cannabinon**) gefunden.
Leider ist das gebräuchüche Präparat keineswegs rein. Man giebt
dasselbe als Hypnoticum in Dosen von 0,1 — 0,2 gr, am besten in
Pillen oder mit fein zerriebenem Kaffeepulver. Die schlaf machen de
Wirkung tritt nach etwa 2 — 3 Stunden ein, am sichersten in Bett-
*) Ostermeyer, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie XLVn, p. 278; Preininger ,
ibidem XLVm, p. 134: Belmondo, Eivista sperimeutale di freniatria, 1892.
**) Ei cht er, Neurolog. Centraiblatt, III, 21; IV, 1.
1
Arzneimittel.
201
ruhe, und wenn das Mittel in den leeren Magen gebracht wurde.
In einzelnen Fällen werden unangenehme Nebenerscheinungen,
Schwere in den Gliedern und in der Zunge, Uebelkeit, Trockenheit
im Halse, Schwindelgefühl, Kopfdruck, Gehörshallucinationen, selbst
leichte Collapse beobachtet, doch pflegen sich diese Störungen meist
bald und ohne üble Folgen wieder 7ai verlieren. Nicht selten bleibt
indessen die Wirkung oder doch der Schlaf ganz aus. Am sichersten
scheint das Mittel bei hysterischer und „nervöser" Schlaflosigkeit,
sowie in leichten maniakalischen Aufregungszu ständen zu wirken;
es ist hier bisweilen ein willkommener Ersatz, wo andere Medicamente
versagen oder nicht vertragen werden. Die Wirkung der andern
beiden oben erwähnten Präparate ist derjenigen des Cannabinon ähn-
lich; das Cannabinum tannicum erfordert indessen eine höhere
Dosirimg (0,3—1,0).
lieber ein weiteres vegetabihsches Arzneimittel, welches von
Seifert als .Hypnoticum angewendet wurde, das Extractum
Piscidiae erythrinae, hegen noch keine ausreichenden Erfahr-
ungen vor. Soweit meine Beobachtungen reichen, scheint die
Wirkung eine unsichere und wenig nachhaltige zu sein; üble
Zufälle habe ich nicht dabei gesehen. Das von Juranville empfohlene
Glykosid Boldin aus den Boldoblättern, welches innerüch oder sub-
cutan ohne schädliche Nebenwirkungen Schlaf erzeugen soll, habe ich
noch nicht erproben können.
Eine zweite Gruppe von Medicamenten, welche in der psychia-
trischen Therapie hervorragende Wichtigkeit erlangt haben, ist die-
jenige der Schlafmittel*). Yor nunmehr fast zwei Decennien
wurde von Liebreich das Chloralhydrat**) in die Praxis ein-
geführt, welches mit grosser Sicherheit in Gaben von 2 — 3 gr, meist
ohne andere Nachwehen, als eine gewisse Benommenheit des Kopfes,
einen länger dauernden, ruhigen Schlaf herbeiführt. Da es ebenso-
wenig, wie die übrigen Hypnotica, Schmerzen stillt, so hat man es bis-
weilen in Verbindung mit Morphium gegeben. Wegen seiner ätzenden
Eigenschaften und seines unangenehmen Geschmackes giebt man das
*) Würschmidt, Ueber einige Hypnotica, deren Anwendung und Wirkung
bei Geisteskranken. 1888; v. Krafft-Ebing, Wiener Klinische Wochenschrift.
1890, 2 und .3.
**) Schule, Allgeiii. Zeitschrift für Psychiatric XXVllI, 1; Archiv für
Psychiatrie V, p. 271; Arndt, ibidem III, p. 67.3.
202
V. Allgemeine Therapie.
Chloralhydrat in stark verdünnter, schleimiger Lösang per Klysma,
oder innerlich unter Zusatz von Aqua Menthae piperitae, Syrupus
Liquiritiae oder corticum Aurantii. Seine Anwendung findet das Mittel
bei schwererer Schlaflosigkeit in den verschiedensten Formen des Irre-
seins. Leider pflegt sich bei längerem Gebrauche nach und nach eine
wachsende Unempfindlichkeit gegen das Mittel einzustellen, die zui-
Darreichung höherer Graben verführt. Nach dieser Eichtung hin ist
indessen grosse Vorsicht geboten, da die fortgesetzte Anwendung
des Chloralhydrats Verdauungsstörungen und verschiedenartige
angioparalytische Erscheinungen nach sich ziehen kann. Das häufigste
Symptom der chronischen Chloralvergiftung ist der sog. „Rash",
eine namentlich beim Genüsse von Alkohol oder heissen Flüssig-
keiten auftretende fliegende Eöthe und Hitze mit starker Pulsation
besonders am Kopfe und Halse; ferner hat man Hautausschläge,
Neigung zu Oedemen und Decubitus, endlich Zustände von dauern-
der stupider Benommenheit in Folge des Chlorahnissbrauches be-
obachtet, die erst nach dem Aussetzen des Mittels langsam wieder
schwinden. Gefährlich und darum gänzlich zu vermeiden ist die
Anwendung des Chloralhydrats bei Herz- und Gefä?serkrankungen
(Fettherz, Myokarditis, Klappenfehler, Atherom u. s. f.) ; schon nach
5 gr wurden plötzliche Todesfälle gesehen.
Kaum viel mehr Vertrauen, als das Chloralhydrat, scheint das
Chloralamid*) zu verdienen, welches zudem weit unsicherer wirkt»
Es macht Schlaf in Dosen von 2—3 gr bei einfacher nervöser Schlaf-
losigkeit, hat aber nicht selten unangenehme Nachwirkungen, Schwindel,
Kopfschmerz, Müdigkeit u. dergl.
Einen ausgezeichneten Ersatz dagegen für das Chloralhydrat
in allen den Fällen, wo dasselbe bedenklich erscheint oder schlecht
ertragen wird, haben uns Cervello und Morselli im Paral-
dehyd**) kennen gelehrt. Das Mittel bewirkt in mittleren Dosen
von 5 gr, die man ohne Bedenken auf das Doppelte und selbst
Dreifache steigern kann, schon nach 10 bis 15 Minuten sehr regel-
mässig einen tiefen, ruhigen, dem natürlichen durchaus gleich-
*) P ei per, Deutsche Me(ücin. Wochenschr. 1889, 32; Alt. Berliner Khnische
Wochenschr. 1889, 36.
**) MorseUi, gazetta degli ospitali 1883, 4, 5, ö; Eeferat im Neurolog. Central-
blatt II, 9; Berger, Breslauer ärztl, Zeitschr., 1883; Gugl, Zeitschr. f. Therapie,
1883; V. Krafft-Ebing, Zeitschr. f. Therapie. 1887, 7.
Ai'zneiulittel.
203
enden, mehrstündigen Schlaf. Die Ermüdung tritt mit fast unwider-
stehlicher Gewalt ein, geht aber, wenn äussere Störungen, Schmerzen
und dergl. vorhanden sind, rasch wieder vorüber, so dass an-
scheinend wesentlich das Einschlafen, weniger der spätere Schlaf,
unter dem Einflüsse des Mittels steht. Unangenehme Nachwirkungen,
Eingenommenheit des Kopfes sind hier äusserst selten, wirkliche Ge-
fahren anscheinend ausgeschlossen. Muss demnach das Paraldehyd
als ein überaus werthvolles Schlafmittel bezeichnet werden, so hat es
den recht störenden Nachtheil eines sehr widerlichen, kaum zu
corrigirenden Geschmackes und Geruches, der wegen der Ausscheid-
ung durch die Lungen noch 12 — 24 Stunden nach dem Einnehmen
zui'ückbleibt. Die relativ angenehmste Form der Darreichimg ist die
Vermischung mit Wein oder mit einer aromatischen Tinctur, Svrup
imd "Wasser (Umschütteln!). In sehr vereinzelten Fällen wird es
übrigens vom Magen in jeder Form zurückgewiesen; man wird dann
allenfalls die Darreichung per Klysma (in Oelemulsion) oder als
Suppositorium (mit 20^1^ Paraffin im "Wasserbade vereinigt) versuchen
können. Bei längerem Gebrauche kann der Ai)petit leiden; auch
scheint dann eine Gewöhnung an das Mittel einzutreten, die zur An-
wendung höherer Dosen nöthigt, ohne jedoch ernstere Nachtheile im
Gefolge zu haben. Nur bei ganz exorbitantem Missbrauche des
Mittels stellen sich Tremor, Abnahme der allgemeinen Ernährung,
des Gedächtnisses und der geistigen Leistungsfähigkeit ein, yne
V. Krafft-Ebing an Kranken beobachten konnte, welche Jahr und
Tag 30 — 40 gr Paraldehyd pro die genommen hatten.
Die letzten Jahre haben uns in rascher Folge noch mit einer
Eeihe von Schlafmitteln bekannt gemacht, deren besondere gute und
schlechte Seiten gegen einander abzuwägen nach so kurzer Zeit
kaum möglich ist. Gewisse Yorzüge vor dem Paraldehyd scheint
das von v. Mering zuerst empfohlene Amylenhydrat*) zu
haben, da es entschieden den Magen weniger belästigt, als jenes,
und auch nicht unangenehm riecht, während der Geschmack nach
meinen Erfahrungen bei den Patienten mindestens auf den gleichen
"Widerwillen stösst. Die wirksame Dosis beträgt 2— 5 gr in
Schüttelmixtur mit Himbeersyrup, ßothwein oder Extract. Liquiritiae.
*) Lehmann, Neurolog. Ceutralblatt, 1887, 20; Schlöss, Jahrb. f. Psychiatrie,
1888, 1, 2; Avellis, Deutsche Medicin. "Wochenschr., 1888, 1.
204
V. Allgemeine Therapie.
Alle die genannten Nachtheile fallen fort bei dem von Kast
eingeführten Siilfonal*), welches rasch eine sehr grosse Verbreitung
gefunden hat. Das Mittel ist in der That geruchlos, fast geschmack-
los und beeinträchtigt die Verdauung erst bei längerem Gebrauche.
Dagegen wird es wegen seiner Schwerlöslichkeit relativ langsam
resorbirt und wirkt darum nach, sodass grosse Müdigkeit und Schwäche
in den Beinen am nächsten Tage nicht seltene Erscheinungen sind.
Diese Nachwirkung kann unter Umständen, bei chronisch erregten
Kranken, die man an die Bettruhe gewöhnen will, geradezu erwünscht
sein. Von sehr langer Dauer ist sie übrigens nicht. Bei fortgesetzter
hoher Dosirung tritt nach anfänglich sehr geringer Wirkung bis-
weilen plötzlich tagelange Schlafsucht auf, wahrscheinlich dui'ch
raschere Lösung angesammelter Mengen des Mittels. Jedenfalls ist
vor dauernder Darreichung ungelösten Sulfonals zu warnen, zumal
es dabei unter Umständen anscheinend zu chronischer Blutzersetzung
kommen kann (Hämatoporphyrin im Harn). Am besten giebt man
das Mittel 1—2 Stunden vor dem Schlafengehen in grösseren Mengen
heisser Flüssigkeit (Thee, Suppe) gelöst. Auf diese Weise und ebenso
durch Einmischung in alle möglichen Speisen hat man das Siüfonal
vielfach den Kranken ganz ohne ihr Wissen beibringen können.
Dem Sulfonal zum mindesten gleichwerthig scheint das nahe
verwandte Trional**) zu sein. Die Wirkung ist in Gaben von
1 — 3 gr (in heisser Milch oder warmem ßothwein) eine recht sichere
nnd dauert trotz der geringen Löslichkeit des Mittels nicht zu lange
an, so dass die unangenehmen Folgeerscheinungen meist ausbleiben.
Dagegen scheint es hie und da Magen und Darm etwas zu belästigen.
Die Wirkung des Tetronais ist ähnlich, nur vielleicht ein wenig
schwächer und unsicherer.
Ein mildes, dafür aber durchaus ungefährliches Hypnoticum
ist das von v. Jacksch zuerst geprüfte ürethan, dessen Darreich-
ung (zu 3—5 gr mit Aqua Menthae piperitae) gar keine Schwierig-
keiten macht. Es passt daher dort, wo andere Mttel zurückgewiesen
*) Kast, Berl. Klin. Wochenschr., 1888, IG; Therapeutische Monatshefte, 1888,
Juli; Eabbas. Berl. Klin. Wochenschr., 1888, 17; Gramer, Münchener Med. Wochen-
schrift, 1888, 24; Therapeutische Monatshefte, 1888, 24; ibidem, 1888, 8; Otto,
Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLV, 4; Vorster, ibidem XLII, 1.
**) Schäfer, Berl. Klinische Wochenchr. 1892,29; Schnitze, Therapeutische
Monatshefte, 1891, October.
Arzneimittel.
205
werden, oder wo hohes Alter, grosse körperliche Hinfälligkeit, be-
trächtliches Fieber die Anwendung eingreifenderer Medicationen nicht
gerathen erscheinen lassen. Ausbleiben der "Wirkung ist nicht selten;
üble oder gar bedrohliche Zufälle sind bisher nie beobachtet worden,
doch wurde mir zweimal von allerdings nicht ganz zuverlässigen
Kranken über das Auftreten von Sinnestäuschungen geklagt.
Ueber das von Com.pari aus Chloralhydrat und Urethan dar-
gestellte, von Bernardino empfohlene Ural fehlt mir eigene Er-
fahrung. Die Dosis wird auf 2 — 3 gr angegeben.
Unter der Bezeichnung des Hypnon*) ist von Dujardin-
Beaumetz das Phenylmethylaceton in die Therapie eingeführt
worden. Das intensiv nach Jasmin und bitteren Mandeln riechende
Mittel wird in Gaben von 5 — 10 Tropfen angewendet, die wegen
seiner stark ätzenden Eigenschaften am zweckmässigsten mit Spermacet
oder Butyrum Cacao verrieben und in Gelatinekapseln eingeschlossen
werden. Die schlafmachende Wirkung ist keine besonders zuver-
lässige, das Mittel daher fast wieder vergessen.
Den grossen Vorzug einer subcutanen Anwendbarkeit besitzt
das Methylal **). Allerdings sind die Injectionen (1 Theil auf
9 Theile Wasser) ziemlich schmerzhaft, und man muss dieselben
hänfig wiederholen, bis der Erfolg eintritt, v. Erafft-Ebing
empfiehlt das Mittel warm für die Behandlung des Delirium tremens
und bei Aufregungszuständen auf anämischer Grundlage; meine
eigenen Erfahrungen gestatten mir noch kein sicheres Urtheil. Die
Gabe beträgt 0,1 in mehrmaliger Wiederholung ; bei innerlicher Dar-
reichung sind sehr viel grössere Dosen erforderlich. Im Ganzen
scheint das Problem eines unschädlichen, sicher wirkenden und be-
quem subcutan anwendbaren reinen Schlafmittels auch mit dem
Methylal noch nicht gelöst zu sein.
Als eines sehr milden, aber in normalen wie krankhaften Zu-
ständen häufig genug in Anwendung gezogenen Hypnoticums haben
wir endlich noch des Alkohols zu gedenken. In nicht zu kleineu,
individuell natürlich sehr verschiedenen Gaben (etwa 40 — 60 gr) er-
zielt er dort, wo die Schlaflosigkeit durch erhöhte centrale Eeizbar-
*) Mairet et Combemale, Archivos de neurologie, XIH, 37; Normaa, Journal
of mental science, 1887, Jan.; Eottenbiller, Erlenmeyors Centralbl. 1887, 11.
**) Petrazzani, Eivista sperimentale di freniatria, XIII, 2; v. Krafft-
Ebing, Therapeutische Monatshefte, 1888, 2.
206
V. Allgemeine Therapie.
keit und Uebermüdnng bedingt wird, nicht selten recht befriedigende
Erfolge. Auch bei Zuständen innerer Spannung und Hemmung
(Depression) werden die euphorischen und beruhigenden Wirkungen
des Alkohols den Eintritt des Schlafes zu unterstützen geeignet sein.
Bei hysterischer, neurasthenischer, bisweilen auch bei seniler Schlaf-
losigkeit ist daher zunächst ein Versuch mit diesem Mittel sehr
am Platze. Man giebt es je nach den Lebensgewohnheiten und
Neigungen des Kranken in Form von Bier, Grog oder Schlummer-
punsch. Ausgezeichnete Dienste leistet der Alkohol endlich im
Collapsdelirium, namentlich bei Nahrungsverweigerung, schwerer
Unruhe und schwachem Pulse. Hier passen die concentrirteren Pormen ,
namentlich der Cognac, wenn nöthig, als Zusatz zur künstlichen
Fütterung.
Sehr intensive, allen anderen Mitteln widerstehende Aufregungs-
zustände, die aus irgend einem Grunde (chirurgische Yerletzungen,
Nothwendigkeit einer kleinen Operation und dergl.) rasches Ein-
greifen verlangen, können gelegentlich auch zur Anwendung des
Chloroforms führen. Schwächliche, nervöse Personen, Hysterische,
Trinker sind jedoch davon ausgeschlossen, weil bei ihnen der Zweck
einer Beruhigung nicht erreicht zu werden pflegt, und die Narkose
nicht selten grosse Gefahren über sie heraufführt. Weniger gefähr-
lich, aber auch weniger wirksam ist der Ersatz des Chloroforms
durch Aether. Versuche systematischer Anwendung dieses Mittels
bei erregten Kranken haben mir indessen gezeigt, dass die erzielte
Beruhigung die eigentliche Narkose kaum zu überdauern pflegt und
somit der Nutzen durchaus nicht die Gefahren und Unannehmlich-
keiten für Patienten und Arzt aufzuwiegen vermag. Auch die von
Berger in psychischen Exaltationszuständen empfohlene systematische
Einathmung von Bromäthyl (täglich 5 — 10 gT) hat wegen des
unsicheren Erfolges und des abscheulichen Bromgestankes keine
weitere Verbreitung gefunden.
Eine letzte Gruppe das Centralnerveusystem direct beein-
flussender Arzneimittel wird durch die Brom salze (Bromkalium,
— natrium, — ammonium, — rubidium u. A.) gebildet, welche an-
scheinend die sensible und motorische Erregbarkeit des Gehirns
herabsetzen und namentlich auf dem Gebiete der Epilepsie und
Neurasthenie sehr werthvolle Dienste leisten. Bei der Epilepsie
wirken sie allerdings, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nur
Arzneimittel.
207
symptomatisch, indem sie die Zahl und Stärke der Anfälle während
der Dauer ihrer Amvendung verringern; mit dem Aussetzen des Mittels
pflegt die Krankheit in der füheren Heftigkeit, bisweilen sogar in ver-
stärktem Masse wieder hervorzutreten. Der Erfolg wird in der Regel
mit der Sicherheit des physiologischen Experimentes erreicht; selten
nur bleibt das Leiden gänzlich unbeeinflusst. Ausserdem giebt es
indessen, wie ich wiederholt erfahren, auch vereinzelte Fälle, in denen
eine sehr entschiedene und sogar gefahrdrohende Verschlimmerung
und Häufung der Anfälle sich einstellt; schon aus diesem Grunde
sollte die Anwendung der Mittel nicht ohne dauernde ärztliche Ueber-
wachung durchgeführt werden. Die sorglose Versendung derselben
im Grossen an beliebige Laien, wie sie von der Bielefelder An-
stalt aus geschieht, ist jedenfalls in hohem Masse gefährlich.'
Sehr ausgedehnte Anwendung finden die Bromsalze ferner bei
der einfachen Neurasthenie und der sie so oft begleitenden
,,nervösen" Schlaflosigkeit; die Herabsetzung der centralen Erreg-
barkeit genügt hier oft, um eine dauernde Beruhigung und Erholung
zu Stande kommen zu lassen. Man giebt die einzelnen Salze oder
die drei erstgenannten in gleichem Verhältnisse gemischt (Erlen-
meyer'sches Gemisch) entweder als Schlafmittel in einmaliger voller
Dosis (3 — 6 gr) oder aber in methodischer Cur steigend und wieder
fallend zu 3—8 gx pro die (Pulver in Oblaten oder Lösung). Eine
sehr bequeme, den stark salzigen Geschmack verdeckende Form der
Anwendung haben wir in dem kohlensauren Bromwasser ge-
wonnen, welches gewöhnlich in einer Flasche 10 gr Bromkalium
enthält. "Wo die Anfälle zu bestimmten Zeiten (Menses) hervorzu-
treten pflegen, wird man zweckmässig die Maximalgaben gerade in
diese Periode fallen lassen, um während der Zwischenpausen herunter-
zugehen und wo möglich ganz auszusetzen (intermittirende Anwend-
ung). Grössere Gaben der Bromsalze können nämlich bei längerer
ununterbrochener Anwendung schwere Gehirnerscheinungen hervor-
rufen (Abnahme des Gedächtnisses, Unsicherheit der Bewegungen,
Apathie); aber auch der Gebrauch kleinerer Dosen darf höchstens
einige Monate lang ohne die Gefahr von Verdauungsstörungen und
fortschreitender Abmagerung fortgesetzt werden. Das Auftreten von
Acneknötchen und Furunkeln, sowie starker foetor ex ore giebt das
Zeichen zur Unterbrechung.
In ähnlicher Weise wie die Krampfanfälle vermag das Bromkalium
208
V. Allgemeine Therapie.
auch bisweilen periodisch auftretende Aufregungszustäude abzu-
schneiden, namentlich dann, wenn dieselben mit den Menses in Be-
ziehung stehen und von kurzer (1 — 2 wöchentlicher) Dauer sind.
Der Erfolg tritt nicht überall, in einzelnen Fällen aber mit der grössten
Sicherheit ein. Von Wichtigkeit ist hier namentlich die rechtzeitige
Darreichung bei den ersten Anzeichen des beginnenden Anfalles,
dann aber die Anwendung sehr grosser Gaben. Man giebt nicht
weniger als 12 — 15 gr pro die eine Reihe von Tagen hintereinander
und geht dann langsam herunter, natürlich unter beständiger Ueber-
wachung des Zustandes, im Hinblicke auf die Gefahr plötzlicher
CoUapse oder bronchitischer Erkrankungen.
Die unzweifelhafte Bedeutung der Blutversorgung in der Pathologie
der Geistesstörungen hat auch einigen Mitteln in die Therapie des
Irreseins Eingang verschafft, welche vorwiegend auf das Herz und
die Gefässe wirken. So hat man das Amylnitrit wegen seines
auffallenden Einflusses auf das Gefässgebiet des Kopfes in solchen
Zuständen angewendet, in denen man einen Gefässkrampf vermuthete.
Leider hat das Mittel bisher die gehegten Erwartungen nicht ge-
rechtfertigt, da die "Wirkungen selbst im günstigsten Falle sehr rasch
vorübergehen. Ferner kommt der Digitalis, namentlich in Verbind-
ung mit Opium oder Morphium, nicht selten dort eine beruhigende
Wirkung zu, wo Aufregungszutände mit unregelmässigem, frequentem
Pulse und Herzschwäche einhergehen (Herzfehler, alte Perikarditis
u. s. f.). Yielleicht wird man endKch von den neuesten Mitteln
dieser Gruppe, vom Cytisin und noch mehr vom Cornutin mit
seiner den Gefässtonus und damit den Blutdruck steigernden Wirk-
ung bei Stauungen und Anaenrie in der Schädelhölile aufmunternde
Erfolge zu erwarten haben. Wichtiger freilich noch wären Mittel,
welche die Beschaffenheit des Blutes zu verbessern vermöchten.
Hoffentlich wird uns die rüstig fortschreitende Pathologie des Blutes
bald nach dieser Richtung hin sichere Wege weisen.
Fast gänzlich aus der psychiatrischen Therapie verbannt sind
die früher viel geübten Blutentziehungen, namentlich die all-
gemeinen, seitdem man erkannt hat, dass psychische Störungen nicht
durch „Plethora", sondern im Gegentheil häufig genug durch
anaemische und ischaemische Zustände des Gehirns bedingt werden.
Wo starke Congestionen oder Entzündungssymptome eine Entlastung
des Schädelinhaltes nothwendig erscheinen lassen, können allenfalls
Physikalische Heilmethoden.
209
einige Blutegel au den Processus mastoidei oder au der Nasen-
scheidewand in Anwendung kommen. Ebenso sind auch die einst
sehr beliebten ableitenden Mittel (Blasen pflaster, Unguentum
tartari stibiati, Drastica) fast völlig veraltet.
Physikalische Heilmethoden. Unter den physikalischen Heil-
methoden, die in die irrenärztliche Praxis Eingang gefunden haben,
steht obenan die Hydrotherapie, insonderheit die Anwendung der
Bäder. Zwar sind die barbarischen Douchen und die kalten Stui'z-
bäder, wie sie früher als „revulsive" Mittel beliebt waren, lange
ausser Gebrauch gekommen, aber der grosse "Werth warmer und
lauer, besonders verlängerter, einige (3 — 4) Stunden dauernder Bäder
für die Behandlung von Aufregungszuständen ist unzweifelhaft.
Natürlich wirken sie nur dann beruhigend, wenn die Kranken frei-
willig darin bleiben; das Festhalten durch "Wärter pflegt die Er-
regung meist nur zu steigern, besonders bei ängstlichen Patienten.
Einzelne erfahrene Beobachter rühmen zwar den Nutzen der mit
ausgeschnittenen Deckeln verschHessbaren "Wannen, doch kann ich
mich mit dieser Einrichtung nicht befreunden. Man kann die ver-
längerten lauen, stets auf gleicher Temperatur (32 — 340 q-^ gj._
haltenen Bäder auch mehrmals täglich anwenden und sogar den
ganzen Tag andauern lassen; gegen Abend haben sie eine günstige
schlaf machen de "Wirkung. Wo congestive Erscheinungen Seitens
des Kopfes vorliegen, verbindet man sie mit gleichzeitiger kalter Be-
rieselung desselben oder Eisumschlägen. An das Bad selbst schliesst
sich zur Anregung der Hautthätigkeit zweckmässig ebenfalls eine
kühle Berieselung mit darauffolgender Abreibung an. Bei sehr
schwächlichen Kranken werden die Vollbäder oft mit Erfolg ersetzt
durch hydropathische Einwickelungen des ganzen Körpers,
die indessen nicht mehr als einige Stunden ausgedehnt werden sollten
(CoUapsgefahr). Sanfte Regendouchen, kalte Abreibungen empfehlen
sich für nervöse und hysterische Kranke, besonders auch Onanisten,
bei denen noch kalte Sitzbäder hinzugefügt werden. Von den
medicamentösen Bädern sind hauptsächlich nur noch die Senffuss-
bäder im Gebrauch, die bei Neigung zu Kopfcongestionen bisweilen
einen schlafmachenden Einfluss auszuüben im Stande sind. Dem
gleichen Zwecke dient die örtliche Anwendung der Kälte am
Kopfe in der Form des Eisbeutels. Die Ehafachheit und Volksthüm-
lichkeit dieser Massregel spricht entschieden zu ihren Gunsten, wenn
Kraopolin, Psychiatrio. 4. Ann. 14
210
V. Allgemeine Therapie.
man auch gerade in der Psychiatrie vielleicht häufiger von ihrem
psychischen (Zwang der Bettlage), als von dem physikaüschen Ein-
flüsse Erfolg hoffen darf. Beim Bestehen von Menstruationsbeschwerden
mit Empfindlichkeit der Wirbelsäule hat man auch die Kältebehand-
lung dieser letzteren mit Hülfe des eisgefüllten Chapmann'schen
Schlauches empfohlen.
Verhältnissmässig beschränkte Anwendung hat bisher dieElektr o-
therapie*) in der Behandlung der Geisteskrankheiten gefunden.
Die vorliegenden Erfahrungen sind daher noch sehr lückenhaft
und kaum zui" Aufstellung allgemeiner Grundsätze geeignet. Der
faradische Strom scheint vorzugsweise als Erregungsmittel
zu wirken. Dem gegenüber erwartet man von der Galvanisation
des Kückenmarks, des Sympathicus, des Gehirns (schAvache Ströme,
kurze Sitzungen, grosse Elektroden, Leitung längs oder schräg diu'ch
den Kopf) namentlich eine „katalytische" Einwirkung auf die
feineren molecularen Vorgänge und einen Einfluss auf das Gefäss-
system. Man hat daher vorgeschlagen, bei Zuständen mit erhöhter
nervöser Reizbarkeit, Gefässkrampf und dergleichen die Anode
(absteigende Ströme), bei bestehenden Lähmungserscheinungen,
Stauungen, Oedemen dagegen die Kathode (aufsteigende Steöme)
auf das centrale Nervensystem einwirken zu lassen. Dass beide
Elektroden auch hier einen verschiedenen Einfluss ausüben können,
scheint aus einzelnen Beobachtungsthatsachen hervorzugehen.
Im Allgemeinen werden es natürlich vorzugsweise die frischen,
noch nicht sehr ausgebildeten, und namentlich die mit nervösen
Beschwerden einhergehenden Fälle sein, in denen man von der
elektrischen Behandlung Erfolg hoffen darf. Hier mag- es bisweilen
gelingen, durch Beseitigung peripherer Reizursachen, dui-ch Herab-
setzung der Erregbarkeit und durch Beeinflussung des Blutkreislaufs
die drohende psychische Erkrankung schon in ihrem Beginne zu
bekämpfen. Bei tieferen, anatomisch greifbai-en Störimgen, Avie
namentlich bei der Paralyse, ist höchstens auf eine ganz vorüber-
gehende Wii-kung zu rechnen, doch hat man auch hier Rückenmark
und Sympathicus mit aufsteigenden Strömen behandelt. Hysterische
*) Arndt, Archiv f. Psychiatrie II; AUgem. Zeitschrift f. Psychiatrie XXVIII,
XXXIV; Erb,' Elektrotherapie II, 2. Anflage. 1886. Tigges, Allgem. Zeitschrift
f. Psychiatrie XL.
Diätetische Massregeln.
211
Dämmerzustände imd vielleicht auch manche Formen der Melancholie
oder des acuten Schwachsinns in späteren Stadien scheinen unter
Umständen durch methodische Faradisation günstig beeinflusst zu
werden; es empfiehlt sich die Anwendung stärkerer Ströme an ver-
schiedenen Stellen der Körperoberfläche oder die allgemeine Faradi-
sation. Galvanisation und Faradisation des Kopfes (elektrische Hand)
können wegen ihrer hypnotischen "Wirkung auch zui' Bekämpfung
der Schlaflosigkeit gelegenthch in Anwendung gezogen werden.
Die besten praktischen Dienste leistet die elektrische Behandlung
(Galvanisation des Kopfes, allgemeine Faradisation mit der Rolle,
elektrische Bäder) unzAveifelhaft in hysterischen und nem'asthenischen
Zuständen. Gerade hier aber Avird die Ausscheidimg des sicherlich
nicht geringen Antheils, Avelcher dem psychischen Einflüsse des
Yerfahrens zugeschrieben werden muss, voUkoramen undurclrftihrbar.
Die modernste unter den pJiysikaHschen Heilmethoden, die
Massage, hat sich ebenfalls nur ein geringes Gebiet der psychiatiischen
Therapie zu erobern vermocht, das sie zudem noch mit der Elektricität
bis zu einem gewissen Grade theileu muss. Bei der grossen Mehr-
zahl der psychischen Krankheiten passt die Massage nur dort, wo
eine selbstänchge körperhche Anzeige für dieselbe vorhegt. In ge-
wissen Formen von hysterischen imd neurastlienischen Psychosen
indessen, sowie in der Eeconvalescenz von einfachen Melanchohen
vermag die Massage, am besten in Verbindung mit der allgemeinen
Faradisation, diu-ch Kräftigung der Muskulatur und Am-egung des
Stoffwechsels oft recht schätzbare Dienste zu leisten. Ihre RoUe in
der sogenannten Mastcuf wird weiter unten Erwähnung finden.
Diätetisclie Massregeln. Zwar von langsamerer und Aveniger
durchgreifender, aber darum nicht weniger werthvoUer Wirkung, als
fhe aufgeführten Arzneien imd Heilmethoden, sind jene allgemeinen
diätetischen Massregeln, die keiner besonderen therapeutischen Indi-
cation dienen, sondern die Befriedigung der täghchen allgemeinen
Lebensbedürfnisse zum Ziele haben. Obenan steht die Sorge für eine
passende Ernährung. Jeder Geisteskranke, auch der anscheinend
„YoUblütige", bedarf einer regelmässigen, gut bemessenen Zufuhr
kräftiger Nahrungsmittel, durch welche nicht selten schon ganz aUein,
ohne jede weitere Behandlung, die Genesimg herbeigeführt wird.
Durchaus in den Vordergrimd tritt diese Rücksicht, wo schwächende
Ursachen, Wochenbett, Blutverluste, acute Ki-ankheiten der Psychose
212
V. Allgemeine Therapie.
vorausgegangen sind, und wo die Wage wie die körperliclie Unter-
suchung eine gesunkene Ernährung, Blutleere, Scliwäche, Abmagerung
erkennen lässt. Namentlich ist es von Wichtigkeit, schon im An-
fange der Erkrankung, wo der Patient, von lebhaften Affecten beherrscht
und ohne Appetit, die Nahrungsaufnahme vernachlässigt, auf ein
regelmässiges Einhalten der Mahlzeiten zu achten und jeder beginnen-
den Yerdauungsstörung sogleich entgegenzuarbeiten.
Diese Sorge erstreckt sich oft in gleicher Weise über den ganzen
Verlauf der Exankheit fort, wo der Melanchohker dui-ch seine Yer-
stinunung, der Aufgeregte durch seine Unruhe vollständig daran ver-
hindert wird, an das Nahrungsbedürfniss zu denken und sich selbst
um die Befriedigung desselben zu kümmern. Geduldiges, häufig
wiederholtes Anbieten des Essens, wenn auch ünmer nur kleine
Mengen genonunen werden, führt hier meist zum Ziele. Stets muss
die Kost leicht verdaulich und, namentiich in schwierigeren Fällen,
mögUchst nahrhaft sein, um dm-ch die Qualität die Unmöglichkeit
einer quantitativ reichhcheren Zufuhr auszugleichen. Die so über-
aus häufige Obstipation bekämpft man nm- dm-ch ganz milde Mittel,
namentiich durch Klystiere (Glycerin, Oel), Eingiessungen, nach Um-
ständen durch Massage und Faradisation des Bauches. Unterstützt
werden diese Massnahmen durch Eegelung der gesammten Lebens-
weise, Bewegung in frischer Luft, körperliche, keine geistige An-
strengimg erfordernde Beschäftigung, vorzügüch Gartenai'beit u. dergi.
Eine eigenartige Ausbildung hat die Sorge füi- die Köi-perernähi-ung
in der von Weir Mitchell und Playfair*) eingeführten „Mastcur"
(feeding-cure) erhalten. Das Princip dieser Cur besteht in einer mög-
lichsten Beschleunigung des Stoffumsatzes dm-ch üben-eichHche Er-
nährung bei gleichzeitiger lebhafter Muskelarbeit ohne active An-
strengung. Den in Bettruhe gehaltenen Patienten werden in sehr
kurzen Zwischenräumen grosse Mengen nahrhafter, leicht verdaulicher
Esswaaren (Milch, Fleisch, kräftige Suppen) zugefühi-t, während dm-ch
systematische, ausgiebige Massage und faradische Reizung die gesanmite
Körpermuskulatiu- bearbeitet wird. Dazu kommt als wichtigster Punkt
des Programms die vöUige Entfernung des Kranken aus den ge-
wohnten Verhältnissen imd die bedingungslose Unterordnung imter
*) "Weir Mitchell, fat and blood, 3. Aufl. 1884; Playfair, Die systematische
Behandlung der Nervosität und Hysterie, deutsch von Tischler. 1883: Burkart,
Volkmanns Klinische Vorträge, 245.
Diätetische Massregelii.
213
(lie ärztliche Autorität. Zweifellos spielt dieses psychische Moment
bei der ganzen Cur eine äusserst bedeutsame Rolle. Die Erfolge
sind in geeigneten Fällen staunenswerthe ; man darf solche aber nur
auf dem Gebiete der eigen fliehen Hysterie, und zwar dort erwarten,
wo keine tiefgreifende psychische Störung, sondern wo wesenthch
dauernde gxosse "Willensschwäche (Lähmungen) besteht und die Er-
nähi'ung tief gesunken ist. Es erscheint aber wol möghch, dass der
Grundsatz der Ueberemährung in geeigneter Anpassung auch für
einzelne Formen von Psychosen, namenüich die Erschöpfungszustände,
mit Vortheil in Anwendung gezogen werden kann; so manche Er-
fahrimgen sprechen dafür.
Ganz besondere Berücksichtigung erfordert die diätetische Be-
handlung der frisch Erkrankten. Hier handelt es sich vor Allem
um Beruhigung. Das beste Mittel zur Erreichung dieses Zweckes
ist die Bettlagerung, die bisweüen schwierig, unter einigermassen
günstigen Yerhältnissen (ausreichendes, gut geschultes Personal) aber
doch meistens dm-chführbar ist. Bei einiger Geduld kann man dm-ch
cüese harmlose Massregel, welche die Unterschiede in der Behandlung
psychisch und körperhch Kranker mehr und mehr verwischt, ganz
ausserordenthche Erfolge erzielen. Alle frisch Erkrankten gehören
zunächst und unter Umständen für längere Zeit ins Bett, was den
Genuss frischer Luft durch stundenweises Auf stehen ' oder Ruhen im
Freien nicht ausschhesst. Ferner wird, man jene anaemischen und
schwächhchen Kranken, die durch ängstiiches Herumlaufen ihre
Kräfte zu erschöpfen drohen, die Nahrungsverweigerer, endlich die
motorisch Erregten so lange wie irgend möghch im Bett zu erhalten
suchen, natürlich sämmtiich unter dauernder Ueberwachung. Ohne
jeden Zweifel verlaufen die Aufregungszustände aller Art weit milder
im Bette, als ausserhalb desselben. In schwierigeren FäUen sinnloser
Unruhe, namentlich im Collapsdelirium , in epileptischen und
paralytischen Dämmerzuständen, erweisen sich die Betten mit hohen
gepolsterten Seitenwänden als ungemein zweckmässig.
AUein es giebt immerhin, namentlich in mangelhaft eingerichteten
imd überfüllten Anstalten, Kranke, bei denen die Bettbehandlung
sich nicht durchführen lässt, und die wegen sehr starker motorischer
Unruhe oder rücksichtsloser Gewaltthätigkeit auch nicht wol in der
Gesellschaft Anderer gelassen werden können, ohne sich und ihre
Umgebung schweren Gefahren auszusetzen.
214
V. Allgemeine Therapie.
In solchen Fällen greift man zu dem Nothbehelf der Isolirung
im geschlossenen Zimmer, womöglich nur unter steter Ueber-
wachung Ton aussen. Hie und da bedarf man auch wol einmal
eines Polsterzimmers, doch hat diese Einrichtung im Ganzen den
an sie geknüpften Erwartungen nicht entsprochen, namentlich wegen
der bei unreinen Kranken unmöglichen Fernhaltung des Gestankes.
Die Isolirung ist unter allen Umständen ein Uebel, welches mau,
namentlich Nachts, im Interesse des Schutzes ruhebedürftiger Kranker
vor ihren lärmenden Nachbarn nicht immer wird umgehen können,
dessen Dauer aber so kurz wie nur irgend möglich bemessen
werden soll.
Längere Isolirung wirkt fast immer sehr schädlich und be-
günstigt die Verblödung der Kranken sowie das Einwurzeln von
üblen Angewohnheiten, namentlich Unreinlichkeit, Onanie, Zerreissen
und Gewaltthätigkeit. Mit unermüdlicher Geduld müssen daher in
jedem Falle immer und immer wieder Versuche gemacht werden,
der Isolirung baldigst ein Ende zu bereiten. Sie ist es in erster
Linie, welche die „Anstaltsartefacte" erzeugt, jene Kranken, welche
wegen ihrer Verwilderung nach den verschiedensten Richtungen hin
den Schrecken der Anstalten bilden. Ich glaube, diese Züge bei
periodisch Kranken in neuen Anfällen noch nach Jahren als die
Andenken an frühere dauernde Isolirung erkannt zu haben.
In dem Heilapparat der älteren Anstalten spielte zur ünschädlich-
machung der Kranken und als symptomatische Behandlungsmethode
der Aufregung eine grosse Rolle die mechanische Beschränkung
durch die Zwangsjacke, Zwangsstühle, Zwangsbetten u. s. f., Alles
Vorrichtungen, welche dazu dienten, den Kranken an dem freien
Gebrauche seiner Glieder zu hindern und ihn in einer bestimmten
Lage festzulialten. Es ist namentlich das Verdienst des Engländers
Conolly*), anf die ünzweckmässigkeit, ja Gefährlichkeit dieser
Zwangsmassregeln mit aller Energie hingewiesen zu haben. Sie
steigern die Unruhe und Aufregung des Kranken, der sich abmüht,
sich frei zu machen; sie erbittern ihn gegen seine Aerzte und Pfleger,
die meist erst nach hartem Kampfe die verhasste Beschränkung
durchzuführen vermögen, und sie verderben das Pflegepersonal,
welches im Vertrauen auf die brutale Gewalt kein Interesse daran
*) Die Behandlung der Irren ohne mechanischenZwang.dtsch. von Brosins. 1860.
Psychische Behandhing.
215
hat, selbst engere rühlmig mit den Ki-anken zu gewinnen und die-
selben nicht sowol durch die Furcht, als vielmehr durch die kleinen
KunstgTiffe des hülfsbereiten "Wohlwollens beherrschen zu lernen.
Aus diesem Grunde spielt das „Restraint", die mechanische Be-
schränkung, zwar in schlecht eingerichteten Krankenhäusern und in
privaten Verhältnissen, zumal bei der weit verbreiteten überti-iebenen
Angst vor Geisteskranken, leider noch eine gewisse RoUe; das
mustergiltige Anstaltsleben kennt sie so gut wie gar nicht mehr.
Nur dort, wo die peinliche Durchführung des No-restraint-Systems
ein grösseres Uebel bedeuten würde, als die Beschränkung selbst,
wo z. B. das Leben des Kranken in Gefahr scliwebt, wie bei schweren
chirurgisclien Erkrankungen, unter Umständen auch beim schwierigen
Transporte sein- gefährlicher und aufgeregter Kranker, kann die
menschliche und ärztliciie Berechtigung der Zwangsmittel nicht
zweifelhaft sein.
In der Regel wird man mit dem einfachen Festbinden durch
Bettüclier, Handtücher und dergl. auskommen, unter Umständen auch
mit dem Anlegen eines oder zweier fester, durch Schrauben verschliess-
barer Handschuhe. Bei wirklich grosser Gefahr wird man endlich
nicht zögern, zur Anwendung der Zwangsjacke zu greifen, doch kann
ich z. B. mittheüen, dass ich in den letzten 6 Jahren keinen Fall
mehr erlebt habe, ia welchem diese Massregel nothwendig geworden
wäre. Die Zwangsjacke ist eine vorn geschlossene, hinten offene
J acke von starkem Segeltuche mit langen Aermeln ohne Oeffinungen,
mit Hülfe deren die Arme über der Brust gekreuzt festgehalten
werden können. Bei sehr fester Anlegung und langem Liegen der-
selben entstehen leicht Hautabschürfungen und Druckbrand an den
gefährdeten Stellen; sie muss daher öfters gelockert und womöglich
täglich einige Stunden abgelegt werden. Kein mechanisch be-
schränkter Kranker darf ohne beständige Aufsicht ge-
lassen werden; es kommt vor, dass derselbe sich selbst befreit
oder gar erdrosselt.
C. Psychisclie Behandlung.
Besonders der Kampf um die Anwendbarkeit der mechanischen
Beschränkung ist es gewesen, der die Ausbildung einer systematischen
psychischen Behandlung der Geisteskranken angebahnt hat.
Je weniger Arzt und Pflegepersonal gegenüber den Aufi-egungs-
216
V. Allgemeine Therapie.
zuständen ihre Zuflucht zur nackten Gewalt nehmen konnten, desto
mehr mussten sie darauf bedacht sein, sich durch das Mittel der
psychischen Einwirkung die Macht über ihre Pflegebefohlenen zu
Yorschaffön. Die Aufgaben dieser Richtung der Therapie sind es,
einerseits die Krankheitserscheinungen zurückzudrängen, anderer-
seits die gesunden Yorstellungen und Gefühle zu kräftigen und
ihnen schliesslich zum Siege über die krankhaften Störungen zu
verhelfen. Es liegt auf der Hand, dass sich für die Lösung dieser
Aufgaben bei der Mannigfaltigkeit der Persönlichkeiten, welche den
Angriffspunkt des irren ärztlichen Handelns büden, ins Einzelne ge-
hende Vorschriften nicht geben lassen, sondern dass jenes Ziel in
jedem Falle wieder auf anderem Wege erreicht werden muss, dessen
Auffindung und geschickte Yerfolgung jeweils der Eiasicht und
Erfahrung des Arztes überlassen bleibt.
Mit Eecht wird daher wegen dieser grossen persönlichen Yer-
antwortlichkeit vom Psychiater noch eine Summe besonderer geistiger
Eigenschaften gefordert: „wohlwollender Sinn, grosse Geduld, Selbst-
beherrschung, eine besondere Freiheit von allen Yorurtheilen, ein
aus einer reicheren Weltkenntniss geschöpftes Yerständniss der
Menschen, Gewandtheit der Conversation und eine besondere Neigung
zu seinem Beruf, die ihn allein über dessen vielfache Mühen und
Anstrengungen hinwegsetzt."*) So ausgerüstet ^ wird er im Stande
sein, dem Kranken nicht nur ein Arzt, sondern zugleich ein
Erzieher und Freund zu werden, nicht nur den körperlichen
Grundlagen der Geistesstörung seine Aufmerksamkeit zuzuwenden,
sondern durch die Macht seiner Persönlichkeit verständnissvoll auch
die krankhaften psychischen Erscheinungen selbst zu be-
kämpfen. "Wirkt schon bei körperlichen Erkrankungen der Arzt
häufig genug ebenso sehr durch seine persönlichen Eigenschaften,
■wie durch die Arznei, so erweitert sich hier das Feld der psychischen
Behandlung selbstverständlich in ganz ausserordentlichem Masse.
Der oberste Grundsatz in der psychischen Behandlung der Geistes-
kranken ist Off enheit und unbedingte Wahrheitsliebe. Gerade
hier wird von Laien und Aerzten immer wieder schwer gefehlt. Man
scheut sich in ganz unsinniger und ungerechtfertigter Weise, einem
Geisteskranken zu sagen, dass man ihn für krank hält, während diese
*) Griesinger, Pathol. u. Therapie der psych. Ki-anklieiton, 4. Aull., p. 533.
Psychische Behaudlimg.
217
Erkenntniss doch die erste Grundlage für die ganze Behandlung
und nicht selten füi- den Leidenden selbst geradezu eine Erlösung
bedeutet. Freilich giebt es viele Kranke, die sich selbst für völlig
gesund halten, aber auch hier hat das unselige Versteclrspiel,
welches so häufig mit ihnen getrieben wird, schlechterdings keinen
Nutzen, da die Kranken ja doch durch die Art, wie man sie be-
handelt, zu der Erkenntniss kommen müssen, dass man bei ihnen
eine geistige Störung vermuthet. Es muss unter allen Umständen
für verwerflich erklärt werden, einen Geisteskranken, in welcher
Absicht immer, zu täuschen, um ihn zu irgendwelchen noth-
wendigen Massregeln zu bewegen (Einnehmen von Arzneien, Ver-
bringung in die Anstalt), zu denen man seine Zustimmung nicht
erreichen zu können glaubt. Weit besser ist es, ihm ruhig und
freundlich, aber fest zu erklären, was mau von ihm will und zu
welchem Zwecke. Man wird dabei fast immer sein Ziel schliesslich
erreichen. Im äussersten Nothfalle greife man lieber zur Gewalt,
der sich besonnene Kranke regelmässig fügen, wenn sie keinen
andern Ausweg sehen. Sie werden ein derartiges Yorgehen stets
leichter verzeihen, als die List, deren unvermeidliche Aufdeckung
sehr gewöhnlich ein unausrottbares Misstrauen im Gefolge hat.
Den Wahnideen der Kranken gegenüber wird sich der Arzt stets
einfach ablehnend verhalten. Er wird ihnen weder durch scheinbares
Zustimmen neue Nahrung geben, noch sie in langen Auseinander-
setzungen ausführhch bekämpfen, noch viel weniger aber etwa sie
ins Lächerliche ziehen und dadurch die Kranken reizen. Ich brauche
auch kaum hinzuzufügen, dass der Grundsatz unbedingter Offenheit
durchaus nicht dahin führen darf, ohne zwingenden Anlass jeder
krankhaften Aeusserung systematisch zu widersprechen, die der Kranke
etwa fallen lässt. Yielfach, namentlich bei schwachsinnigen (paraly-
tischen) oder sehr gereizten Kj-anken wird man sich auf die gelegent-
liche Peststellung der Krankhaftigkeit des Zustandes beschränken, die
geäusserten Wahnideen übergehen, unbeachtet lassen und nur den
krankhaften Handlungen entgegentreten, soweit sie eine Schädigung
des eigenen oder des Wohles der Mitpatienten in sich schliessen.
Bei allen acuten und subacuten Formen der Geistesstörung
ist die Aufgabe der psychischen Therapie wesentlich eine neg-
ative, abwartende. Ueberall handelt es sich hier um krankhafte
Erregimgszustände des Gehirns, die vor allen Dingen Euhe und
218
V. Allgemeine Therapie.
immer wieder Ruhe fordern. Der Arzt liat daher in erster Linie
für die möglichste Feruhaltung aller äusseren und inneren Reize
zu sorgen. Dahin gehören namentlich der Verkehr mit den nächsten
Angehörigen, die lebhaften Gefühlsbeziehungen, welche aus dei-
täglichen Umgebung, dem Berufe der Kranken, aus langen Unter-
redungen, Vorhaltungen, ja oft auch aus wohlgemeinten Trostworten
entspringen. Völlig unmöglich ist es, woran man zunächst denken
könnte, den krankhaften Gefühlen und Vorstellungen auf demselben
Wege beizukommen, auf dem man die Verstimmungen und Irr-
thümer der Gesunden bekämpft. Der Deprimirte, den man auf
Bällen und Concerten, auf Reisen oder in lustiger Gesellschaft auf-
zuheitern versucht, wird nur desto schmerzlicher und peinvoller von
allen äusseren Eindrücken berührt; die Bemühungen, aufsteigende
Wahnideen dialektisch zu widerlegen, bleiben ohnmächtig gegenüber
der Gewalt der inneren Vorgänge, aus denen jene letzteren sich
immer von Neuem erzeugen. Versetzung des Kranken in eine
fremde, ihm gleichgültige und darum reizlose, ruhige Umgebung,
in der man ihm Verständniss ohne Neugier, Wohlwollen »hne Auf-
dringlichkeit entgegenbringt, ist daher das erste Erforderniss für die
Besserung seines Zustandes.
Auch im weiteren Verlaufe ist ein entscheidender Einfluss der
psychischen Behandlung auf den Verlauf der Kjankheit meist nicht
erkennbar. Dennoch steht es fest, dass freundlicher, verständiger
Zuspruch das Herz des Aengstlichen und Niedergeschlagenen er-
leichtern, geduldiges gleichmässiges Entgegenkommen den Gereizten
und Erregten beruhigen kann, wenn auch immer nur vorübergehend,
ohne Nachhaltigkeit. Vielleicht sind aber diese fortgesetzten Be-
mühungen nach Ausgleichung der psychischen SchwaiTkungen doch
bis zu einem gewissen Grade geeignet, den natürlichen Heilungs-
vorgang zu unterstütze]!. Wir dürfen das wenigstens schliessen
aus der Erfahrung, dass verkehrte psychische Behandlung, wie sie
bisweilen durch Angehörige, schlechtes Personal oder andere Kranke
geübt wird, ohne jeden Zweifel die Krankheitszustände nachhaltig
verschlimmern kann.
Erst mit dem Beginne einer deutUchen Beruhigung des Kranken
erfährt die Aufgabe der psychischen Behandlung eine gewisse
Aenderung. So lange die Aufmerksamkeit desselben zwangsweise
durch die Störung selbst in Anspruch genommen wird und nur für
Psychische Behiindhing.
219
krankhafte Gefühle und Vorstellungen im Bewusstsein Raum ge-
geben ist, pflegt er für die Vorgänge der Aussenwelt meist Avenig
Sinn zu haben. Trotzdem er, der früher vielleicht keine Stunde
müssig sein konnte, nun Wochen und Monate lang die Hände in
den Schoss legt, oder sich in zwecklosem Bewegungsdrange er-
schöpft, empfindet er doch keine Langeweile, da ihm mit der Fähig-
keit auch der Antrieb zu nützlicher Thätigkeit verloren gegangen
ist. Jeder Versuch, ihn in diesem Zustande wieder den gesunden
Vorstellungen und Bestrebungen zugänglich zu machen, bleibt in
der Regel ergebnisslos und kann sogar durch die Erregung, in die
er den Kranken versetzt, geradezu schädlich wirken. Allmählich in-
dessen tauchen auch die früheren, gesunden Gefühle und Ideen-
kreise wieder hervor, und es gilt daher, ihnen das Interesse des
Kranken mehr und mehr zuzuwenden. Ganz die gleichen Aufgaben
erwachsen der psychischen Behandlung schon von vorn herein bei
den chronisch sich entwickelnden Geistesstörungen. Allerdings ist
es auch hier häufig nöthig, die Kranken erst ein wenig zur Ruhe
kommen zu lassen, da nicht selten allerlei Kämpfe und Beunruhig-
ungen der Entdeckung der Psychose voraufgegangen sind, aber
doch wird es hier immer in erster Linie darauf ankommen, die
Gedanken des Kranken aus ihren abnormen Bahnen abzulenken
und sie für eine gesunde Thätigkeit wiederzugewinnen. Je nach
der Persönlichkeit des Kranken gestalten sich dabei die Hülfsmittel
und die Richtung der therapeutischen Bestrebungen natürlich äusserst
verschieden.
Vor Allem handelt es sich um die Auswahl einer passenden,
wol anregenden, aber nicht anstrengenden Beschäftigung, da sie
am meisten geeignet ist, die Gedanken des Kj-anken von den Zu-
ständen des eigenen Innern abzuziehen und ihm das Interesse für
die Aussenwelt, für die gewohnte Thätigkeit wiederzugewinnen.
Unterhaltende Leetüre, die Lösung leichter geistiger Aufgaben, Spiele
aller Art, Musikübungen, andererseits körperliche Arbeit, die sich
den früheren Beschäftigungen möglichst anpasst. Handwerkerei,
Garten- und Feldarbeit, Leibesübungen, bei Weibern Nähen, Waschen,
Kochen u. dgl. in mannigfachster Abwechselung, dienen in gleicher
Weise der Erfüllung des Behandlungszweckes. Damit können sich
weiterhin Zerstreuungen, Besuche, Spaziergänge, kleine Festlich-
keiten in vortheilhafter Weise verbinden.
220
V. Allgeiiieme Therapie.
Weit weniger Erfolg kann man sich von dem Versuche ver-
sprechen, durch directe psychische Einwirkung das Zurück-
treten der krankhaften Störungen zu beschleunigen und die gesun-
den Yorgänge zu unterstützen. Durch logische Ueberredungskünste
wird man dabei kaum mehr erreichen, als durch das Leuret'sche
„Intimidations-System", welches jede krankhafte Aeusserung durch
die Douche zu unterdrücken und so die Psychose zu heilen suchte.
Wo die Fähigkeit einer gesunden Kritik durch die Krankheit dau-
ernd oder vorübergehend aufgehoben ist, wird natürlich selbst die
Verweisung auf den Augenschein machtlos, da sie ja eben die Kritik
anruft. Aus diesem Grunde beruhen denn auch die in der Jugend
der Psychiatrie bei Hypochondern bisweilen vorgenommenen Schein-
operationen, um ihnen Thiere u. dergl. aus dem Leibe zu holen,
durchaus auf einer naiven Verkennung des Wesens der Geistes-
störung.
Allein es giebt imnierhin Kranke, denen es ein Bedürfniss und
eine Beruhigung ist, sich immer und immer wieder vom Arzte die
pathologische Natur ihrer Vorstellungen und Gefühle versichern zu
lassen. Da gilt es denn, diesen schwachen Gemüthern den be-
gonnenen Kampf mit der Krankheit zu erleichtern, die Energielosen
durch die Aussicht auf kleine Belohnungen zur Arbeit anzuregen
und durch beruhigende Massregeln den Aufgeregten die Selbst-
beherrschung zu erleichtern. Geduld, liebevolles Eingehen auf die
einzelne Persönlichkeit, Nachgiebigkeit ohne Schwäche auf der einen,
gleichmässige Festigkeit ohne Starrheit auf der anderen Seite geben
hier die leitenden Gesichtspunkte für die ärzthche Thätigkeit ab.
Ein überaus verführerischer Ausblick schien sich in neuester
Zeit der psychischen Therapie des Irreseins durch die staunen-
erregenden Thatsachen der suggestiven Beeinflussung in der Hyp-
nose*) eröffnen zu wollen. Wenn es auf dem angedeuteten Wege
gelingt, über die Wahrnehmungen, die Gedanken, den Willen eines
Menschen nicht nur für den Augenblick, sondern auch für- längere
Zeit und sogar ohne sein Wissen eine fast unumschränkte Herr-
schaft zu erlangen, so muss ein solches Verfahren gerade für den
*) Bernheim, Die Suggestiou und ihre Heilwirtmig, deutsch von Trend.
1888; Hü ekel, Die Eolle der Suggestion bei gewissen Erscheinungen der Hysterie
und des Hypnotismus. 1888; Wetterstrand, Der Hypnotismus und seine An-
wendung in der praktischen Medicin. 1891.
Ps.ychischo Behandlung-.
221
psychischen Arzt, dem die Beseitigung krankhafter Erscheinungen
auf allen jenen Gebieten anheimfällt, von kaum hoch genug zu
schätzendem Werthe sein. Leider hat die praktische Erfalming
chese Erwartung bisher nur in geringem Masse gerechtfertigt. So
leicht es gewöhnhch gehngt, psychisch gesunde Menschen dem Ein-
flüsse der Hypnose zn unterwerfen und sie dabei von allem mög-
lichem Schmerz und Unbehagen zu befreien, so wenig zugänglich er-
weisen sich zumeist Geisteskranke gegen jenes Heilmittel. Die Macht
der Suggestion ist hier, wahrscheinlich wegen der häufigen Auf-
merksamkeitsstörungen und lebhaften Autosuggestionen, offenbar
eine weit geringere, als imter normalen Verhältnissen. Aus diesem
Grunde fällt es nicht nur im Allgemeinen schwerer. Geisteskranke'
zu hypnotisiren, sondern der Einfluss des Arztes wü'd auch fast nie-
mals ein so wirksamer und namentlich nachhaltiger. So ist es z. B.
nicht möghch, in der Hypnose etwa fixirte Wahnideen auszureden,
die wir ja gewissermassen als dauernde Autosuggestionen auffassen
können. Dagegen scheinen Sinnestäuschungen, Appetit- und Schlaf-
störungen immerhin der hypnotischen Therapie bis zu einem ge-
wissen Grade zugänghch zu sein. Ebenso lassen sich beim Alko-
hoüsmus und in der Morphiumabstinenz so manche Beschwerden
überraschend leicht beseitigen; ausserdem jedoch wird in dem Kampfe
gegen die eingewurzelte Neigimg durch das Gebot des einschläfernden
Arztes ein unsichtbarer, aber um so mächtigerer Bundesgenosse ge-
wonnen.
Am nächsten hegt es natürlich, die Suggestion bei jenen
Formen des Irreseins in Anwendung zu bringen, bei welchen er-
fahrungsgemäss psychische Wirkungen ohnedies eine herrschende EoUe
im Krankheitsbilde spielen, bei den hysterischen und neurasthenischen
Psychosen. Ohne Zweifel ist es hier möglich, unter Umständen auf
diese Weise überraschende Erfolge zu erzielen, wie schon die Parade-
fälle der „Heümagnetiseure" lehren; im Ganzen aber scheinen doch
vorzugsweise diejenigen Formen jener Nem^osen Yortheü von der
hypnotischen Behandlung zu ziehen, bei denen die eigenthch psycho-
pathischen Erscheinungen gegenüber den nervösen Beschwerden im
Hmtergi-unde stehen. Zudem sind gerade hier hindernde Auto-
suggestionen sehr häufig, und es besteht immerhin die Gefahr- der
Entwickelung autohypnotischer Zustände, wenn dieselbe auch durch
gi-osses Geschick des Arztes und geeignete Handhabung der Methode
222
V. Allgemeine Therapie.
meiner Ueberzeiigimg nach völlig vermieden werden kann. Der
Anwendung der Suggestion in der Behandlimg der conträren Sexual-
empfindung werden wir späterhin noch zu gedenken haben.
Wenn nach diesen Erwägungen der Wirkungsbereich der Sug-
gestionstherapie bei Geisteskranken heute auch ein weit beschränk-
terer genannt werden muss, als zunächst erwartet werden konnte,
so liegt in dem bisher Erreichten doch die dringende Mahnung für
den Irrenarzt, sich mit der Anwendimg dieses Heilverfahrens auf
das Eingehendste vertraut zu machen, sei es auch nur, um nicht
durch unsachgemässes Yorgehen Schaden anzurichten. Die zweck-
mässigste und anscheinend ungefährlichste der bisher bekannten
Methoden des Hypnotismus ist ohne Zweifel diejenige der Verbal-
suggestion, wie sie von Bernheim und seinen Schülern geübt wird.
Von einer eingehenderen Beschreibung derselben muss hier einst-
weilen unter Hinweis auf die angeführten Werke abgesehen werden,
nicht nur, weil der Gegenstand selbst noch zu neu und unfertig
ist, sondern namentlich deswegen, weil das ganze Verfahren nicht
unbedeutende Anforderungen an die persönliche Gewandtheit und
Geistesgegenwart des Arztes stellt und deshalb im Einzelnen nur
durch die Anschauung erlernt werden kann.
D. Behandlung einzelner Symptome.
Ein Kückblick auf die ganze Eeihe der therapeutischen Hülfs-
mittel so verschiedener Art, die dem Irrenarzte zu Gebote stehen,
lässt leicht erkennen, dass die Kichtung seiner Behandlung im
Wesentlichen eine symptomatische ist, wie das ja bei der im-
genügenden Ausbildung unserer ätiologischen Kenntnisse und den
Schwierigkeiten, die Ursachen, selbst wo wii- sie kennen, zu be-
seitigen, kaum anders erwartet werden darf. Nur in den wenigen
EäUen, in denen als ursächliche Momente Fieber, örtiiche oder all-
gemeine Krankheiten, Vergiftimgen, Neuralgien, Magen- und Darm-
katarrhe, Nierenleiden, Genitalaäectionen, Syphilis u. s. w. gegeben
sind, kann unter Umständen von einer wirklich causalen Behandlung
die Kede sein, auf deren Einzelheiten Avir hier natüi-lich nicht ein-
zugehen haben. Dagegen ist es von Wichtigkeit, noch die Therapie
einzelner, bei verschiedenen Formen des Irreseins wiederkehrender
Symptome einer kurzen Besprechung zu unterziehen, weil derselben
häufig eine ganz ausserordentiiche praktische Bedeutung zukommt.
EeliaiKÜung' finzeluor Syiiiiitonie.
223
Zunächst habeu Avir dabei der psychischen Erregung zu
gedenken, deren nachdrückliche Behandlung namentlich dann noth-
wendig wird, wenn der Affect eine Erschöpfung des Kranken her-
beizuführen droht. Vor Allem wd man hier versuchen, die
dauernde Bettruhe unter fortgesetzter üeberwachung durchzuführen,
vielleicht unter Beihülfe verlängerter lauer Bäder mit oder ohne
Eisbeutel auf dem Kopfe, hydropathischer Eimvickelungen oder auch
medicamentöser Mittel. Handelt es sich um Angstzustände, so
passt vor Allem das Opium und Morphium, besonders wo Paraes-
thesien, Neuralgien und dergl. bestehen. Bromkalium eignet sich
mehr für „nervöse" Eeizbarkeit und Schlaflosigkeit (namentüch bei
Neurasthenie und leichten Melancholien). Bei sehr heruntergekom-
menen Personen sieht man womöglich von einer Arzneiverordnung
•überhaupt ab; höchstens greift man zum Urethan oder noch besser
zum Alkohol. Ist die Erregung hauptsächlich die Folge von äusseren
psychischen Einwirkungen, so hilft oft schon die Versetzung in eine
andere Umgebung, schlimmstenfalls eine vorübergehende Isoliruag;
in leichteren Fällen kommt man vielleicht mit der einfachen Ab-
lenkung der Aufmerksamkeit, ja unter Umständen mit einem scherz-
haften Worte, der Gewährung einer kleinen Vergünstigung über
drohende Ausbrüche hinweg. Sehr wichtig ist es für Arzt und
Pflegepersonal, derartige Kranke genau zu kennen imd ihnen je
nach ihrer Eigenart bald mit Ernst und Energie, bald mit Sanft-
muth und Nachgiebigkeit gegenüberzutreten. Versagen alle anderen
Mittel und muss dennoch dui'chaus Ruhe erzielt werden, so kann
man- zu einem der früher besprochenen Schlafmittel, zum Hyoscin
oder Duboisin seine Zuflucht nehmen.
Für die Behandlung der Schlaflosigkeit wird man regel-
mässig zunächst mit einfach diätetischen Massregeln auszukommen
suchen. Bei chronischen Erkrankungen und kräftiger Constitution
ist ausgiebige körperliche Bewegung im Freien (Holz- und Garten-
arbeit), Gymnastik, Massage am Platze, während bei frischen und
leicht erregbaren Kranken stärkere körperliche Anstrengungen nicht
selten gerade ungünstig auf den Schlaf wirken. Hier wüd man
verlängerte laue Bäder mit gleichzeitiger Abkühlung des Kopfes,
feuchte Eiupackungen, Galvanisation des Kopfes, in geeigneten Fällen
vielleicht hypnotische Beeinflussung ins Feld führen können. Mit-
unter ist auch schon durch Einführung einer Nachmittagsruhe, Sorge
224
V. Allf^emeine Therapie.
für leiclit verdauliches, frühzeitiges Abendessen, Vermeidung des
Lesens am Abend, Beseitigung von Thee und Kaffee, abendliclie
Darmentleerung, rechtzeitiges Schlafengehen, ausgiebiges Lüften des
Sclilafzimmers und dergl. viel zu erreichen. Muss man zu Arzneien
greifen, so versuche man zuerst den Alkohol, dann die Bromsalze
in mittleren Dosen; nur im Nothfalle soll zu den Schlafmitteln, resp.
bei grosser Angst oder lebhaften Schmerzen zu den Narkoticis über-
gegangen werden, da es, besonders in chronischen Zuständen, oft
recht schwierig ist, die längere Zeit mit solchen Mitteln behandelten
Kranken wieder an den natürlichen Schlaf zu gewöhnen.
Sehr sorgfältige therapeutische Beachtung erheischt die Neigung
zum Selbstmorde, die so häufig mit Angstzuständen, besonders bei
gleichzeitiger Bewusstseinstrübung, aber auch mit ganz einfachen
Melancholien ohne auffallendere Störung der Besonnenheit sich ver-
knüpft. Diese Fälle sind es, welche die höchsten Anforderungen an
die Wachsamkeit und Umsicht des Anstaltspersonales stellen. Die
Gelegenheiten, welche dem bisweilen mit voller Berechnimg han-
delnden Kranken zur Ausführung seines selbstmörderischen Planes
dienen können, sind so überaus zahlreich und mannigfaltig, dass nur
eine gereifte und mit allen Möglichkeiten vertraute Erfahrung die
Aussicht hat, mit Erfolg dem krankhaften Streben entgegenzuarbeiten.
Jeder Nagel, jede Glasscherbe, jedes Stück Blech kann zum tödt-
lichen Werkzeuge in der Hand des verzweifelten Kranken werden;
jeder unbewachte Augenblick kann eine Sti^angulation oder die
schwersten Verstümmelungen, Herausreissen der Augen, der Zunge,
der Hoden zu Stande kommen lassen, ja ich habe das Abbeissen
der Zunge und ferner Bruch der Halswirbelsäule in Folge eines
mächtigen Stesses mit dem Kopfe gegen die Wand m Gegenwart
des Pflegepersonales erlebt. Glücklicherweise süid derartige Vorkomiu-
nisse nicht häufig, ja es scheint, dass durch die Anstalt 90 "/o der
sonst wahrscheinhchen Selbstmorde, und sogar noch mehr, verhütet
werden, aber es ist wünschensAverth, sich der Unglücksfälle zu er-
innern, damit sie auch nicht häufiger werden.
Der Neigung zum Zerstören begegnet man, wo eine Ab-
lenkung durch angemessene Beschäftigung nicht möghch ist, einfach
durch möglichst widerstandsfähige Ausführung aller beweghchen und
unbeweghchen Gegenstände, welche dem Kranken zugänghch sind.
Die Technik hat in dieser Richtung viele zweckmässige Einrichtungen
Beliaudlung einzelaer Symijtome.
225
geschaffen (Fensterscheiben aus ganz dickem Glase, feststehende, un-
zerstörbare Möbel, Geschirre aus Leder, Hartguninii, Pappe u. dgl),
die hier nicht einzeln besprochen werden können. Freilich lehrt die
Erfahrung, dass es bei alten Anstaltsbewohnern einen einigermassen
zureichenden Schutz gegen das Zerstören nicht giebt; jeder ab-
gebrochene Löffelstiel, jedes aufgelesene Drahtstückchen, ja jeder im
Munde oder in anderen Verstecken aus dem Garten eingeschleppte
Kieselstein wird in ihren Händen zum vielseitigen Werkzeuge, mit
Hülfe dessen binnen unglaublich kurzer Zeit Löcher in die cemen-
tirten Wände gegraben, die festesten Schrauben gelockert, dicke
Scheiben zerspHttert und tiefe Rinnen in die Balken des Fussbodens
gemeisselt werden. Hier hüft nur die Vorbeugung, welche durch
rechtzeitige, dauernde Ueberwachung und Bettruhe jede längere
Isolirung vermeidet und die Ausbildung derartiger Zerstörungs-
künstler nach MögLichkeit verhindert. Gegen das Zerreissen schützt
einigermassen, aber nicht vollständig, die Anwendung von Anzügen,
Decken und Matratzen aus starkem Segeltuch; die Entkleidung
wird durch schrauben- oder schlossartige Verschlüsse der Kleidungs-
stücke und Schuhe verhindert, welche nur mit besonderen Schlüsseln
geöflöiet werden können. Bei sehr starker Zerstörungssucht und
grosser Körperkraft giebt es in vereinzelten Fällen vorübergehend
kein anderes Auskunftsmittel, als den Ejranken entkleidet mit einer
reichlichen Menge Stroh, Seegras u. dergl. in einem warmen Isolir-
zimmer frei schalten zu lassen; bei weiblichen Patienten wird man
selbstverständlich nur im äussersten NothfaUe zu dieser Massregel
greifen.
Eine höchst lästige Begleiterscheinung der psychischen Erregung
ist bisweilen die IJnreinlichkeit und namentlich das Herum-
schmieren mit den Ausleerungen, weü daraus grosse hygienische
Missstände hervorgehen. Wo es ü-gend angeht, wird man natürlich
auch hier die dauernde Ueberwachung durchzuführen suchen, welche
es ermöglicht, den Kranken recht häufig zur Befriedigung seiner
Bedürfnisse anzuhalten, andererseits aber sofort einzugreifen, sobald
trotzdem eine Verunreinigung geschehen ist. Weiterhin sind reich-
liches Baden und sorgfältigste Reinigung der Zimmer mit desinfi-
cirenden Mitteln die hauptsächlich zu erfüllenden Aufgaben. Ein
aufmerksames Wartpersonal kann hier sehr viel leisten. In schwie-
rigen Fällen lässt sich durch passende Auswahl der Diät (möglichst
Kraepolin, Psychiatrie. 4. Anfl. 15
226
V. Allgemeine Therapie.
wenig Koth gebende Nahrungsmittel, besonders keine Pflanzenkost)
und regelmässige entleerende Kly stiere noch etwas ausrichten.
Besondere Mühe hat man sich vielfach gegeben, die Mastur-
bation zu bekcämpfen. Oft verschwindet dieselbe mit der Abnahme
der psychischen Erreg-ung von selbst; in anderen chronischen Fällen
bleibt meist jede Behandlung erfolglos. Nicht ohne Werth ist die
Anwendung des Bromkalium, weil es die Reflexerregbarkeit herab-
setzt; wichtiger bleibt indessen die diätetische Behandlung, Sorge
für ruhigen Schlaf, Yermeidung müssiger Bettruhe, Regelung der
Darmentleerung, ausgiebige Bewegung im Freien bis zur Ermüdung,
ferner kalte Waschungen, besonders Sitzbäder, nach Umständen Gal-
vanisation des Rückenmarks und endlich eine aufmerksame, ge-
duldige Pädagogik.
Zum Schlüsse haben wir noch eines praktisch äusserst wich-
tigen Symptomes zu gedenken, dessen Behandlung nicht selten recht
grosse Schwierigkeiten verursacht, der Nahrungsverweigerung
(Sitophobie). In erster Linie wird man hier nach körperlichen Ur-
sachen zu suchen haben, namentlich Magen- oder Mundkatarrhen
oder Darmträgheit, die man durch geeignete Massregeln, Auswahl
der Speisen, Ausspülen des Magens, Mundes oder Darmes, unter
Umständen auch durch Arzneimittel zu bekämpfen hat. Nicht viel
Erfolg habe ich von dem anscheinend auch nicht ganz ungefähr-
lichen Orexin gesehen , welches zur Anregung des Appetites em-
pfohlen worden ist.
Am häufigsten hat die Nahrungsverweigerung ihren Grund in
mannigfachen Wahnideen, Vergütungsfurcht, Glauben, nicht bezahlen
zu können, das Essen nicht werth zu sein, Wunsch zu verhungern
u. s. f. Der beste Bundesgenosse ist hier immer der Hunger, der
bisweilen nach einigen Tagen der Nahrungsverweigerung sein Recht
so stark geltend macht, dass der Kranke dann mit wahrer Gier über
die vorgesetzten Speisen herfällt. Derselbe wirkt am verführerischsten,
wenn man sich um den Kranken scheinbar gar nicht kümmert, ihn
mit dem Essen allein lässt und von seiner Nahrungsverweigerung
möglichst wenig Notiz nimmt. Yieles Zureden oder gai' Versuche,
die Nahrung einzugeben, pflegen bisweilen den passiven Widerstand
rasch sehr erheblich zu verstärken. In anderen Fällen ist es mehr
eine gewisse Energielosigkeit, die den Kranken hindert, die wahn-
haften Gegenvorstellungen zu überwinden; er isst, sobald man ihm
Behandlung einzelner Symptome.
227
den Löffel an den Mund führt. Anwendung von Gewalt dabei ist
hier, wie dort, regelmässig vom Uebel. Bisweilen wechselt anch
der Zustand sehr rasch, und derselbe Kranke, der jetzt anf keine
Weise zum Essen zu bringen war, nimmt vielleicht nach einer
Viertelstunde freiwillig seine N"ahrung zu sich, um kurze Zeit dar-
auf wieder allen Yersuchungen eigensinnig zu widerstehen. TJn-
ermüdliche Geduld und genaue Ausnutzung aller kleinen Vortheile
(z. B. Anregimg der Nachahmung und des Appetits durch Mitessen),
sowie möglichst sorgfcältige Auswahl und Abwechselung der Speisen
helfen meist über die aufgezählten Schwierigkeiten hinweg.
Allein es giebt Fälle, in denen alle Bemühungen des Arztes
nach dieser Kichtung hin fehlschlagen und in denen schliesslich
um der drohenden Gefahr der Erschöpfung und des Hungertodes zu'
begegnen, zur künstlichen, zwangsmässigen Einbringung der
Nahrung, geschritten werden muss. Der Zeitpunkt, an welchem
man zu chesem Auskimftsmittel greift, wird am besten durch die
Körperwage bestimmt, weil sie den zuverlässigsten Anhaltspunkt für
che Beurtheikmg des Ernährungsstandes liefert. Am schliiumsten
sind diejenigen Fälle, in denen die Kranken von langer Hand an-
fangen, immer weniger und weniger zu essen, um allmählich ganz
aufzuhören; hier ist rasches Einschreiten dringend geboten, weü
sonst leicht ein unaufhaltsamer Collaps erfolgt. Je nach dem Zu-
stande des Patienten wird man spätestens 2—3 Tage nach Beginn
der völligen Abstinenz, bisweilen auch schon noch früher, mit der
künstlichen Fütterung vorzugehen haben. Bei plötzlich auftretender
Nahrungsverweigerung und bei kräftigem Körper kann man ruhig
6—8 Tage zuwarten, wo häufig der grimmige Hunger, der aller-
dings bei längerem Fasten schliesslich ausbleibt, derselben ohnedies
ein Ende macht. Ist die Nahrungsverweigerung keine vollständige,
geniesst der Kranke wenigstens noch Wasser, so hat man unter
steter Berücksichtigung seines Ernährungszustandes selbst 10—12
Tage ohne Gefahr Zeit, bevor Zwangsmassregeln nöthig sind.
Die Methode der künstlichen Fütterung selbst besteht in der
Einführung einer Sonde in den Magen, durch Avelche mittels eines
einfachen Trichters lauwarme, passend zusammengesetzte, nährende
Flüssigkeiten in denselben befördert werden. Die Einführung ge-
schieht durch den Mund oder durch die Nase. Das erstere Ver-
fahren zwingt bei starkem Widerstande des Kranken zu gewaltsamer
15*
228.
V. Allgemeine Therapie.
Eröffnung und Otfenhaltung der Zahnreihe durch keilartige Insü'u-
raente (Heist er'sche Mundsperre), die sogar zu Verletzungen führen
kann; letzteres Vorgehen macht den Arzt vom Widerstande des
Ki-anken wesentlich unabhängig, misslingt aber leichter. Bei jeder
Fütterung muss der Kranke durch sichere Hände zuverlässig fest-
gehalten werden, um unvermuthete störende Bewegungen zu ver-
hindern; die Einführung der aus weichem, biegsamem Stoffe be-
stehenden Sonde (Jacques Patent oder dickwandiger Gummischlauch)
geschieht langsam und ohne die mindeste Gewalt. In der Eegel
gleitet dieselbe dabei mit Hülfe einer reflectorisch ausgelösten Schliick-
bewegung glatt in die Speiseröhre hinein; bei sehr widerstrebenden
Eianken kann es indessen vorkommen, dass sie von ihrer Bahn
nach vorn zu abgelenkt wird und sich im Mvmde zusammenknäuelt.
Hier muss man geduldig' wiederholt von Neuem versuchen, zum
Ziele zu kommen; im Nothfalle bleibt dann immer noch der Weg
durcli den Mund unter der sicheren Führung des Fingers.
Yon grosser Wichtigkeit ist es, sich davon zu überzeugen, dass
die Sonde den richtigen Weg genommen hat und nicht in den
Kehlkopf gelaugt ist. Bei gelähmten und sehr unempfindlichen
Kranken können nämlich die sonst das Eindringen eines Fremd-
körpers in die Luftwege begleitenden Erscheinungen der höchsten
Athemnoth und der stürmischen .Reflexbewegungen gänzlich fehleu;
die Sonde gleitet ohne Störung bis an die Gabelung der Trachea,
wo sie auf Widerstand stösst. Die Athmung geschieht dann durch
das Lumen der Sonde, doch können bei Luftansammlung im Magen
auch Exspirationsgeräusche entstehen, wenn das Rohr glückUch in
diesen letzteren gelangt ist. Das unfehlbare Mittel, sich über die
Lage der Sonde zu vergewissern, ist die Auscultation des Ma-
gens beim Einblasen von Luft.
Als Nahrungsflüssigkeit wählt man zweckmässig Milch oder
Fleischbrühe mit gequirlten rohen Eiern, Zucker und Butter, nach
Umständen Zusätze von Wein, Cacao, Fleischpepton , Fleischsaft
und dergl.; auch Arzneien können natürlich auf diese Weise mit-
eingeführt werden. Das Zurückziehen der Sonde geschieht anfangs
langsam, in der Gegend des Kehlkopfeinganges schnell; zugleich
wird die obere Oeffnung des Rohres verschlossen gehalten, damit
nicht unten anhängende Tropfen bei dieser Gelegenheit in die Luft-
röhre gelangen.
Behandlung einzelner Symptome.
229
Die künstliche Ernährung- wird täglich Avenigstens zwei Mal
Torgenommen, am besten Mittags und Abends; jedesmal führt man
anfänglich vielleicht etwas weniger, später aber ungefähr einen Liter
Flüssigkeit ein, der man einen möglichst hohen Nährwerth zu geben
bemüht sein muss. Es gelingt auf diese "Weise, nahrungverweigernde
Kranke "Wochen, Monate, selbst Jahre lang am Leben zu erhalten,
wenn auch natürlich damit nur ein unvollkommener Nothbehelf für
die freiwillige Nahrungsaufnahme gewonnen ist. Man wird daher
nebenbei immer fortfahren, auf alle "Weise die Beseitigung der Sito-
phobie anzustreben.
Eine sehr unangenehme Begleiterscheinung der Fütterung ist
das bisweilen auftretende Erbrechen. Schleunige Entfernung der
Sonde ist hier wegen der Gefahr des Erstickens durch die herauf-
gewürgte Nährflüssigkeit durchaus nothwendig. Durch häufigere
"Wiederholung des Verfahrens, im Nothfalle durch Abstumpfung der
Eachenempfindlichkeit mit Hülfe von Narkoticis {Bromkalium, Be-
pinseln mit Cocain- oder Morphiumlösung), Yoranschicken von Eis-
wasser und Cognac, kann man diese Schwierigkeit meist über-
winden. Man begegnet indessen, allerdings glücklicherweise selten,
sitophobischen Kranken, die willkürlich erbrechen können und so
jede Fütterung unmöglich machen. Da bei ihnen begreiflicher "Weise
auch die Ernährung durch Klystiere, an die man etwa denken
könnte, trotz aller Schutzmittel (hohes Einführen der Sonde, "Watte-
tampons) ungenügend bleibt, so wird die Behandlung solchen Kranken
gegenüber bisher thatsächlich machtlos: sie verhungern.
La neuester Zeit ist die Eeihe unserer Kampfmittel gegen die
Nahrungsverweigerung noch dui'ch die Einführung der subcutanen
Kochsalzinfusion bereichert worden.*) Zimächst ist natürlich dieses
aus der chirurgischen Klinik herübergenommene Verfahren ge-
eignet, bei erschöpften Kranken den drohenden Kräfteverfall auf-
zuhalten. Es erscheint darum überall dort angebracht, wo die Zu-
fuhr anregender Nahrungs- und Arzneimittel aus körperlichen
Gründen (schwere Mund- oder Magenleiden) unmöglich ist oder
eine sehr rasche und ergiebige Füllung des Gefässsystems noth-
wendig erscheint. "Weiterhin aber hat sich herausgestellt, dass im
Gefolge der Kochsalziofusion mit der regelmässigen Besserung des
*) Ilberg, Ällgem. Zeitschr. f. Psychiatrie XLVIII, p. 620.
230
V. Allgemeine Therapie.
Allgemeinbefindens ein erhöhtes Hunger- und Dui'Stgefühl auf-
zutreten pflegt, Avelches die Kranken zu freiwilliger Nahrungs-
aufnahme veranlasst, namentlich dann, wenn die Verweigerung
nicht dui'ch klar verarbeitete Wahnideen, sondern nur durch Ver-
wirrtheit und Unruhe bedingt war. Die Methode ist die gewöhn-
liche; 5—700 gr 0,750/oiger, auf 37— 39o C. erwärmter, sterilisirter
Kochsalzlösung lässt man unter geringem Druck mittels Hohlnadel
oder Troikart in die subcutanen Lymphräume einfüessen. Meist
sind zwei Einstiche (Brust, Kücken, Oberschenkel) erforderlich; die
Geschwulst wird durch vorsichtiges Massiren vertheilt. Das Ver-
fahren kann mehrfach , vdederholt werden.
E. Die Irrenanstalt.
Die Gesammtheit aller körperlichen und psyclüschen Heilmittel
fijidet sich zu einheitlichem Zusammenwirken vereinigt in dem Or-
ganismus der Irrenanstalt. Die Irrenanstalt in ihrer heutigen
Einrichtung ist eine Errungenschaft unseres Zeitalters.*) In früheren
Jahrhunderten Hess man harmlose lu-anke einfach herumlaufen und
begnügte sich damit, nur die gefährlichen Irren in Gewahrsam zu
nehmen; sie wurden dann in Höstern, häufiger in Gefängnissen
und Zuchthäusern, zusammen mit allem möglichen Gesindel unter-
gebracht, oder aber auch in eigenen, menagerieartigen „Narren-
thiü-men" eingesperrt, welche meist in der Stadtmauer lagen und an
gewissen Tagen vom Publicum zur Belustigung besucht wm-den.
So mancher Kranker endlich fiel wol auch den Hexenprocessen
zum Opfer und wurde auf die grausamste Weise zu Tode gemartert
oder verbrannt.**)
Leider besserte die Ueberwindung dieses finsteren Aberglaubens
mehr als ein Jahrhundert lang in dem Loose der unglücklichen Geistes-
kranken nur wenig. Da man die psychischen Störungen im Allgemeinen
für unheilbar hielt, so waren die Irren nichts, als eine Last, deren
man sich auf möghchst einfache Weise zu entledigen suchte. So
wurden sie denn in schmutzigen, licht- und luftlosen Verliessen
zusammengepfercht, an Ketten geschlossen, hungernd und ohne
*) Kirchhoff, Grundriss einer GescMchte der deutschen Irrenpflege. 1890.
**) Snell, Hexeaprocesse und Geistesstörung. 1891.
Die Irrenanstalt.
231
Kleidung der Willkiir und der Peitsche roher "Wärter (vielfach ent-
lassene Verbrecher!) schutzlos preisgegeben, bis der Tod, barm-
herziger als die Mitwelt, sie von ihren Leiden erlöste. Selbst ]nach-
deni gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts in England die erste
eigentliche Irrenanstalt zur Behandlung von Geisteskranken ein-
gerichtet worden war, fand dieses Beispiel nur langsame Nach-
ahmung. JSToch um die "Wende des Jahrhunderts, als Pinel in
Paris das Schicksal der verwahrlosten Greisteskranken ?zu lindern
bemüht war, herrschten fast überall, auf dem Continent wie in Eng-
land, in den JSTarrenhäusern die entsetzlichsten Zustände. Ja, noch
1817 sah sich Hayner, der ehrwürdige Vorkämpfer für die humane
Behandlung der Irren in Deutschland, veranlasst, auf das Feier-
lichste gegen die Ketten, die Zwangsstühle, die körperlichen Züchtig-
ungen öffentlich zu protestiren.*)
Nach und nach jedoch kam die Erkenntniss von der Noth-
wendigkeit einer völligen Neugestaltung der Irrenfürsorge auf ärzt-
licher Grundlage mit immer wachsender Gewalt zum Durchbruch,
und es trat daher in den ersten Decennien dieses Jahrhunderts in
den meisten civilisii^ten Ländern an SteUe der einfachen Auf-
bewahrung die Errichtung wirklicher Heilanstalten, welche endlich
auch den unglücklichen Irren die Wohlthaten einer ärztlichen,
auf die Beseitigung ihres Leidens gerichteten [Behandlung
zu vermitteln bestimmt waren.
Auch jetzt aber noch krankte die praktische Irrenfürsorge an
der UnvoUkommenheit der wissenschaftlichen Erkenntniss von dem
"Wesen der Geistesstörungen. Hauptsächlich der Einfluss gewisser
speculativ- psychologischer Auffassungen des Irreseins führte zur
Ausbildung eines Behandlungssystems, in welchem eine Keihe aus-
gesuchter Marterwerkzeuge, der Sack, die Drehschaukel, das Tret-
rad, die Douchen u. s. w. die Hauptrolle spielten. Die Kranken
wurden in der verschiedensten Weise gemisshandelt und gequält,
aber nicht mehr aus Kohheit, sondern in der wohlgemeintesten Ab-
sicht ärztlicher Beeinflussung.
Glücklicherweise ist diese Verirrung verhältnissmässig rasch
überwunden worden, und die Behandlungswerkzeuge wanderten
*) AiifForderung an Eegierungen, Obrigkeiten und Vorsteher der In-enliäuser
AbsteUung einiger schweren Gebrechen in der Behandlung der Irren. 1817.
232
V. Allgemeine Therapie.
bald in die Eumpelkammern ; dagegen erschien die Anwendung ein-
facher mechanischer Beschränkung zum Schutze gegen erregte
Kranke oder auch zu ihrer psychischen Beeinflussung noch Jahr-
zehnte hindurch als selbstverständliche Massregel. Lange und schwere
Kämpfe hat es gekostet, bis allmählich Conolly's kühne Neuerung
mit ihren weitreichenden Folgen für die gesammte Gestaltung der
Irrenanstalten überall als selbstverständliche Forderung betrachtet
wurde.
"Wir dürfen es aber mit Stolz aussprechen, dass die Widerstände
gegen den Fortschritt weit weniger bei den Irrenärzten gelegen
haben, als in den äusseren Verhältnissen, in der Yerständnisslosig-
keit und Gleichgültigkeit der Massen, iu dem Mangel an verfüg-
baren HiHfsmitteln. Jahrhunderte lang haben Regierungen und Volk
dem Elende der Geisteskranken theilnahmlos zugesehen, und erst,
seitdem es Irrenärzte giebt, ist endlich die Bewegung in Fluss ge-
kommen, welche uns auf die heutige Höhe geführt hat. Dieselben
Irrenärzte, die man jetzt in merkwürdig anachronistischer Anwand-
lung gewissermassen als die geborenen Feinde der Ejranken und
Gesunden zu brandmarken beliebt, sind es gewesen, welche in müh-
seliger, aufopferungsreicher Berufsarbeit ihren Pflegebefohlenen die
Ketten gelöst haben, in welche sie Eohheit und Unkenntniss so
lange geschmiedet hatte.
Die heutige Irrenanstalt ist ein Krankenhaus, wie jedes andere,
mit dem einzigen, durch den Zustand ihrer, Bewohner geforderten
Unterschiede, dass Eintritt, Behandlungsart und Austritt nicht vom
Belieben des Kranken, sondern unter gewissen Einschränkungen vom
ürtheile des sachverständigen Arztes abhängen. Jede Einrichtung
der Anstalt dient daher in erster Linie dem Heilzwecke, dessen Er-
reichung mit allen durch Wissenschaft und Erfahrung gelieferten
Hülfsmitteln erstrebt wird. Diese Aufgabe sucht die Anstalt zu
lösen, indem sie zunächst den Kranken mit einem Schlage der
Einwirkung jener täglichen Eeize entzieht, wie sie nur all-
zu oft in seinem Berufsleben, in der Sorge für die Existenz, in der
verfehlten und verständnisslosen Behandlung Seitens der An-
gehörigen und Freunde, ja in dem Spotte und den Neckereien einer
rohen Umgebung auf ihn einstürmen. Er findet sich wieder in einem
geordneten, vom Geiste der Menschenliebe und des Wohlwollens
durchdrungenen Hauswesen, in dem ihn theilnehmendes Verständuiss
Die Irrenanstalt.
233
für seinen Znstand, liebevolle Filrsorge für seine Bedürfnisse und
Yor allen Dingen Kuhe erwartet. Sehr häufig ist daher auch eine
sofortige Beruhigung der rasche Erfolg seiner Versetzung in die
Anstalt.
Leider verhindern anch heute die immer noch im Publicum
und selbst bei Aerzten bestehenden Yorurtheile gegen die Anstalt
vielfach die rechtzeitige Durchführung dieser segensreichen Mass-
regel. Es erscheint kaum glaublich, wenn trotz der jetzigen Ent-
wickelung unseres Irrenwesens in weiten Kreisen die ebenso un-
sinnige wie verhängnissvolJe Yorstellung fortlebt, dass ein Kranker
erst „reif" für die Irrenanstalt werden müsse, dass sein Zustand sich
bei vorzeitiger Aufnahme verschlechtern, dass ihn die Erkemitniss
in der Anstalt zu sein, das Zusammensein mit anderen Kranken
rasend machen werde. Damit verbindet sich dann weiter die aller
Erfahrung Hohn sprechende Meinung, dass ein Gesunder, der etwa
versehentlich in eine Anstalt eingesperrt werde, mm in Folge der
schrecklichen Eindrücke sehr bald in Geisteskrankheit verfallen
müsse u. s. f. Yen Paranoikern ohne Ki-ankheitseinsicht hören wir
diese Ueberlegungen aUe Tage vorbringen; sie sind nur der Wider-
hall jener verderblichen Bestrebungen, welche das glücklicherweise
schwindende Missti-auen gegen die Irrenanstalten durch kritiklose
Schauergeschichten von Neuem aufzuregen suchen. Indem sie da-
hin drängen, die Aufnahme in die Anstalten durch weitläufige Förm-
lichkeiten, ja durch Anstrengung eines eigenen „Irrenprocesses" mit
Instanzenzug nach Möglichkeit zu erschweren, betrügen sie Tausende
hülfsbedürftiger Kranker um die Wohlthat rechtzeitiger Behandlung,
ja um die Möglichkeit der Genesung. Denn das hat die Erfahrung
auf das Unzweifelhafteste erwiesen, dass die Prognose der Geistes-
störungen sich um so günstiger gestaltet, je früher die Yerbringung
in eine geeignete Anstalt stattfindet.
Nur bei ganz leichten Formen psychischer Yerstimmung, bei harm-
losen Yerrückten, chronischen Schwächezuständen und dergl., und wenn
die häuslichen Yerhältnisse eine sehr guteUeberwachung und Pflege ge-
statten, ist es gerathen, von der Anstaltsbehandlung abzusehen. In allen
schwereren, namentlich acuten Erkrankungen jedoch, und ganz unbe-
dingt dann, wenn in der Umgebung des Kranken selbst Schädlichkeiten
gelegen sind, oder wenn sich Selbstmordideen, Nahrungsverweigerung,
stärkere Aufregung, Unreinlichkeit, Neig-ung zu Gewaltthätigkeiten
234
V. Allgemeine Therapie.
einstellen, ist die schleuaigste Versetzung aus der Familie in die
Irrenanstalt geboten. Grewarnt muss namentlich werden vor den
vielfachen unverständigen Versuchen, die herannahende Psychose
durch „Zerstreuungen", anstrengende Reisen, Entziehungs- und Kalt-
wassercuren abschneiden zu wollen, bevor man sich zu dem einzig
richtigen, lange verworfenen Scbritte der Verbringung in das Asyl
entschliesst. Die beste Zeit zum erfolgreichen ärztlichen Handeln
ist dadurch verloren gegangen, die krankhafte Reizbarkeit zu immer
grösserer Höhe und vielleicht zur völligen, unheilbaren Erschöpfung
gesteigert worden, sodass der Kranke nach allen den missglückten
Versuchen schliesslich schon als geistige Ruine in die Hände des
Irrenarztes gelangt. Trotzdem der Schwerpunkt der Behandlung
Geisteskranker in der Irrenanstalt gelegen ist, bleibt es daher eine
überaus wichtige Aufgabe des Hausarztes, rechtzeitig die Entwickel-
ung der Störung zu erkennen und ohne viel Zeitverlust mit nutz-
losem und häufig schädlichem Herumprobiren die Versetzung des
Kranken in die für ihn geeignete Umgebung zu veranlassen. Von
besonderem Werthe wird es dabei sein, wenn er durch eine sach-
verständige Krankengeschichte dem Anstaltsarzte Aufschlüsse über
den Beginn und bisherigen Verlauf des Leidens zu geben vermag,
da ja die Aussagen des Kranken und selbst der Angehörigen über
diesen Punkt nicht selten recht wenig zuverlässig sind.
lieber die Förmlichkeiten, unter denen die Verbringung des
Kranken in die Anstalt zu geschehen hat, bestehen in den einzelnen
Ländern verschiedenartige Bestimmungen. Regelmässig wird dabei
die Einwilligung der nächsten Angehörigen oder die Einweisung
durch eine Behörde verlangt, ausserdem ein oder mehrere äi'ztliche
oder amtsärztliche Zeugnisse über das Vorhandensein einer Geistes-
störung und die Nothwencügkeit der Anstaltsbehandlung. Vielfach
besteht dabei der Grundsatz, dass in Nothfällen die Aufnahme des
Kra.nkeu durch das Fehlen eines oder des anderen schriftlichen
Nachweises nicht verzögert werden soll, sondern der Anstaltsarzt
nach Befinden das Recht hat, den Kranken provisorisch, gegen
Nachlieferung der Papiere, aufzunehmen. Im Grossen und Ganzen
geht das Bestreben aller Einsichtigen dahin, die Aufnahmeförmlich-
keiten in allen unzweifelhaften FäUen geistiger Störung nach Mög-
lichkeit zu erleichtern. Ich habe sogar Gelegenheit gehabt, 6 Jahre
hindurch alle meine Kranken oliue irgendwelche Papiere aufzu-
Die Irrenanstalt.
235
nehmen, und ich habe keine nennenswerthen Unzuti-äglichkeiten
dai-aus erwachsen sehen. Freilich ist die Verantwortlichkeit für den
L-renai-zt selbst unter diesen Umständen eine viel grössere, als
wenn er sich überall auf gesetzliche Vorschriften berufea kann, aber
er ist als Sachverständigster auch am meisten dazu befähigt, sie zu
tragen, und die Ki-anken befinden sich dabei ohne Zweifel am
wohlsten. Trotzdem ist natürlich in allen schwierigeren Fällen die
vorherige Erledigung aller Förmlichkeiten gerade dem Anstaltsarzte
dringend erwünscht, damit wenigstens ein Theil der Last auf fremden
SchLÜtern ruht, die ihm aus dem unerquicklichen und undankbaren
Festhalten widerstrebender, besonnener Kranker in der Anstalt
regelmässig zu erwachsen pflegt.
Für die Behandlung des weiteren Verlaufes der psychischen
Störung besitzt die Anstalt alle Hülfsmittel, welche irgendwie auf
eine günstige Entwicklung desselben hinzuwirken im Stande sind.
Dahin gehört ausser den in ihrem Fache besonders ausgebildeten
Aerzten ein wohlgeschultes, auf den Umgang mit Geisteskranken
eingeübtes, gut disciplinii-tes Pflegepersonal, eine grössere Zahl
verschieden ausgestatteter Abtheilungen für die einzelnen Gruppen
der Kranken (Unruhige, Halbruhige, Ruhige, Gebrechliche, Ueber-
wachungsbedüi-ftige u. s. f.), sowie die allgemeinen Einrichtungen
sonstiger Krankenhäuser.
Im Uebrigen drängt die Verschiedenartigkeit der Aufgaben,
welche die Irrenanstalt je nach der Eigenart ihrer Bewohner zu er-
füllen hat, mit Nothwendigkeit auf eine Arbeitstheilung hin, auf eine
verschiedene Gestaltung der Anstalten nach ihren besonderen Zwecken.
Freilich ist die früher meist aufrecht erhaltene Trennung, derselben
in Heil- und Pflegeanstalten als unzweckmässig und undurchführbar
fast überall verlassen worden. Anstatt dessen beginnt sick immer
mehr die Scheidung zwischen kleineren, leicht erreichbaren, für acute
Fälle, vorläufige Unterbringung und eventuell auch den Unterricht
geeigneten Stadtasylen und den grösseren, auf längere Pflege oder
dauernde Versorgung eingerichteten, mehr isolirt gelegenen Irren-
anstalten herauszustellen. Den Stadtasylen fällt dabei die Aufgabe
zu, aus dem ganzen fortwährend zufliessenden Ejt-ankenmateriale die
für die Anstalten passenden Fälle auszuwählen und sie denselben
zu überweisen.
Den wichtigsten Theil jedes Stadtasyls bildet die "Wachab-
236
V. Allgemeine Therapie.
theilung, in welcher alle Kranken untergebracht werden, die aus
irgend einem Grunde (Selbstmordneigung, Nahrungsverweigerung,
TJnreinlichkeit, körperliche Erkrankung) Tag und Nacht der unaus-
gesetzten Beobachtung bedürfen. Hierher werden auch die frisch
eintretenden, sowie jene unruhigen Kranken versetzt, bei denen die
Bettbehandlung durchführbar ist. Bei der Yerschiedenartigkeit dieser
Elemente besteht die Wachabtheilung am zweckmässigsten aus einer
Keihe grösserer und kleinerer, in freier "Verbindung stehender und
leicht übersehbarer Säle. Dazu gehören weiter noch 1 oder 2 von
der Abtheilung aus überblickbare Isolirziramer für besonders schwierige
Kranke. Die Wachabtheilung hat in einem Stadtasyle nach meiner
Erfahrung etwa ein Drittel bis die Hälfte aller Kranken aufzunehmen.
Unter dieser Yoraussetzung kann die Abtheilung für Unruhige sehr
klein, die Zahl der Isolirzimmer recht gering sein, und die ganze
Anstalt nähert sich dann in allen wesentlichen Zügen einem beliebigen
anderen Krankenhause. Dem gegenüber tritt in den grossen In-en-
anstalten die Sorge für die Beschäftigung und Unterhaltung der zu-
meist ruhigen und arbeitsfähigen Kranken in den Yordergrund. Frei-
lich wird auch hier eine Wachabtheilung nothwendig, aber sie
kann verhältnissmässig viel kleiner sein. Dafür nehmen die Abtheü-
ungen den Charakter grosser gemeinschaftlicher Wohnhäuser an: wh-
finden Spiel- und Gesellschaftsräume, Bibliothek, Werkstätten aller
Art, grosse Gärten, Yiehwirthschaft, Ländereien.
Einen überaus bedeutsamen Fortschritt hat die Ausbildung der
grossen Anstalten in der neueren Zeit erfahren durch die Entwickelung
der sog. Colonien, in welchen man, soweit wie irgend möglich, die
Kranken zu einer freien Beschäftigung mit ländlichen Arbeiten heran-
zuziehen sucht. In diesem besten und verhältnissmässig billigsten Yer-
pflegurgssysteme dürfte die ganze Frage der Irrenfürsorge auf lange
Zeit hinaus ihre endgültige Lösung gefunden haben. Den ersten von
Köppe in grösserem Massstabe durchgeführten, überraschend
günstig ausgefallenen und bereits vielfach nachgealimten Yersuch
einer derartigen Anstalt repräsentirt das Kittergut Alt-Scherbitz
in der Provinz Sachsen, welches gänzlich durch geisteskranke Ai'beiter
bewirthschaftet wird. Selbstverständlich ist hier zur Behandlung der
frischen Fälle und der vorübergehenden Aufregungszustände noch
eine kleinere Centraianstalt mit den für diese Zwecke geeigneten
Einrichtungen nothwendig. Werthvoll vor Allem ist das coloniale
Die Irreuaustalt.
237
System für die Unterbringung jener zahlreichen psychischen Inva-
liden, denen die Krankheit die Möglichkeit einer selbständigen
Lebensführung genommen hat. Sie können durch die stete Anregung,
welche die Arbeit giebt, lange Jahre hindurch in einem Zustande
leidlichen Wohlseins erhalten werden, während sie ohne dieselbe
yielleicht rettungslos einer raschen Verblödung anheimgefallen wären.
Ich selbst habe Gelegenheit gehabt, Kranke, welche Jahre lang in
einer grossen geschlossenen Anstalt gelebt hatten, unter dem Ein-
flüsse der relatiyen Freiheit und selbständigeren Beschäftigung in
der Colonie auf geradezu überraschende Weise geistig aufleben
zu sehen.
Auch noch nach einer anderen Eichtang hin haben die humanen
Bestrebungen der letzten Decennien die praktische Lösung der
Irrenfrage wesentlich gefördert. Indem man ausging von dem
Muster der belgischen Ortschaft Gheel, deren Bewohner sich Jseit
alter Zeit aus ursprünglich religiösem Anlasse (Cultus der heiligen
Dymphna) mit der privaten Pflege Geisteskranker beschäftigen, hat
man auch in Deutschland (Ilten bei Hannover) den glücklichen
Versuch gemacht, eine _familiare Verpflegung von Irren unter
ärztlicher Aufsicht in ausgedehnterem Masse einzurichten. Freilich
wird sich nicht jede Bevölkerung, und vor Allem wird sich immer
nur ein kleiner Bruchtheil von Kranken für diese an sich bestechendste
Form der Fürsorge eignen. Ohne Zweifel aber ist die familiäre
Verpflegung als ein werthvoUes und in vieler Beziehung unersetzliches
Glied in der ganzen Kette von Einrichtungen anzusehen, welche
das schwere Schicksal unserer Kranken zu erleichtern berufen sind.
Die Aufgabe des Irrenarztes schliesst ab mit der Entlassung
des Kranken aus der Anstalt. In der Eegel soll dieselbe nur
nach erfolgter Genesung geschehen, aber es giebt nicht so gar selten
Fälle, in denen der langsame Gang der Eeconvalescenz und ein sehr
lebhaftes, allerdings noch krankhaftes Heimweh oder das Drängen
der Angehörigen zu einer etwas vorzeitigen Entlassung zwingen,
wenn man nicht die Gefahr einer Verschlechterung oder gar eines
unvermutheten Selbstmordes auf sich nehmen will. Bei ^^Torsichtiger
Auswahl der Kranken und unter günstigen häuslichen Verhältnissen
pflegt sich dann die weitere Heilung meist ungestört zu vollziehen.
Bisweilen jedoch kommen baldige Eückfälle vor, besonders wenn
des Genesenden zu Hause wieder Noth und Sorge, lieblose, rohe Be-
238
V. Allgemeine Therapie.
handlung oder die Gelegenheit zu Ausschweifungen wartet. Gerade
für ihn ist aber Schonung, Vermeidung jeder Ueberanstreng-
ung und eine nur ganz allmähliche Einführung in die alltägliche
Berufslast dringendnothwendig. "Wohlhabendere schieben daher zweck-
mässig zw'ischen die Eeconvalescenz und den vollen Eintritt in ihre
früheren Pflichten einen kurzen Badeaufenthalt, Besuch in befreundeter
Familie u. dergl. ein.
Jede Entlassung aus der Irrenanstalt ist zunächst eine ver-
suchsweise und wird erst nach einigen Monaten eine endgültige,
um die Eückversetzung im Falle einer Terschlimmerung zu er-
leichtern. Auch ungeheilte und sogar unheilbare Kjanke werden
aus der Anstaltsbehandlung entlassen, wenn sie keine Angriffs-
punkte für die Behandlung mehr darbieten und sich für die Fami-
lienpflege eignen oder sich psychische Selbständigkeit genug bewahrt
haben, um in günstigen äusseren Yerhältnissen kürzere oder längere
Zeit ohne besondere ärztliche Aufsicht leben zu können. Es giebt
sogar gewisse Gruppen von Kranken, denen an sich der Anstalts-
aufenthalt geradezu schadet, wenn auch andererseits mit Rücksicht
auf die Umgebung ihre Einschliessung unumgänglich erscheint
Namentlich in solchen Fällen wird jede Wendung zum Bessern,
soweit das ohne Gefahr geschehen kann, dazu ausgenutzt werden,
dem Kranken die Wohlthaten des Lebens in der Freiheit für län-
gere oder kürzere Zeit wieder zugänglich zu machen.
Die specielle Pathologie und Therapie des Irreseins.
Die Eintheiliiiig der Seelenstöriiugen.*)
Die nächste Aufgabe einer speciellen Pathologie der Geistes-
störungen bildet die Begriffsbestimmung und Umgrenzung
einzelner Erankheitsformen. Zur Lösung dieser Aufgabe
müssten uns einerseits die Anomalien in dem Ablaufe der physiolo-
gischen Vorgänge unserer nervösen Centraiorgane, andererseits die
mit ihnen zusammenhängenden psychischen Functionsstörungen ge-
nau bekannt sein. Nur dann offenbar wären wir im Stande, aus den
psychischen Symptomen auf die pathologischen körperlichen Grund-
lagen derselben, sowie weiterhin auf die Ursachen des ganzen Krank-
heitsprocesses zurückzuschliessen und umgekehrt. Leider sind Avir
von einer derartigen tieferen Einsicht in die Mechanik der Geistes-
krankheiten heute nur allzuweit noch entfernt. Wir können uns
aber auch nicht verhehlen, dass gerade die Annäherung an jenes
uns zunächst vorschwebende Ziel uns höchst wahrscheinlich immer
eindringlicher die Unmöglichkeit einer wirklich durchgreifenden Ein-
theilung der Seelenstörungen darthun wird.
Ueberau, wo wir den "Versuch wagen, Lebensvorgänge ohne
Eest und ohne Zwischenstufen in ein Schema einzuordnen, machen wir
die Erfahrung, dass sich die anfangs schai-f erscheinenden Grenzen
bei genauerer Erkenntniss des Gegenstandes immer mehr verwischen,
dass von jedem Beobachtungstypus zahllose, unmerklich variirende
*) Kahlbaum, Die Gruppirung der psychischen Krankheiten. 1863; VoIIc-
manns klinische Vorträge, 12ü; Ocbbecke, Vergleichende Uebersicht der Classi-
ficationen der Psychosen, Diss. 1886.
240
Die Eintheilung der Seelenstörungen.
Mittelglieder zu den beaachbarten Typen hinüberführen. Der Un-
möglichkeit einer durchgreifenden Scheidung zwischen normalen und
pathologischen Zuständen haben wir früher schon gedacht; ebenso
werden wir mit Bestimmtheit erwarten müssen, zwischen den einzelnen
schulmässigen „Krankheitsformen" alle möglichen Uebergänge im
Leben anzutreffen. Sehen wir doch auch in der inneren Medicin
selbst die bestcharakterisirten genera morbi, die acuten Infections-
krankheiten, sich durch die grossen Gruppen der „nicht ausgesproche-
nen", „abortiven" u. s. w. Fälle allmählich in anders benannte
„Krankheitsspecies" hinein verlieren! Eine besonders grosse Aus-
dehnung wird das Gebiet der Zwischenformen bei den Geistesstör-
ungen durch den Umstand gewinnen müssen, dass die einzelnen
Theile des Gehirns nicht functionell gleichwerthig sind. Nicht nur
die Art und Stärke der krankhaften Veränderungen, sondern auch
ihr besonderer Sitz wird daher vermuthlich eine unübersehbare
Folge feinerer Nüancen in der Gestaltung des psychischen Zustandes
zu erzeugen im Stande sein.
Wenn wir somit von einer systematischen Eintheilung der
Seelenstörungen, etwa im Sinne Linnes, für alle Zeiten, und von
einer Aufstellung wissenschaftlich fest begründeter Typen für jetzt
noch absehen müssen, so fordert doch das praktische Bedüriniss
schon heute wenigstens eine ungefähre Gruppii-ung des empirisch
gewonnenen Materiales, die um so bleibenderen Werth besitzen wird,
je weniger sie sich durch verfrühte Speculationen in der nüchternen
Verarbeitung der Thatsachen beeinflussen lässt.
Die sicherste Grundlage für eine derartige Eintheilimg der
Irreseinsformen scheint, namentlich im Hinblicke auf die Erfahr-
ungen der inneren Medicin, zunächst die pathologische Anatomie
zu versprechen. Leider indessen Hegt die Aussicht auf die Fest-
stellung verwerthbarer Leichenbefunde für die grosse Mehrzahl der
Geistesstörungen wegen ihrer anscheinend „functionellen" Natur noch
•in weiter Ferne. Selbst dort aber, wo wir schon heute gröbere Ver-
änderungen im Gehirne nachzuweisen vermögen, fehlt uns doch
durchaus noch das genauere Verständniss für den Zusammenhang
der anatomischen Thatsachen mit den klinischen Erscheinungen, so
dass wir es höchstens in ganz exti-emen Fällen (Miss- oder Hemmungs-
bildungen, ausgedehnte Zerstörungen, hochgradige Atrophie) wagen
■dürften, am Sectionstische einigermassen zuversichtUclie Vermutli-
Anatomische, ätiologische, symptomatische Eintheilangen.
nDgen über den psychischeu Zustand während des Lebens auszu-
sprechen. An der Unzulänglichkeit des Beobachtungsmaterials, wie
-an der Schwierigkeit seiner functionellen Verwerthung sind daher
auch die bisherigen Versuche einer pathologisch-anatomischen Ein-
theilung der Geistesstörungen sämmtlich gescheitert.
Kaum weniger schwerwiegende Einwände lassen sich gegen den
Versuch einer ätiologischen Eintheilung der Psychosen vorbringen,
die noch in neuester Zeit mit Nachdruck als die allein werthvolle
hingestellt worden ist. Allerdings kennen wir schon heute einige
Ursachen, deren Einfluss sich in gewissen charakteristischen Idinischen
Merkmalen geltend macht und somit umgekehrt aus diesen erschlossen
werden kann. Dahin gehören namentlich die verschiedenen Formen
von Vergiftung und einzelne körperliche Erkrankungen, ferner wahr-
scheinlich die Erschöpfung, vielleicht manche heftige Gemüths-
erschütterungen und endlich die schwereren Formen der erblichen
Entartung, deren Wesen und Wirkungsweise unserem Verständnisse
freüich noch sehr fern liegt. Dem gegenüber sind die Ursachen des
Irreseins in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle für uns vollständig
dunkel, wie jede ehrliche Würdigung der täglichen Erfahrung ohne
Weiteres wird eingestehen müssen. Das liegt nicht allein an äusseren
Zufälligkeiten, an der Schwierigkeit, gute Anamnesen zu erhalten,
sondern ist wol in der Natur der Geistesstörungen selbst begründet
Am häufigsten haben wir es hier mit constitutionellen Erkrankungen
zu thun, deren wesentliche Ursachen in den wechselnden inneren
Zuständen des Organismus gelegen sind, und auch sonst spielt die
Eigenart des Einzehien für die Gestaltung der Eeaction auf äussere
Schädlichkeiten in diesem Gebiete vielfach eine völlig entscheidende
KoUe. Gerade die Erforschung und Zergliederung geistiger und
körperlicher Individualitäten ist indessen leider bisher nicht über die
allerersten Anfänge hinausgekommen. Endlich wird zu berück-
sichtigen sein, dass die Ursachen der Geistesstörungen selten einzeln,
sondern meist in Verbindung mit einander wirken, so dass sich auch
aus diesem Grunde der causale Zusammenhang der gegebenen
Erscheinungen fast niemals mit jener Klarheit durchschauen lässt, wie
etwa bei dem Verlaufe einer Infectionskrankheit.
Bei Weitem am häufigsten ist der Weg einer symptomatischen
Emtheilung der Geistesstörungen eingeschlagen worden, weil die
Erscheinungen des Ii-reseins dem Beobachter am unmittelbarsten
KraepoUn, Psychiatrie 4. Aufl. lö
242
Die EintheiluDg der Seelenstörungen.
in die Augen fallen. Auch diese Methode stösst sehr bald auf
Schwierigkeiten, sobald es gilt, das "Wesentliche vom Zufälligen und
Nebensächlichen zu unterscheiden. Sie führt mit einer gewissen
Nothwendigkeit zur üeb er Schätzung des einzelnen Symptoms, zu der
Neigung, alle Krankheitsfälle zu einer Form zusammenzufassen, denen
eine bestimmte auffallendere Störung gemeinsam ist. Die Geschichte
der Psychiatrie bis auf die Gegenwart herab ist yoII von derartigen
Yerirrungen. Heute freilich sollte allein das Beispiel der Dementia
paralytica lehren, dass es pathognomonische Symptome auf dem Ge-
biete des Irreseins schlechterdings nicht giebt, sondern dass nur das
Gesammtbild eines Krankheitsfalles in seiner Entwickelung
von Anfang bis zum Ende die Berechtigung zur Yereinigung mit
anderen gleichartigen Beobachtungen gewähren kann. Dieselben Einzel-
erscheinungen können sich, wie die Erfahrung zeigt, unter gewissen
Umständen in sonst völlig auseinander gehenden Fällen einstellen,
wie etwa Fieber, Husten, Brustschmerzen u. s. f. bei den ver-
schiedenartigsten Lungenerkrankungen. Dazu kommt, dass uns bei
der Unvollkommenheit unserer Forschungsmittel die vielleicht durch-
aus verschiedene Entstehungsweise und Bedeutung für identisch ge-
haltener Erscheinungen gänzlich verborgen bleiben kann. Man denke
nur an die Yerwirrung, welche etwa ein Zusammenwerfen aller körper-
lichen Erkrankungen mit Albuminurie zur Folge haben würde!
Besässen wir auf einem der drei Gebiete, der pathologischen
Anatomie, der Aetiologie oder der Symptomatologie des Irreseins
eine durchaus erschöpfende Kenntniss aller Einzelheiten, so würde
sich nicht nur von jedem derselben her eine einheitliche und durch-
greifende Eintheilung der Psychosen aufiinden lassen, sondern jede
dieser drei Classificationen würde auch — diese Forderung
ist das Fundament unserer wissenschaftlichen Forschung überhaupt
— mit d en beiden anderen wesentlich zusammenfallen.
Die aus den gleichen Ursachen hervorgegangenen Krankheitsfälle
würden stets auch dieselben Erscheinungen und denselben Sections-
befund darbieten müssen. Aus dieser Grundanschauung ergiebt
sich, dass die klinische Gruppirung der psychischen Störungen sich
auf alle drei Kriterien der Classification, denen man noch die aus
dem Yerlaufe, der Prognose, ja der Therapie gewonnenen Erfahr-
ungen hinzufügen muss, gleichzeitig zu stützen haben wird. Je
mehr sich dabei die aus der verschiedenartigen Betrachtung ge-
Anatomische, ätiologische, symptomatische Eintheilunfen.
243
wonnenen Pormen mit einander decken, desto grösser ist die Sicher-
heit, dass diese letzteren wirklich eigenartige Krankheitszustände
darstellen.
"Wenn wir in diesem Sinne auch heute schon thatsächlich eine
ganze Eeihe von Psychosen kennen, die mindestens ebensogut
charakterisirt sind, wie die Mehrzahl der körperlichen „Krankheiten"
so setzen doch grosse Gebiete des Irreseins den classificatorischen
Bestrebungen derartige Schwierigkeiten entgegen, dass man nicht
selten eine befriedigende Eintheilung der Seelenstörungen als eine
vielleicht überhaupt unlösbare Aufgabe betrachtet hat. Ich kann
diese Anschauung nur insoweit theilen, als sie die oben erwähnten
principiellen Hindernisse einer Einzwängung von Lebensvorgängen
in scharf abgegrenzte Kategorien im Auge hat. Dagegen scheint
mir der soeben angedeutete "Weg durchaus gangbar. Jedem Irren-
arzte ist es bekannt, dass uns bisweilen Fälle begegnen, welche in
jeder Beziehung, nach Entstehungsart, aUen Einzelheiten der Krank-
heitserscheinungen und weiterem Verlaufe eine geradezu verblüffende
Ueberein Stimmung mit einander darbieten. Derartige Beobachtungen
werden den natürlichen Ausgangspunkt unserer Eintheilungsbestreb-
ungen zu bilden haben. Durch strenge Ausscheidung aller nicht
ganz dem ersten Typus entsprechenden Eälle werden wir zunächst
zur Aufstellung zahlreicher kleinerer, wenig von einander abweichen-
der Gruppen geführt, deren nähere und fernere Verwandtschaft sich
beim Ueberblick über ein grosses Material unschwer wird erkennen
lassen. Die gewissenhafte Zersplitterung der Formen in ihre kleinsten
und anscheinend unbedeutendsten Varianten, wie wir sie etwa heute
in der Lehre von der Muskelati'ophie wiederfinden, ist somit die
unerlässliche Vorstufe für die Gevsdnnung wirklich einheitlicher, der
Natur entsprechender Krankheitsbilder.
Bis zur Erreichung dieses Zieles bedarf es noch lange fortgesetzter,
sorgfältiger Einzelbeobachtung. Niemand vsdrd daher die lediglich
provisorische Bedeutung aller heute möglichen Systeme verkennen
wollen, aber man darf dennoch hoffen, dass die weitere Entwickelung
der klinischen, alle Eigen thümlichkeiten unseres Gegenstandes
gleichmässig verwerthenden Betrachtungsweise uns in nicht allzu
langer Zeit zu einer Gruppirung der Psychosen führen wird, welche
sich den analogen Leistungen im Bereiche der übrigen Medicin völlig
gleichberechtigt an die Seite zu stellen vermag.
16*
244
Die Eiatlieiluag der Seelenstörangen.
Die von mir im Folgenden gewählte Reihenfolge und AbgrenzuBg
der Seelenstörungen lehnt sich in ihren Grundgedanken an die von
Schule und v. Krafft-Ebing aufgestellten Systeme an; sie ver-
zichtet indessen auf die Durchführung einer eigentHchen Disposition
und soll nur m grossen Umrissen die innere Verwandtschaft der
wichtigsten Symptomencomplexe andeuten, welche uns die klinische
Erfahrung heute kennen lehrt. Wenn man will, kann man sich das
ganze Gebiet etwa in vier Hauptabschnitte zerlegt denken, welche der
Reihe nach die Krankheitsgruppen I— V, YI— IX, X— XII und Xm
umfassen würden. Von diesen Abschnitten würde der erste die in
der Regel durch äussere Ursachen ausgelösten, heilbaren, acuten und
subacuten Krankheitsprocesse von typischem Verlaufe umfassen, wäh-
rend wir es im zweiten mit Constitution eUen, wesentlich aus innern
Ursachen hervorwachsenden, unheilbaren Zustandsveränderungen von
chronischem, stationärem oder periodischem Verlaufe zu thun haben.
Im dritten Abschnitte begegnen wir den mit schwereren Störungen
der Hirnernährung und selbst tieferen organischen Veränderungen
einhergehenden, meist durch äussere Schädigungen erworbenen Er-
krankungen mit chronischem, gewöhnlich progressivem Verlaufe, und
die letzte Kategorie endlich wird durch die angeborenen, stationären
und unheilbaren krankhaften Zustände gebildet. Eventuell könnte
man auch die im ersten und dritten Abschnitte aufgeführten Stör-
ungen ds „accidentelle" (acute typische und chronische progressive)
Psychosen den constiüitioneUen und angeborenen Anomalien des
zweiten und vierten Abschnittes gegenüberstehen. Natürhch ist da-
bei nicht an scharfe Abgrenzungen zwischen den angeborenen und
erworbenen oder zwischen den aus innern und den aus äussern Ur-
sachen hervorgehenden Erkrankungen zu denken, da uns die Erfahr-
ung in beiden Richtimgen vollkommen continuirliche Uebergänge
aufweist. Ich habe daher im ersten Abschnitte die einzehien Krank-
heitsgruppen nach der ätiologischen Bedeutiuig geordnet, welche bei
ihnen nach memer Auffassung etwa den innern Ursachen, der
psychopathischen Praedisposition, zukommt. Während bei den Deliiien
und den acuten Erschöpfungszuständen die äusseren Ursachen der
Erkrankung durchaus dominiren, tritt ihr Einfluss bei der Melancholie
und Manie etwas, beim Wahnsinn noch mehr zui-ück. Der Wahn-
sinn bildet ätiologisch, symptomatisch und prognostisch den Ueber-
gang zu den constitutionellen Psychosen des zweiten Abschnittes,
Anatomische, ätiologische, symptomatische Eintheihingen.
245
wie diese letzteren iiiis hinwiederum ganz allmählich aus dem Ge-
biete der im Laufe des individuellen Lebens erworbenen in den Be-
reich der nicht nur als Disposition, sondern in Form ausgebildeter
krankhafter Zustände angeborenen Seelenstörungen hinüberleiten.
Am Schlüsse dieser Ausführungen darf ich nicht unterlassen,
nachdrückhch darauf hinzuweisen, dass so manche der im Folgenden
abgegrenzten Krankheitsbilder nur Yersuche sind, einen gewissen
Theil des Beobachtungsmaterials wenigstens vorläufig in der Form
des klinischen Lehrstoffes darzustellen. Ueber ihre wahre Bedeutung
und über ihr gegenseitiges Yerhältniss wird erst die dringend noth-
wendige monographische Durcharbeitung des ganzen Gebietes allmäh-
lich Klarheit bringen. Es ist femer unbestreitbar, dass es uns heute
trotz redlichsten Bemühens noch in einer recht erheblichen Zahl von
Fällen schlechterdings nicht gelingt, sie in den Rahmen einer der
bekannten Formen des „Systems" einzuordnen. Ja, nach manchen
Richtungen hat die Anzahl derartigerBeobachtungen sogar zugenommen,
und an die SteUe zuversichtlichen "Wissens ist vielfach Unsicherheit
und Zweifel getreten. Für den Schüler hat diese Thatsache gewiss
etwas Beunruhigendes; dem Forscher bedeutet sie nichts, als den
Bruch mit der herkömmlichen Terschwommenheit unserer Diagnosen
zu. Gunsten einer schärferen Begriffsbestimmung und eines tiefer-
dringenden Verständnisses der klinischen Erfahrungen.
I. Die Delirien.
Als Delirien bezeichnen wir eine Gruppe rasch verlaufender
psychischer Störungen, welche mit träum artiger Trübung des
Bewusstseins und mehr oder weniger ausgesprochenen Eeiz-
erscheinungen (massenhaften Sinnestäuschungen, Aufregungs-
zuständen) einhergehen. Die Entstehungsursachen des DeHriums
haben, wie es scheint, das Gemeinsame, dass sie eine acute und
intensive Eeizwirkung auf die centrale Nervenmasse ausüben.
Die besondere Art dieser Einwirkung und damit die Färbung des
Krankheitsbildes kann sich natürlich je nach der Eigenthümlichkeit
des ursächlichen Reizes ausserordentlich verschieden gestalten;
unter praktischem Gesichtspunkte indessen lassen sich wesentlich
zwei Hauptformen des Deliriums von einander abtrennen: das
Eieberdelirium und das Intoxikationsdelirium.
A. Das Fieberdelirium.
Den Fieberdelirien hat man wegen ihrer kurzen Dauer und
ihres „symptomatischen" Charakters häufig die Zugehörigkeit zu den
Geisteskrankheiten überhaupt streitig gemacht; eine fortschreitende
Erfahrung hat uns indessen noch weit kürzer dauernde Psychosen
keunen gelehrt und uns zu einer wesentlich symptomatischen Auf-
fassung jeglichen Irreseins geführt. Das Krankheitsbild, welches die
Fieberdelirien darbieten, ist kein gleichförmiges; vielmehr können
wir mit Liebermeister*) mehrere Grade der Störung unter-
scheiden, welche augenscheinlich der Intensität des krankhaften Vor-
ganges im Gehirn parallel gehen und uns von den Erscheinungen
*) Liebermeister, Deutsches Ai-chiv füi- klin. Medicin I, p. 543.
Fieberdelirium.
247
der Reizung allmählich in diejenigen der Lähmung und völligen
Vernichtung der psychischen Functionen hinüberführen.
Der erste G-rad des febrilen Deliriums kennzeichnet sich durch
allgemeines Unbehagen, Eingenommenheit des Kopfes, Empfindlich-
keit gegen stärkere Sinneseindrücke, Reizbarkeit, Unlust zu geistiger
Arbeit, leichte Unruhe und Störung des Schlafes mit lebhaften,
ängstlichen Träumen. Im zweiten Grade greift die Bewusstseins-
störung tiefer; die Wahrnehmung wird durch illusionäre und
hallucinatorische, rasch sich mehrende Sinnestänschungen verfälscht;
die Vorstellungen gewinnen eine grosse Lebendigkeit; der Verlauf
derselben entzieht sich in buntem, traumartigem Zusammenhange
dem bewussten Einflüsse der Kranken. Sie glauben sich von fabel-
haften Gestalten bedroht und ringen in verzweifeltem Kampfe mit
imaginären Gegnern; sie sehen aus den Arabesken der Tapete sich
grinsende Fratzen oder Engelsköpfe bilden, die sich loslösen und
im Zimmer herumfliegen; sie fühlen, wie ihnen der Kopf abgenommen
wird, wie Jemand an ihrer Bettdecke zupft. Federleicht, schwebend
werden sie über bunte, fabelhafte Gegenden, durch prächtig ge-
schmückte Räume getragen; Glockenläuten ertönt und wirres
Schreien, ein pathetisches Verdammungsnrtheil- oder liebliche Musik.
In alle diese zusammenhangslosen Phantasien hinein mischen sich
dann einzelne wirkliche "Wahrnehmungen, die auch wol für Augen-
blicke den Kranken zur Besonnenheit zurückrufen; alsbald aber
versinkt er wieder in die Fluth der massenhaft hereindringenden
Täuschungen. Zugleich wächst die Unruhe; lebhafte expansive oder
depressive Gefühle tauchen auf und entwickeln sich zu Affecten,
bis dann auf der Höhe des dritten Grades das Krankheitsbild
einer starken Bewusstseinstrübung mit völliger Unbesinnlichkeit,
verworrener Ideenjagd, heftigen, oft wechselnden Affecten und
mächtigem, selbst furibundem Bewegungsdrange zur Ausbildung ge-
langt ist. Allerdings gesellen sich nun schon häufig einzelne Lähmungs-
symptome diesen psychischen Reizungserscheinungen hinzu (vorüber-
gehende soporöse Zustände, Schwäche und Unsicherheit der Be-
wegungen) und deuten bereits den Ueb ergang in den völligen
Verfall des psychischen Lebens an. Im vierten Grade schwächt
sich die Erregung zum Flockenlesen und unsicheren Herumtasten
ab. Der Kranke murmelt einzelne zusammenhangslose Worte oder
Sätze vor sich hin (blande, mussitirende Delirien) und versinkt
248
, I. Die Delirien.
schliesslich in einen Znstand dauernder Betäubung (Koma, Lethargie),
ans dem er gar nicht oder doch nur durch sehr kräftige Reize vor-
übergehend erweckt werden kann (Koma vigil).
Die besondere Art der fieberhaften Erkrankung scheint die Ge-
staltung der Delirien im Ganzen wenig zu beeinflussen. Nur die
Schnelligkeit, mit welcher sich das Fieber entwickelt, die Stärke
und Dauer desselben, sowie der Zustand der lebenswichtigen Organe
ist massgebend. Bei Yariola, Scharlach, Erysipel, bisweilen auch
beim Gelenkrhenraatismus, dürften rasch ausbrechende verwirrte
Aufregungszustände überwiegen, während in der Pneumonie und
im Typhus mehr die deliriöse Benommenheit und leichter Sopor
beobachtet werden.
Als die pathologische Grundlage der Fieberdelirien können
einmal das Fieber selbst (Temperatursteigerung, Beschleunigung des
Stofiwechsels) , sodann Circulationsstörungen (active, später venöse
Hyperaemie, namentlich bei Beeinträchtigung der Herzaction) und
endlich die "Wirkung infectiöser Krankheitsgifte angesehen werden.
Vielleicht sind sogar diese letzteren die eigentlich massgebenden
Ursachen, so dass wir die Fieberdelirien nur als eine besondere
Form der Intoxikationsdelirien anzusehen hätten. Nicht selten
kommt jedoch auch dem Alkoholismus eine wesentliche ätiologische
Bedeutung zu, vor Allem bei der Pneumonie. Im Uebrigen spielt
die Praedisposition bei der eingreifenden Natur der ursächlichen
Momente eine verhältnissmässig geringe Rolle, doch ist es eine sehr
bekannte Erfahrung, dass jüngere Lebensalter, Frauen und neu-
ropathische Individuen schon bei niedrigeren Fiebergraden leichter zu
Delirien geneigt sind.
Die Prognose dieser Störungen wird durch den Umstand ge-
trübt, dass dieselben vorzugsweise schwerere Erkrankungsfälle zu
begleiten pflegen; nach meiner Statistik starben Sbß^jo der Patienten,
doch haben dabei nur sehr ausgeprägte Formen der Delirien Ver-
werthung gefunden. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
(70,6o/o) übersteigt die Dauer der Alienation eine Woche nicht;
fast regelmässig schwindet die Störung mit dem Abfalle des Fiebers.
Nicht allzu selten indessen bleiben einzelne der auf der Höhe der
Erkrankung entstandenen krankhaften Ideen noch einige Zeit un-
corrigirt. Der im Delirium gesammelte Reichtbum, die prächtigen
Equipagen, über welche der Kranke verfügte, das über ihn ge-
Fieberdelirium.
249
sprochene Todesurtheil, die Unthat, die er begangen hat, beglüclren
und quälen ihn noch so lange, bis allmählich die getiäibte Besonnen-
heit sich vollständig wieder tlärt. In einzelnen Pällen nimmt die
Psychose einen noch chronischeren, sich über einige Wochen oder
Monate hinziehenden Yerlauf mit Uebergang in ganz andersartige,
selbständig entwickelte Krankheitsbilder (Amentia, acute Demenz,
hallucinatorischer Wahnsinn). Wahrscheinlich handelt es sich dabei
entweder um prädisponirte Individuen, bei denen das Keber mehr
den äusseren Anstoss zur psychischen Erkrankung gegeben hat,
oder aber um tiefere, sich nur langsam ausgleichende Ernährungs-
störungen. In vereinzelten EäUen ist eine Eückbildung dieser
letzteren überhaupt nicht mehr möglich; hier geht das Delirium
direct in unheilbare Schwächezustände über, namentlich nach Typhus
und Tariola.
Die Behandlung der Eieberdelirien ist im Allgemeinen die-
jenige des Grundleidens. Ausserdem kann man sich des Eisbeutels
auf den Kopf zur Bekämpfung der Hirnhyperaemie bedienen. Einen
sehr entschiedenen Einfluss auf die Milderung der Eieberdelirien
üben ferner die Anwendung kühler Bäder, sowie kalte Ein-
wickelungen und Abreibungen aus, die man bei gleichzeitiger Herz-
schwäche zweckmässig mit der Darreichung von Alkohol verbindet.
Wenig oder gar nichts leisten die eigentlichen Fiebermittel, die ja
zum Theil selbst Delirien zu erzeugen im Stande sind. In sympto-
matischer Beziehung ist ausser den durch die körperliche Erkrankung
selbst erforderten therapeutischen Massnahmen auf sorgfältige Heb er-
wachung deUriöser Kranker Bedacht zu nehmen, da dieselben
unter allen Umständen sich und Andern gefährhch werden (Gewalt-
acte begehen, entfliehen, aus dem Fenster springen) können. Furi-
bunde Delirien pflegen in Krankenhäusern mit der Zwangsjacke
behandelt zu werden; in der Irrenanstalt gehngt es unter dem
Beistande eines ruhigen und gewandten Personals regelmässig, ohne
jenes ultimum refugium mit der einfachen Bettbehandlung, im
äussersten NothfaUe mit Polsterbett oder Polsterzimmer diu'chzu-
kommen. Die Anwendung von Schlafmitteln oder Narkoticis dürfte
sich meist eher schädlich, als nützhch erweisen. Nach dem Fieber-
abfalle ist planraässige Wiederherstellung des gesunkenen Kräfte-
zustandes die wesentiiche Aufgabe der Behandlung.
250
I. Die Delirien.
B. Das Intoxikationsdelirium.
So gering im AJlgemeinen wegen der relativen Seltenheit ihres
Yorkommens die praktische Bedeutung der Intoxikationsdelirien sich
gestaltet, so gross ist doch das wissenschaftliche Interesse, welches
sie in Anspruch nehmen dürfen, weil gerade bei ihnen die ursäch-
liche Abhängigkeit ganz bestimmter psychischer Störungen von ein-
deutigen chemischen Einwirkungen auf die nervösen Centraiorgane
klar vor Augen hegen sollte. Freilich ist diese Forderung erst für
ganz wenige Formen dieser Delirien zureichend erfüllt; vielfach
kennen wir noch nicht einmal die chemische Natur des Giftes selber,
in anderen Fällen doch nicht die Art seiner Wirkung auf die
Nervensubstanz.
Yor Allem gilt dies für jene Intoxikationen, welche unmittel-
bar oder mittelbar durch Mikroorganismen verursacht werden,
für die Infectionskrankheiten. Wie bereits früher angedeutet, kommen
hier Delirien zur Beobachtung, welche bei dem Mangel ander-
weitiger Causalmomente (Fieber, Organerkranknngen) wesentlich auf
die Yergiftung durch das infectiöse Ferment zurückgeführt werden
müssen. Dahin gehören namentiich die Delirien der Lyssa, dann
die im ersten Beginne der Erkrankung auftretenden „Initialdelirien"
des Typhus und der Yariola, ferner jene Formen der Inter-
mittens larvata, bei denen an Stelle der typischen Fieberanfälle
deliriöse, bisweilen ganz afebrile Aufregungszustände sich einstellen.
Gemeinsam ist allen diesen Störungen der Symptomencomplex tiefer
Bewusstseinstrübung mit schreckhaften, verworrenen Sinnestäusch-
ungen, intensiven Angstzuständen und der Neigung zu grässUchen
Gewaltacten, Mord und Selbstmord. Wenn in diesen Fällen die
toxische Natur der psychischen Störung wol als zweifellos ange-
sehen werden kann, so erinnern die Delirien bei schwerer Sepsis
mit ihrer Unbesinnlichkeit und ihrem mussitirenden Charakter häufig
mehr an gewisse Fieberdelirien, auch wenn die Temperatur nahezu
oder ganz normal ist. Ob wir es hier mit toxischen Wirkungen
oder einfach mit den Folgezuständen der Herzschwäche zu thun
haben, mag dahingestellt bleiben; vielleicht ist nicht die Art, sondern
der Grad der Ernährungsstörung die Ursache, dass liier die Lähmungs-
erscheinungen gegenüber den Reizsymptomen in den Yordergrund
Intoxikationsdelirium.
251
treten. Endlich giebt es im Yerlaufe der Blatternerkrankung
zwischen dem Eruptions- und dem Eiterungsfieber eigenthümliche
psychopathische Zustände^ bei denen ebenfalls an eine toxische Ent-
stehungsweise gedacht werden kann. Es handelt sich um das plötz-
liche Aufti-eten sein- deutlicher Gehörs- und Gesichtstäuschungen
bei Kranken, die nicht verwirrt, sondern völlig besonnen und nur durch
die Trugwahrnehmungen beunruhigt sind. Diese Zustände erinnern
anscheinend sehr an gewisse Formen des acuten intoxikatorischen
"Wahnsinns bei Alkohol- und Cocainmissbrauch, so dass ich im
Gegensatze zu einer früher von mir geäusserten Anschauung ge-
neigt bin, sie auf eine Vergiftung durch pathologische StofEwechsel-
producte zurückzuführen. Auch Emminghaus hat die von ihm im
Harn Pockenkranker gefundenen Fettsäuren mit jenen eigenthüm-
lichen, rasch günstig verlaufenden Zuständen in ursächliche Be-
ziehung gebracht.
Zu den psychischen Alterationen gesellen sich die körperlichen
Anzeichen der einzelnen Erkrankungen, die Reflexkrämpfe der
Lyssa, die Hinfälligkeit und die Kopfschmerzen des Typhus, das
Prodromalexanthem der Variola, die Milzschwellung der Intermittens,
endlich leichte oder ausgesprochenere Temperatursteigerung, sowie
fast völliger Mangel des Schlafes und Appetites. Bei der Lyssa
schieben sich dazwischen nicht selten kürzere Zeiten völliger Be-
sonnenheit ein, in denen der Kranke seine Umgebung selber vor
sich warnt. Ebenso bieten die Initialdelirien, welche zunächst in
der Nacht aufzutreten pflegen, während des Tages meist Remissionen
dar, aber der Kranke befindet sich auch dann in einem Zustande
dumpfer Benommenheit,, die ihn keine rechte Klarheit über seine
Lage gewinnen lässt.
Die Dauer der Störung beträgt in der Regel nur einige Tage,
selten mehr als eine "Woche. Beim "Wechselfieber ■ pflegen sich die
eine Reihe von Stunden dauernden Anfälle in intermittirendem
Typus mehrmals zu wiederholen. Die Prognose gestaltet sich sehr
verschieden. Die Delirien der Lyssa endigen regelmässig im tödt-
lichen Collaps. Beim Typhus kann die Störung interessanter "Weise
mit dem stärkeren Ansteigen des Fiebers gänzlich verschwinden,
wie ich zweimal beobachtete, oder aber sie geht direct in febrile
Delirien über. In jedem Falle ist hier die Gefahr eines tödtlichen
Ausganges der Erkrankung eine ganz ungewöhnlich grosse; wenig
252
I. Die Delirien.
mehr, als ein Drittel der Kranken bleiben am Leben und gelangen
zur G-enesung. Dem gegenüber ist die Prognose der Intermittens-
delirien, abgesehen von der Selbstmordgefahr, eine durchaus günstige.
Die Erkennung dieser Psychosen hat, namentiich beim Initial-
deUrium, bisweilen Schwierigkeiten. Nicht allzuselten kommt es
vor, dass dasselbe für eine beginnende AngstmelanchoUe oder für
einen epileptischen Dämmerzustand gehalten wird, mit dem es in
der That sehr grosse Aehnlichkeit besitzt. Der weitere Verlauf
wird hier natürlich immer Aufklärung bringen. So habe ich es
bisher dreimal erlebt, dass mir Kranke mit beginnendem Typhus
(einmal exanthematischem) als geistesgestört zugeführt wurden.
Jedesmal gelang es, aus dem eigenthünüichen Symptomenbilde
mit grosser Wahrscheinlichkeit die Diagnose eines Initialdeliriums
zu stellen. Die Inter mitten sdelirien können ebenfalls mit epilep-
tischen Aequivalenten verwechselt werden; die Beachtung der
Malariaintoxikation, eventuell die typische Wiederkehr der Anfälle
kann davor schützen.
Die Behandlung der Delirien fällt auch hier mit derjenigen
der zu Grunde liegenden Erkrankungen zusammen; speciell ver-
dient erwähnt zu werden, dass die Intermittenspsychose dem
therapeutischen Einflüsse des Chinin sich zugänglich zu erweisen
pflegt. Genaue TJeberwachung ist begreiflicherweise überall dringend
geboten.
Eine grosse, aber bisher wenig gewürdigte und studirte Mannig-
faltigkeit der psychischen Symptome bieten jene Delirien dar, welche
durch die Intoxikation mit nicht organisirten Giften hervor-
gerufen werden. Im Allgemeinen pflegen hier ausgeprägtere Ti'ug-
wahrnehmungen auf den verschiedensten Sinnesgebieten, ti^aumhafte,
bunt wechselnde Phantasien, vielfach mit lebhaften Lustgefühlen
und ekstatischen Zuständen, meist ohne stärkere motorische En-eg-
ung, die Grundzüge des Xrankheitsbildes zu liefern. Beim Chloro-
formdelirium tritt namentlich die eigenthümliche Unbesinnlichkeit
in den Vordergrund, bei der Santonin Vergiftung GesichtshaUu-
cinationen und das „Gelbsehen'', unter der Einwirkung des Atropin
die Gesichts- und Gehörstäuschungen. Das Haschischdelirium da-
gegen scheint ganz besonders gewisse Alterationen des Muskel- und
Tastsinnes zu erzeugen, wie sie. sich in den illusionären Veränder-
ungen der äusseren und der Dimensionen des eigenen Körpers
Intoxikationadelirium.
253
psychologisch widerspiegeln. Ausserdem entrückt der Opium- und
der Haschischrausch das Individuum seiner realen Umgebung,
gaukelt ihm angenehme, phantastische Bilder und Erlebnisse vor und
versetzt dasselbe in heitere, selbstzufriedene Stimmung.
Die Stickstoff oxydulnarkose scheint demselben, abgesehen
von der viel kürzeren Dauer, hinsichtlich der Färbung des Deliriums
ähnüch zu sein; sie hat eine gewisse praktische "Wichtigkeit erlangt
wegen der bei ihr beobachteten Häufigkeit und Deutlichkeit
sexueller Hallucinationen, welche schon mehrfach zu falscher
Anschuldigung der narkotisirenden Zahnärzte geführt hat. Aufweine
eingehendere Schilderung aUer dieser und so vieler ähnhcher deli-
riöser Zustände, sowie ihrer körperlichen Begleiterscheinungen kann
hier natürlich nicht eingegangen werden; es muss vielmeln? in dieser
Hinsicht auf die Lehrbücher der Toxikologie verwiesen werden.
Nur einzelne besonders wichtige Formen werden später bei Be-
sprechung der chronischen Intoxikationen nähere Berücksichtigung
finden.
Die Dauer solcher Intoxikationsdelirien ist regelmässig eine
kurze, selten einige Stunden oder höchstens Tage überschreitende;
die Prognose richtet sich ganz nach der Schwere der Vergiftung
überhaupt. Die Diagnose wird zumeist aus den begleitenden
Umständen, wie aus den somatischen Symptomen gestellt werden
können; die Behandlung ist eine einfach causale nach den von
der Toxikologie vorgeschriebenen Grundsätzen.
II. Die acuten Erschöpfungszustände.
Unter dem Namen der acuten Erschöpfungszustände möchte ich
diejenigen psychischen Störungen zusammenfassen, welche sich durch
einen rasch eintretenden, mehr oder weniger hochgradigen Verfall
der psychischen Functionen auszeichnen. Bisweilen sind die-
selben, wenigstens vorübergehend, von psychischen und cerebralen
Eeizungserscheinungen begleitet. Da sie sich ausnahmslos unter
Yerhältnissen entwickeln, welche eine durchgreifende, acute Beein-
trächtigung der Hirnernährung mit sich bringen, so sind wir be-
rechtigt, mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Erschöpfung des
centralen Nervensystems als die pathologische Grundlage der hier
in Betracht kommenden Psychosen anzusehen, um so mehr, als das
klinische Bild und der Yerlauf dieser letzteren mit jener Auffassung
in bestem Einklänge steht. Je nach der Art, wie sich die psychi-
schen Eeizungs- und Lähmungserscheinungen mit einander ver-
binden, können wir eine Anzahl verschiedener Krankheitsbilder von
einander abgrenzen, von denen die ersten beiden, das Collaps-
delirium und die acute Yerwirrtheit (Amentia), eine nahe Ver-
wandtschaft zu den früher besprochenen deliriösen Zuständen auf-
weisen, während in der letzten Form, dem acuten Schwachsinn,
die Sitiiation ausschliesslich durch die Erscheinungen einer hoch-
gradigen Herabsetzung der psychischen Leistungsfähigkeit beherrscht
wird.
A. Das Collapsdelirium.
Das Collapsdelirium ist ein äusserst stürmisch sich entwickeln-
der Zustand hochgradiger Verwirrtheit mit traumhaften
Sinnestäuschungen, Ideenflucht, Stimmungswechsel und
CoUapsdolirium.
255
lebhafter motorischer Erregung. Die Krankheit beginnt in
der Eegel ziemlich plötzlich; bisweilen macht sich Schlaflosigkeit
und leichte Unruhe schon kurze Zeit vorher bemerkbar. Die
Patienten yerlieren rasch die Orientirung in ihrer Umgebung, die
ihnen verändert und unheimlich vorkommt. Das Bewusstsein trübt
sich; es stellen sich allerlei phantastische Illusionen, fast immer auch
Hallucinationen ein. Die Tapeten schneiden Tratzen, ein Crucifix
nickt mit dem Kopfe, Engel fliegen zum Fenster herein, die Nach-
barn rufen draussen, das Armensünderglöckchen läutet. Ihre Reden
verwirren sich ; sie werden ideenflüchtig und beginnen in unsinnigen
Alliterationen, Aufzählungen, selbst in Yersen zu sprechen oder zu
singen. Regelmässig bestehen zusammenhangslose, wechselnde Wahn-
ideen, bald mehr expansiven, bald mehr depressiven Inhalts. Sie
haben den "Welterlöser geboren, soUen deswegen ertränkt werden,
aber eine Heilige kann nicht untergehen. Der böse Feind steUt
ihnen nach, hat sie vergiftet, in drei Theile zerschnitten; die Mächte
der Finsterniss sind überwunden. Die Umgebung wird vollständig
verkannt; das Krankenzimmer ist die Hölle, der Arzt Christus oder
irgend ein Bekannter.
Die Stimmung ist vorwiegend heiter, bisweilen etwas erotisch,
doch schieben sich leicht vorübergehend ängstliche oder zornige Äff ect-
schwankungen ein. Stets ist lebhafte motorische Erregung vor-
handen. Die Kranken bleiben nicht im Bett, drängen hinaus, auch
zum Fenster, kriechen zu ihren Mitpatienten hinein, entkleiden sich,
zerreissen, schmieren. Sie schwatzen lebhaft, bald laut und pathetisch,
bald geheimnissvoll flüsternd, gestikuliren , klatschen in die Hände.
Meist ist es unmöglich, von ihnen eine besonnene Antwort zu erhalten;
nur hie und da geben sie einmal auf eine einfache Frage flüchtige
Auskunft oder folgen sie einer Aufforderung. Yielfach stösst man
beim Baden, Entkleiden und sonstigen nothwendigen Massregeln auf
ein sinnloses, ganz inconsequentes Widerstt-eben. Zuweilen scheint
ein dumpfes Krankheitsgefühl zu bestehen. Der Schlaf ist auf der
Höhe der Krankheit völlig aufgehoben; höchstens kommt es einmal
zu einem ganz kurzen, rasch durch die Unruhe wieder unterbrochenen
Schlummer. Die Nahrungsaufnahme ist sehr uni-egelmässig.
Die Kranken stossen zeitweise Alles zurück, spucken aus, während
sie kurz nachher das Dargebotene gierig hinunterschlingen oder es
sich wenigstens einlöffeln lassen.
256
II. Die acuten Erschöi)fungszustäiide.
In schweren Fällen wird das ganze Ki-ankheitsbild sehr bald
ausschliesslich durch den rücksichtslosesten Beweguugsdrang be-
herrscht. Die psychische Thätigkeit scheint sich völlig in ein Chaos
verworrener Impulse aufzulösen. Die spärlichen Zeichen einer Auf-
fassung äusserer Reize, die Andeutungen von Sinnestäuschungen
schAvinden, die spracliüchen Aeusserungen zerfallen in eine Folge
einzelner sinnloser Laute. Dabei besteht eine elementare Unruhe,
die sich in einfachen, zuweilen ganz stereotypen Bewegungeui
in unablässigem Trommeln, Wälzen, Zappehi, Wischen, Schnauben
u. dgl. entladet.]
Der Ernährungszustand ist im Collapsdelirium stets ein sehr
schlechter. Die Kranken sind kühl, blass, oft erschreckend abgemagert
und schwach, obgleich sie das in ihrer Unruhe nicht zu empfinden
scheinen. Das Körpergewicht sinkt rapide. Der Puls ist klein, häufig
sehr verlangsamt. An der Haut finden sich nicht selten Abschüi-f ungen,
blaue Flecke u. dergl. in Folge der Rücksichtslosigkeit, mit der die
Kranken ihre Glieder bewegen.
Die^erste, ausgezeichnete Beschreibung des CoUapsdeliriums hat
1866 ^Hermann Weber gegeben, der dasselbe im Anschlüsse an den
TemperaturabfaU nach acuten Krankheiten beobachtete. Die weitere
klinische Erfahrung hat, wie ich glaube, gelehrt, dass der gleiche
Symptomencomplex überall da zu Stande kommen kann, wo auf
irgend eine Weise tief eingreifende äussere Schädlichkeiten eme plötz-
liche Erschöpfung herbeiführen.
Es| scheiut sich dabei um eine ganz acute GrleichgCAvichts-
schwankung in unserem Centrainervensystem zu handehi, welche mit
Steigerung der centralen motorischen Erregbarkeit, Abstumpfung gegen
äussere Eindrücke und sensorischen Eigenerregungen einhergeht, Er-
scheinungen, deren erste Andeutungen sich auf experimentellem Wege
schon bei der physiologischen Erschöpfung nachweisen lassen. Ausser
den acuten Krankheiten, von denen namentlich die Pneumonie, die
acuten Exantheme und die Influenza zu nennen siad, kommen als
Ursachen vor Allem das Puerperium in Betracht, Blutverluste, fort-
gesetzte ISTachtwachen, vielleicht auch heftige gemüthHche Erregungen.
Diese letzteren scheinen besonders als auslösende Ursachen bei einer
schon vorbereiteten geringen psychischen Widerstandsfähigkeit von
Bedeutung zu sein. Nicht selten sieht man z. B. in der ersten Woclie
■des Puerperiums oder gar noch später die Störung an einen Schreck.
CoUapsdelirium.
257
einen Streit sich anschliessen. Die Prädispositiou spielt hier schon
eine etwas grössere Eolle, als etwa bei den Tergiftangsdelirien, so-
wol die ererbte, wie namentlich auch die durch cln-onische Leiden,
schlechte Ernährung, Kummer und widrige Lebensschicksale erwor-
bene. Einmal konnte icli die Entwickelung des Collapsdeliriums in
der Anstalt bei einer bis dahin nur leicht melancholisch verstimmten
Erau direct verfolgen, als sie eine schwere Liüuenza mit nach-
folgender Sprach- und Schlucklähmung durchmachte; bei einem
periodisch maniakalischen Kranken beobachtete ich ein typisches
CoUapsdelirium während der Eeconvalescenz von einem schweren
Erysipel.
Die Dauer des Collapsdeliriums beträgt iu der Eegel nur einige
Tage, bisweilen nur Stunden, selten mehr, als ein bis zwei "Wochen.
Die Besonnenheit tritt fast immer plötzlich wieder hervor, oft nach
einem längeren Schlafe. Die Täuschungen sind verschwunden; die
Kranken beginnen sich zu orientken, erkennen die Umgebung, haben
Krankheitseinsicht, nehmen Nahrung zu sich. Die Erinnerung
an die überstandene Psychose ist meist eiue gan^ unklare; seltener
sind die Patienten im Stande, einzelne deliriöse Erlebnisse zusammen-
hängend zu erzählen. Die motorischen Eeizerscheinungen verlieren
sich in der Regel langsam. Eine leichte Ideenflucht, grosse Labilität
der meist gehobenen Stimmung, querulirendes, missvergnügtes Wesen,
Neigung zu vielem Sprechen und eine gewisse Unruhe können noch
wochenlang die Wiederkehr der Besonnenheit überdauern. Meist
tritt übrigens allmählich sehr deutlich das Grefühl grosser körperlicher
Hinfälligkeit und Schwäche hervor, welches dem Kranken die Bett-
ruhe sehr erwünscht scheinen lässt. Der Appetit wird gewöhnlich
enorm, und das Körpergewicht steigt fast ebenso schnell, wie es
gesunken war, zeitweise täglich 1 — 2 Pfund, im G-anzen nicht selten
um 20, 30, ja 40 Pfund innerhalb weniger Wochen.
In schwereren Fällen führt der Zustand deHriöser Yerworrenheit
direct in ein kürzeres oder längeres Stadium acuten Schwachsiuns
über. Die Erregung verliert sich, aber die Kranken werden nicht
klar, sondern stumpf, theilnahmlos, unfähig zu den einfachsten psych-
ischen Aufgaben. Bisweilen dauert diese Schwäche nur einige Tage
oder Wochen, bisweilen aber auch Monate. Hier kann sich dann
eine sehr langsame Reconvalescenz oder seltener sogar der Ausgang
in dauernden Blödsinn herausstellen. Der anfänglichen Erregbarkeits-
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Aufl. 17
258
II. Die acuten Erschöpfungszustände.
Steigerung folgt also die mehr oder weniger tiefgreifende fnnctionelle
Lahmung.
Abgesehen von der letztgenannten Yerlaufsart, die man a po-
tiori wol mit mehr Recht dem Krankheitsbilde der acuten Demenz
zurechnet, ist der Ausgang des Collapsdehriums regelmässig ein
günstiger, wenn es gelingt, die Ki-anten am Leben zu erhalten. Die
Gefahr eines körperlichen Zusammenbruches ist allerdings wegen
des elenden Zustandes der Kranken oft eine recht gi-osse, nament-
lich wenn etwa das ursächliche Leiden noch besondere Compli-
cationen nach sich zieht. Dennoch hat man bei dem schnellen Ver-
laufe der Psychose selbst in anscheiuend ganz verzweifelten Fällen bis-
weilen die Genugthuung, plötzliche, überraschende, günstige Wen-
dungen zu sehen. So konnte ich vor nicht sehr langer Zeit einen
jungen Menschen geheilt entlassen, der wenige Wochen früher
während eines Collapsdeliriums nach Gelenkrheumatismus, Endokar-
ditis und Chorea mit Eiweiss im Harn, mächtigem Decubitus, einer
Temperatur- von 33,8 <» und im Zustande schwerster therapeutischer
Morphiumvergiftung fast moribund in die Klinik aufgenommen
wurde.
Die Diagnose des Collapsdehiiums ist namentlich füi" die Be-
handlung von Wichtigkeit. Sie stützt sich in erster Linie auf die
ätiologischen Yerhältnisse, den Ernährungszustand und die plötzliche
Entstehung der Psychose, kann aber auch aus dem psychischen
Yerhalten mit grosser Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden. Die
Yerwin-theit und Desorientirtheit der Kranken, sowie ihre Sinnes-
täuschungen lassen in erster Linie Yerwechselimgen mit epileptischen
Dämmerzuständen oder dem Delirium ü-emens möglich erscheinen.
Yon beiden Formen unterscheidet sich das Collapsdeliriimi deutlich
durch die charakteristische Ideenflucht und den elementaren, nicht,
wie dort, durch Yorstellungen oder Angstaffecte motivirten Bewe-
gungsdrang. Dagegen begegnen w episodisch in der Dementia pa-
ralytica deliriösen Aufregungszuständen, die nur unter Berück-
sichtigung des ganzen bisherigen Ki-ankheitsverlaufes oder der
■freilich oft unsicheren, eigenartig paralytischen S}Tnptome (geistige
Schwäche, absurde Grössen- oder Kleinlieitsideen, nervöse Störungen)
vom Collapsdelirium zu unterscheiden sind. Der Nachweis länger
zurückgehender Prodromalerscheinungen und das Fehlen einer
eingreifenden äusseren Schädlichkeit sprechen für Paralyse. Yiel-
Collapsdeliriuui.
259
leicht handelt es sicli hier einfach imi die Entwickelimg eines dem
Collapsdelirium ganz analogen Vorganges aus inneren Ursachen in
dem invaliden Hii-n des Paralytikers.
Der weitere Yerlaiif entscheidet natürlich die Frage früher oder
später, wenn nicht der Tod die Beobachtung abschneidet. Es ist
daher erklärlich, dass man bisweilen die schwereren Formen des
Collapsdeliriums mit gewissen tödtlich verlaufenden Fällen des para-
lytischen Deliriums als besondere Kranklieit unter dem Namen des
„Delirium acutum" zusammengefasst hat, der sogar bestimmte ana-
tomische Veränderungen (Hirnhyperaenüe, Oedem, AusAvanderung von
weissen und selbst rothen Blutkörperchen in die Lymphräume des
Hirns) zu Grunde liegen sollen. Ich habe mich von der selbstän-
digen Berechtigung dieser Krankheitsform bisher nicht überzeugen
können. Gegenüber der nahe verwandten Amentia endlich kommt
hauptsächlich die acutere Ent\vickelung, die Heftigkeit der gesanunten
körperlichen und psychischen Krankheitserscheinungen, das Fehlen
deutlicher Eemissionen, wie der rasche Verlauf des Collapsdeliriums
iü Beti-acht
Die Beh andlung dieser Psychose hat ungemein wichtige und
zugleich dankbare Aufgaben zu erfüllen; es giebt keine Geistes-
störung, bei welcher das Können des Arztes so entscheidend in das
Schicksal des Kranken einzugreifen vermag. Selbstverständlich ge-
hören derartige Patienten so schnell wie mögKch auf die "Wach-
abtheilung einer Irrenanstalt. Hier siud hauptsächlich zwei Indi-
cationen zu erfüllen; es güt, die Kräfte des Kranken zu erhalten
und womöglich zu heben, andererseits ihn vor Verletzungen und
Schädigungen durch die eigene Unruhe oder durch seine Umgebung
zu schützen. Das Letztere geschieht durch dauernde Specialüber-
wachung im Bett, die meist ohne erhebHche Schwierigkeit durch-
führbar ist, in ganz besonderen Fällen unter Benutzung eines
Polsterzimmers. Das erstere Ziel wird angestrebt durch Sorge füi-
Schlaf und Ernährimg. Sehr werthvoU sind hier verlängerte warme
Bäder, cüe ich bei einzelnen Kjanken fast den ganzen Tag hin-
durch fortgesetzt habe. Meist tiitt sehr bald eine gewisse Beruhigung
ein; die Kranken bleiben dann gern im Bad und fangen häujBg an,
reichlich Nahrung zu sich zu nehmen. EinAvickelungen sind hie und
da nützlich, meist aber bei den widersti'ebenden Kranken nur eine
besondere Form des mechanischen Zwanges und wegen der Be-
17*
260
II. Die acuten Erschöpfungszustände.
hinderung der Athmimg unter Umständen uiclit uiibedenMich. Die
Anwendung- von Sclilafmitteln möclite ich ganz allgemein wider-
ratiien, da ihre Gefahren hier zu ihrem Nutzen in keinem Yer-
hältnisse stehen. Nur der Alkohol in ki'äftigeren Dosen ist sehr am
Platze; er bringt Ruhe, oft raschen Sclilaf und wird ausgezeiclinet
vertragen. Bei sehr grosser Schwäche habe ich auch starken Kaffee
und Campher vorübergehend angewendet.
Die Nahrungsaufnahme erfordert sehr sorgfältige Berücksichtigung.
Häufiges Anbieten, Auswahl nahrhafter Speisen, besonders flüssiger
oder breiiger (Milch, Cognac mit Ei und Zucker, Fleischbrühe mit
zerhacktem Fleisch), kann hier viel leisten. Ln Nothfalle muss zur
Ernährung durch die Sonde gegriffen werden, bei der man den Alkohol
nicht vergesse. Nicht selten schlafen die Kranken nach einer solchen
Fütterung sofort ein. "Wo die Sonde aus irgend einem Grunde (Magen-
blutung, Erbrechen) nicht vertragen wird oder wo die hochgradige
Erschöpfung sehr rasches, energisches Eingreifen erfordert, zögere man
nicht, zur Kochsalzinfusion zu schreiten. Rasche Aufhellung des
Bewusstseins und spontane Aufnahme von Nahrung ist die gewöhn-
liche, freilich zunächst nur vorübergehende Wirkung, die nach Be-
darf dui'ch Wiederholung der Massregel erneuert werden kann und
ohne Zweifel geeignet ist, die Erhaltung des Lebens und damit die
Wiederherstellung der Gesundheit in hervon-agendem Masse zu
unterstützen. Sobald die volle Besonnenheit zurückgekehrt ist, hat
die Behandlung niu- die Aufgabe, von dem noch sehr empfindlichen
Reconvalescenten alle äusseren Schädlichkeiten, namentlich gemüth-
liche Erregungen, fernzuhalten, bis das frühere körperliche und
psychische Gleichgewicht vollkonnnen erreicht ist. Massgebend für
die Beurtheüung der Genesung ist dabei in erster Linie die Wieder-
erlangung des normalen gleichmässigen Körpergewichts.
B. Die acute Verwirrtlieit (Ameutia).*)
Unter dem Namen der Verwirrtheit (Amentia) hat M'eynert
einen Sjmptomencomplex beschrieben, der hauptsächlich dui'ch das
Auftreten einer leichteren oder tieferen Bewusstseinstrübimg mit
*),Meynert, Jahrb. f. Psychiatrie, 1881; Klinische Vorlesungen über Psy-
chiatrie, p. 33s8.; Mayser, AUgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, JJJI, 1; Wille,
Archiv f. Psychiatrie, XIX, 2.
Acute Verwirrtheit.
261
mannichfachen Eeizerscheinimgen auf sensoriscliem imcl motorischem
Gebiete gekerLnzeicbnet ist. In Folge einer wesentlich sjnnptomati-
scben Auffassiuig des Krankheitsbildes finden sich in demselben eine
Eeihe Ton Zuständen vereinigt, die meiner Ueberzeugung nach dm-ch-
aus von einander tmterschieden werden sollten, ausser dem soeben
beschriebenen Collapsdeliriran z. B. gewisse epileptische imd perio-
cüsche Geistesstörungen. Es scheint mir daher zweckmässiger, die
Bezeichnung der Amentia mu- für den eigentlichen Kern der Mey-
nertscben Beobachtungen festzuhalten, für diejenigen Fälle, bei welchen
sich in Folge einer greifbaren äusseren Schädlichkeit acut
ein Zustand traumhafter Yerworrenheit und illusionärer
oder hallucinatorischer Yerfälschung der Wahrnehmung
entwickelt, der bei günstigem Yerlaufe filihestens nach 2 — 3 Mo-
naten zur Genesimg führt. In gewissem Sinne können wir diese
Krankheitsgruppe geradezu als ein proti-ahirtes CoUapsdelirium be-
zeichnen.
Den Beginn der Ki-ankheit bilden gewöhnlich Sclilaflosigkeit und
innere Um-uhe. Die Kranken fühlen sich beängstigt, aufgeregt, haben
Todesahnungen, können ihre Gedanken nicht mehr recht sammebi
und klagen über Benonunenheit und Yerwirrtheit im Kopfe. Im
Laufe weniger Tage steigert sich die Störung rasch bis zu völliger
Unfähigkeit, sich in der Umgebung und in den Ereignissen zm-echt-
zufinden. Alles erscheint phantastisch verändert; die Personen wer-
den verkannt; vereinzelte oder zahlreichere Hallucinationen stellen
sich auf verschiedenen Sinnesgebieten ein, um ebenso, wie die ver-
fälschten wirklichen Eindrücke, zu tramnhaft verworrenen, wider-
spruchsvollen Wahnideen verarbeitet zu werden. Die Kranken sehen
Gesichter in der Luft, den ewigen Juden, den Teufel im Ofen, flie-
gende Yögel, wilde Thiere unter dem Bett, zwei Gehängte am Fenster;
sie hören Yorwürfe, Drohungen, Yerheissungen. Man ruft sie; es
wird ein Lied gesungen, „als ob es keinen Gott mehr gäbe". Alles ist
todt zu Hause; die Gralsritter sind verbrannt, der Stanunbaum henim-
gedreht, die Himmelsleiter zerbrochen; eine Schlacht ist gesclilagen
durch ihre Schuld; das Gottesgericht wird abgehalten. Es giebt An-
fechtungen in der Luft mit Spiegeln und Magnetismus, Yerschwör-
imgen, Schlangen und Geister; der Teufel kommt in dreierlei Gestalt.
Sie fürchten todtgeschossen, gesotten und gebraten, im Keller hin-
gerichtet zu werden, da sie „der schrecklichste aller Drachen" sind;
262
II. Die acuten Erschöpfungszustände.
der TodteiiAvagen fährt scbon di'aussen. In eiiizebien Fällen über-
wiegen Grrössenideen: die Kranken sind Prinzen, verkehren geschlecht-
lich mit Königinnen, verfügen über zahllose Sclilösser, unerniessliclie
Keichthünier, producii-en die herrlichsten Kunstwerke, sind imsterb-
Uch, „der stärkste der Hellenen". Die Auffassung der wirklichen
Umgebimg ist stets eine sehr unvollkommene. Die Kranken wissen
nicht, wo sie sich befinden, verkennen die Personen, meist ohne jede
Kücksiclit auf die Aehnlichkeit, halten aber an den einmal gemachten
falschen Bezeichnungen oft längere Zeit hindurch fest.
Dabei ist die Aufmerksamkeit der Kranken aui die Umgebung
gelichtet; sie bemerken, was um sie herum vorgeht, beachten oft ein-
zelne Namen oder Eigenthümlichkeiten ihi-er Mitpatienten in über-
raschender Weise. Sehr häufig gelingt es gerade hier, durch vor-
gehaltene Gegenstände, G-eberden u. s. w. den Gredankengang der
lii'anken in bestinmite Eichtung zu lenken. Um so auffallender ist
aber hie und da die Unfähigkeit, auch nur die einfachsten Vorgänge
harmlos aufzufassen und deren Bedeutung zu verstehen. In solchen
FäUen erscheint Alles falsch, verwechselt, verdreht. Der Kranke wii-d
mit falschen Thermometern gemessen; es sind „falsche Zeitungen",
die man ihm giebt; es ist „immer Alles anders"; er ist an einen
„ganz verkehrten Ort" gerathen; er „gehört gar nicht hierher", „ist
gar nicht der Kichtige" und weiss nicht, „was das AUes bedeuten
soU". Die aUtäghchsten Dinge gewinnen auf diese Weise für ihn
den Anschein des Käthselhaften, Unverständlichen und Unheimlichen.
Es werden immer so die Thüi-en auf- und zugemacht; da wii'd ein
Packet auf den Tisch gelegt, und dann nickt Einer nüt dem Kopfe;
bald heisst es so, bald heisst es so; da sind mit einem Mal so viele
Frauen; warmn stellen die sich AUe so? Dabei äussert sich gewöhn-
lich ein deutliches Gefühl dieser Unfähigkeit, zu verstehen; der Ki-anke
klagt, dass er nicht recht denken könne, dass man ihn „ganz ii-re"
mache, wünscht sich lebhaft fort, damit er endlich aus dieser Ver-
wkrung herauskomme.
Diese letzteren Fälle, in denen die eigentlichen Siimestäusclnmgen
gänzhch hinter der schweren Auffassungsstörung zui'ückti'eten, sind
es, die ich früher als „asthenische Yerwirrtlieit" der hallucinatorischen
Form gegenübergestellt habe. Die weitere Erfahrung hat mir in-
dessen gezeigt, dass Andeutiingen der gescliilderten Störimg auch bei
lebhaften Hallucinationen häufig beobachtet werden, imd dass die
Acute Verwirrtheit.
263
beiden Krankheitsbilder einander ätiologisch und klinisch nahe genug
stehen, um praktisch unter gemeinsamer Bezeichnung zusanimenge-
fasst Averden zu können.
Die Stimmung ist in der Amentia eine sehr versclüedene. Bis-
weilen überwiegt dauernd die freudige Gehobenheit, häufiger eine
gewisse Depression. Fast immer findet sich ein deutlicher Wechsel
des Zustandes; km-ze Episoden unmotivirter Heiterkeit mit sexueller
Erregung oder vorübergehende zornige Gereiztheit ent^vickeln sich
auf eiuer Grimdlage leichten ängstlichen Unbehagens. Zeitweise treten
auch Anzeichen von Apathie 'oder von heftigen imieren Spannungs-
zuständen mit explosiven Ausbrüchen, Schreien, "Weiaen, Schimpfen
hervor.
Im Benehmen der Kranken ist meist ein leichter Bewegimgs-
drang, TJm-uhe, Umherlaufen, Fortdrängen, Gewaltthätigkeiten, leb-
haftes Gesticuliren, ideenflüchtiges Schwatzen unverkennbar. Bei
anderen Kranken überwiegen motorische Hemmungen oder Lähm-
ungen. Sie versuchen vergebens, zu sprechen, klammern sich sinnlos
an ihre Umgebung an, widerstreben den einfachsten Massregeln, oder
sie stehen theilnahmlos, vor sich hiajammernd auf demselben Flecke,
lassen sich herumschieben und zeigen wächserne Biegsamkeit oder
gar Nachahmungsautomatie. Eegelmässig begegnet man auch hier
einem vielfachen Wechsel des Verhaltens; innerhalb ganz kurzer
Zeiten kann sich das äussere Büd vollständig verändern.
Der Schlaf der Ejanken ist stets sehr gestört; nicht selten pflegt
sich geradein der Nacht grössere Umaihe einzustellen. Die Nahrungs-
aufnahme ist von Anfang an gering, zum Theü wegen Appetitmangels,
theüs auch wegen ängstlichen Misstrauens der Kranken. Das Körper-
gewicht sinkt daher beträchthch; gleichwol bleibt der Ernähi-ungs-
zustand meist ein besserer, als im Collapsdelirium. Die Eeflexe sind
häufig erhöht, der Puls verlangsamt, die Temperaturen niedrig nor-
mal; hie und da besteht Unreinliclikeit.
Die volle Höhe der Erkrankimg Avird gewöhnlich schon inner-
halb der ersten zwei Wochen erreicht. Der weitere Yerlauf ist regel-
mässig ein eigenthümhch schwankender. Die sturmischen Erschein-
ungen lassen im Ganzen allmähüich nach; die Kranken werden etwas
zusammenhängender in Gedanken und Keden, um vorübergehend
doch wieder völlig desorientirt und sehr imruhig zu sein. Nicht
selten« kommt es auch zu kurzen, ganz tiefen Nachlässen der Eä'ank-
264
n. Die acuten Erschöpfungszustände.
heit, in denen für Stunden imd selbst Tage vollständige Klarheit,
Einsicht und Schwinden der Täuschungen beobachtet wird! Treten
solche Besserungen plötzlich und unTermittelt ein, so sind sie selten
von Bestand. Yielmehr pflegt sich die wirkliche Eeconvalescenz fast
immer unter ganz allmählichem Nachlassen aller Ki-ankheitserschein-
ungen zu entwickeln. Dabei verschwindet zuerst die VerwiiTtheit,
dann die Sinnestäuschungen, weit später erst die motorische Erregung
oder die psychische Depression. So konmit es, dass der IJebergang
in die Genesung sich in sehr verschiedener "Weise vollziehen kann.
In den leichtesten, weitaus häufigsten Eällen wird der Einüitt völliger
Besonnenheit noch kürzere Zeit, einige "Wochen etwa, überdauert von
einer einfachen, leicht manischen oder depressiven Verstimmung, die
sich je nachdem in Geschäftigkeit, vielem Sprechen, gehobenem Selbst-
gefühl oder in Misstrauen, Kleinmüthigkeit, Aengstlichkeit, vielfach
auch in grosser Eeizbarkeit äussert. Die Gesammtdauer der Exank-
heit pflegt hier 3 — 4 Monate nicht zu überschreiten.
Bei schwererer Störung werden die Kranken zwar auch nach
einigen Monaten klar, aber einzelne HaUucinationen dauern noch
längere Zeit hindm-ch fort, ohne indessen irgendwie wahnhaft ver-
arbeitet zu werden. Die Kranken hören Zurufe, vernehmen im
Zwitschern der Yögel, in entferntem Pfeifen gelegentlich eine Auf-
forderung oder Drohung. Ganz vorübergehend taucht auch wol ein-
mal eine absurde Grössen- oder Yerfolgungsidee auf, um sehr bald
wieder vergessen zu werden. Dabei besteht ein eigenthümlich quera-
lii'endes, reizbares, unzufriedenes "Wesen. Die Anstalt ist ein Ge-
fängniss, [in dem sich die Kranken widerrechtlich zurückgehalten
glauben. Sie sind gar nicht krank, auch nicht ki'ank gewesen, nm-
etwas aufgeregt über die schlechte Behandlung und das miserable
Essen. Alles ist nicht gut genug für sie; man soll sie nur- nach
Hause lassen; sie seien lange genug da. Ganz allmählich verlieren
sich auch diese Krankheitserscheinungen. Die Täuschungen und
"Wahnideen verschwinden ganz; die Kranken werden fi-eimdlicher,
zugänglicher imd etwas einsichtiger, aber in ihrer geringen gemüth-
lichen "Widerstandsfähigkeit und einem gewissen Mangel an. klai-em
Verständnisse ihrer Krankheit erkennt man deutlich, dass eine dauernde
psychische Schwäche zurückgeblieben ist. Bis zm- Ausbildimg eines
einigermassen stationären Zustandes können hier viele Monate, selbst
Jahr und Tag vergehen.
Acute VerwiiTÜieit.
265
Eine letzte Verlaiifsart endlich beobachten wir in einzelnen
weiteren Fällen. Anch hier verliert sich die Aufregung nach und
nach, aber die Ki'anken werden stumpf, theilnahnilos, gleichgültig; es
entwickelt sich ein kürzer oder länger dauerndes Stadium psychischer
Lähmung', meist mit Andeutungen von Sinnestäuschimgen. Dasselbe
fühi't dann nach einer Eeihe von Monaten zu einem ganz allmäh-
lichen Erwachen und voller Genesung, oder es geht dii'ect in un-
heilbai'en Schwachsinn leichteren oder schwereren Grades über. Der
Abschluss des Ki-ankheitsprocesses wird bei allen diesen Verlaufs-
arten dm-ch das Ansteigen des Körpergewichtes angezeigt, welches
im ersten EaUe sehr rasch, bei den letzterwähnten Ausgängen der
Kranklieit dagegen langsam und mit vielfachen Schwankungen zu er-
folgen pflegt.
Der Ausgang in Tod ist bei der Amentia nicht häufig; doch
kann bei sehr hochgradiger Erregung im Beginne oder unter be-
sondere ungünstigen somatischen Verhältnissen (Herzfehler, Sepsis)
ein CoUaps erfolgen; ausserdem bleibt natürlich die Selbstmordgefahr
immerhin zu beachten.
Unter den Ursachen der Amentia sind vor AUem erschöpfende
Einflüsse zu nennen, namentlich acute Ki-ankheiten, Lactafion, "Wochen-
bett, Blutverlust, auch schwere körperliche Ueberansti-engung, Nacht-
wachen. Im Ganzen hat es den Anschein, als ob hier gegenüber
dem CollapsdeUrium die langsamer einwirkenden, den Boden erst all-
mählich vorbereitenden Krankheitsm-sachen überwiegen, wie gerade
das Säugegeschäft oder unter den acuten Krankheiten Typhus und
Gelenkrheumatismus. Dementsprechend spielt auch die hereditäre
Veranlagung hier eine gxössere Rolle, als dort. Die letzte Gelegen-
heitsiu-sache zum Ausbmche der Störung giebt nicht selten eine hef-
tige Gemüthsbewegung (König Lear). "Wenn somit das CoUapsdelirium
als die rasche Gleichgewichtsschwankung eines bis dahin gesunden
Nei-vensystems unter dem Einflüsse plötzlicher übermächtiger Schäd-
lichkeiten erscheint, [so haben wir es hier vielleicht mit dem Aus-
brache einer schon länger vorbereiteten Katasti'ophe zu thun. Li dem
nicht mehr ganz rüstigen Centraiorgane genügt schliesslich ein ver-
hältnissmässig geringer Anstoss, um die Störung herbeizuführen.
Daraus würde sich einmal das weniger stüiTnische Auftreten der
Krankheit, die geringere Gefahr derselben, andererseits der lang-
samere, weniger elastische Ausgleich und der gelegentliche Ausgang
266
II. Die acuten Erscliöpfungßzustände.
in dauernde Scliwächezustände erklären. Ich sah in einem Falle von
Eeconvalescenz nach Lactationsmelancholie im immittelbaren An-
schlüsse an eine schwere gemüthüche Erschütter ang sich eiae Amentia
mit späterer Genesung entwickeln; andererseits beobachtete ich [bei
einer schwer hereditär belasteten Dame, die 25 Jahre früher schon
einmal erkranlt war, eine Amentia in Folge eines freudigen, aller-
dings mit sehr viel Um-uhe und Aufr-egung verbundenen Anlasses.
Im ersten Falle dürfte die erworbene, im zweiten die angeborene
Disposition das Eintreten der Grleichgewichtsstörung ermöglicht und zu-
gleich die rasche üeberwindung der irmnerhin geringfrigigen äusseren
Schädigung erschwert haben.
Die Diagnose der Amentia in Jder hier gegebenen Umgrenzung
wird unter Berücksichtigung der ätiologischen Verhältnisse, des acuten
Beginnes und der charakteristischen Symptome, Yerwirrtheit mit illu-
sionären oder haUucinatorischen Täuschungen, wechselnde Stimmung,
motorische Erregung mit Ideenflucht oder Andeutungen der Hemm-
ung und Lähmung, meist jkeine erlieblichen Schwierigkeiten .bieten.
Gegenüber dem Collapsdelirimn ist der langsamere, häufig remitti-
rende Yerlauf, gegenüber dem acuten haUucinatorischen "Wahnsinn
die völlige Desorientii'theit und Zusammenhangslosigkeit, in manchen
Fällen auch die phantastische Reichhaltigkeit der Täuschungen zu be-
rücksichtigen. [Gewisse periodische Psychosen gleichen symptomatisch
der Amentia so sehr, dass ich ohne Berücksichtigimg der Anarmiese
und Aetiologie im Einzelfalle 'die Differentialdiagnose bisher 'nicht
mit voUer Sicherheit zu stellen vermöchte.
Die Behandlung der Amentia kann erfolgreich nm- in der An-
stalt dm:chgeführt werden. Sie hat in der Hauptsache dieselben Auf-
gaben, wie diejenige des CoUapsdeliriums. Beruhigung wii-d in erster
Linie durch Bettiagerung, weiterMn durch verlängerte Bäder erreicht;
auch der Alkohol thut oft sehr gute Dienste. GelegentUche Gaben
von Hypnoticis (Brom, Trional, Paraldehyd) sind hier bei grosser, im-
besiegbarer Unruhe eher einmal gestattet. Die Ernähi-ung erfordert
sorgfältige Berücksichtigung. | Bei di-ohender Erschöpfrmg zögere man
nicht, zur Sonde zu greifen, um eine reichliche Nahrimgszufulu- zu
erreichen. Wenn der Magen gut ist, empfiehlt es sich geradezu, eine
gewisse Ueberernähriing anzustreben, die nicht selten Beruhigung
bringt. Wegen der grossen Neigung zu Rückfällen muss man hier
den Kranken in der Reconvalescenz besonders vorsichtig vor Schä-
1
Dementia acuta.
267
dig-ungen, namentlich zu frühzeitiger Entlassung hüten. Jedenfalls
ist ausser völliger, dauernder Rückkehr der Euhe, Klarheit und Ein-
sicht innner auch die "Wiedererreichung des normalen Köipergewichts
abzuAvarten, bei dem Drängen der Eä-anken bisweilen eine unange-
nehme, aber dm-chaus nothwendige Geduldsprobe.
C. Die Dementia acuta.
Unter der Bezeichnung der Dementia acuta, des heilbaren
Schwachsinns, hat man, namentlich im Verlaufe der letzten beiden
Jahi-zehnte, ein Ejankheitsbild abgegi'enzt, welches vor Allem dm"ch
die rasche Ausbildung einer tiefgreifenden Lähmung aller
höheren psvchischen Functionen gekennzeichnet wird; daneben
können noch gewisse elementare ßeizsjanptome bestehen. Je nach
der Ai't und Ausdehnung dieser letzteren lassen sich, wie es scheint,
zwei Hauptformen der Ki-ankheit auseinanderhalten, die zwar viel-
fach in einander übergehen^ dennoch aber in der Art ihrer Ent-
wickelung, wie in prognostischer Beziehung gewisse Uuterschiede
darbieten dürften.
Die erste dieser Formen, welche wir einstweilen als die mani-
sche Form der Dementia acuta bezeichnen wollen, beginnt in der
Eegel mit Schlaflosigkeit, gi-osser Eeizbarkeit, Unruhe;, zusammen-
hangslosem, ideenflüchtigem Eeden_, Bewegungsdrang, auch wol ein-
zelnen Sinnestäuschungen. Die Ei'anken können zunächst einige Tage
lang das Bild eines Collapsdeliiiums oder einer Amentia darbieten,
doch fällt bei genauerer Beti-achtung deutlich die grosse Gedanken-
armuth, die tiefe Yerworrenheit, die Wiederkehr derselben "Wen-
dungen und die völlige Unfähigkeit zui- Auffassung der einfachsten
Fragen oder Eindrücke auf.
Der Bewusstseinszustand scheint ein tief ti'aumartig geti'übter
zu sein. Die Umgebung wird weder erkannt, noch verkannt, so-
weit sich das aus dem ganz unsinnigen Benehmen der Kranken
scliliessen lässt. Bisweilen scheint ein dumpfes Gefühl der eigenen
Unfähigkeit vorhanden zu sein; ich erinnere mich an eine derartige
Patientin, die stundenlang in halb lustigem, halb weinerlichem Tone
schrie: Ich habe meinen Verstand verloren; ich will meinen Ver-
stand wieder haben! Ueber das Bestehen irgend Avelclier . "Wahn-
ideen lässt sich aus den völlig sinnlosen sprachlichen Aeusserungen
268
II. Die acuten Erschöpfungszustände.
der Kranken gar nichts entnehmen. Die Stimmung ist meist eine
gleichnmthige , selbst heitere, plötzlicher Umschlag in "Weinen oder
zornige Gereiztheit jedoch nicht selten. Der Gesichtsausdruck ist
blöde, stumpf, verständnisslos, das Handeln der Kranken ein durch-
aus läppisches, kindisches, triebartiges, ohne erkennbare psychische
Motivirung. Sie wühlen ihre Bettstücke durcheinander, ratschen am
Boden herum, kriechen unter die Betten, klatschen in die Hände,
machen grosse Sprünge, masturbiren, werden ganz plötzlich brutal,
gewaltthätig, klammern sich an ihre Umgebung an, leisten unver-
muthet verzweifelten Widerstand u. s. f.; dazwischen besteht nicht
selten zeitweise deutliche Katalepsie. Die körperliche Ernährung
der Kranken ist meist eine sehr schlechte; die Nahi'ungsaufnahme
stösst wegen ihrer Umaihe vielfach auf Schwierigkeiten, auch der
Schlaf ist sehr mangelhaft. Die Eeflexerregbarkeit fand ich ge-
wöhnlich erhöht.
Im weiteren Yerlaufe der Krankheit kann diese manische Er-
regung bei schwerem Darniederliegen der gesammten inteUectueUen
Functionen in allmählich abnehmender Stärke fortbestehen. Nach
und nach tritt dann Beruhigung ein, und nun erwacht der Kranke,
bisweilen inuerhalb weniger Tage, wie aus einer schweren Be-
täubung, findet sich in seiner Umgebung rasch zurecht, gewinnt
volles Yerständniss für seine Krankheit und tritt damit in die Re-
convalescenz ein, in welcher neben den Erscheinungen erhöhter
psychomotorischer Erregbarkeit auch diejenigen leichter Erschöpf-
barkeit gewöhnlich noch einige "Wochen hindurch deutlich nach-
weisbar sind. Bei dieser Yerlaufsart pflegt die Dauer der ganzen
Erkrankung 3 — 4 Monate nicht zu übersteigen; die Prognose ist
eine durchaus günstige.
In anderen Fällen sieht man die manische Erregung schon
nach einigen "Wochen schwinden, aber es kommt nun nicht sofort
zur Genesung, sondern der Eö-anke geräth ia eiaen Zustand völliger
psychischer Lähmung. Er vermag nichts zu verstehen, sich nicht
zu Orientiren, hegt gleichgültig und theilnahmlos im Bette, oder
steht in einer Ecke, ist ausser Stande, von selbst oder auf Fragen
irgend eia "Wort zu sprechen, muss angekleidet, auf den Abtritt ge-
führt, gewaschen, gefüttert werden, bleibt stehen, wohin man üni
schiebt. Nach und nach gewinnt das Gesicht einen vorständniss-
voUeren Ausdruck; man bemerkt bei eindringlicherem Zureden Er-
Dementia acuta.
269
röthen, leises Zucken um clie Munchvinkel. Der Ki-aiike beginnt
einfache Aufforderungen zu befolgen, und endlich erhält man auch
einmal auf leichte Fragen eine leise, zögernde, aber zutreffende
Antwort Meist kehi-t die Fähigkeit zu geordneter sprachlicher
Aeusserung erst wieder, nachdem die Besonnenheit und das Yer-
ständniss des Kranken für seine Umgebung in seinem geordneten
Benehmen schon längst Idar her^^orgetreten ist. Die weitere Eecon-
valescenz pflegt dann schnell und ohne Störung zur völligen Ge-
nesung zu führen. Die Erinnerung an die eigentliche Krank-
heitszeit ist hier, wie bei der vorigen Form, ganz unklar oder völlig
erloschen. Das Körpergewicht steigt regelmässig enorm, in
einem jüngst ^on mir beobachteten Falle um 47 Pfund in wenigen
Monaten.j
Die Daner der Erkrankung ist bei der zuletzt geschilderten
Yerlaufsart eine erheblich längere, dürfte 6 — 9 Monate, auch wol
noch mehr betragen. Die Prognose ist auch hier meist eine
günstige, doch ist der Uebergang in bleibenden Schwachsinn wol
nicht ausgeschlossen.
Bei der zweiten Hauptform der Dementia acuta, [die vielleicht
als stuporöse Form zu bezeichnen wäre, treten von Anfang an
die Erscheinungen der psychischen Hemmung und Lähmung stärker
in den Vordergrund. Selten entsteht die Ki-ankheit ganz plötzlich,
roit einem Schlage; meist geht vielmehr ein kurzes, höchstens einige
Wochen dauerndes Prodromalstadium voraus. Die Kranken werden
schlaflos, niedergeschlagen, ängstlich, klagen über Kopfschmerzen,
Unfähigkeit zu denken, verlieren den Appetit Sehr bald geht die
Orientirung verloren; die Personen werden verkannt, die Umgebung
nicht mehr verstanden. Die Kranken äussern Todesgedanken,
glauben sich in phantastischen Situationen, im Himmel, im Grabe,
am Nordpol. Einzelne Hallucinationen treten auf; sie sehen die
Mutter Gottes, goldene Engel fliegen, hören ihren Namen rufen; das
Essen stinkt.
Bei leichteren Graden der nun rasch sich ausbildenden geistigen
Lähmung ist der Kranke mit grösster Anstrengung vielleicht noch
im Stande, einfache Nachahmimgen und Urtheile zu vollziehen, em-
pfindet jedoch deutlich seine Unfähigkeit zu weiterreichenden Leist-
ungen, zusammenhängenden Aeusserungen oder Handlungen. Nicht
selten aber verliert er jeden Zusammenhang mit der AussenAvelt,
270
II. Die acuten Erschöpfungszustände.
versteht die an ihn gerichteten Fragen und Aufforderungen nicht
mehr, vermag schliesslich vielleicht die einfachsten Eindrücke nicht
aufzufassen oder zu verarbeiten, producirt auch selbst keinerlei
Wahnideen, ausser etwa einzelnen gelegentlichen Faseleien, dass
„Alles verbrannt", „etwas heruntergefallen" sei u. dergl. Eintönige
Gehörstäuschungen scheinen hie und da vorzukommen. Auch
hier besteht häufig ein gewisses Krankheitsgefühl, wie sich aus
Aeusserungen der Kranken über ihre Verwirrung und Geistes-
zerrüttung entnehmen lässt. Die Stimmung ist vorwiegend gleich-
gültig und theilnahmlos ; die Vorgänge in der Umgebung machen
auf sie nicht den geringsten Eindruck. Bisweilen aber, ohne er-
kennbaren Anlass, rollen ihnen die Thränen über die Wangen, um.
vielleicht schon im nächsten Augenblicke durch ein ausdrucksloses
Lachen abgelöst zu werden. Oder aber die stumme Indifferenz
wird unvermittelt durch eine bald vorübergehende Aufregung mit
expansiver Stimmung oder zornig verwirrtem Schimpfen, durch
einen plötzlichen Angstanfall, ja durch einen planlosen Selbstmord-
versuch unterbrochen. Die Gesichtszüge sind schlaff, ausdruckslos
oder auch starr, masken artig.
Sprachliche Aeusserungen fehlen oft lange Zeit hindurch ganz;
man sieht wol einzelne Anstrengungen zum Sprechen, aber sie
bleiben ohne Erfolg. Erst wenn man sich nach langem vergeb-
lichem Bemühen fortwendet, bringt der Kranke vielleicht ein ein-
zelnes, leises, unverständliches Wort hervor. In anderen Fällen
beobachtet man langsame, flüsternde, verwirrte Selbstgespräche. Viel-
fach lassen sich die Kranken schieben und lenken wie Automaten;
sie sitzen stumm und apathisch da und zeigen ausgeprägte wächserne
Biegsamkeit nebst den verwandten Erscheinungen der muskulären
Suggestibilität (Starre, stereotype Bewegungen). Oder aber sie
stehen tage- und wochenlang in derselben Ecke, an der Thür,
leisten aUen Eingriffen unsinnigen, verzweifelten Widerstand.
Auch bei diesen Kranken liegen die körperlichen Functionen
regelmässig schwer darnieder. Die Nahrungsaufnahme ist bei zeit-
weisem Widerstreben vielfach ungenügend, ebenso der Schlaf.
Freilich liegen die Kranken Nachts ruhig da, aber die genauere
Beobachtung lehrt, dass sie trotzdem wenig schlafen, oft viele
Stunden hindurch die Augen offen haben. Fast immer besteht voll-
ständige Unreinlichkeit , so dass hinsichtKch dieses Punktes sorg-
Dementia acuta.
271
fältige Pflege notliwendig wii-d. Die Hautempfindlichkeit, auch
gegen schmerzhafte Reize, erscheint stark herabgesetzt. Die Kranken
ertragen Hitze, Kälte, Verletzungen ohne nennenswerthe Reaction.
Die Geburt eines Kindes verlief bei einer derartigen Kranken so
schmerzlos, dass sie später gar nicht an dieselbe glauben wollte.
Auch in der Gleichgültigkeit, mit der unbequeme und auf die Dauer
schmerzhafte Stellungen der Glieder lange Zeit hindurch festgehalten
werden, zeigt sich die hochgradige Unempfindlichkeit der Kranken.
Das Körpergewicht sinkt stets sehr beträchtlich; die Temperatur
ist meist subnormal, die Athmung oberflächlich, der Puls klein
und verlangsamt; an den Extremitäten zeigen sich leicht Cyanose
und Oedeme als Anzeichen der Kreislaufstörungen. Die Menses
cessiren; die Pupillen sind weit, reagiren träge. Regelmässig be-
steht Obstipation, die bisweilen vorübergehend durch ausgiebige
Diarrhöen abgelöst wird.
Der weitere Verlauf dieser Fälle ist regelmässig ein sehr
schleppender. Der stuporöse Zustand pflegt sich immer über eine
Reihe von Monaten, selbst über Jahr und Tag zu erstrecken. Das
Erwachen geschieht ganz allmählich in der schon oben geschilderten
Weise. Häufig zeigen die Kranken ihren Mitpatienten oder dem
"Wartpersonal gegenüber schon die deutlichen Anfänge wieder-
kehrender geistiger Regsamkeit, wenn sie dem Arzte noch tief be-
nommen erscheinen. Auch ein Wechsel der Tage oder Tages-
zeiten (abendliche Besserung) in dieser Beziehung ist bisweilen er-
kennbar. Grosse Ermüdbarkeit, Yerwirrtwerden bei längeren Unter-
haltimgen oder beim Brief schreiben überdauert die Rückkehr der
Besonnenheit noch längere Zeit, häufig auch ein kindisch-klein-
müthiges oder läppisch-barockes Wesen.
In einer Anzahl von Fällen tritt unter starkem Ansteigen des
Körpergewichtes volle Genesung ein, anscheinend um so leichter, je
weniger tief die Benommenheit war. Nicht so sehr selten aber wird
die völlige Wiederherstellung der geistigen Gesundheit nicht erreicht.
Die Kranken gewinnen wol die Orientirung allmählich wieder, aber
es stellt sich heraus, dass trotz körperlicher Erholung die psychische
Leistungsfähigkeit eine dauernde Einbusse erlitten hat. Der Grad des
zurückbleibenden Schwachsinns ist ein sehr verschiedener. Bisweilen
dem Femerstehenden kaum auffallend und nur durch den Gegensatz zu
früheren Zeiten erkennbar,, kann er in anderen Fällen bis zur völligen
272
II. Die acuten Erschöpfungszustände.
Verblödung fortschreiten. Unfähig, neue Eindrücke zu assimiliren
und den Erwerb der Vergangenheit festzuhalten, gemüthsstumpf und
willensschwach, verfallen die Kranken unrettbar dem geistigen Tode.
Von körperlichen Gefahren droht gerade hier vielfach die Ent-
wickelung der Phthise.
Die häufigsten Ursachen der acuten Demenz sind schwere er-
schöpfende Einflüsse, das Puerperium, acute körperliche Krankheiten,
namentlich Typhus, Pocken, Kopfrose, anhaltende körperliche und
geistige Ueberanstrengung, heftige plötzliche Gremüthserschütterungen
(Schreck). Die erbliche Veranlagung zu Geistesstörungen scheint
keine sehr überwiegende Rolle zu spielen; dagegen macht es mir
den Eindruck, als ob Mitglieder phthisischer FamRien stärker ge-
fährdet seien. Ohne Zweifel ist die Krankheit häufiger im jugend-
lichen Alter, namentlich während und kurz nach der Pubertätszeit;
ich sah mehrere Fälle an übereitrige Vorbereitung zu Schul-
prüfungen sich anschliessen. Auch der Schwangerschaft dürfte eine
gewisse praedisponirende Bedeutung zukommen. Wie es scheint,
entwickelt sich die manische Form vorzugsweise nach acut ein-
wirkenden Schädlichkeiten, abgesehen vom Schreck, der, wie die
mehr chronischen Krankheitsursachen, häufiger die stuporöse Form
erzeugen dürfte.
Es ist demnach vielleicht am richtigsten, die Dementia acuta
einfach als einen noch über die Amentia hinausgehenden,
tiefer greifenden und darum langsamer sich wieder aus-
gleichenden Erschöpfungszustand aufzufassen. An SteUe der
dort noch vielfach überwiegenden Reizerscheinungen tritt hier mehr
und mehr auf dem ganzen Gebiete des psychischen Lebens die Läh-
mung. Daraus würde sich ungezwungen der Formenreichthum dieser
Kjankheitsgruppe erklären, da naturgemäss die verschiedenartigsten
Verbindungen der Reiz- und Lähmungssymptome auf den einzebien
psychischen Gebieten möglich sind. Das Collapsdeliriuni und die
manisch gefärbten Fälle der Amentia, wie der acuten Demenz zeigen
uns neben den überall vorhandenen motorischen Reizerscheinungen
schrittweise das Fortschreiten der Lähmung im Bereiche der übrigen
psychischen Functionen, während bei den stuporösen Formen auch
auf motorischem Gebiete von vorn herein die Lähmung überwiegt.
Das Vorhandensein der manischen Symptome deutet daher auf eine
geringere Intensität der Störung hin, und in der That sind derartige
Dementia acuta.
273
Fälle überall prognostisch günstiger. Sie sind es auch, die Avir be-
sonders bei der raschen Einwirkung äusserer Ursachen auf rüstige
Organisationen entstehen sehen, während die langwierigen, un-
günstigen Erkrankungen mit vorwiegender Lähmung häufiger auf
dem Boden einer erblich oder erworben prädisponirten, weniger
widerstandsfähigen Constitution zu erwachsen scheinen.
Als Grundlage der acuten Demenz haben wir bei der Aus-
gleichbarkeit aller Symptome wol zumeist functioneUe Störungen
anzusehen. Für gewisse Fälle indessen, namentlich für solche nach
Typhus und Variola, lässt sich die Annahme gröberer anato-
mischer Veränderungen in der Hirnrinde kaum von der Hand
weisen. Soviel die Untersuchung bisher gelehrt hat, sind es im
Typhus degenerative Vorgänge in den Ganglienzellen, analog den-
jenigen in anderen Geweben, welche hier vor allem eine Eolle
spielen düi-ften. Demgemäss verlaufen auch die Erkrankungen nach
Typhus verhältnissmässig oft ungünstig. Ich sah in einem der-
artigen Falle später sich noch regelrechte epileptische Krämpfe ent-
wickeln. Emminghaus hat es neuerdings wahrscheinlich gemacht,
dass auch sonst bei der acuten Demenz leichte Veränderungen an
den Nervenzellen, „trübe Schwellung" derselben, zur Ausbildung
kommen.
Die Unterscheidung der acuten Demenz von der Amentia
stützt sich hauptsächlich auf die schwere Beeinträchtigung der intel-
lectuellen Vorgänge. Da es sich nach unseren obigen Ausführungen
in beiden Erankheitsprocessen schliesslich wol nur um graduelle
Unterschiede handelt, so muss es, was die Erfahrung bestätigt, Ueber-
gangsformen geben. Wichtig ist dabei eigentlich auch nicht die
Diagnose, sondern die Prognose, für deren Beurtheilung die nöthigen
Anhaltspunkte bereits gegeben vrarden. Vor der Verwechslung roit
der Katatonie schützt che Berücksichtigimg der Aetiologie, des körper-
üchen Zustandes und das Pehlen des charakteristischen Gesammtbildes
trotz vorübergehenden Auftretens einzelner Symptome. Namentlich
andauernder Negativismus und bizarre Stereotypie in Haltung und
Bewegung spricht für jene Krankheit. Gegenüber der MelanchoHa
attonita ist der Mangel eines einheithchen, stark hervortretenden de-
pressiven Affectes zu berücksichtigen. Der Uebergang der heilbaren
in die unheilbare Demenz wird durch starkes Ansteigen des Körper-
gewichtes ohne gleichzeitige psychische Besserung angekündigt.
Kraepolin, Psychiatrie. 4. Aull. 18
274
II. Die acuten Erschöpfungszustände.
Die Behandlung des acuten Schwachsinns besteht der Haupt-
sache" nach in einer sorgfältigen körperlichen Pflege zur Er-
haltung der Kräfte und Beseitigung der bestehenden Erschöpfung.
Bettruhe, Bäder, Sorge für Keinlichkeit, kräftige Ernährung (Milch,
Kefir, Eier, Fleisch), gute Luft, warme Kleidung, eventuell auch die
Darreichung medicamentöser Koborantien sind hier in erster Linie
am Platze. Bei stärkerer Erregung passen namentlich hydropathische
Proceduren, eventuell der Alkohol; vor dem häufigeren Gebrauche
von Schlafmitteln ist zu warnen. Den Eeconvalescenten hat man
mit müheloser Arbeit zu beschäftigen und auf lange Zeit hinaus
vor geistiger Ueberanstrengung und gemüthlichen Erregungen zu
schützen; gleichzeitig wird eine gut überwachte, nie bis zur Er-
müdung fortgesetzte körperliche Gymnastik, Spaziergänge, Garten-
arbeit, Turnen, eventuell auch Massage und allgemeine Faradisation,
vortreffliche Dienste zu leisten im Stande sein.
III. Die Manie.*)
Mit dem ISTamen der Manie bezeichnen wir eia Kjanldieitsbild
dessen wesentliclie Züge Ideenfliicht, rascher Stimmungs-
wechsel bei vorwiegend expansiver Verstimmung und ein
elementarer Bewegungsdrang darstellen. Wir begegTien zwar
dieser ungemein häufigen Symptomenverbindung gelegentlich neben
anderen Erscheinungen im Verlaufe der verschiedensten &ankheits-
processe; was die Manie auszeichnet, ist der Umstand, dass hier
jene Störungen wälnend der ganzen Dauer der Psychose rein und
ohne fremde Begleitsymptome die Situation beherrschen.
Die Entwickelung der Psychose pflegt bei allen schwereren
und länger dauernden Erki-ankungen mit einem mehr oder weniger
ausgesprochenen Stadium depressiver Verstünmung zu beginnen,
dessen Dauer von einigen Tagen bis zu mehreren Wochen und
selbst Monaten schwanken kann. Der Kranke wird still, in sich
gekehrt, weint häufig immotivirt, klagt über Kopfdruck, Verdauungs-
störungen, Beängstigung, äussert einzehae vage hypochondrische oder
Versündigimgsideen, schläft unruhig, hat schlechten Appetit und
kommt rasch in seiner Ernährung herimter. Nach einigen Wochen
scheint sich, bisweilen ziemlich plötzlich, eine Besserung des Zu-
standes einzustellen. Die depressive Verstimmung lässt nach; die
Wahnideen treten zurück; der Kranke fühlt sich befreit und er-
leichtert, wird lebhafter und zugänglicher. Sehr bald indessen, meist
schon nach wenigen Tagen, wird es klar, dass dieser Umschmmg
immer weiter über das Mass des Normalen hinausgreift. Der Kranke
fängt an, viel zu erzählen, verliert aber dabei inmierfort den Faden;
seine Stimmung ist ausserordentlich gehoben und schlägt bei kleinen
*) Mendel, Die Manie, eine Monographie. 1881.
18*
276
in. Die Manie.
Anlässen leicht in heftige Zornausbrüche xim. Zugleich entvnckelt
sich eine wachsende motorische Unruhe, die sich in unaufhörlichem
Schwatzen, Singen, Schreien, in lebhaften Gesticulationen, Tanzen,
Herumlaufen, in allerlei unsinnigen und zwecklosen Handlungen,
nicht selten auch in rücksichtslos gewaltsamem Yorgehen gegen seine
lebende und leblose Umgebung Luft macht. Auf diese Weise
Avird der Kranke sehr bald derartig social unmöglich, dass seine
schleunigste Yerbringung in einen sicheren G-ewahrsam zu erfolgen
pflegt, häufig unter Benutzung mechanischer Beschränkung.
Mit der wachsenden Unruhe geht rasch die Fähigkeit zur Auswahl
und Ordnung der äusseren Eindrücke verloren. Der Xranke fasst
Einzelheiten zuaächst ohne erkennbare Störung auf, aber seine Auf-
merksamkeit schweift sofort auf andere Gegenstände ab, die sich ihm
zufällig darbieten. Er ist gänzlich ausser Stande, einem verwickelten
Yorgange zu folgen, einen längeren Satz zu lesen, sich auf irgend eine
geistige Aufgabe für einige Zeit zu concentriren. Darum bleibt das
Bild seiner Umgebung für ihn auch dann unzusammenhängend und
lückenhaft, wenn eine schwerere Beeinträchtigung des "Wahrnehmungs-
vorganges an sich gar nicht vorhanden ist. Es muss indessen als
sehr wahrscheinlich betrachtet werden, dass die centrale Erregbar-
keit für äussere Eindrücke in der Manie meistens bis zu einem ge-
wissen Grade herabgesetzt ist. Dafür spricht namentlich die ganz
aufPallende Unempfindlichkeit der Kranken gegen Hitze und Kälte,
Hunger und Durst, Schmerzen \md Yerletzungen. Sie setzen sich
stundenlang dem glühendsten Sonnenbrande aus, entkleiden sich bei
Wintertemperatur, vergessen Essen und Trinken, reissen schonungs-
los die Yerbände von ihren Wunden und misshandeln ihre kranken
Körperteile oder gebrochenen Glieder, ohne auch nur ein Zeichen
des Unbehagens zu äussern.
Zeitweise auf der Höhe der Erkrankung kann es direct zur Aus-
bildung einer Bewusstseinstrübung mit undeutlicher und vers-
chwommener Auffassung der äusseren Eindrücke kommen, welche dem
Auftreten illusionärer Yerfälschimgen der Wahi-nehmung Yorschub
leistet. Namentlich Personenverkennungen sind dann nicht selten;
die Aerzte oder Mitpatienten werden mit den Namen von Angehörigen
oder Nachbarn begrüsst. Ausgeprägtere Sinnestäuschungen gehören
nicht zum Krankheitsbilde der Manie. Nui- ganz vorübergehend
scheinen einzelne Trugwahrnelunungen mehr unbestimmter Art
Psychische Symptome.
277
Torziikommeu; an der "Wand ist ein Todtenkopf erscliienen, der
Teufel hat zum Fenster hereingesehen u. Aehnl.
Sehr auffallend sind regelmässig die Störungen des Yorstellungs-
verlauf es. Die Kranken vermögen nicht, einen bestimmten Gedanken-
gang systematisch zu verfolgen, sondern sie schweifen immerfort ab,
springen von einer Vorstellungsreihe auf eine ganz andere über,
um auch diese sofort wieder fallen zu lassen. Eine beliebige Frage
wird zunächst vielleicht ganz richtig beantwortet, aber es knüpfen
sich daran eine Menge von Nebenbemerkungen, die nur in sehr
lockerem oder bald in gar keinem Zusammenhange mit dem Aus-
gangspunkte mehr stehen. In Folge dieser fortwährenden Ein-
schiebsel und Zwischenfälle sind die Kranken ganz ausser Stande, etwa
allein irgend ein verwickelteres Erlebniss zu erzählen, wenn man sie
nicht durch consequente Unterbrechungen und Zwischenfragen immer
von Neuem auf den angefangenen Weg zurückführt. Der Yorstellungs-
verlauf wird somit nicht mehr, wie beim Gesunden, durch eine Ge-
sammtvorstellung beherrscht, welche zur Zeit nur eine bestimmte
Eichtung der Gedankenverknüpfung zulässt und alle nebensächlichen
und zufälligen Associationen hemmt. Mcht die von dem ganzen
Zusammenhange geforderten, sondern die durch allgemeine Denk-
gewohnheiten begünstigten Vorstellungen gewinnen daher in jedem
Augenblicke die Oberhand. Zunächst kommt es dabei zum Ab-
schweifen von einem Gegenstande auf andere ähnliche oder ge-
wohnheitsmässig damit verbundene, ohne Kücksicht auf das Ziel des
ursprüngüchen Gedankenganges. Weiterhin beginnen sich dann
jene zahlreichen stereotypen Vorstellungsverbindungen hier aufzu-
drängen, die in unseren sprachlichen Aeussenmgen eine so grosse
Eolle spielen, die Wortzusammensetzungen, Eeimniscenzen, Citate,
stehenden Eedensarten. EncUich aber, und zwar um so mehr, je
stärker die Störung, drängen sich die reinen Klangassociationen in
den Vordergrund, bei denen jede Spur einer inneren Beziehung der
Vorstellungen verschwunden ist, die Wortanklänge, Eeime, Allite-
rationen. Natürlich geht unter diesen Umständen die Ordnimg und
der Zusammenhang des Denkens vollständig verloren; es entsteht
jenes Symptom, Avelches wir als ideenflüchtige Verwirrtheit
bezeichnen.
Mcht selten werden bei maniakalischen Kranken äussere Ein-
drücke, namentlich solche aufdringlicher Art, in das ideenflüchtige
278
III. Die Manie.
Peroriren hineinverflochten und können dann den Anstoss zu einer
neuen Wendung des zerfahrenen Gedankenganges geben. Man
hat darin bisweilen das Anzeichen einer gesteigerten Empfänglich-
keit für äussere Wahrnehmungen erblickt. In Wirklichkeit zeigt
sich indessen, dass die Kranken keineswegs genau beobachten,
sich vielmehr um die Vorgänge in ihrer Umgebung oft sehr wenig
kümmern. Aber Avenn sie etwas bemerken, so geschieht das nicht
ohne Eeaction; sie fassen ihre Wahrnehmung sogleich in. Worte
und sprechen sie aus, weil die Auslösimg von Bewegungsvorgängen
bei ihnen erleichtert ist.
Die Stimmung zeigt ia der Manie meist den expansiven Cha-
rakter, allein sie ist durchaus keiae gleichmässige, sondern es findet
sich regelmässig ein häufiger und rascher Wechsel der Affecte, ia
dem allerdings die Lustgefühle meist immer wieder die Oberhand
zu gewinnen und so dem ganzen Ki'ankheitsbilde seine eigenthüm-
liche Färbung zu verleihen pflegen. Mitten m den Paroxysmus der
ausgelassensten Heiterkeit schiebt sich plötzlich jäh und unvermittelt
eiue vorübergehende traurige Yerstimmung mit heftigem Weinen und
Jammern, die [ebenso rasch, wie sie hereinbrach, A\deder in den
früheren Zustand übergeht. Oder aber es kommt zu episodischen
lebhaften Ausbrüchen von zorniger Gereiztheit mit der Neigung zu
Angriffen auf die Umgebung, 'die das ganze Ki-ankheitsbüd so sehr
beherrschen können, dass man bisweilen eine eigene Perm der Zorn-
tobsucht (Mania furiosa) aufgesteUt hat. Diese Erfahrungen
sprechen mit Sicherheit dafür, dass der Manie nicht sowol ein be-
stimmter Affect, als vielmehr die gemüthliche Erregbarkeit über-
haupt, die Leichtigkeit und Easchheit eigenthünilich ist, mit der
die verschiedensten Affecte anwachsen und wieder verschwinden.
Yielfach ist der Wechsel derselben durch äussere Anlässe, die Be-
handlung des Kranken Seitens der Umgebimg, zufällig auftauchende
Vorstellungen, bisweilen vielleicht auch durch den Contrast bedingt
In engstem Zusammenhange mit 'der Lebhaftigkeit der gemüth-
Hchen Keactionen scheint das interessante Symptom der manischen
motorischen Erregung, des Bewegungsdranges zu stehen. Derselbe
ist nicht durch bestimmte Vorstellungen oder Affecte begründet,
sondern muss ohne Zweifel als Ausdruck einer elementaren Störung,
einer hochgradigen Erleichterung der centralen Auslösung von Be-
wegungen angesehen werden. Dafür spricht der Umstand, dass der
Psychische Symptome.
279
Bewegirngsclraiig ein ganz allgemeiner ist. Es sind nicht einzelne
zielbewusste Handlungen, welche der Kranke ausführt; die moto-
rischen Aeusserungen lassen überhaupt keine bestinmite- Richtung
erkennen, sondern der ganze muskuläre Apparat arbeitet dauernd
unter einem gewissen Hochdruck, wobei in buntem Wechsel bald
dieses, bald jenes Gebiet stärker in Thätigkeit versetzt wird. Der
Kjranke ist in steter Unruhe, kann nicht lange still sitzen oder liegen,
geht herum, springt, läuft, tanzt. Er gesticulirt lebhaft, klatscht in
die Hände, schneidet Grimmassen, schmiert und wischt am Boden,
an den "Wänden und Fenstern herum, poltert und trommelt an der
Thür, entkleidet sich, zerschlitzt seinen Anzug in schmale Streifen,
um sie hundertfältig verknotet und verschlungen zu phantastischen
Drapinmgen zu benutzen. Ebenso werden von dem Kranken auch
andere irgend erreichbare Gegenstände gern in ihre Bestandtheile zer-
legt, um aus ihnen neue Gebilde verschiedener Art zusammenzusetzen,
wie es ihm just die productive Phantasie des Augen,blicks ein-
giebt. Was ihm in die Hände fällt, Steine, Holzstückchen, Glas-
scherben, Nägel sammelt er auf, um mit ihrer Hülfe Wände,
Möbel, Fenster zu zerkratzen und kreuz imd quer mit Malereien
oder Schriftzeichen zu bedecken. Nicht selten dienen ihm dabei
in Ennangelung anderer Materialien auch die eigenen Secrete
und Excremente. Die sexuelle En-egung macht sich in unfläthigen
Reden und in schamlosem Onaniren, beim weiblichen Geschlechte
auch im Auflösen der Haare, Salben mit Speichel, häufigem Aus-
spucken, Schimpfen in obscönen Ausdrücken, namentlich geschlecht-
lichen Yerdächtigungen des Wartpersonals Luft.
Trotz der hochgradigsten motorischen Erregning, die bisweüen
Wochen, ja viele Monate lang mit geringen Unterbrechungen in
vollster Intensität fortdauert, fehlt dem Kranken das Ermüdungs-
gefühl vollständig. Er ist nicht matt und abgespannt; der Verbraucli
der Muskelsubstanz erzeugt keine Unlustempfindung, zum Theü wegen
der früher besprochenen Abstumpfung seiner Empfindlichkeit, nament-
lich aber wegen der Leichtigkeit, mit welcher die centrale Auslösimg
seiner Bewegungen von Statten geht. Bei ihm genügt schon der
leiseste Impuls, den Anstoss zu ausgiebigen motorischen Reactionen zu
geben, während der Gesunde zur Erzielung des gleichen Erfolges eines
unvergleichlich gi"össeren Aufwandes von centi'aler Arbeitsleistung be-
dürfen würde. Danmi muss auch eine Simulation dieses Zustandes
280
in. Die Manie.
nothwendig nach sehr kurzer Zeit an der ünmögliclikeit scheitern,
das lähmende Ermüdungsgefühl durch die blosse Willensanstrengung
zu überwinden. Mit der gesteigerten centralen motorischen Erreg-
barkeit hiiiigt endlich auch die explosionsartige Heftigkeit und Kück-
sichtslosigkeit der Bewegungen- zusammen, welche zu der verbreiteten
imrichtigen Anschammg geführt hat, dass die Ki-anken über ausser-
gewöhnliche Körperkräfte yerfügen.
In den sprachlichen Aeusserimgen des Kranken macht?sich die
Ideenflucht und der Bewegungsdrang gleichzeitig geltend. Er kann
nicht lange still schweigen, perorirt mit '^erhobener Stimme, siagt,
johlt, pfeift, reiht zusammenhangslose Sätze, Worte, Silben aneinander,
vom pathetisch-Declamatorischen ganz unvermittelt ins humoristisch-
Gremüthliche, Drohende, Weinerliche verfallend oder plötzlich in aus-
gelassenem Lachen endigend. [Die eigenthümliche Abgebrochenheit
und Zerfahrenheit dieser ideenflüchtigen Aeusserungen in Yerbindung
mit dem deutlichen Eededrange können den Anschein erwecken, als
ob der Yorstellungsverlauf in der Manie ein beschleunigter sei.
Man nimmt gewöhnlich an, dass jene Zusamanenhangslosigkeit wesent-
lich durch das Ausfallen ganzer Gedankenreihen bedingt sei
welche schneller auf einander folgen, als die Sprachorgane sie aus-
drücken können. Genauere Untersuchungen haben mir gezeigt, dass
diese Ansicht zum mindesten nicht beweisbar, wahrscheinlich sogar
falsch ist.
Es gelingt nämlich ohne Schwierigkeit, auch beim gesunden
Menschen deutliche Erscheinungen von Ideenflucht zu erzeugen, z. B.
durch kleine Alkoholgaben oder noch stärker durch hochgradige Ermü-
dung. Hier lässt sich zeigen, dass keineswegs unausgesprochene associa-
tive Bindeglieder zwischen den ganz sinnlos aneinander geknüpften
Vorstellimgen bestehen, und dass der Associationsvorgang thatsächlich
sehr beträchtlich verlangsamt ist. Erleichtert und beschleunigt ist da-
gegen in beiden|Fällen die Umsetzung centraler Erregungszustände
in Sprachbewegungen. ^Es scheint daher, dass Ideenflucht dann zu
Stande konnnen kann, wenn der geistige Inhalt unserer Gedanken
zurücktritt gegenüber jenen motorischen Elementen, welche aus den
sprachlichen Benennungen entspringen. So wenigstens würde sich
auch das Fehlen einer inhaltlichen Einheit* der Gedankeni-eihen er-
klären, während der äussere, lautliehe Zusammenhang oft so sehr in
den Vordergrund tritt. Der Ideenflüchtige schwatzt nach dieser Auf-
Verlauf.
281
fassimg- imsinnig, weil die Verbindung der Vorstellungen nach ihren
inneren Beziehungen bei ihm erschwert ist, Aveil seine Associationen
wesentlich dui'ch die motorischen SprachvorsteUungen beeinfLusst
werden, und weil der erste beste in ihm aufsteigende Impuls ihm
sogleich zum "Worte wird. Thatsäcliüch lehrt auch die Beobachtung
maniakalischer ICranker, dass sie keineswegs ideenreich, sondern nur
wortreich sind und sich häufig ganz stereotyp wiederholen. Sie
schwatzen zwar viel, laut, erregt imd selbstbewusst, aber der Inhalt ihrer
Reden ist sein- dürftig und spricht entschieden nicht für eine erhöhte
Productivität. Auch die gelegentlichen "Witze solcher Kranker sind fast
immer einfache Wortspiele, wie sie eben durch die Neigung zu Klang-
associationen hervorgerufen werden. Ebensowenig haben euphorische
Aeusserungen der Kranken über ihi-e erhöhte geistige Leistungsfähig-
keit irgendwelche Beweiskraft; wir wissen, dass sich die (gleiche
Selbsttäuschung, wahrscheinlich wegen der erleichterten Auslösung
von SprachvorsteUungen, im Alkoholrausche entwickelt, obgleich sich
hier die objective Verlangsamung der Gredankenarbeit deutlich aus-
messen lässt.
Der Schlaf ist in der Manie stets sehr erheblich gestört. Bei
grösserer Intensität der Erregung besteht sogar oft völlige, höchstens
auf eine oder wenige Stimden unterbrochene Schlaflosigkeit, ' die zu-
weilen Wochen, selbst Monate lang fortdauert. Der Appetit ist ge-
steigert, bisweilen sehr bedeutend, aber die stete Um-uhe lässt den
Kranken oft nicht zur regelmässigen Nahnmgsaufnahme kommen.
Die Ernährung pflegt im Lauf e der Erkrankung schnell zu sinken;
das Körpergewicht zeigt immer eine beträchtliche Abnahme. Die
Temperatur ist normal oder hochnormal, besonders bei anhaltender
Muskelerregung, der Puls etwas beschleunigt. Im Harn fand Mendel
eiae auffallende Abnahme des Phosphorsäuregehaltes.
Der Verlauf der Manie ist ein so verscliiedener, dass es schwer
fällt, an die Einheitlichkeit des bisher geltenden Krankheitsbildes zu
glauben. Ich möchte mich indessen hier darauf beschi-änken,
leichtere und schwerere Fonnen auseinanderzuhalten. Die ersteren
entwickeln sich rasch, nach sehr kurzem oder ohne jedes Vor-
läuferstadium. Wähi-end die Krankheitserscheinungen einige Wochen
oder Monate in massiger Stärke fortdauern, bleiben die Kranken
orientirt über ihre Umgebung und sind jederzeit zu fixii-en. Ge-
legentliche Grössenideen oder Personenverkennungen werden höch-
282
in. Die Manie.
stens in der Art übemiüthiger Scherze vorgebracht. Immer zeigt der
Zustand grosse Schwankungen, vorübergehende heftigere Erregungs-
ansbrüche oder auch ganz plötzliche Nachlässe, die jedoch niemals
von Dauer sind. Die endgültige Beruhigung stellt sich stets ganz
allmählich ein, indem die Kemissionen tiefer und länger ausfallen.
Der Eintritt in die volle Genesung vollzieht sich durch ein Stadium
leicht manischer Verstimmung hindurch, in welchem namentlich die
gemüthliche Keizbarkeit und das gehobene Selbstgefühl noch wochen-
lang deutlich zu sein pflegen, nachdem die Ideenflucht und der
eigentliche Bewegungsdrang völlig geschminden [sind. Diese Fälle
bilden in der Praxis bei Weitem die Mehrzahl; sie fühi-en sänunt-
lich zur Heilung und haben der Manie den Kuf der prognostisch
günstigsten Psychose verschafft.
Die schwere Form der Manie beginnt regelmässig mit einer
ausgesprochenen, länger dauernden Ipsychischen Depression, aus
welcher der Umschlag in der früher geschilderten "Weise erfolgt
Die Krankheitserscheinungen sind äusserst stürnüsche, Desorientirt-
heit, Personenverkennung, hochgradige ideenflüchtige YerwiiTtheit,
triebartige motorische Erregung, fast völlige Schlaflosigkeit, rapides
Sinken der Ernährung.
Mit geringen Schwankungen können diese Symptome 'in un-
verminderter Heftigkeit 8—10 Monate, selbst über ein Jahr andauern,
so dass es kaum begreiflich erscheint, wie der Organismus eine so
gewaltige Erschütterung erträgt. Endlich macht sich ganz langsam
eine Abnahme der Erscheinungen ^ geltend, immer mit vielfachen
plötzlichen Rückfällen. Die Kranken werden klarer über ihre Um-
gebung, zugänglicher, aufmerksamer, gerathen aber sehr leicht wieder
in die frühere Ideenflucht hinein. Regelmässig tritt nun eine deut-
liche psychische Schwäche hervor, Urtheilslosigkeit, Gleichgültigkeit,
Energielosigkeit. Mit ;den letzten Andeutimgen der überstandenen
Krankheit, der Zusanmienhangslosigkeit, der Euphorie, dem unver-
mittelten Stimmungswechsel, der Geschwätzigkeit und der Unruhe
setzen sich jene Erscheinungen der Schwäche zu einem eigenthüm-
nchen Krankheitsbüde zusammen, Avelches man mit dem Namen der
„Moria" bezeichnet hat. Wo dagegen die manischen Symptome sich
rascher verlieren, pflegt der Zustand grosse Aehnlichkeit mit dem-
jenigen der leichteren Grade acuter Demenz darzubieten. Die Kranken
sind äusserst leicht ermüdbar, unfähig zu jeder geistigen oder körper-
Ausgänge.
283
liehen Ansti-engimg, meist deprimirt, besorgt wegen ihrer Zukunft^
einsilbig, schwerfällig, unentschlossen.
Im Aveiteren Verlaufe können sich diese Anzeichen der Er-
schöpfung unter beü'ächtlichem Steigen des Körpergewichtes nach und
nach wieder verlieren, so dass nach etwa einjähriger Dauer der Krank-
heit der normale Gleichgewichtszustand wieder erreicht ist. Pi-eilich
bleibt nicht selten eine geringe Abnahme der geistigen Leistimgsfähig-
keit und namentlich der gemütlilichen "Widerstandsfähigkeit (Reiz-
barkeit, Bestimmbarkeit) dauernd zurück. Sehl- häufig indessen wird
bei dieser Form der Ausgang in relative oder volle Genesung über-
haupt nicht erreicht. Das Bild der Moria bleibt hier stationär, ein
Zeichen dafür, dass der Organismus nicht mehi' im Stande ist, die
manischen Störungen wieder auszugleichen. Dabei gewinnt dasselbe
immer deutlicher die Züge des unheilbaren Schwächezustandes, der
geistigen Invalidität. Die IdeenQncht wii-d zum verworrenen Gefasel,
die Affecte werden oberflächlich mit schwachsinnig euphorischer Fär-
bung, der Bewegungsdrang ermässigt sich zu läppischem Grimmas-
siren. So kann es durch Jahre und Jahrzehnte gleichmässig
fortbestehen; meist aber lässt sich ein allniähliches Yerblassen der
manischen Andeutungen und eine langsame Zunahme des geistigen
Verfalles beobachten.
Der Ausgang in Tod ist bei der Manie nicht sehr häufig. Der-
selbe kann dui'ch verschiedenartige iutercurrente Erki-ankimgen,
durch einfache Erschöpfung (Collaps), durch Verletzungen und durch
FettemboHen der Lungen in Folge von ausgedehnten Zerquetschungen
oder Vereiterungen des UnterhautzeUgewebes herbeigeführt werden.
Sehr fetti'eiche Individuen mit ungenügender Leistimgsfähigkeit des-
Herzmuskels sind in der schweren Form der Manie entschieden ge-
fährdet.
Die pathologische Anatomie der Manie hat bisher keinerlei
gesicherte und constante Befunde aufzuweisen. Auf die häufig be-
richtete Hyperaemie des Hirns imd seiner Häute ist wegen der be-
kannten FelilerqueUen, welche der Beurtheüung von Blutfüllungen
an der Leiche anhaften, kein zu grosses Gewicht zu legen. Die
Theorie der Manie entbehrt daher fiir jetzt wenigstens leider gänz-
lich der somatischen Gnmdlage. Aus dem Ki-ankheitsbilde selber
lässt sich nur schHessen, dass die centrale motorische Erregbarkeit
beträchtlich erhöht ist, während die sensorische und intellectueUe
284
III. Die Manie.
Leistungsfähigkeit in höherem oder geringerem Grade herabgesetzt
erscheint. Das wäre ein ähnliches Yerhalten, wie im ersten Stadium
eines leichten Alkoholrausches. In der That werden die Kranken
von Xlnkundigen zunächst nicht selten für angetrunken gehalten.
Allerdings ist die motorische Erregung stets eine relativ 'sehr viel
stärkere, als in der Alkoholwirkung.
Die Manie hat das eigenthümliche Schicksal gehabt, früher für
eine der häufigsten, jetzt aber für eine der seltensten psycliischen
Erkrankungen gehalten zu werden. Der Grund dafür liegt natürlich in
einer verschieden weiten Abgrenzung des Krankheitsbildes. Ur-
sprünglich umfasste dasselbe noch das Collapsdelirium, einen grossen
Theil der Amentia, die manische Eorm des acuten Schwachsinnes, ja
auch wol manche Aufregungszustände der Paralytiker, deren recht-
zeitige Erkennung oft schwierig ist. Nach sorgfältiger Ausscheidung
aller dieser ihrem "Wesen nach sicher andersartigen Krankheitsformen
schrumpft das Gebiet der Manie erheblich zusammen. Aber auch jetzt
noch lehrt uns die fortschreitende klinische Erfahrung, dass viele an-
scheinend klassische Fälle von Manie nur die Einleitung oder einen
Abschnitt des periodischen oder circulären Irreseins bilden. Nament-
lich die sehr rasch und günstig verlaufenden Erkrankungen sind in
dieser Beziehung verdächtig. Ich möchte sagen, dass man bei einer
reinen Manie jenseits der dreissiger Jahre fast immer von einem
früheren ähnlichen Anfall zu Ende des zweiten oder zu Anfang des
dritten Decenniums hören wird, auch wenn es sich nicht um eine perio-
dische oder circuläre Psychose im engeren Sinne handelt. Wer über-
haupt manisch erkrankt, thut dies fast immer im jugendlichen Lebens-
alter; sehr häufig, wenn auch nicht regelmässig, ^äederholt sich dann
die Ki-ankheit noch das eine oder andere Mal. Man könnte daher
nicht ohne eine gewisse Berechtigung die paradoxe Behauptung auf-
stellen, dass die Manie ihrem Wesen nach eine periodische Er-
krankung ist, und dass die seltenen, ganz isolirten Anfälle in ähn-
lichem Sinne als rudimentär betiachtet werden müssten, wie wir
etwa das Delirium transitorium als die einmalige explosive Aeusser-
ung einer epileptischen Constitution betrachten können. Dafür würde
■der -Umstand sprechen, dass {bei solchen Ki-aiiken nicht selten das
gelegentliche Vorkormnen ganz leichter, rasch verlaufender manischer
Aufregungszustände berichtet wird, deren ki-ankhafte Natur erst durch
den Einti-itt des schwereren Anfalls klar wird.
Diagnose.
285
Mit dieser Auffassimg würde weiterhin die Beobachtung in einer
gewissen Uebereinstimmung stehen, dass die Ursachen der Manie
wesentlich constitutionelle zu sein scheinen. Zwar werden eine
Keihe von Einflüssen, unter denen acute Erkrankungen, das Puer-
perium, lebhafte Affecte und Excesse besonders zu nennen sind, für
den Ausbruch der Krankheit im einzelnen Falle verantwortlich ge-
macht, aber sehr häufig ist ein äusserer Anlass überhaupt nicht
nachweisbar. Die erbliche oder erworbene Praedisposition dürfte
hier schon die Hauptrolle spielen, {während jene Schädlichkeiten
mehr als auslösende Ursachen zu betrachten sind. Dafür spricht
einerseits die Thatsache, dass bei Schwachsinnigen vorübergehende
manische En-egamgszustände ungemein häufig sind. Sodann aber ist
auch die Eegelmässigkeit beachtensAverth, mit welcher der erste oder
nach Umständen einzige Anfall von Manie sich gerade zwischen dem
18. und 25. Lebensjahre einzustellen pflegt. Dieses Alter ist es, in
welchem nach Ausweis der Criminalpsychologie schon beim gesunden
Menschen die Neigung zu rücksichtslosen, unbesonnenen Gewaltthätig-
keiten und selbstgefälliger Grrosssprecherei am stärksten entwickelt ist.
Die schweren Formen der Manie zeigen eine entschiedene Yer-
wandtschaft mit der Amentia, so dass man geneigt sein könnte, auch
von dieser Seite her das Grebiet der Krankheit einzuschi'änken. Die
Yerschiedenheit der ätiologischen Yerhältnisse indessen, das aus-
geprägte Yorstadium der Manie, das gänzliche Zurücktreten der
HaUucinationen bei starker Ausbildung der besonderen manischen
Symptome, die lange, unveränderte Fortdauer des gleichen Zustandes,
die ungünstigere Prognose, die Yerschiedenheit der Endstadien sind
Anhaltspunkte, welche einstweilen praktisch und theoretisch die Ab-
trennung der beiden Krankheitsbilder von einander gestatten. Die
paralytischen Aufregungszustände zeigen oft den manischen Sym-
ptomencomplex in vorzüglicher Ausbildung; in diagnostischer Be-
ziehung kommt das lange Yorbereitungsstadium der Paralytiker, der
Nachweis nervöser Symptome, insbesondere von Sprach- oder Pupülen-
störungen, das Auftieten absurder Grössenideen, endlich auch etwas
das Lebensalter und das Geschlecht der Kranken in Betracht. Das
Auftreten manischer Erscheinungen bei einem Manne zwischen 30
und 50 Jahren muss immer den starken Yerdacht der Paralyse er-
wecken, wenn nicht etwa vor längeren Jahren ein ähnlicher Anfall
vorausgegangen ist.
286
III. Die Manie.
Die Behandlung der Manie hat vor Allem die Abhaltung
•äusserer Eeize, dann aber die Herabsetzung der psycliischen Erreg-
barkeit ins Auge zu fassen. Zu diesem Zwecke ist die Ueberfiihi-ung
des ohnedies sehr störenden Kranken in die Anstalt dringend ge-
boten. Oft genügt schon diese Massregel, um alsbald einen Nach-
lass der Krankheitserscheinungen herbeizuführen. In der Anstalt
ist vor Allem ein Yersuch mit der Bettlagerung unter dauernder
TJeberwachung zu machen, deren Durcbführung besonders bei sehr-
.schwachen und blutleeren Kranken dringend angezeigt ist (eventuell
Bettstellen mit hohen, gepolsterten Seitenwänden oder niediiges
Lager auf dem init Matratzen bedeckten Boden). Kräftige, sehr
A\äder streb ende und gewaltthätige Kranke wird man nicht immer im
Bett halten können ; man gebe ihnen viel Eaum und bringe sie so
lange wie möglich ins Freie, in den Garten; Isolirungen sollten nur
ganz vorübergehend, im äussersten ISTothfalle und zum Schutze
anderer Kranker vorgenommen und stets baldigst durch andere
Massregeln ersetzt Averden. Namentlich sind verlängerte laue
oder warme Bäder zu empfehlen, die man passend mit kalter
Berieselung oder Eisumschlägen auf den Kopf verbindet. "Wo
Hirnanaemie und die Grefahr eiaes Collapses besteht, zieht man
Stimulanti en, namentlich Alkoholica (Grog, Glühwein, Champagner),
auch Campher, Moschus, Aether, letztere allerdings mit meist nur
ganz momentanem Erfolge, in Anwendung; gleichzeitige Herz-
schwäche indicir-t vorsichtige Gaben von Digitalis. Gegen die sexuelle
Erregung wird Bromkalium empfohlen. Bei andauernder hoch-
gradiger Schlaflosigkeit wird man die Hypnotica, eventuell das
Hyoscin, nicht immer umgehen können. Füi- die Behandlung sehr-
schleppend verlaufender Manien ist neuerdings von Jelly das Opium
empfohlen worden.
Yen der grössten "Wichtigkeit ist natürlich auch hier Avieder
die Sorge für eine ausreichende Ernährung und für die hygie-
nischen Bedürfnisse. Auf der Höhe der Erregimg gestattet die
Terwirrtheit oft den Kranken keine regelmässige Aufnahme copiöser
Mahlzeiten, doch gelingt es mit Geduld und immer wiederholtem
Anbieten, AbAvarten des günstigen Augenblickes, stets zum Ziele zu
kommen; besonders ist auch auf die genügende Zufuhi" von Flüssig-
keiten zu achten. Gute Erwärmung der Zimmer Avird Avegen der
Neigung zur Entkleidung nothwendig. Gegen die "CJnreinlichkeit
Behandlung.
287
schützt nm- eine sorgfältige Beaufsichtigung, die einerseits dem
Kranken recht oft Grelegenheit zur- Befiiedigung seiner Bedüi'fnisse
verschafft, andererseits aber jede geschehene Verunreinigung sofort
beseitigt. Yernachlässigning dieser Eegeln erzeugt, namentlich bei
länger dauernder IsoHrung, leicht die höchst unangenehme und oft
schwer zu beseitigende Unsitte des Schnüerens.
Die Bekämpfung der Erschöpfungszustände folgt den schon
fi-üher ausführlich mitgetheilten Kegeln. In der Eeconvalescenz
ist es hauptsächlich wieder die Beschaffung einer passenden Be-
schäftigung, welche zui- Ablenkung der noch bestehenden psychischen
Erregimg, wie zur Am-egiing der neu erwachenden gesunden Inter-
essen dient. Vermeidung von Excessen und gemüthlichen Erschüt-
terungen ist von besonderer Wichtigkeit, da diese Momente die
häufigsten Gelegenheitsm-sachen von Rückfällen darstellen.
Die psychische Behandlung des Tobsüchtigen hat vor Allem
auf die Eeizbarkeit desselben Rücksicht zu nehmen. Ruhige Ereund-
lichkeit, im geeigneten Momente mehr scherzhaftes Eingehen auf
die heitere Stimmung desselben, vorsichtiges, geduldiges Laviren
erleichtern den Verkehr imgemein und machen oft den in un-
geschickten Händen recht gefährlichen und vnderspenstigen Eä-anken
lenksam und gutmüthig. In der Reconvalescenz ist es häufig sehi-
schwer, eine vorzeitige Entlassung des noch, immer erregten, sich
gesund fühlenden Kranken zu verhüten, besonders wenn auch die
Angehörigen desselben keine klare Einsicht in den krankhaften Zu-
stand besitzen. Sind die häuslichen Verhältnisse günstig, so kann
hier eher ein Entlassungsversuch gewagt werden, als bei den selbst-
mordsüchtigen Melancholikern; im andern Falle muss man hoffen,
das unbeiri'te Hinausschieben dieses Termins nach erfolgter völliger
Genesung Seitens des Ki-anken selbst gebilligt zu sehen.
IV. Die Melancliolie .*)
Den gemeinsamen Grundzug derjenigen psychischen Erkrank-
ungen, welche wir unter der Bezeichnung der Melancholie zu-
sammenfassen, bildet die Beherrschung des Stimmungshintergrundes
durch einen depressiven Affect, aus welchem ganz einfache Ver-
sündigungs-, bisweilen auch Verfolgungsideen ohne ausgeprägtere
Sinnestäuschungen hervorwachsen. Die besondere Färbung und
Ausbildung jenes Affectes gestattet die Unterscheidung mehrerer
verschiedener Formen, von denen die Melancholia simplex, die
Melancholia activa und die Melancholia attonita am besten
charakterisirt erscheinen.
A. Melancholia simplex.
Die einfachsten Formen der Melancholie sind gekennzeichnet
durch die allmähliche Entwickelung einer unmotivirten
traurigen Verstimmung mit vagen Beängstigungen und
Selbstvorwürfen bei völliger Besonnenheit und [ausge-
prägtem Krankheitsgefühl. Die Psychose beginnt vielfach mit
unbestimmten körperlichen Beschwerden, Kopfschmerzen, Schlaf-
losigkeit, Appetitiosigkeit, Mattigkeit, Herzklopfen, Ohi-ensausen.
Trübe Gedanken steigen auf, Sorgen, Befürchtungen, Zweifel, Selbst-
quälereien. Die Kranken fühlen sich 'elend, niedergeschlagen, un-
lustig, gerathen leicht ins "Weinen, haben keine rechte Freude melu-,
verlieren das Interesse an ihrer Thätigkeit, vernachlässigen ihre Ob-
liegenheiten und vermögen nur mit grösster Mühe vorübergehend
*) V. Krafft-Ebing, Die Melancholie. 1874; ;Voisin, de [la melan-
colie. 1881.
Melautiholia simplex.
289
die Neigung zu düsteren Grübeleien znrtickzudr.ängen. Freilich
schieben sich regeknässig dazwischen einzelne freiere Tage oder
Stunden ein, in denen die Depression nachlässt und die gesunden
Kegungen wieder die Oberhand gewinnen, aber diese Kemissionen
werden allmählich seltener und weniger tief. Wenn es daher im
Anfange noch den Eindruck machen konnte, als ob die Verstimmung
durch irgendwelche* Gelegenheitsursachen erzeugt werde, so stellt
sich nach und nach ihre krankhafte Entstehungsweise aus inneren
Zuständen immer klarer heraus. „Die Angst war grösser, als die
Noth", sagte mir eine Kranke, bei welcher sich der melancholische
Affect zunächst anscheinend an Geldsorgen angeknüpft hatte. Der
Kranke fühlt, dass sich eine tiefgreifende Veränderung in seinem
Seelenleben vollzieht, über deren Natur er sich vergeblich Eechen-
schaft zu geben sucht. Das Körpergewicht nimmt während dieser
Zeit rasch ab.
Ihre volle Ausbildung erreicht die Psychose ganz allmählich,
nach einer längeren Eeihe von "Wochen, häufig erst nach 2 bis
3 Monaten. Der Kranke bleibt dabei vollkommen klar, geordnet,
orientiert über seine Umgebung. Mehr und mehr aber gewonnen
die „schweren Gedanken" Macht über ihn, deren Mittelpunkt regel-
mässig das eigene Ich bildet. In erster Linie pflegt sich auf diese
Weise eine peinliche Selbstkritik zu entwickeln. An. die ein-
zelnen Handlungen und Aeusserungen des Kranken knüpft sich
der quälende Zweifel, ob es auch richtig war, so zu thun oder zu
sprechen, ob er nicht dieses habe unterlassen, jenes anders
machen sollen. Alles „reut ihn" sofort; die gleichgültigsten Ke dens-
arten scheinen ihm nachträglich eine erschreckende Tragweite zu
gewinnen, da er in ihnen überall die klaren Zeichen seiner
Thorheit, ja seiner Schlechtigkeit und Verworfenheit wieder-
findet.
Bis zu einem gewissen Grade erinnert diese Erscheinung an
die auch dem normalen depressiven Affecte eigenthümüche Neigung
zu selbstquälerischen Grübeleien, aber die Massenhaftigkeit, mit
welcher hier die „Schuldgedanken" das Thun und Treiben des
Kranken fortwährend begleiten, sowie die Spitzfindigkeit ihrer Be-
gründung lässt die pathologische Natur der Störung deutlich genug
erkennen. Der Kranke ist verzweifelt darüber, dass er immerfort
wieder neue Fehler begeht, AEes verkehrt macht, so dumm daher-
Kraepelin, Psychiatria. 4. Anfl. 19
290
IV. Die Melancholie.
redet, alle Leute beleidigt und kränkt. Auch seine Vergangenheit
erscheint ihm in der gleichen Beleuchtung. Mit tiefer Beschämung
erkennt er, dass sein ganzes Leben eine einzige Kette von Yer-
kehrtheiten und PflichtFergessenheiten gewesen ist. Er ist ein
Scheusal, mit Bosheit angefüllt, hat eimnal einen Bettler unfreund-
lich abgewiesen, bei einer Erkrankung nicht rechtzeitig den Arzt
gerufen, den Tod eines Angehörigen dui'ch mangelhafte Pflege ver-
schuldet, unrichtige Aussagen gemacht. Jemanden beim Kauf über-
vortheilt, im Amte nicht seine volle Kraft eingesetzt. Im Beginne
der Krankheit hat er gelogen, übertrieben, seinen Zustand schlechter
hingestellt, als er war, sich verstellt, den Arzt und seine Angehörigen
hintergangen, sich nicht genug „zusammengenommen"; sonst wäre
Alles ganz anders gekommen. Häufig spielen die Selbstanklagen
in das religiöse Gebiet hinüber. Der Kranke kann nicht mehr so
beten wie früher, hat den Glauben verloren, nicht mit der nöthigen
Energie gegen Zweifel angekämpft, die Kirche nicht fleissig besucht,
nicht genug Lichter geopfert.
Die ünsinnigkeit und Grundlosigkeit dieser immer neu auf-
tauchenden Selbstbeschuldigungen liegt meistens klar am Tage;
seltener bedarf es einer genaueren Nachfrage, um die besondere
melancholische Auffassung der Sachlage zu erkennen. In ganz ver-
einzelten Fällen endlich liegen auch wirkliche ernstere Verschuld-
ungen zu Grunde, mit denen sich der Kranke in gesunden Tagen
längst abgefunden hatte, die aber nun von Neuem drohend in seiner
Erinnerung auftauchen, wie die Geister der Ermordeten in der
bangen Stunde der Entscheidung vor König Richard HI.
Die tiefe Ueberzeugung von der eigenen Schlechtigkeit macht
es dem Kranken selbstverständlich, dass er für Andere ein Gegen-
stand des Absehens und der Verachtung ist. Jedermann muss ilm
verdammen, und er merkt auch bald, dass man ihn anders be-
handelt, als früher, dass die Freundlichkeit, mit der man ihm ent-
gegenkommt, eine erzwungene, unnatürliche, oder dass sie durch
das grossherzige, aber schlecht verdiente Mitleid mit seinem Elend
motivirt ist. Es ist ihm peinlich, auf die Strasse, unter Menschen
zu gehen, weü er Niemandem mein- unter die Augen treten kann
und überall stummen, wenn auch maskirten Vorwürfen begegnet.
Seine Gegemvart schon ist eine Beleidigung für die Umgebung.
Er ist zu viel da, gehört nicht daher, sollte fort, ist Allen ein Dom
Melaneliolia simplex.
291
im Auge. Die Anderen uiissbilligen seine Anwesenheit, kömien ilm
gar nicht mehi' unter sich dulden.
An das bisher gezeichnete Bild des Yersündigungswahns, der
in stärkerer oder schwächerer Ausprägung ungemein charakteristisch
für die einfache Melancholie ist, schliessen sich nicht selten noch
andere depressive Vorstellungskreise an, die nach verschiedenen
Eichtungen hin entwickelt sein können. Entweder handelt es sich
lun die Befürchtung schwerer Strafen, die sich gemssermassen als
Folgerung aus dem Schuldbemisstsein ergiebt. Der Kranke ist so
stindhaft und verworfen, dass ihni Gott nicht mehr verzeihen kann;
er wird verdammt werden, in die HöUe kommen. Da er seine An-
gehörigen ins Unglück gebracht hat, wird man ihn vor Gericht
stellen, ihm den Process machen, üm einkerkern, hinrichten. Die
Leute stehen schon draussen, die Anklageschrift ist schon ge-
schrieben; er ist ganz verlassen, bittet um gnädige Strafe ; wie wird's
ihm ergehen! Preilich hat er es nicht anders verdient, ist das Essen
nicht Werth, das man ihm reicht, wül gerne büssen für seine
Schlechtigkeit. Mcht selten schildert er daher seine Fehler in recht
lebhaften Farben oder bekennt selbst Dinge, die er gar nicht be-
gangen hat, um die Bestrafung zu erreichen, welche ihm die Euhe
seines Gewissens wiedergeben soll.
In anderen FäUen tragen die depressiven Ideen mehr hypo-
chondrischen Inhalt. Der Kranke ist das elendeste, unglücklichste
Menschenkind auf der ganzen Welt; so, wie er, hat noch nie ein
"Wesen gelitten. Alles ist aus und vorbei durch seine eigene Schuld;
er ist jetzt so tief hineingerathen, dass eine Genesung gar nicht
mehr mögüch ist. Jede Hoffnung ist verloren; er muss „verrückt"
werden, sein Lebelang in der Anstalt bleiben, sterben. In Folge
von alten „Jugendsünden", Onaniren, überstandener Syphilis ist das
ganze Nervensystem zerrüttet, die Lunge angegriffen, der Magen
vollständig in Unordnung. Endlich erstrecken sich einzelne Be-
fürchtungen auch wol auf die äusseren Yerhältnisse des Kranken.
Er kann nicht mehr zahlen, wird sein ganzes Vermögen verlieren,
aus dem Amte gejagt werden, muss betteln gehen.
Alle diese Vorstellungen werden von dem Kranken bis zu
einem gewissen Grade logisch verarbeitet. Er bringt sie mit einander
in Beziehung, zieht Schlüsse aus ihnen, entwickelt sie zusammen-
hängend, ohne Verwirrtheit und ohne grobe Widersprüche. Nicht
19*
292
IV. Die Melancholie.
selten Termag er auch zeitweise einzelne Ideen zu corrigiren, ihre
Krankhaftigkeit zu erkennen, aber wenn es so „über ihn kommt",
ist das besonnene Urtheü rasch wieder verloren. Der eigentliche
Versündigungswahn pflegt während der ganzen Dauer der Psychose
fortzubestehen ; eine wirklich klare Krankheitseinsicht ihm gegenüber
ist höchstens ganz vorübergehend eiamal vorhanden.
In formaler Beziehung lässt sich ausnahmslos eiae Verlang-
samung und Erschwerung des Deniens nachweisen, die auch von
dem Kranken selbst peinlich empfunden und beklagt wird. Es
scheint sich dabei nicht um eine einfache Lähmung, sondern um
eine Hemmung zu handeln. Nicht die Energie der psychischen
Vorgänge ist abnorm gering, sondern die Widerstände sind abnorm
gross. Diesen Schluss wenigstens muss man wol aus dem Um-
stände ziehen, dass keine Bewusstseinstrübung besteht, sondern die
einzelnen Vorstellungen mit voUer Klarheit und Schärfe hervor-
treten. Vielfach klagen die Kranken geradezu darüber, dass ihnen
so viel einfällt und sie sich an alle möglichen Dinge erinnern
müssen, die ihnen längst vollständig entfallen waren. Dabei besteht
aber allerdings eine grosse Einförmigkeit des VorsteUungsinhaltes.
Dieselben Ideenkreise kehren immer von Neuem wieder, so oft sie
auch unterdrückt werden; der Kranke kann gar nichts Anderes
mehr denken. Es ist ungemein schwer und vielfach sogar voll-
ständig unmöglich, sein Interesse für irgend etwas Anderes, ausser-
halb seiner eigenen Seelenzustände Gelegenes zu erwecken; er kehrt
immer sofort wieder zu jenen traurigen Gredanken zurück, die üm
.vollständig in Anspruch nehmen. Ganz ähnlich pflegen ja auch
im normalen Schmerze alle anderen Eegungen sofort zu ver-
stummen.
Gerade diese letztgenannten Erscheinungen zeigen deutlich, wie
wesentlich die KoUe ist, welche der Stimmungsanomalie im Bä-ank-
heitsbilde der Melancholie zugeschrieben werden muss. Sie ist es
auch, über welche die Patienten vor allem klagen. „Berg und Thal
liegen auf mir," sagte mir eine Bäuerin, die später dui-ch Selbst-
mord endete. Es entwickelt sich bei den Kranken das Gefühl eines
schweren Druckes, einer inneren Beklemmung, die ihnen jede
Freudigkeit und jeden Lebensmuth raubt. Meist wird derselbe in
die Gegend des Herzens oder des Praecordiums verlegt, seltener in
den Kopf. Der Kranke merkt, wie unter diesem unwiderstehlichen
Melancholia simplex.
293
Drucke sein Inneres gleichsam erstarrt. Die "Wahrnehmungen imd
Gedanken bleiben klar, aber dieselben finden keinen Widerhall mehr
in seinem Herzen. Er kann sich nicht mehr freuen und nicht mehr
grämen, sondern alle gemüthlichen Regungen gehen auf in dem
einen dumpfen Gefühle trostlosester Verödung; was ihm früher die
höchste Befriedigung gewährte, materielle oder ideelle Genüsse, die
Arbeit, der Beruf, vermag ihn jetzt nicht mehr zu fesseln. Selbst
die Zimeigung zu den Freunden, zu den Eltern, zu Weib und Kind
macht einer resignirten Gleichgültigkeit Platz; er steht ihnen Allen
theilnahmlos, ohne innere Beziehung, wie ein. Fremder, nicht zu
ihnen Gehöriger gegenüber.-
Diese Abnahme der gemüthlichen Erregbarkeit wird von dem
Kranken regelmässig als ein überaus peiuvoUer Zustand empfunden.
Sie ist es namentlich, welche ihm den eigenen Charakter verab-
scheuungs würdig, das Dasein freudlos und nicht lebenswerth, die
Freuden desselben abgeschmackt und trügerisch, die Vergangenheit
inhaltsleer, die Gegenwart unerträglich, die Zukunft finster und
trostlos erscheinen lässt.
Die Seelenqual, welche ihm das Bewusstseiu der ümeren Leere
und Verarmung bereitet, steht dabei in eigenthümlichem Gegensatze
zu der verzweiflungsvollen Klage, dass er nicht mehr im Stande sei,
Freude oder Leid zu empfinden. Li Wirklichkeit ist aber auch die
gemüthliche Umwandlung, welche sich mit dem Kranken vollzogen
hat, durchaus nicht als eine einfache Abstumpfung aufzufassen, wie
sie ihm selber erscheint Allerdings hat sich der Kreis seiner
Literessen diu'ch die Krankheit auf die ibm persönlich nächst-
liegenden Beziehungen eingeengt, aber auf diesem Gebiete zeigt
der Patient sogar geradezu eine entscliiedeneTJeberempfindHchkeit.
Sehr gewöhnlich kann man die Beobachtung machen, wie jede Ver-
änderung in seiner unmittelbaren Umgebung, ganz besonders der
tägliche Verkehr mit seinen Lieben für ihn die Quelle lebhafter
Unlustgefühle, andauernder Beunruhigung wird ; ja selbst angenehme,
heitere Eindrücke, und bisweüen diese am meisten, erzeugen häufig
eine wesentliche Verstäi-kung des psychischen Schmerzes. So sah
ich einen jungen Melancholiker beim Anhören fröhlicher Musik in
bitterliches Weinen ausbrechen.
Dass die vermeintliche Gemüthsstumpfheit der Kranken nicht
als eine Lähmungserscheinimg, sondern nur als Zeichen einer
294
IV. Die Melancholie.
psychischen Hemmung aiifgefasst werden muss, wird weiterhin
wahrscheinlich gemacht durch das gelegentliche Auftreten sehr
heftiger Äff ectschwankungen. Häufig klagen die Kranken dauernd
über ein Grefühl innerer Unruhe, das sie nicht los werden können
und meistens als „Heimweh", Sehnsucht nach den Angehörigen, dem
Geschäft, Scheu vor der fremden Umgebung deuten. Dazwischen
aber schieben sich in die resignirte Traurigkeit nicht selten
ganz unvermittelt lautes Jammern, Thränenausbrüche, stürmische
Angstanfälle ein, in denen die Kranken vorübergehend sogar die
Orientirung verlieren können. "Wie es scheint, wird hier gleichsam
durch das Uebermass der schmerzlichen Spannung die psychische
Hemmung gewaltsam durchbrochen und so ein Umsatz der Unlust-
erregung in Ausbrüche leidenschaftlicher Bewegung herbeigeführt.
Zumeist freilich pflegt auch das Handeln des Kranken in
gleicher Weise wie der Vorstellungsverlauf regelmässig den Charakter
der Grebundenheit und Unfreiheit zu tragen. Ein estnischer
Bauer sagte mir, er komme sich vor wie ein Ead am Wagen, das
willenlos mitlaufen müsse. Der Kranke ist schlaff, energielos und
ausser Stande, sich aufzuraffen; die innere Unlust hat in ihm Muth
und Freudigkeit zu thatkräftigem Schaffen unterdrückt. Ruhelos
wandert er herum, ohne irgend etwas fertig zu bringen, oder er
sitzt vielleicht Stunden und Tage lang in dumpfem Hinbrüten da,
die Hände in den Schoss gelegt. Die nothwendigsten Greschäfte
und Pflichten werden von ihm verabsäumt, weil er nicht Initiative
genug besitzt, um die psychische Hemmung zu überwinden; jede
Nöthigung zu activer Anstrengung wird eine Quelle intensivsten
Unbehagens. Freilich vermögen besondere Anlässe, eine interessante
Unterhaltung, anregende Gresellschaft, die Yersetzung in neue
Verhältnisse, in leichteren Fällen vielleicht vorübergehend den
Kranken aus seiner Verstimmung „herauszureissen" ; die Folge
solcher gewaltsamer Anregungen ist aber fast unausbleiblich ein um
so stärkerer Rückschlag in das Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit
und Unfähigkeit. So gelingt es dem Kranken vielleicht noch, mit
dem Aufgebote seiner ganzen psychischen Kräfte die zwingendsten
Berufsarbeiten zu verrichten, aber er beginnt, wenigstens das Neben-
sächliche zu vernachlässigen. Die Sorge für sein Aeusseres, für
Kleidung und Toilette, tritt gänzlich zui-ück, ein Umstand, der
namentlich bei weiblichen Patienten sehr auffällt. Unordentüche
Melancholia simplex.
295
Frisiu-en, abgerissene Knöpfe, unbeachtet gebliebene Flecken und
Defecte an der Kleidung zeigen den Verlust des Interesses für diese
sonst vielleicht sehr gepflegten Aeusserlichkeiten und den Mangel
an Energie zui' Beseitigung der Nachlässigkeiten oft in recht cha-
rakteristischer Weise.
Auch im Gesichtsausdrucke der Kranken pflegt sich die
ti-auiige Verstinunung deuthch auszuprägen. Die Mundwinkel hängen
herab, die Nasolabi alfalten sind schärfer markirt, die Augenachsen
gesenkt und starr parallel gerichtet; auf der Stirn zeigen sich Längs-
und bei ängstlicher Färbung des Affectes gleichzeitig auch Quer-
falten. In der Körperhaltung documentirt sich die Abwesenheit der
elastischen Spannung, das schlaffe Bedürfniss nach möglichster Kuhe
und stabilem Gleichgewichte; der Kopf ist gesenkt, der Kücken ge-
beugt und der ganze Körper nach dem Gesetze der Schwere in sich
zusammengesunken. Die Sprache ist gewöhnlich leise und zögernd;
alle Beweg-ungen und Keactionen geschehen meist langsam und ohne
Kraft. Bisweilen bildet sich die lähmende Energielosigkeit zu einer
förmhchen „Bettsucht" aus; die Kranken bleiben unthätig und
schlaflos halbe und ganze Tage im Bette liegen, ohne sich zum
Aufstehen oder zu irgend einer selbständigen Handlung entschHessen
zu können.
Begreiflicherweise leidet unter dieser "Wülenlosigkeit sehr bald
auch die leibliche Pflege, vor AUem die Befriedigung des Nahiirngs-
bedürfnisses. Ganz ähnlich, wie der natürliche Trieb des Hungers
und das Interesse an der Behaglichkeit durch die normalen de-
pressiven Affecte unterdrückt werden, so hört auch der Kraute
unter dem Drucke seiuer Yerstünmung auf, sich lun das regelmässige
Einhalten der Mahlzeiten zu kümmern; es erscheint ihm abgeschmackt
und widerwärtig, sich mit der kleinlichen Sorge für sein körperliches
Wohl zu beschäftigen, wo seine ganze Aufmerksamkeit durch den
grossen psychischen Schmerz in Spannung erhalten wird. Häufig
ist es nur die Macht der Gewohnheit oder ein gewisses mechanisches
Pfhchtgefühl, welches den Kranken in den regelmässigen Balmen
seiner Lebensweise beharren lässt.
Zu tiefergreifenden Stönmgen führt die Yernachlässigung der
körperlichen Bedürfnisse dann, wenn sie nicht durch den einfachen
Mangel an Interesse, sondern durch die bestimmte Absicht des
Kranken motivirt ist, sich, selber zu schädigen. Die Selbstkasteiung
296
rV. Die Melancholie.
stellt hier eine Ai-t Busse dar, die der Kranke sich zur Sühne für
seine Schlechtigkeiten auferlegt. Er ist zu schlecht, zu gottlos, um
an der Kost der Andern theilnehmen, Kleider tragen, sich in ein
Bett legen, an der schönen Natur freuen zu dürfen; man soll ihm
Gefangenenkost vorsetzen, ihn auf der Diele schlafen lassen, in ein
Correctionshaus schicken, als Yerbrecher behandeln. Diese und ähn-
liche Ideenkreise sind es auch in der Eegel, aus welchen das mit
Recht am meisten gefiirchtete Symptom der Melancholie sich iieraus-
entwickelt, die Neigung zum Selbstmorde.
Der quälende Gedanke, ein unnützes und moralisch verworfenes
Geschöpf zu sein, das Gefühl der inneren Yerödung und Verarmung,
der Blick in eine vermeintlich finstere und trostlose Zukunft, die
Unerti-äglichkeit des gegeuAvärtigen Zustandes regen in dem Kranken
den Wunsch der Yernichtung des Daseins an. Wenn er nur weg
von der Welt, üie geboren, als kleines Kind gestorben wäre! Alle
würden dann von ihm befreit sein und er selber Ruhe haben. So
kommt es, dass die Hartnäckigkeit, mit welcher die Kranken an der
Ausführimg ihres Selbstmordplanes festhalten, in eigenthümlichen
Contrast zu ihrer sonstigen Energielosigkeit tritt. Diese Erscheinung
wird einigermassen erklärlich, wenn man bedenkt, dass die Unfähig-
keit zu thatkräftigem Handeln hier nicht aus dem Mangel an Motiven,
sondern aus der Unterdrückung der gesunden Motive durch
die hemmenden Unlustgefühle hervorgeht. Jene Sti-ebungen
dagegen, die in diesen Unlustgefühlen selbst ihre Wurzeln haben,
können daher leicht eine dauernde und unwiderstehliche Macht über
den WiUen des Kranken gewinnen; sie spornen Intelligenz und
Energie zu den äussersten Anstrengungen an, um die Erfüllung
ihres Planes um jeden Preis zu erzwingen. Je besonnener und
relativ freier der Kranke ist, desto grösser natürlich die Gefahi-, dass
es ihm gelingt, seinen Zweck zu erreichen. Das Raffinement, mit
welchem er trotz sorgfältigster Ueberwachimg die imscheinbarste Ge-
legenheit auszunutzen weiss, die Fähigkeit zur Dissimulation der
krankhaften Verstimmung, um sein einziges Dichten und Trachten
besser zur Ausführung bringen zu können, ist bisweilen staunens-
werth.
Jeder Melancholiker ist daher als ein äusserst gefährlicher
Kranker zu betrachten, um so gefährliclier, wenn ihn seine Intelli-
genz zur Verstellimg und List befälügt. Er kann sich in der Bade-
Melaacholia simplex.
297
wanne erü-änken, an der Thürklinke, an irgend einer vorspringenden
Ecke im Abtritte, ja selbst im Bette (auch ia der Zwangsjacke!)
Stranguliren, Nadeln, Nägel, Glasscherben verschlucken, sich die
Treppe hinunterstürzen, den Schädel mit einem schweren Gegen-
stande zertrümmern, sich aushungern u. s. f. Beachtenswerth er-
scheint es, dass die Kranken in ihrer Aufi-egung trotz voUer Be-
sonnenheit fast ganz unempfindlich gegen körperlichen Schmerz zu
sein pflegen, ein Umstand, der ihnen die Ausführung ihres Yor-
habens wesentlich erleichtert. Eine Patientin meiner Beobachtung
fi-eute sich nach Durchschneidung der Pulsadern mit einer Glas-
scherbe über „das schöne rothe Blut", ohne eine Spur von Schmerz
zu fühlen; ein anderer Kranker schlug mit dem Halse so oft auf
die Schneide eines am Boden aufgestellten Stemmeisens, bis das-
selbe durch die ganzen Weichtheile in den Wirbelkörper eindi-ang.
Parallel mit diesen krankhaften Veränderungen der höheren
psychischen Fimctionen, die iu verschiedenen Abstufungen und Spiel-
arten den gemeinsamen Grundzug der depressiven Yerstimmung er-
kennen lassen, gehen eine Eeihe von elementaren nervösen
Störungen, welche auf eine allgemeinere Beeinträchtigung der
Centi-alorgane hindeuten. Der Schlaf des Melancholikers ist regel-
mässig schlecht, kiu-z, unruhig, von lebhaften, unangenehmen und
quälenden Träumen begleitet. Trotzdem, oder vielmehr- gerade des-
halb besteht ein dauerndes Gefühl der Abspannung, Müdigkeit und
Schwere in allen Gliedern, eine dumpfe Benommenheit im Kopfe,
che sich bisweilen zu wii-klichen schmerzhaften Sensationen, Druck
auf der Scheitelhöhe, Spannung im Hinterkopfe u. dergi. steigert.
Seltener kommen greifbare nei-vöse Affectionen, Anaesthesien u. dergl.
zur Beobachtung; nur aus psychischen Gründen erscheint die peri-
phere Empfindlichkeit bisweilen allgemein herabgesetzt oder ge-
steigert. Sehr gewöhnlich wd über unangenehme Empfind-,
ungen in der Herzgegend geklagt, Spannung, Druck, „Unruhe",
„Beängstigimg", „Vibriren" am Herzen, die bisAveüen anfallsweise
namentlich Nachts, stärker hervortieten. Der Muskeltonus erscheint
herabgesetzt; gleichzeitig besteht das Gefühl allgemeiner körperlicher
Schwäche und Hinfälligkeit. Die Ernährung nimmt nach Ausweis
der Körpergewichtscui-ve stets, auch dort, wo kehre Nahi-ungsver-
weigerung besteht, im Beginne der Erkrankung rasch ab, um erst
mit dem Einti-itte der Eeconvalescenz sich wieder zu heben. Der
298
IV. Die Melancholie.
Appetit ist sehr gering oder ganz aufgehoben, die Yerdauung träge;
sehr häufig findet man äusserst hartnäckige Stuhlverstopfung.
Starker Belag der Zunge und foetor ex ore pflegen diese Störungen
anzuzeigen. Die Wärmeproduction, wie die Wärmeabgabe ist
vermindert, die Temperatur häufig dauernd unter der Norm, viel-
fache Unregelmässigkeiten in ihrer Yertheilung auf die peripheren
Körperpartien darbietend. Auch die Organe des Kreislaufs zeigen
eine entschiedene Herabsetzung ihrer Energie. Der Puls ist klem,
bisweilen sehr verlangsamt (bis auf 40 Schläge!); die Extremitäten
sind häufig cyanotisch, kühl (besonders die Füsse), ja es können
sogar Oedeme auftreten, cüe nur in der Circulationshemmung ihre
Ursache haben und bei der Genesung rasch wieder verschräden.
Seltener werden auch an der Haut die Erscheinungen ungenügender
Ernährung, Trockenlieit, Sprödigkeit, kleienartige Abschuppimg u. s. w.
beobachtet.
Der Verlauf der Melanchoüe ist regehnässig ein typischer,
langsames Ansteigen und nach längerer Dauer ein noch langsameres
Schwinden der Krankheitssymptome. Während der ganzen Zeit aber
pflegt der Zustand fast immer mehr oder weniger regelmässige
Schwankungen zum Bessern und zum Schlechtem darzubieten,
über deren Bestand man sich weder sanguinischen Hoffnungen noch
schwarzseherischen Befüi-chtungen hingeben darf. Sehr häufig findet
sich ein Nachlass der Krankheitserscheinungen gegen Abend, wäh-
rend am Morgen die Verstimmung in verstärktem Masse wieder-
kehrt. Auch ein periodischer Wechsel zwischen schfimmeren und
besseren Zeiten oder Tagen wird bisweilen beobachtet, ohne dass
sich eine äussere Ursache dafür auffinden liesse.
Das allmähliche Schwinden der lö-ankheit nach vielfachen
Kemissionen und Yerschlimmerungen ist durchaus die Eegel; plötz-
lichen, im Verlaufe weniger Tage eintretenden „Heüungen" ist nie-
mals zu trauen; sie bedeuten gewöhnlich das Umschlagen der de-
pressiven in eine heitere Verstimmung. Einen sehr guten Anhalts-
pünkt fiii- die prognostische Beurtiieüimg der Veränderungen im
psychischen Krankheitsbilde giebt das Verhalten des Körper-
gewichtes an die Hand. Stetiges Ansteigen desselben deutet mit
Entschiedenheit auf die bevorstehende Keconvalescenz hin, wenn
nicht etwa die Zeichen einer beginnenden Verblödung (Abnahme
des Affectes ohne Correctur der Wahnideen, Urtiieilsschwäche) sich
Melancliolia simplex.
299
geltend machen. Im günstigen Falle bessern sich nach und nach
Schlaf und Verdauung; die Nachlässe der Depression werden an-
haltender und ausgiebiger, Avenn auch noch einzelne schlechte Tage
(im Anschlüsse an eine unniliige Nacht, Verdauungsstörung, psychische
Aufi-egung) dazwischen vorkommen. Nicht selten entwickelt sich in
dieser Zeit eine ausserordentliche Eeizbarkeit, die von den Patienten
selbst als ki-ankhaft empfunden oder auch wol im Sinne des Ver-
sündigningswahnes als moralische Verschlechtenmg aufgefasst wird.
An Stelle der früheren Angst und Verzagtheit tritt eine missmuthige,
unzufriedene Stimmung. Man kann ihnen nichts mehr recht machen;
Alles quält sie, regt sie auf; sie können es nicht mehr aushalten und
drängen stark nach Hause, wo sie „besser ihre Ordnung haben".
Als ein Zeicheii von besonders guter Vorbedeutung ist die Bückkehr
des Interesses füi- die gewohnten Beschäftigungen zu betrachten.
Sobald der Kranke wieder beginnt, zu arbeiten, zu lesen, sich zu
unterhalten, pflegt die Beizbarkeit bald zu schwinden; er wird ein-
sichtig, geduldig, dankbar und gehorsam. GleichwoLbesteht immer noch
für einige Zeit eine leichtere Ermüdbarkeit sowie eine vermehrte
Empfindlichkeit gegen äussere Schädlichkeiten, besonders Affecte,
Ueberanstirengungen, Excesse, welche vorübergehende Verschlimmer-
ungen nach sich ziehen können, bis sieh im Laufe der "Wochen und
Monate auch diese Störung vollkommen ausgleicht.
Eine besondere Verlaufsart der Melancholie kommt bisweilen,
namentiich bei Weibem, dadurch zu Stande, dass sich einzehae
hysterische Symptome-in das Krankheitsbild einmischen. So sah ich
mehrmals ganz ausgeprägte, rasch vorübergehende Dämmerzustände
mit tiefer Bewusstseinstrübung und traumhaften Sinnestäuschungen
als Episoden während einer typischen einfachen Melancholie auf-
treten. Bei anderen Kranken tragen die Angstanfälle eine hysterische
Färbung mit krampfartigen Zwangsbewegungen und grosser psychischer
Beeinflussbarkeit. Das Vorhandensein localer nervöser Störungen
imd ähnlicher Stigmata dürfte auf solche CompHcationen hinweisen.-
Die Prognose der einfachen Melancholie ist im Allgemeinen
eine günstige; selbst jahrelange Dauer derselben schliesst die Hoff-
nung auf Genesung nicht aus. In ungeheüten Fällen kommt es all-
mählich zur Entwickekmg einer mehr oder weniger hochgi-adigen
psychischen Schwäche, welche sich [in dauernder Leistiingsunfähig-
keit, unvollkommener Correctiu- der melancholischen Wahnideen
ßQQ IV. Die Melancholie.
und im Fortbestehen einer kleinmüthigen Verzagtheit, weinerüchem
Queraliren oder stumpfsinniger Yersunkenheit ohne tieferen Affect
kundgiebt. Eine ernste Gefahr für den Ausgang des Leidens wird
vor AUem durch die Möglichkeit eines Selbstinordes ;oder 'der Er-
schöpfung in Folge von anhaltender Schlaflosigkeit und Nahrungs-
verweigerung gebildet. Hochgradige, länger dauernde Apathie be-
günstigt auch erfahi'ungsgemäss die Entwickelung der Phthise.
Die Dauer der Krankheit ersti-eckt sich regelmässig über eine
längere Eeihe von Monaten, selbst über Jahre; durchschnittüch kann
man auf eine Gesammtdauer von 8/4— 1 Jahr rechnen. Genauere
Yoraussagungen über den Zeitpunkt der Wiederherstellung zu machen,
ist hier stets misslich, da sich bisweilen die Eeconvalescenz selbst
in ganz leichten Fällen unerwartet lange hinauszieht.
Unter den Ursachen der einfachen Melanchoüe ist in erster
Linie das Klimakterium zu nennen. Die grosse Mehrzahl der wirk-
lich typischen Erkrankungen betrifft . Frauen zwischen 45 und
55 Jahren. Yereinzelt befällt die Psychose auch Männer m gleichem
oder etwas höherem Alter. Bei jugendücheren Kranken wird man
meist einzelne hysterische Züge finden; das weibHche Geschlecht
überwiegt auch hier bedeutend. Im Ganzen scheint somit die ein-
fache Melancholie auf dem Boden einer angeborenen oder erworbenen
Praedisposition zu erwachsen und vor Allem durch jene bisher noch
nicht scharf definirbaren körperlichen Wandlungen begünstigt zu
werden welche das Aufhören der Geschlechtsfunctionen beim Weibe
begleiten. YieUeicht spielen hier Blutveränderungen die Haupta-olle.
Dafür würde wenigstens die Erfahrung sprechen, dass wir auch
sonst bei Bluterkrankungen, z. B. beim Myxödem, bei der Krebs-
kachexie, besonders häufig psychischen Depressionszustanden be-
gegnen. Unter den äusseren Ursachen der Psychose smd eben-
falls nur solche Einwirkungen zu nennen, welche geeignet sind,
chronische Ernährungsstörimgen herbeizuführen, lange fortgesetzte
Lactation bei ungenügendem Kräftezustande, anhaltende schwere
Gemüthsbewegungen, dauernd sehr ungünstige hygiemsche Yer-
hältnissG
Eine pathologische Anatomie der MelanchoUe giebt es noch
nicht Die gewöhnliche Annahme anaemischer oder passiv hyper-
aemischer Zustände des Gehii^ns ist vielleicht im Grossen und Ganzen
zutreffend, aber nichtssagend. Als die eigentliche Grunderschemung
Melancholia simplex.
301
des Krankheitsprocesses pflegt man die depressive Verstimmung zu
beü-achten, aus der sich, wie Griesinger meinte, durch eine Art
„Erklärungsversuch" insbesondere der Tersündigungswahn psycho-
logisch entwickeln sollte. Am richtigsten ist es wol, den hier
beobachteten Symptomencomplex, Verstimmung, Versündigungswahn,
Energielosigkeit als den Ausdruck eines und desselben elemen-
taren Krankheitszustandes auf den einzelnen Gebieten unseres
Seelenlebens zu betrachten, ganz ähnlich, wie wir früher auch
die drei Hauptsymptome der Manie als die verschiedenen Seiten
der gleichen einheitlichen Eunctionsstörung angesehen haben.
Für diese Auffassung spricht der Umstand, dass wir jener Ver-
bindung von Ej-ankheitserscheinungen im Laufe der verschieden-
artigsten Psychosen immer in derselben "Weise wiederbegegnen.
Ihr Zusammenhang muss also eiu sehr tief begründeter sein.
Auch der bei manchen Geistesstörungen beobachtete plötzliche Um-
schlag der gesammten manischen in die gesammten melancho-
lischen Symptome und umgekehrt scheint mir dafür zu sprechen,
dass die einzelnen Elemente der beiden Zustände nicht locker
und zufällig, sondern nothwendig an einander gebunden sind.
Aus diesen Erörterungen geht hervor, dass der einfache Nach-
weis der geschilderten melancholischen Krankheitszeichen durchaus
noch nicht genügt, um die Diagnose der Melancholie zu begründen.
Es giebt kaum eine Krankheitsgruppe, bei der nicht, wie der manische,
so auch der melancholische Symptomencomplex zeitweise zur Aus-
bildung gelangen könnte ; namentlich im Beginne subacuter Psychosen
findet er sich häufig. Ein. grosser Theil dieser rein symptomatischen
Zustandsbüder lässt sich durch den Nachweis ander ^veitiger Krank-
heitserscheinungen ausscheiden, die der typischen Melancholie fremd
sind. Dahin gehören namentiich Sinnestäuschungen, ausgeprägtere
"Wahnideen, dauernde starke Benommenheit und Desorientirtheit.
Bei den Depressionszuständen der Paralytiker kommen ausserdem
noch die häufig sehr lange zurückreichenden Prodromalsymptome,
besonders Reizbarkeit, Vergesslichkeit, psychische Schwäche, sowie
der Nachweis nervöser Störungen als differentialdiagnostische Zeichen
in Betracht. Sehr schwierig kann sich die Unterscheidung der ein-
fachen Melancholie von den periodischen oder unter Umständen
auch beginnenden circulären Formen gestalten. Einen gewissen
Anhalt gewährt hier das Lebensalter. Eine anscheinend typische
302
IV. Die Melancholie.
Melancholie in jugendlichem Alter muss immer den Verdacht auf
ein periodisches oder circuläres Irresein erwecken. Andererseits
kann sich dieses letztere auch noch im Klimakterium entwickeln.
TJeberdies hat die Melancholie, ähnlich wie die Manie, an sich die
Neigung, sich im Leben zu wiederholen, so dass von den einfachen
zu den periodischen Formen Uebergänge bestehen. Wer in den ersten
Lebensjahrzehnten einmal melancholisch gewesen ist, wird es in
den klimakterischen Jahren und ein Decennium später leicht wieder,
auch ohne dass man hier schon von einer eigentlichen Periodicität
sprechen könnte. Melancholien, die auffallend rasch und günstig
veriaufen, sind häufig der Beginn circulärer Psychosen. Bei sehi-
geringfügiger, andeutungsweiser Ausbildung aller Erscheinungen liegt
die Wahrscheinlichkeit periodischer Wiederkehr nahe, häufig mit
äusserst schleppendem Yeriaufe des einzelnen Anfalls.
Die Behandlung der einfachen Melancholie hat vor Allem
für die Entfernung aller den Kranken schädigenden Reize
zu sorgen. Dazu gehören namentlich diejenigen Personen und
Dinge, welche ihn gemüthlich am meisten berühren, die nächsten
Anverwandten, das eigene Heim und die Berufsarbeit. Bei ganz
leichter Erkrankung kann unter Umständen ein einfacher Auf-
enthaltswechsel, die Unterbringung bei einer befreundeten, ver-
ständnissvoUen Familie genügen. Dringend zu warnen ist vor
„Zerstareuungen", anstrengenden Reisen, forcirten Curen, lebhafter
Geselligkeit, die ebenso, wie pädagogische und moralisirende Mass-
regeln immer rasch verschlimmernd wirken. In der überwiegenden
Mehrzahl der FäUe wird die Yerbringung in die Anstalt noth-
wendig sein, ganz unbedingt dann, wenn irgendwie Selbstmord-
jieigung hervortritt.
Das beste Beruhigungsmittel ist die Bettlagerung, die man
namentlich bei schwachen oder sehr gequälten Kranken mit kurzen
Unterbrechungen zum Aufenthalte im Freien lange Zeit hindui-ch
fortsetzen kann. Besondere Aufmerksamkeit erfordert ferner die
Sorge für eine gute, kräftige Ernährung. Der Ki-anke mrd
regelmässig zum Essen angehalten; die Appetitiosigkeit und Ver-
dauungsträgheit wird durch Eingiessungen oder milde Laxantien,
unter Umständen dui-ch Magenausspülimgen, sowie dui'ch passende
Auswahl der Speisen bekämpft. Meist gelingt es besser, in häufiger
Wiederholung kleinere Mengen von Nahi-ung zuzuführen, als die
Melancholia simplex.
303
copiöseren Hauptmalilzeiten einzuhalten. Geduld und Beachtung der
Wünsche des Ki-anken vermag hier sehr viel zu erreichen. Nur in
äusserst seltenen Fällen wii'd man bei hartnäckiger Sitophöbie etwa
zur künstlichen Ernähi-ung zu greifen haben; die besonnenen Kranken
geben den als nutzlos erkannten Widerstand meist bald auf.
Ton gTösster Wichtigkeit ist selbstverständlich auch die Regel-
ung des Schlafes. Bei der langen Dauer der Krankheit ist von
der Anwendung der medicamentösen Mittel möglichst abzusehen, da
sie meist nicht sehr lange hintereinander fortgegeben werden können.
Höchstens wird man etwa einen Versuch mit dem Bromkalium
machen. Häufig thut der Alkohol recht gute Dienste, der in kleinen
Gaben die innere Spannung mildert, in grösseren direct Schlaf er-
zeugt. Bei stärker hervortretenden Beängstigungen pflegt Opium oder
Morphium Erleichterung zu gewähren. In der Hauptsache wird
man sich auf diätetische Massregeln beschränken müssen, auf
abendliche verlängerte Bäder (33—340 C), Priessnitz'sche Ein-
packungen, mässige Bewegung im Freien u. dgl.
Wo die geringsten Anzeichen von Selbstinordneigung^ hervor-
treten, ist auch in den anscheinend mildesten Formen der Er-
krankung dringend eine sorgfältige Ueberwachung geboten,
wie sie nur in einer zuverlässigen Irrenanstalt (nicht sogenannten
„offenen" Kuranstalt) durchgeführt werden kann. Tag und Nacht
muss in solchen FäUen Jemand in unmittelbarer Nähe des Kranken
sein und ihn unausgesetzt im Auge behalten. Das Schlafen eines
Wärters im gleichen oder gar im Nebenzimmer ist in irgendwie be-
denklichen Fällen durchaus unzureichend. Diese peinliche Aufmerk-
samkeit, die den Kranken keinen Moment, auch auf dem Abort
nicht, ausser Acht lässt, ist bis in die volle Reconvalescenz hinein
fortzusetzen, da oft unvorhergesehene Yerschlechterungen mit Wieder-
erwachen der krankhaften Triebe vorkommen, und die Besserung bis-
weilen nur eine scheinbare imd zur Täuschung der Umgebung simu-
lirte ist.
Die psychische Behandlung muss eine ruhige, gleichmässig
freundliche und geduldige sein; die Durchführung der nothwendigen
ärztUchen Anordnungen ist mit Festigkeit, aber ohne Starrheit auf-
recht zu erhalten. Yiele Gespräche über den psychischen Zustand
smd zu vermeiden; ü-östender Zuspruch oder dialektische Ausein-
andersetzungen pflegen wenig oder nichts zu helfen. Weit rationeller
gQ^ IV. Die Melancholie.
ist es, eine Ablenkung des Yorstellungsveiiaufes auf ganz fernliegende
Gebiete anzustreben, was allerdings fast nur bei intelügenten Kranken
und in leichteren Fällen mit einiger Sicherheit gelingt. Auf der
Höhe des Leidens verbieten sich solche Yersuche von selbst; in der
Keconvalescenz jedoch sind sie ein sehr wichtiges Hülfsmittel, das
Interesse wieder in die gewohnten Bahnen zu leiten. Demselben
Zwecke dient anregende, nicht ermüdende Beschäftigung, Lecture
u dergl sobald mit dem Nachlasse der Yerstimmung eme freiere
Hingabe' an dieselbe möglich wird. Diese Entwickelung pflegt sich
ganz von selbst zu voUziehen; der Arzt hat nichts zu thun, als
dieselbe nach Kräften zu fördern und Stömngen durch Ueberan-
strengung, starke Gemüthsbewegungen, körperliche Schädüchkeiten zu
verhüten Besuche seitens der nächsten Angehörigen wii'ken nament-
lich auf der Höhe der Krankheit nicht selten sehr aufregend, machen
dem Kranken das Herz schwer; hier ist besondere Vorsicht geboten.
Von Wichtigkeit ist es endlich, den Kranken nicht zu früh aus
der Anstaltsbehandlnng zu entlassen; unvorhergesehene Selbstmorde
können die Folge davon sein. Bisweüen kehren die Ki-^en auch
von selbst wieder zurück, da sie merken, dass sich ihr Zustand zu
Hause sofort wieder verschlechtert. „Mich hat gleich Alles gereut,
sagte mir ein solcher Kranker. Sehr häufig hat man freihch den
besonnenen, über „Heimweh" klagenden, stark drängenden Kranken
und noch mehr ihren Angehörigen gegenüber einen schweren Stand.
Erst wenn das ungeduldige Drängen verschwindet, volle Krankheits-
einsicht besteht, die Ernährung auf ihren früheren St^d zurück-
gekehrt und der Schlaf ungestört ist, kann man die Heilung als
voUendet nnd den Entiassungstermin als gekommen ansehen; Aus-
nahmen sind nur bei sehr günstigen Verhältinssen .^«^^^^^
fortschreitender Keconvalescenz zulässig. Jedenfalls bednrfen alle
Entiassenen noch längere Zeit hindurch einer gewissen Schonmag
und Pflege, sowie einer verständigen, ruhigen Behandlung SeitBns
ihrer Umgebung.
B. Die Angstmelancliolie.
Unter dem Namen der Angstinelancholie (Melancholia activa)
wollen wir diejenigen Formen der melancholischen Verstimmung zu-
sammenfassen, bei denen der Affect der Angst das am meisten m
Melancliolia activa.
305
die Augeu springeiide Symptom bildet. Schon bei der eiiifaclien
Melancholie finden sich zwar sehr häufig Beängstigungen, welche
vorübergehend sogar recht heftig werden können; in den hier be-
sprochenen Fällen aber begleitet eine starke ängstliche Erregung
von vorn herein dauernd den ganzen Verlauf der Psychose.
Die Krankheit beginnt mit Schlaflosigkeit, schweren ängstlichen
Träimien und psychischer Depression. Die Kranken hören auf, zu
arbeiten, ziehen sich zui-ück von ihrer Umgebung, laufen planlos
herum, werden reizbar und ungeduldig. Es entwickelt sich eme
wachsende innere Unruhe und Erregung, die sie 2^achts aus dem
Bette ti-eibt, sie an jeder geordneten Thätigkeit hindert und sich
deuthch in ihren verstörten Mienen, ihrem imsteten Wesen und ge-
legentlichen Affectausbriichen kundgiebt. .Nicht selten kommt es
schon in diesem Stadium zu einem plötzlichen energischen Selbst-
jnordversuche. Die Besonnenheit kann dabei vollständig erhalten sein.
Die Kranken wissen, wo sie sich befinden, vermögen auch über ihren
Zustand Auskunft zu geben, klagen über die schreckliche Angst,
halten sich aber nicht für ki'ank. Sie meinen, es werde irgend etwas
Entsetzliches passiren, sie müssten sterben, seien verloren imd ver-
dammt; Alles gehe zu Grunde. Im weiteren Yerlaufe dpr Krank-
heit stellt sich gewöhnHch. unter dem Einflüsse des Affectes eine
leichtere oder schwerere Bewusstseinstrübung ein. Der Kranke
vermag nicht mehr Mai' und unbefangen aufzufassen; die Umgebung
kommt ihm verändert, unheimlich, grauenhaft vor; es geschehen
.schreckliche Dinge; man schaut ihn so eigenthümlich an, will ilnu
etwas verbergen, bedroht ihn; Alle sind aufgeregt lun seinetwillen.
Ausgeprägtere Sinnestäuschungen lassen sich dabei nicht nach-
weisen, höchstens solche ganz elementarer oder illusionärer Natim
Meist ist es wesentlich die von Schreckbildern erfüllte Phantasie,
welche in den Wahrnehmungen die Bestätigung ihrer Ahnungen und
Befürchtungen aufzufinden vermeint. Eine derartige Kranke hörte,
wie Jemand in dem Zimmer unter ihr „in einen Sarg stieg"; das
Licht auf dem Tische ist ein Todtenliclit, der rasselnde Wagen
draussen ein Leichenwagen. Dem entsprechend gewinnen auch die
Befürchtungen des Kranken bisweilen einen ganz phantastischen Inhalt.
Man Avird ilm ins Gefängniss werfen, ihm heimlich Gift beibringen, ihn
ertränken, im Keller abschlachten, dahin fortschleppen, wo Niemand
ist; er kann nicht sterben, muss allein bleiben auf der Welt.
Kracpelin, Psyrhiatiii'. 4. Aufl.
306
IV. Die Melancholie.
In anderen Fcällen sind die ängstlichen Ideen ganz inhaltlos
und unbestimmt; der Kranke fürchtet sich „vor der Gerechtigkeit
Gottes", „vor den Menschen", „vor der Polizei", oder aber er fürchtet
sich schliesslich vor allen, auch den harmlosesten Dingen, mit denen
er in Berührung kommt (Pantophobie). Nicht selten gesellen sich
Yersündigungsideen hinzu, können aber auch ganz fehlen. Der
Kranke ist faul, schlecht, hat den Tod verdient, die ganze Welt ins
Unglück gestürzt, die Sünde wider den heiligen Geist begangen,
Deutschland verrathen.
Ihren symptomatischen Ausdruck findet die Angst in den ver-
störten, gespannten Gesichtszügen der Kranken, in dem Widerstreben
gegen jede Beeinflussung und vor Allem in ihrer motorischen Un-
ruhe. Unfähig, ein geordnetes Gespräch zu führen oder sich zu-
sammenhängend zu beschäftigen, können sie schliesslich auch nicht
mehr ruhig sitzen oder liegen, springen immer von Neuem wieder
aid:, um rastlos umherzuwandörn, drängen zur Thüre Mnaus, da sie
nicht mehr da bleiben können, „so starkes Heimweh haben" ; sie ringen
die Hände, halten leise oder laute Selbstgespräche, seufzen und
stöhnen oder brechen in verzweifeltes Jammern aus. Alle derartigen
Kranken können aus naheliegenden Gründen ihrer Umgebung und
namentlich sich selbst in hohem Grade gefährlich werden. Nicht
selten kommt es bei ihnen zu den wol als „Raptus melancholicus"
bezeichneten, plötzlichen intensiven Steigerungen des ängstlichen
Affectes mit ti-aumartiger Bewusstseinsti'übung und verschwonuneneu
Yorstellungen schreckhaften Inhaltes, in denen sie sich zu gi'ässlichen
Selbstverstümmelungen, Selbstmord- und Mordversuchen him-eissen
lassen. Meist besteht dabei vollständige, psychisch bedingte Analgesie.
Der Schlaf dieser Kranken ist regelmässig sehr bedeutend ge-
stört. Die Angst lässt ihnen keine Ruhe; sie können es nicht lange
im Bette aushalten, sondern steigen immer und immer wieder heraus,
woUen fort, entfliehen, oder sie jammern und klagen ohne Unter-
brechung die ganze Nacht hindm-ch, rufen laut um Hülfe, wecken
ihre Nachbarn, kriechen vor Angst zu ihnen ins Bett, verstecken
sich unter dasselbe und werden durch alle Yersuche, sie zu be-
ruhigen und im Bette zu erhalten, meist nur noch ängstlicher und
aufgeregter. Aehnliche Schwierigkeiten stellen sich der regelmässigen
Ernährung entgegen. Anfangs fehlt nur das Interesse für die
Nahiimgsaufnahme und der Appetit; später aber gesellt sich sehr
Melancholia activa.
307
häufig- wirkliche Sitopliobie hinzu. Der Kranke, der vor Lauter Angst
nicht dazu konunt, selbst zu essen, wird bei jedem Versuche, iJim
die Nalirung einzuführen, immer widerstrebender und spuckt Alles
wieder aus, oft nur aus unbestinunten ängstlichen Motiven, bis-
weilen in Folge von Vergiftungs- oder Yersündigungsideen. Es
giebt indessen auch Kranke, die trotz aller Aufregung gut essen
oder sich doch willenlos füttern lassen. Das Körpergewicht sink
rasch; die Verdauung ist sehr gestört, träge, die Zunge dick be-
legt; es besteht starker foetor ex ore. Der Puls ist meist be-
schleunigt, die Temperatur normal, die Eespiration ebenfalls
beschleunigt, aber sehr oberflächlich.
Der Verlauf der Krankheit ist stets ein langwieriger. Unter
vielfachen Schwankungen zum Besseren und zmn Schlechteren zieht
sich die Psychose über viele Monate, oft über Jahr und Tag Mn.
In günstigen Fällen werden die Nachlässe der Angst allmählich deut-
hcher und dauernder; die Befürchtungen und Versündigungsideen
treten mehr zurück, und die Kranken fangen nach und nach an,
Theilnahme und Verständniss für ihre Umgebung zu zeigen, sich
zu beschäftigen, an die Interessen ihrer gesunden Vergangenheit
wieder anzuknüpfen. Zugleich bessern sich Schlaf und Ernährung,
imd das Körpergewicht steigt. Gewöhnlich bleibt aber noch lange
Zeit hindurch eine gewisse Verzagtheit und Kleinmüthigkeit, sowie
eine grosse Empfindliclikeit gegen gemüthHche Erregungen zurück,
welche aufmerksame Beachtung Seitens der Umgebung verdienen.
Ich bin sogar nicht ganz sicher, ob nicht eine leichte Schwäche
in dieser Beziehung auch bei günstigstem Verlaufe dauernd
fortbesteht.
Am häufigsten ist jedenfalls, wie ich im Gegensatze zu meiuer
früheren Auffassung jetzt glauben muss, der Ausgang der Psychose
in geistiges Siechthum. Die Stärke des ängstlichen Affectes lässt
freilich nach längerer Dauer der Krankheit immer nach, aber die-
äusseren Zeichen desselben bleiben zurück, Unruhe, Neigung zum
Jammern und Klagen, unsinniges Widerstreben, oberflächliche Er-
regbarkeit. Dabei sind die Kranken innerlich stumpf, theilnahmlos,.
gleichgültig geworden. Sie sind unfähig, sich zu beschäftigen, zeigen
kein Interesse für ihre Umgebimg, für ihre Angehörigen, fassen trotz
voller Besonnenheit und Orientirtheit nur mit Anstrengung auf, was
man ihnen sagt. Volle Krankheitseinsicht gewinnen sie nicht, halten
20*
308
IV. Die Melancholie.
auch wol au einzelnen auf der Höhe der Psychose entstandenen
Wahnideen dauernd fest. Zuweilen ent\vicke]t sich auch hier ein
Zustand äusserster Gereiztheit und Unzufi-iedenheit, der Jahre laut;-
fortbestehen kann.
Die active Melancholie in der hier beschriebenen Form ist ganz
vorzugsweise eine Erki-ankimg der höheren Lebensalter etwa
zwischen dem 50. und 65. Jakre; auch hier scheint mir das Aveib-
liche Geschlecht stärker vertreten zu sein, als das männliche. Die
ererbte Praedisposition dürfte im Ganzen keine sehr grosse Rolle
spielen, mehr der erworbene Zustand des Gesanmitorganisnms, nament-
lich das vorzeitige Greisenalter. Die öfters als Ursachen beachteten
GemüthsbcAvegungen geben zumeist wol niu- den letzten Anstoss zum
Ausbruche der lange vorbereiteten imd nicht selten in leichten Yer-
stiimnungen, unmotivii'ten Befürchtungen sich bereits ankündigenden
Psychose. Sie bildet gewissermassen den Uebergang von den klimak-
terischen zu den eigentlich senilen Geistesstörungen, imd erwächst
offenbar wesentlich aus den körperüchen Rückbildungsvorgängen,
welche das Greisenalter einleiten; daher auch ihi'e ungünstige Pro-
gnose. Ich möchte es bei der typischen Gestaltimg dieser Erkivankimg
zunächst dahin gesteUt sein lassen, ob die vereinzelten symptomatisch
ähnlichen FäUe bei jugendlicheren Individuen überhaupt mit hier-
her gerechnet werden dürfen. Umnögüch wäre es ja fi-eilich nicht,
dass auch dort sich ausnahmsweise einmal ein ähnlicher, vielleicht
nur vorübergehender Invaliditätszustand ausbilden könnte, wie er
sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle erst im 6. imd 7.
Lebensjahrzehnt entwickelt.
In der Regel aUerdings düi-fte es sich bei jugendticheren Per-
sonen um wesentlich andersartige Erkrankimgen handeln. Nament-
lich die Dementia paralytica konunt hier in Betracht, welche ganz
ähnliche Symptomenbilder Liefern kann. Die Vorläufer der acuten
Yerschlimnierimg, namentlich Gedächfaiissschwäche, Anfälle, Sprach-
störungen imd andere nervöse Erscheinungen, die tiefere Bewusst-
seinsta-übung, das Aufti-eten ganz absurder Wahnideen, das Sinnlose,
Triebartige der Angst mit gelegentüchem, ganz unvermitteltem Um-
schlag in Euphorie können neben der Berücksichtigimg des Lebens-
alters als Anhaltspimkte fiü- die Differentialdiagnose dienen. Der
depressive Wahnsinn imterscheidet sich von der activen Melancholie
durch das starke Hervortreten der phantastischen Wahnideen und
Melancholia activa.
309
Sinnestiiiisoliimgen bai gering;ereni Affecte. Eine g;inz scliarfe Ab-
grenzung lässt sich ijidessen hier ebensowenig durchführen, wie
gegenüber der einfachen Melancholie, bei welcher Andeutungen von
Präcordialangst Avenigstens episodisch sehr häufig vorhanden sind.
Nach beiden Eichtungen giebt es Uebergänge.
Neuerdings endlich hat Alt*) einen Symptoinencomplex be-
schrieben, der in mancher Beziehung an das Bild der Angstmelan-
cholie erinnert und wesentlich diu'ch krankhafte Störmigeu der
Magenverdauimg (Erweiterimg des Magens mit Anacidität oder
Hyperacidität) bedingt sein soll. Es handelt sich um das Aufti-eten
lebhafter Angstanfälle, namentlich nach dem Essen resp. nach Diät-
fehlern mit hypochondrischer Yerstinunmig, einzelnen Illusionen,
Zwangsvorstellungen, abnormen Sensationen an den verschiedensten
Punkten des Körpers, nem-algischen Beschwerden, Herzklopfen,
Tremor der Hände und Steigerung der Reflexe. Der Magen ist
dabei empfindlich, aufgetrieben, die Zunge stark belegt; es besteht
Eoetor ex ore, Sodbrennen, Aufstossen, Stuhlverstopfung. Alle diese
Erscheinimgen schwinden ungemein schnell bei rationeller Behand-
lung des Magenleidens (Ausspülung, zweckmässige Diät, Regelung
des Säuregehaltes). Alt bezeichnet die Psychose als „Hypochondria
gastrica". Die Kranken standen meist zAvischen dem 20. und 40.
Lebensjahre.
Die Behandlung der activen Melancholie hat vor Allem die
Beruhigung des Ki-anken zu ersti-eben. Seine Versetzung in die
Anstalt, in eine ruhige, ihn so w^enig wie möglich beengende und
reizende Umgebung ist daher das erste Erforderniss, jeder Yersuch
einer häuslichen Behandlimg schon wegen der Selbstmordgefahr
dm-chaus verwerflich imd gefährlich. In den meisten Fällen Avird
Bettbehandlung nothwendig sein, deren Dm'chfühnmg hier fi-ei-
lich oft recht schwierig ist und einen besonderen Aufwand an Per-
sonal erfordert. Gepolsterte Betten leisten bei der grossen Unruhe
der Kranken bisweilen gute Dienste; im äussersten Nothfalle muss
wol auch einmal zur vorübergehenden Isolii'ung im gepolsterten
Zimmer gegiiffen werden. Unter allen Umständen aber ist eine
genaue, fortdauernde Ueberwachung . imerlässlich, da die
Kranken sich oft in hohem Grade gefälnlich sind, mit dem Kopfe
*) Archiv f. Psychiatrie XXIY, 2.
310
IV. Die Melancholie.
gegen die Wand rennen, Scheiben (aucli bisweüen sehr dicke!) zer-
trümmern, mn sich mit den Scherben zu verletzen u. s. f.
Unter den dii-ecten Beriüiigmigsmitteln spielen hier die wich-
tigste Eolle das Morphium und noch mehr das Opium, dessen
systematische Anwendung in rasch steigender Dosis (bis zu di-eimal
täglich 50 oder selbst 60 Tropfen der Tinctiu-) gerade bei Angst-
zuständen mit Eecht weite Yerbreitung gefunden hat. Es giebt in-
dessen einzelne Fälle, in. denen nicht nur keine Besserung, sondern
geradezu eine Steigerung der Angst eintiitt; darum ist Vorsicht ge-
boten. Ausserdem kommen natiüiicli zur Erzielung von Sclilaf alle
jene medicamentösen und diätetischen Mittel in Betracht, deren In-
dicationen früher eingehend besprochen worden sind. Von ersteren
möchte ich besonders die gelegentliche Anwendung des Alkohols
empfehlen, der Euphorie und Beruhigung zu schaffen geeignet ist
und zugleich meist gern genonmien wird. Bei sonstigen Arzneien,
mit denen man wegen iha-es zweifelliaften Nutzens möglichst sparsam
sein sollte, wird man meist mit der subcutanen oder allenfalls der
Appücation per Klysma weiter korimien, als mit der innerlichen
Darreichung, da die Kranken dieser letzteren vielfach eiu grosses
Misstrauen (Yergiftungsideen) entgegenbringen und leicht zur Nalu--
ungsverweigerung veranlasst werden. Ebenso findet die Anwendimg
der Bäder, Einwickelungen u. s. f. ihre Grrenze an dem ängstlichen
Widerstande der Kranken. Anwendimg von Gewalt vermehi-t nur
das üebel, das man bekämpfen -will.
In sehr vereinzelten Fällen kann die drohende Gefahr einer
Erschöpfung bei andauernder Sitoj)hobie Anlass zur künstlichen
Fütterung werden. Weiterhiu ist aber die Sorge für- die hygienischen
Bedürfnisse des Kranken, namentlich für Reinlichkeit, regeknässige
Darmentleerung, gute Luft, genügende Erwärmung der Aufenthalts-
räume (besonders bei der Neigung, sich zu entkleiden) von der
grössten Bedeutung.
C. Melaucliolia attonita.
Das Ki-ankheitsbild der Melanchoüa attonita (Stupor) steht mit
demjenigen der activen Melancholie in naher Verwandtschaft; iu
beiden Psychosen trägt der zu Grimde liegende pathologische Alfecr
den Charakter der Angst. Während aber derselbe bei der bisher
Melancliolia attonita.
311
besproclienen Form iu heftigen psychomotorischen Eeactionen sich
]iach aussen entladen konnte, führt er bei der Melancholia attonita ziu-
Entwickelung eines hochgradigen inneren Spannungszustandes,
der, abgesehen von episodischen Aufi-egungen, niu' langsam und all-
mählich sich wieder zu lösen pflegt.
Der Beginn der Erkrankung vollzieht sich zmneist in ganz ähn-
licher "Weise wie bei der activen Melancholie. Es kommt zunächst
zur Ausbildimg eines Prodromalstadiums mit inneren Beängstigungen,
abnormen Sensationen im Kopf, schweren Gedanken imd Ti'äimien,
Versündigimgsideen, imstetem, verstörtem Wesen, Arbeitsunfähigkeit
imd den gewöhnlichen körperlichen Begleiterscheinimgen der Schlaf-
und Appetitlosigkeit. Nach einiger Zeit scheint die anfängliche IJn-
ruhe nachzulassen, aber der Kranke wird nicht freier; sein scheuer
Blick, seine starre Haltung, die einsilbigen, mühsam hervorgebrachten
Antworten zeigen deutlich, dass ihn die Angst immer mehr über-
mannt. Die Auffassung der Aussenwelt wu-d dabei erschwert und
getrübt; der Kranke erkennt zwar noch im Allgemeinen seiue Um-
gebimg, verliert aber sehr bald das klare Verständniss füi- die ein-
zelnen Vorgänge imd für seine ganze Lage: „es wird dunkel im
Kopfe". Ohne dass eigentliche Sinnestäuschimgen vorhanden sind,
erscheint ihm doch die ümgebimg unheimlich und drohend; gleich-
gültige Wahrnehmimgen haben eine besondere Beziehung auf ihn,
enthalten Andeutimgen über geheime Fehltritte oder bevorstehende
Sti'afgerichte.
Eegelmässig ist der Kranke vollständigvou Wahnvorstellungen
schwer beängstigenden, grauenvollen Inlialtes beherrscht. Er ist
sündhaft, verloren, unheilbar, ansteckend, ausgetrocknet, vom bösen
Feinde bezwungen, der verworfenste, schlechteste Mensch, aus der
Kirche ausgeschlossen, in den Bann getiian, hat seine Familie ent-
ehrt, seine Eltern in's Grab getrieben. Es ist überall hin berichtet
worden; die Criminalpolizei kommt, wird ihn vor den Richter
stellen; heute geht es in die Hölle; Alles wird abgeschlachtet. Da-
bei ist der Vorstellungsverlauf verlangsamt oder gänzlich ge-
hemmt, so dass der Kranke schliesslich nur noch den dimipfen, im-
f'i-ti-äglichen Druck der ihn ganz erfüllenden, namenlosen Angst
empfindet. Die Glieder sind ihm schwer wie Blei; die einfachsten
-Bewegimgen kosten ilim eine unerhörte Willensansti-enguug, nicht
weü seine Energie gesunken ist, wie in der einfachen Melancholie,
312
IV. Die Melancholie.
sondern weil die starre Hemmimg des gesamniten psycliischen
Lebens seinem' "Wollen eüi unüberwindlielies Hindemiss entgegen-
stellt. Darum erfährt man über die Vorgänge, die sich in seinem
Innern abspielen, nur äusserst wenig aus gelegentlichen, kiu'z ab-
gebrochenen Bemerkungen: Wie wird mir's gehen; so ist's noch
Keinem ergangen; was hab' ich gethan; ich hab' ein schönes Leben
geführt; mir geschieht's schon recht; wann komme ich denn in's
Gefängniss?
Meist ist der Kranke fast völlig stiunm, giebt keinerlei Antwort,
jammert höchstens eimiial leise und karnn verständlich vor sich hin.
Mit gespanntem Gresichtsausdrucke steht oder liegt er stundenlang
unbeweglich da; .nur eine gelegentliche rasche Bewegung der weit
geöffneten Augen, plötzlicher Wechsel der Gesichtsfarbe, häufig auch
starkes Schwitzen des Kopfes deuten die psj^chischen Vorgänge a]i.
die sich in seinem Innern abspielen. Bisweilen beobachtet man
Tag und Nacht fortgesetztes, triebartiges Masturbiren. Alle Muskeln
sind starr gespannt, die spontanen BoAvegungen zögernd imd ver-
langsamt; jeder äusseren Einwirkung wird ein rasch sich steigernder,
oft sehr beti'ächtlicher passiver Widerstand entgegengesetzt. Hie
imd da wächst die namenlose Angst so mächtig an, dass sie die
Henmimig gewaltsam durchbricht und zu vorübergehenden, bis-
weilen äusserst heftigen Erregimgsparoxysmen führt. Der Ki-anke
beginnt laut zu jammern, monoton zu schreien, unternimmt un-
vermuthet einen energischen Selbstmordversuch oder stösst und
schlägt plötzUch brutal auf seine Umgebung los, drängt blind zur
Thür, hinaus.
Die Nahrungsaufnahme bietet meist grosse Schwierigkeit.
Die ICranken dürfen nicht essen, müssen fasten ; wenn sie essen, passirt
ein Unglück, sterben ihre Geschwister. Man muss daher gelegentlich zur
Sondenfütterung greifen, wenn es auch meist gelingt, durch einfaches
Eingeben genügend Nahrung zuzuführen. Für ihre sonstigen körper-
lichen Bedürfnisse pflegen die Kranken vielfach noch selbst Sorge
zu tragen. Nur in sehr schweren Fällen mit tieferer Bewusstseins-
trübung sind sie zeitweise ausser Stande, sich an- und auszukleiden,
sich reinlich zu halten und die Nahrung allein zu sich zu nehmen.
Der Schlaf ist stets hochgradig gestört; oft besteht vollständige In-
somnie: die Kranken wehren sich auf das Verzweifeltste gegen die
Bettlagerung, stehen im Hemde da, oder sie sitzen, leise stöhnend.
Melancholia attonita.
313
Nächte lang- aufreelit, liegen ruliig und iinbeAveglic]), aber mit offenen
Augen, ohne zu schlafen.
Das KörpergeAvicht und die allgemeine Ernährung sinkt
rasch und §ehr bedeutend; die Athmung ist verlangsamt und ober-
fläclüich, der Puls klein und gespannt, die Temperatur subnormal.
Kegelniässig treten als Zeichen allgemeiner Circulationsherab-
setzung an einzelnen Stellen, namentlich an den Füssen, Oedeme
auf. Das Gesicht erscheint eigenthümlich gedunsen, fahl, die Schleim-
häute cyanotisch, die herabhängenden Hände kalt, dick und eben-
falls bläulich vei-färbt; die Menses cessiren; es besteht hartnäckige
Verstopfung.
Der weitere Verlauf der Krankheit ist ein äusserst einförmiger.
Monate können vergehen, ohne dass sich irgend eine nennenswerthe
Veränderung im Zustande des Kranken vollzieht. Die Prognose
der Melancholia attonita ist keine ganz ungünstige. Die Er-
krankung muss zwar stets als eine recht ernste angesehen
werden, aber es scheint doch, dass etwa die Hälfte der Fälle,
vielleicht noch etwas mehr, schliessUch in Genesung übergeht.
Freilich pflegen sich die Zeichen einer beginnenden Besserung
des Zustandes erst nach mindestens halbjähriger Dauer, oft noch
viel später einzustellen.
Zuerst wird der Gesichtsausdruck des Kranken freier; die
Spannung in den mimischen Muskeln, wie in der ganzen Körper-
haltung und in den Bewegungen lässt allmählich etwas nach. Man
sieht, wie sich beim Befragen des Kranken die Lippen bewegen
und dann leise, zögernd einzelne, meist zutreffende Antworten ge-
geben werden. Das Bewusstsein klärt sich, und es erfolgt ein lang-
sames Erwachen, wie aus einem schweren, wirren Traume, an
den nur eine ziemlich unklare Erinnerung besteht. Zugleich
hebt sich das Körpergewicht; der Schlaf bessert sich, und der
Kranke erlangt nach und nach die Herrschaft über seine Mus-
keln, wie über seine psychischen Vorgänge Avieder. Immerhin
bleiben Spuren des krankhaften Wesens, grosse Zurückhaltung, ge-
legentliches unmotivirtes Widerstreben, leise, unfi-eie Sprache oft
noch bis spät in die Eeconvalescenz hinein bestehen, auch wenn
die eigentliche Angst bereits geschwunden und der Kranke sich
über seinen Zustand und seine Situation längst klar geworden ist.
314
IV. Die Melancholie.
Die ganze Dauer der Erkrankung kann sich auf 1 — 2 Jahre und
selbst noch länger erstrecken.
In ungünstigen Fällen verliert sich zwar allmählich ebenfalls
der intensive Aflect und mit ihm die hochgradige Spannung; das
Bewusstsein klärt sich, und der Kranke gewinnt im Allgemeinen
die Orientirung wieder, allein es kömmt nicht zu einer klaren Ein-
sicht in die überstandene Erkrankung. Der Patient ist theilnahm-
los und blöde, ideenarm und unfähig zu psychischen Leistungen
geworden. Das Interesse für seine früheren Beziehungen, für seine
Familie, seinen Beruf ist erloschen; die Yorgänge in seiner Um-
gebung gehen spurlos an ihm vorüber; das Gedächtniss für ver-
gangene Erfahrungen hat schwer gelitten. Gewöhnlich lassen sich
dabei im äusseren Benehmen noch Andeutungen der überstandenen
Psychose erkennen. Der Kranke ist still, giebt nur wenige, lang-
same Antworten auf einfache Fragen, steht oder sitzt in gedrückter
Haltung stimdenlang auf demselben Flecke und widerstrebt, Avenn
etwas Aussergewöhnliches mit ihm vorgenommen werden soU.
Manche dieser Kranken lernen es noch, sich wieder einigemiassen
zu beschäftigen, aber sie verrichten ihre Arbeit in rein mechanischer
Weise, ohne eigenes Nachdenken. Im Laufe der Zeit pflegt die Ver-
blödung rasch zuzunehmen, wenn ihr nicht dui'ch eine zweckmässige
Beschäftigung entgegengearbeitet wird.
Der Ausgang in Tod kann entweder dm-ch Selbstmord oder
durch Erschöpfung in Folge von Nahrungsverweigerung, endlich
durch allerlei Complicationen erfolgen, unter denen die Tuberculose
die bei weitem häufigste ist. Als anatomische Befunde, an den
nervösen Centraiorganen werden aufgeführt Anaemie, venöse Stauimg,
Oedeni der Pia und des Gehirns, in den JFällen secundären
Blödsinns auch Eindenatrophie. Die Zm-ückfühi'ung der Psychose
auf einen anfänglichen Gefässkrampf (Avie beim Sckreck) und spätere
vasomotorische Lähmung mit ihren pathologisch-anatomischen Folge-
zuständen würde in jenen Befunden eine gewisse Stütze finden.
Die Melancholia attonita scheint, im Gegensatze zu den bisher
besprochenen Formen der Melancliolie, vorzugsweise jüngere Per-
sonen, etwa zwischen dem 25. und 40. Lebensjahi-e, zu befallen.
Das mäimüche Geschlecht ist vielleicht stärker, sicher nicht schwächer
betheiligt, als das Aveibliche. Die erbliche Veranlagung düi-fte eine
gewisse Kolle spielen. Unter den auslösenden Ursachen sind heftige
Melancholia attonita.
315
(Temüthsbewegungen, besonders der Schreck, iu erster Liuie zu
nennen.
Man könnte somit daran denken, dass die verschiedenen Formen
der Melancholie gewissermassen nnr in vergrössertem Massstabe nor-
male Affeetz nstände wiederholen. Lässt sich die einfache Melancholie
der reizbaren Verstimmung an die Seite stellen, wie sie die Ermüdung
des Nervensystems zu begleiten pflegt, so entspricht die active
Melancholie den lauten Ausbrüchen fassungsloser Yerzweiflung,
während die Melancholia attonita mit jener plötzlichen VerwiiTimg
und Hemmung unseres Seelenlebens in Parallele zu setzen wäre,
welche dem Schreck und der rasch zu gewaltiger Höhe anwachsen-
den Angst eigenthümlich ist. Yon einem durchgängigen ätio-
logischen Zusammenhange zwischen bestimmtem Affect und ent-
sprechender Psychose ist dabei freüich nicht die Eede. Auch die
sonstigen Unterschiede in den Entstehungsursachen der einzelneu
Formen deuten darauf hin, dass hier noch ganz andersartige Be-
dinguDgen eine wesentliche EoUe spielen.
Die Diagnose der Melancholia attonita ist keine leichte. Man
rechnete früher zu ihrem Gebiete eine Eeihe von KrankheitsbUdern,
welche wol richtiger von ihr abgetrennt werden. Indessen besteht
auch heute noch keine volle Einigkeit über die Umgrenzung. Nach
meiner Ansicht sollte man mit jenem Namen nur diejenigen
Fälle bezeichnen, in welchen sich die eigenartige melancholische
Symptomengruppe mit starrer ängstlicher Hemmung acut oder sub-
acut entwickelt, um nach einer längeren Eeihe von Monaten zur
Heilung oder zu dem oben beschriebenen psychischen Schwäche-
zustande ohne weitere AVahnideen, ohne Sinnestäuschungen, ohne
Verwirrtheit zu führen.
Yon diesem Standpunkte aus würden zunächst 'jene Beobacht-^
ungen auszuscheiden und der acuten Demenz anzureihen sein, bei
denen es sich um eine einfache Hemmung oder Lähmung aller
psychischen Yorgänge handelt. Aeusserlich sind solche Kranke den
hier beschriebenen zeitweise recht ähnlich, aber es fehlen gänzlich
die charakteristischen Kleinheitsideen und der starke, Alles be-
herrschende ängstliche Affect mit seinen Folgen. Jene Kranken
fürchten sich nicht, handeln nicht überlegt,' sind ganz inconsequent
in ihrem Widerstreben und machen keine Selbstmordversuche. Beim
Erwachen aus der Krankheit sind sie zwar sehr schwerfällig, aber
316
IV. Die Melancholie.
sofort lenksam, gleiclimüthiger Stinunung, haben keine Erinnei--
ung an die Höhe der Psychose; sie werden gesund oder ein-
fach schwachsinnig, blöde, ohne die kleinmüthige Verzagtheit, welche
den ungünstigen Ausgangszuständen der Melancholia attonita eigen
ist. Zudem pflegt dort das Lebensalter ein etwas jugendlicheres zu
sein; die Ursache bilden erschöpfende Einflüsse, nicht, wie hier,
einmalige heftige Geraütliserschütterungen.
Auch imYergleiche mit der Katatonie ist vor Allem auf den dauern-
den, sehr deutlich hervorti-etenden Angstaffect gegenüber denr Stimm-
ungswechsel oder der Stumpfheit jener Kranken hinzuweisen. Das
Aufti-eten vonHaltungs- und Bewegungsstereotypen dort wird die Sach-
lage sogleich aufklären. Die Katatoniker sind ebenfalls meist jüngei-
und pflegen ohne nachweisbaren äusseren Anlass zu erkranken.
Die ängstHch-stuporösen Formen des hallucinatorischen Wahnsinns
endlich lassen sich von der Melancholia attonita zunächst nur durch
den schwierigen NachAveis von Sinnestäuschungen oder ausgebil-
deteren Yerfolgimgsideen ohne Versündigungswahn abtrennen. Der
weitere Verlauf wird aber auch hier regelmässig die Diagnose er-
möglichen.
Die Behandlung der Melancholia attonita stellt sehr hohe
Anforderungen an Pflege und Ueberwachimg; sie kann daher nur
in einer IiTcnanstalt mit Erfolg durchgefülni werden. Die Aufgaben
derselben sind im Wesentlichen die gleichen, Avie bei den übrigen
Pormen der Melancholie. Sorge für kräftige Ernäln-ung und regel-
mässige Verdauung, für möglichste Aufrechterhaltimg der Kräfte
(Bettruhe), für Reinlichkeit (warme Bäder, Anhalten zur- Befiiedigung
der Bedürfnisse), Verhütung starker Wärmeverluste (warme Kleidimg.
Decken), reichliche Zufidir von filscher Luft und sorgfältige üeber-
wachung bei Tag und bei Nacht wegen der Gefahr von Selbstmord
und plötzlichen Gewaltacten kommen in erster Linie hier in Betracht.
Dü-ect zur Bekämpfung der Angst und zur Erzielung von Schlaf
kann man an Opium- oder Moi-phiimiinjectionen denken. Ich glaube
jedöch in mehreren Fällen eine erschreckende Verschlimmerung des
Angstzustandes mit brutalen Affectausbrüchen und dem Aufti-eten
von Hallucinationen bei der Anwendung sehr hoher Opimngaben be-
obachtet zu haben; Avenigstens verloren sich alle diese Erscheinungen
mit der (natürlich vorsichtigen) Abnalime der Opiumdosis sehr rasch.
Im Ganzen Avird die Behandlung eine Avesentlich abAvartende sein
Melancliolia attonita.
317
müssen, da jede therapeutische Yielgeschäftigteit auf sehr grossen
Widerstand Seitens der Kranken zu Stessen pflegt. Für empfelüens-
Averth halte ich gelegentliche Yersuche mit Alkohol (Wein, Grog),
sowie laue Bäder mit kühlen Ueberrieselungen. In der Reconvales-
cenz habe ich gegen die schweren vasomotorischen Störimgen mit
mideutlichem Erfolge die allgemeine Faradisation angewendet.
Die psychische Behandlung vermeide auf der Höhe der Krank-
heit nach Möglichkeit jede Beunruhigung des Patienten, jedes un-
geduldige Eindringen auf ilm, welches ihn nur ängstücher macht.
Man verzichte lieber auf manche Avünschenswerthe Massregel, als
dass man den Kranken quält und sein blindes Missti-auen steigert.
AUes ärztlich imimigänglich Nothwendige soll mit möglichster Euhe
und Schonung diu'chgeführt Averden. Wenn dann die ängstliche
Spannung sich zu lösen beginnt, kann mit vielem Erfolge durch
liebevolle, geduldige Beschäftigung mit dem Kranken und diu-ch
Am-egimg seiner gesunden Yorstellungskreise die Keconvalescenz
gefördert werden.
Y. Der "Wahnsinn.
Zwischen den bis hierher besprochenen Psychosen und jener
gewissermassen constitutionellen Geisteskrankheit, die man als Ver-
rücktheit bezeichnet, liegt eine fast übergrosse Gruppe von psych-
ischen Störungen, welche [sich durch das starke Hervortreten zu-
sanunenliängender "Wahnideen und Sinnestäuschungen von den
ersteren, durch die begleitenden Affecte, die raschere Ent-
wickelung und die günstigere Prognose von dieser letzteren
abtrennen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die fortschreitende Er-
fahi'ung, wie sie uns schon zur Ausscheidung dieser Gruppe selber
heute zwingt, im weiteren Yerlaufe die Auflösung derselben in eine
Keihe einzelner Krankheitsformen herbeiführen wird; einstw^eilen aber
sei es noch gestattet, das ganze Zwischengebiet mit dem Sammel-
namen des Wahnsinns zu bezeichnen. Freilich deckt sich diese
Benennung nicht mit der Bedeutung, welche derselben bisher viel-
fach untergelegt worden ist. Will man jedoch nicht zu völlig neuen
Bezeichnungen greifen, so dürfte der Name Wahnsinn nach Schüle's
Yorgang weitaus am zweckmässigsten die hier geschaffene Gruppe
charakterisiren.
Ton den Krankheitsbildern, aus denen sich nach meiner früheren
Darstellimg der Wahnsinn zusammensetzte, hat sich im Laufe der
Zeit der hallucinatorische Wahnsinn als der eigentliche Kern
des Ganzen erwiesen. Bei dem ausserordentlichen Formem-eichthum.
den die zahh-eichen hierher gehörigen Fälle darbieten, erschien es
zweckmässig, die einzelnen klinischen Verlaufsarten des halluciua-
torischen Wahnsinns in kleinere Untergruppen einzuordnen, denen
ich vor der Hand die Bezeichnungen der einfachen, der ängst-
lich-stuporösen, der labilen und der progressiven Formen bei-
gelegt habe. Der depressive Wahnsinn steht diesen Kjrankheits-
Einfache Formen.
319
bildorn selbständiger gegenüber: in einem ätiologischen System
der Zukunft würde er wahrscheinlich den Uebergang von der klimak-
terischen Melancholie zum senilen Schwachsinn bilden. Der früher
unterschiedene expansive Wahnsinn deckt sich theilweise mit den
oben erwähnten labilen Formen des hallucinatorischen "Wahnsinns,
mm Theil mit geAvissen periodischen Erki-ankungen. Den viel um-
stiittenen „katatonischen" "Wahnsinn endlich habe ich, neueren Er-
faln-ungen entsprechend, hier gänzlich ausgeschieden und in nähere
Verbindung mit den psychischen Entartungsprocessen gebracht.
A. Hallucinatorisclier Wahnsinn.
a. Einfaclie Formen. Als einfachen hallucinatorischen Wahn-
sinn möchte ich diejenigen Eälle bezeichnen, in denen bei völliger
oder nahezu völliger Klarheit des Bewusstseins Gehörs-
täuschungen, seltener zugleich einfache Gesichtstäuschungen auf-
treten, um die Grundlage eines rasch entstehenden tind
sich wesentlich im Bereiche des Möglichen haltenden Ver-
fo.lgungswahns abzugeben. Der Beginn der Erki-ankung ist fast
immer ein plötzlicher; nur- in den langsamer verlaufenden Eormen
geht derselben ein kurzes Vorläuferstadiiun voran, mit unmotivirter
Verstimmung, Eeizbarkeit, Erschwerung des Denkens, Kopfschmerzen,
Schlaflosigkeit. Der Ejante hört, häufig zuerst des Nachts, allerlei
unbestimmte Geräusche, Eauschen, Glockenläuten, Schiessen, dann
einzelne Aeusserungen oder auch ganze Gespräche, die sich mit seiner
Person beschäftigen. Von der Strasse her, vom Gang di-aussen, aus
dem Nebenzimmer tönen die Stimmen, bisweilen flüsternd, bisweilen
mit vollkommener sinnlicher Deutlichkeit. Hie imd da Averden sie
niu' mit einem Ohre wahrgenommen. Meist sind es die Stimmen be-
kannter Personen; seltener wii-d ihnen überirdischer, göttlicher oder
teuflischer Ursprung zugeschrieben.
Der Inhalt dieser Täuschimgen ist für den Kranken meist
Avenig angenehm. Er hört Vorwürfe und Drohungen; er sei
ein Lump, ein Taugenichts, habe über Kaiser und Krone geschimpft,
eine goldene "ühr gestohlen, wichtige Papiere zen^issen; es ist ein
Preis auf ihn gesetzt; man wird ihn durchprügeln, mit Steinen
werfen, erschiessen. Die Stimmen beziehen sich dabei auf alle mög-
lichen Erlebnisse aus der Vergangenheit, hecheln in Spottliedern imd
Knittelversen sein fi-üheres Leben durch, oder begleiten mit höhnischen,
320
V. Der Wahnsinn.
neckenden Bemerkungen seine Handlungen, macheu sich über seine
IQeidung lustig, lachen über seine Angst, registriren seine Be-
wegungen. Häufig setzen sicli auf diese "Weise lange, eingehende
Unterhaltungen zusammen, Berathungen über die zweckmässigste
Art, dem lü-anken zu Leibe zu -gehen, Wecliselreden zwischen Yer-
folgern und Vertheidigern, ganze Gericlitsverhandlungen. Ein der-
artiger Kranker meiner Beobaclitimg hörte mit" allen Einzel-
heiten, wie einer seiner Freimde sich dm-ch eine geheime Thür
in das Schlafzimmer seiner Frau schlich, sich dort mit ihr übei-
den betrogenen Ehemann Aveidlich amüsirte und schliesslich
seine jugendliche Tochter vergeAvaltigte. Ein Anderer hörte im Gast-
hause den "Wirth mit Fi-au und Tochter sti-eiten, ob man ihn er-
schiessen solle oder nicht; unterdessen begehrten Yerwandte miten
Einlass, imd auf der Strasse schrie J emand : „Das ist ja ein Bordell !••
In diesen Fällen spielt sich Alles so natüi-lich ab, dass der Ki-anke
aucli keinen Augenblick an der Wii'kliclikeit des Ton ihm vermeint-
lich durclüebten Abenteuers zweifelt. Fast iuuner Avenden sich die
Stiumien nicht geradezu an ihn, sondern er ist gOAvissermassen nur'
unfreiAAdlliger Zuhörer; seltener AA^erden üuu eiuzelne Schimpfworte
direct zugerufen oder Befehle ertheüt. Ausser den Gehörs-
täuschungen bestehen in einzelnen Fällen ganz vorübergehend
solche des Gesichts, meist ziemlich unbestimmten Inhalts. Der Ki'anke
sieht Alles blau, Funken vor den Augen, mimnt drohende Gestalten,
Schatten Avahr, die auf ihn zukonunen, ihn berühi-en. Fliegen
schwirren in der Luft; Ungeziefer kriecht auf dem Bett herum.
In Verbindung mit den Halluciuationen entAAickelt sich regel-
mässig bei dem Kranken die Ueberzeugung, dass er Gegenstand
der allgemeinen Aufmerksamkeit ist, dass alle "Welt über üui
spricht, ihn beobachtet und bedroht. Offenbar hat man seineu
ganzen Lebensschicksalen nachgespüi't, Mittel und "Wege gefun-
den, ihn auf das Genaueste zu überwachen, jede seiner Be-
Avegungen, ja jeden Gedanken sofort zu bemerken. Es müssen
besondere "Vorrichtungen bestehen, die das ermöglichen, geheime
Löcher in den "Wänden, elektrische Signalapparate, Spiegel u. dergl.
Die Feinde stehen draussen und lauern ihm auf, versammeln
sich in einem nahe gelegenen Hause, schiessen zum Fenster herein.
In Folge dessen wird er misstrauisch gegen seine Umgebung, die
alle seine Wahrnehmungen einfach in Abrede stellt, hinter seinem
Einfache FomeD.
321
Rücken aber, wie er durch die Stimmen erfährt, gegen iJni coni-
plottii't. Gelegentlich werden nun auch AvirMiche Eindrücke im
Sinne der Verfolgungsideen gedeutet. Ein älterer Student, dem noch
das Abiturientenexamen fehlte, sah in harmlosen Gesten Vorüber-
gehender den Hinweis auf seinen Schnurrbart und seine Glatze und
damit den stummen Vorwurf seines Versäumnisses.
Das Bewusstsein ist dabei meist YoUkommen ungeü-übt.
Höchstens besteht eine ganz geringe, erst bei genauerer Beobachtung
auffallende Benommenheit. Der Eranke ist besonnen, über seine
Umgebung orientirt, denkt im Ganzen folgerichtig, und vermag über
seine Krankheitserscheinungen zusammenhängende Auskunft zu geben,
ist freilich meist sehr zurückhaltend. Eine klare Krankheitseinsicht
ist nicht vorhanden; vielfach beti-achtet er die Zumuthung einer
Geistesstörung geradezu als einen besonders heimtiickischen Schach-
zug seiner Verfolger, die ihn nunmehr auch noch „närrisch" machen
wollen. Gleichwol hat der Kranke oft ein deutliches Gefühl für die
Veränderung, die sich mit ihm vollzogen hat und giebt daher bis-
weilen auf che plötzliche Frage, wie lange er schon krank sei, zu-
nächst unbefangen die richtige Antwort, auch wenn er sich vorher für
völlig gesund erklärt hat. Hie und da scheinen übrigens vorübergehend
doch gewisse Zweifel an der Wirklichkeit der Täuschungen aufzu-
tauchen, so dass die Möglichkeit der Krankheit zugegeben wird,
allein es bleibt dabei gewöhnlich unsicher, ob die sehr misstrauischen
Kranken nicht einfach dissimuliren.
Die Stimmung der Kranken lässt meist eine gewisse resignirte
Apathie erkennen, die nur zeitweise ängstlicher Unsicherheit weicht
Im Beginne kommt vorübergehend auch wol lebhaftere ängstliche
Erregung vor. Die Kranken sind ruhig, radt sich selbst beschäftigt,
kümmern sich wenig um die Vorgänge in ihrer Umgebung, geben
einsilbige, ausweichende, aber zutreffende Antworten, erzählen
nichts aus eigenem Antriebe. Zeitweise begehen sie absonderliche
Handlungen, die sich später aus ihren Wahnideen erklären. Ein
derartiger Kranker sprang stundenlang im Zimmer umher, um
seinen Feinden kein sicheres Ziel zu bieten, imd brachte dabei
mit seinem Taschenmesser ein knackendes Geräusch hervor, damit
man glauben solle, er besitze einen Revolver. Andere verkrieclien
sich unter die Betten, legen sich an der Fensterwand auf den
Boden, um nicht getroffen zu werden, machen Selbstmordversuche
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Anfl. 21
322
V. Der Walinsinn.
oder verschaffen sich Waffen, um im Nothfall ihi- Leben so theuer
wie möglich zu verkaufen. Der Schlaf der Kranken ist regelmässig
erheblich gestört, weniger der Appetit, der nur bisweilen durch
Vergiftungsideen beeinträchtigt wird. Das Körpergewicht pflegt
zu sinken.
Nach ihrem Verlaufe lassen sich im Allgemeinen acute und
sub acute Formen der Psychose auseinanderhalten, die mir jedoch
ohne scharfe Grenzen in einander überzugehen scheinen. Die ersteren
haben häufig nur eine Dauer von wenigen Tagen bis zu 2 oder 3
"Wochen. Die Genesung tritt plötzlich ein; meist nach einem tiefen
Schlafe fällt es dem Kranken wie Schuppen von den Augen, dass
er das Opfer von Sinnestäuschungen geworden ist. In den sub acuten
PäUen kann sich die KranMieit über eine längere Keihe von Monaten
hinziehen, meist mit vielfachen Nachlässen und Verschlimmerungen,
Die^Täuschungen verlieren sich hier ganz allmählich, treten oft vor-
übergehend noch wieder auf, auch wenn vorher schon volle Krank-
heitseinsicht bestand. Nach Ilbergs Untersuchungen ist ein pro-
trahirter Verlauf namentlich in|den Fällen zu erwarten, in denen
ausser den Gehörshallucinationen ["noch Täuschungen auf anderen
Sinnesgebieten vorkommen; auch das gelegentliche Auftreten ver-
einzelter Grössenideen neben dem Verfolgungswahn deutet auf eine
längere Krankheitsdauer hin. Die Erinnerung an die Krankheitszeit
ist regelmässig eine durchaus klare und erstreckt sich auf alle Eiozel-
heiten.
Die Prognose der hier besprochenen Formen muss im Allge-
meinen als eine sehr günstige bezeichnet werden. In der über-
wiegenden Mehrzahl der Fälle erfolgt vollständige Genesung. Nur
selten kommt es zur Entwickelung eines psychischen Schwächezu-
standes mit unvollkommener Correctur der Wahnideen und gelegent-
lichem Wiederauftauchen der Täuschungen, namentlich im Anschlüsse
an gemüthliche Erregungen. Niemals aber wird 'die systema-
tische Fortbildung des Verfolgungswahns, mit anderen Worten der
Uebergang der Psychose in wirkliche Paranoia beobachtet. Alle ent-
gegenstehenden Angaben glaube ich einstweilen für diagnostische
Trugschlüsse halten zu müssen.
Unter den Ursachen des einfachen hallucinatorischen Wahnsimis
spielt der Alkohohnissbrauch eine hervorragende Kolle, dessen Spuren
Einfache Formen,
323
sich bisweilen durch leichten Tremor der Hände verrathen. Nament-
lich gehäufte Excesse scheinen dabei in Betracht zu konunen, denen
die Ki-ankheit nach einem Zwischenstadium von wenigen Tagen zu
folgen pflegt. Andererseits sind mir eine Anzahl, besonders subacut
verlaufener Fälle bekannt, in denen dem Ausbruche der Erkrankung
länger dauernde Gemüthsbewegungen deprimirender Art voraufge-
gangen waren, auch ohne nennenswerthen ALkoholmissbrauch. In
welcher pathologischen Yeränderung der gemeinsame Angriffspunkt
dieser beiden Gruppen von Ursachen liegt, vermag ich nicht zu
übersehen. Es will mir indessen scheinen, als wenn die Fälle mit
ganz reinen Gehörstäuschungen häufiger ohne ausgesprochene alko-
holische Grundlage beobachtet werden. Die überwiegende Mehrzahl
meiner fast sämmtlich männlichen Eranken stand zwischen dem
25. und 40. Lebensjahre.
Die Diagnose der Störung stützt sich auf die ganz acute Ent-
wickelung, den günstigen Verlauf, die völlige Besonnenheit der
Kranken und den eigen thümlichen Charakter der Hallucinationen,
welche sich meist nicht direct an den Patienten wenden, sondern
von ihm nur als gewissermassen unfreiwilligem Zuhörer aufgefasst
werden. Es ist indessen zu beachten, dass der ganze Sjmptomen-
complex hier und da auch im Verlaufe einer Dementia paralytica
beobachtet wird. Bei verdächtigem Lebensalter wird man daher
immer mit dieser Möglichkeit zu rechnen haben und die länger
dauernden Prodromalerscheinungen, die Anzeichen der psychischen
Schwäche, wie die etwa nachweisbaren nervösen Störungen sorgfältig
berücksichtigen müssen. Die Behandlung ist eine wesentlich ab-
wartende, doch kann der Gebrauch eines Schlafmittels vielleicht 2air
rascheren Genesung mit beitragen.
Nahe verwandt mit der hier beschriebenen Erkrankung sind
jene ätiologisch besonders interessanten Formen des haUucinatorischen
Wahnsinns, die wir so häufig in der Einzelhaft sich entwickeln
sehen. Nach einigen unbestimmten Vorboten, weinerlicher, depri-
mirter oder gereizter Stimmung, innerer Unruhe, Ohrensausen, Schlaf-
losigkeit, stellen sich hier plötzlich in der Nacht Hallucinationen des
Gehörs, seltener des Gesichts oder der übrigen Sinne ein. Der In-
halt der Täuschungen ist ein neckender, höhnender, oder feindselig,
beunruhigend, seltener erfreulich und beglückend. Der Kranke wird
verspottet, kritisirt, lächerlich gemacht; er hört, dass er nunmehr
21*
324
V. Der Walinsinn.
verloren sei, dass in feierlicher Gerichtssitzung sein Verdammungs-
urtheil ausgesprochen wird. Er wird beschimpft und geschmäht,
schrecklicher Verbrechen angeklagt und mit furchtbaren Strafen be-
droht, oder gar aufgefordert, selbst ohne Zögern die verdiente Todes-
strafe an sich zu vollziehen. Auch seine Familie wird mit zur
Kechenschaft gezogen, gefoltert, sein Bruder im DueH für ihn ge-
tödtet; man belauscht ihn, fängt jedes "Wort auf und weiss sogar
aus seinen geheimsten Gedanken neue Anklagepunkte gegen ihn zu
schmieden. Das ganze Haus ist mit Gensdarmen umstellt, die jedes
Entrinnen unmöglich machen; auf dem Hofe hört er schon mit
dumpfen Schlägen das Schaffet zimmern und die Menge schreien,
welche sich auf die Hinrichtung eines solchen Scheusals freut Oder
aber es ist die Begnadigung vom Könige gekommen, der gleich selbst
eintrejffen wird, um ihn zu befreien; Gott verkündet ihm, dass er
erhöht, dass ihm seine Sünde vergeben werden soll. Hie und da
sieht der Kranke auch schreckliche Gestalten, die das Zimmer er-
füllen und auf ihn- eindringen; häufiger sind Blitze, bläuliche Nebel,
ein fahler Lichtschein, Schlangen, Todtenköpfe, ein leuchtendes, rasch
wieder verschwindendes Bild.
Auf Grund dieser oft auch bei Tage andauernden Täuschungen,
denen sich bisweilen noch unangenehme Gerüche, Geschmacksem-
pfindungen, abnorme Sensationen hinzugeseUen, entwickelt sich sehr
rasch bei dem Kranken eine wahnhafte Auffassung seiner Lage.
Obgleich sein Bewusstsein wenig getrübt und er im Stande ist, zu-
sammenhängende Auskunft zu geben, vermag er "Wahrheit und
Täuschung nicht von einander zu trennen und verliert die Orien-
tirung in seiner wirklichen Umgebung. Versündigungs- und Yer-
folgungsideen schliessen sich an die hallucinatorischen Wahrnehm-
ungen an, und alle Auseinandersetzungen über die krankhafte Natur
dieser letzteren werden durch die uncontrolirbaren Stimmen, welche
dem Kjanken den Arzt mit im Complot zeigen und seine Worte
Lügen strafen, sofort paralysirt. Die Stimmung ist meist ängstlich
erregt, mit heftigen Exacerbationen, oder gereizt, selten gehoben. Der
Kranke ist finster, zurückhaltend, remonstrii-t gegen die Stimmen,
oder spricht nur leise, flüsternd, um von den Lauschern nicht gehört
zu werden. Plötzliche unsinnige Handlungen, Fluchtvereuche, Ge-
waltthätigkeiten, namentlich aber impulsive Selbstmordversuche
kommen häufig vor. Bisweilen bestehen Andeutungen von Katalepsie.
Einfache Formen.
325:
Schlaf und Nahrungsaufnahme sind sehr gestört; das Körper-
gewicht sinkt rasch.
Der weitere Verlauf der Krankiieit scheint sehr wesentlich
durch den Umstand bestimmt zu werden, ob die Einzelhaft fort-
dauert oder nicht. Im letzteren Falle ist die Prognose eine günstige.
Alle Störungen können binnen wenigen Tagen vollständig schwinden,
indem der Kranke wie aus einem Traume erAvacht. Seltener zieht
sich die Psychose noch über längere Zeit, Wochen oder selbst Monate
hin. Die Genesung kündigt sich dann dadurch an, dass der Kranke
nicht mehr so auf die Täuschungen achtet, zugänglicher wird, sich
zu beschäftigen beginnt und alhnählich Krankheitseinsicht erlangt.
Portdauer der Einzelhaft begünstigt die Entwickelung secuudärer
Schwächezustände mit unvollständigem Schwinden der Wahnideen,
episodischem Wiederanftauchen der Sinnestäuschungen und apathi-
scher oder erregbarer Stimmung.
Die Entstehungsbedingungen des hallucinatorischen Ge-
fangenenwahnsinns liegen in jenen deprimirenden Gemüthsbewegungen,
denen Sträflinge und üntersuchungsgefangene in so hohem Masse
ausgesetzt sind. Das Auftreten von Sinnestäuschungen wird zudem
durch die Monotonie der Einsamkeit, die Einschränkang der äusseren
sinnlichen Anregungen entschieden begünstigt; daher auch die be-
sonderen Gefahren des Dunkelarrestes. Endlich aber spielt die
psychopathische Anlage hier zweifellos eine sehr bedeutsame Rolle.
Wir hätten es Somit in der Aetiologie beider Formen des einfachen
hallucinatorischen Wahnsinns mit der Einwirkung dauernder depri-
mirender Affecte auf Personen mit geringer moralischer Widerstands-
kraft zu thun. Im einen FaUe wäre diese Schwäche häufiger durch
den notorisch in dieser Richtung wirkenden Alkoholeinfluss, im
letzteren besonders durch die angeborene Praedisposition verursacht.
Aus dieser lieber ei nstimmung der Entstehungsbedingungen würde
sich die nahe klinische Verwandtschaft der Formen, wie mir scheint,
befriedigend erklären. Die grössere Reichhaltigkeit der Täuschungen
im Gefangenenwahnsinn würde dann vielleicht auf die besonderen
Verhältnisse der Einzelhaft zurückgeführt werden dürfen.:^™
In diagnostischer Beziehung ist darauf hinzuweisen, dass einer-
seits bei den so häufig in Gefängnissen vertretenen Epileptikern
episodisch hallucinatorisch begründete Verfolgungsideen auftreten
können, die sich von der hier besprochenen Form durch das plötzliche
326
V. Der Wahnsinn.
Entstehen und Versch-winden, die kurze Dauer und die Unabhängig-
keit von der Art der Inhaftirung unterscheiden. Andererseits kann
sich im Gefängnisse auch wahre Paranoia entwickeln, oder sie kann,
nachdem sie vorher unerkannt bestanden hat, in der Einzelhaft erst
klar hervortreten. Hier wird die Diagnose aus der chronischen Ent-
stehungsweise, der logischen Durcharbeitung und Systematisirung
der Wahnideen, dem Fehlen primärer Stimmungsanomalien und dem
stationären Yerlaufe des Krankheitsprocesses abzuleiten sein. End-
lich ist noch auf das gelegentliche Yorkommen der Amentia, nament-
lich bei Untersuchungsgefangenen im Anschlüsse an heftige Gemüths-
erschütterungen, hinzuweisen. Die schwere Bewusstseinstrübung und
Verworrenheit dieser Kranken, sowie der stürmische Beginn und
Yerlauf der Psychose ermöglichen hier die Unterscheidung.
Die Behandlung des Gefangenenwahnsinns erfordert vor Allem
die rasche Befreiung des Kranken aus der Einzelhaft. Prophylaktisch
sollte bei stark prädisponirten Personen überhaupt von vom herein
nur die gemeinsame Haft in Anwendung gezogen werden. Im
Uebrigen ist ein mehr exspectatives Yerfahren, sorgfältige Ueber-
wachung, gute Ernährung, Bewegung im Freien, verlängerte Bäder
am Platze.
b. Aengstlicli-stuporöse Formen. Zu einer zweiten Gruppe des
hallucinatorischen Wahnsinns möchte ich diejenigen Fälle zu-
sammenfassen, in denen die Angst derartig den Krankheitsverlauf be-
herrscht, dass sich neben ausgeprägtem Yerfolgungswahn mit Sinnes-
täuschungen andauernde Erregung und zeitweise auch ängstliche
Spannungszustände entwickeln. Der Ausbruch der Psychose voll-
zieht sich in der Kegel ganz plötzlich, nachdem höchstens einige un-
bestimmte Prodromalerscheinungen vorangegangen sind, Schlaflosig-
keit, leichte Unruhe, Yerstimmung, Misstrauen. Die Kranken werden
ängstlich, lebhaft erregt, klagen über Schwere und Schmerzen im
Kopf und äussern wahnhafte Befürchtungen, sie seien verloren,
haben die Gnade Gottes verwirkt; es sei etwas Schreckliches passirt;
man habe ihnen Gift gegeben, sie beraubt, verrathen, ihre Eander
vertauscht. Sehr häufig kommt es schon jetzt, in den ersten Tagen
der Ejcankheit, zu einem energischen Selbstmordversuche. Einer
meiner Kranken machte in blinder Angst einen schweren Angriff
auf seinen Yater.
Bei genauerer Beobachtung stellt sich heraus, dass die Kranken
Aengstlich-stuporöse Formen.
327
an massenhaften Sinnestäuschungen leiden. Sie erkennen
zwar ihre Umgebung, aber Alles kommt ihnen verändert, ver-
wechselt, unheimlich vor. Sie sehen schwarze Einge, Funken vor
den Augen, fliegende Engel, den Teufel mit leuchtenden Augen,
drohende Männergestalten. Yielfach handelt es sich dabei wol um
illusionäre Vorgänge; eine meiner Kranken erkannte auf einem
schneebedeckten und dann umgepflügten Felde die Leichen aller
jener Menschen, die sie ins Unglück gebracht habe. Die Speisen
schmecken bitter, nach Gift; sie haben so einen eigenen Geruch; im
Körper fühlen die Kranken elektrische Beeinflussungen. Durchaus
im Vordergrunde des Krankheitsbildes aber stehen die Gehörstäusch-
imgen. Die Kranken hören Stimmen von der Decke, aus dem
Himmel, aus der Tiefe, vom Keller her. Gott spricht zu ihnen, be-
droht sie mit furchtbaren Strafen; alle ihre Gedanken werden aus-
gesprochen und Jedermann bekannt gemacht; Verfolger rufen draussen:
"Wir haben ihn! Ganz besonders aber hören die Kranken, wie ihre
Angehörigen schrecklichen Martern und Misshandlungen unterzogen
werden. Der Vater ist oben eingesperrt und muss verhungern; die
Verwandten werden gemordet, müssen für die Sünden der Kranken
büssen; die Kinder schreien und jammern, rufen um Hülfe, werden
in ein Fass mit Nägeln gesteckt, gespiesst, lebendig verbrannt.
In Verbindung mit diesen hallucinatorischen Wahrnehmungen
entwickeln sich bei den Kranken zahlreiche Wahnideen, namentlich
im Sinne der Verfolgung. Es wird Allen schlecht gehen; man will
sie umbringen, vergiften, zerstückeln, ihnen die Zehen abhacken, sie
den Hunden vorwerfen. Bisweilen gesellen sich auch Versündigungs-
ideen hinzu. Die Sünden werden ihnen nicht vergeben, weil sie in
die Anstalt gekommen sind; sie haben ihre Eltern verrathen, das
Abendmahl mit niedrigen Gedanken im Herzen genommen. Gerade
in diesen letzteren Fällen pflegt die Neigung zum Allegorisiren der
äusseren Eindrücke deutlich hervorzutreten. Eine derartige Kranke
meinte von den Schnüren eines Induction sapparates, das seien die
Schlangen, die sich um ihr Herz geschlungen hätten; ein anderer
Patient sah in einer leeren Bierflasche den stummen, freilich unbe-
gründeten Vorwurf, dass er ein heimlicher Trinker sei, und zerschlug
dieselbe auf dem Kopfe seiner Frau.
Das Bewusstsein der Kranken ist während der grössten Zeit
der Psychose nicht schwerer getrübt. Sie können über ihre Perso-
328
V. Der WaLnsinu.
nalien, Yorleben, sowie über ihre Zustände meist zusammenhängend
Auskunft geben, wobei sie freilich durch ihren Affect bisweilen sehr
abgelenkt oder gehemmt werden. In der Regel wissen sie genau,
wo sie sich befinden, wie sehr auch die Auffassung ihrer Lage durch
"Wahnideen beeinflusst wird. So bezeichnete eine Kranke die An-
stalt als das Fegefeuer, ihre Mitpatienten als arme Seelen, während
sie sich gleichzeitig Yorwiirfe darüber machte, dass sie nicht hätte
in die Irrenanstalt gehen sollen, da sie ja gar nicht geisteskrank sei.
Während der ersten stürmischen Periode der Krankheit können in-
dessen die Ki-anken wol zeitweise auch völlig die Orientirung ver-
lieren; namentlich Personenverkennungen sind dann nicht selten.
Krankheitseinsicht ist nicht vorhanden, vielfach auch nicht einmal
deutliches Krankheitsgefühl.
Auf affectivem Gebiete tritt von vorn herein eine lebhafte
ängstliche Erregung in den Yordergrund. Die Kranken sind un-
ruhig, bleiben nicht im Bett, drängen hinaus, widerstreben, jammern
Tag und Nacht über die schrecklichen Stimmen und das Unglück,
welches über sie und ihre Angehörigen hereingebrochen ist. Hie
und da reagiren sie auf die Hallucinationen auch mit Ausbrüchen
zorniger Gereiztheit und wüthendem Schimpfen gegen die vermeint-
lichen Yerfolger, oder aber sie liegen in tiefer Zerknirschung tage-
und wochenlang verzweiflungsvoll auf den Knieen und beten. Zu
irgend einer Beschäftigung sind sie nicht fähig. Sie werden viel zu
sehr von ihren Wahnideen in Anspruch genommen, die sich bis-
weilen geradezu an den Yersuch einer Arbeit anknüpfen. So meinte
eine meiner Kranken, dass sie beim Häkeln mit jeder Masche eine
Seele vom Himmel herunter häkele. Meist wandern sie ruhelos
herum, bestürmen den Arzt mit Klagen und Bitten, oder sie stehen
mit cyanotisch geschwollenen Füssen lauschend an der Thür, klam-
mern sich in stummer Angst an die Yorübergebenden an, machen
gelegentlich rücksichtslose Selbstmordversuche, selbst unter den Augen
des Personals. Bisweilen beobachtet man triebartiges Masturbiren.
Schlaf und Ernährung sind stets sehr gestört; häufig besteht
energische, aber inconsequente Nahrungsverweigerung; das Körper-
gewicht sinkt rasch und erheblich.
Nach den ersten Wochen oder Monaten pflegt die anfängliche
Erregung aUmählich etwas nachzulassen, aber die Krankheit nimmt
dennoch regelmässig einen ungemein schleppenden Yerlauf. In
Aengstlich-stuporöse Formen.
329
manchen Fcällen dauert das weinerliche, ängstliche Wesen trotz der
Abnahme tieferen Affectes viele Monate hindurch mit geringen
Schwankungen unverändert fort. Sehr häufig indessen kommt es zu
kürzerem oder länger dauerndem Versinken in stuporöse Zu-
stände mit ängstlicher Spannung. Die Kranken werden still, un-
zugänglich, geben gar keine oder nur kurze, mühsame, abgerissene
Antworten, lassen aber in ihren starren Gesichtszügen, in ihrem
rasch wachsenden Widerstande gegen jede äussere Einwirkung, in
der Nahrungsverweigerung, der Schlaflosigkeit und gelegentlichen
episodischen Erregungen deutlich das Fortbestehen des ängstlichen
Affectes erkennen.
Eine entscheidende Besserung der Psychose pflegt sich kaum
früher, als nach Jahresfrist, oft erst sehr viel später einzustellen.
Die Kranken werden allmählich freier, gehen mehr aus sich heraus,
beginnen wieder Interesse an ihrer Umgebung und Neigung zur
Beschäftigung zu zeigen. Sie halluciniren zwar noch fort, halten
auch an ihren Wahnideen fest, sind aber den Auseinandersetzungen
des Arztes bis zu einem gewissen Grade zugänglich und gewinnen
bisweilen ein ganz gutes Verständniss für ihre Mitpatiehten, deren
Eigenthümlichkeiten sie vielleicht sogar mit einem gewissen Humor
auffassen, um aber sehr leicht wieder in den ängstlichen, klagenden
Ton zu verfallen. „Ich darf nicht lachen," sagte mir eine solche
Kranke, „mein Herz ist ja traurig!" Unter langsamer, aber sehr
bedeutender Zunahme des Körpergewichtes, Besserung des Schlafes
und Appetites treten die krankhaften psychischen Erscheinungen
nach und nach immer mehr zurück. Die Stimmung wird ruhiger
und gleichmässiger, die Sinnestäuschungen verschwinden, und auch
die Wahnideen verlieren sich; es kommt sogar zu einer gewissen
Krankheitseinsicht. Freilich scheint es sich dabei nicht eigentlich
um eine klare, kritische Correctur der Krankheitserscheinungen, son-
dern mehr um ein Yerblassen und Yergessen derselben zu handeln.
Das Ueberstehen einer geistigen Störung wird wol im Allgemeinen
zugegeben, aber im Einzelnen kommt es nicht überall zu einer un-
umwundenen und durchgreifenden Abscheidung der krankhaften
Züge, trotzdem die Erinnerung an die durchlebte Zeit ziemlich gut
zu sein pflegt.
In der That ist der Ausgang derjenigen Fälle, welche der vor-
stehenden Schilderung zu Grunde liegen, überall ein eigenthüm-
330
V. Der Wahnsinn.
lieber geistiger Schwächezustand gewesen; die Möglichkeit, dass auch
einmal eine vollständige Genesung zu Stande kommen könne, soll
damit nicht ausgeschlossen werden. Die von mir beobachteteiL j
Kranken waren nach ein- bis zweijähriger Dauer der Psychose für
die oberflächliche Betrachtung gesund. Bei genauerer Prüfung
stellte sich indessen heraus, dass die Gehörstäuschungen nicht voll-
ständig verschwunden waren, sondern gelegentlich mit oder ohne
äusseren Anlass ganz vorübergehend wieder auftraten. Yon fixirten
Wahnideen, geschweige denn von einem „System", war gar keine
Rede;' sobald aber die Täuschungen sich zeigten, tauchten auch ein-
zelne der alten Wahnvorstellungen wieder auf. Die Kranken wurden
für einige Stunden, eine Nacht erregt, ängstlich oder gereizt, warfen
einmal ihr Essen in's Zimmer, schimpften zum Penster hinaus,
weinten unmotivirt, beruhigten sich aber stets sehr rasch, führten
ihr sonderbares Benehmen auf die „Stimmen" und auf ihre alte
Krankheit zurück, um dann Monate und selbst Jahr und Tag in
bescheidenem Wirkungskreise ein fast vollkommen normales Yer-
halten zu zeigen. Ein gewisser Mangel an Drtheil, Stumpfheit des
Interesses bei gemüthlicher Erregbarkeit, Unfreiheit und Unselbst-
ständigkeit im Handeln war dabei allerdings stets unverkennbar.
Es erscheint daher selbstverständlich, dass bei diesen Kranken
nicht selten spätere Recidive vorkommen, die sich indessen durch
die deutliche psychische Schwäche, die geringere Intensität der Er-
scheinungen und den rascheren Yerlauf sehr wesentlich von der
ersten Erkrankung unterscheiden. In einem derartigen Palle wurden
in ganz verschiedenen Zwischenräumen drei solcher Rückfälle beob-
achtet, davon zwei im Anschluss an Todesfälle naher Verwandter;
die Rückkehr in den relativ normalen Zustand erfolgte jedesmal
nach wenigen Monaten, während die erste Erkrankung etwa ein
Jahr gedauert hatte.
Ob die hier von mir geschilderte Gruppe von Beobachtungen
eine eigene und einheitliche Krankheitsform darstellt, muss
die Zukunft lehren. Möglich wäre es, dass die Fälle mit stark her-
vortretenden Versündigungsideen sich noch von denjenigen ab-
grenzen lassen, bei denen ausschliesslich Verfolgungswahn besteht.
Bei jenen ersteren schien mir die Ausbildung des Krankheitsbildes
phantastischer und die ängstliche Erregung grösser zu sein, während
hier die stuporösen Zustände häufiger waren. In diagnostischer
ProgresBive Formen.
331
Beziehung ist gegenüber der Amentia auf die grössere Besonnen-
heit der Kranken, den inneren Zusammenhang ihrer Wahnideen,
das Fehlen manischer Symptome, die verschiedenartige Aetiologie,
den weit schleppenderen Verlauf, den ungünstigen Ausgang in
einen ganz bestimmt charakterisirten Schwächezustand hinzuweisen.
Yor der Verwechselung mit Paranoia schützen die allgemeinen
körperlichen und psychischen Anzeichen der acuten Psychose, vor
derjenigen mit Melancholie die ausgebildeten Verfolgungsideen und
Sinnestäuschungen.
Ueber die Ursachen der Elrankheit vermag ich keine völlig
befriedigenden Angaben zu machen. Jedenfalls spielt die psycho-
pathische Praedisposition eine entschiedene Polle. Mehrfach handelte
es sich um schon ursprünglich schwach und haltlos veranlagte Ge-
schöpfe, namentlich Mädchen. Ausserdem scheinen auch hier dau-
ernde depressive Aifecte und chronisch schwächende Einwirkungen
für die Entwickelung der Psychose von Bedeutung zu sein. Die
Mehrzahl meiner Kranken stand zwischen dem 20. und 40. Lebensjahre.
Die Behandlung der Psychose kann, wenigstens für die Zeit
stärkerer Aufregung, nur in der Anstalt durchgeführt werden. Auch
hier versagen zunächst oft alle Beruhigungsmittel, von denen vor
Allem die Bettruhe, ferner verlängerte Bäder, Einpackungen, endlich
das Opium, Morphium, der Alkohol oder auch gelegentliche Hyp-
notica nothwendig werden können; natürlich ist genaue TJeber-
wachung unerlässlich. Im Uebrigen handelt es sich wesentlich um
die Fernhaltung von Schädlichkeiten, unter denen die Besuche der
nächsten Angehörigen besonders zu beachten sind, dann aber um
die Sorge für zweckmässige und ausreichende Ernährung. Bei ein-
tretender Beruhigung ist eine vorsichtige geistige Diätetik, Ablenkung
durch Unterhaltung, Beschäftigung, Spaziergänge u. s. f., am Platze,
Hat der körperliche Zustand völlig die Norm erreicht, so dass der
Krankheitspro cess abgeschlossen erscheint, so wird unter günstigen
äusseren Umständen die dauernde Kückkehr in die häuslichen Ver-
hältnisse meist ohne Schwierigkeiten durchführbar sein.
c. Progressive Formen. In dieser Gruppe möchte ich eine
Eeihe von Beobachtungen zusammenfassen, bei welchen sich sub-
acut zusammenhangslose Verfolgungs- und später auch
Grössenideen mit lebhaften Sinnestäuschungen und Affecten
entwickeln, um zumeist in einen Zustand geistiger Schwäche und
332
V. Der Wahnsinn.
Verworrenheit hinüberzuführen. Im Beginne der Psychose sind die
Kranken traurig, ängstlich, verstört, zurückhaltend und können zu-
nächst für Melancholiker gehalten werden, bis sich herausstellt, dass
sie auf das Lebhafteste halluciniren. Sie hören, dass die Todes-
stunde da sei; nur eine halbe Stunde ist Aufschub, dann werden
sie aufgehängt, auf 100 Jahre in die Leichenkammer gelegt Die
nächsten Angehörigen sollen gefoltert werden ; Alle werden ermordet,
sind schon gestorben; die Familie ist entehrt, die Frau ist untreu.
Sie werden belauscht; 10000 Pariser Telephonstimmen sind im Bett;
sie sind mannstoll, Gottes nicht werth, vom ersten Athemzuge an
sündig, haben den Menschen nicht gegeben, was ihnen gebührt.
In den Speisen ist Gift, Samen im Kaffee; ihnen wird Leichengift
eingespritzt. In den Mustern der Tapeten zeigen sich Fratzen; die
Bilder irgend eines Buches beziehen sich auf ihr Schicksal, sollen
sie an ihre Yerbrechen mahnen. Die ganze Umgebung erscheint
verändert; die Personen wechseln ihre Gesichter; draussen ist Krieg;
es wird eingebrochen; irgendwo ist ein Dieb versteckt.
Trotz dieser mannigfachen Täuschungen und Wahnideen sind
die Kranken ziemlich klar, über ihren Aufenthaltsort orientirt und
im Stande, zusammenhängend zu erzählen. Sie besitzen keine oder
doch nur ganz unvollkommene Krankheitseinsicht. Gerade die Selbst-
verständlichkeit, mit der sie bei äusserer Besonnenheit die absur-
desten Wahnvorstellungen festhalten, ist bisweilen sehr- auffallend.
Die Stimmung ist ängsthch, misstrauisch; bald überwiegt die
unzugängliche, stumme Yerzweiflung, bald mehr die Erregung und
Unruhe mit lautem Jammern und Klagen. Selbstmordversuche sind
nicht selten. Die Nahrungsaufnahme ist sehr um-egelmässig, der
Schlaf hochgradig gestört; das Körpergewicht sinkt rasch.
Nach einigen Monaten ändert sich das ganze Krankheitsbild
ziemlich plötzlich. Die Depression tritt gänzlich zurück; die Kranken
werden lebhaft, heiter, selbstbewusst und beginnen massenhafte
Grössenideen zu äussern. Es geschehen Wunder; sie sind gestorben
und wieder auferstanden, viermal heilig geboren, haben die Kraft,
alle Menschen zu erlösen. Der Kaiser ist im Hause; die Personen
der Umgebung sind Berühmtheiten und hohe Herrschaften. Die
Kranke ist mit dem Arzte verheiratet, schwanger, hat durch ein
Wunder ein Kind geboren. Alles hat eine besondere Bedeutuag;
auch vergangene Ereignisse wiesen bereits auf die Zukunft hin; die
Pi-ogi-essive Formen.
333
Bäder sind Wunderbäder von 100° Wärme; Gottes Gestalt sitzt
unter dem Fussboden. Daneben bestehen die Verfolgungsideen fort.
Der Kranke muss um sein Leben kämpfen ; diese Nacht ist die letzte ;
Alle sind Betrüger, gemeine Menschen. Politik und Religion stehen
auf dem Spiele; im Ofen ist ein Mensch eingemauert. Man macht
ihm Bilder vor; das Essen verwandelt sich in Menschenköpfe; es
werden sexuelle Angriffe ausgeführt. Die Menschen verdoppeln und
vei"vierfachen sich; ein Anderer hat seinen Kopf auf.
Die ausserordentliche Zusammenhangslosigkeit und Zerfahren-
heit dieser Wahnideen lässt meist schon jetzt einen gewissen Grad
geistiger Schwäche erkennen. Die Kranken sind nicht mehr im
Stande, eine geordnete Unterhaltung zu führen, sondern gerathen
nach kurzer Zeit in ein halb verworrenes, halb ideenflüchtiges De-
lirium, aus dem sich die geschilderten Wahnideen nur bruchstück-
weise herauserkennen lassen. Dabei besteht ein sehr gehobenes
Selbstgefühl, welches sich meist in gezierter Ausdrucks- und Sprech-
weise, gespreizten, theatralischen Geberden, in der Neigung znm Po-
siren, zu abenteuerlichem Aufputze der Kleidung kund giebt. Die
Kranken sind reizbar, oft unvermuthet brutal, gewaltthätig, vielleicht
im Zusammenhange mit den Sinnestäuschungen. Zeitweise beob-
achtet man plötzliche, rasch vorübergehende Angstanfälle oder sexuelle
Erregung mit obscönem Reden und rücksichtslosem Masturbiren. In
der Regel besteht auch längere Zeit hindurch ein deutlicher Be-
wegungsdrang. Die Kranken halten grosse Reden, verfassen bogen-
lange, verworrene Schriftstücke, bekritzeln die Wände, fangen alle
möglichen Dinge an, ohne irgend etwas zu Ende zu bringen, drängen
hinaus, gehen im Sturmschritt spazieren. Der körperliche Zustand
pflegt sich langsam zu heben.
Wie es scheint, ist in einzelnen Fällen hier noch eine Besserung,
ein Zurücktreten der Sinnestäuschungen, Wahnideen und der Er-
regung, sowie das Gewinnen einer gewissen Krankheitseinsicht
möglich. Wahrscheinlich dürfte es sich dabei jedoch um Heilungen
„mit Defect" handeln. In der Mehrzahl der Fälle dagegen kommt
es unter Andauer der Sinnestäuschungen zu einem rasch fort-
schreitenden psychischen Yerfall. Schon nach Yerlauf von ein bis
zwei Jahren, bisweilen noch früher, sind die Kranken meist voll-
kommen schwachsinnig und verworren. Sie haben zwar noch eine
ungefähre Kenntniss von ihrer Umgebung, produciren aber auf An-
334
V. Der Wahnsinn.
reden sofort ein ganz unsinniges, zusammenhangsloses Gefasel. Die
Erregung verliert sich nach und nach; höchstens bleibt die Neigung-
zum Zerreissen, zu affectirtem oder possenhaftem Sprechen und Be-
nehmen noch längere Zeit zurück. Dieser Zustand kann viele Jahn^
hindurch stationär bleiben, so dass sogar noch das Heranziehen zu
ganz einfachen Beschäftigungen möglich ist.
Offenbar handelt es sich bei dieser Psychose um einen schweren,
tiefgreifenden Krankheitsprocess. Hereditäre Veranlagung findet sich
fast regelmässig und kündigt sich in mannigfachen abnormen
Charakterzügen, auffallender Pedanterie, exaltirtem Wesen, ein-
-seitiger künstlerischer Begabung u. dergl. an. Nicht selten sind
schon früher flüchtigere Störungen des psychischen Gleichgewichts
voraufgegangen. Eine meiner Kranken hatte 6 Jahre vorher einen
Anfall ängstlich-stuporösen hallucinatorischen "Wahnsinns durch-
gemacht, war genesen, nur etwas misstrauisch und reizbar geblieben.
Die neue Erkrankung zeigte den oben geschilderten, halb depressiven,
halb expansiven Verlauf und führte zu dauernder Verworrenheit.
Die Mehrzahl meiner Kranken stand zwischen dem 30. und 40.
Lebensjahre.
Die Diagnose der Psychose kann in den ersten Monaten zwei-
felhaft sein. Die schwere psychische Depression mit massenhaften
Hallucinationen und Wahnideen erinnert an die im vorigen Ab-
schnitte besprochenen ängstüch-stuporösen Formen, aber die Kranken
sind weniger benommen, gehen mehr aus sich heraus. Mit dem
Wechsel des Krankheitsbildes kann die Möglichkeit eines circulären
Irreseins erwogen werden. Abgesehen von dem Lebensalter, spricht
dagegen die immer deutlicher werdende Zerfahrenheit und Verworren-
heit des Vorstellungsverlaufes, die hier nicht als Theilerscheinung
psycho-motorischer Erregung, sondern als das Zeichen eines fort-
schreitenden geistigen Verfalles zu betrachten ist.
Die Behandlung kann nur eine exspectative sein. Die
Kranken bedürfen meist dauernd des Anstaltsaufenthaltes, Anfangs
wegen der Selbstmordgefahr, später wegen der häufigen Erregungs-
zustände.
d. Labile Formen. In dieser letzten Gruppe finden sich alle
diejenigen Beobachtungen vereinigt, welche neben den allge-
meinen Symptomen des hallucinatorischen Wahnsinns einen
sehr eigenthümlichen, unregelmässigen Wechsel zwischen
Labile Formen.
335
depressiver und manischer Verstimmung darbieten. Zunächst
möchte ich dabei derjenigen Fälle gedenken, bei denen die psychische
Depression vorherrscht, während sich manische Erregungszustände
ganz plötzlich und unvermittelt als kürzer oder länger dauernde
Episoden einschieben.
Den Beginn der Erkrankung bildet regelmässig eine traurig-
ängstliche Verstimmung mit Sinnestäuschungen und Verfolgungs- bis-
weilen auch Versündigungsideen. Die Kranken sind niedergeschlagen,
schlaflos, beunruhigt, glauben sich von ihrer Umgebung verachtet
und verspottet. Sie hören einzelne beschimpfende oder drohende
Aeusserungen, die von der Strasse herauf oder aus dem Nachbar-
hause herübertönen: „da hinten steht sie," „hergelaufenes Kellner-
innenmensch," „so eine Tochter möchte ich nicht haben," „er wird
castrirt," „heute Nacht muss die Lisbeth sterben"; es wird vom Er-
stechen gesprochen. Bisweilen ist der Inhalt der Stimmen ein ganz
gleichgültiger, sogar unverständlicher, oder sie begleiten alle Hand-
lungen des Kranken, kritisiren, mischen sich in die Gedanken hinein.
Sie werden dann im Körper localisirt: Das Herz und die Lungen
sprechen; der Magen macht laute Bemerkungen. In der Nacht
kommt Jemand ins Zimmer; es sind weisse Gestalten, Männer mit
Zipfelhauben da; an der Tasse klebt Blut; überall ist ein furcht-
barer Geruch; das Fleisch stinkt wie die Pest; im Essen ist Gift;
der Köqier wird elektrisii-t, syphilitisch gemacht, der Oeffentlichkeit
preisgegeben.
Der Kranke bemerkt, dass er unter polizeilicher Ueberwachung
steht; man verfolgt ihn wie einen Hasen, hält ihn für einen Dieb.
Alles erscheint verändert; fremde Menschen kommen ihm bekannt
vor; man sieht ihn „so schwarz" an. In der Zeitung steht schon,
was man mit ihm vorhat; wenn er Fleisch essen soU, so bedeutet
das, es werde ihm schlecht gehen; man wird ihn in ein Zuchthaus,
in ein Bordell schleppen. Trotz dieser weitgehenden Verfälschung
ihrer Auffassung sind die Kranken höchstens ganz vorübergehend
etwas verwirrt, bleiben über ihre Umgebung vollkommen orientirt
und erscheinen auf den ersten Blick wol leicht benommen, aber
ganz geordnet. Krankheitsgefühl ist häufig vorhanden, aber kein
klares Verständniss für die einzelnen Krankheitserscheinungen. Die
Stimmung wechselt; regelmässig aber konunt es zeitweise zu leb-
haften Angstzuständen mit starker Selbstmordneigung. Meist sind
336
VI. Der Wahnsinn.
die Kranken gegenüber ihrer Umgebung sehr misstrauisch und
zurückhaltend, benehmen sich im Ganzen correct, wenn auch etwas
sonderbar abweisend.
Schon im Beginn der Psychose fällt es auf, dass sich zmschen
die vorwiegend depressiven "Wahnvorstellungen ganz unvermittelt
einzelne Grössenideen einmischen. Der Kranke glaubt die Auf-
merksamkeit hochgestellter Damen auf sich gezogen zu haben; Heiraths-
gedanken tauchen auf; er hat den deutschen Kaiser gesehen; es ist
ein Yermögen für ihn deponirt worden. Im weiteren Y erlaufe ver-
wandelt sich plötzlich die ängstliche Yerstimmung iu maniakalische
Heiterkeit mit Ideenflucht und Bewegungsdrang, in welche sich hie
und da Andeutungen ekstatischer Yerzückung mit Katalepsie ein-
schieben können. Die Kranken werden ausgelassen, lustig, lachen,
geben schnippische, bisweilen affectirt grobe oder ganz unverständ-
liche, beziehungslose Antworten, sprechen viel, singen Gassenhauer,
zeigen erotische und sexuelle Erregung, wollen einen Prinzen
heirathen, beginnen zu masturbiren. Auch die Stimmen nehmen an
diesem Umschwung theü, fordern die Kranken auf, recht zu schreien,
sagen ihnen vor, was sie thun sollen. Solche Paroxysmen dauern
in der Eegel nur wenige Tage oder selbst nur Stunden, können sich
aber mehrfach wiederholen. In den Zwischenzeiten sind die Kranken
wieder leicht ängstlich benommen, deprimirt; nur hie und da deutet
sich durch ein Lächeln, eine humoristische Bemerkung oder un-
motivirte Gereiztheit die Gleichgewichtsstörung auf dem Gebiete der
Stimmung an. In körperlicher Beziehung bestehen auch hier die
Erscheinungen der acuten Psychose, schlechter Schlaf, Abnahme des
Appetites und Sinken des Körpergemchts.
Nach einer Eeihe von Monaten und vielfachen Schwankungen
des Zustandes pflegen unter fortschreitender Besserung der all-
gemeinen Ernährung ganz allmählich auch die psychischen Krank-
heitssymptome zu schwinden. Die Stimmen verlieren ihre Macht
über den Kranken; er hört ihnen halb ärgerlich, halb belustigt zu,
bis sie sich endlich vollständig verlieren. Die Wahnideen treten
zurück, die Stimmung wird gleichmässig, und der Kranke gewinnt
eine klare Einsicht in die überstandene Störung. In der Regel
läuft der ganze Krankheitsprocess in 6—8 Monaten ab, kann sich
aber auch über ein Jahr hin erstrecken. Die Prognose scheint
eiae durchaus günstige zu sein.
Labilo Formen.
337
Mit dieser Form scheint mir eine zweite Gruppe von Fällen
nahe verwandt zu sein, bei welcher die manischen Symptome vor-
wiegend das Krankheitsbild beherrschen, während ängstliche und
depressive Verstimmungen nur vorübergehend stärker hervortreten.
Die Psychose beginnt regelmässig ganz acut. Die Ki-anken werden
schlaflos, aufgeregt, unruhig, bald ängstlich, bald auffallend lustig,
laufen von Hause fort und äussern plötzHch allerlei phantastische
Verfolgungs- und Grössenideen. Zugleich stellen sich massenhafte
Hallucinationen ein. Der Schutzengel, die Jungfrau Maria spricht;
Gottes Stimme ertönt und ertheilt Befehle, der Kranke soll den
Hund tödten, der Kirche eine Schenkung machen, eine Aufgabe lösen
fürs Vaterland. Auch die Nachbarn hört er über sich sprechen;
sein ganzer Lebenslauf wird erzählt; neckende Bemerkungen werden
über ihn gemacht, er sei „jungfernstichig", man vigilire auf ihn,
50 Mädchen erwarten ihn.
Die Stimmen kommen zum Theil aus der Ferne oder von oben,
aus den Wänden, sitzen aber auch in den einzelnen Körpertheilen,
als Kopfstimme, Magenstimme; selbst die Zehen sprechen. Aeussere
Geräusche werden zu Worten; das Knarren der Dielen, das Pfeifen
der Locomotiven, die Fussstapfen der Menschen enthalten abgerissene
Aussprüche, Aufforderungen, Scherze, Verhöhnungen. Vor den Augen
erscheinen Phantasien; der Kranke sieht Alles blau oder grün, sieht
Flammen, Leute, die ihn erschlagen wollen, einen Sarg und ein Grab,
den Heiland, die Gräfinnen von Beifort und Neapel, König Ludwig und
Moltke. Dabei riecht es so kurios, nach Pech, Anis, Fleisch, Collo-
dium; die Speisen schmecken nach Gift. Weisser und gelber Dunst
geht aus dem Munde; die Zunge ist gefühllos, der Körper wird elektri-
sirt, che Geschlechtstheile geschliffen; fremdes saures Blut circulirt
in der rechten Kopfhälfte, schäumt und kocht darin, das Glied wird
durch Elektricität steif gemacht.
An diese mannigfaltigen krankhaften Wahrnehmungen scbliessen
sich ebenso bunte und unsinnige Wahnideen an. Der Kranke "glaubt
sich verfolgt, wird von seinen Feinden angegriffen, muss alle Sinne
durchmachen, den Kunstsinn, Freisinn, Irrsinn, Stumpfsinn; überall
sind geheime Vorrichtungen, um ihn zu beeinflussen; man hat ihn
„presshefig" gemacht. Er besitzt Gottes Stimme, ist reich, Papst und
Kaiser, hat Frankreich und Eussland geschlagen, wird vom Gross-
herzog zur Audienz befohlen, ist im Himmel gewesen. Sehr be-
KraepoUn, Psychiatrio. 4. Aull. 22
338
V. Der Wahnsinn.
merkenswerth ist dabei die Neigung, beliebigen Wahrnehmungen eine
symbolische Bedeutung beizulegen. Auf einem alten Zettel ent-
deckt er das Zeichen von Oesterreich und Deutschland; die Buch-
staben seines Namens weisen auf königliche Abstammung hin; die
Schwalben' fliegen genau nach den "Winken seiner Hand; weisse
Schürzen „haben am Ende was zu bedeuten."
Alle diese Wahnideen stehen nur in lockerem Zusammenhange
unter einander und werden yielfach auch nur kurze Zeit festgehalten,
um bald wieder von anderen, völlig widersprechenden Vorstellungen
abgelöst zu werden. Freilich kehren einzelne Grundzüge häufig
wieder und werden auch mit einem gewissen Ernste gegen Ein-
wände vertheidigt; im Ganzen jedoch scheint es sich mehr um
plötzliche Einfälle zu handeln, die sich dem Kranken aufdrängen,
ohne eine tiefere Wurzel in der Gesammtrichtung seines Denkens
zu haben. Am meisten sprechen für diese Auffassung die regel-
mässig vorhandenen Andeutungen von Ideenflucht.
Man bemerkt deutlich, dass die Kranken nicht im Stande sind,
einen bestimmten Gedanken ganz systematisch zu verfolgen, sondern
sehr bald den Zusammenhang verlieren, abschweifen, zufällige Wahr-
nehmungen hineinüechten und plötzlich in oft ganz überraschender
Weise mit einigen sinnlosen Kedensarten schliessen. Namentlich in
Briefen oder Zeichnungen ist diese Störung meist sehr auffallend.
Ein derartiger Kranker antwortete mir auf meine Bitte, einen
unverständlichen Satz näher zu erklären: „Eechts Stern, rechts
Bouquet, links Peitsche, links parallel, das ist — jetzt können wir's
schlafen lassen."
Diese Erscheinung ist um so bemerkenswerther, als die Kranken
dabei vollständig besonnen, orientirt und geordnet erscheinen. Sie
geben richtige Auskunft über ihre Verhältnisse, sind klar über ihre
Umgebung und vermögen lange Gespräche zu führen. Bisweilen
besteht auch ein entschiedenes Krankheitsgefühl, wenigstens beant-
worten sie die Frage nach dem Beginne der Krankheit fast immer
ganz prompt. Von einer Einsicht in die krankhafte Natur der ein-
zelnen Erscheinungen ist dagegen keine Rede; sie glauben für den
Augenblick ganz fest an die Wirklichkeit der Verfolgungen und
Verheissungen, allerdings ohne dieselben geistig weiter zu verarbeiten
oder daraus Folgerungen für ihr Handeln zu ziehen.
Die Stimmung der Kranken ist im Beginne meist ängstlich
Labile Formen.
339
und niedergeschlagen. Einer meiner Kranken nahm deshalb die
Sterbesacramente. Späterhin ist ein vielfacher Wechsel zu beobachten.
Meist sind die I£i-anken eigenthümlich lustig, zu humoristischen Be-
merkungen geneigt, bisweilen hochfahrend, gereizt; dazwischen hinein
schieben sich aber auch nicht selten heftige Angstanfälle. Auch
unter ihrer heiteren Stimmung verbirgt sich zuweilen eine deutliche
Aengstlichkeit. In dem Benehmen der Kranken macht sich vor Allem
eine gewisse Unruhe geltend. Sie sprechen schnell, wenn auch nicht
gerade viel, machen plötzliche, ganz unmotivirte Bemerkungen, bis-
weilen in theatralischer Betonung, gehen viel herum, gesticuliren in
auffallender Weise, beschreiben Zettel mit zusammenhangslosen
Zeichen oder Sätzen. Nicht selten kommt es zu absonderlichen
Handlungen in Folge der Sinnestäuschungen und Wahnideen. -Einer
meiner Kranken entfernte den Blumenschmuck von dem Grabe
seiner Frau, weil sie es ihm befohlen hatte, forderte seine Schwieger-
mutter zum Coitus auf, „um sie zu prüfen"; ein Anderer urinirte
durch das Gitter zum Fenster hinaus, um die Elektricität abzuleiten.
Noch ein Anderer hielt den Harn zurück, dass die Blase sich bis
zum Nabel ausdehnte, weil ihm plötzlich der Gedanke gekommen
war, er müsse das thun. Hie und da beobachtet man Andeutungen
von Katalepsie.
In somatischer Beziehung sind die Klagen über Schwindel
und Kopfschmerzen bemerkenswerth. Der Schlaf ist sehr unruhig,
die Nahrungsaufnahme ziemlich regelmässig. Das Körper-
gewicht sinkt.
Der Yerlauf der Psychose ist meist ein subacuter. Trotz
zeitweiser Besserungen mit mehr oder weniger vollständiger Krank-
heitseinsicht und gelegentlicher, vorübergehender Angstzustände er-
hält sich der maniakahsche Grimdzug in wechselnder Intensität
mindestens durch einige Monate hindurch. Unter stetigem Ansteigen
des Körpergewichtes treten die Täuschungen ganz allmählich ziulick;
der Kranke „achtet nicht mehr so darauf." Das Benehmen wird ge-
ordneter, die Stimmung gleichmässiger, und es kommt nun bisweilen
innerhalb weniger Tage zu einer vollständigen Correctiu- der Wahn-
ideen. Die Dauer des ganzen Krankheitsprocesses dürfte meist etwa
5— 6 Monate betragen; es giebt aber auch viel langsamer verlaufende
Fäüe. Die Prognose scheint fast immer eine günstige zu sein.
Ich kannte einen wahrscheinlich hierher gehörigen Kranken, der
22*
340
V. Der Wahnsinn.
nach öjähriger Dauer der Psychose soweit wieder hergesteUt wurde,
dass er selbständig seine Gärtnerei weiter betreiben konnte.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die wichtigste Ur-
sache auch der im Yorstehenden geschilderten Krankheitsbilder in
der psychopathischen Praedisposition gesucht werden muss. Tliat-
sächhch findet sich auch regelmässig mehr oder weniger schwere
hereditäre Belastung. Die Psychose entsteht vorzugsweise in der
Zeit zwischen dem 20. und 30. Lebensjahre; chronisch schwächende
körperliche Ursachen scheinen eine gewisse EoUe zu spielen. Ich
halte es wegen der klinischen Yerwandtschaft des Krankheitsbildes
mit gewissen Formen des periodischen Irreseins für sehr möghch,
dass es auch hier sich eigentlich um periodische Erkrankungen
handelt, doch bin ich noch nicht im Stande, diese Auffassung sicher
zu beweisen.
Die Behandlung ist eine wesentlich exspectative. Im An-
fange ist Bettrulie und dauernde Ueberwachung geboten, späterhin
Ablenkung, Leetüre, Unterhaltungen, leichte Beschäftigung. Vorsicht
ist bei der Beurtheilung der sehr häufigen Eemissionen am Platze, weil
durch verfrühte Entlassung Schaden gestiftet werden kann. Nur
nach völliger Eückkehr des Körpergewichtes zur Norm schwindet
die Gefahr des KückfaUes. Unter dieser Yoraussetzung kann hier
bisweilen sogar dann an die Entlassung gedacht werden, wenn das
volle, unumwundene Yerständniss für die Krankheit noch nicht in
befriedigendem Masse erreicht ist.
B. Der depressive Wahnsinn.*)
Das Krankheitsbild des depressiven Wahnsinns ist gekennzeichnet
durch die subacute Entwickelung phantastischer, meist mit
vereinzelten Sinnestäuschungen einhergehender Wahnideen
bei gleichzeitiger depressiver Verstimmung. Das erste
Stadium der Erkrankung erstreckt sich meist über einige Wochen,
bisweilen selbst über Monate, hin. Die Kranken werden reizbar,
verstimmt, ängstlich, empfindlich gegen Geräusche, äussern allerlei
grundlose Befürchtungen und klagen über Druck im Kopfe, Unruhe
am Herzen, abnorme Empfindungen im Körper. Der Schlaf wird
schlecht, vielfach durch ängstliche Träume oder selbst durch nächt-
') Peon, De la melancolie avec delire. 1874.
Depressiver Walnisinn.
341
liehe, imbestimmte Sinnestäuschungen (Geräusche oder Lichtschein
im Sclilafzimmer, Klopfen am Fenster) gestört; der Appetit verliert
sich; die Yerdauung wird träge; das Körpergewicht nimmt ab.
Nach und nach gewinnen die anfangs nur andeutungsweise auf-
tretenden Wahnideen einen bestimmteren Inhalt, der sich sehr
gewöhnlich zunächst auf den eigenen Zustand bezieht. Der Kranke
fühlt, dass ihn ein schweres Leiden überfällt, von dem er nie wieder
genesen kann. Seine Eingeweide sind nicht mehr in Ordnung; der
Magen verdaut nicht mehr; das Blut stockt; die Glieder verti-ocknen ;
der Kopf ist ganz dumm geworden.
Weiterhin kommt es regelmässig zur Entwickelung von Ver-
sündignngs- und Verfolgungsideen. Der Kranke ist an allem Un-
glück Schuld, hat schreckliche Verbrechen begangen, gelogen und
beti-ogen, die Anstalt verrathen, Alle geschlachtet, durch seine un-
sinnigen Eeden die ganze Welt zu Grunde gerichtet und wegen
seiner ScheussHchkeiten tausendfach den Tod verdient. Städte und
Länder sind um seinetwillen verwüstet worden; jedesmal, wenn er
sich im Bett;e umdreht, wird ein Mensch hingerichtet. In der Nacht
schläfert man ihn ein, bringt ihn fort, lässt ihn toUe Streiche be-
gehen, für die man ihn später verantwortlich machen wird, ohne
dass er etwas davon weiss. Er ist nicht werth, dass man mit ihm
spricht, ihn auch nur ansieht; man soU ihn doch nur erschiessen, in
ein finsteres Loch werfen, lebendig begraben, ihm die Zunge heraus-
reissen, den Kopf abschlagen.
Jedenfalls wird nun das schreckliche Sü-afgericht alsbald über
ihn hereinbrechen. Er ist bereits völlig verarmt und mittellos, kann
das Essen, das Bett nicht mehr bezahlen, darf sich höchstens vom
AbfaU nähren und auf der Diele schlafen. Es wird ein entsetzliches
ünglück geschehen; AUes wird untergehen um seinetwillen. Die
Pohzei wird kommen, um ihn zur Verantwortimg zu ziehen; er
wird dann den grässhchsten Martern unterzogen, mit Blausäure
oder Arsenik vergiftet, an eine Leiche festgebunden, im Abgrunde
wilden Thieren vorgeworfen, auf eiuer Kuhhaut zur Bichtstätte ge-
schleppt werden. In einzehien EäUen nehmen die WahnvorsteUungen
einen „nihilistischen" Charakter an. Die Welt existnt nicht mehr;
es ist Alles gefälscht und nur Schein; aUe Menschen sind todt,
verbrannt, verhungert, weü es nichts mehr zu essen giebt, weü der
Kranke in seinen ungeheuren Magen Alles hineingeschlungen hat
342
V. Der Wahnsinn.
Niemand isst oder schläft mehr; er selbst lebt auch nicht mehr, ist
nur noch ein Automat, ganz klein, winzig zusammengeschrumpft,
unsichtbar.
Einen merkwürdigen Gegensatz zu solchen verzweiflungsvollen
Erzählungen bilden nicht selten unvermittelt dazwischen sich ein-
schiebende Grrössenideen. Die Kranken erzählen mit geheimniss-
voller Miene, dass man sie für die Jungfrau Maria halte, die nun
bald mit CMstus niederkommen werde, dass man immer glaube, sie
könnten "Wunder thun, Gold machen und alle Krankheiten heilen;
sie sollen in einem „silbernen Kessel" gesotten werden; der Kaiser
soll kommen und sie ansehen.
Eegelmässig werden nun auch die "Wahrnehmungen des
Kranken in der durchgreifendsten "Weise verfälscht. Die Anstalt, in
die man ihn geführt hat, ist gar keine Irrenanstalt, sondern ein Ge-
fängniss, in dem nur zu seiner Schonung die Eiction der ärztlichen
Behandlung aufrecht erhalten wird. Er befindet sich überhaupt gar
nicht in der Stadt, die man ihm genannt hat, sondern ganz wo
anders, ohne dass es ihm freilich klar ist, was man eigentlich mit
ihm angefangen hat. Man spielt nur Comödie mit ihm, sucht ihn
zu täuschen; die Angehörigen, die er ins schreckhchste Unglück
gebracht hat, verstellen sich, weü sie dazu gezwungen werden. Die
Gegenstände seiner Umgebung kommen ihm zwar vielfach bekannt
vor, als seien dieselben sein Eigenthum und zu bestimmten, räthsel-
haften Zwecken dorthin gestellt, allein es hat Alles einen ganz un-
gewöhnlichen und erschreckenden Anstrich. Auf der Strasse be-
gegnen ihm auffallend viel Kranke, die ihn mit bezeichnendem
Blicke ansehen; die Häuser machen den Eindruck von Festungen,
die Zimmer denjenigen von Yerliessen; die Bäume im Walde, die
Felsen erscheinen unnatürlich, als wenn sie künstlich gemacht und
eigens für ihn dort aufgebaut wären. Die Personen, die ihn be-
suchen, sind nicht die richtigen, werden ihm vom Arzte nur vor-
gemacht, ja selbst die Sonne, der Mond, das "Wetter sind ganz an-
ders, als früher, und kommen ihm vor wie Blendwerk, dazu bestimmt,
ihn noch mehr zu verwirren.
Ganz besonders imheimlich ist dem Kranken das Thun und
Treiben der Menschen, in denen er häufig allerlei Celebritäten, den
Schah von Persien, die Königin von England, oder entfernte Be-
kannte zu erkennen glaubt, die sich um seinetwillen zusammen-
Depressiver Wahnsinn.
343
gefunden haben. Er begi-eift nicht, was dieselben sich Alles zu.
schaffen machen, und hat die misstraiüsche Neigung, überall Bezieh-
ungen zur eigenen Person zu erblicken. Die Auswahl der Speisen
beim Mittagessen, die Art und Reihenfolge, in welcher der Tisch ge-
deckt wird, die Worte, welche zu ihm gesprochen werden, haben
einen versteckten Sinn, den zu enträthseln er mit Erfolg bemüht ist.
Eia abgenutztes Sti-eichholz am Boden des Zimmers soll ihm sagen,
dass er ebenfalls verbraucht sei und den Kopf verlieren müsste; die
Krautsuppe bei Tisch soll ihn an den Scharfrichter „Krauts" erinnern,
der ihn alsbald hinrichten wird. Die mit einem bezeichnenden BUcke
gemachte Bemerkung, dass Zahnschmerzen glücklicherweise einmal
aufhören, kündigt ihm zu seiuem Schi-ecken an, dass er niemals auf-
hören, sondern unsterblich sein wird. Jede Person auf der Strasse,
die ihn anbhckt, ist ihm ein verkleideter Polizeispion; auf Schritt
und Tritt glaubt er sich beobachtet und wagt sich daher nur mit
Zittern und Zagen aus seinem Zimmer heraus.
Die grosse Mehrzahl dieser Ideen entsteht auf dem "Wege ein-
facher wahnhafter Erfindung. Die Kranken machen auch meist
keinen Versuch, dieselben irgendwie zu begründen; sie wissen, dass
es so ist; es ist ihnen eben so gewesen, als ob dies oder jenes ge-
schehen werde. Freüich lässt sich fast immer das Bestehen ein-
zelner Sinnestäuschungen nachweisen, aber dieselben spielen bei der
eigentlichen Wahnbildung eine verhältnissmässig geringe Rolle. Viel-
fach handelt es sich auch wol um Illusionen. Namentlich das Essen
kommt dem Kranken sehr sonderbar vor; es ist fade von Geschmack,
oder es brennt wie Feuer auf der Zunge. Oft stinkt es wie die
Pest, und der Kranke bemerkt nun bei genauerem Zusehen, dass es
total verdorben, mit Schimmel bedeckt ist, sich bewegt, oder dass
demselben die abscheulichsten Ingredienzien, Würmer, Grünspan, Blut,
Menschenfleisch, Sperma, ganz kleine abgeschnittene Köpfe mit grin-
senden Fratzen beigemischt sind. Die kleinen Knötchen seiner Bett-
leinwand erscheinen ihm wie zahlloses Ungeziefer; am Fenster er-
blickt er Todtengesichter, die Skelette seiner Angehörigen, an den
Bäumen aufgehängte Leichen, oder er sieht Schlangen auf dem
Boden kriechen, Katzen, kleine Männer im Zimmer herumlaufen,
glaubt bis an die Kniee im Blute zu waten. Seltener sind Gehörs-
täuschungen, die als gelegentliche, abgerissene Bemerkungen vor-
zukommen pflegen, in denen die Umgebung ihi-em Aerger über den
344
V. Der WiihnRinn.
Kranken und ihrer Schadenfreude Luft macht oder ihm hinter seinem
Rücken neue schreckliche Ereignisse ankündigt.
Trotz aller dieser tiefgreifenden Störungen der Wahrnehmung
und Intelligenz ist ein gewisser Grad Yon Besonnenheit bei den
Kranken fast immer noch erhalten, Sie geben zutreffende Auskunft
über ihre persönlichen Verhältnisse und sind nicht selten im Stande,
ziemlich zusammenhängend zu erzählen, sowie neue Eindrücke,
freilich in krankhafter "Weise, weiter zu verarbeiten. Bisweilen be-
steht sogar ein dumpfes Bewusstsein von der Natur der Störung;
die Kranken klagen, dass man sie durch das Essen, die Arzneien
ganz verwfrrt gemacht, hypnotisirt habe, dass sie immerfort Unsinn
reden, bald dies, bald jenes Yerbrechen bekennen müssten, verrückt
geworden seien. In anderen FäUen fehlt den Kranken die Fähigkeit
vollkommen, selbst die absurdesten Widersprüche zu erkennen und
zu corrigiren; sie behaupten, dass sie nichts mehr gemessen könntea,
während sie mit vollen Backen kauen, und sie bitten in einem
Augenblicke, dass man sie durch Gift aus der Welt schaffen möge,
während sie im nächsten erklären, dass sie überhaupt nicht sterben
könnten, was immer man auch mit ihnen anfange.
Die Stimmung der Kranken zeigt manche Yerschiedenheiten.
Zumeist sind sie scheu, bekümmert, ängstlich, zurückhaltend und
geben oft nur wenige Andeutungen über die Wahnideen, welche sie
so sehr beschäftigen; nur vorübergehend schieben sich heftigere
Affectausbrüche mit Weinen und lautem Klagen ein. Sehr auffallend
ist ein eigenthümlich humoristischer Zug, dem man bei längerer
Krankheitsdauer nicht selten begegnet. Die Kranken sind ärgerlich
und verzweifelt, lachen dabei über sich selbst, ihre Dummheit, Yor-
kommnisse in ihrer Umgebung, machen einzelne witzige Bemerkungen
und jammern zugleich wieder darüber, dass sie lachen, da ihnen
nichts weniger als froh zu Muthe sei. Auf der andern Seite giebt
es eine ganze Anzahl von Fällen, die man vielleicht als agitirte
Form jener ersteren gegenüberstellen könnte, in denen bei stärkerer
Bewusstseinstrübung die intensivste ängstliche Aufregung den ganzen
Kran kheits verlauf begleitet. Die Kranken sind ausser sich vor Furcht,
zittern am ganzen Körper, flehen um Gnade, stöhnen und jainmern,
Anfangs leise, dann immer lauter, stundenlang dieselben stereotypen
Wendungen wiederholend, bis sie schliesslich nur noch unarticulirte,
heisere Laute auszustossen vermögen. Sie ringen die Hände, gesti-
Depressiver "Wahnsinn.
345
culii-en mit den Armen und dem Kopfe, zupfen sich Nase, Pinger,
Lippen, Ohrläppchen blutig, schlagen sich mit der Faust vor die
Stirn, zerraufen sich die Haare, zerschlitzen ihre Kleider, wälzen
sich am Boden, drängen mit blindem Ungestüm fort, legen sich
nicht ins Bett und setzen allen äusseren Einwirkungen, allen Be-
schwichtigungsversuchen den verzweifeltsten Widerstand entgegen.
Hier sowol, wie bei den ruhigeren Kranken, sind energische Selbst-
mord- und Selbstverstümmelungsversuche nicht selten.
Die Nahrungsaufnahme bereitet gewöhnlich grosse Schwierig-
keiten, da die Kranken ihren Abscheu vor dem „entsetzlichen Essen"
kaum zu überwinden vermögen und das Dargereichte hartnäckig
zui-ückweisen, selbst wieder ausspucken. Der Schlaf ist stets sehr
vermindert, von phantastischen, ängstlichen Träumen begleitet; aus
ilun erwachen die Kranken nicht erquickt, sondern mit schwerem
Kopfe, gequälter und verwirrter, als vorher, bis im Laufe des Tages,
namentiich gegen Abend, sich grössere Beruhigung einstellt. Die
allgemeine Ernährung pflegt langsam, bei grösserer Unruhe und
Nahrungsverweigerung sehr rasch zu sinken.
Der Verlauf des depressiven Wahnsinns ist in der Eegel ein
protrahirter. Zwar können die ausgeprägten Wahnideen und die
Sinnestäuschungen bisweilen schon nach einer Eeihe von Monaten
allmählich zurücktreten, allein die weitere Eeconvalescenz pflegt
auch dann sich erst nach vielfachen Schwankungen und Zwischen-
fällen zu vollziehen, so dass die Dauer der Erkrankung nur sehr
selten weniger als ein Jahr betragen dürfte. Bisweilen führt die
weitere Entwickelung der Psychose zu einem eigenthümlichen
Stadium grosser psychischer Reizbarkeit mit Neigung zu Zornaus-
brüchen, rechthaberischem, eigensinnigem Wesen und vagen Beein-
trächtigungsideen bei vollkommen erhaltener Besonnenheit. Der
Kranke ist unleidlich, launenhaft, leicht beleidigt, glaubt sich nicht
genügend beachtet und respectirt von seiner Umgebung, empfindet
dabei aber vielleicht selbst seinen Zustand als eine moralische Yer-
schlechterung.
Die Prognose des depressiven Wahnsinns muss immer als eine
zweifelhafte bezeichnet werden. Eine nicht unbedeutende Zahl von
Kranken wird man imheilbaren Schwächeformen anheimfaUen sehen;
einzelne gehen ausserdem durch Selbstmord oder chronische Er-
schöpfung zu Grunde. Bei ungünstigem Verlaufe schwinden zwar
346
V. Der Wahnsinn.
die Sinnestäuschungen, aber die auf der Höhe der Krankheit ent-
standenen Wahnideen und die kleinmüthige, ängstliche Stimmung
verlieren sich nicht ganz und treten namentlich bei geringfügigen
Anlässen (Gemüthsbewegungen) leicht wieder hervor. In anderen Fällen
kehrt die äusserliche Besonnenheit zurück, aber es kommt doch
keine ganz klare Krankheitseinsicht zu Stande. Die Kranken meinen,
dass viele ihrer Ideen durch das Benehmen der Umgebung motivirt
gewesen seien, dass sich erst durch das Verbringen in die Anstalt
ihr Zustand so sehr verschlechtert habe. Gerade hier bleibt häufig
die schon geschilderte hochgradige Keizbarkeit und Unzufriedenheit
als Ueberbleibsel der Krankheit dauernd zurück.
Der depressive "Wahnsinn ist offenbar den melancholischen Zu-
ständen nahe verwandt; er pflegt sich auch unter ähnlichen Yer-
hältnissen zu entwickeln, wie jene letzteren, doch scheint die Prä-
disposition hier eine erheblich grössere ätiologische Rolle zu spielen.
Auffallend häufig sind bereits in früheren Jahren psychische Er-
krankungen vorhergegangen. Am wichtigsten aber für die Würdigung
der Erkrankung ist wol der Umstand, dass sie in klassischer Aus-
bildung fast ausschliesslich zwischen dem 40. und 60. Lebensjahre,
namentlich im Anfange der 50 er Jahre, und zwar überwiegend beim
weiblichen Geschlechte vorkommt. Wir haben in ihr neben der
Melancholie die typische Psychose des Klimakteriums vor uns.
Es erscheint daher gerechtfertigt, die Krankheit als die Eeactionsform
eines nicht mehr ganz „rüstigen" Gehirns und als den Uebergang
von der Melancholie zu den senilen Depressionszuständen aufzufassen.
Von der ersteren unterscheidet sie sich durch die überaus phan-
tastische Entwickelung der intellectuellen Störungen, von jenen
letzteren durch die Intensität der Affecte, den grösseren Ideenreich-
thum und das geringere Hervortreten der psychischen Schwäche.
Gegenüber den ängstlich-stuporösen Pormen des hallucinatorischen
Wahnsinns ist auf die geringere Rolle der Sinnestäuschungen, nament-
lich der Gehörshallucinationen, den phantastischen Inhalt der Wahn-
ideen, das Lebensalter und den wesentlich andern Ausgang der
Krankheit hinzuweisen. Mit der Verrücktheit endlich ist dieselbe
wegen des subacuten Beginnes und Verlaufes, der lebhaften Affecte,
der günstigeren Prognose, sowie des widerspruchsvollen und zer-
fahrenen Inhaltes der Wahnideen nicht zu verwechseln.
Die Behandlung des depressiven Wahnsinns ist im Wesent-
Depressiver Wahnsinn. 347
V
liehen eine exspectative, doch bedürfen die Kranken noth wendig
der Anstaltspflege, der Entfernung aus den häuslichen Verhältnissen.
Für die erste Zeit wird man namentlich für möglichste geistige
und körperliche Kuhe zu sorgen haben, die man am besten
durch die Bettbehandlung erzielt. Besondere Aufmerksamkeit er-
fordert die zweckmässige Ernährung und weiterhin der Schutz der
Kranken vor Selbstmordversuchen, der eine unausgesetzte, gewissen-
hafte Ueberwachung absolut nothwendig macht. Die Schlaflosigkeit
wird nach den oft besprochenen Grundsätzen namentlich durch
hydropathische Massregeln bekämpft; bei stärker hervortretender
Angst ist die vorsichtige Durchführung einer methodischen Opium-
oder Morphiumcur zu versuchen. Die Verdauung bedarf fast immer
der Eegelung durch Ausspülungen oder leichte Laxantien. Alle
gemüthlichen Aufregungen, lange Gespräche, namentlich aber Be-
suche der Angehörigen sind in den ersten Monaten der Erkrankung
durchaus fernzuhalten, da sie regelmässig aufregend und schädlich
wirken. In der Eeconvalescenz ist die Beschaffung einer leichten,
nicht angreifenden, aber anziehenden Beschäftigung von besonderer
"Wichtigkeit. Ernstlich gewarnt werden muss vor zu frühzeitiger
Entlassung der Kranken, die oft durch das stürmische, fast unerträg-
liche Drängen derselben nahe gelegt wird. Erst dann, wenn dieses
durchaus krankhafte Symptom, welches oft die Geduld des Arztes
auf eine harte Probe stellt, wieder zurückgetreten ist, kann der
Versuch der Eückkehr in die häuslichen Verhältnisse gemacht werden;
auch dann jedoch bedarf der Eeconvalescent noch auf längere Zeit
hinaus der Euhe und Schonung.
YI. Die periodischen G-eistesstörnngen.*)
Als periodische Geistesstörungen bezeichnen wir diejenigen
Psychosen, welche sich ohne äusseren Anlass mehrfach im
Leben wiederholen. Dieselben sind daher einmal abzutrennen
von den einfachen Eückf allen, welche bei Eeconvalescenten eine
mehr oder weniger weitgehende Erneuerung der soeben rerschwinden-
den Krankheitserscheinungen herbeiführen, andererseits aber auch Yon
denjenigen vielfach recidiviren den 'Formen des Irreseins, welche durch
immer wiederkehrende Grelegenheitsursachen häufiger frisch erzeugt
werden, wie etwa die alkoholischen Delirien. Nicht selten sieht
man die periodischen Geistesstörungen in ziemlich regelmässigen
Zeiträumen sich wieder einstellen, ja es giebt Formen, deren ein-
zelne Anfälle man mit der grössten Sicherheit jeweüs vorherzusagen
vermag. Hier ist offenbar die Krankheit lediglich durch periodische
Umwälzungen im Innern des Organismus bedingt, die sich mit der
gleichen Pünktlichkeit vollziehen, wie der Eintritt des Schlafes, der
Menstruation, des epileptischen AnfaUs.
Die einzelnen Ausbrüche der Psychose sind hier nicht selbst-
ständige Erkrankungen, sondern nur die äusseren Zeichen eines
dauernden Krankheitszustandes, der aus sich selbst heraus aUmählich
den Anfall vorbereitet. Auch in den anscheiuend normalen Zwischen-
zeiten sind die Kranken keineswegs wirklich gesund, was sich häufig
genug geradezu in dem Fortbestehen einzelner krankhafter Eigen-
thümüchkeiten kundgiebt. Auf der anderen Seite aber kommt es
auch häufig vor, dass die Zwischenzeiten zwischen den einzelnen
Ausbrüchen der Störung vollständig unregelmässige sind. Der
Grund dafür Hegt bisweilen darin, dass die geringere Widerstands-
*) Kirn, Die periodischen Psychosen. 1878.
Deliriöse Fomen.
349
fähigkeit dos Organismus in gewissen Lebensaltern gerade dann die
Entwickelung einer Gleichgewichtsscliwankung ermöglicht, welche zu
andern Zeiten nicht zu Stande kommen kann. "Wir sehen dann, dass
etwa zwischen dem 15. und 25., sowie später zwischen dem 45. und
55. Jahre die Anfälle sich häufen, während sie in der Zwischenzeit
seltener sind. Oder aber es spielen doch gewisse äussere Schädlich-
keiten, die nur hie und da gerade einwirken (Wochenbett), im ein-
zelnen Falle wenigstens eine auslösende Eolle.
Die letzterwähnte Möglichkeit zeigt uns den Uebergang der
periodischen zu den einfachen Psychosen. Je grösser die Bedeutung
wii-d, welche der äusseren Ursache für den Ausbruch der Störung
zidsommt, desto mehr nähern wir uns diesen letzteren und umgekehrt.
Es erscheint fraglich, an welchem Punkte wir hier die Grenze setzen
sollen. Streng genommen, sollten nur die FäUe mit ganz regel-
mässigen Intervallen zu den periodischen Formen gerechnet werden.
Allein die Erfahrimg lehrt, dass zwischen ihnen und den weniger
typisch wiederkehrenden Psychosen eine durchgängige und sehr
nahe klinische Verwandtschaft besteht. Ja, ich habe schon früher
ausgeführt, dass die meisten wesentüch auf affectiver Grundlage ver-
laufenden Geistesstörungen, die Manie, die Melancholie und gewisse
Formen des Wahnsinns, eine entschiedene Neigung zu mehrfacher
Wiederholung deutlich erkennen lassen. Gerade diese Krankheits-
büder sind es denn auch, aus denen sich die einzelnen Anfälle des
periodischen Irreseins bei Weitem am häufigsten zusammenzusetzen
pflegen. Ausserdem kommen hie vuid da noch Syniptomencomplexe
zur Beobachtung, vne sie sonst dem an anderer Stelle zu besprechen-
den epileptischen Irresein mit seiner ausgeprägten Periodicität
eigenthümlich sind. Soweit es heute möglich ist, die grosse Mannich-
faltigkeit der einzelnen Krankheitsfälle in bestimmte Gruppen ein-
zuordnen, werde ich demnach im Folgenden deliriöse, manische,
circuläre und depressive Formen des periodischen Irreseins
auseinanderhalten.
A. Deliriöse Formen.
Bei den deliiiösen Formen handelt es sich um periodische,
rasch verlaufende Anfälle tiefer Bewusstseinstrübung mit
Sinnestäuschungen, phantastischen Wahnideen und meist
350 ^I- Die periodischen Geistesstörungen.
auch Erregungszuständen. Der Anfall beginnt gewöhnlich ganz
plötzlich; nur Schlaflosigkeit, Unruhe oder ängstliche Yerstimmung
kann sich schon 1 — 2 Tage vorher bemerkbar machen. Die Kranken
werden rasch verwirrt, verkennen ihre Umgebung und verlieren voll-
ständig die zeitliche und örtliche Orientirung. Sofort treten massen-
hafte Sinnestäuschungen auf. Es brennt; Yögel fliegen in der Luft
herum; Geister werfen ihnen Schlangen ins Gesicht; an den Wänden
huschen Schatten. Sie hören Glockenläuten, Schiessen, Wasser-
rauschen; die Stimme Gottes kündigt ihnen das jüngste Gericht, die
Erlösung von allen Sünden an. Der Kaffee riecht nach Todten, die
Hände wie verwest; das Essen schmeckt wie Ziegen- oder Menschen-
fleisch, das Wasser nach Schwefel. Der Kopf ist ganz taumelig, voll
Fieberhitze; die Kranken glauben gehoben, in Abgründe geworfen
zu werden; Alles stürzt um sie her zusammen. Zugleich entwickeln
sich zerfahrene, traumhafte Wahnideen. Ein schreckliches Unglück
bricht herein; der Kranke soll vergiftet, geköpft werden, ist ganz
allein auf der Welt. Alles ist vernichtet, die Angehörigen sind
sämmüich gestorben. Er hat das grosse Loos gewonnen, ist zum
Kaiser ausgerufen, der verheissene Held, der die Welt erlösen soll.
Das 1000jährige Eeich ist angebrochen; die grosse Schlacht mit dem
Antichristen wird geschlagen.
Die Stimmung ist während dieses Deliriums sehr wechselnd,
bald ängstlich verzweifelt, bald ausgelassen heiter oder verzückt,
bald theilnabmlos und gleichgültig. Im Anfange sind die Kranken
meist sehr erregt, schwatzen, schreien, tanzen herum, entkleiden sich,
zerstören, lassen unter sich gehen, schmieren und werden oft ohne
äusseren Anlass in rücksichtsloser Weise gewaltthätig gegen ihre
Umgebung oder gegen sich selbst. Sie sind gar nicht zu fixiren,
geben keinerlei Auskunft; in ihren völlig sinnlosen Eeden zeigt sich
hochgradige Ideenflucht. Zeitweise werden sie plötzHch ruhig, sind
aber dabei nicht klar, sondern benommen, unbesinnlich, verworren,
bis ebenso rasch die Erregung wieder beginnt. Während der ersten
Zeit pflegt fast völlige Schlaflosigkeit zu bestehen. Die Nahnmg
vdrd häufig verweigert; die Ernährung sinkt sehr schnell. Der Kopf
erscheint nicht selten stark geröthet; die Keflexe sind lebhaft; bis-
weilen beobachtet man deutiiches Zittern am ganzen Körper ohne
alkoholische Grundlage.
Das acute Stadium des Anfalls ist gewöhnlich nui' von kurzer
Deliriöse Formen.
351
Daner. Nach einigen Tagen, spätestens nach 3 — 4 "Wochen, pflegt ziem-
lich rasch Bernhigung einzuü-eten. In einzelnen Fällen verlieren sich
sämmtüche Krankheitserscheinungen von einem Tage zum andern;
meist jedoch vollzieht sich dieser Nachlass mehr allmähhch. Einzelne
Täuschungen, Eeste der Wahnideen , und namenthch der Stimmungs-
anomalien bleiben noch kurze Zeit zurück, nachdem die Aufregung
und Verwirrtheit bereits geschwunden sind. Die Kranken sind zu-
nächst noch misstrauisch, einsichtslos, unzufrieden, reizbar, auch wol
leicht ideenflüchtig, namenthch in Schriftstücken, redselig oder un-
zugänglich, drängen fort, bis dann im Laufe einiger Wochen nach
und nach auch die letzten Krankheitszeichen zurücktreten. Die Er-
innerung an die deliriöse Zeit ist meist eine ziemHoh unklare; bis-
weilen besteht sogar fast völlige Amnesie.
Der erste Anfall des periodischen Deliriums pflegt sich entweder
lun das 20. Lebensjahr herum oder erst im Laufe des 5. Decenniums
einzustellen. Die Zwischenzeiten betragen gewöhnlich etwa 2 Jahre,
bisweilen auch weit mehr; wie es scheint, können sich dieselben bei
häufiger Wiederkehr allmählich verkürzen. Die einzelnen Anfälle
gleichen einander meist sehr, doch kann es vorkommen, dass einmal
die ängstliche, ein anderes Mal die heitere Verstimmung mehr über-
wiegt. Die Dauer der Erkrankungen wechselt in so fern etwas, als
hie und da unentwickelte Anfälle vorkommen, in denen die nur
angedeuteten Krankheitserscheinungen sich sehr rasch wieder ver-
lieren; andererseits kann sich auch gelegentlich die Reconvalescenz
durch das Auftreten von Recidiven besonders in die Länge ziehen.
In den Zwischenzeiten zwischen den Anfällen ist, namentlich bei
rascherer Wiederkehr dieser letzteren, ein gewisser Grad von geistiger
Schwäche, Einsichtslosigkeit, Beschränktheit, Stumpfheit und Willen-
losigkeit nicht zu verkennen. Vielfach ist dieselbe schon von vorn
herein vorhanden, doch scheint sie bei längerem Bestände des Leidens
entschieden zuzunehmen.
Die Ursachen der Erkrankung liegen ohne Zweifel wesentlich
in krankhafter Veranlagung. Regelmässig findet sich hereditäre Be-
lastung, die sich gewöhnlich auch in angeborenem Schwachsinn oder
in auffallenden Eigen thümlichkeiten der geistigen oder körperlichen
Entwickelung klinisch zu erkennen giebt. Die einzelnen Anfälle
entstehen meist ohne jeden äusseren Anlass; hie und da jedoch
scheinen sie auch durch heftige gemüthliche Erregungen, Schreck,
352
VI. Die periodischen Geistesstörungen.
Aerger und dergl. ausgelöst zu werden. Die Prognose des ein-
zelnen Anfalles ist günstig.
Die Diagnose des periodischen Deliriums wird sich in der
Eegel leicht stellen lassen, wenn bereits einer oder mehrere Anfälle
vorangegangen sind. Unter solchen Umständen kann nur die Ab-
grenzung von einer epileptischen Geistesstörung in Frage kommen.
Abgesehen von dem vollständigen Fehlen aller sonstigen epilep-
tischen Krankheitszeichen ist namentlich auf die Ideenflucht und
den elementaren Bewegungsdrang hinzuweisen, welche dem hier be-
sprochenen Delirium gegenüber jenen Psychosen eigenthümlich
sind. Der einmalige Anfall kann in hohem Masse einem Collaps-
delirium gleichen, doch dürfte der gute Ernährungszustand und das
Fehlen einer genügenden äusseren Ursache schon hier meistens den
Verdacht einer periodischen Geistesstörung begründen. Gegenüber
der Amentia ist ausserdem auf den durchschnittlich weit rascheren
Yerlauf der Störung hinzuweisen.
Die Behandlung des Leidens ist eine wesentlich symptoma-
tische; sie hat alle die Aufgaben zu erfüllen, welche überhaupt bei
stürmisch verlaufenden Geistesstörungen erwachsen, genaue Ueber-
wachung der Kranken, Sorge für ausreichende Ernährung und Schlaf,
Versuche, möglichst rasch durch diätetische oder medicamentöse
Einwirkungen Beruhigung herbeizuführen. AUes Einzelne ist bei
Gelegenheit des CoUapsdeliriums eingehend besprochen worden. Ein
Mittel, die Wiederkehr der Anfälle zu verhindern, kennen wir bis-
her noch nicht; möglicherweise könnte das Bromkalium in grossen
Dosen hier nützen, wenn es gelänge, schon bei den ersten leisen
Anzeichen des herannahenden Anfalles einzugreifen.
B. Manische Formen.
In einer zweiten Gruppe fassen wir alle diejenigen Beobacht-
ungen zusammen, welche in sämmtlichen Anfällen den ma-
nischen Symptomencomplex, Ideenflucht, Stimmungs-
wechsel und Bewegungsdrang, darbieten. Je nach den beson-
deren klinischen Eigenthümlichkeiten lassen sich hier wieder eine
Reihe von Untergruppen auseinanderhalten. Am wichtigsten scheint
mir dabei die Abtrennung der Fälle mit kurzen von denen mit
langen Zwischenzeiten zwischen den einzelnen Aufregungszu-
ständen zu sein,
Manische Formen. 353
Bei der ersten dieser Formen dauern die Anfälle nicht
länger, als höchstens 3 — 4 Wochen, bisweilen nur wenige
Tage; ebenso pflegen die Intervalle die Dauer einiger Wochen
nicht erheblich zu übersteigen. Das eigentliche Krankheitsbild ist
fast immer das einer echten, ganz acut sich entwickelnden und
rasch verlaufenden Manie. Nachdem höchstens leichte Andeutungen
des beginnenden Anfalles, unmotivirtes Lächeln, Blitzen der Augen,
Herumwandern, voraufgegangen sind, werden die Ki-anken von
einem Tage zum andern, oft mitten in der Nacht, unruhig, aufgeregt,
verwirrt, stark ideenflüchtig, sind in gehobener Stimmung, reizbar
imd zeigen einen lebhaften motorischen Drang. Sie tanzen und
singen, fangen an, zu zerreissen und zu schmieren, ihre Umgebung
zu necken, sind oft sexuell stark erregt, essen in ihrer Unruhe
wenig und schlafen fast gar nicht. Das Körpergewicht nimmt
dabei regelmässig rasch ab, bisweilen um 5—8 Pfund in 24 Stunden
(Fürstner).
Der Eintritt der Beruhigung vollzieht sich in der Eegel ebenso
schnell, wie derjenige der Erregung, wenn man auch meist schon
gegen das Ende des Anfalles eine leichte Abnahme der Ideenflucht
und der Unruhe bemerken kann. Mehrfach schien mir die anfäng-
lich heitere und übermüthige Stimmung späterhin mehr reizbar und
unwirrsch zu werden. Der Kranke ist nun mit einem Male geordnet
imd oft sogar auffallend still, aber er gewinnt in der Eegel keine
vollständige, klare Einsicht in die krankhafte Natur seines Zustandes,
wenn er sich auch vieler Einzelheiten desselben noch gut. erinnert.
Vielmehr sucht er die überstandene Aufregung als etwas ganz Harm-
loses, oder als durch die Umgebung, die Zurückhaltung in der
Anstalt und dergl. motivirt hinzustellen. Eine gewisse körperliche
Erholung pflegt sich dann rasch zu vollziehen, doch bleibt das
Körpergewicht auch während des nun folgenden Intervalles häufig
niedriger, als in früheren, gesunden Zeiten.
Als die wichtigsten Ursachen der hier geschilderten Er-
krankung sind ausser der psychopathischen Prädisposition namentlich
Kopfverletzungen anzuführen. Beim weiblichen Geschlechte, welches
in auffallender Weise überwiegt, pflegt sich die Erregung häufig an die
Menstrualperioden zu knüpfen, in der Weise, dass mit dem Eintritte
der Menses oder kurz vorher auch der Tobsuchtsanfall beginnt, um
dann etwa 1—2 Wochen anzudauern, bis er einer gewöhnlich etwas
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Aufl. 23
354 VI. Die periodischen Geistesstörungen.
♦
längeren freien Zwischenzeit weicht (menstruelles Irresein). Im
Ganzen scheint die Krankheit vorzugsweise jugendlichere Personen
bis etwa zum 30. Lebensjahre zu befallen; sie kann indessen dann
in immer wiederholtem Wechsel zwischen Anfall und Intervall Jalire
und selbst Jahrzehnte andauern. Zuweilen kann sich, wie es scheint,
auch einmal ein etwas länger dauernder Anfall mit ganz leichter
manischer Erregung in die Eeihe der rasch verlaufenden Tobsuchts-
paroxysmen einschieben. Bei sehr langer Dauer der Krankheit bleibt
der regelmässige Typus derselben meist nicht unverändert; vielmehr
haben die Anfälle die Neigung, sich im Laufe der Zeit immer mehr
auszudehnen, und es kommt auf diese Weise allmählich nicht selten
zu einem Zustande dauernder ideenflüchtiger Yerwirrtheit und Auf-
regung, der nur hie und da in unregelmässigen, selteneren Zwischen-
räumen durch plötzlich eintretende und ebenso plötzlich wieder ab-
schneidende ruhigere Zeiten unterbrochen wird.
Das gesammte psychische Leben der Kranken pflegt bei diesem
Verlaufe sehr empfindlich zu leiden. Die Intelligenz und das Ge-
dächtniss nimmt stark ab, wenn die Kranken auch bisweilen in den
Intervallen noch durch einzelne Eeminiscenzen aus gesunden Tagen
überraschen. Das Urtheil über die Umgebung und namentlich
über den eigenen Zustand ist stets äusserst unklar; die Kranken
halten sich schon am ersten Tage der eingetretenen Beruhigung für
völlig gesund und drängen auf Entlassung. Ebenso hat die gemüth-
liche Sphäre ausnahmslos sehr gelitten. Ist auch oft die äussere
Form ihrer Gefühlsbeziehungen, annähernd wenigstens, die frühere
geblieben, so vermag sie doch den tieferblickenden Beobachter nicht
über die innere Leere und Theilnahmlosigkeit dieser schwachsinnig
gewordenen Kranken hinwegzutäuschen.
Die Prognose dieser Form der periodischen Manie ist keine
durchaus ungünstige; eine Anzahl von Fällen gelangt spontan oder
unter dem Einflüsse der Behandlung zur Heilung. Freilich ^^ard
eine vollständige Wiederherstellung der Gesundheit immer nur nach
kürzerer Dauer der Krankheit wahrscheinlich sein; wo die Psychose
schon erheblich länger, als etwa, ein Jahr bestanden hat, muss die
Aussicht auf Genesung als eine recht zweifelhafte bezeichnet werden.
Auch im günstigsten Falle wird es sich dann wol immer um eine
Heilung mit Defect, um das Zurückbleiben eines gewissen Grades
von Schwachsinn handebi. Die Diagnose der Erkrankung bietet
Manische Formen.
355
nicht die geringsten Schwierigkeiten. Höchstens wäre es im Beginne
möglich, dieselbe mit gewissen epileptischen Geistesstörungen zu
venvechseln, doch wird das specifisch manische Krankheitsbild, vor
Allem aber zweifellos die weitere Beobachtung, die rasche Wieder-
kehr der Tobsuchtsanfälle, eine richtige Auffassung der Psychose
immer sichern.
Die Behandlung hat einerseits die Aufgabe, den Kranken
während der Anfälle zu überwachen, sowie für Schlaf und genügende
Ernährung zu sorgen, andererseits aber womöglich den Ausbruch
des Paroxysmus überhaupt zu verhindern. Die zu diesem Zwecke
empfohlene Bettlagerung des Kranken vermag wol, wo sie durch-
führbar ist, die Erscheinungen des Anfalls etwas zu mildern, nicht
aber denselben wirklich zu coupiren. Dagegen kann ich aus eigener
Erfahrung die von Kehn eingeführte systematische Darreichung
des Bromkalium in sehr grossen Dosen dringend empfehlen.
Man giebt 12 — 15 gr. pro die, womöglich schon einige Tage vor
dem erwarteten Ausbruche des Paroxysmus begümend. Es gelingt
auf diese Weise bisweilen mit ganz überraschender Zuverlässigkeit,
das Auftreten der Erregung zu verhindern. Nachdem die besonders
gefährlichen Tage vorübergegangen sind, geht man ganz allmählich
mit der Dosirung des Mittels herunter, um bei der Annäherung an
den nächsten zu erwartenden Anfall von Neuem zu der angeführten
grossen Gabe anzusteigen u. s. f. In einzelnen, namentlich den sehr
lange dauernden Eällen mit verwischtem Typus bleibt diese Medi-
cation ohne Erfolg; in anderen bricht wenigstens nach dem Herunter-
gehen mit der Dosis die Aufregung hervor, um allerdings auch dann
durch hohe Dosen wieder sofort coupirt zu werden. Hier ist wegen
der Gefahr des Bromismus Yorsicht geboten, doch habe ich selbst in
einem ganz desolaten Falle durch die immer wieder aufgenommene
Brombehandlung nach und nach die Häufigkeit und Dauer der
freien Intervalle noch bedeutend zunehmen sehen. Endüch aber
giebt es frische EäHe, bei denen man durch die systematische Be-
kämpfung der Paroxysmen einen dauernden, unzweifelhaften Heil-
erfolg erzielt; selbst die Erscheinungen einer mässigen Brom Ver-
giftung sollten hier von der Verfolgung des Curplans nicht abschrecken,
da trotz derselben die psychische Genesung sich herauszustellen
pflegt. Jedenfalls hüte man sich, die Medication plötzlich abzu-
brechen.
23*
356
VI. Dio periodischen Geistesstörungen.
Die zweite Untergruppe der periodisch-manischen Psychosen ist
durch die beträchtlich längere Dauer der freien Zwischen-
zeiten gekennzeichnet, welche hier im Anfange zum mindesten ein
Jahr, vielfach sogar eine ganze Anzahl von Jahren zu be-
tragen pflegen. Die Minische Färbung des Aufregungszustandes
trägt in einer ersten Keihe von Fällen vollständig die Züge der
einfachen Manie, mit dem einzigen Unterschiede vielleicht, dass
die Psychose in rascherem Tempo sich zu ihrer Höhe entwickelt.
Nach einem mehr oder weniger ausgesprochenen, bisweilen immer-
hin einige "Wochen dauernden depressiven Yorstadium schlägt der
Zustand des Kranken plötzlich um. Er wird verwirrt, ideenflüchtig,
schlaflos; die Stimmung wd ausgelassen, heiter, bisweilen auch
überaus reizbar, zu heftigen Zornausbrüchen geneigt, und es stellt
sich lebhafter Bewegungsdrang ein, Schwatzen, Singen, Pfeifen, Tanzen,
Zerreissen, Schmieren, sinnloses Schimpfen und Gewaltthätigkeiten.
Dieser Zustand höchster Erregung dauert bisweüen nur sehr kurze
Zeit an. Schon nach wenigen Tagen kann ziemlich plötzhche Be-
ruhigung eintreten. Meist bleiben allerdings dann noch für eine oder
mehrere Wochen leichte Unruhe, gehobene, reizbare Stimmung und
eine eigenthümliche Einsichtslosigkeit, Klagen über miserable Behand-
lung, Unzufriedenheit, Drängen nach sofortiger Entlassung zurück.
In diesem Zustande können sehr geringfügige Anlässe zu schweren
Eückf allen führen, bis dann unter rasch fortschreitender körperlicher
Erholung aUmähhch völlige Beruhigung imd damit auch die Ki-ank-
heitseinsicht zu Stande kommt. In der Mehrzahl der Fälle indessen
pflegt der Anfall erheblich länger zu dauern. Unter vielfachen
Schwankungen zum Besseren und zum Schlechteren ersü-eckt sich
die Erregung über 3 — 6 Monate, nicht selten auch noch länger, um
dann ganz allmählich abzunehmen.
Eine zweite Eeihe von Beobachtungen ist dadui'ch ausgezeichnet,
dass sich statt einer eigentlichen Tobsucht regelmässig nur ein ganz
leichter Erregungszustand mit völliger Erhaltung der Be-
sonnenheit entwickelt. Der im gewöhnlichen Leben oft sehr wort-
karge, zurückgezogen lebende, selbst menschenscheue Kranke beginnt
mit einem Male „aufzuthauen". Er wrd gesprächig, entwickelt eine
auffallende, überstürzte Geschäftigkeit, vernachlässigt aber dabei seine
eigenthche Berufsarbeit; er fängt an, sich auffallend zu kleiden,
Gesellschaft, bisweilen recht unpassende, aufzusuchen, kleinere und
Manischü Formen.
357
grössere Excesse zn begehen, ungewöhnlich viel Geld zu verthun, sich
auf Reisen zu begeben. Ein derartiger Kranker erbot sich plötzhch
der Pohzei, einen lange gesuchten pohtischen Yerbrecher sofort zur
Stelle zu schaffen, verheb dabei dem Beamten in scherzhafter Weise
eine Phantasieuniform, lud durch die Zeitung „die ganze Haute volee"
zum Ballfest in einem Aussichtspavillon ein. Die Bemühungen
seiner Angehörigen, ihn zu beruhigen, erweisen sich nicht nur als
erfolglos, sondern sie reizen den Kranken geradezu und führen leicht
zu heftigen Zornausbrüchen und selbst Gewaltthaten. Er fühlt sich
in seiner Unternehmimgslust von seiner Umgebung nicht verstanden
imd wird misstrauisch , tyrannisch und gereizt gegen dieselbe; er
wird es um so mehr, wenn er auf deren Veranlassung in eine An-
stalt gebracht wird, nachdem er sich überall compromittirt, sowie in
unangenehme Skandal- und Processgeschichten hineinverwickelt hat.
Die Empfänglichkeit des Kranken ist in der Eegel gesteigert;
er fasst äussere Eindrücke rasch und vollständig auf, ja er zeigt
sogar bisweilen eine geschärfte Beobachtungsgabe, welche ihn die
Eigenthümlichkeiten und namentHch die Unvollkommenheiten nnd
Schwächen seiner Umgebung mit einer gewissen sarkastischen oder
humoristischen Gewandtheit herausfinden lässt. Die Besonnenheit
ist vollständig erhalten, die Erinnerung durchaus lückenlos, aber
in hohem Grade durch die Stimmung und den besonderen Stand-
punkt des Kranken beeinflusst, so dass sie nur ein stark subjectiv
gefärbtes Bild der jüngsten Ereignisse zu hefern pflegt. Der Ge-
dankengang ist im Allgemeinen geordnet und zusammenhängend,
doch lassen sich, namentlich bei längeren Auseinandersetzungen, die
Andeutungen einer leichten Ideenflucht niemals verkennen. Eine
Krankheitseinsicht besteht durchaus gar nicht; vielmehr hält sich
der Kranke für vollkommen gesund, ja für gesünder, als jemals.
Alle seine extravaganten Handlungen versteht er als völlig harmlose
oder sogar fein durchdachte und wol motivirte' darzustellen; um
einen Entschuldigungs- oder Erklärungsgrund ist er niemals in der
geringsten Yerlegenheit. Die Beschränkimg seiner persönlichen
Freiheit betrachtet er als einen schlechten Witz oder als eine un-
verzeihliche Ki-änkimg, die er auf Intriguen seiner Angehörigen oder
sonst ihm feindlich gesinnter Individuen zurückführt, und zu deren
Beseitigung und Sühne er gesetzliche MassregeLn zu ergreifen droht.
Die Stimmung des Kranken ist bald mehr gutmüthig,, humo-
358
VI. Die periodischen Geistesstörungen.
ristisch, bald gereizt, zu Zornausbrüchen geneigt, wo er sich in
seiner freien Bewegung behindert fühlt. Dem Arzte begegnet er
mit lustiger Selbstii'onie oder auch grob und patzig, da er keinen
Arzt braucht imd sich selber curiren kann. Das Selbstgefühl ist
ein sehr gehobenes; er spricht von seiner Persönlichkeit, seinen
Leistungen und Yerdiensten mit einer gewissen Emphase, blickt auf
seine Umgebung mit vornehmer Geringschätzung herab und lässt sich
auch wol zu allerlei handgreiflichen, phantasievollen Renommistereien
hinreissen, von denen es oft nicht ganz klar ist, wie weit er ihnen
im Augenblicke selber Glauben schenkt.
Im Handeln des Kranken pflegt sich die innere Unruhe am
deuthchsten kund zu geben. Trotz äusserlicher Besonnenheit begeht
er eine Menge von planlosen Thorheiten und Kindereien. Er nimmt
auffallende Veränderungen an seiner Kleidung vor, reisst die Knöpfe
ab, die Taschen heraus, kehrt den Rock um, steckt die Hosen in
die Strümpfe, knüpft die Hemdzipfel zusammen, verfertigt sich Ringe
aus Garnresten; er sucht im Garten, wie im Zimmer, aus allen
Ecken, wie aus dem Bereiche seiner Mitpatienten eine Unmenge von
Gegenständen zusammen, die in seiner Tasche ein buntes Sammel-
surium bilden, Brotreste, Cigarrenstümpfe, Steine, trockene Blätter,
Fäden, Papierfetzen, Glasscherben, Nägel, Eisenstückchen und dergl.
mehr. Für alle diese Dinge hat er Verwendung. Der Tabak und
die Blätter werden in Papier gewickelt geraucht; das Papier wird
zum Schreiben, die Nägel zum Pfeifenstopfen, die Scherben zum
Bleistiftspitzen benutzt; das Uebrige dient als Tauschmittel, um von
den Mitpatienten kleine Vortheile zu erlangen. Bisweilen wird aucli
allerlei in die Nase oder die Ohren gesteckt, das Ohrläppchen mit
Streichhölzern oder Drahtstückchen durchbohrt, Cigarrenasche und
Staub als Schnupftabak verwendet, das Barthaar theilweise mit der
Cigarre versengt. Seine Mitpatienten pflegt der Kranke zu tyranni-
siren, ihnen fortzunehmen, was ihm gefällt, ihnen Befehle zu er-
theilen und häufig genug auch mit Schimpfworten oder Thätlich-
keiten entgegen zu treten. In der Nacht schläft der Kranke sehr
wenig, vertreibt sich dabei die Zeit nicht selten mit lautem Singen
oder künstlicher Verarbeitung seines Bettmaterials, namentlich des
Strohes aus dem Strohsacke. Der Appetit ist in der Regel vor-
trefflich; trotzdem pflegt das Körpergewicht erheblich zu sinken.
In der geschilderten "Weise kann das klinische Bild mit ge-
Manische Formen.
359
ringen Schwankungen längere Zeit unverändert bleiben. Nur selten
kommt es ganz vorübergehend für Avenige Tage zu einer hoch-
gradigen Steigerung der Aufregung mit ideenflüchtiger Verwirrtheit.
Zumeist erhält sich die Besonnenheit während des ganzen, sich
mindestens über 3—6 Monate, oft auch weit länger erstreckenden
Ejrankheitsverlaufes.
Es muss endlich darauf hingewiesen werden, dass es noch eine
Reihe von Beobachtungen giebt, in denen das Bild der maniaka-
lischen Erregung durch das Auftreten ausgeprägter Wahn-
ideen und Sinnestäuschungen complicirt wird. Der Anfall
beginnt in der Eegel mit Schlaflosigkeit, Unruhe, denen sich häufig
noch Kopfschmerzen, Ohrensausen und ähnliche Symptome hinzu-
gesellen. Es kommt nun meist zu einer rasch sich steigernden
manischen Erregung, in welcher die Kranken häufig, aber nicht
immer, die Orientirung über ihre Lage verlieren. Sie sehen
Schlangen und Leichen, den Teufel, die Franzosen, arme Seelen.
Die Personen ihrer Umgebung sind ganz verändert, werden für
historische Grössen, Ludwig XTV., Caesar, Elisabeth gehalten. Sie
hören verworrenes Getöse, werden verhöhnt und verspottet; es wird
ihnen befohlen, dass sie nicht essen sollen; Gott bestimmt sie zu
etwas Höherem. In der Nacht werden giftige Dünste in's Zimmer
geleitet, sexuelle Attentate auf sie ausgeführt; sie fühlen elek-
trische Schläge; die Speisen schmecken nach Gift. Ihre Ge-
danken werden ihnen eingegeben; sie sind verhext, verzaubert,
werden durch Mittel aufgeregt, sind allen möglichen Verfolgungen
ausgesetzt; man quält sie. Sie haben übernatürliche Kräfte, sind
eine Art Erlöser, adelig, Husarenofficier ; es ist Krieg draussen;
Alles geht durcheinander.
Die Stimmung ist dabei vorwiegend heiter, expansiv, reizbar,
namenthch im Beginne, doch kommt es gelegentlich auch zu
Angstanfällen und namentlich zu leicht stuporösen Zuständen. Die
Kranken werden dann still, unzugänglich, imwirrsch, liegen tagelang
stumm da, vielfach mit geschlossenen Augen, werden ganz unver-
muthet einmal brutal, gewaltthätig, schleudern das Essen von sich,
verunreinigen sich, entkleiden sich plötzlich.
Nach einigen' Monaten werden die Kranken rasch klar, sind
aber noch "Wochen oder selbst Monate lang in reizbarer, unver-
träglicher Stimmung, lärmend, anspruchsvoll, einsichtslos; häufig
360
VI. Die periodischen Geistesstönmgen.
kommt es zu kleinen Kückf allen in schwerere tobsüchtige Erregung.
Die volle Beruhigung pflegt erst nach 4 — 5 monatlicher Krankheits-
clauer, bisweilen noch später zu erfolgen. Die Erinnerung an die
Zeit der "Wahnideen und Sinnestäuschungen ist eine ziemlich ver-
worrene; „es war wie ein Traum."
Yielleicht stehen zu dieser letztgeschilderten Form die merk-
würdigen Fälle in einer gewissen Yerwandtschaft, welche uns im
Yerlaufe einer periodischen Manie das Auftreten küi'zer oder länger
dauernder Anfälle von Stupor zeigen. Die Kranken, die im Uebrigen
typisch maniakalische Erkrankungen, wol auch mit einzelnen Grössen-
ideen und zeitweisem Verlust der Besonnenheit, darbieten, werden
mitten aus anscheinender Gesundheit heraus ganz plötzlich stumm,
ausgeprägt kataleptisch , verweigern die Nahrung, sind aber dabei
vollständig klar und zeigen in gelegentlichem Lächeln, einzelnen
impulsiven Handlungen, abgerissenen humoristischen Bemerkungen
die expansive Färbung ihrer Stimmung. Nach Tagen, Wochen oder
selbst Monaten verschwindet der Zustand fast ebenso rasch, wie er
gekonunen war. Die Kranken haben ganz genaue Erinnerung an
die verflossene Zeit, vermögen aber ihr absonderliches Benehmen
durchaus nicht zu motiviren. „Ich wollte keinen "Willen haben," sagte
mir ein derartiger Kranker. Er hatte, die Nahrung verweigert, um
leichter zu werden und dadurch die Gesundheit zu erlangen, fühlte
sich aber dui'ch den Hunger veranlasst, grosse Mengen Müch durcb
die Nase einzuschlürfen und an einer Semmel leidenschaftlich zu
riechen. Bei diesen absonderlichen Yeranstaltungen lächelte er selbst,
sprach aber kein "Wort und Hess sich nicht davon abbringen.
Die wesentliche Ursache der im Yorstehenden beschriebenen
Krankheitsformen ist überall in der psychopathischen Praedis-
position zu suchen, welche in der Mehrzahl der Fälle durch erb-
liche Belastung, bisweilen vielleicht auch durch Kopfverletzungen
erzeugt wird. Gewöhnlich treten gewisse, nach dieser Richtung hin
beachtenswerthe psychische Eigenthümlichkeiten, Schwachsinn, leichte
Erregbarkeit, excentrisches oder misanthropisches "Wesen, geringe
"Widerstandsfähigkeit gegen Alkohol, auch während der freien Inter-
valle zwischen den Anfällen deutlich genug hervor. Der erste Anfall
der Krankheit erfolgt am häufigsten zwischen dem 20. und 30. Lebens-
jahre; bisweilen sind früher, bis ins Pubertätsalter zurück, schon
schwächer ausgebildete Erregungszustände . voraufgegangen. In ein-
Manische Formen.
361
zelnen Fällen werden auch zwischen den eigentlichen Anfällen un-
regelniässige Andeutungen unmotivirter trauriger Yerstimraungen,
Ai-beitsunlust und Lebensüberdi-uss beobachtet. Diese Erscheinung
deutet ebenso wie die gelegentlichen depressiven Einleitungsstadien
auf die nahe Verwandtschaft dieser Erkrankungen mit dem circu-
läi-en Ii-resein hin. Von äusseren Anlässen sind die einzelnen An-
fälle meist völlig unabhängig; nur hie und da scheinen sie sich ein-
mal an eine heftige Gemüthsbewegung, ein körperliches Unwohlsein
oder dergl. anzuschliessen. Die Kranken selbst fühlen das Heran-
nahen der Psychose bisweilen schon Tage oder gar Wochen vorher,
ohne sich darüber klare Rechenschaft zu geben. Eine meiner
Patientinnen machte häufig einige Zeit vor dem Ausbruche des An-
falls einen sonst ganz unmotivirten Besuch in der Anstalt, bei dem
sie noch keine Spur von Krankheitssymptomen zeigte. Andere haben
noch Zeit, vor dem Beginne der Erregung ihr Haus zu bestellen und
sich dann freiwillig in die Behandlung zu begeben; ein derartiger
Kranker sprang einmal mitten in der Nacht über die hohe Mauer
in die Anstalt herein, nachdem er schon mehrere Stunden weit ge-
laufen wai\
Die einzelnen Anfälle pflegen sich bei demselben Kranken ziem-
lich genau zu gleichen, bisweilen bis in die kleinsten Züge hüiein; es
giebt aber auch vielfache Ausnahmen von dieser Regel. Namentlich
kommt es öfters vor, dass sich in eine Reihe von Anfällen ohne
Trübung der Besonnenheit einmal ein typischer Tobsuchtsparoxysmus
hineinschiebt. Die Dauer der Anfälle zeigt nicht selten die Neig-ung,
mit häufigerer Wiederkehr allmählich zuzunehmen, wenn auch trotz
langen Bestandes der Krankheit gelegentlich ein Anfall unerwartet
rasch verlaufen kann. Die Zwischenzeiten pflegen sich nach und
nach zu verkürzen. Ich sah bei einer Kranken im Laufe von 18 An-
fällen die Dauer dieser letzteren von 3—4 auf 6 — 7 Monate wachsen,
während die Intervalle von 1 Jahre auf 5—6 Monate abnahmen.
Die Prognose dieser Formen ist daher im Allgemeinen eine
trübe. Die Krankheit kehrt immer wieder und lässt namentlich bei
stürmischer verlaufenden Anfällen eine allmählich wachsende geistige
Schwäche zurück. In besonders ungünstigen Fällen kann es früher
oder später zur Entwickelung eines bleibenden Zustandes leichter
maniakalischer En-egung mit kindischem Sammel triebe kommen.
Auf der andern Seite giebt es Fälle genug, in denen die Anfälle so
362
VI. Die periodischen Geistesstörungen,
leicht und durch so lange Zwischenzeiten von einander getrennt
sind, dass es zu keiner bemerkbaren dauernden Schädigung des
Seelenlebens kommt. Hie und da lässt auch, wie es scheint, in
vorgerücktem Alter die Intensität und die Zahl der Anfälle von
selber nach.
Die Diagnose der hier besprochenen Krankheitsformen ist
stets mit grösster 'Wahrscheinlichkeit zu stellen, sobald man es nicht
mehr mit dem ersten Anfalle zu thun hat. Höchstens kann die
Unterscheidung von paralytischen Aufregungszuständen in Frage
kommen, mit denen das Krankheitsbild bisweilen sehr grosse Aehn-
lichkeit darbietet. Zumeist wird hier der frühe Beginn der Psycliose
zur richtigen Erkenn tniss führen. Recht selten sind die Fälle, in
denen der erste Anfall so spät eintritt, dass wir das Lebensalter nicht
gegen die Diagnose der Paralyse verwerthen können. Dann wird
die Uebereinstimmung der beobachteten Anfälle untereinander, das
Fehlen einer höhergradigen geistigen Schwäche, der Gedächtnissstörung
und der nervösen Symptome, auch das relativ normale Verhalten
des Kranken im Intervalle für das Yorhandensein einer periodischen
Psychose sprechen. Ein manischer Anfall in jugendlichem Alter
muss stets den Verdacht auf ein periodisches Leiden erwecken, um
so mehr, wenn er ohne genügenden Anlass auftiitt, und wenn die
Besonnenheit dabei wenig getrübt ist. Andererseits scheinen auch
die mit Wahnideen und Sinnestäuschungen einhergehenden manischen
Aufregungszustände, wie ich sie früher unter den labilen Formen des
Wahnsinns beschrieben habe, häufig, vielleicht sogar regelmässig den
periodischen Erkrankungen anzugehören.
Die Behandlung lehnt sich in allen Punkten dm'chaus an die-
jenige der einfachen maniakalischen Erkrankungen an. Ein Mittel,
die Anfälle selbst zu coupiren, kennen wir bisher nicht; auch das
Bromkalium scheint nach dieser Eichtimg hin ohnmächtig zu sein,
obgleich es die Intensität der Aufregung nicht selten bedeutend herab-
setzt. Gleichwol ist es zweifellos, dass ein ruhiges Leben in ge-
ordneten Verhältnissen, namentlich der Schutz vor Alkoholmissbrauch,
sowie die jedesmalige rasche Verbringung in die Anstalt nicht nur
die Stärke, sondern auch die Häufigkeit der Krankheitsanfälle in
günstigem Sinne zu beeinflussen im Stande ist.
Circuläre Formen.
363
C. Circnläre Formen.*)
Die grosse Gruppe der circuläi-en Formen umfasst alle die-
jenigen Fälle, in denen die einzelnen Anfälle des periodischen Irre-
seins nicht einander gleichartig sind, sondern bald eine manische,
bald eine depressive Färbung darbieten. Die Hinischen Eigen-
thümlichkeiten, welche diese beiden entgegengesetzten Arten von
Anfällen zeigen, können dabei im Einzelnen ausserordentlich ver-
schieden sein, so dass hier eine sehr grosse Mannichfaltigkeit von
Krankheitsbildern entsteht.
Für die depressiven Zustände ist am meisten charakteristisch
eine einfache psychische Hemmung ohne Sinnestäuschungen
und ohne ausgeprägte Wahnideen. Der Kranke ist still, ein-
silbig, menschenscheu, missmuthig; seine Vergangenheit wie seine
Zukimft erscheint ihm in gleichmässig trübem Lichte ; er fühlt sich
namenlos unglücklich, ohne doch sagen zu können, warum. Sein
Leben ist verpfuscht; er passt nicht für seinen Beruf, will um-
satteln. Nichts vermag sein Interesse dauernd anzuregen, nichts
macht ihm Freude; er ist gleichgültig geworden gegenüber seinen
Angehörigen und Demjenigen, was ihm früher das Liebste war.
Ueberau sieht er nur die Schattenseiten und Schwierigkeiten; die
Menschen um ihn herum sind nicht so gut und uneigennützig,
wie er gedacht hat; eine Enttäuschung und Ernüchterung folgt
der andern. An aUen Ecken und Enden kostet es Geld, mehr wie
er bezahlen kann. Sein wirthschaftlicher Ruin ist unausbleiblich;
er fängt daher an, zu sparen und zu knausern, sich und Andern
nichts mehr zu gönnen, trägt seine schiechtesten Kleider, isst sich
nicht mehr satt. Mit einer gewissen dumpfen Resignation, die
jeden Trost und jeden Lichtblick ausschliesst, schleppt sich der
Kranke mühsam von einem Tage zum andern hin. Er fühlt, dass
seine frühere Leistungsfähigkeit geschwunden ist, dass ihm jede
kleine Anstrengung unsäglich schwer wird, und dass er auch den
gewöhnlichsten Anforderungen nicht mehr zu genügen vermag.
Ganz besonders auffallend ist der vollständige Mangel an Energie.
Der Kranke sitzt oft tagelang, stumpf vor sich hinbrütend, die Hände
in den Schoss gelegt, verzweifelnd da, unfähig, sich zu irgend einer
*) Emmerich, Schmidt's Jahrbücher CXC, 2; Pick, Circuläres Irresein,
Eulenbargs Kealencyclopädie, 2. Auflage.
364
YI. Die i)eriodischen Geistesstörungen.
Handlung omporzuraffen. Selbst die alltägliclisten Yerrichtungen,
das Aufstehen, Ankleiden, Waschen, kosten ihm eine unerhörte An-
strengung. Beim Spazierengehen bleibt er in der Hausthüre oder an
der nächsten Ecke stehen, unschlüssig, wohin er sich wenden soll. Ge-
rade wegen dieser schweren Willensstörung kommt es nur selten zum
Aufti-eten von Selbstmordideen, noch seltener zum wirklichen Tentamen
suicidii. In einzelnen Fällen kann die Hemmung bis zur völligen
reactionslosen Aufhebung aller "Willen säusserungen fortschreiten.
Zumeist besteht in diesem Stadium der Psychose ein sehr
ausgeprägtes Krankheitsgefühl, ja nicht selten sogar eine gewisse
Krankheitseinsicht, insofern die Patienten ihr Bedauern über früher
vorgekommene Ungehörigkeiten und die Besorgniss aussprechen, dass
sie sich im exaltirten Stadium auf's Neue compromittiren möchten.
Vielfach wird indessen die Wiederkehr der Verstimmung auf äussere
Zufälligkeiten, unangenehme Erfahrungen, Aenderungen in den
Verhältnissen u. dergl. zurückgeführt. Für den unbefangenen Be-
obachter ist es dabei deutlich, dass die psychische Wirkung jener
Einflüsse überhaupt erst durch die krankhaft pessimistische Ver-
änderung der gemüthlichen Eeactionsweise zu Stande gekommen Avar.
Meist klagen die Kranken auch über allerlei körperliche Be-
schwerden, Druck und Benommenheit im Kopfe, Ohrensausen,
Beklemmungsgefühle, Herzklopfen. Der Appetit ist in der Kegel
sehr herabgesetzt, die Zunge belegt, der Stuhlgang angehalten; die
Kranken essen nur mit WiderAvillen und auf vieles Zureden. Der
Schlaf ist stets empfindlich beeintr'ächtigt; die Kranken liegen
stundenlang, von peinigenden Vorstellungen gequält, schlaflos im
Bette, um nach wirren, ängstlichen Träumen am andern Morgen mit
wüstem Kopfe, abgeschlagen und ermattet zu erwachen. Sie stehen
meist sehr spät auf, bleiben auch wol Tage oder Wochen lang ganz
liegen. Der Gesichtsausdruck und die Körperhaltung ist
schlaff und matt, die Augen glanzlos; die Haut ist fahl, runzelig,
welk; das Körpergewicht pflegt zu sinken.
Wenn bei der soeben beschriebenen Form die einfache Hemuuiug
der gesammten psychischen Functionen ohne einen selbständigen,
bestimmten Affect den Hintergrund des Kraukheitsbildes zu liefern
scheint, so nähert sich die Depression in einer zweiten Keihe von
Fällen mehr dem Verhalten der typischen Melancholie, bis-
weilen auch mit ängstlicher Fäi'bimg. Die Kranken werden tramüg,
Circuläre Formen.
365
YGrstimmt, schlaflos, fühlen sich innerlich beunruhigt und hören
auf, zu arbeiten. Es entwickelt sich rasch bei ihnen ein Ver-
sündig'ungs- und Kleinheitswahn, seltener einzelne Yerfolgungsideen.
Sie sind unnütz auf der "Welt, ganz verAvorfen und schlecht, haben
nicht Alles gebeichtet, können nicht mehr beten, haben Alle un-
glücklich gemacht, sind Schuld am Krieg. Das Vermögen reicht
nicht mehr; sie kommen nicht durch, sind unheilbar krank, un-
glücklich für's ganze Leben, werden eingesperrt, von den Gensdarmen
abgeholt, lieber ihre Umgebung sind sie dabei orientirt, haben
auch nicht selten ein ausgeprägtes Krankheitsgefühl. Die Stimmung
ist bald resignirt, niedergeschlagen, hoffnungslos, bald mehr ängstlich
und weinerlich, mit gelegentlichen heftigeren Affectausbrüchen. In
ihrem Benehmen sind die Kranken still, theilnahmlos, selbst stuporös,
mit Andeutungen von Katalepsie, oder unstät und aufgeregt mit
Selbstmordneigung, die fi'eilich nicht sehr energisch zu sein pflegt.'
Die köi-perlichen Begleiterscheinungen dieser Zustände sind die
gleichen, wie bei melancholischen Erkrankungen.
"Wir haben endlich noch eines dritten Formenkreises zu gedenken,
innerhalb dessen sich die depressive Phase des circulären Irreseins
abspielen kann. Derselbe ist gekennzeichnet durch das Auftreten
einer tieferen Bewusstseinstrübung und die Ausbildung
phantastischer Sinnestäuschungen und Wahnideen. Nach
kurzdauernden Prodromaler scheinungen, Kopfschmerzen, Schlaflosig-
keit, Unfäliigkeit zu denken, Eeizbarkeit, beginnen die Kranken
]5lötzlich, zu halluciniren, und versinken rasch in einen traumartig
stuporösen Zustand. Ihre Umgebung verändert sich in der aben-
teuerlichsten "Weise: das Zinnner dehnt sich aus ins Unendliche,
wird zum Himmel, in welchem sie Gott auf dem Throne sitzen sehen,
oder zum engen Grabe, in dem sie ersticken, während draussen
Todtengebete gemurmelt werden. Die ganze "Welt verbrennt unid
erstarrt dann wieder zu Eis; der Kranke ist der letzte Mensch, der
ewige Jude, allein in der Verwüstung, in Sibirien. Draussen wird das
Schaffet aufgeschlagen; eine zahlreiche Gesellschaft beobachtet und
verspottet ihn; der Ofen macht bissige Bemerkungen. Man lässt
ihn nackt auf der Strasse herumlaufen, stellt ihn als siamesischen
Zwilling öffentlich aus, fordert ihn auf, sich aufzuhängen, um seine
Schande zu begraben. Die Gesichter um ihn herum verzerren sich;
die Personen haben eine mystische Bedeutung, sind historische
366
VI. Die periodischen Geistesstöningen.
Grössen, Gottheiten. Der Kranke selbst ist anderen Geschlechtes
geworden, geschwollen wie ein Fass; er ist von hoher Abkunft, der
Welterlöser, ein Schlachtross. Während dieser bunten, wechselnden,
zusammenhangslosen Delirien, die von massenhaften hallucinatorischen
und illusionären Täuschungen aller Süine begleitet werden, sind
die Kranken äusserlich meist stark gehemmt, ausser Stande, ein
Wort zu sprechen oder selbst für ihre Bedürfnisse zu sorgen. Ohne
lebhafteren Affect zu verrathen, liegen sie stumm, unzugänglich,
theilnahmlos im Bett; nur der gespannte, scheue Gesichtsausdruck
und das Widersti-eben gegenüber äusseren Eiawü-kungen, bisweüen
auch einzelne Zwangsstellungen oder -bewegungen, sowie unver-
muthete impulsive Handlungen (Selbstmordversuche), deuten auf die
Vorgänge in ihrem Innern hin. Sie schlafen wenig, essen unregel-
mässig, sind nicht selten unrein und kommen in ihrer Ernährung
rasch herunter.
Kaum weniger mannichf altig, als das Büd der depressiven
Phase kann sich dasjenige der expansiven Anfälle gestalten. In
einer ersten Gruppe von Beobachtungen entwickelt sich der Sym-
ptomencomplex einer typischen Manie, Ideenflucht, heitere, aber
leicht wechselnde Stimmung und flotter Bewegungsdrang bei er-
haltener Orientirung. Hie und da steigert sich die Erregung zu
tieferer Verworrenheit, namentlich im Beginne eines Anfalls
oder ganz episodisch, seltener während längerer Zeiträume. Im
letzteren Falle wird auch das gelegentliche Auftreten von Sinnes-
täuschungen und zusammenhangslosen Wahnvorstellungen,
Grössenideen sowol wie- Verfolgungsideen, beobachtet. Eine weitere
Gruppe von Kranken bietet eigenthümliche, manisch-stuporöse
Zustände dar. Die Kranken sind gewöhnlich ganz unzugänglich,
mit sich selbst beschäftigt, kümmern sich nicht um ihre ümgebimg,
geben keine Antwort, sprechen höchstens leise vor sich hin, lächeln
unmotivirt, nesteln an ihren Kleidern oder Bettstücken herum,
drapiren sich in phantastischer Weise, Alles ohne Zeichen von
äusserer Um-uhe oder Affect. Nicht selten lässt sich Katalepsie
nachweisen. Zeitweise werden sie lebhafter, schimpfen, springen aus
dem Bett, werfen ihr Essen ins Zimmer, entkleiden sich plötzlich,
zerreissen ein Kleidungsstück oder misshandeln ohne äussere Ver-
anlassung einen Mitpatienten, um sofort wieder in ihre fi'ühere
ünzugänglichkeit zurückauversioken. Höchst wahrscheinlich be-
Circuläre Formen.
367
stehen hier Siimestäuschungen und "Wahnideen, wenn auch die Ki-anlten
selbst später meist wenig Auskunft über diese Zeiten zu geben ver-
mögen. Die manische Färbung solcher Zustände wird durch die
gelegentlich hervorti'etende heitere, humoristische Stimmung, das voll-
ständige Fehlen der Angst, sowie durch den Gegensatz gegenüber
den zugehörigen depressiven Stadien sehr deutlich. Nicht selten
bildet dieser manische Stupor gewissermassen den letzten Ausläufer
der langsam sich ausgleichenden tobsüchtigen Erregung.
Als die eigentlich charakteristische Gestaltung der manischen
Phase des circulären Irreseins ist endlich die Ausbildung eines
ganz leichten Exaltationszustandes mit völliger Erhaltung
der Besonnenheit zu betrachten. Mit den ähnlichen Ki-ankheits-
bildern der periodischen Manie werden diese Formen wol als „Hypo-
manie", „Mania sine delirio", „Mania mitis" zusammengefasst oder
als „Manie" im engeren Sinne der mit stärkerer Erregung und Yer-
wirrtheit einhergehenden „Tobsucht" gegenübergestellt. Es scheint in-
dessen, dass die Störung im circulären Irresein meist noch leichter
zu verlaufen pflegt, als bei der periodischen Manie. Schüle spricht
daher von einer „Mania mitissima". Auch manche Formen der
„folie raisonnante" gehören hierher.
Die Auffassung äusserer Eindrücke und der Verlauf
der Yorstellungen geht mit einer gewissen Leichtigkeit vor sich;
das Interesse des Kranken wächst nach den verschiedensten Kichtungen
hin; er erscheint vielfach aufgeweckter, scharfsinniger, leistungs-
fähiger, als früher. Namentlich ist es die Gewandtheit in der Er-
fassung entfernter Aehnlichkeiten, die nicht selten dem Hörer im-
ponirt, weil sie den Krauten zu witzigen Wendungen und Pointen,
Wortspielen, überraschenden, wenn auch bei genauerer Betrachtung
meist wenig stichhaltigen Vergleichen und ähnlichen, auf gesteigerter
Beobachtungs- und Combinationsgabe beruhenden Leistungen der
Phantasie befähigt. AUes, was er angreift, wird ihm leicht; er kennt
keine Ermüdung mehr und zeigt eine ihn selbst übeiTaschende
körperliche und geistige Eegsamkeit.
Stets ist jedoch schon bei den leichtesten Graden der Störung
der Mangel an innerer Einheit des Vorstellungsverlaufes,
die Unfähigkeit zur consequenten Verfolgung einer bestimmten Ge-
..dankenreihe, zur luhigen, logischen Durcharbeitung und Ordnung
gegebener Ideen, die Unbeständigkeit des Interesses, das jähe, un-
368
YI. Die periodißclien Geistesstömtigen.
vemiittelte Abspringen von einem Gegenstande zum andern ausser-
ordentlich charakteristisch. Allerdings Avissen die Kranken nicht
selten mit einiger Ansü-engimg diese Erscheinungen vorübergehend
zu verwischen und die Herrschaft über ilu'en zügellos gewordenen
Vorstellungsverlauf noch für einige Zeit wiederzugewinnen; in Schrift-
stücken und namentlich in den oft eifi'ig betriebenen Eeimereien
pflegt dann doch eine leichte Ideenflucht regebnässig deutlich hervoi--
zutreten.
Die Stimmung des Kranken ist vorwiegend eine gehobene,
heitere, diu-ch das Gefühl der erhöhten Leistungsfähigkeit beeinflusstc.
Er fühlt sich glücklich und froh, nicht selten in etwas überschAväng-
Hcher "Weise, sieht sich von lieben, edlen Menschen umgeben, findet
voUe Befriedig-ung in den Genüssen der Freundschaft, der Kunst,
der Humanität. Bisweilen entwickelt sich ein ausgeprägt humor-
istischer Zug, die Neigung, allen Dingen und Ereignissen die scherz-
hafte Seite abzugewinnen, Spitznamen zu erfinden, sich selbst und
Andere harmlos zu verspotten. Meist ü-eten jedoch gerade die Bedüi-f-
nisse und Wünsche der eigenen Person gänzHch in den Yordergi-und.
Auf der andern Seite besteht regelmässig eine gTOSse gemüthliche
Eeizbarkeit. Der Kranke wird rücksichtslos und selbst brutal, wo er
mit seinen Wünschen und Neigungen auf Widerstand stösst; gering-
fügige äussere Anlässe können heftige Zornesausbrüche mit ki-äftigem
Schimpfen und Neigung zu Gewaltthätigkeiten herbeiführen. Der
innere Halt des Kranken ist verloren gegangen; er lässt sich gänz-
lich diu-ch momentane Eindrücke und Affecte beherrschen, die sofort
eine unwiderstehliche Macht über seinen directionslosen Willen er-
langen. Seine Handlungen ü^agen daher vielfach das Gepräge des
Tiiebartigen, Unüberlegten und — wegen der geringen Störung der
Intelligenz — des Umnoralischen.
Was vor Allem auffällt, ist seine erhöhte Geschäftigkeit. Der
Kranke fühlt das Bedüiiniss, aus sich herauszugehen, mit seiner
Umgebung in lebhafteren Yerkehr zu ü-eten, eine Rolle zu spielen.
Es duldet ihn nicht lange im Bett; in aller Er übe, um 4 Uhr be-
reits, steht er auf, kramt herum, arbeitet, macht Morgenspaziergänge.
Er beginnt Gesellschaften, Vergnügungen zu besuchen, viele und
lange Briefe zu sclueiben, ein Tagebuch zu fühi-en, Gedichte von
zweifelhaftem Werthe zu verfassen, sich um alle möglichen Dinge
und Verhältnisse zu kümmern, die ihm früher gänzlich fern lagen
Circiiliiro Formen.
369
Er knüpft zahlreiclie Yerbindungen an, zahlt plötzlich ohne NöthJgung
sämmtliche Geschäftsschiüden, sümit das Geld mit vollen Händen
aus, baut Luftschlösser und stürzt sich mit raschem Enthusiasmus
in unberechenbare, seine Ki-äfte weit übersteigende Unternehmungen.
In Folge eines plötzlichen Einfalles unternimmt er weite, planlose
Kelsen, sammelt alle möglichen unnützen Dinge bei sich an, macht
eine Menge zweckloser Einkäufe und Tauschgeschäfte, auch ohne
einen Pfennig in der Tasche, weil jedes neue Object seine Begierde
reizt. Selbst der gelegentliche Diebstahl und die Uebervortheilung
wird in dieser ki'ankhaften Lust am Besitze bisweilen nicht gescheut,
um irgend einen erwünschten Gegenstand zu erlangen.
Im äusseren Benehmen des Kranken macht sich gewöhnlich
erhöhtes Selbstgefühl, die Sucht hervorzutreten, daun aber Um-uhe und
Unstetigkeit bemerkbar. Mit theati-alischem, gespreiztem Gebahren
verbinden sich sehr lebhafte und exaltirte AusdiaicksbeAveg-ungen.
Die Eleidung ist auffallend, vielleicht stutzerhaft, aber gleichzeitig
nachlässig, salopp. Die Schrift zeigt gi'osse, prätentiöse Züge, viele Aus-
rufimgs- und Fragezeichen, Unterstreichungen neben mannichfachen
Unsauberkeiten und Flüchtigkeiten in der äusseren Form. Der
Kranke führt überall das Wort, drängt sich bei jeder Gelegenheit
in den Vordergrund, declamirt öffentlich, arrangirt Feste, sucht Aller
Augen auf sich zu lenken, zu imponiren; er spricht viel und gern,
laut, mit besonderer Betonung, in gesuchten Ausdrücken, von sich
selbst oft in der dritten Person, um sich ein gewisses Relief zu
geben, renommirt in stark übertriebener Weise mit seinen vornehmen
Bekanntschaften, seinen Leistungen und Fähigkeiten, ohne es mit
der Wahrheit sehr genau zu nehmen. Dabei lässt er sich häufig
sehr ungenirt gehen, macht grobe Verstösse gegen Anstand und
Sitte, erzählt obscöne Witze in Damengesellschaft, nimmt sich mit
lustiger Bonhommie unpassende Vertraulichkeiten gegen Fremde oder
höher stehende Personen heraus, schhesst mit dem ersten Besten
Freundschaft und Dutzbrüderschaft und geräth in die mannichfaltigsten
Conflicte mit seiner Umgebung und der öffentlichen Ordnung, in-
dem er seinen augenblickhchen Launen und Eingebungen folgt, die
ihn zu allerlei muthwilligen, unüberlegten und ungehörigen Hand-
limgen treiben.
In seinem Thatendrange beginnt der vorher vielleicht streng
soüde Kranke daher auch, sich allen möglichen Excessen hinzugeben,
Krae polin, I'sychiatrio. 4. Aufl. 24
370
VI. Die periodischen Geistesstörungen.
sich häufig zu betrinken, unsinnig zu spielen, die Nächte auszu-
bleiben, sich in Bordellen und zweifelhaften Localen herumzutreiben,
übermässig zu rauchen und zu schnupfen, stark gewürzte Speisen
zu essen u. s. f. Bei Frauen äussert sich die Erregung häufig in
lebhaften sexuellen Gelüsten, die sich in auffallender Toilette, un-
genirtem Benehmen, zweideutigen Vertraulichkeiten, in der Neigung,
Bälle zu besuchen, zu coquettiren, Liebesverhältnisse anzuknüpfen,
schlüpfrige Romane zu lesen, besonders kundzugeben pflegen. Nicht
selten wird diese Charakterveränderung von der Umgebung zunächst
nicht als krankhaft, sondern als sittlicher Fehler aufgefasst, den man
durch freundschaftliche Auseinandersetzungen und sociale Mass-
regelungen vergebens zu corrigiren sucht. Eine meiner Kranken
erliess in diesem Zustande regelmässig Heirathsannoncen, die schliess-
lich den Erfolg hatten, dass sie thatsächlich mit einem wenig ver-
trauenswürdigen Individuum die Ehe einging.
Trotz all dieses unsinnigen Benehmens und der unverkennbaren
Erregung zeigt der Kranke regelmässig eine ganz auffallende
Besonnenheit. Freilich fehlt es ihm vollständig an einer Einsicht
in seine Krankheit; im Gegentheü fühlt er sich gesünder, als jemals,
und lässt sich selbst durch den Hinweis auf frühere Anfälle, die er
während des depressiven Stadiums vielleicht ganz richtig beurtheilte,
keinen Augenblick von der pathologischen Natur seiner heiteren
Stimmung überzeugen. Dieses Verhalten erinnert bis zu einem ge-
wissen Grade an die Erfahrungen, welche man so häufig über die
Selbsttäuschungen Betrunkener zu machen Gelegenheit hat. Seine
Handlimgen weiss der Kranke vielfach mit ausserordentlicher Spitz-
findigkeit zu motiviren.
Die Mannichfaltigkeit dieses Krankheitsbildes im Einzelnen ist
trotz aller typischen Züge eine sehr grosse. Je leichter der eigent-
lich pathologische Vorgang den Menschen berührt, desto mehr muss
ja seine persönliche Eigenart in der Gestaltung der Symptome mit
zur Geltung kommen. Namentlich in der Art und Heftigkeit der
gemüthlichen ßeactionen machen sich die Verschiedenheiten bemerk-
bar. "Während manche Kranke in dieser Zeit ungemein liebenswürdig,
gutmüthig, lenlfsam, umgänglich sind und höchstens dm-ch ihre Ruhe-
losigkeit für die Umgebimg störend werden, gehören Andere wegen
ihrer Reizbarkeit, ihrer Herrschsucht und ihres rücksichtslosen Thaten-
dranges mit zu den schwierigsten und unangenehmsten Patienten.
Circulfire Formen.
371
Gerade die eigenthüraliche " Mischung von Besonnenheit mit echt
tobsüchtigem Handeln, vielfach auch die gTOsse Anstaltserfahrung
macht sie überaus erfinderisch in Mitteln, ihre zahlreichen Gelüste
zu befriedigen, die Umgebung zu hintergehen, sich allerlei Vortheile
zu verschaffen, fremdes Eigenthum in ihren Besitz zu bringen. Ihre
Mitkranken pflegen sie bald vollständig zu beherrschen, sie auszu-
beuten, dem Arzte in technischen Ausdrücken über sie zu berichten,
sie zu bevormunden und zu terrorisiren.
Die körperlichen Erscheinungen der manischen Phase sind je
nach der besonderen Gestaltung derselben etwas verschieden. Bei
den Formen mit stärkerer Erregung ist der Schlaf stets sehr gestört,
weniger die Nahrungsaufnahme. Das Körpergewicht sinkt regel-
mässig recht bedeutend. Bisweilen beobachtet man Kopfcongestionen,
geröthetes Gesicht, injicirte Conjunctiven, starkes Schwitzen am Kopfe,
Kälte der Extremitäten. Einige Male sah ich in Folge des anhalten-
den Schreiens hochgradige Ausdehnung und Schlängelung der ober-
flächlichen Venen am Halse. In den hypomanischen Formen ist von
besonderem Interesse der durchgängige Gegensatz auch des körper-
lichen Verhaltens gegenüber demjenigen in der depressiven Phase.
Der Appetit ist gesteigert, der Schlaf fest und ungestört, aber von
kurzer Dauer; das Körpergewicht steigt. Die Haut gewinnt frische
Farbe und Spaimung, die Bewegungen werden elastisch und kräftig,
das spärlich gewordene Haar wächst nach, bisweilen mit verjüngtem
Pigment.
Die Zusammensetzung der einzelnen Krankheit aus den im Vor-
stehenden geschilderten entgegengesetzten Zuständen kann sich in
ausserordentlich verschiedener Weise vollziehen. Vor Allem haben
wir continuirliche und discontinuirliche Yerlaufsarten zu
unterscheiden. Bei den ersteren dauert das Irresein ohne eigentliche
freie Zwischenzeiten vom ersten Anfall bis zum Ende der Krankheit
oder des Lebens ununterbrochen fort, während im letzteren Falle
zwischen den einzelnen Ausbrüchen des Leidens längere Zeiträume
mehr oder weniger vollständiger geistiger Gesundheit sich einschieben.
Diese letzteren, übrigens sehr zahlreichen Formen bilden den üeber-
gang zu den früher besprochenen periodischen Erkrankungen, von
denen sie sich nur durch die verschiedenartige Färbung der einzelnen
Anfälle abgrenzen.
Die continuirlichen Formen zeigen uns den immer wiederholten
24*
372
VI. Die periodischen Gcistesstöningen.
regelmässigen "Wechsel von Depression 'und Erregung. Der Ueber-
gang der beiden Phasen in einander vollzieht sich bisweilen ganz
plötzlich und dann regelmässig in der Nacht. Der deprimirte Kranke
v?acht zur gegebenen Zeit vrider sonstige Gewohnheit sehr früh auf
und ist nun manisch; der Erregte fühlt sich eines Morgens müde,
abgeschlagen, gehemmt. Häufiger sieht man den Wechsel der Zu-
stände sich schon von langer Hand vorbereiten. Der Gesichtsausdruck
und die Haltung des bis dahin deprimirten Kranken wird allmählich
freier, sein Auge lebhafter; der Appetit und die Ernährung hebt
sich. Seine Haut gewinnt die frühere Spannung, seine Bewegungen
ihre Elasticität wieder. Nach und nach wird er zugänglicher, zeigt
mehr Interesse für seine Umgebung, beginnt sich andauernder zu
beschäftigen, fühlt sich frischer und wohler, äussert die Sehnsucht
nach Freiheit und Beruf sthätigkeit, „nach Frühling und "Waldesgrün,"
fasst seine Entlassung ins Auge und macht oft längere Zeit hindurch
den Eindruck eines Keconvalescenten.
Indessen deutet sich die krankhafte Natur der anscheinenden
Besserung oft schon jetzt an. Einzelne Handlungen tragen vielleicht
bereits einen manischen Anstrich, während im Ganzen noch die
Zeichen der Hemmung überwiegen. Ich behandle eine Kranke, die
nach schwerer Depression trotz völliger Besonnenheit kaum im
Stande ist, ein "Wort hervorzubringen, dabei körperlich aufblüht,
häufig lächelt und zum allgemeinen Erstaunen kürzlich blitzschnell
eine Ohrfeige austheilte. Mehr und mehr gewinnt dann die expan-
sive Erregung die Oberhand. „Charfreitag ist heute, aber bei mir
ist schon Ostern geworden," schrieb eine Kranke in ihr Tagebuch.
In ähnlicher Weise spielt sich die entgegengesetzte Wandlung
ab. Das Körpergewicht, welches sich auch bei typisch manischer
Phase in der letzten Zeit gehoben hatte, beginnt langsam wieder zu
sinken. Nun lässt die Vielgeschäftigkeit allmählich nach; die grossen
Pläne treten in den Hintergrund; der Kranke „hat keinen solchen
Muth mehr"; die Stimmung wird ruhiger, ernster, trüber. Hie und da
tauchen einzelne Eeflexionen über getäuschte Hoffnungen, verfehlte
Anläufe, schwere Lebenserfahrungen auf; die Bewegungen werden
langsamer, schlaffer, energieloser, der Gesichtsausdruck matt, abgespannt,
der Blick müde, und nun treten auch alle die übrigen Erscheinungen
der früheren Depressionszustände eine nach der andern wieder hervor.
Der typische Verlauf dieser allmähligen Uebergänge ist oft in
Circiiläre Formen.
373
hohem Grade fi-appirend. Bis in dio kleinsten Einzelheiten der
Lebensführung, in alle Neigungen und Abneigungen hinein, pflegt
sich dieser schlagende Gegensatz der Zustände zu erstrecken, so dass
man glauben möchte, zwei vollständig verschiedenartige Menschen
vor sich zu haben. Trotzdem müssen die physiologischen Grund-
lagen der beiden Phasen sehr nahe mit einander verwandt sein.
Dafür sprechen nicht nur die Fälle mit plötzlichem Umschlag des
Kj-ankheitsbildes , sondern die weitere Thatsache, dass auch bei all-
mählichem Eintritte der Wandlung nicht selten sich ganz vereinzelte
manische Tage mitten in die Zeit der Depression einschieben können
und unigekehrt. Die Kranken gehen verstimmt und gehemmt zu
Bett, wachen plötzlich auf und fühlen, als ob ein Schleier von ihrem
Hirn weggezogen wäre, verbringen den Tag in manischer Schafl'ens-
freudigkeit, um am nächsten Morgen zerschlagen, mit schwerem
Kopfe das ganze Elend ihres Zustandes wieder in sich vorzufinden.
Oder, wie ich es kürzlich erlebte, der hypomanische Kranke unter-
nimmt ganz unvermuthet einen schweren Selbstmordversuch.
Den Beginn der ganzen Krankheit scheint bei Weitem am
häufigsten die Depression zu bilden; er fällt fast regelmässig in das
Entwickelungsalter oder wenig später. Nicht immer ist jedoch der
continuirliche Verlauf von vorn herein ausgesprochen. Es giebt
zahlreiche Eälle, in denen wir zunächst einzelne Perioden unmotivirter
Verstimmung oder extravaganter Ausgelassenheit beobachten, die
als einfache „Launen" „erwachende Lebenslust", u. dergl. gelten oder
mit irgend welchen Zufälligkeiten in Beziehung gesetzt werden«
Ohne Zweifel bleibt es häufig bei solchen Andeutungen. Sie bilden
die Uebergänge zu jenen normalen Schwankungen des gemüthlichen
Gleichgewichtes, die so oft bei nervösen Menschen schon eine ge-
wisse Regelmässigkeit der Aufeinanderfolge, eine auffallende Un-
motivirtheit und Unabhängigkeit von äusseren Anlässen erkennen
lassen. In anderen Fällen wird die krankhafte Natur- der Zustände
allmählich deutlicher, imd sie beginnen sich in bestimmtem Wechsel an
einander zu schliessen. Das geschieht meistens im Verlaufe des dritten
Lebensjahrzehnts, bisweilen auch erst im fünften, nachdem bis dahin
nur einzelne sporadische Anfälle meist depressiver, seltener expansiver
Art voraufgegangen sind. In die Zeit des Klimakteriums fällt häufig
auch überhaupt der erste Anfall eines continuirlich weiterverlaufenden
cifculären Irreseins.
374
VI. Die penodißclion Geistesstörungen.
Die klinische Form der Anfälle kann eine sehr verschiedene
sein. Für die manische Phase scheint mir das Bild der Hypo-
manie, für die depressive dasjenige der einfachen Hemmung zu
überwiegen, doch kommen hier auch nicht selten die hallucinato-
risch-stuporösen Zustände zur Beobachtung. Die verschiedenen
Anfälle gleicher Färbung pflegen bei continuirlichem Yerlaufe ein-
ander sehr ähnlich zu sein; weit seltener tritt etwa eine Manie
in einen Cyclus hypomanischer Phasen, ein Stupor in die Reihe
der melanchohschen Verstimmungen ein u. s. f. Bisweüen ist die
Uebereinstimmung der einzelnen Anfälle eine so weitgehende, alle
kleinen und kleinsten Züge umfassende, dass man mit einem ge-
wissen Rechte von einer „photographischen" Gleichheit der Bilder
hat sprechen können. Die Dauer der Phasen bei demselben Kranken
pflegt im Allgemeinen auch ziemlich gleich zu bleiben, doch kommen
hier, namentlich bei den einleitenden, sporadischen Anfällen, stärkere
Abweichungen vor. Im Durchschnitte beträgt die Dauer eines
einzelnen, aus Depression und Exaltation zusammengesetzten Anfalles
etwa 1 — 2 Jahre, doch giebt es auch Fälle von nur 1 — 2 monat-
lichem und andererseits solche von mehrjährigem Typus. Die beiden
Stadien pflegen von annähernd gleicher Länge, das melancholische
jedoch meist ein wenig ausgedehnter zu sein.
Die discontinuirlichen Formen verlaufen dauernd in ein-
zelnen, durch längere Intervalle von einander abgegrenzten Anfällen.
Dabei knüpfen sich entweder je eine depressive und expansive Phase
■eng aneinander, oder die ganze Krankheit löst sich in eine Reihe
ganz selbständiger, bald depressiver, bald expansiver Anfälle auf.
Die Färbung dieser Anfälle kann dabei regelmässig wechseln, oder
es können sich in eine Reihe gleichartig gefärbter Erkrankungen
nur vereinzelte entgegengesetzte Anfälle hineinschieben. Die Yer-
schiedenheit der Krankheitsbilder wird durch die Möglichkeit aller
dieser Yarianten, die sich zudem bei dem gleichen Individuum all-
mählich in einander umwandeln können, eine so grosse, dass eine
eingehendere Schilderung weder möglich noch nothwendig erscheint.
Das Gemeinsame ist überall der Wechsel periodisch wiederkehrender
depressiver oder manischer Krankheitszustände.
Unter den klinischen Formen der einzelnen Phasen
scheinen mir hier typisch-manische und melancholische Anfälle gegen-
über den schwächer ausgeprägten Krankheitszuständen zu überwiegen.
Circuläre ]<\irnien.
375
Die Dauer der jeAveiügen Anfälle ist hier zumeist kürzer, als bei der »
vorigen Gruppe, durchschnittlich etwa 8—12 Monate. Wo die ein-
zelnen Phasen als selbständige Anfälle auftreten, pflegen die Krank-
heitserscheinungen häufig schon nach 4—6 Monaten zu schwinden.
Das gegenseitige Yerhältniss der beiden Phasen ist ein sehr wech-
selndes. Bisweilen erhebt sich die Depression kaum über die Rolle
eines „Vorstadiums" länger anhaltender manischer Erregung, während
in anderen Fällen die expansive Phase nur als kurze Episode in
einer dauernden, zeitweise sich steigernden depressiven Yerstim-
mung erscheint. Auch die einzelnen Anfälle bei demselben Indi-
viduum zeigen sowol in ihrer Dauer, wie in der Ausbildung der
Ki-ankheitserscheinungen nicht selten grosse Abweichungen unter-
einander. Unvollständige, wenige Tage oder Wochen dauernde An-
fälle können neben solchen von vielmonatlichem Yerlaufe vor-
kommen; die mildeste Hypomanie kann beim nächsten Male durch
eine schwere Tobsucht ersetzt werden. Im Grossen und Ganzen
fi'eilich lässt sich immerhin mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
auf einen gleichartigen Yerlauf der einzelnen Erkrankungen rechnen.
Der Beginn der Psychose fällt hier so gut wie ausschliesslich
in das zweite, höchstens noch in. die erste Hälfte des dritten Decen-
niums. In der weit überwiegenden Mehrzahl der FäUe ist der erste
AnfaU ein depressiver, nicht selten in der Form eines leichten
Stupors; derselbe geht dann entweder unmittelbar in eine manische
Phase über, oder diese letztere folgt einige Jahre später als selbst-
ständiger Anfall. Endlich können auch zunächst mehrfach nur
Depressionszustände auftreten, bevor einmal der Umschlag in die
manische Erregung oder ein besonderer manischer Anfall sich ein-
stellt. Die Zwischenzeiten zwischen den einzelnen Ausbrüchen der
Krankheit betragen meist einige Jahre; sie pflegen sich bei längerer
Dauer der Psychose allmählich zu verkürzen. Sehr bemerkenswerth
ist die Thatsache, dass die Anfälle bisweilen von der Mitte des 3.
bis zum 5. Decennium erheblich seltener werden oder ganz aus-
setzen, um dann von Neuem wiederzukehren. Bei rascher Wieder-
holung der Anfälle erscheinen die Kranken auch in den Zwischen-
zeiten meist nicht vollkommen normal. Wenn auch keine deutlichen
Krankheitszeichen mehr nachweisbar sind, so ist doch eine gewisse
Unfreiheit und Unselbständigkeit, gedrücktes, menschenscheues
Wesen, leichte Ermüdbarkeit und Herabsetzung der Arbeitskraft
VT. Die periodischen Geistesstöninj^en.
vielfach unverkennbar. Hier liegt der Uebergang zu den continuir-
lich verlaufenden Formen; freilich kann der geschilderte Zustand
Jahr und Tag vollkommen stationär bleiben.
Die Ursachen des circulären Irreseins sind, wie diejenigen
der periodischen Psychosen überhaupt, wesentlich constitutionelle.
Fast ausnahmslos findet sich schon erbliche psychopathische Yer-
anlagung, die sich klinisch öfters auch in allerlei Eigenthümlich-
keiten des Charakters kundgiebt, namentlich in Reizbarkeit, Launen-
haftigkeit, Haltlosigkeit. Nicht selten findet sich bei den Kranken
eine vortreffliche intellectuelle oder ästhetische Begabung. Das
weibliche Geschlecht mit seiner grösseren gemüthlichen Erregbar-
keit ist anscheinend für das circuläre Irresein etwas stärker dispo-
nirt, als das männliche. Unter den gegen 60 selbst beobachteten
Fällen, welche der vorstehenden Schilderung zu Grunde liegen,
stellt sich das Yerhältniss der beiden Geschlechter etwa wie 3:2.
Gerade die Entstehung der Erkrankung aus dem Innern der
Persönlichkeit heraus macht uns die Unabhängigkeit der einzelnen
Anfälle von äusseren Anlässen, die so häufig ganz erstaunliche
Uebereinstimmung derselben untereinander, sowie die Yorliebe der
Psychose für gewisse Lebensalter vollkommen erklärlich. Das
Klimakterium und in noch weit höherem Grade das Entwickelungs-
alter sind eben diejenigen Lebensabschnitte, in welchen sich auch
unter normalen Verhältnissen gemüthliche Gleichgewichtsschwank-
ungen am leichtesten entwickeln. Je mehr sich die Psychose dem
continuirHchen Verlaufe nähert, desto selbständiger wird sie gegen-
über äusserer Beeinflussung, desto typischer wiederholen sich alle
kleinen Züge der einzelnen Anfälle.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die circulären Psy-
chosen mit den manischen Formen des periodischen Irreseins in
allernächster Verwandtschaft stehen. Die periodische Manie mit
depressivem Vorstadium ist von gewissen Arten der circulären Er-
krankung nur noch künstlich zu trennen. Das ist erklärlich, wenn
wir bedenken, dass expansive und depressive Zustände hier überall
nur für die oberflächliche Betrachtung Gegensätze sind. Der häufige
unvermittelte Uebergang beider in einander zeigt, dass sie nur ver-
schiedene Seiten eines und desselben krankhaften Grundzustandes
darstellen, der ebenso leicht die eine wie die andere Färbung an-
nehmen kann. Schon in der einfachen Manie sehen wir ja häufig
*
Circiiläve Formen.
377
genug diesen plötzlichen Umschlag aus einer Stimmung in die
andere. Die wesentliche gemeinsame Eigenthümlichkeit der man-
ischen und circulären Formen des periodischen Irreseins ist dem-
nach das Auftreten eines labilen Gleichgewichtszustandes auf ge-
müthlichem und psychomotorischem Gebiete, der in unregelmässigeni
oder regelmässigem "Wechsel bald eine Erleichterung, bald eine Er-
schwerung der hier sich abspielenden psychischen Vorgänge zur
Folge haben kann.
In welcher Weise sich dabei gerade der Umschlag nach dieser
oder nach jener Seite vollzieht, so dass im einzelnen Falle die
typische Kegelmässigkeit des Yerlaufes entsteht, ist freilich durchaus
unklar. "Wir können vorerst nur darauf verweisen, dass in unserem
Nervensysteme die Neigung zu periodischem Ablaufe der Hem-
mungs- und Erregungsvorgänge auf den verschiedensten Gebieten
wiederkehrt. Meynert hat die Erklärung für den Wechsel gegen-
sätzlicher Zustände in periodischen Störungen der vasomotorischen
Innervation gesucht. In Folge von gesteigerter Reizbarkeit des Ge-
fässcentrums soll sich ein verstärkter Contractionszustand im ge-
sammten Arteriengebiete mit gleichzeitiger Hirnanaemie als Ursache
der depressiven "Verstimmung entwickeln. Gerade die so entstan-
dene mangelhafte Ernährung des vasomotorischen Centrums soll
dann weiterhin eine Lähmung desselben, Erweiterung der Gefässe
und Hyperaemie des Gehirns herbeiführen, als deren Ausdruck
der Symptomencomplex des manischen Stadiums betrachtet wird.
Zweifellos ist es, dass Veränderungen im Verhalten der Pulsbilder
den beiden Phasen des Anfalles parallel gehen; dagegen muss die
Frage nach deren Deutung und pathogenetischem Werthe als eine
noch offene bezeichnet werden.
Die Prognose des circulären Irreseins muss im Allgemeinen
als ungünstig bezeichnet werden. Es giebt allerdings eine kleine
Zahl von Fällen, in denen anscheinend völlige Heilung eintritt,
namentlich bei jugendlichen Individuen und kurzer Dauer der ein-
zelnen Anfälle. In der Regel aber kehrt die Krankheit immer
wieder und zeigt dabei nicht selten die Neigung, sich mehr der
continuirlichen Verlaufsart zu nähern. Diese letztere Form dürfte
die prognostisch ungünstigste sein. Trotzdem pflegt die Intelligenz
der Kranken auch bei langer Dauer des Leidens nur wenig oder
gar nicht zu leiden, wenn die Anftälle in milderen Formen verlaufen.
378
VI Die periodischou Geistesstörungen.
Schwere, langdauernde Erkrankungen indessen, besonders manische,
bleiben nicht ohne schädigenden Einfluss auf das gesammte Seelen-
leben. Solche Kranke sind während der Remissionen zwar besonnen,
orientirt, behalten ein leidliches Gedächtniss, aber sie werden schliess-
lich daiiernd zerfahren, reizbar, ungemein schwankend in ihrer
Stimmung, leicht von einem Extrem ins andere fallend, oder stumpf,
gleichgültig und willenlos. Eegelmässig handelt es sich dabei um
Individuen, bei denen die Krankheit in der Entwicklungszeit be-
gonnen hat, während die klimakterischen Formen leichter zu ver-
laufen scheinen. Bisweilen soll im höheren Lebensalter die Inten-
sität, Dauer und Häufigkeit der AnfäUe abnehmen; ich selbst habe
das bisher nicht beobachtet.
Die Diagnose einer circulären Psychose bietet keine Schwierig-
keiten, sobald bereits ein längerer Krankheitsverlauf vorliegt. Im
Beginne des Leidens wird man oft unsicher sein, doch hat man ein
Eecht, kurzdauernde, leichte Depressionszustände im Entwickelungs-
alter als äusserst verdächtig zu betrachten, namentlich, wenn sie
sich ohne äusseren Anlass entwickeln, und noch mehr, wenn ihnen
eine Periode auffallend gehobener Stimmung nachfolgt. Manische
Erregungen in diesem Alter gehören häufiger einer periodischen
Manie, als dem circulären Irresein au. Im späteren Lebensalter
wird der circuläre Verlauf des Leidens vielfach aus der Gering-
fügigkeit der klinischen Erscheinungen erschlossen werden können,
doch gestattet die einzelne Phase nicht mit Sicherheit die Ab-
grenzung von einer anderen periodischen Psychose.. Die progres-
siven Pormen des Wahnsinns können ein circuläres Irresein vor-
täuschen. Ausser dem höheren Lebensalter der Kranken kommt
das starke Hervortreten der Sinnestäuschungen und Wahnideen und
namentlich die Fortdauer dieser Störungen bei nur sehr mässiger
manischer Erregung in Betracht. Hinsichtlich der Abgrenzung von
der Paralyse, die ebenfalls gelegentlich dem circuläi-en Irresein
ähnelt, gelten die schon bei der periodischen Manie besprochenen
Grundsätze. In allen den letztgenannten Fällen wird übrigens die
Beobachtung des weiteren Yerlaufes ziemlich bald volle Klarheit
bringen.
Die Aufgaben der Behandlung sind im Wesentlichen sym-
ptomatische und werden somit durch die Art der einzelnen Krankheits-
bilder bestimmt. Zur Bekämpfung der Anfälle hat man Bromkalium,
Depressive Formen.
379
Opium und Morphium in systematischer Anwendung empfohlen, doch
thut man gut, nicht allzu sanguinische Hoffnungen an den Gebrauch
dieser Mittel zu knüpfen. Dick sah bei Durchführung der Bettruhe
während der Depression das expansive Stadium weniger stürmisch
sich gestalten. Dass schon der Anstaltsaufenthalt wegen des Schutzes
und der Pflege, die er gewährt, ebenfalls sehr viel zum milderen
Verlaufe der Erkrankung beitragen kann, hatte ich wiederholt deut-
lich zu erfahren Gelegenheit.
D. Depressive Formen.
Die letzte grosse Gruppe der periodischen Psychosen ist ge-
kennzeichnet durch die häufigere Wiederkehr mehr oder
weniger typisch ausgebildeter Depressionszustände. Auch
hier empfiehlt es sich, an der Hand der klinischen Erfahrung der
Uebersichtlichkeit halber mehrere eigenartig entwickelte Krankheits-
bilder auseinander zu halten.
Zunächst begegnen uns Beobachtungen, bei denen die einzelnen
Anfälle in allen Stücken leichten, einfachen melancholischen
Erkrankungen entsprechen. Die Kranken werden verstimmt,
niedergeschlagen, fühlen sich beunruhigt, unfähig zu arbeiten, ver-
lieren den Appetit und können nicht mehr- schlafen. Selbstvorwürfe
und Yersündigungsideen, meist sehr unbestimmten Inhaltes, treten
auf. Der Kranke hätte sein Leben anders einrichten, nicht in die
Anstalt kommen, sich mehr zusammennehmen sollen. Er ist schwer
krank, schlimmer daran, als alle Anderen, kann nie wieder gesund
werden; es ist vorbei mit ihm für immer. Am Leben, an der Ar-
beit, an der Familie hat er keine Freude mehr; es wäre besser für
ihn und seine Umgebung, wenn er fort wäre von der Welt. Trotz-
dem kommt es verhältnissmässig selten zu energischeren Selbstmord-
versuchen, weil der Affect nicht sehr heftig zu sein pflegt und der
Kranke Besonnenheit und meist auch Selbstbeherrschung genug be-
sitzt, die sich ihm aufdrängenden krankhaften Antriebe zu bekämpfen.
Kegelmässig besteht ein ausgeprägtes Krankheitsgefühl; der Kranke
kommt daher nicht selten fi-eiwillig in die Anstalt, wenn er nicht
von vorn herein Alles für nutzlos hält. An dieser Ansicht vermag
auch der Hinweis auf frühere, glücklich verlaufene Anfälle nichts
zu ändern; damals war Alles ganz anders, damals war nocli die
Möglichkeit einer Wiederherstellung, jetzt nicht mehr.
380
VI. Die periodischen Geistesstörungen.
In seinem Benehmen ist der Kranke meist völlig correct, ver-
mag sich Fremden gegenüber sehr zu beherrschen, sich zu unter-
halten, lässt sich durch äussere Anregungen vorübergehend ablenken;
sobald er aber sich selbst überlassen ist, findet er keine Ruhe,
wandert stundenlang planlos herum, raucht übermässig, beschäftigt
sich nicht, und kann sich nicht dazu entschliessen, die einfachsten
Angelegenheiten zu erledigen. Der Schlaf ist immer sehr mangelhaft,
der Appetit massig, die Verdauung träge; das Körpergewicht sinkt.
Die Dauer dieses Zustandes beträgt in der Regel einige Monate;
dann stellt sich eine langsame Besserung ein. Nicht selten kündigt
sich diese Aenderung des Krankheitsbildes durch die Umwandlung
der früheren Depression in eine mehr gereizte, unzufriedene, nörgelnde
Stimmung an, die sich in Magen über die Anstalt, das Essen, das
Personal, in kleinen Scenen und einsichtslosem Fortdrängen Luft
schafft. Nach einer durchschnittlichen Gesammtdauer von 4 bis
6 Monaten kommt es schliesslich unter vielfachen Schwankungen zu
vollständiger Heilung. Freilich bleibt auch an dem Genesenen häufig
eine gewisse Unentschlossenheit und "Willenlosigkeit deutlich be-
merkbar. Die Krankheit beginnt meist im fünften Lebensdecennium,
selten schon etwas früher, wenn auch die Andeutungen einer ge-
ringen psychischen "Widerstandsfähigkeit vielleicht bereits in der
Jugend vorhanden waren. Die Zwischenzeiten zwischen den Anfällen
betragen gewöhnlich einige, bisweilen selbst 6—8 Jahre; die ein-
zelnen Anfälle pflegen einander sehr ähnlich zu sein.
Durch die Schwere der Erscheinungen hebt sich von dieser
Form eine weitere ab, in welcher die periodische Erkrankung das
Bild eines depressiven Wahnsinns annimmt. Der Anfall ent-
wickelt sich meist ziemlich rasch. Es treten schwere Yersündigungs-
und Kleinheitsideen auf. Der Kranke ist von Allen verachtet und
verspottet, unfähig, nichts nütze mehr auf der Welt, kann nichts
mehr bezahlen, wird schimpflich aus seiner Stellung gejagt. Sehr
häufig gesellen sich abenteuerliche hypochondrische Vorstellungen
dazu. Das Herz schlägt nicht mehr, ist nur ein todtes Stück Fleisch.
Magen und Darm sind verschwunden, das Blut eingetrocknet, die
Thränen versiegt, der Leib verfault, abgestorben; überall zeigen sich
die verheerenden Folgen der Syphihs. Der Kranke möchte sterben,
weg von der Welt, aber das ist unmöglich. Man kann ihn mit der
Axt vor den Kopf schlagen, ihm die Brust aufschneiden, ihn ins
Dein-essive Formen.
381
Feuer werfen — er wird trotzdem am Leben bleiben. Bisweilen
werden ganz vereinzelte Sinnestäuschungen beobachtet.
Die Stimmung ist meist weinerlich, gedrückt, seltener ängst-
lich erregt. Vielfach fällt ein gewisses Missverhältniss zwischen dem
Inhalte der Wahnideen und der Geringfügigkeit des Affectes auf.
Solche Kranke pflegen bei völliger Besonnenheit ihre ungeheuer-
lichen Yorstellungen in stereotyper Weise ziemlich gleichmüthig zu
wiederholen, ohne sich durch die handgreiflichsten Widersprüche
beirren zu lassen, während sie die Personen ihrer Umgebung bis-
weilen ganz scharf kritisiren, sich selbst über sie in treffenden Be-
merkungen lustig machen. Andere dagegen gehen sehr wenig aus
sich heraus, schliessen sich ganz ab, sprechen nur nothgedrungen
und über gleichgültige Dinge, um erst in der Eeconvalescenz über
die unsinnigen Ideen zu berichten, von denen sie beherrscht waren.
Hier bestehen meist starke psychische Hemmungen, die sich zeitweise
selbst bis zu leichten. Stuporzuständen steigern können. Selbstmord-
neigung ist nicht selten; auch hartnäckige Nahrungsverweigerung
wird häufiger beobachtet, beides namentlich in den zuletzt er-
wähnten Fällen. Die körperlichen Erscheinungen sind die gewöhn-
lichen des depressiven Wahnsinns.
Die Entwickelung der Krankheit pflegt sich im vierten oder
fünften Lebensdecennium anzubahnen. Der einzelne Anfall dauert
etwa 8 — 10 Monate, bisweilen auch länger. Die Zwischenzeiten
betragen meist einige Jahre. Die späteren Anfälle sind häufig
schwerer, als die früheren.
Wir haben endlich noch einer letzten Gruppe von Fällen zu
gedenken, bei welcher das Krankheitsbild nur eine einfache innere
Beunruhigung ohne die eigentlichen melancholischen Sym-
ptome darbietet. Die Psychose beginnt häufig ziemlich plötzlich, etwa
im Anschlüsse an eine heftige Gemüthsbewegung, einen Schreck
einen Unglücksfall. Bei dem Krauken steUt sich mit einem Male
das Gefühl des Druckes und der Beklemmung in der Herzgegend
oder im Praecordium ein. Zusammenschnüren im Halse, dumpfe
Beengung im Kopfe ohne eigentlichen Schmerz. Er wird ti'aurig,
verstimmt, kleinmüthig, hat an nichts mehr Freude, fühlt sich unfrei
imd gebunden, weil die Herzensangst jede andere gemüthliche
Kegung in seinem Innern unterdrückt. Die Besonnenheit ist dabei
vollständig erhalten; der Kranke hat ein gahz klares Yerständniss
382
VI. Die periodischon Geistesstörungen.
für seinen Zustand und sucht im Gefühle seiner Hülfsbedürftigkeit
meist selbst den Arzt oder die Anstalt auf. Bs bestehen keinerlei
Versündigungsideen oder Selbstvorwürfe. Zwar steigen in ihm auch
„böse Gedanken" auf , aber dieselben beziehen sich nicht auf die
Vergangenheit, sondern es sind religiöse Zweifel, trübe Befürchtungen
für die Zukunft und namentlich der zwangsmässig wiederkehrende
Antrieb, dem trostlosen Leben ein Ende zu machen. Auch hier in-
dessen kommt es nur selten zu wirklich ernsthaften Selbstmord-
versuchen. Bisweilen bitten die Kranken selbst um Ueberwachung,
wenn sie sich nicht mehr genügende Widerstandsfähigkeit zutrauen.
Sie sind dauernd ruhig; nur hie und da findet man sie am
ganzen Leibe zitternd und lebhaft klagend über die innere Angst,
die sie nicht mehr zu unterdrücken vermögen. Sie geben über ihre
Zustände jederzeit bereitwillig und zusammenhängend Auskunft; zu
einer anhaltenden Beschäftigung sind sie nicht fähig, da die Angst
sie ganz in Anspruch nimmt. Energielos und verzagt gehen sie
jeder Anstrengung oder Erregung aus dem Wege; das Einzige, was
sie suchen, ist Euhe.
Der Schlaf dieser Kranken ist meist recht gestört; dagegen
pflegt der Appetit leidlich zu sein, wenn sie auch „keinen rechten
Genuss" vom Essen haben. Das Körpergewicht sinkt langsam;
die Verdauung ist träge.
Der Verlauf der Krankheit ist meist ein sehr schleppender.
Der Zustand zeigt ganz unregelmässige Schwankungen, bleibt aber
innerhalb gewisser Grenzen ausserordentlich einförmig. Die Dauer
kann eine sehr lange sein, sich selbst über eine Keihe von Jahren er-
strecken. Der erste Anfall pflegt auch hier in höherem Lebensalter
aufzutreten. Jedenfalls erhält die Krankheit erst im fünften Lebens-
jahrzehnt ihre volle Ausbildung; höchstens sind einzelne rudimentäre
Anfälle vorausgeigangen. Die Zwischenzeiten zwischen den Anfällen
betragen Anfangs eine Reihe von Jahren, können sich späterhin
immer mehr verkürzen. Ueberhaupt hat die Krankheit eine grosse
Neigung zu einer Art Versumpfung, insofern die Eemissionen nach
und nach unvollständiger werden und schliesslich eigenthch ein
continuirlicher Verlauf mit periodischen Verschlechterungen und
Besserungen sich herausbildet.
Die periodischen Depressionszustände gehen ohne scharfe Grenze
in die einfachen Krankheitsbilder über, denen sie entsprechen. Wir
Depressive Formen.
388
haben ja schon früher darauf hingewiesen, dass auch bei diesen
letzteren ungemein häufig die Neigung zu einer "Wiederkehr der
gleichen Erkrankung beobachtet wird. Die periodischen, wie die
einfachen Formen, nehmen ihren Ursprung besonders gern in dem
Lebensalter der beginnenden Involution oder erleiden wenigstens
dann eine Yerschlimmerung, wenn sie schon einige Zeit früher auf-
getreten sind. Gleichwol müssen sie als durchaus constitutionelle
Erkrankungen aufgefasst werden. Erbliche Belastung spielt daher
eine wichtige Eolle in ihrer Aetiologie, besonders bei der letzten
Gruppe ; ausserdem dürfte aber auch die erworbene Disposition viel-
fach wesentlich mit in Betracht kommen.
Die Erkennung eines periodischen Dej)ressionszustandes ist
unter Umständen recht schwierig. Namentlich die zweite Form
kann beim männlichen Geschlechte bisweilen . erst dann sicher von'
der Paralyse abgegrenzt werden, wenn mit dem Zurückfreten der
Kjankheitszeichen keinerlei Andeutungen psychischer Schwäche oder
organischer Erkrankung sich nachweisen lassen. Bei späteren An-
fällen ist die Diagnose natürlich leichter. Die erste und mehr noch
die letzte mehr chronisch verlaufende Form kann mit einfach neur-
asthenischen Zuständen verwechselt werden. Davor schützt der Mangel
jeder ausreichenden Erkrankungsursache, die ausserordentliche Ein-
förmigkeit des Krankheitsbildes und die Unzugänglichkeit gegenüber
jenen therapeutischen Massnahmen^ welche bei der Neurasthenie regel-
mässig rasche Besserung bringen. Mit gewissen Formen der con-
stitutionellen Neurasthenie ist die hier geschilderte Erkrankung nahe
verwandt; sie unterscheidet sich von jenen nur durch das späte Auf-
freten und die Regelmässigkeit der Schwankungen im Zustande. Die
Diagnose der Periodicität kann sich hier mit einiger Wahrscheinlichkeit
auf die Geringfrigigkeit der Krankheitserscheinungen stützen.
Die Behandlung der periodischen Depressionszustände er-
fordert für die zweite Gruppe von Fällen unter allen Umständen,
für die anderen Formen wenigstens dann unbedingt die Verbringung
des Kranken in die Anstalt, wenn irgendwie Selbstmordneigung sich
bemerkbar macht. Im Uebrigen gelten die gleichen Grundsätze wie
bei der Behandlung der entsprechenden einfachen Psychosen. Man
wappne sich iiamentlich bei der zuletzt geschilderten Form mit grosser
Geduld. Versuchsweise Entlassung ist hier weit eher einmal am
Platze, als bei nicht periodischen Formen.
YII. Die YeiTücktlieit (Paranoia)..*)
Als Yerrncktlieit bezeichnen wir die chronische Entwickel-
iing eines dauernden Wahnsystems bei vollkommener
.Erhaltung der Besonnenheit. Die Störung liegt hier wesent-
lich auf dem Gebiete der intellectuellen Yorgänge, in einer krank-
haften Auffassung und Verarbeitung der äusseren und inneren Er-
fahrung. Sie führt mit Nothwendigkeit zu einer tiefgreifenden Um-
wandlung der gesammten Lebensanschauung, zu einer „Verrückung"
des Ständpunktes, welchen der Kranke gegenüber den Personen und
Ereignissen sßiner Umgebung einnimmt.
Nach der früher von Griesinger vertretenen Anschauung war
die Verrücktheit stets das secundäre Stadium einer voraufgegangenen
affectiven Geistesstörung; erst die Untersuchungen von Snell,
Westphal, Sander haben dazu geführt, dass man eine „primäre"
Verrücktheit als besondere llrankheitsform allgemein anerkannte,
indessen diese Kategorie schliesst, selbst Avenn man die von uns
dem "Wahnsinn zugetheilten Störungen abrechnet, noch eine grosse
Anzahl verschiedener Krankheitsbilder in sich. Schüle hat von
denselben nur eine einzige als „originäre" Verrücktheit beibehalten
und aUe übrigen als „chronischen Wahnsinn" (Paranoia) beschrieben.
Mir scheint jedoch jener chronische Wahnsinn mit der „originären"
Verrücktheit in innigerer Verwandtschaft zu stehen, als mit den
Krankheitsbildern, welche oben unter der Bezeichnung Wahnsinn
*) Snell, Allgem. Zeitsclirift für Psychiatrie XXIT, p. .368; ariesiiiger,
Archiv für Psychiatrie I, p. 148; Sander, ibid. p. 387; Westphal, Aligeni.
Zeitschrift für Psychiatrie XXXIV, p. 252; Mercklin, Studien über primäre Ver-
rücktheit. 1879; Araadei e Tonuini, Archivio italiano per le malattie nervöse,
1884, 1, 2; Werner, Die Paranoia, 1891.
Defiuition der Ki-anlclieit.
385
beschrieben worden sind. Füi- verfehlt halte ich die von West-
phal empfohlene und noch vielfach festgehaltene Aufstellung einer
„acuten" Verrücktheit, weil durch diese Ausdehnung der Bezeich-
nung eine wesentliche Eigen thümlichkeit der Verrücktheit, der
chronische, constitutionelle Charakter derselben, verwischt
und so eine Anzahl durchaus von einander abweichender Krank-
heitsformen in dieselbe classificatorische Einheit hineingezwängt
wii'd.
Die genauere Zeichnung der einzelnen Krankheitsbilder, welche
wir nach dieser allgemeinen Begriffsbestimmung noch in dem Ge-
biete der Verrücktheit vorfinden, ist zur Zeit eine undankbare Auf-
gabe, da einerseits der Formenreichthum und das Vorkommen zahl-
reicher Uebergänge, andererseits aber der Mangel eines zuverlässigen
Eintheilungsprincipes den klaren Ueberblick über den Stoff und die
zutreffende Gruppirung der einzelnen klinischen Symptomencomplexe
ausserordentlich erschwert. Dazu kommt, dass bei dem ungemein
chronischen Verlaufe der Psychose die Zahl wissenschaftlich ver-
werthbarer Beobachtungen, welche die ganze Entwicklung
derselben vom ersten bis zum letzten Stadium umfassen, un-
verhältnissmässig gering ist. Drei Gesichtspunkte sind es haupt-
sächlich, welche sich für die Gruppirung der einzelnen Krankheits-
büder hier verwerthen lassen, einmal die Ursachen und der Ver-
lauf der Krankheit, dann die Entstehungsweise der "Wahn-
ideen, sowie endlich ihr Inhalt und ihre Färbung. Um das
erste dieser Eintheilungsprincipien allgemein mit Erfolg in An-
wendung bringen zu können, fehlt es bis jetzt noch durchaus an
einer allseitigen Kenntniss der verschiedenartigen klinischen Ent-
wicklung, wenn wir auch einzelne durch ihre Aetiologie oder ihren
Verlauf ausgezeichnete Formen (originäre Verrücktheit, Verfolgungs-
wahn der Trinker) schon jetzt unterscheiden können.
"Weit besser scheint sich zunächst die Entstehungsweise der
Wahnideen für die Gruppirung der Krankheitsbilder zu eignen.
Entweder nämlich sind es Sinnestäuschungen, aus denen dieselben
hervorgehen; ferner kann es sich um wahnhafte Combinationen aus
wirklichen "Wahrnehmungen handeln, oder endlich die krankhaften
Ideen treten als rein phantastische Erfindungen (Primordialdelirien)
ins Bewusstsein. Indessen, so verschieden diese Entstehungsarten
der Wahnideen auf den ersten Bück zu sein scheinen, so lehrt
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Aufl. 2Ö
886
Vn. Die Yerriicktheit.
doch eine genauere Betrachtung, dass die Differenz in Wirklichkeit
eine verhältnissmässig geringe ist. Abgesehen davon, dass im ge-
gebenen Falle sehr häufig die einzelnen Erscheinungen sich mit ein-
ander verbinden, ist es ja unzweifelhaft, dass sie alle schliesslich
ihren gemeinsamen Ursprung aus der allgemeinen Richtung des
Denkens und Fühlens nehmen. Das Gefühl der Verzagtheit, des
Misstrauens gegen die Umgebung geht ebenso regelmässig der Ent-
wicklung des Verfolgungswahnes auf hallucinatorischer oder combi-
natorischer Grundlage voraus, wie das Bewusstsein einer besonderen
Leistungsfähigkeit und Tüchtigkeit dem Auftauchen der Grössen-
idee oder der göttlichen Berufung zum auserlesenen Werkzeuge des
Himmels.
Wenn demnach das Ueberwiegen des einen oder anderen Vor-
ganges höchstens gewisse Schlüsse auf Verschiedenheiten des je-
weiligen psychischen Gesammtzustandes gestattet, so ist die differente
Entstehungsart der Wahnideen nur in beschränktem Masse zur Ab-
grenzung verschiedener Formen der Verrücktheit verwerthbar. That-
sächüch hat man daher bis jetzt fast immer den Inhalt und die
Färbung des Wahnsystems in erster Linie als Eintheilungsgrund
berücksichtigt. Freilich lehrt die Erfahrung, dass die buntesten
Mischungen anscheinend ganz entgegengesetzter Elemente, des
Grössen- und Verfolgungswahnes, expansiver und depressiver Stim-
mungen thatsächlich ungemein häufig zur Beobachtung kommen,
dass also eine einheitliche Gruppirang der Formen auch auf jenem
Wege nicht möglich erscheint. Ich sehe mich zur Zeit ausser
Stande, diese Schwierigkeiten in befriedigender Weise zu lösen, und
werde daher im Grossen und Ganzen der gebräuchlichen Eintheilung
in depressive und expansive Formen je nach der am stärksten her-
vorstechenden Stimmung folgen, um mich bei der Definition der
einzelnen Krankheitsbilder weiterhin dui'ch die übrigen oben auf-
geführten khnischen Gesichtspunkte leiten zu lassen.
A. Depressive Formen.
Der haUuclnatorische Verfolgungswaliii. Den Grundzug des
hallueinatorischen Verfolgungswahns bildet die Entstehung syste-
matisirter Beeinträchtigungsideen in Folge von andauern-
den, im Ganzen einförmigen Sinnestäuschungen. Die Eutwick-
Hallucinatorischer Verfolgungswalin.
387
lung der Krankheit beginnt zumeist mit einer allmählich sich ein-
stellenden reizbaren Verstimmung, welche den Kranken argwöhnisch
und missti-auiscli gegen seine Umgebung macht, imd ihn nicht selten
dazu führt, sich mehr oder weniger von den Menschen abzuschliessen.
Widrige Lebensschicksale, Enttäuschungen, sociale Isolirimg, der
Kampf mit Noth und Entbehrung sind es bisweilen, welche dieser
Charakterveränderung den Weg bahnen, zum Theil auch umgekehrt
durch sie bedingt werden. Nach diesem Vorstadium entwickeln
sich, in der Regel ganz allmählich und schleichend, Gehörstäusch-
ungen feindseligen Inhalts. Zuerst häufig in der Nacht oder Abends,
dann aber auch bei Tage, in der monotonen Abgeschiedenheit der
Behausung oder auf der Strasse, hört der Kranke einzelne ab-
gerissene Schimpfworte, später auch längere Sätze und Eeden,
welche mit einem Male den verschwiegenen Inhalt lange gehegter
Befürchtungen zur schrecklichen Gewissheit werden lassen. Er hört,
dass man ihn schmäht, mit Vorwürfen überhäuft, anklagt, bedroht.
„Der hat gestohlen, seinen Meister verschwätzt, muss per Schub heim,
wird hingerichtet; die Haussuchung wird's erweisen, da wird die
Frau schön gucken; dir wird's gemacht, du bist ein Lausbub." Bei
weiblichen Kranken ist es namentlich die Geschlechtsehre, gegen
welche sich die „Verfolgung" richtet; „die hat vier Kinder, ist ein
Mensch, eine Hure, schwanger, angesteckt, radical caput gemacht,
hat ihr Kind umgebracht."
Durch diese und ähnliche Trugwahmehmungen wird es dem
Kranken klar, dass Etwas gegen ihn im Werke ist, dass man ihn
verleumdet hat und zu verderben, womöglich aus der Welt zu
schaffen sucht; offenbar haben sich die Personen seiner Umgebung,
zunächst wol die Mitbewohner des Hauses, zu einem Complott
gegen ihn verbunden. Aber noch mehr, auch weitere Kreise müssen
mit in das feindselige Geheimniss hineingezogen sein, da auf der
Strasse und überall, wohin er sich begiebt, einzelne höhnende
Aeusserungen an sein Ohr dringen, welche ihn immer von Neuem
mit Aufregung und banger Furcht erfüllen. In der Regel sind diese
Täuschungen so deutlich, dass der Kianke sie wörtlich wiedergeben
kann und sie als gewöhnliche Srnneswahmehmungen betrachtet, so-
gar genau die Stimmen zu erkennen vermag. Bisweilen jedoch ist
es ein leises Flüstern und Wispern, „Telephoniren", dessen Inhalt
nur ganz im Allgemeinen aufgefasst wird. Oefters beobachtet man
25*
388
VII. Die Verrücktheit.
hallucinatorisches Mitklingen der Gedanken, besonders beim Lesen.
Die Stimmen klappen dabei nach, oder sie eilen auch wol voraus:
„ich kann schneller lesen, wie du!"
Dazu kommt, dass der Kranke gewöhnlich auch ausser den Gehörs-
täuschungen noch allerlei Wahrnehmungen macht, die ihn in seinem
schrecklichen Yerdachte bestärken. Das Essen zeigt bisweilen einen
sonderbaren Geschmack oder Geruch „nach todten Menschen"; im
Kaffee ist Urin oder Phosphor, Ricinusöl in der Bouillon. Er spürt
nach der Mahlzeit Bauchweh, Aufgetriebensein, Jucken am ganzen
Körper. Nachts ist ein schwefelartiger Dampf im Zimmer; die Bettstelle
erscheint heiss, wie wenn elektrisirt würde; er empfindet Geräusche
im Kopf, wie von einem Uhrwerk, einem Mühlrad. Schmerzen bei
der Menstruation deuten auf Entjungferung in Chloroformnarkose
hin. Einzelne Sachen verschwinden auf geheimnissvolle Weise oder
finden sich verschoben, an andere Stellen gelegt; die Kleider weisen
unerklärliche Löcher, Flecken, Abnutzungszeichen auf; das Gesicht
erscheint im Spiegel verzerrt, gedunsen, die Personen oder Gegen-
stände der Umgebung zeitweise ganz auffallend verändert. Auch
das ganze Benehmen der Hausgenossen, die spöttischen Mienen der
Yorübergehenden, ihre bezeichnenden Blicke und Geberden, Be-
merkungen in Zeitungen und Briefen, bedeutsame Träume oder
sonstige ganz gleichgültige Ereignisse werden von ihm im Sinne
seiner immer bestimmtere Gestalt gewinnenden Verfolgungsideen
verwerthet. Es wird Sympathie angewendet; Alles ist wie um-
gewechselt; es ist ein „nächüich-religiöser, geheimer, meuchelmörder-
ischer Staatsbürgerkrieg."
Vergebens versucht der Kranke, diesen heimtückischen An-
feindungen, in welche nachgerade eine ganze „Clique" oder „Partei"
verwickelt zu sein scheint, zu entfliehen. Er zieht in eine andere
Wohnung, oder er begiebt sich auf Reisen. Erleichtert athmet er
auf, denn in den ersten Tagen wenigstens scheinen die Verfolger
seine Spür verloren zu haben und ihn in Ruhe zu lassen. Allein
schon nach kurzer Zeit macht er die niederschmetternde Erfahi-ung,
dass es ihnen doch gelungen ist, ihn zu erreichen, da das alte Spiel
der Hallucinationen von Neuem beginnt Abermals wechselt er
seine Wohnung oder seinen Aufenthaltsort, aber immer in derselben
Weise wiederholt sich der Vorgang, so dass der Kranke endlich
verzweifelnd erkennt, dass ein Entrinnen Angesichts dieser schreck-
Hallucinatorischer Verfolgungswahn.
389
liehen Yerschwörung gegen seine Euhe, seine Ehre, sein Leben
nicht möglich ist.
Bisweilen ergiebt sich nun der Kranke mit bitterer Kesignation
in sein Schicksal, indem er nur in lauten, erregten Gegem-eden die
ihm zugerufenen schändlichen Verleumdungen und Angriffe zu ent-
kräften oder sich auf andere Weise denselben zu entziehen sucht.
Ich kannte einen Ingenieur, der theils durch ein originelles, mit
den einfachsten Mitteln hergestelltes Glockenwerk, theils durch un-
unterbrochenes lautes Pfeifen seine Hallucinationen zu übertönen
wusste. Yielfach führt jedoch die immerwährende Qual der höhnen-
den und neckenden „Stimmen" den Kranken nach vergeblichen
Fluchtyersuchen zu energischerer Reaction. Zunächst yielleicht
wendet er sich an diejenigen, welche er für seine Verfolger hält,
um sie wegen ihres feindseligen Verhaltens zur Rede zu stellen.
So kann es kommen, dass er Personen seiner Umgebung, oft aber
auch völlig Unbekannte, von denen er sich beleidigt glaubt, zu deren
grösstem Erstaunen darüber befragt und mit Vorwürfen überhäuft.
Die freundlichen Versicherungen, ebenso wie die groben Abfertigungen,
welche ihm sein befremdliches Benehmen einträgt, haben nur den
Erfolg, ihn noch mehr zu erbittern, da sie ihn in jedem Falle auf's
Neue von der Bosheit und Niedertracht seiner Feinde überzeugen.
Ein weiterer Schritt, den er zu seinem Schutze unternimmt, ist
die Anrufung der Behörden. Da derselbe auch bei dringlicher
Wiederholung natürlich fruchtlos bleibt, so erkennt er nur zu deut-
Uch, dass auch diese mit seinen Verfolgern unter einer Decke stecken.
Es bleibt ihm schliesslich kein anderes Mittel übrig, als die Selbst-
hülfe, und oft genng sucht sich der auf's höchste gequälte und ge-
ängstigte Kranke, zunächst vieUeicht nur durch Annoncen oder Flug-
blätter, bald aber auch durch wörtliche und thätiiche Beleidigungen,
ja selbst durch lebensgefährliche Angriffe auf seine Pöiniger, die
Genugthuung zu verschaffen, welche ihn für die Zukimft retten und
schützen soll, oder aber er nimmt seine Zuflucht zu dem letzten
Mittel des Verzweifelnden, zum Selbstmorde.
Wenn nicht schon lange vorher, so erfolgt nun mit Sicherheit
seine Verbringung in die Anstalt, welche ihm wiederum einen Be-
weis für den erbitterten Hass und die Machtfülle seiner Feinde an
die Hand giebt. In der neuen Umgebung, in welche er versetzt
wird, treten ebenso, wie bei jedem Anlass, der seine Aufmerksamkeit
390
Vn. Die Verrücktheit.
in Anspruch nimmt, bei der Arbeit, beim Spiel, im Gespräche, die
Sinnestäuschungen zunächst in den Hintergrund; bald aber, gewöhn-
lich nach einigen Tagen, merkt er, dass es auch hier nicht recht
geheuer ist. Natürlich zieht der Kranke aus dieser "Wahrnehmung
den Schluss, dass die Verfolger sich nun ebenfalls in der Anstalt
einquartirt haben. Er hört sie über sich, im Keller, in einer anderen
Abtheilung („Deckenläufer", „Hinterwändner") das alte Treiben wieder
aufnehmen, oder er hört, wie sie sich nunmehr seiner Angehörigen
bemächtigt haben, sie nicht zu ihm lassen oder sie in der gräss-
lichsten Weise martern, so dass ihr Schreien und Jammern zu ihm
herüberschallt. Jeder Yersuch, ihn Yon der Irrthümlichkeit seiner
Ideen zu überzeugen, indem man ihn dorthin führt, wo er seine
Verfolger vermuthet, bleibt gänzlich erfolglos, da er direct oder in-
direct den Stimmen entnimmt, dass man für seinen Besuch zeit-
weilig alles Verdächtige bei Seite geräumt habe. Anf diese Weise
befestigt sich in ihm ein tiefes, erbittertes Misstrauen gegen seine
Mitpatienten, von denen er sich gelegentlich beschimpft glaubt, wie
namentlich gegen die Aerzte, die ihn an der Nase herumführen und
sich in feiger Weise haben bestechen lassen, um ihn mundtodt oder
gar wirklich geisteskrank zu machen.
Während der ganzen Entwickelung dieses Wahnsystems bleibt
der Kranke andauernd vollkommen klar, besonnen, geordnet. Er
vermag in zusammenhängender Weise seine krankhaften Ideen dar-
zulegen, zu begründen. Einwände zu bekämpfen. Wirkliche Krank-
heitseinsicht dagegen fehlt ganz, auch wenn er selbst seine Täusch-
ungen als „Stimmen" bezeichnet und auf starkes Drängen einmal
ausweichend zugiebt, dass er möglicher Weise krank sein könne.
Die Stimmung pflegt vielfache Schwankungen darzubieten. Während
der Kranke sich im Allgemeinen ruhig verhält und sich auch bis
zu einem gewissen Grade zu beschäftigen vermag,' wird er zeitweise
gereizt, erregt, spricht oder schimpft laut vor sich hin oder macht
sogar plötzliche, äusserlich nicht motivirte Angriffe auf einzelne
Personen seiner Umgebung. An diesen gelegentlichen, meist mit
Häufung der Täuschungen einhergehenden Ausbrüchen, sowie dem
eigenthümlich lauschenden Gesichtsausdruck kann man bisweilen
solche chronische Hallucinanten erkennen, ohne sonst etwas von
ihnen erfahren zu haben.
Im weiteren Verlaufe bleibt der Zustand der Kranken meist
Hallucinatorischer Verfolgungswahn. 391
lange Zeit hindm-ch unverändert, doch beobachtet man, besonders in
der ersten Periode der Krankheit, nicht selten zeitweises Schwinden
oder doch Nachlassen der Täuschungen. Dagegen variiren diese
letzteren meist dauernd das gleiche Thema, wenn auch die KoUe
der Verfolger allmählich auf andere Personen übergehen kann. Im
Laufe der Jahre wird der Inhalt der Stimmen gewöhnlich ein ab-
surderer; namentlich kommt es nicht selten zu verzwickten, symboli-
sirenden Wortneubildungen. Die Verfolgungen werden als Abkreu-
zungen, Synkopen, Sympathie u. dergl. bezeichnet. Nunmehr gesellen
sich häufig auch einzelne Grössenideen zu dem bis dahin herrschen-
den Verfolgungswahn hinzu, die theilweise wenigstens auch in den
Sinnestäuschungen ihren Ausdruck finden. Gegenüber den Verfolgern
treten Beschützer auf; der Kaiser interessirt sich für den Kranken
und sucht die Machinationen der Gegner zu paralysiren, hat den
Befehl zur Befreiung und Entlassung gegeben, eine grosse Summe
für ihn deponirt. Die Stimmen sind vom Grossherzog angestellt,
um ihn gesund zu machen.
Gleichzeitig pflegt auch die Stärke der gemüthlichen Eeaction
gegen die Täuschungen allmählich nachzulassen. Ermüdet von dem
ungleichen Kampfe werden die Kranken stumpfer, gleichgültiger
und können es lernen, sich nicht mehr sonderlich um die quälenden
Hallucinationen zu bekünmiern, ohne jedoch eine klare Einsicht in
die Krankhaftigkeit derselben zu gewinnen. Nur hie und da ver-
räth dann noch eine vorübergehende Aengstlichkeit oder ein Schimpf-
paroxysmus, dass die Täuschungen ihre Macht noch nicht vollständig
verloren haben. Freilich bedeutet dieser endlich gefundene Modus
vivendi gegenüber den Krankheitserscheinungen nichts weniger, als
eine Genesung; die Urtheilslosigkeit und Interesselosigkeit des Kranken
auch auf den sonstigen Gebieten seines geistigen Lebens zeigt deut-
lich, dass wir es einfach mit einem Zustande dauernder Invalidität
zu thun haben.
Die hier geschilderte Form des einfachen hallucinatorischen
Verfolgungswahns pflegt sich ganz überwiegend häufig in späterem
Lebensalter, im Laufe der 40 er Jahre zu entwickeln. Nicht selten
beobachtet man dieselbe bei Strafgefangenen; auch die „Psychose
der Schwerhörigen" dürfte zumeist dieser Krankheitsform angehören.
Die erbliche Veranlagung spielt eine wesentliche Rolle.
Der phantastische Verfolgungswalm. Unter dieser gemeinsamen
392
VII. Die Verrücktheit.
Bezeichnung möchte ich der Uebersichtlichkeit halber eine Eeihe
von Krankheitsbildern zusammenfassen, in denen neben mehr oder
weniger zahlreichen Sinnestäuschungen die phantastische Verarbeitung
derselben und namentlich auch die freie Erfindung stärker hervor-
tritt. Schon beim hallucinatorischen Verfolgungswahn, namentlich
den in früherem Lebensalter auftretenden Erkrankungen, ist die Mit-
mrkung der Phantasie vielfach recht deutlich. Immerhin aber pflegt
sich der Wahn dort noch im Bereiche des an sich Möglichen zu halten,
während es hier regelmässig zur Entwickelung ganz abenteuerlicher
und unsinniger Wahnsysteme kommt. Namentlich die Vorstellung
der körperlichen Beeinflussung ist allen diesen Formen ge-
meinsam.
Zunächst kommt eine Gruppe von Fällen in Betracht, in denen
es sich vorzugsweise um das Auftreten von Vergiftungs- und
Verwechselungsideen handelt. Die Kranken fühlen sich von
ihrer Umgebung zurückgesetzt, chicanirt, feindselig behandelt; sie
merken es „an Allem". Man thut ihnen dies und jenes zum Spott,
stellt verfängliche Fragen an sie; in den Zeitungen werden sie
„herumgeschmiert", in Pasquillen carikirt; Theaterstücke enthalten
Verhöhnungen ihrer Person; die Eeden Vorübergehender sind auf
sie gemünzt. Die Kinder auf der Strasse pfeifen und singen ihnen
zum Schabernack; die Nachbarn foppen sie mit Geberden und An-
spielungen. Irgend ein Mensch trägt seine grosse Nase, sein rothes
Gesicht nur zur Schau, um sie zu ärgern; ein zufälliger Passant
scheint ihnen einen lebensgefährlichen Angriff zu planen. In diese
Verfolgungsideen, welche sich zunächst an wirkliche, aber krankhaft
gedeutete Wahrnehmungen anknüpfen, werden fernerhin auch die
Empfindungen des eigenen Körpers hineingezogen. Schmerzen im
Eücken und in den Beinen, Schwere im Körper, Eeissen und
Ziehen im Leibe deutet darauf hin, dass die Gesundheit durch künst-
lich angewandte Mittel geschädigt ist; im natürlichen Körper geht
so etwas nicht vor. Ein gelegentliches Bauchgiimmen oder eine
vorübergehende Eingenommenheit des Kopfes macht es dem Kranken
klar, dass man ihm Gift in die Speisen gegeben hat, um ihm auf
diese Weise seine Eingeweide zu ruiniren und sein Gedächtniss
zu schwächen; ein leichter Hustenanfall lässt ilin bereits das Auf-
treten des Miserere in Folge jenes Vergiftungsversuches befürchten.
In der Nacht werden ihm „Bilder" vorgemacht, um ihn zu ärgern;
Phantastischer Verfolgungswahn.
393
er beklagt sich bitter, dass man ihn gänzlich ruinirt und ihn von
Tag zu Tag systematisch dümmer zu machen sucht.
Auch auf die Gegenstände seiner Umgebung erstreckt sich die
Verfolgung. Er merkt, dass man dieselben in seiner Abwesenheit
vertauscht, ruinirt, beschmutzt und stiehlt, um ihn zu düpiren und
immer mehr zu verwirren. Die Gesichter, die Stimmen bekannter
Pei-sonen verändern sich; auch das eigene Antlitz erscheint plötzlich
im Spiegel anders, als früher. Man verwechselt die Bilder und
Möbel, bringt immerfort andere Menschen herbei, um ihn zu reizen
und zu ärgern. Alle stecken unter einer Decke und kennen genau
den Schwindel, den man mit ihm treibt, so unbefangen sie sich auch
stellen. Die Fragen, die man an ihn richtet, sind daher der reine
Hohn, und er pflegt sie daher auch einfach mit dem misstrauischen
Hinweise darauf zu beantworten, dass man ja ohnedies schon Alles
besser wisse, als er, und ihn daher mit weiteren Belästigungen ver-
schonen möge. Die ganze Umgebung erscheint ihm als eine organi-
sirte Eäuberbande, welche systematisch darauf ausgeht, ihn zur Ver-
zweiflung zu treiben. Er geräth dadurch meist in eine äusserst
erbitterte Stimmung, welche leicht zu allerlei krankhaften Keactionen
führt, zu hartnäckiger Nahrungsverweigerung in Folge von Ver-
giftungsideen, oder weil der Stuhlgang nicht mehr kommt wie früher,
zu gewaltthätigen Angriffen auf bekannte oder unbekannte Personen,
zu auffallenden öffentlichen Attentaten, um die Aufmerksamkeit auf
die eigene Nothlage zu lenken, endlich auch za. energischen Selbst-
mordversuchen.
Meist gerathen die Kranken auf diese Weise in die Irrenan-
stalten, wo sich regelmässig ein gewisser Grad geistiger Schwäche,
ürtheilslosigkeit, Zerfahrenheit, Gemüthsstumpfheit und bomirter
Eigensinn nachweisen lässt. Im Laufe der Jahre nimmt diese
Schwäche deutlich zu. Die Kranken bleiben zwar völlig klar und
orientirt, aber ihre Wahnideen werden nach und nach confuser
und zusammenhangsloser; einzelne Grössenideen mischen sich hinein,
und ihre geistige Leistungsfähigkeit schwindet, während sie als
mechanische Arbeiter vielleicht noch leidlich verwerthbar sind.
Als eine Unterart dieses hypochondrisch gefärbten Verfolgungs-
wahns dürfen wir vielleicht den sexuellen Verfolgungswahn be-
trachten. Derselbe wird fast ausschliesslich beim weiblichen Ge-
schlechte beobachtet und knüpft sich häufig an fehlgeschlagene
394
VII. Uie Verrücktheit.
sexuelle Hoffnungen an. Die Enttäuschung über ein zerschlagenes
Liebesverhältniss oder einen missglückten Heirathsplan führt zu-
Ucächst zu einem meist länger dauernden Stadium depressiver Stimmung
und quälender Grübeleien über das Geschehene. Ganz allmählich
glaubt nun die Kranke, einzelne Anzeichen dafür zu gewinnen, dass
ihr ehemaliger Geliebter noch irgend welche Beziehungen mit ihr
anzuknüpfen oder sich an ihr zu rächen sucht. Anfangs ist es viel-
leicht eine hingeworfene Bemerkung ihrer Umgebung, ein auffallen-
des Erlebniss auf der Strasse, eine Annonce in der Zeitung, welche
sie stutzig macht; bald aber erhält sie den unzweifelhaften Beweis
für die Eichtigkeit der vag aufgetauchten Vennuthung in allerlei
Chicanen, denen sie auf Anlass des „Kerls" ausgesetzt vsdrd, nament-
lich aber in eigenthümlichen nächtlichen Wahrnehmungen. Zwischen
Schlaf und Wachen wird sie in einen Zustand von Betäubung ver-
setzt, in dem sie sich nicht rühren und nicht die Augen öffnen
kann; sie wird auf den Boden gesetzt, ihr Kopf auf die Seite ge-
legt und sie fühlt nun deutlich, wie der Coitus mit ihr vollzogen wird,
hört auch wol allerlei „schändliche Dinge" reden. Sobald sie sich
aus ihrer Erstarrung frei machen kann, ist Alles vorüber und der
Yerfolger bereits durch das geöffnete Fenster entflohen. Aehnliche
Scenen wiederholen sich häufig, später auch bei Tage, bei vollem
Wachen, so dass die Kranke sich fortwährend sexuellen Attentaten
durch iliren unsichtbaren „Kerl" ausgesetzt glaubt, eine Idee, die
natürlich schon von einer weit gediehenen Kritiklosigkeit zeugt. An
sie schliesst sich die Vorstellung an, schwanger zu sein, die häufig
durch nächtliche, traumhafte Entbindungen weiter genährt und phan-
tastisch ausgeschmückt wird. Bei Männern werden die geschlecht-
lichen Angriffe durch nackte Frauenzimmer vollzogen, welche sich
des Nachts auf sie legen und ihnen „die Natur" abziehen.
In der Regel sind die Kranken über die sexuellen Belästigungen,
die sich bisweilen im Zusammenhange mit den Menses häufen, sehr
erbittert. Sie werden plötzlich unmotivirt zornig und gereizt, zer-
trümmern den ersten besten Gegenstand, laufen davon, schlagen die
Thüre zu, brechen in lautes Schimpfen aus, ohne ihrer Umgebung
den peinlichen Grund ihrer Erregung einzugestehen, so dass ihr Be-
nehmen oft lange Zeit räthselhaft und unverständlich bleibt, bis ihnen
einmal im Affect eine Andeutung über ihren Wahn entschlüpft. Im
Uebrigen sind sie ganz besonnen, aber meist sehr zurückhaltend;
Phantastischer Verfolgungswahn.
395
erst im weiteren Verlaufe pflegt die /nnehmende Zerfahrenheit sich
in immer unsinnigerer Gestaltung des Wahnsystems zu documentiren.
Die Kranke fühlt Sprechen in ihren Genitalien, merkt, dass ihr die
Gedanken gemacht werden. Nicht selten nimmt der Wahn all-
mählich eine expansive Gestaltung an. Die Begattung ist eine „gött-
lich-geistliche"; die Kranke hat eine hohe Mission, wird Himmels-
königin, ist mit dem Erlöser oder dem Weltkaiser schwanger.
Endlich lässt sich an dieser Stelle wol am besten der Eifer-
suchtswahn einfügen, den wir namentlich bei Frauen im Klimak-
terium, bisweilen auch schon im 4. Decennium sich entwickeln sehen.
Nachdem allerlei Verstimmungen, unmotivirte Befürchtungen, reiz-
bares, misstrauisches Wesen einige Zeit voraufgegangen sind, merken
die Kranken, dass sich das Verhältoiss zu ihrem Manne geändert
hat, dass derselbe sie vernachlässigt und offenbar anderen sexuellen
Neigungen nachgeht. Ein auffallender Blick der Nachbarin, eine
verfängliche Bemerkung des Mannes bestärkt sie in ihrer Auffassung;
die absolute Gewissheit aber erhält sie dadurch, dass sie hört und
fühlt, wie sich Nachts andere Weiber zu ihrem Manne in's Bett legen.
Wenn auch die sofort ausgeführte Controle ein negatives Eesultat
ergiebt, so steht ihre Ueberzeugung nichtsdestoweniger fest, und sie
ist entrüstet über die Schamlosigkeit, mit welcher der Gatte die
eheliche Treue in ihrer Gegenwart bricht. Alle möglichen Wahr-
nehmungen liefern ihrem inuner sensibler und immer kritikloser
werdenden Misstrauen neue Bestätigungen. Die Empfindungen ihres
eigenen Körpers zeigen ihr an, sobald der Mann sich mit Anderen
vergeht; der Geistiiche auf der Kanzel bricht den Stab über sein
unsittliches Benehmen; jeder Bnef enthält die heimliche Aufforderung
zu einem Rendez-vous. Natürlich entwickelt sich im Anschlüsse an
diesen Wahn eine gereizte, feindselige Stimmung; die Frauen ver-
folgen ihre Männer auf Schritt; und Tritt mit häufig ganz absurden
Beschuldigungen, zu denen sich nicht selten noch directe Vergiftimgs-
ideen gesellen. Die Entwickelung dieser Form ist in der Regel
eine ziemlich rasche. Im weiteren Verlaufe nimmt die psychische
Schwäche allmählich zu, aber die Ausbildung des Wahnsystems
bleibt meist dürftig.
Ein ganz ähnliches Krankheitsbild wird auch bei Männern, vor-
zugsweise auf originär schwachsinniger Grundlage, beobachtet. Sie
glauben im Dunkeln ihrer Frau am Arme eines Andern zu begegnen.
396
VII. Die Verrücktheit.
sind empört über deren Eaffinement, wenn sie dieselbe bei ihrer
Eückkehr zu Hause antreffen, überhäufen sie mit Schmähungen und
schreiten sogar bisweilen zu Gewaltthaten. Ein derartiger Kranker
meiner Beobachtung übersandte seiner Frau zum Geburtstage eine
dick mit Grünspan überstreute Torte und eine in derselben "Weise
ungeniessbar gemachte Flasche Eothwein, um sie zu vergiften. Das
Gefühl der eigenen Unsicherheit und Unfähigkeit mag hier avoI den
Ausgangspunkt des sexuellen Misstrauens abgeben. Dem typischen
„Eifersuchtswahne" der Trinker werden wir später bei der Betrachtung
des Alkoholismus begegnen.
Eine weit mannichfaltigere Entwickelung, als in allen bisher be-
sprochenen Formen, erfährt das Wahnsjstem im sogenannten phy-
sikalischen Verfolgungswahn. Büer werden in ganz kritikloser
Weise die unsinnigsten Annahmen gemacht, um die überaus ver-
schiedenartigen Täuschungen auf eine einheitliche feindsehge Ursache
zurückzuführen; die Störung der Intelligenz greift daher offenbar
viel tiefer.
Die Entwickelung der Erkrankung pflegt sich zunächst in ähn-
licher Weise zu vollziehen, wie bei den andern Formen. Der Kranke
bemerkt, dass er zurückgesetzt, feindselig überwacht, in der Presse
angegriffen, von der Bühne oder von der Kanzel herab verhöhnt
wird; er hört einzelne Schimpf werte, „Schuft", „Heuchler", „Zuchthaus-
pack", auf der Strasse, verdächtiges Lispeln und Flüstern in seiner
Wohnung, und schliesst aus diesen und zahlreichen ähnlichen Wahr-
nehmungen auf das Bestehen einer geheimen Partei, die ihn aus po-
litischen, religiösen, persönlichen Gründen zu vernichten sucht. Nach
diesem Einleitungsstadium macht der Kranke eines Tages die Ent-
deckung, dass seine Verfolger ihn direct körperlich zu beeinflussen
vermögen, indem er in einem lebhaften Affectzustande mit Häufung
der Stimmen allerlei abnorme Sensationen in seinem Körper eben-
falls auf die Einwirkung seiner Feinde zurückführt. Es wird ihm
nun klar, dass diese Letzteren über Hülfsmittel verfügen, dui'ch die
sie aus der Ferne die mannichfaltigsten Veränderungen und Störungen
in seinem Körper herbeiführen („Telepathie"). Gewöhnlich malt ihm
seine lebhaft erregte Phantasie die näheren Details dieser Einwirkungen
auf das Genaueste aus. Häufig sind es magnetische und elekti-ische
Batterien, mit welchen die Verfolger operiren, Lichtmascliinen, grosse
Hohlspiegel u. dergl., von denen die Ki-anken nach längerer Bekannt-
Phantastischer Verfolgungswahn.
397
Schaft mit ihren Feinden bisweilen ausführliche Zeichnungen ent-
werfen.*) Oder aber es handelt sich um Zaubersprüche, Sympathie,
Hypnotismus, je nach dem Bildungsgrade des Kranken. Einer meiner
Ki'tmken fühlte sich „in öffentlicher hypnotischer Haft", trotz an-
scheinender Freiheit im erweiterten Käfig, da die ,-,Hypnotisten"
ihn diu-ch die hypnotische Augenkraft vollständig in ihrer Gewalt hatten.
So verschiedenartig die Instrumente, so verschiedenartig sind
auch die Sensationen, über welche die Kranken sich zu beklagen
haben. Die Haut wird ihnen mit zahllosen Kugeln, Nähnadeln be-
schossen, mit feinem Giftregen besprüht; an den verschiedensten
Stellen des Körpers werden brennende, stechende, bohrende Schmerzen
erzeugt. Im Ohr sitzt ein Magnet; die einzelnen Glieder werden
gegen den Wülen des Kranken in Bewegung gesetzt; namentlich
die Zunge wii-d gezogen, um Dinge zu reden, die ihm verhasst
sind; es wird ihm ein Käderwerk in die Brust gesetzt, mittels dessen
er von den Verfolgern wie eine Gliederpuppe dirigirt wird. Seine
Eingeweide werden ihm ruinirt und durcheinander geworfen, Schmutz
in sein Essen, in sein Blut hineingeschüttet, „Schweinemord" auf
ihn verübt, der Darm „aufgewickelt und in Platten abgelagert",
„Seichzauber getrieben", der Stuhlgang verhindert, der Athem ver-
setzt, der Koth in's Hirn gepumpt, das Geschlecht „wagerecht her-
ausgezogen und senkrecht wieder hineingesteckt", der Samen ab-
geti-ieben, die Zähne ausgeschlagen. Meist werden diese verschieden-
artigen Empfindungen mit eigenen Namen belegt und ganz genau
beschrieben, das Fingerzucken, Fleischschwellen, Blutstillen und Blut-
fliessenlassen, Ereignissmachen, Bombenbersten, Hummerknacken u.s.f.
Ein besonders raffinirtes Manöver der ebenfalls oft phantastisch
benannten Verfolger besteht in dem „Abziehen" der Gedanken. Die
Kranken merken, dass ihi-e Gedanken durch feindliche Machinationen
beliebig gelenkt (suggerirt) werden können. Beim Versuche, zu
arbeiten, werden sie plötzlich „desanimirt" und müssen dann auf-
hören, oder es kommen ihnen gute Gedanken, die aber offenbar nicht
ihre eigenen, sondern eingegeben sind. Sie wissen schliesslich gar
nicht mehr, ob sie aus sich heraus denken oder „suggestirt" werden.
Bisweilen werden die Gedanken sogar laut (Doppeldenken) und da-
her der ganzen Welt bekannt. Ihre Seele ist „offen"; Jedermann
*) Haslam, Erklärungen der Tollheit, übersetzt v. Wollny. 1889.
398
VII. Die Verrücktheit.
kann nach Belieben in derselben lesen. Dieses Gefühl einer er-
zwungenen, ohnmächtigen Abhängigkeit von fremden Einflüssen
verstiickt den Kranken in ein unentwirrbares, wahnhaftes Netz der
bizarrsten Yorstellungen.
In manchen Fällen werden die Beeinflussungen nicht direct
wahrgenommen, sondern nur das durch sie herbeigeführte Resultat.
Die Feinde kommen hier in der Nacht, während der Kranke schläft,
und ti'eiben nun die scheussHchsten Dinge mit ihm, päderastiren ihn,
stecken ihm Sperma und Koth in den Mund, vertauschen seine
Knochen. Leider erwacht er dabei nicht, sondern merkt erst am
andern Morgen, dass man ihn mit ekelhaften Dingen angefüllt, ihm
das Gehirn ausgeräumt, den Hirnschaum abgeschöpft, die Glieder
verrenkt und verdorrt hat. Die Mannigfaltigkeit und die Absur-
dität dieser Klagen ist eine ganz ausserordentliche. "Wie man sieht,
wird eben der eigentliche Inhalt derselben wesentlich durch die
Phantasie geliefert, während die vagen und unbestimmten körper-
lichen Empfindungen offenbar nicht mehr als den äusseren Anstoss
zu diesen kritiklosen Combinationen zu geben vermögen. Nicht
selten werden in analoger Weise von den Kranken auch einzelne
Grösse nideen erzeugt, wenn auch die unangenehmen Yorstellungs-
kreise immer im Yordergrunde stehen. Abgesehen von gesteigertem,
kindisch-eitlem Selbstbewusstsein, süffisantem, hochmüthigem Wesen,
spielen hohe Yerwandtschaften, Ki-onprätendentschaft, vermeintliche
Erbansprüche, geheimnissvoller sexueller Eapport mit einer Prinzessin,
religiüse Mission und ähnliche Wahngebilde eine gewisse Rolle, ■ doch
können Grössenideen auch vollkommen fehlen.
Eine ganz eigenartige Ausbildung gewinnt der physikalische
Yerfolgungswahn in jenem culturhistorisch interessanten Krankheits-
bilde, welches man als „Besessenheitswahn" bezeichnet. Hier
werden die Feinde, welche den Kranken quälen, dii-ect in den
eigenen Körper hineinverlegt. Der oder die Yerfolger sitzen nun
in den Ohren und betäuben den Kranken durch ihi' gräuliches
Schreien und Fluchen, häufiger aber im Unterleib, steigen bis in
den Kopf hinauf, schnüren dem Kranken die Kehle zu, verdicken
ihm sein Blut, klappen ihm seinen Schädel auf, zwingen ihn zu
den sonderbarsten Handlungen und reden ihm aus dem Bauche
herauf gotteslästerliche Dinge vor. Hier kann es vorkommen, dass
sich dem Feinde im eigenen Leibe eine andere, freundlich gesinnte
Phantastischer Verfolgungswahn.
399
Macht hinzugesellt, welche jenen in eine Kürperhälfte hineindrängt
und lange, erbitterte Kämpfe und Zwiegespräche mit -ihm führt.
Während die Yerfolger bei den früher geschilderten Formen zu-
meist als eine geheimnissvolle Kette von Nihilisten, Freimaurern,
Socialdemola-aten gedacht wurden, so pflegen in diesen letzteren
Fällen mehr religiöse Yorstellungen ziu- Erklärung herbeigezogen
zu werden. Es ist eine abgeschiedene Seele, der Teufel, ein böser
Geist, der von dem Leibe des Kranken Besitz genommen hat, und
dem unter Umständen das gute Princip, der liebe Gott oder einer der
Erzengel, siegreich entgegentritt. Diese eigenthümliche Yerdoppelung
der Persönlichkeit erinnert uns an jene Träume, in denen wir ausge-
dehnte Disputationen durchführen und oft über die schlagenden
Argumente unseres Gegners im höchsten Grade überrascht sind.
Natüi-lich bleiben alle diese Wahnvorstellungen nicht ohne tief-
greifenden Einfluss auf die Stimmung und das Handeln der
Kranken. Sie sind empört und entrüstet über die fortwährenden
telepathischen Beeinflussungen, denen sie ausgesetzt sind, und
machen ihrer Erbitterung je nach Gemüthsart und Bildungsgrad ia
Zeitungsannoncen, Flugblättern, Eingaben an Behörden, Broschüren*)
Luft, in denen sie den ganzen niederträchtigen Schwindel aufdecken,
oder sie gi-eifen zur Selbsthülfe, zu gewaltthätigem Vorgehen gegen
ihre vermeintlichen Peioiger. Einer meiner Kranken, der sich von
mir beeinflusst glaubte, suchte mich von Zeit zu Zeit auf, machte
mir Yorstellungen über meine Schlechtigkeit und forderte mich
dringend auf, ihn „loszulassen".
Nicht selten kommt es auch, namentlich in der ersten Zeit der
Erkrankung, zu heftigen, meist ängstlichen Aufregungszuständen und
selbst zu energischen Selbstmordversuchen. Da den Kranken bei
der Allmacht ihrer Gegner das Entrinnen aus deren Machtsphäre un-
möglich ist, so verfallen sie nicht selten darauf, durch allerlei selbst
ersonnene Mittel sich wenigstens einigermassen Euhe vor denselben
zu verschajBfen. Namentlich sind es eigenthümliche körperliche
Manipulationen, Geberden, Abwehrbewegungen, bestimmte, oft sehr
verzwickte Stellungen, die längere Zeit hindurch eingehalten werden
müssen, ferner das ,4nnere Sprechen", die unablässige Wiederholung
*) Wollny, lieber Telepathie, 1888; Sammlung von Actenstücken , 1888;
Teffer, Ueher die Thatsache des psycho-sextialen Contactes oder die actio in
Distans, 1891.
400
Vn. Die Ven-üektheit.
gewisser Worte, oder besondere Vorrichtungen an der Bettstelle
(Drähte, phallusartige Amulete), mit HiÜfe deren sie sich vor den
feindseligen Beeinflussungen schützen. Mitunter werden auch Miss-
handlungen, ja Yerstümmelungen des eigenen Körpers zum gleichen
Zwecke unternommen.
Der physikalische Yerfolgungswahn entwickelt sich regelmässig
auf 'psychopathisch stark prädisponirtem Boden, am häuf-
igsten schon in früherem Lebensalter (20er Jahre); ich sah zwei
Geschwister unabhängig von einander ganz die nämlichen unsinnigen
Ideen produciren.
Der Yerlauf der Ki-ankheit ist regelmässig ein fortschreitender.
Die Besonnenheit bleibt freilich vollständig erhalten; die Kranken
sind dauernd im Stande, zusammenhängend und folgerichtig ihre
"Wahnideen darzulegen, allein ihr ganzes psychisches Leben wird
doch viel stärker in Mitleidenschaft gezogen, als bei dem ein-
fachen hallucinatorischen Yerfolgungswahn. Die Aufmerksamkeit ist
in hohem Masse durch die abnormen Sensationen in Anspruch ge-
nommen; das Wahnsystem gewinnt eine weit umfassendere, die
gesunden Yorstellungskreise in den Hintergrund drängende Ent-
wickelung, und die Arbeitsfähigkeit der Kranken wird stets schwer
beeinträchtigt. Gleich wol giebt es auch hier einzelne Fälle, in denen
der Zustand viele Jahre nahezu stationär zu bleiben scheint.
Die liypocliondrisclie Verrücktheit. Ln Anschlüsse an die zu-
letzt geschilderten Formen haben wir noch eines nicht gerade sehr
häufigen Krankheitsbildes zu gedenken, welches dadurch eine eigen-
artige Stellung einnimmt, dass eine Keihe von wahnhaften, höchst
peinlichen Yeränderungen und Vorgängen im Körper nicht, wie
beim physikalischen Verfolgungswahn, auf äussere Einwirkungen
zurückbezogen, sondern als der Ausdi'uck eines schweren, unheil-
baren Leidens angesehen werden.
Ihren Ausgangspunkt nimmt die Psychose nicht selten von
wirklich vorhandenen, objectiv begründeten Beschwerden, Magen-
darmkatarrhen, Uterinleiden, nervösen Affectionen, namentiich auch,
wie es scheint, von masturbatorischen Excessen. Dazu pflegen
sich meist allerlei abnorme Empfindungen im Körper zu gesellen,
welche in Verbindung mit den objectiven Krankheitssymptomen, oft
auch für sich allein, von dem Kranken zu höchst phantastischen
Vorstellungen über die Art und Ausdehnung der pathologischen
Hypochondrische Verrücktheit.
401
Zustände verarbeitet werden. Es besteht Blutstockung, Störung im
inneren Gefässgang; es hat keinen vollständigen Lauf mehr; Alles
ist todt, kein inneres Leben mehr da, Wackeln und Zittern im
ganzen Körper. Die Haut ist lose; unter derselben sitzen schmerzhafte
Geschwüre; im Eückenmark fühlt der Kranke Rollen und Schneiden;
der Kopf ist ihm hohl oder als wenn Stroh darin wäre; im Leibe
brennt, sticht, ch-ückt, fliesst und zuckt es; die Glieder, die Geni-
talien sterben ihm ab; sein Athem stinkt wie die Pest.
Bei zunehmender Kritiklosigkeit gewinnt auch die Natur der
Krankheit gi'otteskere Formen. Die anfangs nur zur Beschreibung der
Symptome gebrauchten Vergleiche gelten dem Kranken später als
Ausdruck der wirklichen Yerhältnisse. In seinen Adern befindet sich
Gift, Feuer, Mistjauche statt des Blutes; das Herz ist ihm in einen
Stein verwandelt, die Speiseröhre, der Mastdarm abgerissen oder
verschlossen; im Leibe sitzen lebendige Thiere, Spinnen, Kröten,
Schlangen uüd verzehren seine Eingeweide. Mit der Ausbildung
cüeser krankhaften Ideenkreise treten alle anderen Vorstellungen
und Gefühle mehr und mehr in den Hintergrund. Seine früheren
natürlichen Interessen, sein Beruf, seine Famüie verlieren ihren
Reiz für den Kjranken, der sich schliesslich nur noch mit dem Ge-
danken an seine Leiden beschäftigt und dasselbe Thema in uner-
schöpflichen Wiederholungen stets von Neuem bearbeitet. Jeden
Zweifel an seiner körperlichen Erkrankung weist er, wo ihm jede
neue Wahrnehmung neue Beweise zu bringen scheint, mit Entrüstung
zurück, ja es gewährt ihm eine gewisse märtyrerhafte Genugthuung,
durch eingehende Schilderung seiner ihn so lebhaft und ausschliess-
hch beschäftigenden Leiden das Interesse und das Mitleid Anderer
zu erwecken.
Die Stimmung des Hypochonders ist gewöhnlich eine depres-
sive, verzweifelte und reizbare; es kann zu heftigen Angstanfällen
mit lautem Stöhnen, Herumwälzen im Bett, krampfartigen Ver-
drehungen der Glieder kommen. In anderen Fällen begegnet man
einer im Hinblick auf den erschrecklichen Inhalt der Klagen ganz
auffallenden Affectlosigkeit. Die Arbeitsfähigkeit der Kranken wird
meist schwer beeinträchtigt. Abgesehen von ihrer Gleichgültigkeit
gegen jede Beschäftigung hindert sie das Bewusstsein ihrer Schwäche
und Unfähigkeit. Sie unternehmen daher nicht selten zahllose
Kuren, laufen zu den verschiedensten Aerzten, fallen allen möglichen
Kraepolin, Psychiatrie. 4. Aufl. 26
402
Vn. Die Verrücktheit.
Quacksalbern in die Hände, suchen sich durch innerliche und äusser-
liche Anwendung der ekelhaftesten Dinge, unter denen ihr eigener
Urin eine gewisse Eolle spielt, wiederherzustellen. Nicht selten ver-
langen sie eingreifende Operationen, um irgend einen Fremdkörper,
ein Thier oder dergl. aus ihrem Leibe zu entfernen. Es ist indessen
bei der wesenüich phantastischen Entstehungsweise des Wahnes
leicht erklärlich, dass alle hie, und da immer noch unternommenen
Scheinoperationen gänzhch erfolglos bleiben müssen.
Wie weit das im Yorstehenden kurz angedeutete Krankheitsbild
wirklich in das Gebiet der Paranoia hineingehört, vermag ich nicht
zu sagen. Jedenfalls weicht es von den übrigen Formen in vieler
Beziehung ab. Eine ganze Anzahl der Fälle entwickelt sich erst in
höherem Lebensalter, im 6. und 7. Decennium, und steht offenbar in
naher Beziehung zu den übrigen so häufig hypochondrisch gefärbten
Psychosen des Seniums. Eine zweite Gruppe von Fällen dagegen
beginnt schon sehr früh auf hereditär schwachsinniger Grundlage,
namenthch bei Masturbanten. Für diese letzteren, zweifellos degene-
rativen Psychosen dürfte die Zugehörigkeit zu dem grossen Formen-
kreise der Paranoia noch am meisten "Wahrscheinhchkeit für sich
haben.
^ Der eombiiiatorisclie Verfolgungswalm. Gewissermassen auf
einer höheren Stufe der InteUigenz, als die bisher betrachteten Formen,
spielt sich der combinatorische Yerfolgungswahn ab. Die Wahn-
bildung geschieht hier wesentlich durch krankhafte Schlüsse aus
wirküchen Wahrnehmungen. Die Beeinträchtigung wird nicht am
eigenen Körper empfunden, sondern sie macht sich nur im Bereiche
der socialen Beziehungen der Ejranken geltend.
Die Entwickelung der Psychose scheint sich immer sehr langsam
und vorzugsweise bei solchen Individuen zu vollziehen, welche schon
von Hause aus reizbar und verschlossen sind. Den oft über Jalire
sich erstreckenden Beginn büden leichte Yerstimmungen, allerlei
vage, zum Theil körperliche Beschwerden und Befürchtungen, Miss-
trauen, hypochondrische Ideen. Der Kranke ist unzufrieden mit
seiner Lage; er fühlt sich zurückgesetzt, glaubt sich vielleicht schon
von seinen Eltern und Geschwistern nicht mit der rechten Liebe
behandelt, sondern vielfach verkannt, und geräth auf diese Weise aU-
mähüch in einen gewissen, zunächst noch wenig markirten Gegen-
satz zu seiner gesammten Umgebung. Nach und nach befestigen
Combinatorischer Verfolgungswahn.
403
sich jene Ideen in ihm; sie beschäftigen ihn häufiger und beginnen
endlich auch seine Wahrnehmungen zu beeinflussen. Er macht die
Bemerkung, dass man ihm bei dieser oder jener Gelegenheit nicht
mehr so freundlich entgegenkommt, wie früher, dass man zurück-
haltender gegen ihn ist, ihm aus dem "Wege geht und trotz manches,
■wie er meint, heuchlerischen Freundschaftsbeweises nichts mehr mit
ihm zu thun haben will.
In Folge dessen steigert sich seine Empfindlichkeit und sein
Misstrauen; er beginnt, in einer harmlosen Bemerkung, einer zu-
fälligen Geberde, einem aufgefangenen Bhcke Beleidigungen und
Yersteckte Andeutungen einer feindseligen Gesinnung zu argwöhnen.
Aus den Gesprächen der Tischgesellschaft entnimmt er, dass ein
geheimes Einverständniss besteht; die gleichen Eedewendungen werden
mit auffallender Absichtlichkeit bei ganz bestimmten Gelegenheiten
zu Tode gehetzt. Man pfeift in bemerkenswerther Weise gewisse
Lieder, um damit auf kleine Erlebnisse in seiner Yergangenheit hin-
zuweisen, ihm Winke für sein Handeln zu geben. In Theaterstücken,
Zeitungsartikeln finden sich besondere Beziehungen auf sein Thun
und Treiben; der Geistliche auf der Kanzel, ein Wahlredner macht „in
der Bildersprache" nicht misszuverstehende Anspielungen über seine
Person. Er begegnet plötzlich immerfort denselben Menschen, die
ihn anscheinend beobachten, ihm wie zufäUig folgen; man fixirt ihn,
sieht ihn von der Seite an; man räuspert sich, hustet um seinetwillen,
spuckt vor ihn hin oder weicht ihm aus ; in öffenthchen Localen rückt
man von ihm fort oder steht auf, sobald er erscheint, wirft ihm ver-
stohlene Bücke zu und kritisirt ihn. Die Droschkenkutscher, Eisen-
bahnschaffner, Arbeiter unterhalten sich über ihn. Deberall ist die
Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet; seine Kleidung wird trotz ihrer
TJngewöhnlichkeit von zahlreichen Unbekannten nachgeahmt. Einzehie
Bemerkungen, die er hat fallen lassen, werden sofort zur öffenthchen
Parole. Einer meiner Kranken hatte Gelb als die Farbe des Yerstandes
bezeichnet; am nächsten Tage trug alle Welt gelbe Bosen, um ihm, da die
Eose das Symbol des Schweigens ist, anzudeuten, dass er klug sein und
schweigen solle, — „Wer will all das aufzählen, was hier zu mir spricht!"
Alle diese Erfahrungen sind an sich ganz gleichgültigen Inhalts;
sie erscheinen „Jedem nicht Eingeweihten ganz natürüch", als Zufällig-
keiten, aber der Kranke merkt nur zu deutlich, dass Alles mit dem aus-
gesuchtesten Raffinement „gemacht" wird, dass es sich um die „künst-
26*
404
VII. Die Verrücktheit.
liehe Erzeugung von Zufällen" handelt, hinter der sich ein abgekarteter
Handel, irgend ein niederträchtiger Anschlag verbirgt. Allerdings wird
das ganze Spiel äusserst geschickt in Scene gesetzt, um ihn zu düpiren
und ihm jede Möghchkeit einer wirksamen Vertheidigung gegen aUe
die versteckten Gemeinheiten, gegen das ganze Spionir- und Be-
obachtungssystem zu benehmen. So oft er Jemanden direct zur Eede
stellt und zu erkennen giebt, dass er Alles durchschaut, thut man ganz
unschuldig und erfindet allerlei Ausflüchte; man steuert nicht direct,
sondern auf Umwegen dem Ziele zu, indem man anscheiaend ge-
wisse Parallelzwecke verfolgt, während die wirklichen Zwecke nur
ia verschleierten Andeutungen berührt werden. Man kommt ihm
freundhch entgegen, um seine Wachsamkeit zu täuschen, macht ihm
allerlei Vorspiegelungen mit geheimen Hintergedanken, deren wahren
Sinn der Kranke sofort erkennt. Ein junger Jurist, der als Sohn
seiner Mutter ohne Weiteres deren feindsehge Absichten durch Intuition
zu verstehen glaubte, betrachtete die telegraphische Nachricht von
deren Tode als eine „kindische Mystification" und war nicht zu einer
Eegelung der Erbangelegenheiten zu bewegen, da er überzeugt war,
dass die Mutter noch lebe und sich nm- zum Zwecke ihrer Wieder-
verheirathung von ihm lossagen wolle.
Wie schon aus dem Inhalte der Wahnideen hervorgeht, ent-
springen dieselben durchweg aus der vorurtheilsvollen Deutung
wirklicher Wahrnehmungen. Nur hie und da kommt einmal eine
Gehörstäuschung vor, meist ein einzelnes Wort oder ein kurzer
Satz: „der säuft"; „da kommt der stinkige Prophet". Allerdings
haben die Kranken öfters gehört, dass an einem Nebentische über
ihre intimsten Yerhältnisse gesprochen wurde, dass man einander
allerlei schmähliche Dinge über sie erzählte, aber es scheint sich dabei
doch fast immer um die phantasievolle Deutung einzelner Mienen,
Geberden oder zufäUig aufgefangener Aeusserungen zu handeln.
In der Eegel geben daher die Kranken selbst zu, dass sie selten
oder nie den objectiven Beweis für die Kichtigkeit ihrer Auffassimg
erbringen könnten. Man geht eben so schlau vor, dass sich die
Erkenntniss des inneren Zusammenhanges aller der scheinbaren
Zufälligkeiten nur vom Standpunkte jener subjectiven TJeberzeugung
aus gewinnen lässt, „die einmal unerschütterlich bestand und be-
stehen wird", wie ein Kranker sagte. Der Kranke fühlt daher auch
bisweilen, dass ein Uneingeweihter seinen Gedankengängen nicht
Combinatorischer Verfolgungswahn.
405
überall folgen kann, und fürchtet dann, dass seine Verfolger sich
diese Sachlage zu Nutze machen möchten, um ihn für einen mit
Yerfolgungswahnsinn Behafteten zu erklären.
Durch die fortgesetzte vorurtheilsvolle Verarbeitung seiner Er-
fahrungen wird dem Kranken klar, dass eine weitverbreitete Ver-
schwörung gegen ihn im Werke ist. Es werden Verleumdungen
über ihn ausgestreut, er habe sich durch Ausschweifungen ein
Nervenleiden zugezogen, sei der Paederastie ergeben. Man hat
seine Photographie in Bordells gesandt, imi ihn dort als Stammgast
hinzustellen; es wurden gefälschte Eechnungen veröffentlicht, als
ob er täglich enorme Mengen Alkohol trinke. Man will ihn aus
dem Wege räumen, mit Gewalt unterdrücken, wahnsinnig machen,
zu geschlechtlichen Perversitäten, zur Onanie verführen. Diesen
Zweck verfolgt, wie er annimmt, eine mit erstaunlichen Mitteln
arbeitende Organisation, der nicht nur- alle möglichen Privatpersonen
aller Stände, sondern auch Beamte, Gerichte, Zeitungsschreiber,
Geistliche, Schriftsteller als geheime Agenten angehören. .Die Trieb-
feder derselben sind entweder einzelne, bestimmte Personen, oder
es handelt sich um einen allgemeinen Bund der Freimaurer, So-
cialisten, welcher, durch furchtbare Eide zusammengehalten, aus
besonderen Gründen den Kranken in seine Gewalt zu bringen
trachtet.
Mit diesen Vorstellungen verknüpfen sich nicht selten gewisse
Grössenideen. Schon die Ungeheuerlichkeit des ganzen Apparates,
den der Kranke gegen sich in Scene gesetzt wähnt, deutet auf eine
sehr bedeutende üeberschätzung der eigenen Persönlichkeit, des
vermeintlichen Mittelpunktes derartiger Kraftanstrengungen hin.
Meist halten sich indessen diese Ideen in den Grenzen einer ge-
wissen selbstgefälligen Eitelkeit. Der Kranke betrachtet sich als
besonders talentvoll, genial, als bedeutenden Dichter, Musiker, Ge-
lehrten, legt grossen Werth auf sein Aeusseres, hält etwas auf sich,
glaubt sich berufen, eine hervorragende Stellung in der Welt ein-
zunehmen. ISTui' selten begegnet man hier Grössenideen von phan-
tastischerer Gestaltung.
Die Stimmung des Kranken steht mit seinen Wahnvorstel-
lungen in innigstem Zusammenhange. Er empfindet die vermeint-
lichen Verfolgungen als eine Art „geistiger Folter", fühlt sich
dauernd beunruhigt und gequält, wird argwöhnisch, menschenscheu,
406
Vn. Die Verrücktheit.
gereizt. Da er überall Geheimbündelei vermuthet, zieht er sich
zurück, führt gelegentlich Scenen mit seinen Freunden und Ver-
wandten herbei, die diesen gänzlich unverständlich bleiben. Er
schreibt ohne erkennbaren Grund beleidigende Briefe, lässt Annoncen
zur Entkräftung der gegen ihn vorgebrachten versteckten Anschuld-
igungen einrücken, ruft die Hülfe der Behörden an, vrechselt plötz-
lich seine Stellungen oder sucht sich durch Reisen den fortwäh-
renden Ajizapfungen zu entziehen.
Dieses letztere Mittel hilft nicht selten für einige Zeit. Allein sehr
bald bemerkt er, dass man ihm wie einer bereits signalisirten Per-
sönlichkeit begegnet und über ihn und sein gesammtes Vorleben voll-
ständig orientirt ist. In allerlei Andeutungen spinnen sich geheime
Fäden aus seiner früheren in die jetzige Umgebung hinein. Man
spionirt ihm überall nach; einzelne Personen, die er trotz vermeint-
licher Verkleidung, falscher Bärte, gefärbter Haare überall wieder-
erkennt, folgen ihm auf Schritt und Tritt, überwachen ihn beständig, so
dass seine Lage „oft schlimmer ist, als die eines steckbrieflich Ver-
folgten". Seine Vorstellungen von der Ausdehnung und den Macht-
mitteln der ihn verfolgenden Bande wachsen dabei in's Dngeheuerliche.
Zugleich wird seine Lebensführung, wie sein äusseres Benehmen,
immer unsteter und zerfahrener. Die Fähigkeit zu andauernder
sachUcher Beschäftigung, zur regelmässigen Erfüllung bestimmter
Berufspflichten wird durch die fortwährende gemüthliche Beun-
ruhigung empfindlich beeinträchtigt, auch wenn die Intelligenz an
sich anscheinend völlig normal ist.
Den letzten Anlass zur Verbringung des Ejranken in die
Anstalt bildet auch hier gewöhnlich irgend eine Reaction des-
selben auf die vermeintlichen, gegen ihn gerichteten Angriffe. Er
hat etwa eine Verleumdungsklage eingereicht, Drohungen aus-
gestossen, oder ist sogar in seiner Erregung einmal gewaltthätig ge-
worden. Die Aufnahme in die Anstalt ist für ihn ein neuer raffi-
nirter Schachzug seiner Gegner, die ihm schon längst angedeutet
haben, dass er mit Wahnsinn endigen müsse. Zunächst fügt er
sich, da er sicher ist, dass man seine geistige Gesundheit bald er-
kennen werde. In allen seinen Aeusserungen hält er sich sehr zu-
rück, weicht eindringücheren Fragen aus und verbirgt oft lauge Zeit
das Nest seiner Wahnideen hinter einem äusserlich correcten Be-
nehmen, bis ihm -ein besonderer Anlass, ein Affect dieselben her-
Querulaateuwahn.
407
auslockt. Allmählich wird ihm jedoch klar, dass sich das versteckte
Verfolgungssystem auch in der Anstalt fortsetzt. Die Aerzte sind
gedungen, ihn unschädlich und womöglich wirklich geisteskrank zu
machen, da man ihm auf andere Weise nicht beizukoramen yer-
mochte. Seine Mitpatienten sind gar nicht krank, sondern be-
stochene Simulanten, welche ihn durch ihr Yerhalten, ihre un-
sinnigen Streiche „prüfen" sollen; hinter einzelnen derselben ver-
muthet er PoHzeiagenten oder irgendwelche hervorragende Persön-
Kchkeiten im Incognito. Er dringt daher sehr energisch aui seine
Entlassung, schreibt Briefe über Briefe, um dieselbe zu erwirken,
verfasst Beschwerden wegen widerrechtlicher Freiheitsberaubung,
macht Fluchtversuche und führt nicht selten den erbitterten Kampf
um seine Menschenrechte mit grossem Geschicke und äusserster
Hartnäckigkeit.
Der combinatorische Terfolgungswahn pflegt sich meist im
Laufe des dritten, seltener des vierten Lebensjahrzehntes zu ent-
wickeln. Meist handelt es sich um hereditär krankhaft veranlagte,
nicht selten bis zu einem gewissen Grade künstlerisch begabte
Personen.
Der weitere Verlauf der Krankheit ist im Allgemeinen ein
überaus langsamer, lässt aber in längeren Zeiträumen doch regel-
mässig eine allmähliche Verschlechterung erkennen. Die Kranken
bleiben andauernd, mit kurzen Unterbrechungen zorniger Erbitterung,
ruhig, besonnen, geordnet und fähig, sich zu beschäftigen, ja sie
sind sogar häufig genug im Stande, auf irgend einem künstlerischen
oder wissenschaftlichen Gebiete noch eine gewisse productive Kraft
zu entfalten, allein sie sind von Anfang an vollkommen ohne jede
Krankheitseinsicht, und sie werden im Laufe der Zeit diu-ch
das Bestreben einer einheitlichen Verarbeitung ihrer wahnhaften
"Wahrnehmungen zu immer abenteuerlicheren Erklärungsversuchen,
zu einer immer phantastischeren Weltauffassung gedrängt.
Der Querulantenwahn. Der bisher besprochenen Gestaltung des
combinatorischen Verfolgungswahnes steht als durchaus eigenartige
Entwicklungsform der Querulantenwahn gegenüber. Der Beginn
der Erkrankung fällt meist in das vierte Decennium oder etwas
später. Den Grundzug im Krankheitsbilde liefert hier die Idee der
rechtlichen Benachtheiligung und der fanatische Drang, gegen
das vermeintlich erlittene Unrecht bis auf das Aeusserste anzu-
408
Vn. Die Verrücktheit.
kämpfen. Allein es ist keine Sinnestäuschung, kein Primordial-
delirium, welches dem Kranken eine imaginäre Beeinträchtigung
etwa nur Tortäuschte, wie bei den übrigen Formen des Verfolgungs-
wahns, sondern der Wahn knüpft sich regelmässig an irgend einen
wirklichen Nachtheil an, den der Kranke, meistens in einem Rechts-
streite und mit vollem Rechte, erlitten hat. Nur fehlt ihm die Fähig-
keit zu objectiver "Würdigung der Sachlage und derjenige Ueber-
blick über den Lauf der Dinge, der ihn sich bei der getroffenen
Entscheidung beruhigen lassen würde. Ein krankhaft entwickeltes
Selbstgefühl, welches ihm jedes Yerständniss für die Berechtigung
fremder Interessen unmöglich macht und ihn in eine extrem egocen-
trische Weltanschauung hineindrängt, befestigt in ihm die Ansicht,
dass ihm bitteres Unrecht geschehen sei, und dass er auf jeden Fall
die Angelegenheit weiter verfolgen müsse. Blind gegen besseren
Rath, setzt er weitere Rechtsmittel in Bewegung, schreibt unzählige
Briefe und Eingaben, strotzend von Beleidigungen seiner Gegner
und der Gerichte, appellirt von einer Instanz an die andere, mit
immer wachsender Leidenschaftlichkeit und Hartnäckigkeit sein ver-
meintliches „Recht" suchend, mag auch alles Andere darüber zu
Grunde gehen. Es liegt auf der Hand, dass dieser leitende Gedanke,
um jeden Preis die Anerkennung der eigenen rechtlichen Interessen
zu erzwingen, an sich ein durchaus gesunder genannt werden muss;
das krankhafte Element liegt nur in dem mangelnden Yerständ-
nisse für das objectiv Rechte, in der naiven Identificirung der
persönlichen Interessen mit dem öffentlichen, allgemeinen Wohle.
„Er sucht das Recht, kann es aber nicht finden", sagte ein Zeuge
im Entmündigungsverfahren von einem Querulanten.
Die sittliche Idee der fremden Gleichberechtigung, das Gefühl
für die Unverletzlichkeit auch der Rechtsinteressen des Gegners ist
hier gänzlich unentwickelt geblieben oder wieder verloren gegangen.
Der Kranke hält die unsittlichsten Mittel für erlaubt, sobald sie ihm
zur Schädigung seines Feindes dienen, während selbst die mildesten
Formen des rechtlichen Zwanges in ihrer Anwendung auf ihn selbst
als brutale Angriffe und Yergewaltigungen aufgefasst werden. Auf
diese Weise verwickelt sich der Kranke in einen endlosen Conflict
mit den Behörden und Gerichten, die er bald nur noch als eine
Bande von Spitzbuben und Räubern betrachtet; er widersetzt sich
allen Anordnungen derselben mit äusserstem Eigensinn und gi-eift
Queriilantenwahn .
409
schliesslich zu offener Gewalt, um sich selbst das ihm vorenthaltene
Eecht zu yerschaffen. Seine Häusüchkeit, sein Geschäft, sein Yer-
mögen, Alles wird dem kraakhaften Drange geopfert. Nicht selten
gewinnt der Ki-aake im Verlaufe seiner Angelegenheit eine ausser-
ordentliche formale Kenntniss der Eechtsbestimmungen, die er ebenso,
wie seine Acten, bisweilen wörthch auswendig lernt, allerdings nicht,
ohne dieselben in seinem eigenen, subjectiven Sinne auszulegen.
Jede Unterredung mit einem Querulanten pflegt sehr bald auf seine
Beeinträchtigungsideen zu führen, welche, je länger desto mehr, sein
ganzes wirkliches Interesse in Anspruch nehmen. Ton jedem, noch
so entlegenen Punkte aus führt sein Gedankengang immer wieder auf
dieses Centi-um zurück. Er überschüttet dann den Hörer mit Be-
hauptungen über die Schlechtigkeit seiner Gegner, die sich bei ge-
nauerer Prüfung zum Theil als ganz aus der Luft gegriffen, zum Theil
als arg entstellte Klatschgeschichten erweisen. Eür die Eichtigkeit
jeder seiner Aussagen beruft er sich sogleich auf eine Menge nam-
haft gemachter Zeugen, welche indessen meist gar keine oder nur
ganz unbestimmte Angaben zu machen wissen und dann von dem
Kranken der Parteüichkeit, Bestechhchkeit oder des Meineids be-
zichtigt werden, weil sie nicht recht ausgesagt haben. "Widersprach
pflegt den Kranken sehr zu reizen und führt nicht selten zu heftigen
Zornausbrüchen.
Mit der wachsenden Leidenschaft nimmt auch die Lust am
Processiren selbst zu, so dass die Kranken schhesslich schon aus ge-
ringfügigem oder ganz ohne Anlass sich aus einem Kechtsstreite in
den anderen stürzen, dass ihnen nicht der Sieg, sondern der Kampf
selber Beweggi-und zum Kampfe wird. Sie ergreifen mit Freuden jede
Gelegenlieit, auch für Andere Briefe, Eingaben, Proteste, Streitschriften
zu schreiben, und gerathen auf diese "Weise bisweilen geradezu in die
Laufbahn der "Winteladvokaten hinein. Solche Zustände, die mannig-
fache Berührungspunkte mit den normalen Charakteranlagen der Eecht-
haberei, der Streitsucht aufweisen und in der That ohne scharfe
Grenzen stetig in die Breite der gesunden Individuahtäten über-
gehen, werden vom Publikum und auch von den Aerzten fast immer
falsch beurtheilt, weil die inteUectuellen Störungen in der Eegel
wenig hervortreten und durch ein oft gut erhaltenes Gedächtniss,
wie durch eine gewisse rabulistische Gewandtheit verdeckt werden.
Die Entstellungen und Yerdrehungen des Thatbestandes, die der
410 Die Verrücktheit.
Kranke vom StandpurLkte seiner krankhaften Auffassung optima fide
vorbringt, werden leicht für absichtliche, raffln irte Täuschungen ge-
halten und als Beweis für die sittliche Yerkommenheit und Unver-
schämtheit desselben angesehen.
Erst sehr spät, oft nach mehr als einem Jahrzehnte, pflegt die
pathologische Natur der Störung richtig erkannt zu werden, nachdem
der Kranke finanziell und social zu Grunde gegangen, ungezählte
Male verurtheilt, gemassregelt und zum Schrecken der Behörden ge-
worden ist. Der Schwachsiim ist nun in den stereotj^en, zusammen-
hangslosen Schmähungen und grottesken Anschuldigungen meist nicht
mehr zu verkennen. In der Anstalt sind die sonst so erregbaren
Kranken regelmässig, gutmüthig und lenksam, wenn man sie nicht
durch "Widerspruch und Berühren des Aviinden Punktes gefiissent-
Hch reizt. Eine weitere Ausbildung pflegt das "Wahnsystem, im Gegen-
satze zu den früher besprochenen Formen, meist nicht mehr zu
erfahren; allerdings ist ein Zurücktreten desselben, abgesehen vielleicht
von der sehr allmählich zunehmenden Stumpfheit der Kranken, eben-
sowenig zu erwarten.
B. Expansive Formen.
Der hallucmatorisclie Grössenwalin. Unter diesem Namen sei
es gestattet, zunächst eine Anzahl von Krankheitsbildern zusammen-
zufassen, in deren Entwickelung hallucinatorische Wahi-nehmungen,
namentiich auf dem Gebiete des Gehörs und Gesichts, eine hervor-
ragendere KoUe zu spielen scheinen. In einer ersten Gruppe von
Fällen bleibt dabei die Ausbildung des Wahnsystems eine ähnlich
dürftige, wie beim einfachen hallucinatorischen Yerfolgiings^vahn.
Gewöhnlich entwickelt sich die Psychose langsam und schleichend,
so dass sie meistens schon weit ausgebildet ist, wenn sie entdeckt
wird. Der Kranke hört, zunächst vielleicht bei einer besonderen
Gelegenheit oder im Aifecte, später häufiger, einzelne Zurufe, die
sich auf sein Handeln beziehen, die Aufforderung, an einen be-
stimmten Ort zu ziehen, zu heirathen, zu fasten oder dergl. Anfangs
wird er durch diese Stimmen, welche in der Kegel keinen direct
sinnlichen, sondern einen übernatürlichen Charakter besitzen, be-
um-uhigt und erschreckt; allmählich aber Avird es ihm klar, dass die-
selben nichts anderes sind, als göttliche Eingebungen, auch wenn
Hallucinatorischer G-rössenwahn.
411
sie von ihm bekannten Persönlichkeiten herzustammen scheinen. So
kommt es, dass er nach Kräften den an ihn gerichteten Befehlen in
Wirklichkeit nachzukommen sucht.
Nach imd nach gewinnt der Verkehr des Kranken mit dem lieben
Gott eine immer grössere Ausdehnung. Die Stimmen begleiten bis-
weilen das Denken und Thun des Kranken immerwährend mit beifälliger
oder missfälliger Kritik; sie regeln den ganzen Tageslauf bis in's
Einzelne und veranlassen den Kranken häufig genug zu unsinnigen
und auffallenden Handlungen, namentlich zu zwecklosen Eeisen.
Ein derartiger Kranker wurde vom Geist Gottes aufgefordert, in ein
behebiges Haus hineinzugehen und mit der Mütze auf dem Kopfe
die erste beste ihm begegnende Frauensperson zu heirathen; ein
Anderer schimpfte auf Anordnung der Flüsterstimmen alle ver-
schleierten Damen, denen er begegnete, so dass er mehrfach des-
wegen mit der PoHzei in Confhct gerieth. In einzelnen Fällen kann
es sogar auf Grund hallucinatorischer Befelile zu plötzlichen Gewalt-
acten, Zerstörungen, Selbstverstümmelungen kommen. Häufig ge-
sellen sich zu den Stimmen noch andersartige Trugwahrnehmungen
hinzu, welche in ähnlicher Weise gedeutet zu werden pflegen.
Wunderbare Durchleuchtungs- und Durchströmungsgefühle lassen den
Kranken erkennen, dass der Geist Gottes von seinem Leibe Besitz
genommen hat; eine Yision von Sternen und Lichtpunkten deutet
aiif künftigen Sieg und Ruhm; herrliche Gerüche, angenehme Ge-
scljmacksempfindungen dienen dazu, ihm das Erdendasein zu ver-
süssen. Ja, nicht selten bemächtigen sich die göttlichen Einflüsse
auch der Muskeln des Kranken. Die Zimge wird ihm gezogen, dass
er sprechen muss, was ihm der Geist eingiebt; ohne, oder sogar gegen
seinen Willen muss er grässliche Schreie ausstossen; sein Arm wird
ihm geführt, wenn er schreibt oder den Kampf in heiliger Sache
aufnimmt. Auch in der äusseren Natur begegnen ihm allerlei
wunderbare Erlebnisse. Wenn er betet, so strömt fi-uchtbarer Eegen
herab, oder der umwölkte Himmel klärt sich plötzKch auf, sobald
er auf die Strasse tritt.
AUe diese Wahrnehmungen mit den an sie sich knüpfenden
TJeberlegungen lassen dem Kranken keine Zweifel darüber, dass er
ein Auserwählter des Himmels, ein Prophet, Braut Chiisti ist. Er
ist das unwürdige Werkzeug, durch welches sich Gottes Wille offen-
bart. Neben diesen Grössenideen bestehen aber häufig auch allerlei
412
VII. Die Verrücktheit.
depressive Yorstellungen. Der Kranke baut sich aus seiner
früheren Sündhaftigkeit gleichsam ein Piedestal für seine jetzige
Grösse; er hat viel Schlechtes gethan, oft gefrevelt und muss dafür
in allerlei Selbstkasteiung (Fasten, Beten, Knieen) Busse thun,
um sich der hohen Gnade würdig zu erweisen. Oder aber es
schieben sich hypochondrische Elemente ein, Klagen über abnorme
Sensationen im Kopfe, über nächtliche Samenverluste und Arbeitsr
Unfähigkeit.
Die Stimmung des Kranken ist dabei in der Eegel eine ge-
hobene, zeitweise sogar lebhaft erregte, wenn sich auch häufig genug
in Folge von „Anfechtungen" rasch vorübergehende Zomausbrüche
oder sogar länger dauernde depressive Verstimmungen geltend machen.
Die Besonnenheit und das Gedächtniss des Kranken sind voll-
kommen erhalten; in der ersten Zeit der Psychose besteht sogar
bisweilen erue Art Krankheitsbewusstsein, allerdings gewölmlich mit
hypochondrischer Färbung. Ein gewisser Grad geistiger Schwäche
ist regelmässig vorhanden. , Der Yerlauf der Krankheit pflegt ein
sehr langsamer zu sein; der Zustand des Kranken bleibt viele Jahre
hindurch fast stationär.
Eine ungleich mannigfaltigere Entwickelung hat eine zweite
Gruppe von Beobachtimgen aufzuweisen, in welcher neben den Sinnes-
täuschungen die phantastische Erfindung eine grössere Eolle
spielt. Fast immer beginnen diese Erkrankungen mit depressiven
"Wahnideen. Der Kranke fühlt sich unglücklich, verstimmt, m^cht
sich allerlei Yorwürfe, dass er durch Selbstbefleckung Körper und Geist
für immer ruinirt, fremdes Eigenthum unrechtmässig für sich be-
halten habe, hängt viel religiösen Grübeleien nach, betet fleissig,
singt Kirchenlieder und trägt sich mit Todesgedanken, um grosses
Unglück zu verhüten. Oder aber er merkt, dass seine Umgebung
ihm feindhch gesinnt ist. Man hustet auffälhg hinter seinem Rücken,
streckt ihm die Zunge heraus, chicanirt und verspottet ihn, ist ihm
aufsässig; die Frau ist untreu, will ihn vergiften. Nunmehr stellen
sich einzelne Gehörstäuschungen ein, Telephonstimmen, Signale aus
der Luft durch den Sprachschalter. Alle sprechen über ihn ; er soll
zum Scharfrichter geführt werden, den Tod durch eine Lokomotive
finden; das Gift ist schon im Glas, er hat's schon; „wenn er wüsste,
dass ich da wäre," ruft eine fremde Mannesstimme. Schrnndelan-
fälle treten auf, Begattungsempfindungeu, Durchzuckung im Körper,
Hallacinatorischer Grössenwahn.
413
Schlaffheit der Glieder; das Hirn dreht sich wie in Wickeln. Gleich-
zeitig steigen massenhafte „vermuthende Gedanken", Ahnungen, Ein-
gebungen auf. Der Kranke muss sein ganzes früheres Leben durch-
denken, „in vier Stunden 19 Jahre durch sein Gehirn durch-
schlagen"; er müsste ein Buch schreiben, wenn er Alles aufzeichnen
wollte, was ihm in den Kopf kommt.
Schon während der ersten depressiven Periode lässt sich deut-
lich der eigentlich expansive Charakter des Krankheitsprocesses er-
kennen. Die Stimmung des Kranke» ist zwar zeitweise nieder-
geschlagen oder gereizt, ja es kann sogar zu einem plötzlichen
brüsken Selbstmordversuche oder ähnlichen Gewaltacten kommen.
Allein es tritt doch von vorn herein ein eigenthümlich ekstatisch-
schwärmerischer Zug oder ein stark gehobenes Selbstgefühl in auf-
fallenden Gegensatz zu dem selbstquälerischen oder feindseligen In-
halte der Wahnideen. Der Kranke hat „bewunderungswürdig gelitten",
durch sein Leiden die Sünden der Welt gesühnt. Dem entsprechend
gehen auch schon früh Wahrnehmungen expansiver Art neben jenen
ersteren einher, um im weiteren Yerlaufe der Krankheit mehr und
mehr das IJebergewicht zu erlangen.
Manchmal sind es einfach lebhafte, phantastische Träume, die
der Kranke zu seinen wirklichen Erlebnissen in Beziehung setzt.
In diesen „nächtlichen geistigen Verschleuderungen" führt ihn die
Gewalt Gottes in fremde Länder, bringt ihn in Yerkehr, auch sexu-
ellen, mit hohen Personen, und giebt ihm durch mannigfache Dar-
stellungen aussichtsreiche Yerheissungen für die Zukunft. Häufiger
jedoch kommt es zu einzelnen, mit klarem Bewusstsein aufgefassten
visionären Scenen. Der Kranke erwacht in der Nacht mit un-
beschreiblichen Wonnegefühlen; seine Augen werden von dem
Lichte geblendet, welches sein Schlafzimmer erfüllt. Er sieht Gott
in Gestalt eines Sterns, eine herrliche Gestalt in köstlichem Ge-
wände, die Mutter Gottes, Engel mit goldenen Flügeln, welche
eine Königskrone tragen, das Christkind, welches ihn ah der Hand
führt, ihm die Weltkugel überreicht, den Kaiser mit einer strahlen-
den Sonne. Dabei hört er eine Stimme, die in mehr oder weniger
klaren Ausdrücken ihm seine hohe Mission verkündet: „Das ist
mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe", „dir sind deine
Sünden vergeben", „du musst bekennen" und dergl. Oder es ent-
steht ein Getöse; die Schwerter klingen, die Hähne krähen, als ob
414
Vn. Die Verrücktheit.
Krieg und Kampf wäre. Bisweilen wiederholen sich solche Erleb-
nisse mehrmals in längeren Zwischenräumen.
Seltener treten auch bei Tage einzelne illusionäre Wahr-
nehmungen auf, an welche sich wahnhafte Deutungen anschliessen.
Der Kranke sieht in einer Lichtflamme das Schwert, das ihm Gott
gegeben, einen Spiess und einen Galgen, schimmernde Seidenraupen
an der Wand; auf dem Zifferblatt der Uhr heben sich zwei Ziffern
bedeutungsvoll ab; ein ungewöhnlich heller, früher nie bemerkter
Stern leuchtet plötzlich durch die "Wolken.
Dazu gesellen sich sehr häufig eigenthtimliche Wahrnehmungen
nicht sinnlicher Natur, die als „Gewissensstimmen," als „innere Stimmen,
die nicht mit Worten sprechen", bezeichnet werden. Sie sind es, welche
dem Kranken das tiefere Yerständniss für alle seine wunderbaren
Erlebnisse eröffnen. Durch sie erfährt er, dass er besonders von Gott
begnadet, Christus oder Braut Christi, ein gewaltiger Menschengeist ist.
Grosses vollbringen, alle Kämpfe siegreich überstehen, die Bürger-
krone für das Land erringen werde. Gerade diese Offenbarungen
pflegen für ibn eine besonders grosse überzeugende Kraft zu haben.
„Ich habe unzählich viele und gar keine Beweise," sagte mir eine
derartige Kranke. Ausserdem werden indessen auch wirkliche Wahr-
nehmungen einfach von dem Kranken im Sinne seiner Ideen ver-
arbeitet. Zunächst weiss er freilich vielfach noch nicht, was Alles
bedeuten soll, ist aber sicher, dass ihm später Alles klar werden
wird. Ein Besuch aus der Hauptstadt hängt mit seiner Berufung
auf den Thron zusammen; der Geistliche auf der Kanzel legt seine
Sachen aus; in den Büchern weist Alles auf ihn hia. Eine Kranke
strickte sich ihr zukiinftiges Leben „als ein schönes, frommes Leben
am Strickstrumpf ab".
Mit den inneren Stimmen verbindet sich regelmässig die Vor-
Btellung der Beeinflussung durch eine höhere Macht. Der Kranke
fühlt sich ganz in Gottes Hand; sein Körper ist wie eine Maschine,
die man -sprechen lässt, wenn man auf den Knopf drückt Seine
Gedanken werden ihm gemacht, aus dem Kopfe gezogen, werden laut,
so dass auch Andere sie hören. Mit der Entwickelung der Grössen-
ideen tritt der Yerfolgungswahn allmählich mehr in den Hinter-
grund, doch pflegen sich einzelne Züge desselben noch längere Zeit
zu> erhalten.^ pie Beeinträchtigungen und Demüthigungen werden
nun vom Kranken gewissermassen als Prüfungen aufgefasst, als
Hallucinatoi'iecher Grösseuwahn.
415
Yorbereitnug für seinen künftigen hohen Beruf. Er wird es ab-
warten, wird schon das Ziel erreichen, wegen dessen man ihn Jahre
lang gepeinigt hat; weil er stark im Glauben gewesen ist, hat er die
Trübsal überstanden, um erhöht zu werden. Hie und da kommt
es noch zu „Anfechtungen" durch den bösen Feind, der sexuelle
Angriffe, „Gedankensammeln", Hohlheit im Unterleibe bewirkt, doch
folgt solchen Anfällen in der Eegel eine um so freudigere und
stolzere Erhebung zu himmlischen oder weltlichen Wüi'den.
Im Zusammenhange mit der Eichtun gsänderung des Wahns
wird die Stimmung der Kranken allmählich eine immer gehobenere,
bald im Sinne eines selbstgefälligen Hochmuths, bald in dem einer
verzückten Schwärmerei. Meist besteht erhöhte sexuelle Erregbarkeit,
die sich in geschlechtlichen Verdächtigungen, erotischen Träumen,
Masturbation und sinnlicher Ausmalung der religiösen Beziehungen
zum ,,Seelenbräutigam" oder der „Seelenbraut" auszudrücken pflegt.
Eine gewisse Steigerung der gemüthlichen Reizbarkeit führt zu ge-
legentlichen explosiven Handlimgen. Den- Anlass dazu giebt ent-
weder eine plötzhch auftauchende Wahnvorstellung, eine Mitkranke
sei die Person, mit welcher der Mann früher Unzucht getrieben
habe, irgend eine unangenehme Sensation, die als Vergiftungszeichen,
als geschlechtlicher Angriff gedeutet wird, oder auch ein ganz unklarer
Antrieb durch die innere Stimme, als müsse es so geschehen. In
Haltung und Benehmen prägt sich das gehobene Selbstgefühl deutlich
aus, in der überlegenen Miene, dem befriedigten Gesichtsausdruck,
der gewählten, oft auch geschraubten Sprache, den affectirten Be-
wegungen. Die Schriftzüge werden nicht selten gross und prätensiös,
wunderlich verschnörkelt, während der Inhalt der Aufzeichnungen
durch Wortverdrehungen, Neubildungen, weit her geholtes Symboli-
siren bis zur völligen Unverständlichkeit krankhaft verändert wird.
Die Arbeitsfähigkeit der Kranken leidet durch die Entwickelung
des Wahns. nam.entlich in der ersten Zeit, meist beti-ächtlich. Obgleich
sie vöUig besonnen sind, werden sie doch durch ihre krankhaften
Ideen und Stimmungen derart beeinflusst, dass eine stetige, geregelte
Thätigkeit häufig unmöglich wird. Sie wechseln in Folge der Be-
einträchtigungsideen häufig ihre Stellungen, laufen im Anschlüsse an
eine Vision plötzlich davon, lassen Alles liegen, weil sie nicht mehr
nöthig haben, zu arbeiten, sondern nur noch ihrer hohen Mission
leben müssen. Auch sonst kommt es vielfach zu auffallenden und
416
VII. Die Verrücktheit.
selbst gefährlichen Handlungen, Skandalscenen in der Kirche, öffent-
lichen Predigten, Angriffen auf Geistliche, geschlechtlichen Aus-
schweifungen, weil die Kranken in einem beliebigen Manne den er-
sehnten Bräutigam erblicken, zu unsinnigem Fasten und schweren
Selbstquälereien oder gar Selbstverstümmelungen auf Grund verrückt
ausgelegter Bibelstellen.
Im weiteren Verlaufe ist regelmässig die allmähliche Ent-
wickelung einer psychischen Schwäche zu constatiren. Die Grössen-
ideen der Kranken werden zusammenhangsloser und zerfahi-ener:
sie knüpfen sich nicht mehr an wirkliche Wahrnehmungen und Erleb-
nisse an, sondern entspringen frei und unvermittelt der phantastischen
Erfindung. Dabei bleibt jedoch die Orientirimg, das Yerständniss
für die wirklichen Vorgänge in der Umgebung und ein gewisses
Mass geistiger Eegsamkeit dauernd erhalten, so dass die Kranken sich
ohne Schwierigkeit mit mehr mechanischer Thätigkeit, Handwerkerei,
Abschreiben, Zeichnen, Lesen, weiblichen Handarbeiten beschäftigen,
nach einzelnen Eichtungen durch Ausdauer und Geschick sogar
Hervorragendes leisten können und auf diese Weise nicht selten
recht nützliche Glieder im Anstaltsorganismus werden.
Der combinatorisclie Grössenwalm. Wir haben nun endlich noch
derjenigen Fälle zu gedenken, in deren Entwickelung die Simies-
täuschungen vollständig zurücktreten gegenüber der wahnhaften
D eutung wirklicher Wahrnehmungen und weiterinn auch gegenüber der
freien phantastischen Erfindung. Gerade diese Formen scheinen
häufiger schon in sehr frühem Lebensalter, zu Ende des zweiten oder
in der ersten Hälfte des dritten Jahrzehnts eiazusetzen, ähnlich wie
der combinatorische Verfolgungswahn. Mit voller Sicherheit lässt
sich allerdings der Beginn des Krankheitsprocesses selten ermittehi,
nicht nur wegen der überaus schleichenden Entwickelung, sondern
namentlich auch deshalb, weil die Kranken die Neigimg haben, nach-
träglich noch weit zurückliegende, wirkliche oder erfundene Erlebnisse
mit ihrem Wahne in Beziehung zu bringen.
In der ersten Zeit der Krankheit scheint meist eine gewisse
psychische Depression vorhanden zu sein. Der Kranke fühlt sich
unglücklich, unbefriedigt, nicht an der richtigen Stelle im Leben. Die
natürlichen Interessen seines Alters lassen ihn gleichgültig; er kann
nicht mitthun wie seine Kameraden, ist aus ganz anderem Holze ge-
schnitzt, als sie. Er merkt, dass man kein Verständniss für seine
Combinatorischer Grössenwahn.
417
Eigenart hat, ihn zurücksetzt, ihn anders behandelt, als seine Ge-
schAvister. Es entwickelt sich ein geheimer, allmählich wachsender
Gegensatz zwischen ihm und seiner Umgebung; er steht seinen
Eltern, seinen nächsten Angehörigen als ein Fremder, als Mensch
aus einer anderen Welt gegenüber; sein Verhältniss zu ihnen ist ein
kaltes, äusserliches, unnatürliches. Er zieht sich daher von ihnen
zurück, begegnet ihnen schroff, abweisend, sucht die Einsamkeit
auf, um imgestört seinen Gedanken nachhängen zu können, beschäftigt
sich mit unpassender und unverstandener Leetüre. Dabei besteht in
seinem Innern eine tiefe Sehnsucht nach etwas Grossem und Hohem,
ein geheimes Drängen nach kühner Bethätigimg, die stille Hoffiiung
auf ein unfassbares Glück, die sich in dem Aufbau und der detaillirten
Ausmalung unwü'klicher Situationen, phantastischer Luftschlösser be-
friedigt, in denen die eigene Person die Heldem-olle spielt. Mehr
und mehr befestigt sich in ihm die Ueberzeug-ung, zu etwas „Be-
sonderem" geboren, „nicht wie der grosse Haufe gebacken" zu sein.
Er glaubt an seine „Bestimmung", an eine Mission, die er zu er-
füllen hat. Alle praktischen Misserfolge können ihn dabei nicht
entmuthigen. „Um den Glauben mir zu nehmen", schrieb ein Kranker,
„müsste die Stimme meiner innersten Seele ausgerodet, die Seele
selbst oder mein Leben vernichtet werden: per aspera ad astra!"
Aus diesen und ähnlichen Gedankengängen schiesst endlich, viel-
leicht nach jahrelangem, unklarem Grübeln, in dem Kranken die sieg-
reiche Ahnung hervor, dass er überhaupt nicht das rechte Kind
seiner Eltern, sondern von viel höherer und herrlicherer Abstammung
sei. Den äusseren Anlass zur Entstehung dieser Wahnidee, welche
sofort für ihn den Charakter unzweifelhafter Gewissheit erlangt, giebt
oft eine ganz gleichgültige Begebenheit. In einem Streite gebraucht
der Yater eihen heftigen Ausdruck, den er seinem wirklichen Kinde
gegenüber niemals anwenden würde. Der Kranke merkt, dass seine
Eltern im Nebenzimmer flüstern, bei seinem Eintritte erblassen, ihn
mit besonderem Ernste begrüssen; es wird in seiner Gegenwart
„bedeutungsvoll" der Name einer hochgestellten Persönlichkeit ge-
nannt; auf der Strasse, im Theater blickt ihn irgend eine vornehme
Dame ausserge wohnlich freundlich an; beim Beschauen des Büdes
eines Grafen oder Pürsten, der Büste Napoleon's fällt ihm plötzlich
eine überraschende Aehnlichkeit zwischen sich imd Jenem auf, oder
endhch es wird ihm ein Brief in die Hände gespielt, zwischen dessen
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Aufl. 27
418
YII. Die Verrücktheit.
Zeilen er das grosse Geheininiss ohne Mühe herausliest. Diese Ent-
deckung giebt nun alsbald den Kernpunkt ab, um den herum sich
in Staunenswerth typischer Entwickelung eine Reihe von anderen
Vorstellungskreisen krystallisiren.
Indem der Kranke die Erfahrungen seiner Vergangenheit durch-
mustert, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Mit voller
Klarheit treten ihm eine Menge von Einzelheiten entgegen, die er
früher gar nicht beachtet hat, die aber jetzt plötzlich eine hohe Be-
deutung für ihn gewinnen. Sein Gedächtniss schärft sich, wie er
meint, in erstaunlichem Masse, so dass sein ganzes vergangenes
Leben wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm liegt Nicht selten
entwickeln sich jetzt massenhafte Erinnerungsfälschungen. 5Der
Kranke weiss noch ganz genau, wie er als kleines Kind seinen wirk-
lichen Eltern aus einem schönen Schlosse geraubt, in der Welt
herumgeschleppt und schliesslich bei seinen falschen Eltern unter-
gebracht wurde. Vielfache Aeusserungen und Handlungen dieser
Letzteren, der Zuschnitt und die Farbe seiner Kleidung, die Be-
handlung in der Schule, prophetische Träume,f alle kleinen undfgrossen
Ereignisse seines Lebensgauges haben von seiner frühesten Jugend
an auf seine Abstammung, seinen zukünftigen hohen Beruf hin-
gewiesen. Ein Kranker behauptete, schon früher sei Alles wahr ge-
worden, was er sich dachte.
Reicher fast noch, als bei der rückschauenden Betrachtung,
fliesst die Quelle jder Bestätigungen durch gegenwärtige Wahr-
nehmungen. Mit besonderer Genugthuung erkennt der Kranke, dass
auch von seiner näheren und ferneren Umgebung die Ueberlegenheit
seiner Person und seiner Stellung mehr oder weniger offen aner-
kannt wird. Man behandelt ihn, wohin er kommt, mit unverkenn-
barer Ehrerbietung; fremde Personen ziehen tief den Hut vor ihm;
die königliche Familie sucht ihm möglichst oft zu begegnen; die
Musik auf der Parade oder im Theater beginnt zu spielen, sobald
er erscheint. Li den Zeitungen, welche ihm vom KeUner vorgelegt
werden, in den Büchern, die ihm der Buchhändler zuschickt, fiadet
er mehr oder weniger verblümte Anspielungen auf sein Schicksal.
Er liest etwas vom Antichrist und weiss sofort, dass er gemeint ist
und zu Christus verklärt werden soll. Die Schauspieler auf der
Bühne, der Geistliche auf der Kanzel richten lange Sätze mit dem
Hinweise auf seine hohe Abkunft direct an ihn, und die Vorüber-
Coinbinatorischer Grössenwahn.
419
gehenden auf der Strasse begleiten ihn mit beifcälligen und beziehungs-
reichen Bemerkungen. Past bei allen diesen "Wahrnehmungen-
handelt es sich, wie leicht verständlich, um die ungeheuerlich kritik-
lose und phantastische Interpretation wirklicher, aber völlig bedeutungs-
leerer Eindrücke. So schloss eine Ea-anke aus der Aeusserung ihrer
Mutter, „sie sitze wie eine Henne auf den Eiern", dass sie schwanger
sei, und als von Auerhahnjagd gesprochen wurde, war ihr klar, dass
ihr Bruder ihretwegen ein Pistolenduell habe.
Hie imd da spielen jedoch auch vereinzelte Sinnestäuschungen
hinein, namentlich nächtliche "Visionen, das Sehen von Sternen,
glänzenden Figuren, göttlichen Erscheinungen. Dabei ertönt eine
Verheissung; den Kranken wird der Segen Esaus auf die linke, der
Segen Jacobs auf die rechte Schulter verliehen, die Krone des Lebens,
aufs Haupt gesetzt.
Parallel mit dem Ausbau der Grössenideen geht regelmässig die-
Entwickelung einer anderen Yorstellungsreihe, welche jedoch mit
jenen ersteren stets in einem gewissen inneren Zusammenhange
bleibt. Im Anschlüsse an die Erkenntniss des unnatürlichen Be-
nehmens, welches seine Pseudo-Eltern gegen ihn an den Tag gelegt
haben, bemerkt der Kranke weiterhin, dass auch von anderer Seite
her ein feindseliges Verhalten beobachtet wird. Seine Torgesetzten,
Kameraden, Examinatoren beleidigen ihn in auffallender "Weise,
suchen ihn zu unterdrücken. In den Speisen, welche ihm vorgesetzt
werden, bemerkt er gelegentlich Gift; feine Tropfen spritzen aus
der Luft auf ihn herab, Schüsse werden auf ihn abgefeuert; eine
plötzliche Beklemmung überfällt ihn, oder man sucht ihn durch allerlei
Verführungskünste moralisch und physisch zu verderben. "Wie er
durch die vorurtheilsvoILe Deutung aller möglichen kleinen Erfahrungen
mit Sicherheit feststellt, setzen seine Feinde, die sich ihm unter den
mannigfaltigsten Verkleidungen nähern, „auf Betreiben der Mächte
"Weimar, Schweden und England" Alles daran, lun ihn, den zukünftigen
Herrscher, auf die eine oder die andere Weise zu Grunde zu richten.
Auch hier greifen nicht selten einzelne HaUucinationen, namentlich
des Gehörs, aber auch auf anderen Sinnesgebieten, in die Ausbildung
des Wahnsystems mit ein.
Natürlich triumphirt der Kjranke schliesslich regelmässig über
die feindlichen Machinationen, deren Ausdehnung und Hartnäckig-
keit ihm immer wieder neue Beweise für die hohe Wichtigkeit der
27*
420
VII. Die Verrücktheit.
eigenen Person an die Hand giebt. Nicht selten vermag er bei
solchen Gelegenheiten das directe Eingreifen der Yorsehung in sein
Lebensschicksal zu constatiren. Aus den Veränderungen des Wetters,
dem eigenthümlichen Blinken der Sterne, aus dem Fluge der Yögel,
aus der Kleidung der Menschen, die ihm begegnen, dem Papier-
fetzen, den er auf der Landstrasse findet, geht auf das Elarste her-
vor, dass Gott in ganz besonderer Weise seine Hand über ihm hält
und ihm Zeichen für sein Handeln giebt, die er ohne Weiteres zu
deuten versteht und auch mit freudiger Zuversicht auf das Gewissen-
hafteste befolgt. In Folge aller dieser Erfahrungen entsteht ein aus-
gedehntes Netz geheimnissvoller Beziehungen, dessen Mittelpunkt der
Kranke bildet. Er ist Thronerbe, Reformator, Friedensfürst, Kaiser
und Papst in einer Person, Messias, Gottesgebärerin, erhält seine
Gedanken von Gott, wird zum auserwählten Werkzeuge des Himmels,
ja zum Centrum der Welt.
Sehr gewöhnlich gesellt sich zu diesen Vorstellungen noch eine
besondere Gruppe von Wahnideen, die auch den einzigen Lihalt des
combinatorischen Grössenwahns bilden kann (erotische Verrücktheit.)
Der Kranke macht nämlich die Bemerkung, dass eine wirklich oder
vermeintlich durch hervorragende Stellung ausgezeichnete Person
des anderen Geschlechts ihm gewogen ist und ilmi eine nicht miss-
zuverstehende Aufmerksamkeit schenkt. Bisweilen ist es ein auf-
gefangener Blick, eine vermeintliche Fensterpromenade, eine zu-
fällige Begegnung, welche diese verborgene Liebe dem Kranken zur
Gewissheit werden lässt; häufiger jedoch erfährt er davon nur auf
Umwegen, durch verblümte Anspielungen seiner Umgebung, Zeitungs-
annoncen, ohne dass er vielleicht den Gegenstand seines Interesses
jemals gesehen hat.
Sehr bald mehren sich die Zeichen des geheimen Einvei-stäud-
nisses. Jedes zufällige Erlebuiss, Toiletten, Begegmmgen, Lectüi-e,
Gespräche gewinnen für den Kranken eine Beziehung zu seinem
eingebildeten Abenteuer. Seine Liebe ist öffentliches Geheimniss imd
Gegenstand des allgemeinsten Interesses; überall spricht man davon,
allerdings niemals mit klaren Ausdrücken, sondern immer nur in
feinen Andeutungen, deren tiefen Sinn er aber sehr gut versteht. Natür-
lich muss diese ausserordentliche Liebe einstweilen geheim gehalten
werden; darum erhält der Kranke alle Nachrichten nie auf directem
Wege, sondern stets durch Vermittelung Anderer, durch die Zeitung
Combinatorisclier Grössemrahn.
421
und in Fonii yersteckter Bemerkungen; auf dieselbe "Weise weiss
er sich dui-ch gelegentliches Fallenlassen von Anspielungen mit dem
Gegenstände seiner Liebe in Verbindung zu setzen. Der Flug der
Tauben, welche symbolisch ihn und die Geliebte darstellen, zeigt ihm,
dass man ihn verstanden hat, dass er nach langen Kämpfen endlich
sein Ziel erreichen wii-d; irgend eine Person, mit der er in Be-
rührung tritt, erscheint ihm als die Erkorene, die sich verkleidet hat,
um ihre Zimeigung der Welt zu verbergen, ja, eine geheime Ahnung
vei-mag ihn bei einer derartigen Erkennungsscene über die hand-
greiflichsten Unähnlichkeiten, sogar über die Geschlechtsverschieden-
heit hinwegzusetzen.
Dieser eigenthümliche, völKg kritiklose Wahn kann sich, be-
sonders durch Vermitttelung von verblümten Zeitungsannoncen ge-
nährt, lange Zeit hindurch in der geschilderten Weise fortspinnen,
ohne dass im sonstigen Thun und Ti-eiben des Kranken, der ja seine
Angelegenheit geheim zu halten sucht, etwas Yerkehrtes hervortritt.
Im weiteren Verlaufe gesellen sich nicht selten traumhafte Sinnes-
täuschungen, das Gefühl eines Kusses im Schlafe u. dergl. hinzu.
Der ganze Charakter der Liebe ist dabei stets ein schwärmerischer,
romanhafter, häufig platonischer, der eigentliche Geschlechtstrieb bei
dem Kranken oft wenig oder in abnormer Weise (Onanie) entwickelt.
Zwischen die Zeiten seligen „Hängens und Bangens" schieben sich
bisweilen Perioden tiefer Zerknirschung ein, die Gefühle der Un-
würdigkeit gegenüber dem mit allen möglichen phantastischen Vor-
zügen ausgeschmückten Ideale, Enttäuschungen über unbegreifliche
Zurückweisungen, vage Versündigungsideen, ohne dass jedoch dadurch
der expansive Grundcharakter der Psychose dauernd getrübt wird.
Auf diese Weise kann sich das Wahnsystem in vieljähriger
combinatorischer Thätigkeit sehr weit entwickeln, ohne dass irgend
eine Person in der Umgebung des Kranken etwas von den krank-
haften Vorgängen in dessen Innern ahnt. Allerdings erscheint seine
gesammte Lebensführung oft sonderbar und unverständlich. Trotz
guter Anlagen bringt er doch nichts Kechtes fertig, sondern hat
überall Misserfolge, macht Ausgaben, die weit über seine Verhältnisse
hinausgehen, ist hochfahrend und rechthaberisch, geräth leicht in
Conflicte, hält nirgends lange aus und verlässt umnotivirt seine
Stellungen. Auch fällt wol hier und da einmal eine räthselhafte
Aeussemng, eine unbegreifliche Handlung des Kranken auf, bizarre
422
VII. Die Verrücktheit.
Lebensgewohnheiten, ungewöhnliche Kleidung, fanatischer oder
.schwärmerischer Cultus gewisser einseitiger religiöser, künstlerischer
populär-wissenschaftlicher Bestrebungen, allein man pflegt alle diese
Dinge berechtigten Eigenthümlichkeiten einer stark entwickelten
Individualität oder einfachen Charakterfehlern zuzuschreiben, ohne
die tiefere Bedeutung derselben zu durchschauen.
Die Entdeckung geschieht zumeist erst dann, wenn der Patient
nach den langen Prüfungs- und Yorbereitungsjahren den Augenblick
für gekommen erachtet, die stül gereiften Pläne zur Yerwirklichung zu
bringen. Er lässt seine bisherige Beschäftigung im Stich und begimit
sich seinen vermeintlichen hohen Eltern, seiner erlauchten Braut zu
nähern, anfangs vielleicht auf allerlei Umwegen, indem er an ihrem
Hause vorübergeht. Fremden gegenüber geheimnissvolle Andeutungen
fallen lässt, von denen er überzeugt ist, dass sie richtig verstanden
und an die bestimmte Adresse befördert werden. Er schreibt einen
Brief und, da derselbe erfolglos bleibt, einen zweiten und dritten,
macht schliesslich den Yersuch, persönlich zu den in sein Wahn-
sjstem verflochtenen Personen und Behörden vorzudringen. Ein
derartiger Ki-anker (Franzose), dem es in Baden klar geworden war,
dass hier und nirgendwo anders sein wahres Yaterland liege, ging
einfach auf die Polizei und verlangte, man solle ihn zu seinem Yater
führen, den er in einem Büde des Grossherzogs sogleich erkannt
hatte. Beij mehr religiöser Färbung des Grössenwahns tiitt der
Kranke öffentlich als Apostel hervor, sucht sich eine Gemeinde zu
gründen, einen neuen Gottesdienst in eigenartigen Formen einzu-
führen, predigt in "Wort und Schrift, unterbricht den Geistlichen
in der Kirche.
Auch ^die Yerfolgungsideen können zu plötzlichen Conflicteu
führen. Ein Student, der sich für einen Napoleoniden hielt, brachte
seiner Mutter, seinen beiden Schwestern und sich selbst schwere
Yerletzungen bei, weü der sonderbare Geschmack der Suppe ihm
einen Yergiftungsversuch anzeigte. Solche und ähnliche Handlimgen
geben in der Regel den Anlass zur Yerbringung in die Anstalt.
Anfangs über diese Massregel in hohem Grade enttäuscht und
entrüstet, erkennt der Kranke bald genug, dass dieselbe nichts ist,
als ein nothwendiges Glied in der Kette der Prüfungen, -\^'elche er
bestehen muss, um [am Ende zu seinem hohen Ziele zu gelangen.
Ja, bei genauerem Nachdenken ergiebt sich ihm klar-, dass schon in
Combinatorischer Grössenwahn.
423
seiner Vergangenheit vielfache Hinweise auf dieses Fegefeuer der
Irrenanstalt enthalten waren. Weit entfernt daher von Muthlosigkeit
und Verzweiflung, schöpft der Kranke aus dem pünktlichen Ein-
treffen alles dessen, was das Schicksal vorher mit ihm bestimmt
hatte, neue Hoffnung auf die Erreichung auch seiner letzten und
höchsten Ziele. Eine besondere Bestätigung findet diese seine Auf-
fassung nicht selten in der alsbald von ihm gemachten Wahrnehmimg,
dass auch in der Anstalt die geheimniss vollen Andeutungen über
seine glänzende Zukunft nicht ausbleiben. Er wird mit besonderer
Aufmerksamkeit behandelt; man giesst ihm Rosenöl in sein Bade-
wasser, macht ihm verblümte Complimente, spielt ihm Zeitungen
imd Bücher in die Hand, deren Inhalt sich auf ihn bezieht. Es
kann ihm daher nicht entgehen, dass die Aerzte ihn nur „auf höheren
Befehl" zurückhalten und gar nicht daran denken, ihn wirklich füi-
krank anzusehen. Auch seine Mitpatienten sind nichts weniger als
krank, sondern zum Theil unter Pseudonymen verborgene, sehr
hochgestellte Persönlichkeiten, die man zu seiner Gesellschaft, um
ihn zu prüfen und kennen zu lernen, mit in die Anstalt versetzt hat.
Andererseits fehlt es freilich auch nicht an Versuchungen und
Anfechtungen. Aus vielfachen kleinen Erlebnissen schliesst er, dass
die Macht seiner Widersacher ebenfalls bis in die Anstalt reicht, dass
auf ihr Intriguenspiel allerlei Verleimidungs- und Einschüchterungs-
versuche zurückzuführen sind; er glaubt auch einige der Räuber
wiederzuerkennen, die ilm in der Jugend seinen Eltern entfühii
haben. Ein Kräuter schloss aus einem gelegentlich gehörten Schimpf-
worte, dass man ihn eines vor Jahren vorgekommenen Mordes
beschuldige.
Der weitere Verlauf der Krankheit ist regelmässig ein sehr lang-
samer, meist viele Jahre hindurch fast stationärer. Die Kranken
bleiben ruhig, besonnen, bewahren andauernd eine äusserüch correcte
Haltimg und vermögen sich vielfach sogar recht gut geistig zu be-
schäftigen. Ein einfacher Bauernsohn, der sich für den Kaiser und
Papst in einer Person, späterhin sogar für unsterblich hielt, lernte
im Laufe einiger Jahre unter meinen Augen mit äusserst uuzuläng-
Hchen Hülfsmitteln nicht weniger als acht verschiedene alte und
neuere Sprachen leidlich lesen, um sich die für seinen Beruf nöthige
Bildung zu verschaffen. Erst nach sehr langer Dauer der Krank-
heit pflegt sich eine ^ langsam zunehmende psychische Schwäche
424
Vn. Die Verrücktheit.
geltend zu machen, Nachlassen der geistigen Regsamkeit bei im
Wesentlichen unverändertem Fortbestehen des einmal ent\Adckelten
Wahnsystems. In vereinzelten Fällen kann es, wie es scheint, nun
nachträglich noch zur Ausbildung körperlicher Beeinflussungsideen
mit hallucinatorischen Wahrnelimungen im eigenen Innern kommen.
Ich kannte eine Eranke, die nach vieljälu-igem Bestehen eines tjqjischen
combinatorischen Grrössenwahns anfing, darüber zu klagen, dass ilire
Feinde, die „OguHsten", ihr eine „Sprechmaschine" in die Brust ge-
setzt hätten.
Werfen wir nunmehr einen Blick zurück auf die lange Eeihe
der Krankheitsbilder, Avelche wir unter dem Namen der Yerrücktheit
zusammengefasst haben, so sehen wir, dass die klinische Entnäckelung
der ICrankheit sich wesentlich auf psychischem Gebiete vollzieht.
Es thut dem Kranken nicht nur „nichts weh", wie er oft als Be-
weis seiner völligen Gresundheit dem Arzte entgegenhält, sondern
auch die einzelnen Functionen des Körpers, der Schlaf, der Appetit,
die Circulation, die Athmung, die Ernährung, werden in der Regel
kaum durch die Psychose in Mitleidenschaft gezogen. Nur durch
Vermittelung gewisser Wahnvorstellungen kann zeitweise Schlaflosig-
keit, Nahrungsverweigerung, können örtliche Kreislaufstörungen (an-
haltendes Stehen oder Knieen) und sonstige körperliche Schädigungen
herbeigeführt werden. Ausserdem kommt es auch vorübergehend
einmal zu heftigeren gemüthlichen GleichgCAvichtsschwankungen,
welche ebenfalls mit den körperlichen Begleiterscheinungen acuter
Aufregungszustände einhergehen können.
In einzelnen Fällen bildet sich eine wahre Complication der
Verrücktheit mit periodischen Aufregungsz uständen heraus, welche
in manischer Form mit Ideenflucht, Stimmungswechsel und Be-
wegungsdrang zu verlaufen pflegen und bald nur wenige Wochen,
bisweilen jedoch selbst Jahr und Tag andauern können. Die Kranken
sind Avährend dieser Zeiten entweder völlig verwirrt, so dass die
Wahnideen ganz in den Hintergrund treten, oder aber sie bleiben
ziemlich besonnen, produciren reichliche Verfolgungsideen ia ideen-
flüchtiger Weise, sind gereizt, lärmend, zu Gewaltthätigkeiten geneigt.
Oefters treten in solchen Erregimgszuständen Hallucinationen auf,
auch wenn sie dem paranoischen Krankheitsbilde vollkommen fehlten.
In den Zwischenzeiten, die nach Monaten oder Jahren gemessen
werden, bieten die Kranken ein einfaches verrücktes Walmsystem
Katatonische Verrücktheit.
425
(meist Grössenideen) dar, welches bei diesen kiinisclien Formen aller-
dings regelmässig bald das deutliche Gepräge der psychischen
Schwäche zu gewinnen pflegt.
Eine weitere eigenthümliche Yerlaufsart ist durch das Aiiftreten
gewisser katatonischer Erscheinungen ausgezeichnet (katatonische
VeiTücktheit). Die Kranken werden einsilbig, in sich gekehrt, schliess-
lich ganz stumm, wechselnd kataleptisch oder negativistisch wider-
strebend, nehmen verzwickte Stellungen an, drapiren ihre Bett-
stücke in auffallender Weise, verharren lange Zeit in derselben
Lage. Typische Verbigeration scheint nicht vorzukommen. Auf-
forderungen werden in der Kegel befolgt, wenn auch langsam, zögernd
und erst nach mehrfacher eindringlicher Wiederholung. Auf Fragen
erhält man keine oder nur leise, wortkarge Antwort, doch äussert
der Kranke bisweilen spontan einzelne Sätze. Der Inhalt dieser
Keden ist zum Theil durch die Beziehungen auf die inneren Zu-
stände des Kranken unverständlich; nicht selten aber lässt sich fest-
stellen, dass die Besonnenheit fast vollständig erhalten ist. Dasselbe
geht gelegentlich aus einzelnen ganz geordneten, überlegten Hand-
lungen, Lächeln bei scherzhaften Yorkommnissen , einer trefi'enden
Bemerkung, oft auch aus dem intelligenten Ausdruck des Gesichtes
hervor. Für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse sorgen die Kranken
vielfach selber, essen allein und halten sich reinlich.
Als körperliche Begleiterscheinungen werden Gefässlähmungen,
Cyanose, Oedeme, Temperatursenkung und Piüsverlangsamung, ober-
flächliche Athmung, Schlafstörung und Abnahme des Körpergewichtes
beobachtet; bisweüen entwickelt sich Phthise.
Die Dauer dieses Zustandes beträgt in der Eegel einige Monate,
kann sich aber auch mit vorübergehenden Schwankungen durch
Jahre erstrecken. Die Lösung erfolgt meist allmähüch, in einzelnen
Fällen aber auch von einem Tage zuni andern. Ganz überraschend
ist es, dass die Kranken nunmehr sich an ihr eigenthümliches Yer-
halten zwar genau erinnern, aber nicht das mindeste Yerständniss
für die Absonderlichkeit desselben zeigen, auch nur ganz ungenügende
Begründungen vorzubringen vermögen. Die Aerzte, die Feinde haben
es gemacht, dass sie so sein mussten; die Gewissensstimrae hat es
ihnen eingegeben. Am häufigsten scheinen sich solche katatonische
Episoden im Yerlaufe des physikalischen Yerfolgungswabns oder
doch dort zu ent^vickeln, wo Ideen einer körperlichen Beeinflussung
426
Vn. Die Verrücktheit.
vorhanden sind. Vielfach beobachtet man nach dem Erwachen aus
dem Zustande eine erhebliche Zunahme der psychischen Schwäche
mit sehr abenteuerlichen Wahnideen.
Sieht man von diesen besonderen klinischen Gestaltungen der
Paranoia ab, so kann man im Verlaufe dieser Krankheit im All-
gemeinen regelmässig mehrere, aufeinander folgende Stadien unter-
. scheiden. Das erste derselben ist die Zeit der Vorbereitung. Während
derselben tauchen allerlei unbestimmte Ahnungen auf, meist im
Sinne des Verfolgungswahnes, einzelne vieldeutige Wahrnehmungen,
ein ganz leiser, sich nach und nach verstärkender Verdacht. Meist
dauert dieses Stadium der Krankheit, in Avelchem keine auffallendere
Störung nach aussen hin wahrnehmbar ist, ein oder mehrere, bisweilen
sogar viele Jahre. Man hat zwar vielfach im Anschlüsse an die alte
Griesinger'sche Lehre behauptet, dass eine typische chronische Para-
noia sich auch acut, aus einer manischen oder melancholischen
Erkrankung heraus, entwickeln könne. Ich muss jedoch dem mit
aller Entschiedenheit widersprechen. Die chronische Verrücktheit
entwickelt sich immer ganz lan gsam und schleichend. Jener
entgegengesetzten Auffassung liegt nach meiner Ansicht eine Ver-
wechselung mit den zwar ähnlichen, aber doch klinisch wesentlich
anders charakterisirten secundären Schwächezuständen nach un-
geheiltem Wahnsinn zu Grunde.
Die zweite Stufe in der Entwickelung der Krankheit ist durch
Ausbildung des eigentlichen Wahnsystenis gekennzeiclmet.
Durch Sinnestäuschungen, Combinationen oder phantastische Erfindung
gewinnen die lange schon in dem Kranken schlummernden Ideen
volles Leben und ziehen mehr und mehr sein gesammtes Denken
und Handeln in ihre Kreise. Die Krankheit wird somit nunmehr
auch für die Umgebung deutlich. Während dieser ebenfalls meist
viele Jahre in Anspruch nehmenden Periode kommt es nicht selten
zeitweise zu lebhafterer Productivität. In verhältnissmässig kurzer
Frist und regelmässig unter einer gewissen inneren Erregung macht
die Wahnbildung rasche Fortschritte, die Täuschungen häufen sich.
Es ist wie bei einer neuen Entdeckung, die plötzlich das ganze
Interesse in Anspruch nimmt und Gedankenkreise am-egt, welche
zunächst möglichst schnell geistig verarbeitet werden müssen. Xach
solchen Perioden kann dann aber Avieder ein längerer Stillstand
eintreten, und es können sogar mit zunehmender Beruhigun
Verlauf.
427
einzelne, voreilig gezogene Schlussfolgerungen als unzuti-effend er-
kannt werden. Wo sich ein derartiges Anwachsen und Nachlassen
der Krankheitserscheinungen mehrfach wiederholt, kann man mit
einem gewissen Recht von einer „schubweisen" Entwickelimg der
Pai'anoia sprechen.
Der einmal ausgebildete Wahn bleibt in der Verrücktheit lange
Jahre hindurch wesentlich stationär. Nur ganz langsam verlieren
sich im weiteren Yerlaufe einzelne Elemente desselben und schieben
sich neue an ihre SteUe. Regelmässig aber wird der Wahn aU-
mählich zusammenhangsloser, widerspruchsvoller, unsinniger. Das ist
ein Zeichen der sich ausbildenden psychischen Schwäche, welcher
das letzte Stadium der Krankheit angehört. Der Beginn dieses
Stadiiuns wird bei den Kranken mit Verfolgungswahn vielfach dm-ch
den Eintritt der sogenannten „Tr-ansformation", durch das Auf-
tauchen von Grössenideen in Begleitung oder an Stelle des Yer-
folgimgswahns angezeigt, deren ungtinstige prognostische Bedeutung
wir schon früher bei der Besprechung des Wahnsinns kennen zu
lernen Gelegenheit hatten.
Magnan*) hat an diesen Entwickelungsgang die Aufstellung
einer eigenen psychischen Kranliheitsform geknüpft, des „d61ire
chronique ä Evolution systematique" (Paranoia completa,
Möbius). Unter dieser Bezeichnung fasst er alle diejenigen Fälle
chronischer Wahnbüdung zusammen, bei welchen auf die Periode
der Yorbereitung unter dem Eintritt von Sinnestäuschungen ver-
schiedener Art ein Stadium der Verfolgung, dann ein solches der
Grössenvorstellungen und endlich der Schwachsinn folgt. Die Dauer
der einzelnen Abschnitte und die Schnelligkeit, mit der sie einander
ablösen, kann dabei eine sehr verschiedene sein. Yon den im Vor-
stehenden beschriebenen Formen würden der Schilderung Magnans
ün Wesentlichen der hallucinatorische Verfolgungs- und Grössen-
wahn in seinen verschiedenen klinischen Varietäten entsprechen.
Die combinatorischen Formen avüI Magnan vollständig davon ab-
trennen; sie gehören nach seiner Ansicht zu einer wesenthch andern
Gruppe von Psychosen, zum „Irresein der Entarteten". .
So berechtigt ohne Zweifel Magnans Forderung ist, bei der
Aufstellung von Krankheitsforraen nicht nur ein behebiges Zustands-
*) Psychiatrische Vorlesungen, deutsch von Möbius, Heft 1, 1891.
428
VII. Die Verrücktheit.
bild oder gar ein einzelnes Symptom, sondern den Gesammt-
verlauf der Fälle zu berücksichtigen, so kann ich mich doch doi
hier von ihm vollzogenen Abgrenzung nicht anschliessen. Es giebt
chronische Hallucinanten mit Yerfolgungswahn, die niemals Grössen-
ideen darbieten; es giebt aber auch solche, bei denen neben den
Yerfolgungsideen von vorn herein Grössenwahn besteht, so das>
die Unterscheidung der vonMagnan auseinandergehaitenen Stadien
häufig nicht möglich ist. Andererseits ist auch bei rein combina-
torisch Erkrankten, ja sogar bei Querulanten die Entwicklung eines
Grössemvahns nach der Zeit der Verfolgung durchaus nicht selten.
Dass ferner zwischen den Formen mit und ohne Sinnestäuschungen
vollkommen füessende Uebergänge bestehen, kann man, wie ich
glaube, nicht ernsthaft bestreiten. Endlich aber muss mit Ent-
schiedenheit darauf hingewiesen werden, dass sich unter denjenigen
Kranken, auf welche Magn ans Beschreibung passt, namenüich unter
denjenigen mit physikalischem Verfolgungswahn, zum Mindesten
ebenso viele deutlich „Degenerirte" finden, als unter den Queru-
lanten und combinatorisch Verrückten, deren Psychose er dem
Irresein der Entarteten zurechnet.
In der That glaube ich, dass die Paranoia sich in allen ihren
Formen durchweg auf dem Boden einer krankhaften Con-
stitution ent-wickelt. "Weitaus am häufigsten handelt es sich dabei
um eine angeborene abnorme Veranlagung, die wiederum viel-
fach mit grösster Wahrscheinlichkeit auf eine erbliche Entartung
zurückzuführen ist. Wir machen daher auch die Beobachtuno-,
dass sich sehr vielfach, namentlich in den frühzeitig einsetzenden
Krankheitsfällen, die pathologische Eigenart des Individuums schon in
allerlei körperlichen Symptomen andeutet. In morphologischer
Beziehung kommen hier namentlich jene Anomalien in Beti-acht, die
wir schon früher als „Stigmata hereditatis" kennen gelernt haben,
auffallende Schädelconfiguration, Entwickelungshemmungen, Mss-
bildungen, Strabismus, in functioneller dagegen die Andeutungen eines
leicht erregbaren Gehirns, Delirien bei geringen Temperatm-steigerungen,
Krämpfe in der Jugend, gelegentliche Ohnmächten, sehr früh sich
regender, mangelnder oder pervers entwickelter Geschlechtstrieb.
Weit wichtiger aber sind die psychischen Eigenthtimlich-
keiten der Kranken, welche sich bisweilen bis in die Kindheit zurück
verfolgen lassen. Verzögerung der geistigen Entodckelung, nament-
Ursachen.
429
lieh späte imd unvollkommene Ausbildung der Sprache, auf der
andern Seite unheimliche Frühreife können in solchen Fällen die
ursprüngliche krankhafte Veranlagung anzeigen. Häufig genug er-
kennt man bereits im ersten und zweiten Lebensjahrzehnt, dass es sich
lun eine von Hause aus abnorme psychische Yerarbeitung
der Lebensreize handelt, welche auf allen Gebieten des Denkens
und Fühlens ein verschobenes Spiegelbild der Welt und eine eigen-
artige Eeactionsweise des Individuums zu Stande bringt. Derartige
Knaben grenzen sich schon in der Schule von ihi-en Altersgenossen
durch Absonderüchkeiten der Auffassung, des Temperaments, des
Chai-akters in bemerkenswerther Weise ab. Sie ziehen sich zurück
von ihren Kameraden, beschäftigen sich viel mit sich selbst und
haben oft die Neigung, ohne Auswahl grosse Mengen Lectüi-e zu
verschlingen, oder sich träumend und grübelnd mit allerlei ent-
legenen oder hochfliegenden Gedankenkreisen zu unterhalten. Weil
sie dabei meist ihre Pflichten regelmässig erfüllen und in ihrer
Eigenart der Erziehung keine grossen Schwierigkeiten bereiten, so
gelten sie oft als Musterkinder, zumal ihre Begabung und vor Allem
che Entwickelung ihrer Phantasie dasDurchschnittsmass zum mindesten
zu eiTeichen pflegt. Mathematische und exact naturwissenschaftüche
Studien sind freilich ebenso wenig ihre Stärke, Avie der sti-eng
logische Aufbau und die Disposition ihrer Gedanken; das Gedächtniss
dagegen ist oft gut entwickelt, und nicht selten beobachtet man
eine gewisse poetische Yeranlagung.
Die Beobachtung, dass die Entwickluug der Krankheit zuweilen
bis weit in die Jugend zurückreicht, hat Sander veranlasst, der-
artige Fälle unter dem Namen der „originären Paranoia" zu-
sammenzufassen. Namentlich gewisse Formen des combinatorischen
Grössenwahns gehören hierher, bei denen das Wahnsystem die
ganze Lebensgeschichte des Kranken im Sinne einer vornehmen
Abstammung romantisch umgestaltet. Ich habe mich indessen im
Laufe der letzten Jahre davon überzeugen können, däss auch in
diesen Fällen sich der Beginn der Krankheit mit einiger Sicherheit
höchstens bis in die Entwickelungsjahre, meist nur bis in die erste
Hälfte des 3. Decenniums zurück verfolgen lässt. Alle weiter in die
Vergangenheit hineinreichenden Erzählungen der Kranken sind höchst
wahrscheinlich immer nachti-ägHche Erfindungen. Andererseits ent-
wickelt sich der combinatorische und der physikalische Yerfolgungs-
480
Vn. Die Verrücktheit.
wabn ebenfalls häufig in verhältnissmässig frühem Lebensalter und
auf schwer degenerirter Grundlage, so dass diesem ätiologischen
Verhältnisse nach meiner Erfahrung kein bestimmt umgrenztes
Bild zuge^viesen werden kann. jSTeisser hat dann als kennzeichnen-
des Merkmal der von Sander geschilderten Gruppe das dort in der
That besonders häufige Symptom der Erinnerungsfälschungen be-
zeichnet und die Abgrenzung einer „confabulirenden Paranoia" vor-
geschlagen. Die Entstehungsgeschichte und der klinische Yerlauf
der Fälle mit Erinnerungsfälschungen ist jedoch, wie mir eine
grössere Eeihe von Beobachtungen zeigt, ein so verschiedener, dass
ich mich einstweilen nicht entschliessen kann, dieselben zu einer
Einheit zusammenzufassen.
Die im Eingange dieses Abschnittes gegebene Begriffsbestimmung
der Paranoia macht es selbstverständlich, dass wir die Prognose der
Kjankheit unter allen Umständen als durchaus ungünstig betrachten
müssen. Zwar stellt sich mit dem Zurücktreten lebhafterer Affecte,
namentlich in der ersten Zeit der Krankheit, bisweilen eine gewisse
Besserung dadurch heraus, dass der Kranke manche der acut auf-
getretenen Wahnideen corrigirt, andere wenigstens seltener äussert
und in seinem Handeln besonnener wird. Hie und da hat man so-
gar weitgehende Remissionen mit ziemlich vollständiger Krankheits-
einsicht zu verzeichnen, allein kleine Eigen thümlichkeiten im Be-
nehmen des Kranken und sein Festhalten an einzelnen, nur scheinbar
nebensächlichen Punkten des "Wahnes, sowie eine gewisse Zurück-
haltung bei der Besprechung der krankhaften Ideen weisen hier den
aufmerksamen Beobachter gewöhnlich bald auf die Unvollständigkeit
der Genesung und die Wahrscheinlichkeit einer baldigen Rückkehr
der in den Hintergrund getretenen Symptome hin. l^och weniger
wird man sich durch jene simulirten Besserungen täuschen lassen,
in denen der Kranke seine Wahnideen ableugnet, um dadurch die
Anerkennung seiner Gesundheit oder die Entlassung aus der Anstalt
zu erreichen.
Im Ganzen erzeugt der Krankheitsprocess regelmässig eine all-
mählich fortschreitende psychische Invalidität, wenn auch
für die oberflächliche Betrachtung bisAveilen Jahre lang ein völliger
Stillstand einzutreten scheint. Die Schnelligkeit, mit welcher sich
diese Verblödung vollzieht, ist eine ausserordentlich verschiedene.
Wahrscheinlich spielt dabei unter Anderem die individuelle Veran-
Ausgänge.
431
lagiing eine gewisse Kolle. Im Uebrigen scheinen die Fälle mit
reinen Gehörshallucinationen, der Querulantenwahn und der einfache
combinatorische Verfolgungswahn am langsamsten erhebliche Grade
von psychischer Schwäche zu erreichen, während der physikalische
Verfolgungswahn und die verschiedenen Formen des Grössenwahns
ziemlich bald jene Zusammenhangslosigkeit und TJnsinnigkeit der
Ideen darzubieten pflegen, welche auf eine tiefere Störung der Kritik
schliessen lassen. Vielleicht könnte hier die psychische Schwäche
vielmehr der günstige Boden sein für die Entwickelung des beson-
deren klinischen Bildes, als die Folge eines eigenartigen Krankheits-
processes. Mir ist jedoch die letztere Annahme deswegen wahr-
scheinlicher, weil sich für jetzt wenigstens ein bestimmter Zusammen-
hang zwischen Höhe der ursprünglichen geistigen Veranlagung
und klinischer Gestaltimg der Paranoia nicht hat nachweisen
lassen.
Ueberau indessen, auch dort, wo die Wahnbildung sich in engen
Grenzien hält, bei den einfachen Gehörshallucinanten, verliert der
"Wahn doch nach und nach seine frühere gewaltige Wirkung auf
Affecte und Handlungen; der Kranke spricht von ihm wie von an-
deren, gleichgültigen Dingen und beschäftigt sich nicht mehr mit
seinem weiteren Ausbau. Die Stimmung wird gleichmässiger, apa-
thischer; die frühere Eeizbarkeit, aber auch die Eegsamkeit des'
Interesses verliert sich. Der Kranke zieht nicht mehr die Conse-
quenzen aus seinen krankhaften Ideen, sondern fügt sich ohne
Schwierigkeit in seine Umgebung. Der „rex totius mundi" be-
schäftigt sich mit Gartenarbeit, der „Herrgott'' mit Holztragen , die
„Braut Christi" mit Nähen und Flicken. Bemerkenswerth ist es,
dass sich diese völlige Beruhigung weit weniger schnell und durch-
greifend bei den Kranken mit Verfolgungsideen zu vollziehen pflegt.
Zum Theil ist diese Erfahrung auf den höheren Grad von Schwach-
sinn zurückzuführen, welcher die Ausbildung des Grössenwahns be-
gleitet; andererseits wirken aber die Unlustgefühle überhaupt viel
mächtiger und andauernder auf unseren Willen, als die Lustgefühle.
So kommt es, dass wir bei den vermein thch Verfolgten und Ge-
peinigten nicht nur die ängstliche oder zornige Verstimmung sich
auffallend lange in grösserer Intensität erhalten sehen, sondern dass
bei ihnen auch noch in sehr späten Stadien der Krankheit gelegent-
üch unvermuthete, heftige Affectausbrüche sich einstellen, vne sie
482
Vn. Die Verrücktheit.
bei den Göttern und Fürsten der Iixenanstalt fast niemals mehr be-
obachtet werden.
Die Dauer dieser ganzen Eutwickelung nimmt'regelmässig eine
längere Eeihe von Jahren, selbst Jahrzehnte in Anspruch. In dieser
Eigenthümlichkeit, in dem langsamen, schleichenden Beginne der
Krankheit ohne erkennbaren Anlass, sowie in dem starken Hervor-
treten der intellectuellen Störungen, dem Ausbau eines dauernd
festgehaltenen Wahnsystems ohne selbständige Stimmungsanomalien,
liegen die Anhaltspunkte für die Erkennung derselben. Bei
längerer Beobachtungsdauer werden diese Kriterien regelmässig ge-
nügen, die prognostisch so ungemein wichtige Abgrenzung der
Paranoia von andern, ihr zeitweise ähnlichen Krankheitsformen zu
ermöglichen.
Eine pathologische Anatomie der Verrücktheit giebt es
noch nicht. Man hat zwar vielfach gerade die Paranoia als eine
„partielle" Geistesstörung betrachtet und bezeichnet, bei welcher
isolirte Störungen in unserem Gehirn vorauszusetzen wären, und
noch in neuester Zeit ist der Yersuch gemacht Avorden, in dem
klinischen Bilde der Yerrücktheit psychische „Herdsymptome" auf-
zufinden. Nach meiner üeberzeugung sind derartige Versuche für
die Haupterscheinungen der Paranoia völlig aussichtslos. Gerade
der ausgesprochen constitutionelle Charakter der Krankheit macht
es in hohem Grade unwahrscheinlich, dass wir hier etwa an bestimmt
localisirte pathologische Processe und an gröbere anatomische Ver-
änderungen zu denken hätten. Vielmehr werden wir ausgedehnte
functionelle Störungen im gesammten Centraiorgane unseres Bewusst-
seins, allerdings vorzugsweise in denjenigen Organen vorauszusetzen
haben, welche der Aufnahme und der Verarbeitung von Erfahrungs-
material dienen. Mit der Meynert'schen Hypothese einer Hyper-
aemie der corticalen oder subcorticalen Centren als Entstehungs-
m-sache resp. der Wahnideen oder der Sinnestäuschungen ist für die
Erklärung des Krankheitsvorganges leider wenig gewonnen. In den
späteren Stadien der Verrücktheit lassen sich die Spuren ati'ophischer
Processe im Gehirn nachweisen; gerade diese Verhältnisse verdienten
eingehendere Untersuchung an der Hand der uns zu Gebote stehen-
den neueren Methoden.
Die Behandlung der Verrücktheit hat der Natur der Sache
nach nur einen geringen Spielraum; sie ist wesentlich eine sympto-
Behandlung.
433
matisclie und exspectative. Ihr wichtigstes Hülfsmittel ist die Aüf-
uahme in die L-renaustalt, welche zui Sicherung der Kranken selbst,
wie ihrer Umgebung, immer dann unbedingt nothwendig wird, wenn
Aufregungszustände hervortreten, namentlich solche ängstlichen und
zornigen Chai-akters, da Yerrückte unter Umständen zu den aller-
gefährlichsten Geisteskranken gehören. Durch Ruhe, unermüdlich
fi-eundliche, geduldige und namentlich offene Behandlung, sowie
durch passende Ablenkung und Beschäftigung gelingt es hier meist,
die acuten Erscheinungen bald zum Schwinden zu bringen. Häufig
droht indessen die anfänglich günstige Wirkung der Anstaltsbehand-
lung im weiteren Verlaufe in das Gegentheil umzuschlagen. Der
ruhig gewordene Kranke fordert seine Entlassung, wird ungeduldig,
gereizt, gewaltthätig und durch die vermeintlich unrechtmässige
Freiheitsentziehung immer tiefer in seine Verfolgungsideen hinein-
gedrängt. Sehr gewöhnlich entspinnt sich nun ein bisweilen höchst
erbitterter, fortwährender Kampf mit dem ärztlichen Personale, der
besten Falles nach jahrelanger Dauer durch die allmähliche Ver-
blödung des Kranken beendet wird, welche die Behandlung desselben
erleichtert, wenn er auch immerhin oft noch zu zornigen Gewalt-
thaten geneigt und gefährlich genug bleibt.
Auf der andern Seite sieht man oft Verrückte in ihrer gewohnten
Umgebung selbst Jahrzehnte lang eine leidlich gute Haltung bei
mässigem Schwachsinn bewahren, ein sicherer Beweis, dass, abge-
sehen von den acuten Aufregungszuständen, auf den Kranken selbst
die Freiheit viel günstiger wirkt, als die Ein Schliessung in der
Anstalt. Leider sind indessen die Gefahren und Unzuträglichkeiten
dieser Freiheit für die Umgebung vielfach so grosse, dass sie trotz-
dem nicht gewährt werden kann. Für solche Fälle sind die Irren -
colonien mit ihrer mannigfaltigen Beschäftigung und der fi-eieren
Behandlungsmethode ein kaum genug zu schätzender Segen. Ruhige,
ungefährliche chronisch Verrückte eignen sich jedoch, wo die Ver-
hältnisse einigerraassen günstig sind und eine gewisse Ueberwachung
gestatten,^ sehr häufig auch für die häusliche Verpflegung, in der sie
sich erfahrungsgemäss wohler befinden und besser conserviren, als
in der Anstalt.
Die Wahnideen der Kranken sollen weder bestätigt, noch auch
zu eifrig dialektisch bekämpft werden. Es genügt, dieselben stets
mit Ruhe als krankhaft zu bezeichnen und gelegentlich auf die
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Aufl. 28
434
Vn. Die Verrücktheit.
Widersprüche derselben mit der gesunden Erfahrung hinzuweisen. Weit
wichtiger ist die Ablenkung der Aufmerksamkeit durch fernliegende
Gespräche, Geselligkeit, Spiel, die Anregung gesunder Interessen
durch Leetüre und namentlich Beschäftigung im Sinne des fiTiheren
Lebensberufes. So können Yerrückte, wenn auch nicht gesund, so
doch vielfach recht brauchbare und auch zufriedene Mitglieder des
Anstaltsorganismus werden. Beschäftigungslosigkeit, längere Isolirung
begünstigt die Ausbildung der Wahnideen und der Verblödung. Die
Sinnestäuschungen sind keiner besonderen Behandlung zugänglich;
die Elektrotherapie des Acusticus leistet dagegen in der Regel nichts.
Yon sonstigen Symptomen fordert namentlich die Masturbation und
die bisweilen äusserst hartnäckige Nahrungsverweigerung zum Ein-
schreiten auf; erstere wird mit Bromkaüum, Hydrotherapie, Gal-
vanisation des Rückenmarkes und durch gute Ueberwachung be-
kämpft, letztere kann in einzelnen Fällen zur Sondenfütterung
zwingen.
YTTT. Die psycMscheii Entartungsprocesse.
Das Gemeinsame derjenigen Krankheitsbilder, welche wir unter
dem Namen der psychischen Entartungsprocesse zusammenfassen
wollen, hegt in der ungemein raschen Entwickelung eines
dauernden psychischen Schwächezustandes, dessen Ent-
stehungsweise meist aus einzelnen Begleiterscheinungen noch deut-
hch erkannt werden kann. Im Gegensatze zu den sonstigen in
secundären Schwachsinn ausgehenden Psychosen liegt hier die geistige
luTalidität von vornherein oder doch nach sehr kurzer Zeit klar am
Tage. Nirgends kommt es zu bleibenden, durchgebildeten "Wahn-
systemen; andererseits greift der körperliche En tartungs Vorgang, der
diesen Krankheitsformen höchst wahrscheinlich zu Grunde liegt, nie-
mals so tief, dass er den Bestand des Lebens selbst gefährden
würde. Nach der besonderen Art, wie sich die psychischen Störungen
entwickeln, sei es uns gestattet, drei Haupttypen als Dementia
praecox, als Katatonie und als Dementia paranoides aus-
einanderzuhalten. Zwischen diesen Eormen giebt es zahlreiche
Uebergänge.
A. Die Dementia praecox.
Als Dementia praecox bezeichnen wir die subacute Entwickel-
ung eines eigenartigen, einfachen geistigen Schwäche-
zustandes im jugendlichen Alter. In einer ersten Eeihe von
EäUen vollzieht sich dieser Yorgang ohne irgendwelche auf-
fallenderen Begleiterscheinungen, so dass der Schwachsinn
bereits sehr weit vorgeschritten zu sein pflegt, bevor überhaupt der
Yerdacht einer geistigen Störung bei der Umgebung des Kranken
auftaucht. Meist handelt es sich um Individuen von mässiger oder
28*
486
Vni. Die psychischen Entartungsprocesse.
geringer geistiger Begabung, die jedoch bisweilen wegen ihres gi'ossen
Fleisses in der Schule leidlich gut vorwärts kommen, so lange es sich
wesentlich um Gedächtnissaufgaben handelt. Je weiter sie aber
fortschreiten, desto schwerer wird es ihnen, mit ihren Kameraden
Schritt zu halten, so dass sie zeitweise zu ganz ungewöhnlichen
Ueberanstrengungen getrieben werden, um einigermassen den nor-
malen Anforderungen zu genügen. Gewöhnlich sind die Kranken
dabei von Jugend auf still, zurückhaltend, ohne weiterreichende In-
teressen, etwas bornirt und eigensinnig.
Der Beginn der eigentüchen Krankheit fällt regelmässig in die
Zeit zwischen dem 15. und etwa dem 28. Lebensjahre. Es stellt
sich heraus, dass die geistige Leistungsfähigkeit des Kranken all-
mählich entschieden abnimmt. Zwar zeigt er vielleicht noch den
gleichen oder sogar grösseren Fleiss, als früher, sitzt unermüdlich
bei den Büchern, verschlingt massenweise ganz unpassende und für
ihn unverdauliche Leetüre, beschäftigt sich anscheinend mit ent-
legenen und schwierigen Problemen. Allein er vermag in "Wirk-
lichkeit nichts mehr recht aufzufassen, verwickeiteren Auseinander-
setzungen durchaus nicht zu folgen, seine Aufmerksamkeit nicht zu
concentriren. Er ist zerstreut, schweift mit seinen Gedanken plan-
los umher, träumt und brütet ohne tieferes Interesse, ohne erkenn-
bares Ziel, liest ungezählte Male immer wieder dasselbe von vorn,
ohne es zu begreifen, lässt sich bisweilen sogar beim einfachen Ab-
schreiben "Varianten, Auslassungen und willkürliche, unpassende Zu-
sätze zu Schulden kommen.
Das Gedächtniss bleibt während dieser krankhaften Umwälz-
ung zunächst wesentlich unberührt. Der Kranke verfügt dauernd
über ein unter Umständen sehr ausgedehntes "Wissen, über vorzüg-
liche Sprachkenntnisse. Bisweilen vermag er auch noch bis zu einem
gewissen Grade mechanisch auswendig zu lernen, während er in
anderen Fällen Tage braucht, um sich einige Yocabeln oder Bibel-
sprüche nothdürftig einzuprägen. Immer aber ist er gänzhch unfähig zu
einer wirklichen Assimilirung und geistigen Yerarbeitung neuer
YorsteUungen. Die einzelnen Elemente seiner Erfahrung beeinflussen
einander nicht mehr, treten nicht in gegenseitige Beziehung, liefern
keine Begriffe, Urtheile und Schlüsse mehr. Daher kommt es trotz
guten Gedächtnisses doch nothwendig zu einer mehr oder weniger
rasch fortschreitenden geistigen Verarmung; daher fäUt bei dem
Dementia praecox.
437
Kranken toi- Allem eine unbegreifliche Urtheilslosigkeit und
Zerfahrenheit seines gesammten Denkens in die Augen.
Das Bewusstsein des Kranken ist dauernd vollständig klar;
er verliert keinen Augenblick die Orientirung in seiner Umgebung,
in seinen Verhältnissen, und er empfindet nicht selten mehr oder
weniger deutlich, dass es mit seinen Yerstandeskräften bergab geht.
Selbstverständlich macht der Kranke in seinem Berufe keinerlei
Fortschritte mehr, besteht keine Prüfung, bringt keine verwickeitere
geistige Leistung mehr zu Stande, fängt Alles am verkehrten Ende,
in ganz unzweckmässiger Weise an. Allmählich verliert er gewöhn-
lich auch das Interesse an geistiger Beschäftigung und Anregung
überhaupt, bewegt sich nur noch in altgewohnten, stereotypen Ideen-
kreisen und wendet sich vielleicht schliesslich ganz irgend einer
mechanischen Thätigkeit zu, dem Holzsägen, Abschreiben, der Gärt-
nerei, oft in schroffem Gegensatze zu früheren hochfliegenden Plänen
imd Hoffnungen. Mehr oder Aveniger schnell pflegen nun auch die
Ueberbleibsel einstiger geistiger Arbeit zu verblassen; der Gesichts-
kreis verengert sich mehr und mehr, bis schliesslich nur noch ein-
zelne, besonders fest wurzelnde Keminiscenzen dafür zeugen, dass
es nicht ein unbestellter oder unfruchtbarer, sondern ein durch
Krankheit verwüsteter Acker ist, mit dem wir es zu thun haben.
Die Stimmung des Kranken pflegt namentlich im Beginne
des Processes allerlei Schwankungen darzubieten. Häufig beobachtet
man reizbares, rechthaberisches Wesen, unmotivirten Wechsel
zwischen auffallender Ausgelassenheit mit gehobenem Selbstgefühl
und ängstlicher Yerzagtheit. Späterhin wird man meist durch die
Gleichgültigkeit überrascht, mit welcher der Kranke seine Unfähig-
keit und seine Misserfolge hinnimmt. Obgleich er zugiebt, "Vieles
verkehrt gemacht zu haben, „sehr unverständig" gewesen zu sein,
ist er doch mit seiner Lage ganz zufrieden, ohne Sorgen für die
Zukunft, macht sich gar keine Gedanken über seinen Zustand, son-
dern lebt unbekümmert in den Tag hinein, bald mehr stumpf und
gleichgültig, bald in unbestimmter sanguinischer Erwartung irgend
eines künftigen Glückes.]
Im Handeln der Kranken macht sich gewöhnlich ein eigen-
thümlich kindischer, läppischer Zug bemerkbar. Sie sind haltlos,
unselbständig, in einem Augenblicke unsinnig hartköpfig, im nächsten
ohne Weiteres lenksam und bestimmbar. Sie vernachlässigen ihi;-
43S
Vin. Die psychischen Eatartungsprocesse.
Aeusseres, leben unregelmässig, verlegen wichtige Gegenstände, ver-
gessen ihre Pflichten, begehen allerlei thörichte, alberne Handlungen.
Einer meiner Kranken, der es mit vieler Mühe zum Yolksschullehrer
gebracht hatte, zeigte sich bei seiner Anstellung plötzlich gänzlich
unfähig. Schule zu halten, spielte statt des Unterrichts mit den
Schulkindern Tangens, legte sich im Viehstall „aus Muthwilleri" in
eine Krippe, steckte den Kopf in den Brunnen, weil er wegen seiner
grossen Sünden recht gut noch eine Taufe brauchen könne. Sehr
auffallend ist dabei meist das häufige affectlose Lachen, welches sich
bei jeder Unterredung ohne den geringsten Anlass ungezählte Male
wiederholt. Bisweilen wird auch Gesichterschneiden, Grunzen,
Neigung zu stereotypen Haltungen und Bewegungen oder zu ge-
zierten, gespreizten Geberden beobachtet.
Auf dem Gebiete der sprachlichen Aeusserungen begegnet
uns theatralisches Declamiren, häufiges Wiederholen bestimmter
Moderedensarten, altbackener "Witze, hochtönender Phrasen, absicht-
liche Yerdrehung der Wörter, afiectirtes Lispeln, Einmischung un-
gewöhnlicher, mundartlicher oder fremdsprachiger Ausdrücke und
Sätze. Manche dieser Eigenthümlichkeiten pflegen noch deutlicher
in den Schriftstücken der Kranken hervorzutreten. Dazu kommt
eine gewisse nachlässige Zusammenhangslosigkeit im Gedankengange,
mehrfacher Wechsel der Construction in lang ausgesponnenen Satz-
bildungen, Yermengung verschiedenartiger Bilder, unvermitteltes Ein-
streuen plötzlicher Einfälle, poetischer Ergüsse, oft auch eine äusserlich
saloppe Form, ungleichmässige Handschrift, Yerschnörkelungen ein-
zelner Buchstaben, Unterstreichungen, Mangel oder Ueberfluss an
Literpunctionszeichen. Solche Briefe sind nicht selten so ungemein
charakteristisch, dass aus ihnen allein die Diagnose der hier be-
sprochenen besonderen Schwachsinnsform mit voller Sicherheit ab-
geleitet werden kann.
Der weitere Yerlauf dieser Fälle ist insofern ein verschiedener,
als die Yerblödung bald rascher, bald langsamer fortschreiten,
namentlich aber auf sehr verscMedener Stufe Halt machen kann.
Fast immer zieht sich der Ki-ankheitsprocess über ein oder mehi-ere
Jahre hin, wenn auch bisweilen schon innerhalb einiger Monate eine
deutliche Zunahme der geistigen Schwäche erkennbar ist. JSTach
Abschluss der eigentlichen Entwickelungszeit, etwa von Mitte oder
JEnd© des dritten Lebensjahrzehntes an scheint der Gesammtzustand
Dementia praecox.
439
ziemlich stationäi- zu bleiben und nur diejenigen Veränderungen zu
erleiden, welche durch das allmähliche Schwinden des frühereu
geistigen Materiales ohne Wiederersatz durch neue Yerstandesarbeit
bedingt werden. Wahrscheinlich giebt es eine ganze Menge von
Individuen, deren geistiger Schiffbruch in dieser Lebensperiode
vollständig verkannt wird, weü sie aus demselben noch so viel
Leistungsfähigkeit haben retten können, dass sie in bescheidenem
Wirkungskreise den Kampf ums Dasein zu bestehen vermögen. So
manche jener fleissigen und vielleicht sogar nach gewissen Rich-
tungen begabten Schüler dürften hierher gehören, die anfangs zu
höheren Hoffnungen berechtigten, später jedoch trotz aller Solidität
und Gewissenhaftigkeit zur Enttäuschung ihrer Erzieher nur mit
der grössten Mühe zu Stande bringen, was die anscheinend weit
schwächer veranlagten Kameraden spielend erreichten. Hier kann
natürlich nui- eine genaue Kenntniss und Verfolgung des einzelnen
Falles den Nachweis der krankhaften Veränderung erbringen. In
anderen Fällen kommt es innerhalb weniger Jahre zu einer der-
artigen geistigen Invalidität, dass die Möglichkeit einer selbständigen
Lebensführung gänzlich ausgeschlossen bleibt, wenn auch im Rahmen
der Anstalt oder in der Familienpflege noch ein gewisses Mass
geistiger oder praktischer Bethätigung erhalten werden kann. End-
lich aber scheint der Krankheitsprocess hier und da auch zum
tiefsten, dauernden Blödsinn mit völliger Yemichtung aller höheren
psychischen Leistungen fortzuschreiten, doch tritt dieser Ausgang
hier jedenfalls sehr viel seltener ein, als bei der nunmehr zu be-
sprechenden Krankheitsform.
Die zweite, wahrscheinlich grössere Gruppe der Fälle, welche
wir glauben der Dementia praecox zurechnen zu sollen, ist dadurch
ausgezeichnet, dass die Entwickelung des Schwachsinns dauernd oder
zeitweise von stärkeren Schwankungen des gemüthlichen Gleich-
gewichtes begleitet wird. In der Regel beginnt die Psychose mit
den Symptomen allgemeinen Unwohlseins, Kopfschmerzen, Ohren-
sausen, Benommenheit, unangenehmen Empfindungen in verschiedenen
Körpertheilen, Schlaflosigkeit und Appetitstörungen. Die Kranken
werden scheu, in sich gekehrt, niedergeschlagen, ängstlich, hören auf,
zu arbeiten, äussern vage Befürchtungen, namentlich hypochondrischen
Inhaltes, bisweilen auch Selbstmordgedanken oder einzelne Ver-
folgungs- und Versündigungsideen, dass man sie beobachte, erschiessen,
440
"Vm. Die psychischen Entartungsproeeese.
Tergiften wolle, dass sie ein schlechtes Leben geführt hätten. Hie
und da treten Torübergehend G-ehörs- oder Gesichtstäuschungen auf.
Dieses erste Stadium kann unter allmählichem Verblassen der
"Wahnvorstellungen und SchAAdnden des Affectes innerhalb einiger
Monate oder Jahre ganz unmerklich und ohne weitere Zwischenfälle
in einfachen Blödsinn hinüberführen. Vielfach jedoch kommt es
wenigstens zeitweise zu mehr oder weniger ausgebildeten expansiven
Erregungszuständen, bisweilen unter plötzlichem Umschlagen der
Stimmung. Die Eo-anken werden heiter, ausgelassen, gesprächig, er-
zählen allerlei selbsterfundene Erlebnisse, äussern dürftige, verworrene
Grössenideen. Sie haben viel Geld, eine ganze Stube voll Gold,
schöne Kleider, wollen zum Kaiser, zur grossen Armee, PfaiTer,
Schauspielerin werden, fortreisen. lieber ihre Umgebung sind sie
dabei nur mangelhaft orientirt, erkennen wol einzelne Personen,
wissen aber nicht genau, wo sie sich befinden, haben keine rechte
Ahnung, was mit ihnen geschieht, vermögen ihre Lage gar nicht
zu beurtheüen. Regelmässig ist eine lebhafte sexuelle Erregung
vorhanden. Die Kränken erzählen, dass sie seit 50 Jahren ver-
heirathet seien, 22 Frauen hätten, verlangen ein Mädchen, fordern
zum Coitus auf, masturbiren. Die motorische Um-uhe ist meist gar
nicht sehr gross ; nur ausnahmsweise und bei ungenügender Pflege
kommt es zu lauterem, anhaltendem Schwatzen und Schreien, zu
störendem Klopfen, Zerreissen und Sich entkleiden. Sich selbst über-
lassen, haben die Kranken die Neigung, fortzulaufen, herumzuvagiren:
sie verkommen dabei rasch, begehen allerlei läppische, unsinnige
Handlungen, geschlechtliche Excesse und gerathen gewöhnlich sehr
bald in Confüct mit der öffentlichen Ordiiung.
Auch die expansive Erregung, die sich übrigens häufig durch ein-
zelne Grössenideen, euphorische Stimmung, unmotivirtes Lachen nm-
leicht andeutet, pflegt nicht sehr lange auf ihrer Höhe zu bleiben. Nach
einigen Monaten, oft auch schon viel früher, treten die Erscheinungen
zurück und der Zustand scheint sich zu bessern. Allein die Kranken
werden zwar ruhiger, aber gleichgültig, theilnahmlos, stumpf, ver-
lieren jedes Verständniss für ihre Umgebung, kümmern sich nicht
mehr um das, was um sie her vorgeht. Meist werden sie unsauber
beim Essen, schlingen gierig, verschütten, schmieren mit den Speisen
herum; sie verunreinigen sich, halten Koth und Urin zurück, lassen
den Speichel über ihre Kleider , fliessen. Jede eigene Willens-
Dementia praecox.
441
regnng kann schliesslich erlöschen; sie bleiben stehen oder sitzen,
wo sie sich gerade befinden, stumm in. sich versunken, höchstens
zeitweise blöde vor sich hinlächelnd oder auch wol einmal leise
einige unsinnige Worte oder Sätze murmelnd; sie müssen dann an-
imd ausgekleidet, gefüttert, geschoben werden.
Aeusseren Einwirkungen gegenüber verhalten sie sich bald ganz
passiv, kataleptisch, bald widerstrebend. Die spärlichen Antworten, die
man von ihnen erhält, sind meist völlig beziehungslos, verrathen nur
hin und wieder ein gewisses Verständniss der Frage; eindringliche
einfache Aufforderungen werden bisweilen noch richtig befolgt, ein-
zelne von früher bekannte Personen zutreffend benannt. Hie und da
gelingt es auch wol, Beste von Schulkenntnissen, correctes Lesen
oder Schreiben, richtige. Lösung einer Kechnung, das Haften einer
historischen, geogTaphischen, sprachlichen Keminiscenz nachzuweisen.
Manchmal erhalten sich deutliche üeberbleibsel der früheren Er-
regung, verwirrtes, unverständliches Schwatzen, läppisches Lachen,
gezierte Bewegungen und Ausdrücke, stürmisches Auf- und Abrennen.
Häufig zeigen die Kranken wenigstens vorübergehend Perioden reiz-
barer Stimmung, drängen plötzlich zur Thüre hinaus, fangen an zu
schimpfen ' oder begehen einen impulsiven Gewaltakt, werfen eine
Schüssel zu Boden, zerreissen ein Kleidungsstück, versetzen einem
Schlafkameraden unversehens einen Hieb. Auch Zupfen und Nesteln
an den Kleidern, abenteuerliche Drapirungen derselben, Ausreissen
der Kopf- oder Barthaare, beharrliches Zerkratzen einzelner Körper-
stellen, rücksichtsloses Masturbiren wird vielfach beobachtet.
Nicht immer werden, wie es scheint, die soeben geschilderten
schwersten Pormen des apatliischen Blödsinns erreicht. Yielmehr
giebt es auch hier Kranke, welche auf -der Stufe des oben be-
schriebenen eigenartigen Schwachsinns stehen bleiben. Im Ganzen
aber müssen solche mildere Yerlaufsarten gegenüber der grossen
Menge verblödender Fälle als seltene Ausnahinen. betrachtet werden.
Körperliche Störungen gehen mit der Entwickelung der De-
mentia praecox • nur dann einher, wenn dieselbe lebhaftere AfFect-
schwankungen darbietet. Während dieser letzteren pflegen Appetit,
Schlaf und allgemeine Ernährung mehr oder weniger empfindlich
zu leiden; hie und da kommt es auch zu länger dauernder Nahrungs-
verweigerung. Mit eintretender Beruhigung hebt sich das Körper-
gewicht regelmässig wieder, und die Kranken gewinnen meist ein
442
Vm. Die psychischen Entartungsprocesse.
blühendes Aussehen. Vielfach finden sich angeborene körperliche
Entartungszeichen, Kleinheit oder Yerbildungen des Schädels, kind-
licher Habitus, mangelhafte Zähne u. dergl. Zweimal beobachtete
ich eigenthümliche, halb an Chorea, halb an Athetose erinnernde Be-
wegungsstörungen, die ich am besten mit dem Ausdrucke „athetoide
Ataxie" kennzeichnen zu köimen glaube.
Die erste genauere und in vieler Beziehung geradezu muster-
gültige Schilderung gewisser Fonnen der Dementia praecox ver-
danken wir Hecker*), der 1871 im Anschlüsse an Kahlbaums
Aufstellungen unter dem Namen der Hebephrenie solche Fälle
beschrieb, bei denen sich nach einem melancholischen Eingangs-
stadium ein solches der Manie entwickelt, um rasch in einen ganz
eigenartigen Schwachsinnszustand auszugehen. Als Hebephrenie in
diesem Sinne würde somit nur ein kleiner TheiL der hier in der Dementia
praecox vereinigten Beobachtungen zu bezeichnen sein. Darasz-
kiewicz**) hat daher den Begriff der Hebephrenie dahin ei"weitert,
dass er auch die „schweren Formen" umfasst, welche zu tiefem
Blödsinn führen. Vielleicht wäre es bei dem jetzigen Stande der
Frage am zweckmässigsten, den Namen der Dementia praecox nur
für die erste der von mir abgegrenzten Gruppen, für die Fälle mit
schleichender Entwicklung eines meist mässigen Schwachsinns bei-
zubehalten, während als Hebephrenie die mit Erregungszuständen
verlaufenden, prognostisch ungünstigeren Formen zu bezeichnen
wären. An ihrer nahen Verwandtschaft und dem Vorkommen aller
möglichen XJebergänge kann freilich kein Zweifel sein.
Alle im Vorstehenden geschilderten Erkrankungen erwachsen
auf dem Boden der psychopathischen Veranlagung, die sich
häufig genug in körperlichen und geistigen Anomalien des Kindes-
alters, verspäteter und ungenügender Entwickelung bereits kund giebt.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle scheint erbliche Belastung
vorhanden zu sein. Die Krankheit entwickelt sich charakteristischer
Weise in demjenigen Lebensalter, in welchem überhaupt die krank-
hafte Veranlagung zuerst und am stärksten sich geltend zu machen
pflegt. Wie schon Hecker gezeigt hat, ist es diese Entstehimgszeit,
welche dem schwachsinnigen Endstadium der Psychose sein eigen-
*) Virchows Archiv LIL, p. 394.
*) üeber Hebephrenie, insbesondere deren schwere Form. Diss. Dorpat. 1892,
Dementia praecox.
443
thümliches Gepräge verleiht. Hecke r ist sogar geneigt, die Ausgänge
seiner Hebephrenie geradezu als ein Stehenbleiben des gesammten
psychischen Lebens auf der Entwickelungsstufe der Pubertätsjahre
zu beti-achten. Wenn gegen diese Auffassung auch die Häufigkeit
tiefer Verblödung spricht, welche eben einen Rückschritt, nicht einen
einfachen Stillstand der geistigen Ausbildung darthut, so finden wir
doch in dem vorzeitigen Schwachsinn viele Züge wieder, welche uns
aus den normalen Entwickelungsjahren wohl bekannt sind. Dahin ge-
hört die Neigung zu unpassender Leetüre, die naive Beschäftigung
mit den „höchsten Problemen", die unreife „Schnellfertigkeit" des
Urtheils, die Freude an Schlagwörtern und klingenden Redensarten.
Schon bei einer frülieren Gelegenheit wurde ferner darauf hin-
gewiesen, dass sich im Entwickelungsalter gewisse psychische Wand-
lungen vollziehen, die wir vielleicht als das normale Vorbüd leichter
manischer Yerstimmungen betrachten dürfen. Der unmotivirte
Stimmungswechsel, Niedergeschlagenheit und Ausgelassenheit, die
gelegentliche Reizbarkeit und Impulsivität der Pubertätszeit be-
gegnen uns beim vorzeitigen Schwachsinn in schärferer, vielfach
direct manischer Ausprägung. Auch die Abgerissenheit der Ge-
dankengänge, das bald gespreizte, grosssprecherische, bald verlegene,
scheue Wesen, das alberne Lachen, die läppischen Scherze, die
affectirte Sprechweise, die gesuchte Derbheit und die gewaltsamen
Witze sind Erscheinungen, welche beim Gesunden wie beim Kranken
auf jene leichte innere Erregung hindeuten, mit welcher die Um-
wälzungen der Geschlechtsentwickelung einherzugehen pflegen.
Die Annahme einer degenerativen Grundlage der Dementia
praecox wird stark unterstützt durch die vollständig ungünstige
Prognose dieses Leidens. Ich muss es für ausgeschlossen halten,
dass eine Genesung der Kranken jemals möglich ist. Zwar können
die acuten Störungen nach einigen Wochen oder Monaten wieder
verschwinden, so dass die Umgebung den Eindruck einer wirklichen
Besserung des Zustandes gewinnt. Dem aufmerksamen Beobachter
indessen entgeht es nicht, dass stets ein mehr oder weniger hoch-
gradiger^ unheilbarer geistiger Defect zurückbleibt. Wie schon früher
betont, scheint diese Invalidität bei den afiectiven Formen regel-
mässig tiefer zu greifen, als bei den einfachen. Die Erziehungs-
fähigkeit nach Ablauf des eigentlichen Krankheitsprocesses pflegt
eine sehr geringe zu sein; es gelingt meist nur, den Bestand einiger-
444
Vni. Die psychisclien Entartungsprocesse.
massen zu erhalten. Alle diese Erfahrungen weisen mit ziemlicher
Bestimmtheit darauf hin, dass dem hier sich abspielenden Krankheits-
processe greifbare, wenn auch vielleicht sehr feine, pathologisch-
anatomische Yeränderungen zu Grunde liegen dürften.
Unter solchen Umständen ist es natürlich von grosser prak-
tischer Bedeutung, den einzelnen FaU von Dementia praecox früh-
zeitig und sicher zu erkennen. In dem kritischen Lebensalter
kommt hauptsächlich die Abgrenzung von der Paranoia und von
. den periodischen, bisweüen auch von den Erschöpfungspsychosen in
Betracht. • Gegenüber der Paranoia ist auf die raschere Entwickelung,
die Dürftigkeit und Zerfahrenheit der etwa vorhandenen "Wahnideen
und den sehr bald deutlichen, zunehmenden Schwachsinn hinzu-
weisen. Die Verwechselung mit beginnendem circulärem oder perio-
disch-manischem Irresein wird bisweilen sehr nahe liegen; schlep-
pender Beginn mit länger zurückreichenden Vorläufern , geringe
Intensität der Krankheitserscheinungen und die Zeichen erworbener
Demenz ohne tiefere Bewusstseinstrübung sprechen mehr für die
hier geschilderten Zustände. Von desn Erschöpfungspsychosen kommt
namentlich die acute Demenz in Betracht, deren plötzlicher Beginn
mit schwerer Verworrenheit im Anschlüsse an eine eingreifende
äussere Schädigung meist die Unterscheidung mit genügender Sicher-
heit ermöglichen wird. Zudem muss sich in aUen bisher ange-
deuteten Zweifelsfällen die Sachlage bei weiterer Beobachtung in
einigen Monaten vollständig klären.
Schwieriger ist es bisweilen, die Dementia praecox von ange-
borener Imbecillität zu unterscheiden. JSToch vor Kurzem sind mir
mehrere hochgradig blödsinnige Kranke aus einem Arbeitshause zu-
geführt vT^orden, die zahlreiche Strafen wegen Betteins, Vagabon-
direns u. dergl. • erhalten hatten und nicht die geringste Auskunft
über ihre Vergangenheit zu geben vermochten. Aber gerade der
hohe Grad der Störung, der an sich ein Leben in der Freiheit voll-
ständig ausschloss, wies darauf- hin, dass hier ein erworbenes
Leiden vorliegen musste. Später gelang es dann auch, Ueberreste
einstiger leidlicher Schulbildung nachzuweisen, Sowie in einem Falle
Briefe zu erlangen, aus welchen hervorging, dass der jetzt völlig
verblödete Kranke noch wenige Jahre zuvor im Stande gewesen
war, planmässig zu reisen und seine Gedanken gewandt und fliessend
wiederzugeben. Von besonderer praktischer Wichtigkeit ist die
Katatonie.
445
Kenntniss solcher Fälle fiü- den Militärarzt, da die Krankheits-
erscheinungen nicht selten gerade kui-z vor und während des Dienens
einsetzen und dann leicht im absichtliche Verstellung gehalten werden.
Die Behandlung der Dementia praecox bietet wenig Angriffs-
punkte. Man darf jedoch vielleicht annehmen, dass rechtzeitige
Schonung des erki-ankten Gehirns, Bekämpfung der Schlaflosigkeit,
Aufregung, Nahrungsverweigerung bis zu einem gewissen Grade den
psychischen Yerfall aufzuhalten und die Bettung des noch nicht
Yemichteten begünstigen kann. Ist das acute Stadium der Krank-
heit überwunden;, so wird es sich wesentlich darum handeln, die
noch vorhandenen geistigen Fähigkeiten durch vorsichtige, systema-
tische Hebung nach MögKchkeit vor der drohenden Inactivitätsatrophie
zu bewahren.
B. Die Katatonie.
Unter dem Namen der Katatonie*) hat Kahlbaum ein Krank-
heitsbild beschrieben, welches der Eeihe nach die Symptome der
Melancholie, der Manie, des Stupors, bei ungünstigem Verlaufe
auch der Verwirrtheit und des Blödsinns darbietet und ausser-
dem durch das Auftreten gewisser motorischer Krampf- und
Hemmungserscheinungen, eben der „katatonischen" ' Symptome,
charakterisirt wird. Die von ihm gegebene, in vieler Beziehung
interessante Darstellung sollte zeigen, dass alle bis dahin als Melan-
cholia attonita, Stupor, acute Demenz u. s. w. bezeichneten Zustände
in Wirklichkeit nur Phasen einer einzigen Psychose seien, welche,
analog der Dementia paralytica, trotz äusserlicher Verschiedenheiten
des Verlaufes doch eine Anzahl durchaus typischer somatischer und
psychischer Symptome aufweise. "Wenn ich nun auch diese Zu-
sammenfassung ätiologisch, klinisch und prognostisch oft recht von
einander abweichender Zustände bisher für eine schematisirende
Ueberschätzung ähnlicher Einzelzüge halten muss, so sehe ich mich
doch durch gewisse Erfahrungen veranlasst, hier eine bestimmte
Gruppe von Fällen aus dem Gebiete der „Katatonie" als eigenartige
Krankheitsform herauszuheben. Es handelt sich dabei im Wesent-
*) Kahlbaum, Die Katatonie oder das Spaunungsirresein. 1874; Ne isser,
Ueber die Katatonie. 1887. Behr, Die Frage der Katatonie oder des Irreseins
mit Spannung. Diss. Dorpat, 1891.
446
Vin. Die psychischen Entartungsprocesse.
liehen um das acute oder subacute Auftreten eigenthümlicher,
in Stupor und späteren Schwachsinn übergehender Er-
regungszustände mit verworrenen "Wahnideen, einzelnen
Sinnestäuschungen und den Erscheinungen der Stereotypie
und Suggestibilität in Ausdrucksbewegungen und Hand-
lungen.
Die Psychose beginnt fast ausnahmslos mit den Anzeichen
einer leichteren oder schwereren psychischen Depression. Die
Kranken werden still, gedrückt, theilnahmlos, ängstlich, klagen über
Kopfschmerzen, Erschwerung des Denkens, verlieren Schlaf und
Appetit, hören auf zu arbeiten, bleiben viel im Bett liegen. Bald
tauchen allerlei unbestimmte Wahnvorstellungen auf, Selbst-
beschuldigungen, Verfolgungsideen, hypochondrische Klagen. Die
Kranken fürchten, verloren zu sein, nicht in den Himmel zu kommen,
haben nicht recht gehandelt. Menschen und Thiere wissen ihre
Schlechtigkeit; man hat sie vergiftet, verrückt gemacht. Sie haben
durch Onanie ihren Körper verdorben; es geht etwas im Kopfe herum;
das Gehirn ist zerrissen, die Eingeweide sind los. In dieser Stimmung
kann es zu energischen Selbstmordversuchen kommen. Oefters
treten auch Sinnestäuschungen auf. Die Mutter Gottes erscheint;
Engel fliegen in der Luft; die Leute sagen der Kranken nach, dass
sie geboren, ein Kind umgebracht habe; das Bett beginnt zu sprechen.
Meist ist es indessen trotz mancher Andeutungen schwer, über das
Bestehen von Hallucinationen Gewissheit zu erlangen, da die Kranken
über ihre Zustände keine Auskunft zu geben, sondern rasch in mehr
oder weniger tiefen Stupor zu versinken pflegen. Bisweilen gehen
der Entwickelung dieses Stupors noch einzelne Grössenideen voraus.
Eine meiner Kjranken lief zum Ortsvorsteher, um ein grosses Ver-
mögen abzuholen, das sie dort für sich hinterlegt glaubte; eine
Andere traf Vorbereitungen zur Hochzeit mit einem ihr ganz frem-
den Herrn, der ihr angeblich durch Zeichen seine Liebe erklärt hatte.
Einige Wochen oder Monate nach diesen einleitenden Stadien
treten immer stärker die vielfach schon im Beginne leicht ange-
deuteten katatonischen Erscheinungen hervor, und es kommt nun
zur Entwickelung eines ungemein eigenartigen, aus anscheinend ganz
widersprechenden Zügen sich zusammensetzenden Krankheitszustandes.
Was zunächst ins Auge fällt, sind die von Kahlbaum mit dem Namen
des „Negativismus" bezeichneten Symptome. Die Kranken hören
Katatonie.
447
vollständig auf zu sprechen (Mutacismus) oder lispeln dooh nur hier
und da leise einige unverständliche Worte; sie sind gänzlich unzu-
gänglich gegen jede äussere Einwirkung, reagiren nicht auf Anreden^
Berührungen und selbst Nadelstiche; nur selten führt ein sehr kräf-
tiger Reiz langsame Ausweichbewegungen oder auch einmal einen
unvermuthet gewandten und energischen Angriff herbei. Auch ein
gelegentliches leises Blinzeln, stärkere Röthung oder Schwitzen des
Gesichtes, Zucken um die Mundwinkel deuten bei solchen Yersuchen
darauf hin, dass weniger die Auffassung der Eindrücke, als die Aus-
lösung einer Willensreaction auf dieselben gestört ist. Jeder Versuch
eines activen Eingreifens in Haltung oder Bewegung der Kranken
begegnet zeitweise hartnäckigem und unüberwindlichem Widerstande.
Man fühlt, wie sich sofort jeder Muskel auf das Aeusserste anspannt,
sobald man irgend eine Lageveränderung mit dem Kranken vor-
nehmen will. Drückt man gegen die Stirn, so schnellt der Kopf
beim Loslassen federnd nach vorn; berührt man das Hinterhaupt,
so strebt er dem Eingerdruck entgegen nach hinten. Den psychischen
Ursprung dieses prompten Widerstrebens erkennt man am besten
in den nicht seltenen Eällen, in welchen die Kranken auch auf
sprachliche Beeinflussungen in der gleichen Weise reagiren. Es ist
dann nicht nur möglich, den Kranken dadurch zum Vorwärtsgehen
zu veranlassen, dass man ihn scheinbar zurückdrängt und umgekehrt,
sondern er setzt sich auf den Nachtstuhl, wenn man es ihm energisch
verbietet, steht stiU, sobald man ihn gehen heisst und ähnliches.
Als eine negativistische Erscheinung ist auch wol die bei un-
seren Kranken laäufige Nahrungsverweigerung aufzufassen. Sie
hören bisweilen ganz plötzlich auf zu essen, und sind nun auf keine
Weise zur Fortsetzung der Mahlzeit zu bewegen, beissen krampfhaft
die Zähne aufeinander, pressen die Lippen zusammen, sobald man
sich mit dem Löffel nähert. Bemerkenswerth ist es, dass die Kranken
bei dieser, wie bei jeder beliebigen Beeinflussung regelmässig nur
passiv widerstreben, höchstens einige plumpe Abwehrbewegungen
machen, niemals aber mit jenem verzweifelten Aufwände aller Kampf-
mittel der Einwirkung zu entgehen suchen, den wir bei ängstlichen
Kranken beobachten.
In naher innerer Beziehung zum Negativismus steht offenbar
die sehr auffallende Neigung unserer Kranken zu dauerndem
Festhalten der gleichen Muskelspannung, ja jener erstere ist
448
VIII-. Die psychischen Entartungsprocesse.
vielleicht nichts, als die einfache Folge aus diesem allgemeinen
psychomotorischen Beharrungsvermögen. In Folge dessen sehen wir
die Kranken Tage, "Wochen, ja viele Monate hindurch genau die-
selbe Stellung einnehmen. In eigenthümlicher Haltung, oft starr in
sich zusammengekrümmt, sitzen oder liegen sie regungslos da, lassen
sich nach Belieben herumrollen oder auch an irgend einem Körper-
theil wie ein Packet in die Höhe heben, ohne die Lage ihrer Glieder
irgendwie zu verändern. Die Augen sind dabei entweder geschlossen,
werden bei jeder äusseren Annäherung fest zusammengekniffen unter
starker Aufwärtsrollung der Balbi, oder sie sind weit offen, starren
mit erweiterten Pupillen in die Ferne, fixiren niemals. Der Gesichts-
ausdruck ist unbeweglich, maskenartig; die Lippen sind öfters riissel-
artig vorgeschoben („Schnauzkrampf'), zeigen hier und da leichte,
rhythmisch-zuckende Bewegungen.
Auch im Gange der Kranken pflegen sich analoge Eigenthüm-
lichkeiten bemerkbar zu machen. Häufig ist es freilich ganz un-
möglich, Gehversuche zu erzielen. Die Kranken lassen sich einfach
steif hinfallen, sobald man sie auf die Füsse stellen will. In anderen
Fällen marschiren sie mit gestreckten Knieen, auf den Zehenspitzen,
auf dem äusseren Pussrande, mit gespreizten Beinen, stark zurück-
gebeugtem Oberkörper, kurz in irgend einer ganz bizarren, aber mit
Aufbietung aller Kräfte, entgegen jeder äusseren Einwirkung fest-
gehaltenen Stellung. Die einzelnen Bewegungen geschehen langsam,
gezwungen, als ob ein gewisser Widerstand zu überwinden wäre, oder
ruckweise und dann oft blitzschnell.
Endlich dürfte auf das allgemeine Beharrungsvermögen der
Kranken auch vielfach ihre Unreinlichkeit zurückzuführen sein. Sie
halten Urin und Koth oft lange Zeit zurück und lassen ihn dann
einfach unter sich gehen, nehmen nicht die geringste Lageveränder-
ung vor, um sich den unangenehmen Folgen zu entziehen. Ein
wirklicher Negativismus zeigt sich häufig darin, dass sie auf dem
Abtritt nicht zur Entleerung zu bewegen sind, um gleich darauf den
Fussboden oder das Bett in ausgiebigster "Weise zu verunreinigen.
Der Speichel wird oft bis zuni Aeussersten im Munde angesammelt,
um dann plötzlich fontänenartig hervorzuquellen, oder er läiüft inuner-
fort am Kinn über die Kleider herab, wahrscheinlich weniger, weil
die Secretion vermehrt ist, als weil die psychomotorisch erstarrten
Kranken keine Schluckbewegungen ausführen.
Katatonie.
449
Einen eig-enthümlichen Gegensatz zu diesen Erscheinungen, in
denen sich überall das elementare Widerstreben gegen jede Ver-
änderung des augenblicklichen Zustandes ausdrückt, bilden die vielfach
hervortretenden Anzeichen gerade einer erhöhten Beeinflussbar-
keit von aussen her. Dahin gehört vor Allem die ausnahmslos kürzere
oder Längere Perioden hindurch bestehende Katalepsie, die in solchen
Zuständen ihre höchste Ausbildung zu erreichen ptlegt. Seltener und
meist mu' vorübergehend begegnet man auch der Echolalie oder gar der
Echopraxie. Die Kranken wiederholen dann einfach ganz mechanisch
die an sie gerichteten Eeden oder auch irgendwelche zufällig auf-
gefasste Aeusserungen; sie ahmen lebhaftere Geb erden nach, die mau
ihnen in eindringlicher "Weise vormacht. Bisweilen sieht man sie so-
gar stundenlang Alles mitthun, was irgend eine bestimmte Person
ihrer Umgebung thut, ihr Alles nachsprechen, in gleichem Schritt
hinter ihr hergehen, sich mit ihr an- und auskleiden und ähnliches.
Die beiden nur anscheinend entgegengesetzten Zustände des
ausgeprägtesten Widerstrebens und der vollständigen Hingabe an
äussere Einflüsse gehen bei den Kranken regellos und ganz un-
vermittelt in einander über. Zwar kann unter Umständen Wochen
und Monate lang nur das eine Verhalten bemerkbar sein, aber es
finden sich immer Zeiten, in denen sich eine plötzliche Wandlung
feststellen lässt, ja es gelingt nicht so selten, durch geeignete sug-
gestive Beeinflussung unmittelbar die Starre in Katalepsie überzu-
führen und umgekehrt. Eine noch grössere Mannichfaltigkeit aber
gewinnt das Krankheitsbild durch den Umstand, dass sich regel-
mässig allerlei impulsive Acte mitten in jene Zustände hinein-
schieben, deren Ausbildung im Einzelnen dann vielfach durch die
allgemeinen Eigenthümlichkeiten unserer Kranken beeinflusst wird.
Am häufigsten und auffallendsten sind die tonischen und
klonischen, bald ganz einfachen, bald sehr verwickelten Zwangs-
bewegungen, die bisweilen das erste alarmirende Krankheitszeichen
bilden. Die Eo-anken werden plötzlich am ganzen Körper starr,
sinken zu Boden, bleiben in der Stellung eines Gekreuzigten liegen, -
verdrehen die Augen, rollen sich um ihre Längsachse; sie drehen
sich auf den Zehenspitzen herum, rotiren Eumpf und Kopf, pendeln
hin und her, proniren die Arme bis zum Aeussersten, wirbeln die
Fäuste mit grosser Geschwindigkeit um einander. Diese Symptome
können vielfach den Eindruck wahrer Krämpfe machen, erinnern
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Anü. 29
450
VIII. Die psychischen Entartungeprocesse.
jedoch am meisten an hysterische Erscheinungen, denen sie bisweilen
zum Verwechseln gleichen.
Bei anderen motorischen Leistungen ist der psychische .Ur-
sprung deutlicher. Die Kranken schlagen die verwegensten Purzel-
bäume, tanzen in grottesker Haltung und Drapirung herum, lassen
sich immerfort niederfallen und springen wieder auf, machen plötz-
lich einige Luftsprünge, um sich dann mit gewaltigem Anlauf über
die hohe Lehne köpflings ins Bett zu stürzen, erklettern hastig
einen Stuhl, einen Tisch, das Fenstergitter, um dort zu defäciren,
schleppen ihr Bett, ihre Matratze stundenlang im Kreise herum
und klopfen bei einer bestimmten Stelle jedesmal an die Wand,
bewegen sich im Sturmschritt auf derselben Strecke hin und her,
schleudern jedes Hindemiss rücksichtslos bei Seite, yersetzen un^^
vermuthet einem harmlosen Nachbar eine schallende Ohrfeige. Alle
die geschilderten, sehr verschiedenartigen Handlungen werden mit
der grössten Kraft und Energie durchgeführt, so dass es meist
gänzlich unmöglich ist, den äusserst gewandt und schnell sich be-
wegenden Kranken an seinem Yorhaben zu hindern. In Folge dessen
kommt es bisweilen zu massenhaften Hautabschürfungen, kleinen
und grösseren Verletzungen, da der Kranke seine Güeder nicht im
geringsten schont, die offenen Stellen immer wieder anschlägt und
die ihm hinderlichen Verbände ohne Weiteres herunterreisst.
Weniger bedenklich, als die zuletzt genannten^ glücklicher Weise
nicht allzu häufigen Erscheinungen, sind die eigenthümlichen
sprachlichen Impulse der Kranken. Sie beginnen nach vielleicht
wochenlanger regungsloser Stummheit plötzlich überlaut einige ganz
unverständliche Schreie auszustossen, wie ein Hund zu bellen, mit
verschmitzter Miene einen zeitgemässen Gassenhauer zu gTölen. Oder
sie machen im Tone ruhiger Unterhaltung einzelne abgerissene, völlig
beziehungslose Bemerkungen, ohne sich irgendwie um die wirklich
an sie gerichteten Fragen zu kümmern. Sehr gewöhnlich ist endlich
das früher bereits besprochene Symptom der Verbigeration. in
welchem sieb, wie in so vielen ihrer sonstigen motorischen Aeusser-
ungen, die Neigung der Kranken zur Stereotypie, zur Wiederholung
der gleichen Impulse, auf das deutlichste kundgiebt. Ii'gend ein
kürzerer oder längerer, häufig durchaus sinnloser Satz (z. B. „Ge-
kreuzigter Krex in e Umkrexhaus") wird stunden- und tagelang in
derselben, oft rhythmischen Betonung ununterbrochen wiederholt,
Katatonie.
451
bald laut, bald flüsternd, bald sogar in bestimmter Melodie. Bis-
weilen versprechen sich die Kranken einmal, oder es drängt sich ein
in der Umgebung gehörtes "Wort hinein; so kann der Spruch all-
mcähliche "Wandlungen erfahren, deren Ergebniss man dann nach
einigen Stunden vorfindet. Auch in den schriftlichen Productionen
der Kranken lässt sich die Yerbigeration oft wiederfinden, in dem
endlosen "Wiederholen der gleichen Schnörkel, Zahlen, Buchstaben,
"Worte oder Sätze. In einem Falle, der allerdings mehr dem Gebiete
der Dementia praecox als der Katatonie angehörte, ergab sich sogar
das Bestehen eintöniger Gehörstäuschungen, die tagelang dieselben
unsinnigen und von dem Kranken selbst ganz gleichgültig hinge-
nommenen Sätze wiederholten, so dass man hier von einer „hallu-
cinatorischen Yerbigeration" sprechen konnte. "Wahrscheinlich ist
diese Erscheinung gar nicht so selten, wenn wir auch von den
Patienten nicht viel darüber erfahren.
Eine ganze Keihe weiterer seltsamer Gewohnheiten unserer
Kjanken dürfte in gleicher "Weise ihre Entstehung irgendwelchen
unvermittelt aufsteigenden Antrieben verdanken, die dann wegen der
Neigung zur Stereotypie immer wiederkehren. Dahin sind wol so
manche der bereits erwähnten eigenthümlichen Stellungen und der
automatenartigen Bewegungen zu rechnen, die wir hier beobachten,
das krampfhafte Andrücken der gespreizten Knger an einzelne
Körpertheile, das zwangsmässige Kopfschütteln und namentlich ge-
wisse Sonderbarkeiten beim Essen. Fast niemals nehmen die
Kranken, die bald ohne erkennbaren Anlass die Nahrung verweigern,
bald sich mit Gier auf das Essen stürzen und dann häufig ihre
Nachbarn rücksichtslos ausplündern, ihre Mahlzeiten in normaler
Weise zu sich. Vielfach greifen sie einfach mit den Händen in den
Teller hinein, stopfen hastig den Mund so voll wie möglich und
schlingen herunter, fast ohne zu kauen. Andere schlecken die Suppe
wie ein Hund oder giessen sie unter reichlichem Verschütten direct
in den Mund, pressen den Gemüseteller glatt auf ihr Gesicht und
lecken ihn so allmählich aus. Eine meiner Kranken fasste zwar
den Löffel ganz richtig mit der rechten Hand, führte ihn aber hinter
ihrem Kopfe herum von der linken Seite zum Munde. Nicht selten
verschüngen die Kranken ganz unglaubliche Mengen der verschieden-
sten Nahrungsmittel, aber auch ganz unverdauliche Dinge, hie und
da sogar ihre eigenen Excremente.
29*
452
VIII. Die psychischen Entartungsprocesse.
Während der Entwickelung dieses vielgestaltigen Krankheitsbildes
ist das Bewusstsein der Patienten ohne Zweifel dauernd etwas
getrübt. Allein es lässt sich dennoch fast regelmässig feststellen,
dass die Orientirung den Kranken keineswegs- vollständig verloren
gegangen ist. Trotzdem dieselben Monate lang schwer benommen
erscheinen, ihre Umgebung vollständig ignoriren und die unsinnigsten
Handlungen begehen, überraschen sie plötzlich dadurch, dass sie die
Namen der Wärterinnen oder der anderen Kranken kennen, sich
über irgend ein Yorkonminiss beklagen, geordnete Auskunft über
ihre Verhältnisse geben, einen zusammenhängenden Brief mit zu-
treffender Schilderung ihres Aufenthaltes, der Bitte um Abholung
verfassen. Selbst eine gewisse Krankheitseinsicht ist bisweilen vor-
handen. Eine Kranke, welche die katatonischen Bewegungstereo-
typen in höchster Ausbildung darbot, sagte mir: „ich muss aber
immer so dumme Bewegungen machen; dass ist doch zu einfältig."
Freilich erfährt man über die Motive des ganzen zwangsmässigen
Benehmens von den Kranken nie etwas Anderes, als dass sie nicht
hätten sprechen dürfen oder können, dass eine Kraft über sie ge-
kommen sei und si$ gezwungen habe, dass sie so oder so hätten
handeln müssen, dass man es ja so gewollt habe.
Die Stimmung der Kranken zeigt nach den anfänglichen
stärkeren Affectschwankungen keine selir auffallenden Yeränderungen.
Meist sind die Kranken im Zusammenhalte mit ihrem sonderbaren
Benehmen merkwürdig gleichgültig; nur gelegentlich beobachtet man
einmal kindische Weinerlichkeit, Gereiztheit, Ausgelassenheit oder
Zeiten ekstatischer Verzückung. An körperlichen Symptomen sind
namentlich vasomotorische Störungen bemerkenswerth, Cyanose
der Extremitäten und der Schleimhäute, Gedunsenheit des Gesichts,
Oedeme an den Unterschenkeln, lebhafte Eöthung und sogar Quaddel-
bildung bei leichten mechanischen Keizen. Die Keflexe sind fast
ausnahmslos gesteigert, bisweilen auch die mechanische Erregbarkeit
der Muskeln und Nerven; der Puls ist klein, verlangsamt, die
Temperatur niedrig, die Athmung oberflächlich, der Schlaf wol
immer hochgradig gestört, Avenn die Kranken auch ruhig liegen;
das Körpergewicht sinkt beträchtiich, auch dann, wenn die
Nahrungsaufnahme eine reichliche ist.
Der Verlauf der Krankheit ist, wie schon die Fülle einander
entgegengesetzter Erscheinungen vermuthen lässt, ein sehr wechselnder.
Katatonie.
453
Bisweilen allerdings folgt auf die anfängliche Depression einfach
ein mehr oder weniger langes Stadium des Stupors mit Negativismus,
Katalepsie und einzelnen impulsiven Handlungen, welches unmittelbar
in dauernden Schwachsinn übergeht. Hier verlieren sich nach einer
längeren Eeihe von Monaten oder auch nach Jahr und Tag ganz
allmählich die katatonischen Erscheinungen bis auf einzelne Reste.
Die Kranken werden freier in ihren Bewegungen, geordneter in
ihren Handlungen, sind aber vollkommen stumpf, theilnahmlos, veri
mögen keinerlei oder doch nur sehr einfache Auskunft zu geben,
haben kaum irgendwelche Erinnerung an ihre Yergangenheit, noch
weniger an ihre Krankheit. Nur hie und da lässt noch eine finstere
Miene, ein impulsiver Act, ein ausdrucksloses Lächeln auf seichte
AffectschAvankungen schliessen. Spuren von Katalepsie, Andeutungen
von Haltungs- oder Bewegungsstereotypen, ünreinlichkeit, unmotivirte
Nahrungsverweigerung oder Gefrässigkeit sind nicht selten. Die
Arbeitsfähigkeit ist sehr gering oder ganz aufgehoben.
Häufiger als dieser unmittelbare TJebergang in Blödsinn ist das
zeitweise Auftreten manischer Erregungszustände. Bisweilen
schieben sich dieselben nur ganz vorübergehend in den Stupor ein.
Die Kranken werden plötzlich ausgelassen, heiter, gesprächig, fangen
an zu singen, zu tanzen, läppisch zu lachen, zu zerstören, zu schmieren,
gewaltthätig zu werden, um nach kurzer Zeit ebenso rasch wieder
in die frühere Eegungslosigkeit zu versioken. In anderen Fällen da-
gegen hält eine leichtere oder schwerere tobsüchtige Erregung
Wochen und Monate hindurch an, so dass man mit einiger Be-
rechtigung von einem „manischen Stadium" sprechen kann. Auch in
diesen Zuständen jedoch ist die katatonische Grundstimmung viel-
fach erkennbar. Das Benehmen und die Handlungen der Kranken
pflegen etwas Stereotypes, Gespreiztes, Zwangsmässiges zu haben, im
Gegensatze zu der planlosen Beweglichkeit und Geschäftigkeit in
der Manie; einzelne der früher besprochenen eigenartigen Symptome
mischen sich in den Complex der manischen Erscheinungen hinein.
Nicht selten werden dabei allerlei Grössenideen und phantastische
Erfindungen von den Kranken geäussert. Eegelmässig besteht lebhafte
sexuelle Erregung, die sich in Zärtlichkeiten, rücksichtslosen Ent-
blössungen und Masturbation zu entladen sucht. Gewöhnlich
pflegen solche manische Stadien sich an den Stupor anzuschliessen.
In manchen Fällen beobachtet man einen mehrfachen regellosen
454
Vni. Die psychischen Entartungsprocesse.
Wechsel zwischen Starre und Erregung; hie und da kommen auch
Zeiten lebhafter Angst vor. Stets aber können ganz unerwartet
Stunden oder Tage nahezu normalen Yerhaltens sich einstellen, in
denen die Kranken ruhig und zusammenhängend Auskunft zu geben
vermögen, fi-eilich ohne Verständniss für ihre Lage und ihre Krankheit.
Den Ausgang der Katatonie in dem hier abgegrenzten Sinne bildet
regelmässig ein erheblicher Grad von geistiger Schwäche, der
nicht selten bis zu tiefem apathischem Blödsinn fortschreitet. Spätestens
nach 2 — 3 Jahren pflegt dieser Endzustand erreicht zu sein. Auch
die Erregung schwindet allmählich ganz, oder macht sich doch nur
gelegentlich noch in einer gewissen Unruhe, einzelnen Gewaltacten,
lebhafterem Gesticuliren geltend. Das Körpergewicht steigt enonn;
die Kranken werden blühend und corpulent, wenn sich nicht, was
häufig der Eall ist, jetzt oder schon früher phthisische Erkrankungen
entwickeln. Kahlbaum hat die Prognose der Katatonie nicht als so
ungünstig beti-achtet und eine ganze Anzahl von Heilungen berichtet.
Ich möchte jedoch bezweifeln, dass seine Fälle wirklich gleichartig
waren; ausser manchen, wie ich glaube, periodischen Formen hat er
zur Katatonie auch Beobachtungen von Dementia acuta gerechnet,
die nach meiner Auffassung wesenthch anders zu beurtheilen sind.
Alle FäUe mit ausgeprägt katatonischen Erscheinungen, die ich
im Laufe längerer Jahre gesehen habe, sind ausnahmslos in der
oben geschilderten Weise ungünstig verlaufen.
Alle diese Fälle betrafen Personen zwischen dem 19. und 26.
Lebensjahre. Nur bei einer Kranken trat die Psychose erst im Be-
ginne des 4. Decenniums auf, nachdem elf Jahre früher eine vier-
monathche Geistesstörung nicht eruirbarer Art voraufgegangen war.
Auch hier erfolgte der Ausgang in einen Schwachsinn ohne Affect,
ohne Sinnestäuschungen und ohne Wahnideen. Die Katatonie düi-fte
demnach in naher Verwandtschaft zur Dementia praecox stehen, eine
Anschauung, welche durch die Häufigkeit katatonischer Andeutungen
bei dieser letzteren Psychose, sowie durch das Vorkommen gewisser
Uebergangsfälle zwischen beiden Formen noch mehr gestützt wird.
Das weibliche Geschlecht scheint mir ein leichtes Uebergewicht zu
haben. Erbüche Praedisposition war etwa in der Hälfte der Fälle vor-
handen; die sonstige Veranlagung der Kranken Hess meist keine auf-
fallenderen Eigenthümlichkeiten erkennen. Mehrfach waren dem Aus-
bruche der Krankheit heftige Gemüthserschütterungen vorangegangen.
Katatonie.
455
Die Diagnose der Katatonie hat durchaus das klinische Gre-
sammtbild zu berücksichtigen, die subacute Entwickelung der eigen-
artigen, aus Negatirismus und Stereotypie, aus Suggestibilität und
Impulsivität zusammengesetzten Gruppe von Erscheinungen nach
einer einleitenden psychischen Depression. Einzelne Grlieder aus
dieser Reihe, namentlich die Katalepsie, kommen bei den ver-
schiedensten Psychosen gelegentlich zur Beobachtung. Der kata-
tonische Symptomencomplex scheint demnach, cähnlich wie der
manische oder melancholische, nur das Zeichen eines gewissen all-
gemeinen Himzustandes zu sein, der sich am ausgeprägtesten gerade
bei einem bestimmten, zum Schwachsinn führenden und in jugend-
lichem Lebensalter auftretenden Krankheitsprocesse entwickelt. Am
meisten ähneln der Katatonie symptomatisch gewisse Fälle von Para-
lyse, bei denen alle oder nahezu alle charakteristischen Erscheinungen
Torhanden sein können. Ausser dem höheren Lebensalter und der
verschiedenartigen Entwickelung der Krankheit werden hier die
körperlichen Störungen, die besonderen psychischen Veränderungen
der Paralytiker und der weitere Yerlauf entscheiden. Ebenso wird
auch der Verlauf und das Fehlen der eigenartigen Bewegungs-
stereotypen die Abgrenzung gewisser periodischer Erkrankungen
gestatten, welche zeitweise katatönische Zustandsbüder darbieten
können. Die acute Demenz unterscheidet sich von der Katatonie
durch die tiefgreifende Verworrenheit und die deutlichen Anzeichen
der psychischen Lähmung im Gegensatze zu der Besonnenheit und
gelegentlichen Activität bei dieser letzteren Psychose. Für die
Melancholia attonita und die stuporösen Formen des Wahnsinns
entscheidet namentlich der . dauernde ängstliche Affect, für die
katatonische Paranoia das Bestehen eines allmählich ausgebildeten
"Wahnsystems.
Die Behandlung der Katatonie hat unter Umständen recht
schwierige Aufgaben zu lösen. Die Bekämpfung der Nahrungs-
verweigerung erfordet bisweilen Sondenfütterung, diejenige der kata-
tonischen Erregung Narkotica, Schlafmittel, Bäder, Einwickelungen
u. dergl., freilich Alles meist mit geringem Erfolg. Gewöhnlich
schwinden die bedrohlichen Symptome eines Tages ganz von selbst,
nachdem man sich lange vergeblich bemüht hat, sie zu beseitigen.
Dennoch habe ich eine Kranke unter starker Temperatursenkung
(33,80) trotz enormer Essgier einfach an höchster körperlicher Er-
456.
Vm. Die psychischen Entartungsprocesse.
Schöpfung , ZU Grunde gehen sehen, da aUe Versuche gescheitert
waren, den sinnlosen, zwangsmässigen Bewegungsdrang zu beseitigen.
Sorgfältige chirurgische Berücksichtigung erfordern in den Auf-
regungszuständen die häufigen Verletzungen, welche leicht zu In-
fectioneii . führen können.
C. Die Dementia paranoides.
Mit der hier zum ersten Male gebrauchten, vorläufigen Be-
zeichnung der Dementia paranoides sei es uns gestattet, jene eigen-
thümlichen Krankheitsfälle zu charakterisiren, welche nach'schneller
Entwickelung gänzlich unsinniger, verworrener Ver-
folgungs- und, Grössenideen ohne ausgeprägtere Affect-
schwankungen überraschend früh in Schwachsinn über-
gehen. Die Zahl derartiger, meist zui^ Paranoia gerechneten-
Beobachtungen ist eine ziemlich grosse, doch ist dieses Gebiet der
klinischen Psychiatrie noch sehr wenig durchforscht, so dass wir uns
einstweilen mit einer kurzen SMzzirung der wichtigsten uns hier
begegnenden Erfahrungen begnügen müssen.
Wir fassen dabei zunächst die Fälle mil überwiegender Aus-
bildung von Verfolgungsideen ins Auge. Die Krankheit pflegt
mit den allgemeinen Erscheinungen einer leichten Verstimmung,
Schlaflosigkeit, innerer Unruhe, Unlust zui- Arbeit zu beginnen.
Meist sind jedoch diese Symptome so unbestimmter Art, dass sie
von der Umgebung kaum beachtet, sondern erst nachträglich als
krankhaft erkannt werden. Dennoch ist schon im Verlaufe weniger
Monate unvermerkt eine derartig tiefgreifende Umwälzung in dem
gesammten Seelenleben der Kranken eingetreten, dass dieselben bei
scheinbar klarem Verstände die unnatürlichstea und folgenschwersten
Handlungen begehen können. Eine meiner Kranken brachte ihren
Kindern schwere Verletzungen bei, ixm ihnen durch den Tod das
nach ihrer Meinung gefährdete Seelenheil zu verschaffen; eine Andere
erschlug fast ihren ruhig schlummernden Mann, um ihn von seinen
Leiden zu erlösen, da ihr der Gedanke kam, er liege im Sterben.
Es zeigt sich somit sehr bald eine ganz merkwürdige Schwäche des
Urtheils, die besonders deutlich in den nunmehr auftauchenden
Wahnideen erkennbar ist. Das Vieh frisst nicht mehi- me £i-üher,
ist verhext; der Mann ist verändert, hat keinen rechten Glauben
Dementia paranoides.
457
mehr; in den Speisen ist Grift. Alles ist Blendwerk; das "Weltende
steht vor der Thür; der Pfarrer ist todtgeschlagen und eingegraben
Avorden. Es werden nächtliche Einspritzungen vorgenommen, die
Muttergefühle herausgedreht, die Nerven ausgerissen; der Leib wird
bis in den Hals hinein durchsucht, am After gezupft, das Blut aus-
gedörrt, das Fleisch vom Körper abgemacht, che Gedanken gelesen,
das Gesicht verzerrt und heimlich photographirt. Die Kranken sind
von den „Sozonalisten" ausgeschrieben, werden von der Fabrik, von
der Kirche mit einem Ead lebendig herausgeschmissen, von boshaften
Menschen abgemartert.
Dazu gesellen sich häufig einzelne Grösse nideen. Eine Kranke
meinte, sie habe sollen dem Kaiser seine Frau machen, könnte beim
Kronprinz sein, wenn sie wollte^ habe mit zwei jungen Pferden die
Kaiserpost aufgemacht; eine andere hielt sich für eine Fürstin. Meist
bestehen auch Gehörstäuschungen. Alle schwätzen aus der Wand;
durch das Telephon wird das ganze Land aufgemacht; es sind
Männer im Hause; es ist eine Listigkeit und Heimlichkeit hinter dem.
Kranken; er ist in ganz Deutschland als Spion bekannt gemacht.
Alle diese ungeheuerlichen Ideen werden von dem Kranken
vollkommen ruhig, aber nicht in zusammenhängender Erzählung,
sondern in einzelnen, abgerissenen, barocken Aeusserungen vor-
gebracht. Meist sind die Kranken ziemlich einsilbig, sprechen wenig,
zeitweise, vielleicht gar nicht, geben über ihre persönlichen Ver-
hältnisse kurze, zutreffende Antworten, verblüffen dann aber plötz-
lich durch die ruhige Selbstverständhchkeit, mit der sie den voll-
endetsten Unsinn vorbringen, die abenteuerlichsten "Widersprüche
festhalten und jeden Einwand durch eine neue Absurdität ent-
waffnen. Dabei sind sie dauernd besonnen, fassen die an sie ge-
richteten Fragen auf, vermögen sich, abgesehen von ganz vorüber-
gehenden Störungen, über ihre Umgebimg zu orientiren. Ein gewisses
dumpfes Krankheitsbewusstsein, meist wol mit hypochondrischer
Färbung, scheint im Beginne öfters vorhanden zu sein ; die Kranken
klagen über Schwäche, Hinfälligkeit, Zittern in den Beinen, Er-
schwerung des Denkens. Eine wirkhche Einsicht in che Krankheits-
erscheinungen fehlt dagegen stets vollkommen.
Die Stimmung der Kranken ist meist gleichgültig, theilnahm-
los, ■ in auffallendem Gegensatze zu dem aufregenden Inhalte ihrer
"Wahnideen. Zeitweise jedoch kommt es zu plötzlicher Gereiztheit
458
VIII. Die psychiecheu Entartungsin-ocesse.
mit der Neigung zu äusserst rücksichtslosen GeAvaltacten. Die Kranken
werden brutal gegen einen Mitpatienten, weil er sie am Gesichte
gezupft, einen grossen Verlust am Körper gemacht, als falsches Auge
geleuchtet hat. Eine meiner Kranken machte Nachts gefährliche An-
griffe auf die Wäi-terinnen, weil sie ihr mit der Wachuhr den Leib
herausrissen. Auch Zeiten fi'eudiger Gehobenheit mit sexueller Er-
regung oder ängstliche Verstimmung werden hie und da beobachtet.
Das Benehmen der Kranken ist im Allgemeinen geordnet,
doch kommen einzelne Sonderbarkeiten vor, übereifriges Beten,
nächtliches Aufstehen, Herumrücken mit der Bettstelle, unmotivirtes
Lachen, Queruliren, plötzliches Schimpfen oder Zerstören. Zu regel-
mässiger Beschäftigung sind sie meist nicht zu bewegen, liegen
vielfach tagelang im Bette oder auf den Bänken herum, ohne das
Bedürfniss nach einer Thätigkeit zu empfinden. Ihre Ausdrucks-
weise pflegt allmählich eine eigenthümlich fremdartige zu werden.
Sie bilden neue "Worte und Wendungen, die entweder gar nicht
oder nur dem ungefähren Sinne nach verständlich sind, auch auf
Befragen von ihnen durchaus nicht erläutert werden. In diese
Kedeweise verfallen sie sofort, sobald sie das Gebiet der concreten
Erfahrungen ihrer gesunden Vergangenheit verlassen.
Weit häufiger, als die bisher beschriebene Form, sind die Eälle
mit üppig wucherndem, verworrenem Grössenwahn. Auch
hier pflegt die Krankheit zunächst durch Verfolgungsideen einge-
leitet ZU' werden. Der Kranke wird zerstreut, abgespannt, reizbar,
klagt über Kopfschmerzen, Mattigkeit, allgemeines Unbehagen, tiitt
nach einiger Zeit mit der Behauptung hervor, dass man ihn überall
scharf beobachte, eigenthümliche Fragen an ihn richte, gegen ihn
intiiguire, ihn vergiften wolle, alle seine Gedanken offenkundig
mache. Ungemein rasch gewinnen diese Vorstellungen einen dui-ch-
aus absurden Inhalt. Ein junger Offizier erzählte schon wenige
Monate, nachdem die ersten Veränderungen bei ihm wahrgenommen
waren, sein Arzt habe ihm den Kopf abgeschnitten, den Leib ge-
öffnet, die Gedärme herausgenommen; er habe einen Pferdefuss
bekommen. Nachts werden mephitische Dämpfe ins Zimmer gelassen,
die Genitalien aus dem Leibe gezerrt, Schröpfköpfe angesetzt; es
wird Magie angewandt, mit Magneten eingewii'kt. Die Kranken sind
dabei verstimmt, ängstlich, missti-auisch gegen ihre Umgebung, zeit-
weise auch benommen, unruhig, sitophobisch.
Dementia paranoides.
459
Ganz plötzlich stellen sich nun auch zerfahrene G-rössenideen
ein. Ein Briefträger, der bis dahin noch mit Unterbrechungen
Dienst getlian hatte, unterschrieb eines Tages ein amtliches Schrift-
stück als „Generalfeldmarschall", verlangte Helm, und Generals-
uniform, bezeichnete sich als den Sohn Kaiser "Wilhelms und er-
kannte an den Fingernägeln seines Yorgesetzten, dass derselbe sein
Bruder sei. Unaufhaltsam vollzieht sich die Production des blühend-
sten und unsinnigsten Grössenwahnes ohne Mass und Ziel. Der
Kranke ist vertauschtes Kind, Graf Eberstein, Monarch, Maria
Theresia, nach der Weltordnung Kaiserin von Frankfurt, Ideal der
Frauenwelt, allerheiligste Göttin, Präsident von Amerika aus Ham-
burg, Kaiser von Deutschland, Pius IX. und Leo XIE. in einer
Person, ist Jesasus Christasus Heilandasus, „Sinngott", Arzt, Dichter,
Entdecker, Universalgenie, Perle und Inbegriff des Weltalls; er weiss
Alles, kann Alles, gebietet über Alles. Er stammt Yom Herzog von
Brabant, von den Propheten ab, dem ersten Abglanz der Sonne,
ist gar nicht auf natürliche Weise zur Welt gekommen, wurde im
Amazonenstrom aufgefischt, aus Blut und Speichel zusammengerieben,
hat schon viele Male gelebt, die fabelhaftesten Dinge durchgemacht,
alle historischen Begebenheiten geleitet, alle Kriege geführt, ist durch
Himmel und Hölle geflogen; er war selber Alexander und Cäsar,
Mahomet und Luther, Goethe und Humboldt. Zehnmal wurde er
geboren, ist 50 mal gestorben, immer durch Aufsetzen eines frischen
Schädels wieder neu belebt, durch Gipsverbände klein gezogen
worden; er hat die schönsten Weiber, unzählige Kinder, besitzt die
Afrikanermethode des Lebens; da kann man gar nicht sterben.
Das Eeich Gottes ist auf ihn herniedergekommen, sein Gedäcbt-
niss bis in die Wolken ausgebildet worden; durch ihn werden die
Jahrhunderte belohnt und Deutschland befreit. Der liebe Gott hat
ihm Alles gezeigt; er kann Yulkane essen, trägt sein Gehirn auf
der Schulter, hat sich unserm Herrgott als Wildsau zur Verfügung
gestellt. Er besitzt die prachtvollsten Schlösser in fremden Welt-
theilen mit selbsterfundenen vninderbaren Namen, wo er von Geistern
bedient wird, grossartige Ländereien auf der Sonne, auf den Sternen,
ein unermessliches Yermögen; er wird die Prinzessin heirathen, den
Glaubenskampf durchkämpfen, die Welt erlösen auf Krieg, als oberste
Herrin eingesetzt werden, ist Braut des Kaisers Augustus, als fran-
zösischer Fahnenträger aufgestellt, weiss, was die Fahnen bedeuten.
4^0
VIII. Die psychischen Entartungsprocesse.
die von der Gedächtnisskrönimg auf ihn Bezug haben; es ist ein-
Wunder, wie es nicht mehr in dem Jahrhundert vorkommt.
Entsprechend diesem ungeheuerlichen, vielfach an die Dementia
paralytica erinnernden Grössenwahn gestalten sich auch die nebenher
laufenden Verfolgungsideen. Entsetzliche Kämpfe hat der "Kranke
schon mit feindlichen Mächten zu bestehen gehabt von Anbeginn
der Welt; 2000mal ist er vergiftet, mit Höllenmaschinen in die Luft
gesprengt, auf den Geist getödtet worden; unzählige Geschosse haben
seinen Leib durchbohrt. Seine Glieder sind ihm abgehauen, der Kopf
vom Eumpfe getrennt worden; der ganze Leib wurde eingeschmolzen,
die Genitalien verstümmelt, aber wie der Phönix aus der Asche
hat sich der Kranke aus allen diesen Unfällen triumphirend wieder
erhoben, seinen Körper selbst neu aus imzerstörbarem Stoffe wieder-
hergestellt und seine Widersacher zerschmettert.
, Eegelmässig sind zahlreiche Sinnestäuschungen vorhanden.
Die Kranken sehen Geister, Gespenster, Männerköpfe mit Blut; Engel
steigen vom Himmel herab; der liebe Gott, Kaiser Wilhelm in Gala-
uniform erscheint ihnen, von Fahnen und Sternen umgeben. Sie
sprechen alle Tage mit dem lieben Gott, werden nach Befehl vom
Telegraphen zum Jesus Christus von Oesterreich ernannt; die
Herzensstimme spricht von Macht und Reichthum, die Ohrenstimme
sagt Gönnersprüche. In der Nacht, im Traume unternehmen die
Kranken wunderbare Reisen über die ganze Erde, auf herrüchen
Schiffen, in die schönsten Marmorsäle, ja durch das Weltall, zum
Erdtheil hinter dem Monde, haben nächtlichen Umgang mit Prin-
zessinnen. „Ich bin weit draussen, wenn ich gleich in der Irren-
anstalt bin," sagte mir ein Kranker, „und habe nicht nöthig, Selbst-
befriedigung zu treiben.'^
All dieser sinnlose Gallimathias wird von dem Kranken in ge-
läufiger Rede vorgebracht, oft auch in bogenlangen, mu in gi-ossen
Zügen verständlichen Elaboraten niedergeschrieben. Meist ist es
schwierig, dem einmal entfesselten Redestrom Einhalt zu thun.
Gleichwol besteht kein Rededrang und keine Ideenflucht; der Kranke
schweift nicht planlos ab, hält an seinem bestimmten Gedankengange
fest, spricht auch meist nicht ohne Anlass und ohne Zuhörer. Bei
längerer Bekanntschaft mit ihm bemerkt man, dass gewisse Wend-
ungen und Yorstellungen häufig wiederkehren, namentlich wenn
die anfängliche Productivität allmählich nachlässt.
Dementia paranoides.
461
Jeder Hinweis auf die völlige Ungereimtheit und Zusammen-
hangslosigkeit der von ihm geäusserten Ideen prallt an dem' Kranken
machtlos ab, vermag ihn höchstens in gereizte, ärgerliche Stimmung
zu versetzen. Trotzdem laufen häufig Aeusserungen mit unter, diö
auf ein gewisses Ki-ankheitsgefühl hinzudeuten scheinen. „Es kann
schon sein, dass ich geisteskrank bin", sagte mir ein Kranker; „ich
weiss eben so gar nichts mehr von mir". Ein Anderer erzählte, wie
er im Beginne der Krankheit „einen Euck im Gedächtniss" verspürt
habe. „Die TJebernahme ist durch die Kopfkrankheit und das an-
gespannte Gedächtniss erfolgt"; „Sie haben ja gar keine Ahnung,
wie viel in meinem Kopf vorgeht; ich meine oft, er müsste mir
zerspringen."
Das Bewusstsein der Kranken ist in einzelnen Fällen ziemlich
klar, meist aber etwas getrübt, namentlich nach längerer Dauer der
Psychose. Sie wissen zwar häufig, wo sie sich befinden, fassen ein-
fache Anreden auf und geben über ihre persönlichen Yerhältnisse
auf eindringliche Fragen richtige, wenn auch mit unsinnigen Zu-
sätzen verbrämte Antworten. Ihre nächsten Angehörigen erkennen
sie regelmässig, bisweilen auch einzelne Personen ihrer späteren
Umgebung. Fast überall jedoch besteht die Neigung, Fremde mit
irgend welchen historischen oder selbsterfundenen Namen zu be-
legen oder sie mit früheren Bekannten zu identificiren. Die Aerzte-
sind verkappte hohe Staatsbeamte , die Mitpatienten der Kronprinz,
Makart, Eichard "Wagner; ein neu eintretender Kranker wird als
hoher Potentat begrüsst. Die Auffassung der wirklichen Personen
ist dabei oft eine ganz unklare und verschwommene; eine meiner
Kranken fragte noch nach jahrelangem Anstaltsaufenthalte den ein-
tretenden Arzt regelmässig: „"War der Herr schon einmal da?"
Bisweilen erscheint dem Kranken jede neue Person als alter
Bekannter, nicht weil er sie einfach verkennt, sondern weil sich an
den neuen Eindruck eine Menge von Erinnerungsfälschungen
anschliessen. Ihm fällt sofort ein, dass er mit dem betreffenden
Herrn früher schon Jahre lang zusammen gelebt, mit ihm auf dem
Monde gejagt hat, von ihm geköpft worden ist. Diese Art der
Person enverkennung ist offenbar nur eine Theilerscheinung der hier
bestehenden Neigung zu traumhaft üppiger, zügellos freier phan-
tastischer Erfindung.
Die Intelligenz der Kranken leidet stets rasch und sehr be-
462
Vm. Die psychischen Entartungsprocesse.
trächtlich. Zwar haften im Anfange manche der früher erworbenen
Kenntnisse noch leidlich gut, aber sehr bald geht die Fähigkeit zu
irgend geordneten geistigen Leistungen mehr und mehr verloren.
Die Kranken vermögen längeren Auseinandersetzungen nicht mehr
zu folgen, haben weder Interesse noch Yerständniss für Leetüre,
mischen in ihre mündlichen und schriftlichen Aeusserungen sogleich
ihre verworrenen, wahnhaften Abschweifungen. Einer meiner Kranken
schrieb eine Anzahl von Briefen an gar nicht existirende Personen
mit erfundenen Adressen ohne irgend eruirbaren Zweck.
Die Stimmung ist regelmässig eine gehobene. Die Kranken
sind sehr selbstbewusst, hochfahrend, anspruchsvoll, betrachten sich
als die Hauptpersonen, verlangen besondere Berücksichtigung. Manche
Kranke zeigen dauernd eine gewisse Unruhe und grosse gemüth-
liche Eeizbarkeit. Sie gehen hastig auf und ab, poltern des Nachts
mit ihi-en Möbeln, kleiden sich indecent, zerkratzen sich, haben
Neigung zum Schimpfen und zu gewaltthätigen Handlungen bei
geringfügigem Anlass. Lebhafte sexuelle Erregbarkeit ist ebenfalls
sehr häufig.
Li anderen Fällen ist das Benehmen der Kranken äusserlich
geordnet, so dass sie sogar zu allerlei mechanischen Beschäftigungen
heranzuziehen sind, doch pflegen sie dabei sehr launisch und
wetterwendisch zu sein. Ihre Sprache wird nach und nach dunkel
und schwer verständlich, namentlich durch das Einmischen selbst-
erfundener Ausdrücke und Wendungen, die allmählich stereotyp
zu werden und sich häufig zu wiederholen pflegen. Bisweilen
kommt es zu einer barocken Häufung von Superlativen, indem die
Kranken mit Aufgebot aller sprachlichen Hülfsmittel ihre aUer-
herrlichsten geistigen Vorzüge wie die allergrässlichsten Martertode
zu schildern suchen, die sie täglich und stündlich zu erleiden haben.
Auch die Schriftzüge werden verschnörkelt, gross, anspruchsvoll, so
dass schliesslich unter Umständen wenige Buchstaben oder Worte
die Bogenseite füllen. Auf diese Weise entstehen dann jene ge-
waltigen Bündel von Eingaben, Aufrufen, Erlassen, in denen der
Kranke unter zahllosen Wiederholungen seine verworrenen Grössen-
und Verfolgungsideen niederlegt.
Auffallendere körperliche Störungen sind gewöhnlich bei den
Kranken nicht zu bemerken. Der Appetit kann wol w-ährend der
ersten Zeit^in Folge von Vergiftungsideen leiden, ist aber später
Dementia paranoides.
463
meist vortrefflich. Der Schlaf wird zeitweise durch nächtliche
Unruhe gestört. Das Körpergewicht zeigt nur unregelmässige
Schwankimgen ; meist gewinnen die Kranken sehr bald ein blühendes
Aussehen. Einige Male konnte ich eine sehr bedeutende Erhöhung der
yasomotorischen Erregbarkeit beobachten, intensives Erröthen bei den
leisesten Gemüthsschwankungen, schon beim einfachen Sprechen.
Der gemeinsame Verlauf der im Yorstehenden beschriebenen
Krankheitsformen ist der rasche Uebergang in unheilbaren
Schwachsinn. Die Kranken der ersten Gruppe werden dabei nach
und nach immer stiller, stumpfer und theilnahmloser, so dass sich
die Fortdauer der Störung wie eines gewissen psychischen Lebens
überhaupt schliesslich bisweilen nur noch in gelegentlichen, rasch
vorübergehenden Erregungsausbrüchen kundgiebt. Solche Zeiten
grösserer Reizbarkeit kehren häufig in ziemlich regelmässigen
Zwischeni'äumen wieder, namentlich in Verbindung mit den Menstrual-
perioden. Die zuletzt geschilderten Kranken pflegen geistig regsamer,
productiver zu bleiben, aber sie sind darum nicht minder schwach-
sinnig. Ihre weitschweifigen Eeden werden allmählich zu völlig zu-
sammenhangslosem Gefasel; die Affectschwankungen gehen mehr und
mehr in einer gleichmässigen kindischen Euphorie unter; das ganze
Thun und Treiben wird zerfahren und planlos, Gleichwol kann
bisweilen trotz tiefgreifender geistiger Invalidität noch eine gewisse
mechanische Correctheit in der äusseren Haltung dauernd fortbestehen.
Die Schnelligkeit, mit welcher die Verblödung zu Stande kommt,
ist nicht immer die gleiche. In manchen Fällen wird man schon
nach wenigen Monaten von den deutlichen Zeichen der geistigen
Schwäche überrascht, während bei andern Kranken selbst 1 — 2 Jahre
vergehen können, bevor die Affectlosigkeit, mit welcher die un-
geheuerlichsten Wahnvorstellungen vorgebracht und festgehalten
werden, den endgültigen Zusammenbruch der kritischen Leistungs-
fähigkeit klarstellt. Die Ursachen für diese Verschiedenheiten dürften
zum Theil wenigstens in der grösseren oder geringeren Widerstands-
fähigkeit der einzelnen Personen gegenüber dem Krankheitsprocesse
zu suchen sein. Sicherlich spielt hier die ursprüngliche Veranlagung
eine gewisse Rolle, namentlich auch der Grad der erblichen Entartung.
Von Wichtigkeit ist femer das Lebensalter der Ki-anken.
Etwa zwei Drittel meiner Patienten standen im 3., der Rest im
4. Decennium. Die Dementia paranoides entwickelt sich somit gern
464
Vlll. Die psycliischen Entartungsproeesse.
■während oder bald nach der Jugendblüthe und dürfte in näheren
Beziehungen zu den hebephrenischen Erkrarikungen stehen, rait
denen sie die Entwickelung abenteuerlicher "Wahnideen und den
raschen Verlaui in Schwachsinn gemein hat. In der That schien
mir bei den früh beginnenden Fällen der Dementia paranoides
durchweg die Yerblödung schneller und weiter fortzuschreiten, als
bei den in reiferem Alter einsetzenden Erkrankungen, sei es, dass
der frühere Beginn schon als Anzeichen einer schwereren Ent-
artung zu betrachten ist, sei es, dass beim voll entwickelten Indi-
viduum eine gTössere Widerstandsfähigkeit besteht. Jedenfalls ist
es erklärlich, dass wenigstens der gedächtnissmässige Niederschlag
der bisherigen Lebensarbeit, der Schatz stereotyp gewordener Be-
griffe, Vorstellungsverbindungen und "Willen sreactionen, um so lang-
samer der krankhaften "Vernichtung anheimfällt, je länger er Zeit
gehabt hat, sich zu fixiren. Von Interesse ' ist es, dass hier bis-
weilen mehrere oder selbst viele Jahre vor dem eigentlichen
Ausbruche der Krankheit einzelne rasch verlaufende manische Auf-
regungszustände mit Grössenideen und oft auch Sinnestäuschungen
beobachtet werden, welche an die Krankheitsbilder des periodischen
Irreseins erinnern. Ein unmittelbarer Zusammenhang dieser friiheren
Psychosen mit der Dementia paranoides lässt sich meist nicht er-
weisen; vielmehr scheint sich in ihnen nur jene schwere psycho-
pathische Veranlagung auszudrücken, welche weiterhin das Auftreten
des von "Wahnbildungen begleiteten Verblödungsprocesses begünstigt.
Nach den vorstehenden Erörterungen wäre die Dementia para-
noides als ein der Hebephrenie ganz analoger, nur in späterem
Lebensalter oder auf etwas widerstandsfähigerem Boden sich ab-
spielender Krankheitsprocess aufzufassen. Die üppige Production von
bunten "Wahnideen, der wir bei diesem letzteren so häufig begegnen,
könnte dahin gedeutet werden, dass die Phantasiethätigkeit hier
längere Zeit die Vernichtung der kritischen Hemmungen des Ver-
standes überdauerte, während wir bei der Hebephrenie beide
Functionen gleichzeitig schwinden sehen. Vielleicht ist es übrigens
nützlich, darauf hinzuweisen, dass ja auch bei der Dementia para-
lytica neben den Formen mit luxuriirender "Wahnbildung die wahr-
scheinlich viel zahlreicheren FäUe einhergehen, in denen die ein-
fache fortschreitende Verblödung nur ganz episodisch oder gar nicht
von "Wahnvorstellungen begleitet wird.
Dementia paranoides.
465
Eine fein durchgeführte Unterscheidimg der Dementia para-
noides von der ersten Hauptform der psychischen Entartungsprocesse
hat daher kaum mehr, als scheraatischen Werth. In die hier be-
sprochene Gruppe habe ich alle diejenigen Fälle einbezogen, bei
denen die Wahnideen sehr stark hervortraten oder durch längere Zeit-
räume gleichmässig festgehalten vrurden. Die Fortdauer einzelner oder
massenhafter verworrener Wahnideen im Stadium vorgeschrittenen
Blödsinns lässt auch die Ausgangszustände dieser Formen noch mit
ziemlicher Sicherheit von denjenigen der Dementia praecox ab-
grenzen, bei denen wir einfache geistige Schwäche höheren oder
geringeren Grades ohne jene üeb erbleib sei früherer Wahnbildungen
anzutreffen pflegen. Gegenüber den langsam entstehenden, fast
stationären Wahnsystemen der Paranoia ist auf die rasche Ent-
wickelung der Psychose, die Unsinnigkeit und Zusammenhangs-
losigkeit des Wahns, seine Yeränderlichkeit und den Ausgang in
baldige Verblödung hinzuweisen. Freilich werden diese Formen
heute noch der Paranoia zugezählt. Ihre häufige Entwickelung aus
anfänglichen Depressions- oder Exaltationszuständen dürfte wesent-
lich mit dazu beigetragen haben, die alte Annahme einer „secundären"
Entstehung der Paranoia zu stützen.
Mit dem paralytischen Grössenwahn können manche Fälle der
Dementia paranoides zeitweise sehr grosse Aehnüchkeit haben, da
beiden Erkrankungen die Schwäche des Urtheils bei lebhafter Reg-
samkeit der Phantasie eigenthümlich ist. Abgesehen von dem durch-
schnittlich jüngeren Lebensalter und dem Fehlen der sonstigen
psychischen (Gedächtniss) und nervösen paralytischen Störungen,
wird der weitere Verlauf, das gleichmässige Fortbestehen der Wahn-
bildung durch längere Zeit hindurch unsere Kranken allmählich er-
kennen lehren. Den progressiven Formen des hallucinatorischen Wahn-
sinns steht die Dementia paranoides sehr nahe; ich halte es sogar für
möghch, dass es sich in beiden Krankheitsbüdern um einen und
denselben Process handelt, welcher nur dort mehr mit' den Anzeichen
der acuten Psychose, mit schwererer anfänglicher Depression, deut-
licherer Abgrenzung der Stadien und stärkerem Hervortreten der
Sinnestäuschungen gegenüber der freien phantastischen Wahnbildung
hier verläuft. Weitere Erfahrungen müssen darüber Klarheit bringen,
ob nicht vielleicht die dort geschilderten FäUe in die Gruppe der
Dementia paranoides einfach mit einzubeziehen sind.
Kraepolin, Psychiatrie. 4. Aufl. 30 >
466
Vin. Die psychischen Entartungsprocosse.
Die Behandlung der Dementia paranoides ist eine wesentlich
exspoctative. Die Ki-anken bedüi'fen, weil sie häufig sich selbst
oder noch mehr Anderen gefährlich sind, meist der Ueberwachung
in einer Irrenanstalt; gelegentlich ist hier bei grösserer Reizbarkeit,
Unruhe, Nahrungsverweigerung, Kothverhaltung ein symptomatisches
Eingreifen nothwendig. Späterhin kann es sich nur um möglichste
Erhaltung der noch yorhandenen Arbeitsfähigkeit durch individua-
lisirende Auswahl passender Beschäftigung handeln.
IX. Die allgemeinen leuiosen.
Die gemeinsame Eigenthümliclikeit aller derjenigen Psychosen,
welche sich auf der Grundlage einer allgemeinen Neurose entwickeln,
ist ihre Verbindung mit functionellen nervösen Störungen.
In der Regel ist die in der Neurose sich kundgebende Disposition
des Nervensystems eine angeborene oder doch verhältnissmässig
früh erworbene; seltener wird sie durch von aussen an das Indi-
viduum herantretende Ursachen erst erzeugt. Die Art und Aus-
dehnung der psychischen Störungen steht in naher Abhängigkeit
von dem Charakter der zu Grunde liegenden Neurose, so dass wir
ein neurasthenisches, ein hysterisches und ein epileptisches
(vielleicht auch ein choreatisches) Irresein klinisch von einander
abtrennen können.
A. Das neurastheiiisclie Irresein.
Den Grundzug der Neurasthenie bildet die reizbare Schwäche
des gesammten Nervensystems, Erhöhung der Erregbarkeit
und zugleich leichtere Ermüdbarkeit desselben. Als das normale
Paradigma der Neurasthenie können wir das erste Stadium der
nervösen Ermüdung betrachten, welches ja ebenfalls mit einer er-
höhten Reizbarkeit einherzugehen pflegt. Bei längerer Dauer dieses
Zustandes nimmt zunächst die Eähigkeit zu gleichmässiger Anspannung
der Aufmerksamkeit ab; der Kranke vermag nicht einen und den-
selben Gegenstand längere Zeit hindurch zu verfolgen, sondern
er wird leicht durch irgend welche zufälligen Eindrücke von seiner
Beschäftigung abgezogen. Indem sich gleichzeitig eine allmählicli
immer stärker anwachsende Unlust zu geistiger Thätigkeit überhaupt
einstellt, verliert er das Interesse an der gewohnten Beschäftigung;
30*
468
IX. Die allgemeinen Neurosen.
er wird zerstreut, vergesslich, namentlich in Bezug auf Namen und
Zahlen, und vermag nur noch mit ganz unverhältnissmässiger An-
strengung die Aufgaben zu lösen, welche ihm bis dahin nicht die
geringste Schwierigkeit verursachten.
Unter dem Diucke dieser Veränderungen, des immer deutlicher
hervortretenden Gefühls der mangelnden Leistungsfähigkeit, pflegt
sehr bald die Stimmung in erheblichem Masse zu leiden. Der
Kranke wird aufgeregt, missmuthig, verdriesslich, reizbar, heftig und
ungerecht; er fühlt sich unbehaglich und unbefriedigt von seinem
Berufe und seinen Lebensverhältnissen. Lächerlich kleine Anlässe,
eine Unart seiner Kinder, kleüie geschäftliche Unannehmlichkeiten,
die ihn in gesunden Tagen unberührt gelassen hätten, vermögen ihm
für Stunden und Tage die Laune zu verderben und ihn zu Reactionen
hinzureissen, die er später selber bedauert. Li anderen Fällen da-
gegen bemächtigt sich des Kranken das Gefühl einer unüberwind-
lichen Schlaffheit und Apathie; er verliert die Freude an seinen
liebsten Vergnügungen und vermag sich zu keinem Entschlüsse
mehr aufzuraffen, da ihm Alles gleichgültig geworden ist. Diese
natürlich keineswegs principieUen Verschiedenheiten in dem Ver-
halten des Interesses und der gemüthlichen Eeaction sind es, welche
zur Abgrenzung einer erethischen und einer torpiden Form der
Neurasthenie geführt haben, je nachdem die Erscheinungen der er-
höhten Reizbarkeit oder diejenigen der Erschöpfung mehi- in den
Vordergrund treten. Die erstere scheint mehr durch gemüthliche
Aufregungen, die letztere mehr durch iuteUectuelle Ueberanstrengung
verursacht zu werden.
Gleichzeitig mit diesen psychischen Veränderungen macht sich
stets auch eine Reihe von körperlichen Symptomen bemerkbar.
Zunächst und am intensivsten wird vor Allem der Kopf in llit-
leidenschaft gezogen. Am häufigsten ist es das Gefühl eines dumpfen,
allgemeinen Druckes, welches dem Kranken die Arbeitsfreudigkeit
raubt und in der Regel bei irgend einer Anstrengung sich rasch
bis zum Unerträglichen steigert. Die Localisation dieser Empfindung
ist eine verschiedene. Am meisten scheint dabei die Stirngegond
betheüigt zu sein, ferner die Scheitelhöhe, seltener der Hinterkopf;
bisweilen haben die Kranken das Gefühl eines festen Reifens, der
sich rings um den Kopf spannt, oder des Zusammenpressons von
beiden Seiten her. In anderen Fällen sind es wirkliche Sclimerzen,
NeurastheniscLes Irresein.
469
über welche die Kranken zu klagen haben, bisweilen halbseitiger
(Migräne), häufiger doppelseitiger Natur. Namentlich die Augen-
gegend und das Hinterhaupt sind der Lieblingssitz solcher schmerz-
haften Empfindungen; häufig erweisen sich dann die Austrittsstellen
der Trigeminusäste und des Occipitalis major als auf Druck em-
pfindlich. Nicht selten wird von den Kranken auch das Auftreten
leichter, rasch vorübergehender Schwindelanfälle berichtet. In den
Augen stellen sich bei geringen Anstrengungen lebhafte Schmerzen,
Verschwimmen der Eindrücke und mouches volantes ein (neur-
asthenische Asthenopie).
Aber auch im Bereiche des übrigen Körpers machen sich
eine Reihe von nervösen Störungen bemerkbar. Sehr häufig ist das
Gefühl allgemeiner körperlicher Schwäche und Hinfälligkeit vor-
handen. Der Kranke fühlt sich ermüdet und angestrengt, wenn er
einen kurzen Spaziergang gemacht, ein Schwimmbad genommen hat
oder einige Treppen gestiegen ist. Eine wirkliche Abnahme der
Muskelkraft lässt sich jedoch dabei gewöhnlich nicht nachweisen;
vielmehr scheint es der Mangel an Energie zu sein, welcher den
Kranken schon bei geringen Leistungen zu sehr bedeutenden An-
strengungen zwingt und ihn daher verhältnissmässig leicht ermüden
lässt. Bisweilen werden leichte Zuckungen in einzelnen Muskeln,
besonders des Gesichts, von dem Kranken wahrgenommen, die
ihn sehr beunruhigen; auch über erschwertes Sprechen, leichtes
Stottern wird geklagt, namentlich in grösserer Gesellschaft oder bei
besonderer Gelegenheit. Bei der Untersuchung pflegt der motorische
Apparat keinerlei wesentliche Störungen aufzuweisen; nur starke
fibiilläre Zuckungen in der Zunge sieht man sehr häufig. Auf
sensorischem Gebiete finden sich zahlreiche Anomalien in Form
von schmerzhaften und unangenehmen Empfindungen manuichfachster
Art und Localisation. Längs der "Wirbelsäule werden rieselnde,
schauernde, ziehende Paraesthesien wahrgenommen; in den Beinen,
den Hoden, den Armen stellen sich ausstrahlende oder zuckende
Schmerzen, das Gefühl von Brennen, Jucken, Ameisenkriechen,
Pelzigwerden, Yertauben ein. Objectiv sind Sensibilitätsstörungen
meist nicht nachzuweisen; die Reflexe erscheinen oft etwas erhöht.
Seitens der Circulationsorgane sind es namentlich das Herz-
klopfen, bisweilen auch noch andersartige, nagende oder brennende
Empfindungen am Herzen, welche den Kranken ängstigen. Nicht
470
]X. Die allgemeinen Neurosen.
selten macht sich ihm auch das Gefühl des Klopfens und Pulsirens
im Kopfe und anderen Theilen des Körpers, fliegende Hitze, leichtes
Erröthen, abnorme Trockenheit der Haut oder übermässige Schweiss-
secretion unangenehm bemerkbar. Auf dem Gebiete der Geschlechts-
functionen Avird erhöhte Erregbarkeit, Neigung zu häufigen. Pollutionen
oder psychisch bedingte Impotenz beobachtet. Der Appetit ist meist
gering, der Leib aufgetrieben, die Zunge belegt, der Stuhlgang träge
und nur durch medicamentöse oder mechanische Nachhülfe zu er-
reichen. Bei leerem Magen stellen sich peinliche, nagende Em-
pfindungen ein, die durch Essen sich rasch beseitigen lassen (Heiss-
hunger). Der Schlaf ist fast immer schlecht; die Kranken liegen
sehr lange wach bevor sie einschlafen, oder wachen unter plötzlichem
Zusammenschrecken bald wieder auf. Sie träumen viel und lebhaft
und sind am Morgen nicht erquickt, sondern unsäglich müde und
abgespannt. Erst im Laufe des Tages pflegt sich dann wenigstens
ein Theil ihrer frülieren Regsamkeit wiederherzustellen. Li anderen
Fällen besteht dauernd eine unüberwindliche Schläfiigkeit, die den
Kranken bei der geringsten Anstrengung, selbst in grosser Gesell-
schaft, im Theater zum Einschlafen bringt.
Regelmässig stellt sich im Anschlüsse an den geschilderten,
mehr oder weniger entAvickelten Symptomencomplex ein ausgeprägtes
Krankheitsgefühl ein. Der Kranke empfindet die Yeränderung,
welche sich mit ihm vollzogen hat, und Avenn er auch, namentlich
in Augenblicken missmutlüger Erregung, alle möglichen äusseren Um-
stände dafür verantwortlich macht, so ist er doch darüber vollständig
klar, dass sein Zustand als ein pathologischer betrachtet werden
müsse. Es bemächtigt sich seiner die bange Befürchtung, dass er im
Beginne eines schweren, verhängnissvollen Leidens stehe, und dem
befangenen Blicke bieten sich auch Anhaltspunkte genug zur Be-
gründung dieser Anschauung dar. Auf diese Weise entwickelt sich
jene Störung, Avelche man früher als leichteste Form psychischer
Erkrankung mit dem Namen der Hypochondrie bezeichnete,
während man sie jetzt als eine Theilerscheinung des neurasthenischen
Irreseins kennen gelernt hat. Je nach dem Bildungsgange und den An-
schauungen des Kranken gestaltet sich natürlich diese hypochondrische
Verstimmung verschieden. Meist ist es diejenige Krankheit, welche
dem Patienten am geläufigsten ist und am schrecklichsten vorschwebt,
deren Symptome er an sich zu entdecken glaubt. Ein chronischer
Neura8tlionis(;lies Irresoin.
471
Raebonkatarrh mit starkem Auswurf erscheint ihm als die beginnende
Schwindsucht; einzebie Akneknötchen signalisiren ihm den Ausbruch
der Syphilis, der Bodensatz im Nachtgescliirr eine schwere Nieren-
erkrankung, das Herzklopfen beim Treppensteigen und das Pulsiren
ein Vitium cordis. Die Yergesslichkeit bedeutet dem Mediciner das
Herannahen der Paralyse, der Kopf druck den Hirntumor, die Par-
aesthesien in den Beinen die Tabes.
In der Regel werden diese Ideen, anfangs Avenigstens, von dem
Kranken als unsinnig ziu'ückgeAviesen, aber gerade hier, wo es sich
direct um das eigene Wohl und Wehe handelt, geht am leichtesten
der kritische Widerstand gegenüber der Krankheit verloren. Die
hypochondrischen "Vorstellungen können daher nicht selten die Macht
förmlicher Wahnideen gewinnen und den Kranken in eine hoffnungs-
lose, verzweiflungsvolle Stimmung versetzen, in der er sein Testament
macht und sein Lebensglück für unwiederbringlich verloren hält.
Die leichtesten Formen der Neurasthenie sind überaus häufige
Erkrankungen. Trotzdem wurde eine erschöpfende Kenntniss des
ganzen Krankheitsbildes erst durch Board*) im Jahre 1880 ver-
mittelt, welcher in dem rastlosen Treiben des amerikanischen Lebens
ganz besonders häufig Gelegenheit hatte, die Krankheit zu studiren.
Ohne Zweifel liegen wesentliche Entstehungsbedingungen der Neur-
asthenie, welche durch ihren Namen sehr zutreffend als Erschöpfung
des Nervensystems gekennzeichnet wird, in einer Ueberanstrengung
des Gehii-ns. Namentlich scheint es die mit lebhafter gemüthücher
Erregung, mit grosser Verantwortung verbundene Thätigkeit zu
sein, welche das Zustandekommen der Nem-asthenie in besonderem
Masse begünstigt. Der stille Gelehrte ist ihr in Aveit geringerem
Grade ausgesetzt, als der Kaufmann, der Offizier im Kriege, der Poli-
tiker, der beschäftigte Arzt. Es Hegt daher in der Natur der Sache,
dass vorzugsweise die intelligenteren, lebhafteren und gebildeteren
Individuen den Gefahren der Neurasthenie zugänglich erscheinen.
Frauen mit ihrer gi'össeren geniüthlichen Erregbarkeit und ge-
ringeren Widerstandsfähigkeit sind etwas stärker disponirt, als das
*) Die Nervenschwäche, ihre Symptome, Natur, Eolgezustände iind Behand-
lung, deutsch von Neisser, 2. Aufl. 1883; v. Ziomssen, Klinische Vorträge IV, 2.
1888; Bouvcret, Die Neurasthenie, deutsch von Dornbliith 1893; E. C. Müller,
Handbuch der Neurasthenie. 1893; Löwenfeld. Pathologie und Therapie der
Neurasthenie und Hysterie. 1893.
472
IX. Die allgemeinen Neurosen.
münulicho Geschlecht. Weiterliin ist natiu-lich auch die allgemeine
Lebensweise und die Ernährung von grosser Bedeutung. Ein
überhastetes, unregelmässiges und excedirendes Leben ohne die aus-
reichende Erholung dui-ch Ruhe und Schlaf führt aucli bei weit
geringeren Leistungen viel rascher zur Neurasthenie, als der ge-
regeltere Tageslauf etwa des Beamten und Lehrers.
Es liegt indessen auf der Hand, dass in der Aetiologie der
Neui-asthenie überall neben den von aussen einwirkenden Ursachen
vor Allem die ursprüngliche körperliche und geistige Veranlagung
des Menschen eine ausserordentlich wichtige Rolle spielt "Wahr-
scheinlich ist es bei genügend langer und starker Einwkung ge-
wisser Schädlichkeiten, namentlich der Schlaflosigkeit und dauernder
gemüthli eher Erregung, möglich, schliesslich jeden, auch den wider-
standsfähigsten Organismus neurasthenisch zu machen. Allein von jenen
leistungsfähigen, robusten Naturen, deren Nervensystem mit staunens-
werther Geschwindigkeit und Elasticität alle Schädigungen sofort
wieder ausgleicht, welche ihm durch die unermüdliche Lebensarbeit
zugefügt werden, führt eine continuirliche Reihe von Uebergängeu
lünüber zu solchen Lidividuen, welche sich den Anforderungen des
Lebens schon nach sehr kurzer Zeit nicht mehr gewachsen fühlen,
deren Arbeitskraft schon bei mässigen Leistungen sich rasch und
vollständig erschöpft, und denen daher jede ernstere Ansti-engung
von vornherein durch neurasthenische Nachwehen verbittert wird.
Der gleiche klinische Zustand kann somit im einen Falle durch eine
schwere äussere Schädigung- bedingt ' werden, während wir ihn in
einem andern Falle vielleicht als den einfachen Ausdruck einer un-
zulänglichen Yeranlagung betrachten müssen. So verschieden die
Grade der ursprünglichen psychischen Leistungs- und Widerstands-
fähigkeit sind, so verschieden wird sich naturgemäss auch hier das Yer-
hältniss zwischen den äusseren und inneren Ursachen gestalten müssen.
Die Entwickelung der Neurasthenie ist in der Regel eine
allmähliche, doch kommt es auch vor, dass im Anschlüsse an rasch
eintretende und intensiv wirkende Schädlichkeiten (Schreck; In-
fluenza) der ganze Symptomencomplex ziemlich plötzHch zu seiner
Höhe ansteigt. "Wie es scheint, können diese acut auftretenden
Formen als Uebergang zu den eigentlichen Erschöpfungspsychosen
angesehen werden. Der Verlauf der Krankheit vollzieht sich fast
immer in vielfachen Schwankungen, Besserungen und Verschlimmer-
Nonrasthonisohes Irresein.
473
ungen. Abgesehen von den liäufigen AbendremissioTien, können
sich die Kranken bei besonderem äusseren Anlasse gewöhnlich so-
weit „zusammennehmen", dass die Erscheinungen vorübergehend in
den Hintergrund treten, um allerdings mit dem Nachlasse der An-
spannung gewöhnlich in um so grösserer Intensität zurückzukehren.
Auf der Höhe der Krankheit werden gelegentlich Anfälle heftigster
Beunruhigung und Angst mit der Idee, sofort ,,verrückt" werden
oder sterben zu müssen („Krisen"), beobachtet, ja dieselben können
bisweilen zu impulsiven Handlungen führen, namentlich gegen die
eigene Person. Ganz besonders charakteristisch für die Neurasthenie
ist auch ein "Wechsel der Symptome. Bei längerer Dauer der
Krankheit können die spinalen Symptome der „Myelasthenie" in
raannichfachster "Weise durch diejenigen der „Phrenasthenie" abgelöst
werden und umgekehrt.
Die Prognose der Neurasthenie ist sehr wesentlich davon ab-
hängig, ob sich die Krankheit im Anschlüsse an äussere Schädlich-
keiten oder auf der Basis einer psychopathischen Prädisposition ent-
wickelt hat Im ersteren Falle kann man nach Beseitigung der
Ursachen die krankhaften Symptome rasch und vollkommen sich
verlieren sehen. Wo aber diese letzteren einfach auf dem Boden
einer unzulänglichen nervösen Constitution erwachsen sind, da wird
sich naturgemäss die Beseitigung der Krankheit sehr viel schwerer
und langsamer erreichen lassen, und überdies wird die Gefahr eines
EückfaUes immer von Neuem zu befürchten sein.
Die Abgrenzung der Neurasthenie von manchen anderen
Krankheitsfoi-men ist in prognostischer und therapeutischer Beziehung
von hervorragender Wichtigkeit. Zunächst kommt man häufig in
die Lage, sich darüber Gewissheit verschaffen zu müssen, dass die
hypochondrischen Befürchtungen des Kranken nicht objectiv be-
gründet sind. Das Ausschliessen der Tabes ist bei Beachtung der
Reflexe, der Pupillen und des Romberg 'sehen Zeichens in der
Regel sehr leicht; dagegen kann es ernste Schwierigkeiten bereiten,
hinsichtlich der Gefahr einer beginnenden Paralyse ein endgültiges
ürtheü zu gewinnen. Nur die grössere Besonnenheit der Kranken, der
Mangel einer greifbaren Gedächtnissstörung trotz ihrer Klagen darüber,
das Pehlen aller objectiven nervösen Symptome (Pupillendifferenz, Anal-
gesie, Anfälle) kann hier bisweilen den Arzt über die neurasthenische
Nahir des vielleicht sehr verdächtigen Krankheitsbildes aufklären.
474
IX. Die allgemeinen Neurosen.
Sehr häufig wird auch das depressive Vorstadium anderer
Psychosen mit neurasthenischen Zuständen verwechselt. Indessen
der Neurastheniker ist verstimmt und reizbar, weil er merkt, dass
seine geistige Leistungsfähigkeit gestört ist; seine Stimmung wird
freier und leichter, sobald eine äussere Anregung, eine fröhliche
Gesellschaft ihn vorübergehend seine Beschwerden vergessen macht,
oder sobald er, von allen Sorgen und Pflichten seines Berufes ent-
lastet, rückhaltlos Ruhe und Erholung gemessen kann. Dort aber
entsteht das Gefühl der Beängstigung, der Schwere ohne irgend
welche klare Motivirung, und es wird durch Zerstreuungs- und Ab-
lenkungsversuche nicht nur nicht gemildert, sondern im Gegentheil
oft genug bis zum Unerträglichen gesteigert.
Die Behandlung der Neurasthenie bietet der Thätigkeit des
Arztes ein sehr ausgedehntes und ergiebiges Arbeitsfeld. Zunächst
vermag gerade hier die Prophylaxe ausserordentlich viel zu leisten.
Alle jene Bestrebungen, welche darauf hinausgehen, die geistige
üeberbürdung der heranwachsenden Jugend mit todtem Gedächtniss-
material zu bekämpfen und der Sorge für die gelehrte Erziehung
diejenige für die körperliche Ausbildung zur Seite zu setzen, dienen
diesem Zwecke in hervorragendem Masse. Weiterhin aber wird der
Hausarzt Gelegenheit genug haben, durch eine gesundheitsgemässe
Regelung der Lebensweise den Gefahren der Neurasthenie vor-
zubeugen imd namentlich bei den ersten Anzeichen eintretender Er-
schöpfung sofort einzugreifen, weil dann in der Regel leicht ein
Erfolg zu erreichen ist, der später nur mit bedeutenden Opfern
an Zeit und Geld erkauft werden kann. Die erste Aufgabe, welche
hier erfüllt werden müsste und doch nur allzuselten in ausreichen-
dem Masse erfüllt werden kann, ist die Beseitigimg aller jener
schädigenden Einflüsse, welche die Krankheit erzeugten. Entfernung
aus der Berufsarbeit, womöglich auch aus den gewohnten Ver-
hältnissen, Versetzung in eine andere, ruhige und anziehende Um-
gebung wird die wichtigste Vorbedingung einer jeden Behandlung
bilden müssen. Für leichtere Formen genügt oft schon eine ein-
fache Sommerfrische, ein Landaufenthalt oder eine behagliche,
keinesfalls ermüdende Reise ins Gebirge oder an die See, um
ein Ausruhen des überreizten Nervensystems und damit das rasche
Schwinden aller der vielfachen körperlichen und psychischen Be-
schwerden herbeizuführen.
Neurasthenisches Irresein.
475
Bei längerer Dauer und gi-össerer Intensität der Störungen pflegt
die Durchführung einer vorzugsweise diätetischen Cur unter ärzt-
licher Aufsicht vorzügliche Dienste zu leisten. Allen den zahlreichen
NeiTcn- imd Wasserheilanstalten sti-ömen immerwährend zahlreiche
derartige Patienten zu. Ausser der Befi'eiung von den Geschäften
luid Plackereien des täglichen Berufes kommt hier vor Allem die
gesundheitsgemässe Lebensweise als therapeutisches Hülfsmittel in
Anwendung. Die Kranken werden kräftig und reichlich ernährt;
ihre Appetits- und Yerdauungsstörimgen werden mit den gebräuch-
lichen Mitteln, namentlich aber durch systematische, nicht bis zur
Ermüdimg ausgedehnte Spaziergänge bekämpft. Ferner sucht man
durch hydropathische Proceduren, durch Gymnastik, Massage imd
allgemeine Faradisation die Circulation und den Stoffumsatz soviel
wie möglich zu fördern. Unter dem Einflüsse aller dieser Mass-
regeln pflegt sich die öfters stark gesunkene Ernährung stetig und
beträchtlich zu heben. Gleichzeitig bessert sich der Schlaf, die
Stimmung und die Beschäftigungsfähigkeit. Als medicamentöses
Mittel ziu- Bekämpfimg der nervösen Unruhe und zur Erzielung
von Schlaf ist vor allen Dingen und mit gutem Rechte das Brom-
kalium (3 mal täglich 1 — 2 gr, oder eiae abendliche Dosis von
4 — 5 gr) in Gebrauch; nur im Nothfalle wird man vorübergehend
seine Zuflucht zu den eigentlichen Schlafmitteln nehmen. Man hüte
sich vor dem Morphium!
Eine recht wesentliche Bedeutung hat bei neurasthenischen Zu-
ständen fast immer die psychische Therapie. Yielfach kann eine
vorsichtige Suggestivbehandlung den Eintritt gemüthlicher Be-
ruhigung, die Wiederkehr des Schlafes und die Beseitigung mancher
quälender Beschwerden überraschend schnell herbeiführen. Ausser-
dem aber trägt eine aufmerksame, geduldige, aber feste Pädagogik
sicher sehr viel dazu bei, dass der Kranke nach und nach sein stark
erschüttertes Selbstvertrauen und die Herrschaft über seinen Willen
wieder gewinnt. Nach dem Yerschwinden der eigentlichen Krankheits-
symptome bleibt häufig noch eine Herabsetzung der psychischen
Widerstandsfähigkeit bei dem Kranken zurück, welche leicht zu
Rückfällen führt, wenn nicht die Berufsverhältnisse und die Lebens-
weise dauernd derart geregelt werden , dass sie sich der individuellen
Constitution in geeigneter Weise anpassen. Wer die Folgen der täg-
lichen Ai'beit in einer fortschreitenden Abstumpfung seiner Leistungs-
476
IX. Die allgemeinen Neurosen.
fähigkeit empfindet, sollte daher unbedingt wenigstens einmal im
Jahre für einige Wochen aus dem Joche der gewohnten Verhältnisse
sich herausreissen ; nur dann ist er einigermassen sicher, im Kampfe
mit dem Leben nicht immer und immer wieder zu erliegen.
Wenn wir oben darauf hinweisen mussten, dass die psycho-
pathische Veranlagung in der Aetiologie der einzelnen neurasthe--
nischen Erkrankung eine sehr verschieden wichtige Rolle spielt,
und dass sich somit eine strenge Scheidung zwischen erworbener
und angeborener Neurasthenie nicht durchführen lässt, so lehrt die
klinische Erfahrung doch, dass sich die stärkere Betheiligung
der persönlichen krankhaften Veranlagung mehr oder
weniger deutlich in dem klinischen Krankheitsbilde aus-
prägt. Einerseits ist es natürlich der chronische, Constitution eile,
prognostisch ungünstige Charakter der Störung, der hier in Beti-acht
kommt, dann aber sind es immerhin auch einzelne symptomatische
Züge, welche um so stärker und andauernder hervorzutreten pflegen,
je weniger die psychische Veränderung aus äusseren Ursachen und
je mehr sie aus einer krankhaften Veranlagung ihren Ursprung ge-
nommen hat.
Das einfachste der Krankheitsbilder, welche ich in diesem Sinne
für die „angeborene" Neurasthenie in Anspruch nehmen möchte, ist
eine constitutionelle psychische Depression, die von Krafft-
Ebing als „melancholische folie raisonnante" bezeichnet worden ist.
Die gewöhnlich schwer neuropathisch belasteten Kranken sind meist
intellectuell normal und selbst gut entwickelt, aber sie haben von
Jugend auf die unüberwindliche Neigung, allen Lebensereignissen
die düstere Seite abzugewinnen. Sie sind nur empfänglich für die
Sorgen, Mühsale und Enttäuschungen des Daseins, ohne die Fähig-
keit des unbekümmerten, befriedigten Genusses, der rückhaltiosen
Hingabe an die Gegenwart zu besitzen; jeder Augenblick der Fi-eude
wird ihnen durch die Erinnerung an trübe Stunden, durch Selbst-
vorwürfe und noch mehr durch phantasievolle Befürchtungen für
die Zukunft vernichtet. Nur ganz vorübergehend vermag ein äusserer
Anlass sie einmal aus ihrer Verstimmung herauszureissen, ein leb-
haftes Interesse in ihnen anzuregen, allerdings nur, um sie in baldigem
Rückschlag ihre unglückliche Gemüthsverfassung um so stärker em-
pfinden zu lassen. Das Leben, die Thätigkeit ist eine Last, die sie mit
resignirtem Pflichtgefühl oder in galliger Verbitterung gewohnheits-
Neuraathenisches Irresein.
477
massig tragen, ohne durch die Lust an der Existenz, die Freude am
Schaffen entschädigt zu werden. Den Grundzug des Zustandes
bildet das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, der krankhaften
Behinderung oder zwangsmässiger Beeinflussung im Ablaufe der
psychischen und nervösen Leistungen. Geistige Anstrengungen
führen rasch zu erhöhter Keizbarkeit oder unverhältnissmässiger Er-
müdung; die Kranken fühlen sich abgespannt, benommen, erschöpft,
ruhebedürftig, oder erregt, reizbar, unfähig, ihrer eigenen Gedanken
Herr zu werden. Vielfach wechseln Ausbrüche unmotivirter, mass-
loser Heftigkeit, feindseliges Misstrauen, Zanksucht, schroffes Auf-
treten gegen die liebsten Freunde mit energieloser Yerzagtheit,
reuiger Zerknirschung und verzweifelter Selbstquälerei. Gleich-
zeitig bestehen mannichf altige „nervöse" Symptome, wie sie bereits
oben geschildert wurden, namentlich Druck oder Schmerzen im
Kopfe, abnorme Empfindungen in den verschiedensten Partien des
Körpers, Wallungen, Pulsiren, Yibriren, ferner Schlaflosigkeit, Appetit-
mangel, Yerdauungsbeschwerden, Yerstopfung.
Das hier kurz skizzirte Krankheitsbild stellt die allgemeine
Grundlage dar, auf welcher sich die später zu besprechenden Formen
des neurasthenischen Irreseins, aber auch andersartige schwere
Psychosen entwickeln können, und es bedeutet in diesem Sinne
eigentlich nichts Anderes, als eine besondere Art der psychopathischen
Veranlagung. Auf der andern Seite bildet dieser Zustand den
Uebergang zu jenen degenerativen Formen des periodisch-depressiven
Irreseins, welche wir vielleicht mit einer gCAvissen Berechtigung als
regelmässig wiederkehrende Yerschlimmerungen der hier geschilderten
Störungen auffassen können. Endlich aber lernen wir bisweilen in
der eigenthümlich märtyrerhaften Auffassung der eigenen Lage, in
dem hypochondrischen Cultus der Krankheitserscheinungen auch
Andeutungen kennen, welche uns auf die Verwandtschaft der an-
geborenen Neurasthenie mit den hysterischen Zuständen hinweisen.
Die Entwickelung der constitutionellen Depression vollzieht sich
in der Regel langsam, kann aber durch ungünstige Lebensschicksale,
erhöhte Anforderungen an die psychische Leistungs- und Widerstands-
fähigkeit sehr beschleunigt werden. Der Verlauf bietet manchmal
gewisse Schwankungen dar, ist meistens jedoch nahezu stationär.
Die Behandlung folgt den oben aufgestellten allgemeinen Regeln,
pflegt aber, im Gegensatze zu den erworbenen Formen der Neur-
478
IX. üie allgoraeinen Neurosen.
asthenie und zu den "Wundercuren bei Hysterischen, nur unsichere
und vorübergehende Erfolge aufzuweisen.
Als weitere Erscheinungsformen vorzugsweise der angeborenen
Neurasthenie können wir eine Keihe von Zuständen betrachten, deren
gemeinsame Eigenthümlichkeit in dem zwangsweisen Auftreten
unwiderstehlich sich aufdrängender Vorstellungen, Ge-
fühle und Impulse*) besteht. Der Kranke hat die Herrschaft
über seinen BcAvusstseinsinhalt bis zu einem gewissen Grade ver-
loren; er ist nicht mehr im Stande, den Verlauf seiner Vorstellungen
nach inneren Motiven zu lenken und unangenehme Gefühle oder
Antriebe im Entstehen zu unterdrücken. Regelmässig ist dabei
volle Besonnenheit und Einsicht in die Störung, sowie ein bisweilen
äusserst peinliches Gefühl jenes Zwanges und jener Unfähigkeit
vorhanden. Aehuliches begegnet uns ja nicht selten vorübergehend,
wenn wir in Zuständen nervöser TJeberreiztheit, besonders beim
Einschlafen, trotz angestrengtester Bemühungen die immer von
Neuem auftauchenden Gedankenreihen nicht niederzukämpfen ver-
mögen, sondern unter lebhaftestem Unbehagen über ganz gleich-
gültige, müssige Dinge nachdenken, uns irgend welche unwirkliche
Situationen ausmalen. Reden halten, Briefe schreiben müssen.
Die einfachsten Formen dieser Störung sind jene, in denen be-
stimmte Vorstellungen in unablässiger Wiederkehr sich dem
Kranken aufdrängen und auf diese "Weise die freie Beweglichkeit
seines Ideenverlaufes beeinträchtigen. Bisweilen sind diese „Zwangs-
vorstellungen" an sich ganz gleichgültigen oder wenigstens nicht
direct anfregenden Inhaltes; nur in der häufigen Wiederholung
liegt das Peinigende des Vorganges. Ich kannte einen Arzt, dem
sich bei jeder Gelegenheit die Vorstellung eines Abtrittes in quälendster
Weise aufdrängte. Eine andere derartige Kranke musste sich un-
ablässig auf die Namen ihr völlig fernstehender Personen besinnen
und beschrieb die ganzen Wände der Abtheilung mit diesen Namen,
um sie in ihrer Noth jederzeit leicht wiederfinden zu können
(„Onomatomanie"). Noch Andere empfinden den peinlichen Zwang,
die Genitalgegend der Personen ihrer Umgebung betrachten, sich
dieselben nackt, in schlüpfrigen Situationen vorstellen zu müssen.
*) Westphal, Archiv f. Psycbiati-ie, VIII, p. 737; Kaan, derneurasthenische
AngstalTect bei Zwangsvorstellungen und der primordiale G-rübelzwang. 1893.
Neurasthenisches Irresein.
479
In einer weiteren Reihe von Fällen ist nicht der specielle
Inhalt, sondern nur die allgemeine Richtung des Gedanken-
ganges durch den krankhaften Zwang beeinflusst. Es tauchen bei
beliebigem Aulasse, bisweilen in förmlichen „Anfällen", massenhafte,
zwecklose, unlösbare, ja gänzlich alberne Fragen im Bewasstsein
des Patienten auf, die derselbe vergeblich zu unterdrücken sich
bemüht. Der Inhalt dieser Fragen nimmt nicht selten eine all-
gemeine, metaphysische Richtung und beschäftigt sich namentlich
gern mit der Entstehung und Entwickelung der Dinge („Schöpfungs-
fragen"), indem sich auf associativem "Wege immer eine ganze Kette
derselben aneinander knüpft: Was ist Gott? Wie ist er? Woher
ist er gekommen? Giebt es überhaupt einen Gott? Wie ist die
Welt, der Mensch entstanden? u. s. f. Bisweilen sind es auch irgend
welche Gegenstände der zufälligen Umgebung, auf die der Blick
gerade fällt, welche den Anknüpfungspunkt für die Zwangsfragen
abgeben: Warum steht dieser Stuhl so und nicht so? Warumnennt
man ihn gerade Stuhl? Warum hat er vier Beine, nicht mehr, nicht
weniger? Warum ist er braun, warum nicht höher, nicht niedriger?
Man bezeichnet diese Form der Störung gewöhnlich mit dem Namen
der Grub el sucht.*) Nahe verwandt damit ist die bekannte Er-
fahrung grosser Rechenkünstler (Dahse), die ebenfalls zwangsmässig
alle ihnen aufstossenden Gegenstände, die Worte eines Trauerspiels,
die Buchstaben eines gehörten Gedichtes zählen, mit allen ihnen
vorkommenden Zahlen umfangreiche Rechnungen ausführen mussten,
ohne sich davon losmachen zu können.
Weit quälender wird natürlich die Störung, sobald der Inhalt
der Zwangsvorstellungen ein sehr unangenehmer ist, oder wenn
dieselben den Charakter von Befürchtungen unter Begleitung
lebhafter TJnlustgefühle annehmen. So kommt es vor, dass derartige
Kranke von der als völlig absurd erkannten Idee verfolgt werden,
sie seien an irgend einem Unglück, einem Todesfalle, ja einer Miss-
ernte schuld, sie hätten irgend ein Verbrechen begangen, könnten
von ihrer Umgebung für einen Dieb gehalten, von einem Betrunkenen
belästigt werden u. s. f. Andere werden das Gefühl nicht los, etwas
Auffallendes, Hässliches an sich zu haben, ihrer Umgebung un-
angenehm zu sein. Oder sie fürchten, sich lächerlich zu machen.
*) Griesinger, Archiv lih Psychiatrie I, p. 626; Berger, ibid. VI, p. 217.
480 IX. Die allgemeinen Neurosen.
sich unpassend zu benehmen, auf dem Abtritt beobachtet, in pein-
licher Lage vom Harndrang überfallen zu werden, ja sie fürchten
sich schliessüch vor ihren eigenen, sie in ihrer Bewegungsfreiheit
empfindlich beeinträchtigenden Befürchtungen.
Wo derartige zwangsmässige Befürchtungen den gesammten
Kreislauf der Tagesbeschäftigungen fast unablässig begleiten, ge-
Avinnen sie den Charakter der Zweifelsucht („folie du doute"*)).
Bei jeder beliebigen harmlosen Handlung drängt sich dem Kranken
der Gedanke auf, dass er vielleicht nicht recht daran gethan
habe. Er hätte vielleicht lieber das Glas "Wasser nicht trinken
sollen, hat sich möglicherweise durch das Essen jener Speise ge-
schadet oder durch das Einnehmen dieser Arznei seine Genesung
vereitelt. Wäre er nicht von Hause gereist, so wäre es besser
gewesen; so ist vielleicht dort ein Unglück geschehen, Jemand
krank geworden, Feuer ausgebrochen. Diese beständigen Zweifel
und Befürchtungen machen es dem Kranken bisweilen vollständig
unmöglich, einen Entschluss zu fassen, sich zu entscheiden, einen
Plan durchzuführen. Namentlich sobald es sich um irgend eine
verantwortliche Thätigkeit handelt, wird der Ansturm von Zwangs-
befürchtungen, wie übrigens schon beim gesunden Menschen, am
heftigsten. So wird der meist schon von jeher etwas pedantische
Kranke von der Besorgniss gequält, dass er eine Thür nicht ge-
hörig geschlossen, einen abgesandten Brief nicht zugeklebt, dass er
ihn verwechselt, dass er sich beim Geldzählen geirrt, einen Auftrag
falsch gegeben oder ausgerichtet habe, dass irgendwo ein Licht nicht
ganz verlöscht worden sei u. s. f.
Aus diesen immer wieder aufsteigenden Zwangsbefürchtungen ent-
wickelt sich mit Nothwendigkeit eine Avachsende Peinlichkeit in allen
jenen kleinen Verrichtungen, die dem Kranken doch keine Avirklichc
Beruhigung verschafft. Durch allerlei Merkzeichen, schriftliche Buchung
und ähnliche Kunstgriffe sucht er sich dauernd die Möglichkeit einer
rückschauenden Controle aller irgend wichtigen Handlungen zu er-
halten. Beim Schliessen jedes Schlosses versichert er sich wieder-
holt, dass dasselbe wirklich zugesperrt ist, reisst das Couvert wieder
auf, um zu sehen, ob der richtige Brief hineingelegt, ob nicht Unter-
schrift oder Datum vergessen wurde, zählt jede Summe zehn, zwanzig
*) Legrand du SfiiUle, 1e^ folie du douto. 1875.
Neurasthenisehes Ii-resein.
481
Mal, bevor er sie abgiebt, macht ncächtliche Runden durchs Haus,
um sich zu überzeugen, dass nirgends mehr ein Funke glimmt.
Analoge, namentlich beim Aveiblichen Geschleehte häufiger be-
obachtete Besorgnisse sind diejenigen, sich zu verunreinigen (Myso-
phobie), sich oder Andere zu vergiften, Nadeln zu verschlucken.
Neuerdings pflegen sich diese Befürchtungen gern an die modernen
Vorstellungen von der Infection durch mikroskopische Krankheits-
erreger anzuknüpfen. Der Kranke fürchtet sich, Messing oder Kupfer
wegen der Gefahr der Grünspanvergiftung zu berühren, kann nichts
zu sich nehmen, ohne es immerfort auf Nadeln und Glasscherben
zu untersuchen, die er etwa mit verschlucken, in seinen Kleidern
verschleppen könnte. Er fühlt sich keinen Augenblick sicher, ob er
nicht irgendwo durch Anstreifen einen gefährlichen Infectionsstoff
aufgefangen habe, der sich nun auch noch weiter auf andere Per-
sonen übertragen könne.
Auch diese Ideen gewinnen regelmässig einen sehr weitgehenden
Einfluss auf das Handeln der Ej-anken; sie führen zu dem von
Legrand du Saulle beschriebenen „delire du toucher", der Be-
rührung sfur cht. Es entwickelt si^jh eine peinKche, alle anderen
Rücksichten in den Hintergrund drängende Reiulichkeitsliebe, die
im Anfange sich vielleicht noch innerhalb der hier sehr dehnbaren
Grenzen hält, später aber nicht selten derartige Dimensionen an-
nimmt, dass sie dem Kjanken und noch mehr seiner Umgebung das
Leben aufs Aeusserste verbittert. Mit der grössten Sorgfalt sucht der
Kranke alle Berührungen, namentlich die unmittelbaren, zu vermeiden,
öffnet die Klinken mit dem Ellenbogen, trägt möglichst viel Hand-
schuhe. Hat aber doch eine Berührung stattgefunden, so werden
sofort nach einem oft sehr dui'chdachten System die umfangreichsten
"Waschungen vorgenommen, die sich nicht nur auf die Hände,
sondern auf den ganzen Körper, sogar auf Möbel und Kleidungsstücke
erstrecken können. Bisweilen sind es nur Berührungen bestimmter
Art, welche diese Reaction hervorrufen, während andere den Ki-anken
gleichgültig lassen. Natürlich wird durch die ganz ins Ungeheuerliche
gehenden Waschungen mehr und mehr die gesammte Zeit des Kranken
in Anspruch genommen, so dass er schliesslich zur Erfüllung seiner
sonstigen Pflichten vollständig unfähig wird. Ein wenigstens un-
gefähres Yerständniss für die Unsinnigkeit dieses Treibens ist trotz
der Unmöglichkeit, davon abzulassen, regelmässig vorhanden.
Eraepelin, Psychiatric. 4. Anfl. ''^
482
IX. Die allgeiueiueii Neurosen.
BisAveilen beobachtet man auch die Befürchtung, irgend etwas
Werthvolles zu vernichten oder zu verschleppen. Eine junge
Dame, die ich kannte, wm-de von der Angst verfolgt, möglicherweise
wichtige Briefe, namentlich Testamente, ins Feuer zu werfen oder
auszukehren, ja sie glaubte, das schon ungezählte Male gethan zu
haben. In Folge dessen hatte sie eine unüberwindliche Scheu vor
allem Papier, schliesslich sogar vor gedruckten Büchern. Jedes noch
so kleine Fetzchen Papier bewahrte sie auf das Sorgfältigste auf
und war erst berahigt, wenn sie es mir übergeben hatte. Sie wai-
dabei vollständig klar und besonnen, frei von sonstigen Wahnideen,
aber von Hause aus wenig intelligent.
Wenn sich alle diese Erscheinungen als bizarre TJebertreibiuigen
jener zweckmässigen leisen Affecte darstellen, welche auch das gesimde
Handeln fortgesetzt begleiten, so haben wir in gewissen Befür(3htungen
abergläubischen Inhalts krankhaft verzeiTte Aeusserungen der
mystischen Neigungen des Menschen vor uns. Analog der ver-
breiteten Furcht vor der Zahl 13, vor der Unheil verkündenden
Begegnung mit alten Weibern u. s. f., begegnen wir bei. Kranken
der Angst vor einzelnen Gegenständen, Worten, Farben und nament-
lich Zahlen, der Idee, durch ein bestimmtes Thun oder Lassen Un-
heil heraufzubeschwören. Natürlich werden sie durch solche Be-
-sorgnisse zu allerlei Sicherheitsmassregeln veranlasst. Es kommt
auf diese Weise zu den mannichfachsten eigenthümüchen Gewohn-
heiten, welche für den Kranken eine Art symbolischer Bedeutimg
gewinnen und ihm Beruhigung verschaffen, auch wenn er über ihre
Uüsinnigkeit durchaus im Klaren ist. Dahin gehört das geflissent-
liche Vermeiden oder Aufsuchen und Aussprechen einzelner Zahlen
oder Worte, die Ausführung bestimmter, an sich zweckloser Be-
wegungen, das Innehalten der gleichen Keihenfolge bei gewissen
Beschäftigungen, das zAvangsmässige Beachten hergebrachter oder
selbsterfundener Augurien.
Ungleich häufiger, als die letztgenannten, schon auf eine schwere
psychische .Degeneration hinweisenden Krankheitsbilder, sind jene
auch bei der erworbenen Neurasthenie bisweilen beobachteten Zu-
stände, in denen bei gewissen Anlässen plötzlich mit überwältigender
Macht die unbestimmte Furcht vor einer grossen drohenden
Gefahr ohne klare Yorstellung von dem Wesen derselben über
den Patienten hereinbricht. Die bekannteste dieser Formen ist der
Neurasthenisches Irresein.
483
Symptomencomplex der Platzangst (Agoraphobie*)). Der Ivi'anke ist
nicht im Stande, allein über einen grossen, menschenleeren Platz oder
durch eine lange, weite Strasse zu gehen; bei jedem Yersuche dazu
überfällt ihn eine namenlose, unüberwindliche Äugst mit heftigem
Herzklopfen, die ihm den freien Gebrauch seiner Glieder vollständig
raubt. Die Begleitung eines Knaben, das Hinterhergehen hinter
einem anderen Menschen oder einem Wagen, das Festhalten an den
Häusern genügt oft schon, um den lähmenden Affect vollständig zu
überwinden. In den höheren Graden ist es dem Ejanken nicht
mögüch, in einem Zimmer allein zu sein, ohne von der furcht-
barsten Angst befallen zu werden. Ich kannte einen durch chronische
Verdauungsstörungen sehr heruntergekommenen Herrn, der Monate
lang Tag und Nacht immer Jemanden um sich haben musste. Später,
mit der Besserung des körperlichen Zustandes, verlor sich diese
Erscheinung, aber die Platzangst bestand in allmählich abnehmender
Stärke fort. Schliesslich konnte der Kranke auch diesen Zuständen
vorbeugen, indem er sich stets bei seinen Ausgängen mit einem
Priessnitzschen Umschlage und einem Pläschchen Yalerianatinctur
versah. Obgleich er von beiden Mitteln nie Gebrauch machte und
sich der Lächerlichkeit seiner Massregel völlig beAvusst war, genügte
dieselbe doch, das sonst vmfehlbare Auftreten der Angst zu ver-
hindern.
Der Platzangst nahe verwandt ist die auch bei gesunden
Menschen in verschiedenen Graden sehr häufige Höhenangst,
das Gefühl intensivsten ängstlichen Unbehagens beim Stehen auf
hohen Thürmen, am Rande von Abgründen, selbst wo nicht die
mindeste objective Gefahr eines Herabfallens vorhanden ist. Ferner
beobachtet man bei Neurasthenikern bisweilen heftige Angstzufälle
bis zur beginnenden Ohnmacht in grossen, weiten Räumen, in
Kirchen und Theatern, in grossem Gedränge, beim Alleinsein in der
Dunkelheit (Njktophobie), bei geschlossenen oder geöfiheten Thüren
(Claustrophobie und Claustrophilie), beim Gehen über Brücken,
endlich bei den verschiedensten Gelegenheiten, in denen die Kranken
die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet wissen, be-
sonders bei öffentlichen Reden, Plaidoyers, Vorträgen. In den höchsten
*) Westphal, Archiv für Psychatrie III, p. 138; Cordes ibid. HI, p. 521;
X, p. 48.
31*
484
IS. Die allgemeinen Neurosen.
Graden dieser Störung sind die Kranken nicht im Stande, zu schreiben,
zu gehen, zu essen, Urin zu lassen, auf den Abtritt zu gehen, sobald
sie sich beobachtet wissen, während sie sonst keinerlei motorische
Störungen darbieten. Auch diesen Zuständen entsprechen An-
deutungen im normalen Yerhalten, der hindernde Einfluss, den die
„Befangenheit" auf die Sicherheit von Leistungen auszuüben pflegt,
die sonst mit der grössten Leichtigkeit von Statten gehen, jenes
Gefühl völligen Schwindens aller Gedanken, welches den ungeübten
Eedner bisweilen plötzlich auf das Peinlichste in dem Flusse seines
Toastes unterbricht.
In die gleiche Gruppe von Störungen gehört das hie und da
bei unsern Kranken beobachtete Symptom der Kl ei derangst. "Wie
der Gesunde sich bisweilen in einem neuen Anzüge • zunächst nicht
recht wohl fühlt, so entsteht hier, namentlich beim erstmaligen
Tragen eines Kleidungsstückes, ein sehr lebhaftes Unbehagen, welches
sich mit wirkhchen körperlichen Empfindungen verbinden kann.
Die Ki-anken merken deutlich, dass die Aermel drücken, die Taüle
nicht ganz gerade sitzt, der Schuh zu kurz ist, aber trotz zahlloser
Aenderungen bleibt Alles beim Alten, so dass die Kranken schliess-
lich überhaupt neue Kleidungsstücke nicht mehr ertragen können,
immerfort an dieselben denken müssen und erst dann aufathmen,
wenn sie das gCAvohnte Habit wieder tragen. In einzelnen Fällen
kann es dahin kommen, dass die Kranken, wenn ihre Kleider zu
sehr verschlissen sind, allen Ernstes dauerndes Bettliegen als ein-
zigen Ausweg ins Auge fassen, obgleich sie sich der Lächerlichkeit
dieser Perspective klar bewusst sind.
Eine gemeinsame Eigenthümlichkeit fast aller Arten von „Phobien"
sind die „Krisen". Sobald man den Kranken zwingt, das von ihm
Gefürchtete zu thun, oder ihn daran hindert, jene Schutzmassregeln
zu treffen, welche ihn beruhigen, kommt es zu Aufregungszuständen
ängstlicher, nicht selten auch' zorniger Art, mit rücksichtsloser
Empörung gegen den von aussen gegen die krankhaften Er-
scheinungen gerichteten Zwang. Es ist oft ganz erstaunlich, wie der
bis dahin einsichtige und selbst die Befreiung von seinem Leiden
herbeisehnende Kranke plötzlich vollkommen umgewandelt erscheint
und auf das Leidenschaftlichste gegen den Helfer Front macht, so-
bald derselbe versucht, wirklich den Kampf mit der psychischen
Störung aufzunehmen.
Neurasthenisclies Ii-resein.
485
Wir haben zum Sclüusse noch jener eigenthümlichen, ebenfalls
im gesunden Leben häufig beobachteten, aber bei krankhafter Yer-
aulagung bisweilen sehr ausgebildeten Störungen zu gedenken, in
denen die zwangsweise hervortretenden Yorstellungen und Gefühle
den Charakter der Impulse annehmen. Zunächst haben dieselben
vielleicht nur die Form von Fi-agen: Was würde geschehen, wenn
du diese oder jene Handlung unternehmen, mit dem daliegenden
Messer einen Menschen, dein Kind tödten, dem dich trauenden
Geistlichen plötzlich eine Ohrfeige geben, im Theater mit einem
Male auf die Bühne springen würdest? u. dergi. Daraus entspringt
dann die Furcbt vor allen äusseren Anlässen, welche derartige Im-
pulse wachrufen können. Die Kranken wagen es nicht mehr, Feier-
lichkeiten beizuwohnen, gerathen in äusserste Angst vor allen ge-
fährlichen Instrumenten. Einer meiner Kranken, ein überaus gut-
müthiger, weichherziger Mensch, musste schon von Weitem allen
Arbeitern aus dem Wege gehen, die Aexte, Sägen und dergl. ti-ugen,
weü ihm deren Anblick immer den Antrieb aufdrängte. Jemanden
umzubringen. Thatsächlich pflegen derartige Impulse nie zu Hand-
lungen zu führen; es handelt sich eigentlich mehr um Befürchtungen,
die sich hier gegen die vermeintlich aus dem eigenen Innern
drohenden Gefahren richten. Nur auf sprachlichem Gebiete setzen
sich die krankhaften Antriebe häufiger in wirkliches Zwangsreden
um; die Kranken können der Yersuchung nicht v^äderstehen, bei
besonders feierlicher Gelegenheit oder im Gebet an Stelle der be-
absichtigten Worte sacrilegische oder obscöne Wendungen zu setzen
(„Koprolalie"). Die Anfangs nur dm-ch eine Axt Contrastwii-kung sich
aufdrängenden Yorstellungen greifen also auf das ihnen nächstliegende
motorische Gebiet der sprachlichen Ausdrucksbewegungen hinüber.
Der Yerlauf aller hier geschilderten schweren Formen der
Neurasthenie ist gewöhnlich ein sehr chi-onischer, aber vielfachen
Schwankungen unterworfener. Meist reicht ihre Entstehung bis in
die Jugendzeit oder doch ins Pubertätsalter zurück. Nicht selten
giebt irgend ein äusserer Anlass, eine Gemüthsbewegung, ein hin-
geworfenes Wort, eine auffallendere Lebenserfahrung den ersten
Anstoss zum Auftauchen der Krankheitserscheinungen. Bei einer
meiner Kranken begann die „Waschmanie" nach einem Samariter-
kurs, in welchem eindringlich die Gefahren der Wundinfection be-
sprochen worden waren. In anderen FäUen treten die Störungen
486
IX. Die allgemeinen Neurosen.
bei irgend einer körperlichen Indisposition, nach einer' fieberhaften
Erkrankung, im Wochenbett, in Folge von Ueberarbeitung zum
ersten Male hervor. Gerade die Geringfügkeit solcher äusseren
Anlässe zeigt deutlich genug, dass die wesentliche Ursache der
eigenartigen psychischen Symptome ausschliesslich in der angeborenen
oder erworbenen krankhaften Yeranlagung zu suchen ist. Aus-
nahmslos fast lassen sich hier bei einzelnen oder mehreren Familien-
gliedern die Neigung zu peinlicher Pedanterie, übertriebener Aengst-
lichkeit oder grüblerischer Schwarzseherei nachweisen, selbst wenn
ausgebildetere Psychosen nicht vorgekommen sind. Auch die Kranken
selber pflegen von Jugend auf schon die Andeutungen jener
Charaktereigenthümlichkeiten darzubieten, als deren Zerrbild sich
die spätere Störung auffassen lässt.
Die Prognose der constitutionellen Neurasthenie ist im All-
gemeinen eine ungünstige. Zwar gelingt es nicht selten, namentlich
bei den einfachen Zwangsvorstellungen, der Platzangst und den ver-
wandten Erscheinungen, die krankhaften Störungen für kürzere oder
längere Zeit zum' Schwinden zu bringen, aber die Gefahr von
Rückfällen ist bei der tief in der Gesammtpersönlichkeit wurzelnden
Grundursache stets eine ausserordentlich grosse. Bei der Grübel-
sucht, der Berührungsfurcht, den Zwangsimpulsen scheinen die Aus-
sichten auf Besserung am schlechtesten zu sein; hier wird sogar
häufiger ein im Ganzen progressiver Verlauf beobachtet.
Die Erkennung dieser Zustände bietet in ausgeprägten Fällen
keinerlei Schwierigkeit, doch kommen naturgemäss zahlreiche Ueber-
gänge zur Gesundheitsbreite vor, in denen die geschilderten Störungen
nur angedeutet sind. Das Auftreten von Zwangsimpulsen weist auf
eine Yerwandtschaft mit dem impulsiven Irresein hin, welches wir
später ebenfalls als eine Form der degenerativen Veranlagung kennen
lernen werden. Die Behandlung kann vielleicht schon mit der
prophylaktischen Berücksichtigung der krankhaft veranlagten Kinder,
mit rechtzeitiger und ausgiebiger Förderung der körperlichen Ent-
wickelung, Bekämpfung der bedrohlichen Charaktereigenschaften
durch eine vernünftige Erziehung einsetzen. Späterhin werden alle
Einflüsse nach Möglichkeit abzuweisen sein, welche die körperliche
und psychische Widerstandsfähigkeit schwächen. Gegen die eigent-
lichen Krankheitserscheinungen hilft, soviel ich sehe, nur eine aus-
dauernde, geduldige Pädagogik, welche allmählich das stai-k gesunkene
Neurasthenisches Irresein.
487
Selbstverti-aaen -wieder zu heben -und den Kranken Schritt für Schritt
zum Siege über den pathologischen Zwang zu führen sucht. Zur
Unterstützung, namentlich in den Krisen, dient zweckmässig die
hypnotische Suggestion, doch versagt sie in scliAveren Fällen viel-
fach. Auch kleine Alkoholgaben erleichtern das TJeberwinden der
Angstanfälle. Vor dem Morphium ist wegen der Gefahr der Ge-
wöhnung dringend zu warnen.
Mit den schwereren neur asthenischen Erki-ankungen steht in
offenbar naher Vei"wandtschaft ein im letzten Jahrzehnt besonders
von Westphal und seinen Schülern*), sowie von Charcot näher
studii-ter Symptomencomplex , den wir zunächst mit Oppenheim
als „traumatische Neurose" bezeichnen wollen, obgleich der Name
„Schreckneurose" offenbar zutreffender wäre. Es handelt sich dabei
lun ein aus mannichfaltigen nervösen und psychischen Erscheinungen
zusammengesetztes Krankheitsbild, welches sich in Folge von heftigen
Gemüthserschütterungen, plötzlichem Schreck, grosser Angst aus-
bildet un^ daher nach schweren Unfällen, besonders nach Eisen-
bahnkatasti'ophen u. dergl. beobachtet wird. Auch manche der nach
Selbstmordversuchen gelegentlich auftretenden Störungen sind, wie
Möbius wahrscheinlich gemacht hat, hierher- zu rechnen.
Bei den bis dahin wenigstens anscheinend ganz gesunden
Individuen entwickelt sich im Anschlüsse an das meist vorüber-
gehende Bewusstlosigkeit erzeugende Trauma ganz allmählich, in
Wochen oder selbst Monaten, ein Zustand, welcher sich psychisch
durch depressive Verstimmung mit ängstlichen Befürchtungen der
verscliiedensten Art und Unfähigkeit zu jeder geistigen Anstrengung
charakterisirt. Die Kranken erscheinen still, gedrückt, wortkarg,
kümmern sich wenig um die Yorgänge in ihrer Umgebung und
sind immerfort durch ihre eigenen quälenden Gedanken in Anspruch
genommen. In einzelnen Fällen bestehen typische Zwangsvorstellungen,
Agoraphobie, Grübelsucht; meist aber ü'eten hypochondrische Ideen
dominirend in den Yordergrund. Die Ki-anken werden den Ein-
druck des erlittenen Unfalles nicht mehr los, fühlen sich durch den-
selben in ihrem Gesundheitszustande auf das Schwerste geschädigt
*) Oppenheim, Die traumatischen Neurosen, 2. Auflage. 1892; Schnitze,
Sammlung klinischer Vorträge. N. F., 14 (Innere Medicin No. 6); Deutsche Zeit-
schrift für Nervenheilkunde, I, 5 u. 6, p. 445.
488
IX. Die allgemeinen Neurosen.
und beobachten mit peinlicher Aufmerksamkeit alle Vorgänge au
ihrem Körper, welche ihnen mit ihrem Leiden in Zusammenhang
zu stehen scheinen.
In gemüthlicher Beziehung sind sie auffallend erregbar, ge-
ratlien ungemein leicht in Yerlegenheit und Verwirrung, können
sich nicht zusammenhängend über ihren Zustand aussprechen und
fühlen sich dauernd durch das Gefühl innerer Beklemmung und
Beängstigung in ihrem Denken und Handeln gehemmt. Auch hier
kann sich die Angst anfallsweise zu förmlichen Krisen steigern, welche
die Kranken sogar bisweilen zum Selbstmorde führen. Das Ge-
dächtniss ist trotz der Klagen über Abnahme desselben meist
gut, wenn sich auch eine gewisse Zerstreutheit und Yergesslichkeit,
auf dem mangelnden Interesse und der Aufmerksamkeitsstörung
beruhend, häufig nachweisen lässt. Die Arbeitsfähigkeit der Kranken
wird durch ihre hypochondrische Energielosigkeit, wie durch die
zahlreichen nervösen Beschwerden stets auf das Empfindlichste be-
einträchtigt oder ganz aufgehoben. Eine weitere Ausbildung ge-
winnen die psychischen Störungen in der Kegel nicht; nur hie und
da wird das Auftreten von Dämmerzuständen, acuten hallucina-
torischen Aufregungen oder noch seltener von ausgebildetem Schwach-
sinn beobachtet. Im letzteren Falle handelt es sich wol immer um
wirkliche Kopfverletzungen.
Der Schlaf der Kranken ist regehoiässig durch ängstliche
Träume hochgradig gestört, der Appetit gering; das Körper-
gewicht sinkt. Im Kopfe bestehen allerlei abnorme Sensationen,
Druck, Eingenommenheit, Schwindelgefühl, unangenehme Bewegungs-
empfindungen, im Bücken und Kreuz das Gefühl von Spannung und
Steifigkeit, in den vom Trauma betroffenen Theilen mannichfache
Paraesthesien und Schmerzen. Ausserdem wird über asthenopische
Beschwerden, Ohrenküngen und -sausen, Herzklopfen, Abnahme der
Potenz, Erschwerung der Harnentleerung und Stuhlverstopfmig,
bisweilen auch über hartnäckiges Erbrechen geklagt. Objectiv lassen
sich in einzelnen Fällen Sensibilitätsstörungen in sehr Avechselnder
Ausbreitung, Analgesie neben hyperaesthetischen Stellen, Ein-
schränkimg des Gesichtsfeldes, ferner Steigerung der Sehnenreflexe,
Lähmungserscheinungen der verschiedensten Art, Langsamkeit und
IJnischerheit der Bewegungen, Geh- und Sprachstörungen, leichter
Tremor, bedeutende Pulsbeschleunigung, Ohnmächten und selbst
Neurastlieiüsches Irresein.
489
ausgebildete epileptüorme Anfälle nachweisen. Alle diese Er-
scheinungen weichen in ihrem atypischen Auftreten dm-chaus von dem
Symptomeubilde organischer Hirn- oder Eückeumarkserkrankungen ab
und werden durch ihre Localisation, ihr wechselndes Verhalten und
den verschlimmernden Einfluss psychischer Erregung als functionelle
gekennzeichnet. Nui- ganz vereinzelt werden auch Störungen be-
obachtet, welche "mit Sicherheit auf eine organische Grundlage hin-
weisen, so reüectorische Pupillenstarre und Sehnervenatrophie.
Der Verlauf der traumatischen Neurose ist ein chronischer,
die Prognose zweifelhaft. Zwar werden viele Fälle nach monate-
und selbst jahrelanger Dauer geheilt oder doch gebessert; immerhin
aber kommt es nicht selten zu einem langsam fortschreitenden
Siech thum, welches bisweilen mit Entwickelung von Herzhyijer-
trophie und Arteriosklerose einherzugehen scheint.
Die Deutung dieses Krankheitsbildes hat den Anlass zu inter-
essanten Erörterungen gegeben. Während "Westphal und seine
Schüler dasselbe Anfangs unter Betonung gelegentlicher objectiver
Befunde auf schleichende organische Veränderungen im Centrai-
nervensystem zurückführten, hat Charcot alle diese Fälle der
Hysterie zugetheilt. Mit Eecht ist indessen geltend gemacht worden,
dass der Begriff der hysterischen Neurose durch diese Erweiterung noch
viel verschwommener und unklarer wii'd, als er es leider heute schon
ist. Neuerdings setzt Charcot die traumatische Neurose in Paral-
lele zu den hypnotischen Zuständen, indem er meint, dass während
der heftigen Bewusstseinsalteration durch den Schreck das ganze
Symptomenbild auf dem Wege einer später stabü werdenden Auto-
suggestion entstehe. Andererseits hat Oppenheim die Annahme
einer organischen Grundlage, abgesehen von gewissen Ausnahme-
fällen, aufgegeben. Die wesentlich psychische Entstehungsweise
des gesammten Symptomencomplexes darf somit jetzt als allgemein
anerkannt gelten.
Gleichwol bestehen noch beträchtliche Meinungsverschiedenheiten
über die Umgrenzung des Ei-ankheitsbildes. Vielfach ist darauf
hingewiesen worden, dass nach Traumen sehr verschiedenartige
Störungen entstehen können und darum eine einheitliche Zusammen-
fassung derselben unstatthaft sei, dass man vielmehr locale und all-
gemeine Neurosen, hysterische, neimasthenische, hypochondrische,
melancholische Zustände u. dergl. auseinanderhalten müsse. In der
490
IX. Die allgeiiieineu Neurosen.
That kann die Gemüthserscbütterung, wie sie allen traumatischen
Neurosen gemeinsam ist, schwerlich als die wirkliche und einheit-
liche Ursache derselben betrachtet Averden. Bei grossen Unglücks-
fällen pflegen ja auch nicht alle Betheiligten, sondern immer nur
ganz vereinzelte Personen an der Schreckneurose zu erkranken. Da-
raus geht hervor, dass zweifellos der individuellen Veranlagung
eine ungemein wichtige EoUe bei der Entstehung jener Störung zu-
geschrieben werden muss. Die gleiche Mannichfaltigkeit, die wir in
den Erscheinungsformen der krankhaften Praedisposition beobachten,
wird uns daher auch in den Krankheitsbildern entgegentreten, welche
hier anscheinend durch die gleiche äussere Ursache hervorgerufen
werden. So sehen wir denn klinisch bald die hysterischen, bald die
neurasthenischen, hypochondrischen, melancholischen Züge im ein-
zelnen Ealle sich stärker ausprägen, je nach der besonderen Kichtung,
Avelche der krankhaften Grleichgewichtsstörung durch die Eigen-
thümlichkeiten der gegebenen Constitution vorgezeichnet wird.
In diesen eigenartigen Entstehungsbedingungen liegt die Er-
klärung für die viel umstrittenen diagnostischen Schwierigkeiten
bei der Beurtheilung der traumatischen Neurosen. Das WechselvoUe,
Launenhafte, Atypische der Krankheitsbüder, welches allen wesentiich
aus innern Ursachen entstehenden Psychosen gemeinsam ist, macht
die Feststellung einzelner pathognomonischer Symptome unmöglich.
Dazu kommt die Unsicherheit aller bisher aufgefundenen objectiven
Krankheitszeichen und endlich die Möglichkeit einer Simulation,
welche bei der gerade hier so häufig sich erhebenden Entschädigungs-
frage ziemlich nahe liegt. Die zuletzt genannte diagnostische Gefahr
ist, wie ich glaube, vielfach überschätzt worden. Wir- stehen der-
selben ja häufig genug auch bei der einfachen Hysterie mit ihi^er
Neigung zur Ueberti-eibung und zur Erfindung seltsamer Krankheits-
erscheinungen gegenüber. Hier wie dort sind alle Einzelvorschriften
für die ,,Entlarvimg" von Simulanten nahezu werthlos; das Mass-
gebende ist überall die Uebereinstimmung des klinischen Gesammt-
bildes mit einer der bekannten Erscheinungsformen der psycho-
pathischen Constitution. Nicht selten giebt übrigens die bequeme
Diagnose der „ti^aumatischen Nem-ose" den Anlass zum üebersehen
wichtiger Krankheitszeichen. Namentlich begümende Pai-alysen
werden bisweilen unter jenen Sammelbegriff untergebracht. Noch
jetzt behandle ich einen Kranken, dessen Beschwerden Monate lang
Hysterisches Irresein.
491
mit einem Fall auf das Gesäss in ursächKche Yerbinduiig gebracht
wurden, bis ich vordem Schiedsgericht nachweisen konnte, dass liier
nicht die ti-aumatische „Nem-ose" allmählich in eine „Psychose" übei-
gegaugen sei, wie angenommen worden war, sondern dass es sich
einfach um die Entwickelung einer progressiven Paralyse handelte,
welche mit dem auch an sich unbedeutenden Trauma in gar keiner
Beziehung stand.
Die Therapie ist im Wesentlichen eine allgemein kräftigende und
ablenkende; im Einzelnen sind Bäder, Massage, elektrische Behandlung,
namentlich Galvanisation des Kopfes, unter Umständen hypnotische
Suggestion, endlich die Anwendung der Bromsalze von Nutzen.
B. Das hysterische Irresein.
Wenn es heute kaum möglich erscheint, eine kurze und präcise
Definition der Hysterie*) überhaupt aufzustellen, so tritt uns diese
Schwierigkeit in fast noch höherem Grade entgegen beim Hinblicke
auf das hysterische Irresein. Wir geben gelegentlich einer ganzen Reihe
von psychopathischen Zuständen den Beinamen des „Hysterischen",
ohne immer mit genügender Klarheit die Begründung desselben
durchführen zu können. Ja, es kann kaum in Abrede gestellt
werden, dass vielfach ein nicht zu rechtfertigender Missbrauch mit der
verallgemeinerten Anwendung jenes Epithetons getrieben worden ist.
Als wirklich einigermassen charakteristisch für alle hysterischen Geistes-
störungen dürfen wir vielleicht die ausserordentliche Leichtig-
keit und Schnelligkeit ansehen, mit welcher sich psychische
Zustände in mannichfaltigen körperlichen Reactionen wirk-
sam zeigen, seien es Anaesthesien oder Paraesthesien, seien es Aus-
drucksbewegungen, Lähmungen, Krämpfe oder Secretionsanomalien.
Die gemeinsame krankhafte Grundlage aller tiefer greifenden
Formen des hysterischen Irreseins wird durch eine mehr oder
weniger stark ausgeprägte Entartung des Charakters gebildet. Die
Intelligenz und das Gedächtniss pflegen dui'ch die Hysterie, selbst
bei sehr langem Bestehen, nicht wesentlich zu leiden; vielmehr
*) Möbius, Schmidts Jahrbücher 199, 2, p. 185 (Literatur). Pitres,
Levens cliniques sur l'hysterie et l'hypnotisme, 1891; Gilles de la Tourette,
traite cliniqne et therapeutique de l'hystprip. ISDI.
492
IX. Die allgemeinen Neurosen.
lassen beide in einzelnen Fällen sogar eiae frappirende Schärfe
erkennen. Was aber regelmässig nach und nach durch die Krankheit
in Mtleidenschaft gezogen Avird, das ist die Art und Weise der
gemüthlichen Eeaction und das Handeln der Kranken; auf diesem
Gebiete vollzieht sich im Laufe längerer Zeiten fast ausnahmlos eine
fortschreitende Yeränderung, welche man ein Recht hat, als eine
mehr oder weniger hochgradige moralische Verblödung aufzufassen.
Zuerst ist es die Stimmung, welche eine krankhafte Störung
erkennen lässt. Die Patienten werden reizbar, wetterwendisch,
launenhaft; aus unmotivirter Ausgelassenheit verfallen sie binnen
kürzester Frist und bei geringfügigstem Anlasse oder auch ganz
ohne denselben in zornige;, entrüstete ;, in bittere, weltschmerzliche
oder in schwärmerisch sentimentale Gefühlsregungen. Dazu kommt,
dass der Ausdruck ihrer Gemüthsbewegungen den Charakter des
Masslosen und Excentrischen gewinnt, während doch der wahre
innere Affect der Kranken nicht im Entferntesten dem äusserlich
hoffnungslosen Schmerze, der exaltirten Freude entspricht. In
innigem Zusammenhange mit dieser Yeränderung steht die Con-
centration des gesammten Interesses auf die Zustände und
Beziehungen der eigenen Person. Die Eianken werden gleich-
gültig gegen fremdes Leid, rücksichtslos gegen ihre Umgebung, oft
auch gegen ihre allernächsten Angehörigen, die sie nicht selten in
unglaublichster Weise tyrannisiren und ausbeuten. Dafür aber ver-
tiefen sie sich mit einem gewissen Raffinement in ihre eigenen Em-
pfindungen und Stimmungen, so dass sie schliesslich bisweilen wahi-e
Yirtuosen des Egoismus werden.
Yor Allem bemächtigt sich ihrer der mehr oder weniger klar
aufgefasste Wunsch, bemerkt, beachtet zu werden. Aus ihm ent-
wickelt sich die Neigung zum Affectirten, zum Auffallenden, zu
einer Aufbauschung der Wichtigkeit aller jener Yerhältnisse, welche
das eigene Ich unmittelbar angehen. Daher entspringt auch die
Gewohnheit, sich in alle möglichen fremden Angelegenheiten un-
berufen einzumischen, zu intriguiren, sich zum Mittelpunkte, zui*
Hauptperson zu machen. Mcht selten treibt die Kranken das Ver-
langen, um jeden Preis die Aufmerksamkeit der näheren und
ferneren Umgebung auf sich zu richten, zu den seltsamsten, ja
sogar zu unmoralischen Handlungen, zur Verdrehung von That-
sachen, zur Lüge und Verläumdung. Namentlich das religiöse Gebiet
Hysterisches Irresein.
493
ist es, welches ihnen nach dieser Eichtung hin einen willkommenen
Spielraum darbietet, und die Geschichte der Schwärmer und Schwindler
hat daher eine nicht geringe Anzahl gerade von Hysterischen unter
ihren Grössen zu yerzeichnen.
Mit dieser Neigung, eine möglichst hervorragende Eolle zu
spielen und die eigene Person auf ein gewisses Piedestal zu setzen,
hängt auch die nimmer ruhende Unzufriedenheit, das ungemein an-
spruchsvolle Wesen, sowie die erstaunliche und für die Umgebung
oft in hohem Grade quälende Empfindlichkeit der Hysterischen
gegenüber vermeintlichen Zurücksetzungen und Vernachlässigungen
zusammen. Aus ihr erklärt sich ferner das peinliche Nörgeln und
Herumdeuteln an den Worten der Umgebung, die schadenfrohe,
kleinliche Eachsucht, die fortwährenden Eifersüchteleien, sowie die
Leidenschaftlichkeit, mit welcher sie auf die vermeintliche Bevor-
zugTing anderer Personen zu reagiren pflegen. Dazu kommt vielfach
eine gewisse unruhige Geschäftigkeit, die in bemerkenswerthem
Gegensatze zu ihrer stets in den Yordergrund gestellten Kränklichkeit
und Hülfsbedürftigkeit steht. Immer neue Wünsche tauchen auf;
Veränderungen in der Ausstaffirung des Zimmers, in der Eleidung,
der Nahrung werden vorgenommen, der Verkehr gewechselt, und in
zahllosen Briefen und Billets er^iesst sich ein Strom von Aufträgen,
Bitten, Eorderungen Auseinandersetzungen, Beschwörungen und
Klagen. Diese egoistische Ausbildung ihres Charakters bei voll-
ständiger Erhaltung der Besonnenheit und Intelligenz, diese Em-
pfindlichkeit und Launenhaftigkeit, diese unermüdlichen Prätensionen,
dieser Hang, zu klatschen, zu schmähen, zu medisiren, sind es, durch
welche Hysterische ihre Umgebung bisweilen zu völligen Sclaven
ihrer Einfälle zu machen verstehen, und durch welche sie zum
Schrecken der Aerzte und Anstalten werden können, welche mit
ihrer Behandlung sich zu befassen gezwungen sind.
Vielleicht der wichtigste Zug im Krankheitsbiide der Hysterie
ist endlich die regelmässig nachweisbare eigenfhümliche Willens-
störung. Die Ki-anken sind auf der einen Seite haltlos, leicht
bestimmbar, allen möglichen Einflüssen zugänglich, auf der andern
Seite unfähig, ihrer krankhaften Eegungen Herr zu werden, eine
schädliche Gewohnheit abzulegen. Daher der auffallende Gegensatz
zwischen der Hartnäckigkeit, mit welcher sie öfters bestimmte ab-
sonderliche oder selbst gefährliche Handlungen immer wiederholen,
494
IX. Die allgemeinen Neurosen.
und der ausserordentlichen Empfänglichkeit für äussere Einwirkungen.
Dieselbe Kranke, die ohne ersichtlichen Grund monate- und jahre-
lang ihre Nahrungsaufnahme auf ein Mnimum beschränkt, hülflos
im Bett liegen bleibt, sich heimlich immer wieder Verletzungen zu-
fügt, kann dui'ch ein einziges "Wort, einen plötzlichen Einfall in
ihrem ganzen Verhalten vollständig umgewandelt werden. Freilich
muss bei dem geschilderten Zustande der Ki'anken allen solchen
"Wirkungen naturgemäss die Nachhaltigkeit fehlen; der nächste
Augenblick schon kann Eindrücke bringen, welche die Wiederkehr
der alten oder das Auftreten neuer krankhafter "Willensrichtungen
herbeiführen, um selbst sehr bald von noch anderen Beeinflussungen
abgelöst zu werden.
Auf dieser freilich in sehr verschiedenem Masse ausgebildeten
hysterischen Grrundlage können sich nun eine Eeihe verschiedener
Krankheitsbilder entwickeln, sei es als vorübergehende Episoden,
sei es als dauernde und durchgreifende pathologische Zustände.
In erster Linie haben wir dabei einer Form zu gedenken, welche
nahe Beziehungen zu den hypochondrischen Anwandlungen
der Neurastheniker darbietet. Freilich pflegen hier die hypo-
chondrischen Vorstellungen eine viel grössere Gewalt und eine viel
längere Dauer im Bewusstsein der Kranken zu gewinnen, und
sie pflegen namentlich auch die körperlichen Functionen in aus-
gedehntem Masse mit zu beeinflussen. Sehr häufig sind es wii-kliche,
aber durch die Phantasie der Kranken bis ins Ungeheuerliche ver-
grösserte Beschwerden, an welche sich die hypochondrischen Ideen
der Hysterischen anknüpfen. Das Gefühl einer allgemeinen Schwäche
in Folge von Anaemie, Verdauungsbeschwerden, Kopfschmerzen ver-
schiedener Art, abnorme Sensationen längs des Eückens, in den
Beinen, im Unterleibe, vor Allem aber am Herzen, bieten der liebe-
vollen Vertiefung in die eigenen Zustände und der Neigung, sich
selbst möglichst interessant erscheinen zu lassen, die realen Anhalts-
punkte für die Construction eines äusserst merkwürdigen und
quälenden Leidens, dessen Einzelheiten in feinster Detaülii-ung und
effectvoUen Superlativen bei jeder Gelegenheit in den Vordergrund
geschoben werden.
Dieses Leiden bildet gewöhnlich den Mittelpunkt der gesammteu
Interessen der Ki-anken, Es giebt ihnen eine Art Aiisnahmestellimg
gegenüber allen andern Menschen und wird vielfach mit einem ge-
Hysterisches Irresein.
495
wissen heimlichen Stolze erduldet. Wir machen dann die merk-
würdige Beobachtung, dasS die Kranken trotz ihrer beweglichen
Klagen und trotz ihrer Arztbedürftigkeit doch gänzlich unfähig er-
scheinen, ernsthaft und zielbewusst an ihrer Wiederherstellung zu
arbeiten. Sobald von ihrer Ausdauer und Consequenz die gewissen-
hafte Durchführung eines langwierigen Curplans gefordert wird,
pflegen sie ' ungemein rasch zu versagen. Ihnen fehlt mehr oder
weniger vollständig das Gefühl der eigenen Yerantwortlichkeit für
ihre Gesundheit, die elementare Sehnsucht nach Genesung. Der
Arzt hat dafür zu sorgen, dass sie sich wohl fühlen; ihn klagen sie
an bei jeder Störung. Nicht für sich, sondern ihm zum Gefallen
imterziehen sie sich der Behandlung, die ihnen daher keine Un-
bequemlichkeiten zumuthen darf. Nur wo es ganz absonderliche,
neu erfundene Methoden oder grosse Operationen gilt, sind sie gern
bereit, erstaunliche Dinge zu ertragen.
In manchen Fällen sind es namentlich psychische Leiden, welche
die Kranken an den Eand der Terzweiflung bringen. Entsetzliche
Gedanken, die Erinnerung an die unerhörten Schicksale ihres Lebens,
furchtbare Seelenpein, nächtüche Träume von grauenhafter Aus-
führlichkeit und Schrecklichkeit, selbst angebliche Hallucinationen
(ein schwarzer Mann mit einem langen Messer, die Mutter im Leichen-
gewande, geschlechtKche Angriffe), Alles in theatralischem und selbst-
gefälligem Aufputze, pressen den Kranken bei jeder passenden Ge-
legenheit ganze Cascaden von Thränen aus den Augen, während sie
gleichzeitig einen sehr ausgeprägten, wenn auch bemäntelten Sinn
für materielle Genüsse besitzen, bei keiner Anstaltsfeierlichkeit fehlen
und überall'ihren übermenschlichen Schmerz mit heroischer Resignation
zur Schau tragen. Auch das männliche Geschlecht stellt zu dieser
Form, die man wol nicht mit Unrecht der Hysterie zurechnen darf,
seine Vertreter.
Regelmässig begegnen wir endlich bei unseren Kranken in
stärkerer oder schwächerer Ausbildung jenen Symptomen, die wir als
charakteristisch für die hysterische Neurose zu betrachten pflegen
(„Stigmata"). Namentlich sind es Lähmungen einzelner Güeder ver-
schiedenen Grades, Gehstörungen (Astasie-Abasie), Ovarie, unüberwiud-
hche Appetitlosigkeit, hartnäckiges Erbrechen, Secretionsanoraalien,
Aphonie, Sehstörungen, Anaesthesien und Hyperaesthesien, Globus,
Clavus, Ohnmachtsanfälle und Krämpfe, welche das Krankheitsbild
496
IX. Die allgemeinen Neurosen.
in maunichfaltigster "Weise begleiten. Allen diesen Störangen, deren
Schilderung im Einzelnen hier nicht unsere Aufgabe sein kann, ist
der Umstand gemeinsam, dass sie in ihrem Auftreten und Yer-
schwinden auf sehr bemerkenswerthe "Weise von psychischen Ein-
flüssen abhängig sind. So vermag eine heftige Aufregung die
Lähmungssymptome plötzlich zum Schwinden zu bringen; das Er-
brechen wird durch Magenaussptilungen, die Application von Kähr-
lilystiren, durch die Aussicht auf eine Yergünstigung beseitigt; der
Krampfanfall schliesst sich an einen Aerger, an die klinische Demon-
stration u. dergl. an, und er weicht nicht selten dem Drucke auf
das hyperaesthetische Hypogastrium, der energischen Anwendung
des faradischen Pinsels oder einer kalten Debergiessong. Dieses
Yerhalten entspricht durchaus der weiteren Erfahrung, dass die
Kranken, wenn sie unbefangen sind und sich unbeachtet glauben,
oft alle ihre Beschwerden vergessen und in psychischer wie körper-
licher Beziehung (Essen, Gehen) eine bedeutende Leistungsfähigkeit
an den Tag legen, welche sofort der alten, Mitleid heischenden Hin-
fälligkeit Platz macht und von ihnen vollständig verleugnet wird,,
sobald sie auf ihre Krankheit hingewiesen werden oder sich dem
Arzte gegenüber sehen.
Man hat aus diesen und ähnlichen Beobachtungen nicht selten
den in der That oft verführerischen Schluss gezogen, dass es sich
bei Hysterischen überhaupt nicht um Krankheit, sondern lun ganz
ordinäre Simulation handele. Ohne Zweifel werden einzelne Sym-
ptome dieser hypochondrischen Form von den Kranken willkürlich
und zweckbewusst vorgetäuscht, um sich die Theünahnie des Arztes
zu sichern und ihm eine möglichst schlimme Vorstellung von der
Grösse ihres Leidens beizubringen. So kommt es nicht zu selten
vor, dass Hysterische vorgeben, wochen- oder monatelang nichts
gegessen oder keinen Stuhlgang gehabt zu haben, trotzdem eine
geschickte Beobachtung ergiebt, dass sie mit grösster Schlauheit (in
der Nacht, mit Hülfe anderer Kranker) sich Nahrung zu verschaffen
oder ihre Excremente zu beseitigen wissen, während sie mit ver-
zweiflungsvoller Duldermiene oder resignirtem Trotze an ihrer Be-
hauptung festhalten. Auch habe ich es erlebt, dass eine solche
Kranke sich mit einer Scheere heimlich, aber systematisch ziemlich
schwere Yerwundungen in der Yagina beibrachte, um Blasenblutuugen
vorzutäuschen. Man darf indessen nicht ausser Acht lassen, dass
Hysterisches Irresein.
497
ims clie Neigung zu einer Art Simulation einzelner Symptome bei
einer Keihe von anderen psychischen Erkrankungen gelegentlich
begegnet. Es wäre daher durchaus verkehrt, aus dem Nachvsreise
einer absichtlichen Täuschung auf den Mangel einer psychischen
Störung überhaupt schliessen zu wollen. Wenn auch dieses oder
jenes von dem Ki-anken behauptete Symptom in "Wirklichkeit nicht
vorhanden ist, so fällt doch eben die eigenthümliche Neigung zur
Täuschung des Ai-ztes und das dem gesunden Menschen ganz un-
verständliche Motiv selber ohne Zweifel in das Gebiet des Krank-
haften hinein.
Kaiun weniger charakteristisch für das hysterische Irresein, als
die hypochondrischen Klagen sind die in vielen Fällen episodisch
hervorti-etenden Dämmerzustände. Man bezeichnet mit diesem
Namen kürzer oder länger dauernde Anfälle stärkerer Bewusstseins-
trübung, welche sich entweder spontan einstellen oder unmittelbar
an Krampfparosysmen anschliessen, auch häufig durch solche ab-
geschnitten oder unterbrochen werden. Als einfachste Form dieser
Dämmerzustände können wir jene Bewusstseinsstörungen betrachten,
welche regelmässig den Krampfanfall kürzere oder längere Zeit über-
dauern. Die Kranken liegen mit schlaffen Gliedern, in denen nur
gelegentlich noch eine Andeutung tonischer Starre hervortritt, ruhig
athmend und mit meist verlangsamtem Pulse, die Augen nach oben
und seitw^ärts gerollt, fast unbeweglich da, reagiren aber meist durch
Ausweichbewegungen, Zucken, Augenrollen oder durch plötzliches
Zusammenschrecken und Erwachen auf stärkere Reize, namentlich
auf den faradischen Pinsel. Tn einzelnen Fällen kann sich dieser
Zustand, unterbrochen durch zahlreiche Krampfanfälle, viele Tage,
ja "Wochen lang mit geringen freieren Intervallen hinziehen. Bis-
weilen gleichen die Dämmerzustände ganz dem gewöhnlichen Ein-
schlafen („Schlafanfälle"). Die Gesichtszüge der Kranken nehmen
plötzlich den Ausdruck der Ermüdung an; die Augen schliessen
sich; der Kopf sinkt herab; die Glieder werden schlaff, und die
Kranken scheinen mit tiefen, regelmässigen Athemzügen zu schlafen.
Meist erwachen sie nach kurzer Zeit von selbst wieder, oder es
gelingt, sie durch energische Reize zu erwecken. Sie scheinen dann
zimächst noch schlaftrunken, blicken beim Erwachen verstört um
sich und wissen gar nicht, wie alles gekommen.
Solche Schlafanfälle bilden den Uebergaug zu den Erscheinungen
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Aufl.
498
IX. Die allgemeinen iS'eurosen.
des Nachtwandelns oder Somnambulismus, wie sie bei Hys-
terischen während des natürlichen Schlafes beobachtet werden. Die
Kranken erheben sich aus ihrem Bette, sehen zum Fenster hinaus,
gehen im Zimmer oder selbst im ganzen Hause herum, verrichten
allerlei, oft ganz geordnete, bisweilen aber auch unsinnige (Zerreissen
von Kleidern, Yerstecken von Gegenständen) und sogar verbreche-
rische Handlungen (Diebstähle, Brandstiftungen), um sich dann nach
einiger Zeit wieder ins Bett zu legen und am anderen Morgen mit
höchst unklarer Erinnerung an das Geschehene zu erwachen. J^icht
selten ist es möglich, die Kranken durch Anreden oder doch durch
intensivere Kelze (Kälte, Stechen, Kneifen) aus ihrem Zustande zu
erwecken. Ganz ähnliche Anfälle beobachtet man auch bei Tage,
wo sie sich gewöhnlich im Anschlüsse an einen Krampfparoxysmus,
bisweilen auch einen Lach- oder Weinkrampf, entwickeln. Die
Kranken machen hier ganz den Eindruck von Nachtwandlern, indem
sie mit verschränkten Armen, gesticulirend oder leise und un-
verständlich vor sich hin sprechend auf und abgehen. Indessen
lassen sie sich meist durch äussere Störungen gar nicht beirren;
selbst gewaltsames Festhalten oder faradische Sti'öme genügen häufig
nicht, um den krankhaften Zustand zu beseitigen.
Noch reger gestaltet sich die psychische Thätigkeit bei einer
weiteren Form der Dämmerzustände. Hier stellen sich bei mässig
getrübtem Bewusstsein massenhafte Hallucinationen ein, welche
die Kranken entweder in unangenehme, aufregende Situationen
oder in ekstatische Zustände mit Wonnegefühlen und hinnnlischen
Yisionen versetzen, Stimmungen, die sich dann natürlich in dem
ganzen Benehmen, den Eeden und den Ausdrucksbewegungen wider-
spiegeln. Eine meiner Kranken kämpfte in solchen Zuständen heftig
mit einem imaginären Arzte, der ihr, nach ihren abgerissenen Aus-
rufen zu schliessen, Gewalt anthun wollte; eine andere sah ganze
Berge von Papier vor sich, durch. deren Anbrennen sie die Yer-
nichtung ihres Anwesens und ihres Wohlstandes herbeiführte. Endlich
beobachtet man, namentüch bei jugendlichen Individuen, Dämmer-
zustände mit eigenthümlicher läppischer Erregung. Die
Kranken befinden sich in vorwiegend heiterer, ausgelassener Stimmung,
in welcher sie ihre Umgebung verkennen, schnippische Reden führen,
ein eigensinniges, albernes Wesen an den Tag legen und allerlei
thörichte oder muthwilhge Streiche begehen, schi-eien, Thierstimmen
Hvstorisclies IiTesein.
499
iiachahmeu, davonlaufen. Oft tritt hier bei dem ziemlich besonnenen
Benehmen der Ea-anken die pathologische Natur der Störung dem
Zuschauer erst dann recht deutlich zu Tage, wenn nach einigen
Minuten oder Stunden ein leichter Krarapfanfall die Scene abschliesst
und nun plötzlich bei völligem Mangel der Erinnerung an das Vor-
gefallene ein stilles, gedrücktes "Wesen an Stelle der früheren Aus-
gelassenheit ti-itt. Die letzteren beiden Formen der Dämmerzustände
war Kieger durch Hypnotisiren experimentell zu erzeugen im
Stande, doch sind sie auch spontan nicht zu selten.
Ausser diesen typischen Krankheitsbildern können sich auf der
hysterischen Grrundlage noch eine Keihe von anderen psychischen
Störungen entwickeln, welche in der Regel nur durch gewisse
Eigenthümlichkeiten ihren hysterischen Ursprung verrathen. So
begegnet man hier nicht selten kürzer oder länger dauernden un-
motivirten depressiven Verstimmungen, welche oft von vagen
Versündigimgsideen begleitet sind. Noch häufiger fast sind Auf-
regungszustände aller Art, zumeist in Form zorniger Gereiztheit
mit heftigen Schimpf paroxysmen, mit der Neigung, zu zerstören und
selbst zu schmieren, gewöhnlich an irgend einen äusseren Anlass,
einen Aerger, eine eifersüchtige Eegung u. dergl. sich anschliessend.
Alle diese Affectzustände gehen meist rasch, binnen wenigen Stunden,
Tagen oder höchstens Wochen wieder vorüber, aber sie haben
naturgemäss eine ganz ausserordentliche Neigung, zu recidiviren,
und treten bisweilen mit einer gewissen Periodicität (etwa in Ver-
bindung mit, den Menses) hervor. Ja, es kann sich aus dem oft
wiederholten, unregelmässigen Wechsel zwischen exaltirteil und
depressiver Verstimmung mit dazwischen sich einschiebenden
Dämmerzuständen, relativ normalen Zeiten und Krampfanfällen ver-
schiedener Art, namentlich tagelang andauernder allgemeiner Chorea,
ein überaus mannichfaltiges und über Jahr und Tag hin sich er-
sti-eckendes Krankheitsbild zusammensetzen.
Da die Hysterie im Wesentlichen eine besondere Art der krank-
haften Veranlagung darstellt, werden natürüch auch die verschieden-
artigsten, nicht eigentlich hysterischen Psychosen auf dieser Grund-
lage dm-ch Beimischung einzehier besonderer Züge eine eigenartige
Färbung annehmen können. Schon früher wurde erwähnt, dass
Melancholien bei jugendlicheren Personen häufiger hysterische An-
deutungen zeigen, namentlich Dämmerzustände und vorübergehende
32*
500
IX. Die allgemeinen Neurosen.
hallucinatorische Angstanfälle mit krampfartiger Erregung. Ausserdem
wäre etwa zu erwähnen, dass man bisweilen auch eine „hysterische
Verrücktheit" unterschieden hat, deren Eigenthümlichkeit in dem
Vorkoumien sexueller Verfolgungs- und Grössenideen liegen solL
Ich habe mich Yon der Berechtigung einer solchen Form bisher
nicht überzeugen können.
Wie der Name bereits andeutet {vorega^ die Gebärmutter), ist
die Hysterie so sehr eine Krankheit des weiblichen Geschlechts,
dass man sogar zweifelhaft gewesen ist, ob man überhaupt ein
Kecht hat, ähnliche Symptomencomplexe bei Männern unter dieselbe
Bezeichnung zu subsumiren. Indessen die „männliche Hysterie''
ist heute, wie wir der Pariser Schule ohne weiteres zugestehen
müssen, keine seltene Krankheit mehr, und es lässt sich nicht in
Abrede stellen, dass eine scharfe Trennungslinie zwischen den all-
gemeinen Neurosen der beiden Geschlechter schwerlich gezogen
werden kann. "Weder die eigenthümlichen Krampferscheinungen,
noch die Charakterveränderung, noch die Dämmerzustände fehlen
bei Männern vollständig, wenn sie auch beim weiblichen Geschlechte
eine viel grössere Ausdehnung und typischere Entwickelung zu
erlangen pflegen. Kecht häufig ist die Hysterie bei Kindern beiderlei
Geschlechts. Freilich beobachten wir hier meist nur einzelne Krank-
heitserscheinungen, halbseitige Blindheit, Eeflexkrämpfe, Lähmungen,
SchreianfäUe, krampfhaftes Husten, läppische Dämmerzustände. Alle
diese Symptome werden leicht durch körperliche Störungen, aber
auch durch Gemüthsbewegungen, namentlich durch psychische An-
steckijaig ausgelöst {Schulepidemien).
Aus den angeführten Erfahrungen geht jedenfalls soviel hervor,
dass den legendären Beziehungen der Hysterie zu dem weiblichen
Sexualsysteme nicht diejenige Unverbrüchlichkeit zukommt, welche
ihnen, selbst bis in die neueste Zeit, vielfach zugeschrieben worden
ist. Ebenso muss uns der Umstand, dass gerade eine Reihe sehr
tiefgTeifender Erkrankungen der Geschlechtsorgane zwar recht schwere
somatische und selbst psychische Störungen zu erzeugen vermögen,
ohne doch dabei den Symptomen complex der Hysterie auszulösen,
gegen die Annahme einer massgebenden Bedeutung der Sexual-
erkrankungen immerhin misstrauisch machen. Sehen wir doch
ferner hysterische Erscheinungen schon lange vor dem Eintritte
der Geschlechtsreife, sehen wir sie doch endlich auch bei voU-
Hysterisches Irresein.
501
kommen gesunden Genitalorganen in deutlichster Weise sich ent-
wickeln.
Auf der anderen Seite kann nicht geleugnet werden, dass häufig
genug bei Hysterischen der objective Befund oder doch die Be-
schwerden auf die Geschlechtssphäre als auf die Quelle der Neurose
hindeuten, und dass die Beseitigung kleiner Störungen auf diesem
Gebiete, vielleicht auch einpial die Entfernung der gesunden
Generationsorgane, unter Umständen eine erhebliche Besserung
oder sogar völlige Beseitigung der hysterischen Symptome herbei-
zuführen vermag. Aus allen diesen Thatsachen scheint mir mit
Sicherheit soviel hervorzugehen, dass die eigentliche Ursache der
Hysterie, wie früher ausgeführt, in einer krankhaften Veranlagung
des gesammten Nervensystems gelegen ist, dass wir aber beim
Weibe in den Genitalorganen eine der ergiebigsten Quellen für jene
äusseren Eeize und Schädlichkeiten zu suchen haben, welche nun
auf dem prädisponirten Boden die hysterischen Erscheinungen aus-
lösen. Die constitutionelle Entartung ist es, welche den aus der
empfindlichsten Sphäre andringenden Eeizen mehr oder weniger
entgegenkommt oder bei besonderer Ausbildung selbst ohne stärkeren
äusseren Anstoss die krankhaften Störungen des nervösen und psych-
ischen Lebens herbeiführen kann. Nur so erklärt es sich, dass
ein und dasselbe organische Leiden in einem Falle fast symptomlos
verläuft, im zweiten leichte nervöse Beschwerden, im dritten aber
die ganze Mannichfaltigkeit der hysterischen Erscheinungen zu er-
zeugen im Stande ist.
Wie sich aus den vorstehenden Erörterungen von selber ergiebt,
ist der Verlauf der Hysterie regelmässig ein chronischer, nicht
selten über Jahrzehnte hinaus sich erstreckender. In einzelnen Fällen
zeigen sich die ersten Symptome der Erkrankung, namentlich beim
weiblichen Geschlechte, schon im zehnten bis zwölften Lebensjahre,
ja selbst noch früher; auf der andern Seite pflegen sich im höheren
Lebensalter, nach dem Klimakterium, häufig die schwerereu Er-
scheinungen der Hysterie mehr und mehr zu verwischen. Im Gegen-
satze zu dem andauernden Fortbestehen der hysterischen Constitution
können die einzelnen Formen psychischer Erkrankung einen ausser-
ordentlich wechselvollen imd verschiedenartigen Verlauf nehmen.
Ja, der rasche und unvermittelte Wechsel der Erscheinungen
ist sogar in hohem Grade dem hysterischen Irresein eigenthümlich.
502
IX. Die allgemeinen Neurosen.
Es ist gewissermassen eine Reibe von „Zufällen", welche sich auf
der gemeinsamen Grundlage nach einander abspielen können, und
deren Einzeldauer in der Eegel einige Monate nicht überschreitet,
häufig aber auch nur einige Tage oder Stunden beträgt.
Die Prognose des hysterischen IiTeseins ist, was die eigent-
lichen Anfälle psychischer Störung anbetrifft, eine durchweg günstige;
dafür aber wird man fast immer mit Sicherheit beim nächsten An-
lasse eine Eückkehr dieser oder einer anderen Form des Leidens
erwarten dürfen. Nur die Hysterie der Kinder scheint sich öfters
mit fortschreitender körperlicher Entwickelung bis auf eine gewisse
Prädisposition völlig zu verlieren. Bei Erwachsenen ist an eine
wii-Jdiche Umänderung der hysterischen Constitution, sowie der aus
ihr hervorwachsenden Charaktereigenthümlichkeiten schwerlich zu
denken. Dagegen werden sehr bedeutende und ans Wunderbare
grenzende therapeutische Erfolge bisweilen in solchen Fällen erzielt,
in denen sich äussere Momente (Sexualerkrankungen, ungeeignete
Lebensweise, schädlicher Einfluss der Umgebung) als wesentliche
auslösende Ursache der Krankheitserscheinungen erkennen lassen.
Andererseits giebt es, wie es scheint, vorzugsweise beim männlichen
Geschlecht, schwere Formen der Hysterie mit hochgradigen hypo-
chondrischen Beschwerden, welche sich dem äi-ztlichen Eingreifen
auf die Dauer nahezu ganz unzugänglich erweisen und eine Art fort-
schreitenden Verlaufes zeigen mit stetiger oder schubweiser Yer-
schlechterung des gesammten Krankheitsbildes.
Schon die Schwierigkeit einer scharfen Begriffsbestimmung des
hysterischen L'reseins deutet auf die nahen Beziehungen hin, die
dasselbe zu den verwandten Neurosen aufzuweisen hat. Namentlich
die „männliche Hysterie" ist es, welche diese Beziehungen am klarsten
hervortreten lässt. Nach der einen Seite hin haben wir zahlreiche
Uebergänge zu dem Krankheitsbilde der constitutionellen Neui'asthenie
zu verzeichnen, wenn sich auch gewisse Merkmale aufstellen lassen,
welche zumeist eine Abgrenzung beider Gebiete von einander er-
möglichen. Der Neurasthenie im engeren Sinne fehlen die Lähmungen,
die Anaesthesien, die Krämpfe, die Dämmerzustände; an ihrer Stelle
begegnen wir den Zwangsvorstellungen, Zwangsgefühleu und Zwangs-
impulsen. Die ti-aumatische Neui'ose nähert sich in ersterer Be-
ziehung der Hysterie, aber ihr Krankheitsbüd ist weit einförmiger;
die ungünstig ausgehenden Fälle ähneln sehr den schweren, fort-
Hysterisches Irresein .
503
schreitenden formen der Hysterie. Zwischen der Constitution eilen
psychischen Depression und der hysterischen Veranlagung giebt es
fliessende Uebergänge.
Auch für die Abgrenzung der Hysterie gegenüber dem epi-
leptischen Irresein ergeben sich Schwierigkeiten. Vielfach ermöglicht
freilich schon die Beobacbtung des einzelnen Krampfanfalles die Unter-
scheidung. Beim hysterischen Anfall ist das Bewusstsein nicht so
tief getrübt wie beim epileptischen; es kommt daher auch fast nie
zu dem plötzlichen, rücksichtslosen Hinstürzen, zu ernsthaften Ver-
letzungen und zum Zungenbiss. Ferner pflegt der hysterische Anfall
eine viel gi'össere Mannichfaltigkeit in seiner Ausbildung zu besitzen,
als der fast immer gleichförmige epileptische Insult. Tonische und
klonische Muskelconti^actionen des ganzen Körpers und einzelner
Theile, Zwerchfellkrcämpfe, Opisthotonus („arc de cercle"), Jactation,
Herumrollen an der Erde, Purzelbcäume und ähnliche, mehr an will-
kürliche Actionen erinnernde Bewegungen wechseln miteinander,
selbst bei demselben Anfalle, öfters in verschiedenartiger Weise ab.
EndHch stehen die hysterischen Krämpfe in besonderem Masse unter
dem Einflüsse äusserer Einwirkungen. Nicht selten gelingt es, sie
durch Gemüthsbewegungen hervorzurufen und sie durch sehr inten-
sive Reize abzukürzen oder völlig zu coupiren. Dennoch giebt es
zwischen beiden Krampfformen unzweifelhaft eine Reihe von Ueber-
gängen, welche bekanntlich zur Aufstellung des Zwischengebietes
der ,.Hysteroepilepsie" geführt haben.
Recht unsicher kann die Unterscheidung der hysterischen und
epileptischen Dämmerzustände ausfallen. Im Allgemeinen lässt sich
nur sagen, dass die letzteren besonders häufig mit' sehr intensiven
AngstanfäUen und der Neigung zu brutalen, gewaltthätigen Reactionen
einhergehen, während die hysterischen Dämmerzustände in der Regel
ruhiger, theatralischer, weniger impulsiv zu verlaufen pflegen. Das
Verhalten der Erinnerung ist in beiden Eällen ein wechselndes. Bei
längerer Beobachtung wird sich übrigens auf G-rund anderweitiger
Anhaltspunkte, aus dem Vorhandensein der hysterischen Stigmata,
aus der Art der Krampfanfälle, soAvie auch aus dem gesammten
psychischen Verhalten der Kranken regelmässig .eine Abgrenzung
ermöglichen lassen. Dem hysterischen Charakter ist die sprunghafte
Launenhaftigkeit, der rasche Wechsel der Stimmung, die Abhängig-
keit von äusseren Beeinflussungen eigenthümlich, Avährend bei dem
504
IX. Die allgemeinen Neurosen.
Epileptiker die rohe Zommüthigkeit, der bornirte Eigensinn und
eine gewisse selbständige Periodicität der Zustände in den Vorder-
grund tritt. Zudem pflegt bei letzterem die geistige Schwäche meist
häufiger und hochgradiger zu sein, als dort.
Da die wahren inneren Ursachen der Hysterie wol nur in ge-
ringem Masse einer prophylaktischen Therapie durch eine gesundheits-
gemässe, einfache Erziehung zugänglich sind, so wird die Behand-
lung des Leidens zunächst darauf ausgehen, wenigstens die aus-
lösenden Ursachen nach Möglichkeit zu beseitigen. Dabei können
allerlei körperliche Störungen, namentlich solche der Yerdauungs-
organe und des Genitalsystems, in Betracht kommen. Gerade dieses
letztere hat von jeher den Hauptangriffspunkt der Heilbestrebungen
bei der Hysterie gebildet. In der That übt die Beseitigung greif:-
barer Veränderungen an den Genitalien bisweilen einen sehr günstigen
Einfluss auf die Krankheitserscheinungen aus. Freilich wird J man
dabei gut thun, sich hinsichtlich der Dauer der erzielten Besserungen
keinen allzu sanguinischen Hoffnungen hinzugeben. Andererseits
können die genannten Eingriffe unter Umständen auch entschiedene
Verschlechterungen des Zustandes zur Folge haben.
In neuerer Zeit ist man sogar vor sehr eingreifenden Operationen,
bis zur Castration, nicht zurückgeschreckt, um auf diese Weise den
Hysterischen Hülfe zu bringen. "Wie es scheint, ist dieses schneidige
Vorgehen, welches selbst zur Entfernung ganz gesunder Ovarien
fortgeschritten ist, in einzelnen Fällen von günstigem Erfolge ge-
krönt worden, namentlich dann, wenn die Störungen einen gewissen
Zusammenhang mit der Menstruation darboten. Allerdings liegen
andererseits sichere Anhaltspunkte dafür vor, dass vielfach der
psychische Eindruck der Operation wirksamer war, als der chirurgische
Effect derselben. Endlich aber hat sich gezeigt, dass nur zu häufig
jener Erfolg keinen dauernden Bestand hatte, oder dass die Ver-
stümmelung sogar schwere Depressionszustände nach sich zog. Eine
sichere und allseitig anerkannte Feststellung der Indicationen füi'
die Castrationstherapie der Hysterie und namentlich des hysterischen
Irreseins ist bisher nicht erreicht worden. Wahrscheinlich dürfte
dieselbe im Laufe der Zeit kaum eine andere praktische Bedeutung
gewinnen, als diejenige eines ultimum refugium, zu welchem man
greifen kann, wenn aUe anderen Mittel erschöpft sind und wenn
die Neurose Leben und Genussfähigkeit in so hohem Grade be-
Hysterisches Irresein.
505
einträchtigt, dass gegenüber der Möglichkeit der Bessenmg des Zu-
standes die Unannehmlichkeiteu und Gefabren einer Operation gänz-
üch in den Hintergrund treten.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird man sich darauf
beschränkt sehen, die Erscheinungen des hysterischen Irreseins
zu bekämpfen. Einer besonderen Yerbreitung hat sich für diesen
Zweck bei den leichteren hypochondrischen Formen mit Lähmungen,
Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen und starker Abmagerung die
TVeir Mitchellsche Mastcur*) zu erfreuen gehabt, mit um so
grösserem Eechte, als sie durch Bekämpfung der genannten Symptome
der Hysterie zum Theil auch gleichzeitig die Quellen verstopft, aus
denen die Krankheit immer wieder neue Nahrung zieht. Die Erfolge
dieser Cur, welche sich allerdings nur für eine gewisse Gruppe
durch den Yersuch zu erprobender Fälle eignet, sind ganz ausser-
ordentliche; selbst nach 10 — 20jähriger Dauer schwerer Erscheinungen
gelang es doch bisweilen, eine durchgreifende Besserung aller der
angeführten Störungen bis zum völligen Verschwinden derselben
herbeizuführen.
Leider ist jedoch immerhin die Zahl jener Fälle nur allzu gross,
in denen von der Mastcur ein Heüergebniss nicht erwartet werden
kann. Dahin gehören namentlich die Formen mit sehr ausgeprägten
psychischen Störungen, mit denen es der Irrenarzt vor Allem
zu thun hat. Abgesehen von denjenigen Massregeln, welche durch
die gelegentlichen psychischen Gleichgewichtsschwankungen selbst
gefordert werden, wird man indessen auch hier auf eine Verbesserung
der allgemeinen Körperconstitution durch die Sorge für zweckmässige
Ernährung, für ausreichende Bewegung in frischer Luft und ge-
nügenden Schlaf sein Augenmerk zu richten haben. Demselben
Zwecke dienen ferner Bäder mit kühlen Ueberrieselungen, Massage,
Gymnastik, allgemeine Faradisation. Von Medicamenten kommt als
Beruhigungs- und Schlafmittel namentlich das Bromkalium in Be-
tracht, ferner bei der geAvöhnlich anaemischen Körperconstitution
etwa das Eisen und zur Coupirung leichterer „Anfälle" die Tinctura
Valerianae, Aqua Laurocerasi u. dergl. Ausserdem können auch
noch manche der übrigen Schlafmittel hie und da in Frage kommen,
doch soll man mit letzteren möglichst sparsam sein. Das Morphium
*) Burkart, Volkmanns Klinische Vorträge, 245.
506
IX. Die allgemeinen Neurosen.
führt bei Hysterischen ausserordentlich leicht zur Gewöhnung und
niuss daher unter allen Umständen vermieden werden. Die Krampf-
anfälle und die Dämmerzustände lassen sich durch kalte TJeber-
giessungen oder durch den faradischen Pinsel nicht selten wesentlich
abkürzen.
Den bei weitem wichtigsten Theil der Behandlung Hysterischer
bildet indessen die psychische Einwirkung. Sehr häufig liegen
in der Umgebung der Kranken, wie sie sich von selber oder unter
deren Einflüsse gestaltet hat, oder in der ganzen Lebensführung
Schädlichkeiten, welche immer von Neuem das Entstehen der krank-
haften Erscheinungen begünstigen. In allen schwereren Fällen kann
daher eine Cur Hysterischer erfolgTeich nur dann durchgeführt
werden, wenn sie vollständig aus ihren bisherigen Verhältnissen
entfernt und bedingungslos in die Hände des Arztes gegeben werden.
Nichterfüllung dieser wichtigsten Voraussetzung führt fast regel-
mässig zu Misserfolgen. Eür die weitere psychische Einwirkung
lassen sich allgemeine Vorschriften kaum entwerfen, da sie sich in
jedem Falle der besonderen Eigenthümlichkeit der Kranken an-
zupassen hat. Ohne jeden Zweifel beruhen die Erfolge, welche hier
durch die verschiedensten Methoden, durch elektrische und diätetische
Curen; durch Hydro-, Metallo-, Klimatotherapie, von Naturärzten,
Homöopathen und Magnetiseuren erzielt werden, wesentlich oder voll-
ständig auf dem Grlauben der Kranken. Diese Erfahrung muss die
Richtschnur des gesammten ärztlichen Handelns bei Hysterischen
bilden. Es ist daher für den Arzt vor Allem nothwendig, sich das
unerschütterliche Vertrauen und damit die unerlässliche Autorität
über die Kranken zu verschaffen, ein Ziel, welches nicht durch
barsches und rechthaberisches Entgegentreten, sondern nur durch
ruhiges, ernstes, aber stets wohlwollendes und nicht kleinhches Fest-
halten an dem einmal aufgestellten Behandlungsplane erreicht wird.
Das feste Vertrauen der Kranken, dass ihnen geholfen werden wird,
ist das mächtigste therapeutische Hülfsmittel in der Hand des Arztes
und lässt ihn oft genug durch die unbedeutendsten, ja scheinbar
unsinnigsten Eingriffe die weittragendsten Erfolge erringen. Seinem
Tacte und seiner persönlichen Gewandtheit ist somit hier ein Spiel-
raum überlassen, wie bei keiner andern Form psychischer Er-
krankungen. Dass unter diesen Umständen auch mit Hülfe der
hypnotischen Suggestion gute Resultate erzielt werden können, liegt auf
Epileptisches Irresein.
507
der Hand; leider sind aber gerade die schwersten Formen der Hysterie
jener Methode der psychischen EinAvirkung oft nur in beschränktem
Masse zugänglich. Je grösser die Suggestibilität, desto leichter
bilden sich störende Eigensuggestionon und desto rascher wird der
Einfluss der ärztlichen Eingebnug durch andere Aviderstrebende
Vorstellungen wieder vernichtet.
C. Das epileptische Irresein.
Ungleich tiefer, als die Neurasthenie und Hysterie, pflegt die
epileptische Neurose*) in das Seelenleben des Menschen einzugTcifen.
Zwar ist uns aus der Geschichte bekannt, dass eine Reihe historischer
Grössen, namentlich Eeldherrn und Religionsstifter (Cäsar, Narses,
Napoleon I., Muhamed) an Epilepsie gelitten haben, allein diese Fälle
sind als seltene Ausnahmen zu betrachten, denen die ungeheui-e
Masse jener armen Kranken gegenübersteht, welche durch die Epi-
lepsie der psychischen Entartung entgegengeführt werden. Zudem
lassen sich auch bei jenen hervorragenden Persönlichkeiten fast
immer wenigstens einige Züge nachweisen, welche auf eine gewisse
Yerwandtschaft mit dem klinischen Bilde des epileptischen Irreseins
hindeuten.
Die häufigste und am meisten charakteristische Yeränderung,
welche die Epilepsie allmählich im Menschen zu erzeugen pflegt, ist
eine erhöhte gemüthliche Reizbarkeit mit der Neigung zu
heftigen Affectausbrüchen und unüberlegten, brutalen Ge-
waltthätigkeiten. Die Kranken sind für gewöhnlich oft gutmüthig,
hülfsbereit, wenn auch stets ausgeprägte Egoisten. Bei jedem Conflict
aber zeigen sie sich äusserst empfindlich, jähzornig, machen dann
wegen irgend einer Kleinigkeit lebensgefährliche Angriffe, mag es
ausgehen wie es will. Eine ihnen vermeintlich oder wirklich zu-
gefügte Beleidigung können sie sehr lange Zeit hindurch nicht wieder
vergessen, gerathen bei jeder Erinnerung daran leicht wieder in
Wuth und suchen sich in irgend einer Weise dafür zu rächen. Ganz
besonders leicht treten schwere "Wuthanfälle auf, wenn sie sich unter
dem Einflüsse des Alkohols befinden, der ja ohnehin die siebartige
*) Gowers, on epilepsy and other chronic diseases. 1881; Fere, les epilepsies
et les epileptiques. 1890.
508
IX. Die allgemeinen Neurosen.
Entladung von Affectzuständeü in hohem Masse begünstigt. . Ja, die
Mehrzahl der sog. pathologischen Rauschzustände dürfte nichts anderes
sein, als die besondere Reaction eines epileptisch veranlagten Gehii'ns
auf die acute Alkoholvergiftung. Auf der andern Seite besteht viel-
fach ein unglaublich hartnäckiger, bornirter Eigensinn, der den
Kranken allen TJeberredungsversuchen gegenüber taub macht und
ihn mit der grössten Rücksichtslosigkeit eine einmal gefasste Idee
festhalten und durchführen lässt.
In innigem Zusammenhange mit dieser Entartung des Charakters
steht eine ebenso allmählich sich herausbildende Abschwächung der
Intelligenz. In leichten Fällen allerdings tritt diese Störung oft
wenig hervor, ja sie kann sogar vollkommen fehlen; allein bei
schwerer und länger dauernder Epilepsie wird man sie doch nur
selten vermissen. Die Orientirung, die Besonnenheit und der Zu-
.sammenhang des Gredankenganges bleibt vollständig erhalten, aber
die geistige Regsamkeit geht allmählich verloren. Der Kranke ver-
mag keine wesentlich neuen Erfahrungen mehr in sich aufzunehmen
und zu verarbeiten, sondern bewegt sich mit Vorliebe in gewohnten
Bahnen. Stehende Redensarten, Gremeinplätze, Bibel verse, Sprich-
wörter pflegen daher eine grosse Rolle in seinen Aeusserungen zu
spielen. Ihm fehlt jener Ueberblick über die Lebenserfahrungen,
welcher uns befähigt, überall das "Wichtige von dem Nebensächlichen
zu trennen und einen Gedankengang geradeswegs einem bestimmten
Ziele zuzuführen. So kommt gerade liier ein sehr häufiges und
eigenartiges Symptom zu Stande, die "Weitschweifigkeit der Epi-
leptiker. Bei jeder Erzählung beginnt der Kranke mit Daten, deren
Beziehung zur Frage zunächst kaum erkennbar ist, und er häuft
dabei an jedem Punkte eine solche Menge von ganz gleichgültigen
Nebenumständen, dass seine Darstellung schlechterdings nicht von
der Stelle zu rücken scheint. Jeder Versuch, ihn durch Zwischen-
fragen zu einer rascheren Entwickelung des "Wesentlichen zu ver-
anlassen, pflegt zu scheitern; der Kranke nimmt den Faden einfach
an der unterbrochenen Stelle wieder auf. Dabei verliert er jedoch
niemals den Zusammenhang. Im Gegensatze zu dem Ideenflüchtigen,
den jede Ablenkung sofort den Ausgangspunkt völhg vergessen lässt,
kommt der Epileptiker immer schliesslich zum Ziel, freilich erst
nach ganz unerhörten Umschweifen. Dem entspricht die Erfahrung,
dass die Erzählungen unserer Kranken vielfach in allen Ausdrücken
Epileptisches Irresein.
509
und Wendungen stereotyp sind; der Yorstellungsverlauf schlängelt
sich jedesmal durch die gleichen gewundenen Pfade, und er muss
es thun, um überhaupt sein Ziel zu erreichen.
Hand in Hand mit dieser stereotypen "Weitschweifigteit geht
regelmcässig eine fortschreitende Verarmung des Vorstellungs-
schatzes. Das Gedächtniss für vergangene Zeiten leidet in er-
heblichem Masse; eine grosse Zahl von Erfahrungen des früheren
Lebens geht dem Kranken spurlos wieder verloren, und nur die-
jenigen Vorstellungskreise bleiben sein dauerndes Eigenthum, die
sich durch immerwährende Wiederholung fest und unverrückbar
fixirt haben. Bisweilen kommt es zu fabulirenden Erzählungen, die
von dem Kranken stets in derselben Weise wieder vorgebracht und
schliesslich auch wol von ihm selbst geglaubt werden. In einzelnen
Eällen werden wirkliche Erinnerungstäuschungen beobachtet, indem
sich den Kranken vor den Anfällen oder auch dauernd die Vor-
stellung aufdrängt, als hätten sie die gegenwärtige Situation schon
einmal durchlebt. Bei sehr hochgradiger Ausbildung des epileptischen
Schwachsinns kann schliesslich die Fähigkeit, neue Erfahrungen zu
sammeln, vollständig verloren gehen, so dass der Kranke nur noch
über einen kleinen, allmählich immer mehr einschrumpfenden Vor-
rath von Ideen verfügt. Im Gegensatze zu anderen Formen des
erworbenen Schwachsinns ist er jedoch im Stande, sich innerhalb
dieses kleinen Kreises von Vorstellungen noch klar und zusammen-
hängend zu bewegen, wenn es sich auch dabei zumeist nur um die
ständige Wiederholung derselben Gedankengänge und Wendungen
handelt.
Es ist natürlich, dass bei der Verarmung des Vorstellungs-
schatzes nach und nach die Bedeutung des eigenen Ich in der
Weltanschauung der Kranken ausserordentlich anwachsen muss. So
kommt es, dass die Kranken, je weiter der Schwachsinn gediehen
ist, um so mehr in ihrem Selbstgefühle wachsen, und dass schliess-
lich der Inhalt ihrer Reden sich wesentlich auf die Lobpreisung der
eigenen Person und alles dessen, was mit ihr zusammenhängt,
namentlich auch der übrigen Familienglieder, beschränkt. Gleich-
zeitig beobachtet man bei ihnen eine auffallende Euphorie gegenüber
ihrer Krankheit. Sie meinen nach jedem Anfall, derselbe sei nur
noch ganz klein gewesen; sie seien nun bald ganz gesund, fühlen
sich, Gott sei Dank, recht wohl. Ausserdem sind es religiöse Vor-
510
IX. Die allgemeiaen Neurosen.
Stellungen, welche mit ungemeiner Vorliebe cultivirt zu werden
pflegen., Sei- es, class bisweilen eigenthümliche , mit den Anfällen
verbundene Sensationen die Idee einer göttlichen Beeinflussung nahe
legen, sei es, dass bei den hülf losen Kranken die Idee einer Er-
lösung durch übernatüi-liche Macht einen besonders günstigen Boden
findet — sehr häufig glauben sie, zum Himmel in einem vorzugs-
weise innigen Verhältnisse zu stehen, weil sie immer so brav ge-
wesen sind und immer so üeissig gebetet haben.
, Auch in ihrem Benehmen können die Kranken trotz hoch-
gradigster geistiger Schwäche dauernd dui'chaus geordnet bleiben.
Sie beschäftigen sich mit irgend einer Arbeit, schreiben zusammen-
hängende, aber inhaltslose und stereotype Briefe, begrüssen den
Arzt, vielfach sogar mit einer gewissen umständlichen Höflichkeit,
kleiden sich correct und halten auf Ordnung und Herkommen, geben
allen Vorgesetzten in Anrede und Titel die Ehre, die ihnen nach
ihrem Dafürhalten gebührt. Oefters entwickelt sich bei ihnen ein
etwas theatralisch gespreiztes Wesen und eine eigenthümlich ver-
zwickte Redeweise. Einer meiner Kranken sprach von dem „immer
allgegenwärtigen, verzweifelten Täuschungssinn."
Die im Vorstehenden geschilderte chronische Entartung der
Epileptiker ist in den einzelnen Fällen ausserordentlich verschieden
ausgebildet. Häufig nur leise angedeutet oder nur bei besonderen
Gelegenheiten erkennbar, beherrscht sie in andern Fällen das Krank-
heitsbild derartig, dass die Diagnose der Epilepsie ohne Weiteres
schon aus der Eigenart des Schwachsinns abgeleitet werden kann,
wie es mir häufig gelungen ist. Sie bildet die Grundlage, auf
welcher sich eine Reihe mehr episodischer Störungen entwickeln können,
deren gemeinsame Eigenthümlichkeit in ihrer selbständigen, von
äusseren Einflüssen unabhängigen Periodicität liegt.
Zunächst haben wir dabei jener vielleicht keinem Epileptiker
fehlenden Gleichgewichtsschwankungen zu gedenken, welche ohne
auffallende Bewusstseinstrübung mit den Anzeichen einer
starken gemüthlichen Spannung einhergehen. Die Kranken werden
plötzlich finster, mürrisch, ziehen sich zurück, grüssen nicht, bleiben
von der Arbeit weg, oder sie beginnen zu quernliren, zu schimpfen, ihre
Entlassung zu verlangen, sich in stehenden Wendungen über eine
längst erlittene Benachtheiligung zu beklagen. Dabei sind sie regel-
mässig sehr reizbar, drohend, gerathen leicht mit ihrer Umgebung in
Epileptisches Irresein.
511
Streit und schlagea bei 'dem geringsten Anlasse brutal drauf los. Hie
und da stellen sich auch einzelne Verfolgungsideen und deutliche
Gehörstäuschungen ein. . Man will ihnen ans Leben, sie heimlich
überfallen und zerstückeln. Einer meiner Kranken erklärte sich
gerne bereit, sich von den Aerzten ordnungsmässig hinrichten zu
lassen, protestirte aber gegen die vermeintlichen Absichten der
andern Patienten, ihn hinterrücks niederzumachen. Er sass daher,
heimlich mit selbstverfertigten, recht gefährlichen Waffen ausgerüstet,
die ganze Nacht -fachend im Bett, um sein Leben so theuer Avie
möglich zu verkaufen. Nach einem oder wenigen Tagen pflegen
diese Zustände ebenso rasch zu schwinden, wie sie gekommen sind.
Der Kranke ist wieder zugänglich, gutmüthig, harmlos, will nichts
mehr von den „Yeriolgungen" wissen, lacht über seine „Einbildungen".
Ungemeiii häufig nehmen die gemüthlichen Schwankungen der
Epileptiker die Form innerer Beängstigungen an. Ohne irgend
welchen Anlass wird es den Kranken plötzlich schwer ums Herz; es
steigen ihnen traurige Gedanken, trübe Ahnungen, Yersündigungs-
ideen auf. Ihr Leben ist verpfuscht; es ist Alles umsonst; sie haben
den Kelch verunreinigt, sind unbussfertig gewesen. Meist gesellt
sich auch das Gefühl von Benommenheit und Druck im Kopf hinzu,
Erschwerung des Denkens und innere Unruhe. Sie sind dann un-
fähig zu arbeiten, beginnen entweder zu beten, oder sie laufen planlos
heriun, greifen zum Alkohol, machen einen impulsiven Selbstmord-
versuch, über dessen Beweggründe und Ausführung sie sich später
oft selbst keine Kechenschaft zu geben vermögen. Auch diese
Störangen pflegen einige Stunden oder Tage nicht zu überdauern.
Seltener ist das anfallsweise Auftreten expansiver oder
ekstatischer Stimmungen. Die Kranken werden erregt, laufen mit
glänzenden Augen, geröthetem Kopfe und freudig gehobenem Ge-
sichtsausdrucke herum, springen und jauchzen, begehen allerlei
muthwillige Streiche, Averfen Alles durcheinander, necken die Mit-
patienten, beten laut und pathetisch, äussern auch wol religiöse
Grössenideen oder prahlen mit hoher Abkunft und vornehmer Ver-
wandtschaft. Ideenflucht scheint dabei nicht vorzukommen, wol
aber grosse gemüthliche Keizbarkeit mit Neigung zu raschen Gewalt-
akten. Die Dauer ist meist eine kurze.
In der Regel zeigen die einzelnen Anfälle bei dem gleichen
Kranken eine ausserordentliche üebereinstimmung untereinander.
512
IX. Die allgemeinen Neurosen.
Man bemerkt sofort an einer bestimmten Redensart, einer kleinen
Aenderung im Benehmen, im Gesichtsausdruck, dass wieder etwas
im Gange ist, dass „ein schlechter Wind weht". Die gleichen Klagen,
die gleichen, oft corrigirten Wahnideen kehren wieder, die gleichen
Antriebe und Handlungen, um der inneren Erregung einen Ausweg
zu schaffen. Freilich giebt es auch unvollkommene Anfälle, in
denen die gewöhnlichen Erscheinungen nur theilweise oder nur in
schwachen Andeutungen ausgebildet sind oder sehr rasch wieder
vorübergehen. Die Zwischenzeiten zwischen den .Anfällen sind
bisweilen ganz regelmässige, so dass man den Eintritt der Er-
scheinungen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit vorhersagen kann.
Meist jedoch wechseln die Intervalle; zeitweise kann es zu einer
Häufung der Störungen kommen. Durchschnittlich pflegen sich die-
selben etwa alle paar Wochen Oder Monate einzustellen, in einzebaen
Fällen auch wol nur ein oder zwei Mal im Jahre.
Die zweite grosse Gruppe der periodischen psychischen Zufälle
bei Epileptikern zeigt uns eine mehr oder weniger tiefe Trübung
des Bewusstseins. Wir können bei ihrer Schilderung ausgehen
von der schweren Bewusstseiosstörung, welche regelmässig den
epileptischen Krampfanfall begleitet. Die Auffassung äusserer Ein-
drücke und der Vorstellungsverlauf stocken, und an Stelle der
Willenshandlungen treten automatische, unwillkürliche Muskelcon-
tractionen (tonische und klonische Krämpfe). Weiterhin aber können
diese Krampfbewegungen in dem Bilde des epileptischen Anfalles
auch vollkommen fehlen, so dass einzig die Bewusstseinsstörung den
wesentlichen Zug desselben ausmacht (psychische Epilepsie).
Uebergangsformen büden jene Fälle, in denen sich der Krampf nur
durch ein leichtes Verdrehen der Augen, rasch vorübergehende starre
Haltung, einige eigenthümliche, stereotype Bewegungen, krampfhaftes
Lachen gerade noch andeutet. Die einfachsten Erscheinungen der
psychischen Epüepsie sind leichte SchAvindelanf alle (petit mal),
Ohnmächten, Schlafparoxysmen oder momentane Bewusst-
losigkeit (absence). Im letzteren FaUe bricht der Kranke vielleicht
plötzlich in seiner Beschäjftigung, in der Unterhaltung ab und ver-
harrt regungslos in der eingenommenen Stellung, um nach wenigen
Secunden ohne Bewusstsein des Vorgefallenen fortzufahren, als ob
nichts geschehen wäre. Bisweilen gehen diesen verschiedenartigen,
meist sehr rasch verlaufenden Anfällen auraähnKche Empfindungen
Epileptisches Irresein.
513
Toran. Während der länger dauernden psychischen Anfälle Avird
häufiger ausgeprägte Dikrotie des Pulses (Erschlaffung der Arterien-
wand) beobachtet.
Vielfach gewinnt die Bewusstseinstrübung im epileptischen An-
falle insofern eine grössere Selbständigkeit, als sie entweder schon
Tor dem Beginne der Krämpfe einsetzt oder häufiger das Ende
derselben überdauert. Auf diese Weise entstehen jene Dämmer-
zustände, die man als prae- oder post-epileptisches Irresein
zu bezeichnen pflegt. In der Mehrzahl der Fälle beschränken sich
dieselben auf eine leichte, rasch Torübergehende Benommenheit.
Die Kranken verstehen die an sie gerichteten Fragen nicht und
vermögen nicht zu antworten; sie wissen nicht recht, wo und in
welcher Lage sie sich befinden, verkennen die Personen, suchen
sich zu entkleiden, legen sich ins Bett, machen Gehbewegungen, wie
um eine Treppe zn ersteigen, stecken allerlei erreichbare Gegen-
stände in die Tasche. Unzweifelhaft finden dabei nicht selten leb-
hafte Sinnestäuschungen statt. Ganz ähnliche Störungen können
auch unabhängig von den Krampfanfällen, als psychische Epilepsie
auftreten. Es handelt sich dabei um Anfälle von traumhaften
Hallucinationen oder triebartigem Davonlaufen, von momentaner
Verwirrtheit mit verkehrten Handlungen, zusammenhangslosen Eeden
u. s. f., aus denen die Kranken nach kurzer Zeit ohne Erinnerung
an das Vorgefallene wie aus einem Traume erwachen, sehr ver-
wundert, sich in der inzwischen entstandenen Situation wieder-
zufinden. Ein junges Bauemmädchen lief in einem solchen Anfalle
beim Mähen in einen Bach, dabei immer noch rüechanisch die Be-
wegung des Mähens fortsetzend. Später legte sie in einem ähnlichen
Zustande zweimal Feuer an (sehr häufig bei jugendlichen Epileptikern !)
und verübte eine Reihe von Diebstählen, indem sie alle Gegenstände,
die ihr unter die Hände kamen, in einem versteckten Winkel zu-
sammentrug. Ein anderer Kranker zündete sein Bett an, in der
Absicht, sich Kaffee zu kochen. In manchen Fällen tritt eine ge-
wisse sexuelle Erregung stärker in den Vordergrund. Die Kranken
masturbiren, selbst coram publice, entblössen ihre Genitalien auf der
Strasse, begehen geschlechtliche Attentate. Nicht so selten geben
derartige Zustände bei Soldaten Veranlassung zu ärztüchen Ex-
plorationen, da in ihnen leicht Insubordinationsvergehen, auch Deser-
tionen begangen werden.
Kraopelin, Psychiatrie. 4. Aufl. 33
514
IX. Die allgemeinen Neurosen.
Als leichteste Formen dieser Dämmerzustände können wir viel-
leicht das Nachtwandeln bezeichnen. Andeutungen desselben
(lautes Sprechen im Schlaf, Aufrichten und lebhafte Bewegungen
im Bette) kommen allerdings zweifellos auch ohne epileptische Grund-
lage bei jugendlichen, nervös veranlagten Individuen zur Beobachtung-
Die Handlungen der Kranken sind auch hier gewöhnlich sehr ein-
fache, durch vielfache Gewöhnung eingeübte; sie stehen auf aus
ihrem Bette, gehen im Zimmer oder im Hause herum, zünden Licht
an, schliessen Thüren auf und zu u. dergl., um sich dann nach
kurzer Zeit (einige ]\Iinuten bis 1/2 Stunde) meist wieder ruhig ins
Bett zu legen. Die Augen sind dabei geschlossen oder halb ge-
öffnet, starr. Die Wahrnehmung der Aussenwelt ist sehr beschränkt;
es werden nur diejenigen Objecto bemerkt, die der Kranke gerade
vor sich hat; alles Uebrige entgeht ihm. So kommt es, dass der
Nachtwandler sich nur mit solchen Gegenständen zu beschäftigen
pflegt, die sich an ihrem gewohnten Platze befinden; ein wirkliches
planmässiges „Suchen" ist in diesem Zustande kaum möglich. Die-
Auffassung der Umgebung scheint eine • traumhaft verfälschte zu
sein; der Nachtwandler, der durch das Fenster steigt, hält dieses für
eine Thür u. s. f.
Die Bewegungen tragen meist den Charakter des Automaten-
haften an sich, gehen aber zweifellos oft aus Bewusstseinsvorgängen
hervor, da sie in der Yermeidung und Ueberwindung von Hinder-
nissen bisweilen die Spuren einer, wenn auch nur dunklen, Ueber-
legung verrathen. Die Sicherheit, mit welcher Nachtwandler sich
manchmal in schwierigen Situationen, bei Wanderungen auf Dächern
bewegen, erklärt sich lediglich aus der unvollkommenen Auffassimg
ihrer Lage, welche ihnen die Gefährlichkeit derselben nicht zum Be-
wusstsein kommen lässt und somit die Entstehung der ängstlichen
Affecte hindert, durch die ja unsere Unsicherheit bei schwindel-
erregenden Passagen bedingt wird. In seltenen FäUen erheben sich
die Leistungen von Nachtwandlern über diese einfachen Vorgänge
hinaus zu höheren psychischen Yerrichtungen. Es werden Beispiele
erzählt, in denen man mit derartigen Individuen lange Gespräche
über gleichgültige Dinge führen konnte, in denen Gedichte an-
gefertigt, Kecepte ausgeführt und Aufgaben gelöst wurden. Die
Analogie mit den hypnotischen Dämmerzuständen liegt hier sehr nahe
Meist genügen schon energisches Anreden oder doch Anspritzen
Epileptisches Irresein.
515
mit kaltem "Wasser und ähnliche stärkere Eeize, um den Nacht-
wandler aus seinem Zustande zu erwecken. Aus nahehegendeu
Gründen muss man sich hüten, das Erwachen in irgend einer ge-
fährlichen Situation herbeizuführen, weil die sich sofort einstellenden
lebhaften Affecte dem Gefährdeten die Sicherheit der Bewegung als-
bald rauben. Ausgedehntere Anfälle von Somnambulismus machen
sich am nächsten Morgen beim Erwachen gewöhnlich durch das Ge-
fühl einer gewissen Ermattung und Abgeschlagenlieit bemerklich.
Dabei ist die Erinnerung an die ausgeführten Handlungen voll-
ständig erloschen und kann selbst durch die Wahrnehmung ihrer
unzweifelhaften Spuren meist nicht Avieder erweckt werden.
Wahrscheinlich ebenfalls auf epileptische Grundlage zurück-
zuführen sind jene vereinzelten Beobachtungen, in denen bei plötz-
lichem Erwachen aus dem Schlafe eine mehr oder weniger
lange Andauer der Bewusstseinstrübung mit illusionärer Verfälschung
der Wahrnehmung besteht. Die Erwachenden glauben sich, unter
Fortspinnen beängstigender TraumvorsteUungen, in grosser Gefahr
und begehen in ihrer Yerwirrung bisweilen äusserst gefährliche
Handlungen, namentlich Angriffe auf Schlafkameraden.
Die höchsten Grade von Bewusstseinstrübung werden im epi-
leptischen Stupor erreicht, der sich meist an einen Krarapfanfall
anschliesst, seltener als selbständiger psychischer Anfall auftreten
kann. Die Kranken zeigen dabei einen schwer benommenen, stieren
Gesichtsausdruck, sprechen nicht oder bringen höchstens einzelne
abgerissene, zusammenhangslose, stotternde Worte hervor. Aeusserlich
verhalten sie sich ruhig, bleiben im Bett liegen, kümmern sich nicht
um die Vorgänge in ihrer Umgebung, reagiren auf keüie Anrede.
Bei äusseren Einwirkungen widerstreben sie meist sehr heftig, unter
Umständen auch durch plötzliche, brutale Angriffe, doch wird in
einzelnen Fällen wenigstens zeitweise Katalepsie beobachtet. Aus den
Ausdrucksbewegungen der Kranken, ihrem ängsÜichen Zusammen-
kauern, Kopf schütteln, Händefalten, Knieen lässt sich entnehmen,
dass sie wahrscheinhch von verworrenen Wahnideen beherrscht sind,
welche am häufigsten einen schrecken erregenden, gTauenvollen, hie
und da jedoch auch einen beglückenden, religiös-ekstatischen Inhalt
zu haben scheinen. Die Nahrung wird in der Regel ganz oder theil-
weise verweigert; energische Selbstmordversuche sind nicht selten.
Die Dauer dieses Zustandes beträgt gewöhnlich 1—2 Wochen,
33*
516
IX. Die allgemeinen Neurosen.
nur bei sehr schwerem Verlaufe erheblich mehr. Die Lösung ist
fast immer eine allmähliche. Der Kranke Avird im Verlaufe einiger
Tage klarer, orientirt sich wieder über seine Umgebung, hat keine
oder nur sehr unklare Erinnerung an den Anfall, weiss höchstens
anzugeben, dass ihm allerlei Schreckliches vorgekommen sei und
er grosse Angst gehabt habe. In einzelnen Fällen, namentlich bei
häufigem Auftreten solcher Stuporzustände, verschwindet, wie es
scheint, die Benommenheit und Verworrenheit überhaupt nicht voll-
ständig. Es vergehen Monate unter langsamer, von kleinen Eück-
fällen, auch wol von Krampfanfällen immer wieder unterbrochener
Besserung, aber der Kranke bleibt schliesslich dauernd unklar, zer-
fahren, stampf und schwachsinnig.
Die praktisch bei Weitem wichtigste Geistesstörung der Epi-
leptiker ist das epileptische ängstliche Delirium, welches viel
häufiger, als der Stupor, auch ohne Verbindung mit Krampfanfällen,
beobachtet wird. Die Entwickelung des Zustandes vollzieht sich
rasch, innerhalb einiger Minuten oder längstens Stunden. Häufig
gehen allerdings schon kurze Zeit Verstimmungen, abnorme Sen-
sationen und Benommenheit voraus, bis dann plötzlich der eigentliche
Anfall losbricht. Vielfach wird die Einleitung durch eine ganz be-
stimmte, sich regelmässig wiederholende Sinnestäuschung gebildet;
namentlich bemerkenswerth ist das Sehen von rothen Gegenständen,
Blut, Flammen, Mann im rothen Mantel u. s. f. Der Kranke verliert
völlig die Orlen tirung; seine Umgebung verändert sich. Er sieht
sich von Teufeln, Gespenstern, wilden Thieren, grossen Volksmassen
umgeben, die oft concentrisch gegen ihn anrücken. Schlachten werden
geschlagen, ein furchtbares Blutbad angerichtet; er watet im Blut
und schreitet über Leichen. Man führt ihn in einen unterirdischen
Gang, in welchem auf schreckHchen Marterwerkzeugen Menschen
und Thiere zerstückelt werden. Alles stürzt über ihm zusammen;
Luft und Licht wird ihm abgeschnitten; das jüngste Gericht bricht
herein; er fährt in die Hölle. Zugleich bemächtigt sich seiner die
äusserste Todesangst, so dass er zitternd sein Ende erwartet, ein
Stossgebet nach dem andern stammelt oder in pathetischen Worten
sein Leben in Gottes Hände legt. Bisweilen erscheinen auch Gott
und Christus, schenken ihm die Freiheit, verheissen ihm Gnade,
krönen ihn zum Friedenskaiser, doch sind solche freudige Ekstasen
regelmässig nur rasch vorübergehende Episoden.
Epileptisches Irresein.
517
Die Grund Stimmung des ganzen Anfalles bleibt immer cäugst-
liche oder zornige Erregung, welche den Kranken nur allzubäufig zu
jenen grässüchen Gewaltthaten treibt, die sich durch die rücksichts-
lose Brutalität ihrer Ausführung auszuzeichnen pflegen. In dem
verzweifelten Drange, sich den yermeintlichen furchtbaren Gefahren
zu entziehen oder sein Leben zu retten, greift er blindlings zur
ersten besten Waffe, um sie gegen sich selbst oder gegen seine
Umgebung zu richten; mit stark geröthetem Kopfe und stierem
Gesichtsausdrucke, stumm oder kurze, abgerissene Sätze, ein nn-
articulirtes Schreien und Brüllen ausstossend, wüthet er unter Auf-
gebot seiner ganzen Kraft plan- und ziellos, AUes zerstörend und
vernichtend, was ihm erreichbar ist. In anderen Fällen sind es
ganz bestimmte Handlungen, welche der Kranke unter dem Ein-
flüsse einer in ihm auftauchenden Idee, einer Sinnestäuschung, eines
Impulses begeht. So erinnere ich mich eines FaUes, in welchem
ein Brauknecht durch den Teufel in Gestalt eines schwarzen Hundes
zur Zerschmetterung seines schlafenden Kameraden veranlasst wurde.
Ein anderer Kranker ging mit den "Worten: „Bist du ein Jude, so
musst du sterben" auf einen ihm gänzlich unbekannten Mann los
und brachte ihm mit einem bereit gehaltenen Messer eine schwere
Verletzung bei; noch ein Anderer endlich fühlte bei einer Procession,
wie sich sein Arm hob und mit voller Wucht auf eine arme alte
Erau niedersauste, die am Wege sass. Hier können die Kranken
für die oberflächliche Betrachtung einen ziemlich geordneten Ein-
druck machen und ihre Handlung zunächst in unsinniger, aber doch
zusammenhängender Weise motiviren.
Die Erinnerung an das Geschehene kann während des An-
falles noch ziemlich klar sein, schwindet aber später rasch
und zwar entweder vollständig oder nur theilweise, so dass der
Kranke sich auf einzelne Erlebnisse bisweilen noch zu besinnen ver-
mag, während ihm andere gänzlich entfallen sind. Endlich kommt
es auch vor, dass die Erinnerung, die zunächst völhg erloschen war,
nach einigen Tagen oder Wochen wenigstens in dunklen Umrissen
wieder auftaucht. Diese Erfahrung fordert zu grosser Vorsicht in
der forensischen Beurtheilung derartiger Fälle auf. Scheint doch
der Verdacht einer Simulation ausserordentlich nahe zu liegen, wenn
ein anfangs zu Protokoll gegebenes Geständniss von dem Thäter
weiterhin vollständig widerrufen wird, oder wenn der Thäter zuerst
518
IX. Die allgemeinen Neurosen.
hartnäckig leugnet, später aber, anscheinend auf eindringlichen Vor-
halt hin, dennoch gesteht! Hingewiesen sei hier nur auf den Um-
stand, dass "wir auch unsere Träume sehr häufig unmittelbar nach
dem Erwachen noch zu reproduciren vermögen, während sie später
unserem Gedächtnisse völlig entschwinden, und dass sie plötzlich
von selbst wieder auftauchen, nachdem wir uns lange vergebens be-
müht haben, uns ihrer zu entsianen.
Die Dauer des ängstlichen epileptischen Deliriums beträgt oft
nur einige Stunden, höchstens ein bis zwei "Wochen. Die Besonnenheit
kehrt bisweilen nach einem längeren Schlafe plötzlich zurück; meist
aber erfolgt die Aufhellung des Bewusstseins allmählich, so dass
sich vorübergehend deliriöse und normale Vorstellungen in eigen-
thümlicher "Weise mischen. Einer meiner Kranken bezeichnete am
letzten Tage eines solchen Deliriums mich als Gott, den klinischen
Praktikanten als Christus, während er doch die ihm bereits vertrauten
Bäume der Klinik richtig erkannte. Unter Umständen kann der
Kranke schon ganz klar und gesund erscheinen, während er in
"Wirklichkeit noch sehr benommen und von mannichfachen Yer-
fälschimgen der Auffassung beherrscht ist, ein Verhalten, welches
sich dann nachträglich erst bei vollkommener Genesung herausstellt.
Eine etwas seltnere Form der epileptischen Dämmerzustände
ist das protrahirt verlaufende räsonnirende Delirium, welches
ebenfalls im Anschlüsse an einen Krampf oder als selbständiger,
psychischer Anfall beobachtet wird. Die Bewusstseinsü'übung ist
hier weniger tief, so dass die Kranken äusserlich fast ganz besonnen
erscheinen. Dennoch wird die Auffassung der Aussenwelt sehr
stark beeinträchtigt; mannichfache illusorische und hallucinatorische
Trugwahrnehmungen spiegeln dem Kranken imaginäre Gefahren vor;
meist sind auch gleichzeitig Grössenideen vorhanden. Trotzdem er
auf einfache Fragen ganz zutreffende, oft fi-eilich auch mit deliriösen
Elementen durchsetzte Antworten giebt, lässt doch sein ganzes Be-
nehmen eine gewisse Benommenheit und Desorientirtheit erkennen.
Er ist in gereizter, meist etwas ängstKcher, selten auffallend heiterer
Stimmung und begeht oft genug auch plötzliche Gewaltthaten auf
Grund von verschiedenartigen "Wahnideen, die indessen meist nicht
näher geäussert werden. In anderen Fällen Avird das Bewusstsein
erfüllt durch ein traumartig phantastisches Delirium mit "Wahnideen,
Personenverkennung, Sinnestäuschungen von häufig religiöser Färbung
Epileptisches Irresein.
519
(Weltuntergang, jüngstes Gericlit), während dessen der Kranke bei
scheinbarer Besonnenheit eine Menge unsinniger, zweckloser, ja ver-
brecherischer Handlungen (weite Eeisen, Diebstähle, Brandstiftung,
Auflehnung gegen die Staatsgewalt, Sittlichkeitsverbrechen) begehen
kann, ohne irgend welche Einsicht in die Bedeutung derselben zu be-
sitzen. Sehr bekannt ist der von Legrand du Saulle mitgetlieilte
Fall eines Pariser Kaufmanns, der aus einem solchen Anfalle plötzlich
auf der Khede von Bombay wieder erwachte. Solche Zustände können
Wochen, ja eine Anzahl von Monaten dauern; es können sich auch
mehrere, durch kurze Intervalle getrennte Anfälle aneinanderreihen.
Die Häufigkeit der epileptischen Delirien bei einem Kranken
ist ausserordentlich verschieden. Während sie sich bisweilen in ganz
kiu-zen Zwischenräumen wiederholen, giebt es andererseits Eälle, in
welchen neben sonstigen epileptischen Zufällen nur ein oder zwei
Male im Leben ausgeprägte Delirien auftreten. Bei zahlreichen Epi-
leptikern kommt es überhaupt niemals dazu. Die einzelnen Delirien
bei demselben Kranken pflegen eine sehr grosse Uebereinstimmung
in ihrem Inhalt und Yerlauf darzubieten. So begann das fast aU-
j ährlich wiederkehrende protrahirte Delirium bei einem meiner
Kranken regelmässig damit, dass er behauptete, von einem Beamten
der Polizei geschossen worden zu sein. Er gerieth dann in einen
halb traumhaften, halb besonnenen, mehrfach von Krampfanfällen
unterbrochenen Dämmerzustand hinein, aus dem er nach mehreren
Wochen eines Morgens klar, aber ohne jede Erinnerung an die
ZAvischeuzeit erwachte.
Die Grundlage des epileptischen Irreseins ist ohne Zweifel in
krankhaften Hirnveränderungen zu suchen, die wol in der über-
wiegenden Mehrzahl der Eälle angeboren sind. Die Erblichkeit,
namentlich Alkoholismus bei den Ascendenten, sowie die sonstige
Yeranlagung spielt hier eine grosse Polle. Häufig deutet sich die
Entartung in körperlichen Erscheinungen an, besonders Yerbildungen
des Schädels, Mikrocephalie, Hydrocephalie, Asymmetrien, oder in
der „epileptischen Physiognomie", welche durch die breite Stirn, die
eingedrückte breite Nase, durch vorspringende Backenknochen, wulstige
Lippen und glänzende Augen mit auffallend weiten Pupillen ge-
kennzeichnet wird. Auch sonstige Degenerationszeichen finden sich
nicht selten. Ausserdem begegnen uns öfters die Reste früherer
Himerkrankungen, Hemiparesen, Hemiathetose, Contracturen.
520
IX. Die allgemeinen Neurosen.
In diesen letzteren Fällen ist die EiDilepsie im engsten Sinne
des Wortes eine symptomatische, der einfache Ausdruck eiaer groben
Hirnläsion. Solche Störungen entwickeln sich regelmässig in jugend-
lichem Alter, bisweilen schon vor der Geburt. Abgesehen von den
eigentlichen Missbildimgen handelt es sich Avesentlich um ence-
phalitische Processe, seltener einmal um multiple Tuberkel oder dergl.
Zumeist jedoch müssen wir heute noch von einer „genuinen" Epi-
lepsie sprechen, deren Entstehungsweise uns bis jetzt nicht näher
bekannt ist. Zwar sind mancherlei Befunde in Epileptikerhimen
erhoben worden, namentlich sklerotische Veränderungen am Ammons-
horn, aber die Beziehung solcher Thatsachen zu dem klinischen
Symptomenbilde ist einstweilen noch eine gänzlich unklare.
Andererseits wissen wir, dass die Erscheinungen der Epüepsie
mit gewissen äusseren Einflüssen in ursächlichem Zusammenhange
stehen können, sei es, dass jene letzteren wirklich die Krankheit
erzeugen, sei es, dass sie auf vorbereitetem Boden nm- den letzten
Anstoss zu ihrem Ausbruche geben. Dahin gehören einmal schwere
Kopfverletzungen, dann aber vor Allem der Alkoholmissbrauch.
Wie wir später sehen werden, ist das Auftreten schwerer Epilepsie
beim chronischen Alkoholismus nicht selten; weit häufiger aber und
Überzeugeuder ist die verderbliche Wirkung, welche selbst sehr
mässige Alkoholgaben bei Epileptikern auszuüben pflegen. In zahl-
reichen FäUen kann der AnfaU mit der Sicherheit eines Experimentes
durch jenes Genussmittel ausgelöst werden. Ferner verfüge ich über
eine Anzahl von Beobachtungen, in denen einfache Beängstigungen
bei Epileptikern durch Alkoholgenuss regelmässig in schwere Dämmer-
zustände übergeführt wurden. Einer meiner Kranken, eiu Student,
verfiel regelmässig nach Commersen in ein epileptisches Delirium,
in welchem er mehi-fach nur mit genauer Noth an der Ausführimg
des Selbstmordes verhindert Averden konnte. Sobald solchen Kranken
der Alkohol entzogen wird, verlaufen die AnfäUe, wovon ich mich viel-
fach auf das Bestimmteste habe überzeugen können, ganz leicht. So
verlor sich bei einem Kranken, dessen schwere, sein Leben wiederliolt
auf das äusserste gefährdende Dämmerzustände jeweils mit einem
starken Alkoholexcess begonnen hatten, die einleitende Verstimmung
in der Anstaltsüberwachung binnen zwei Tagen ohne irgend weitere
Störung.
Endlich aber erscheint mir die Thatsache von allergrösstem
Epileptisches Irreseiu.
521
tlieoretischem, wie praktischem Interesse, dass durch die Entziehung des
Alkohols vielfach nicht nur die Schwere der Anfälle, sondern auch
ihre Häufigkeit in ganz erstaunlichem Masse beeinflusst werden
kann. Seitdem ich mein Augenmerk auf diese Verhältnisse gerichtet
habe, sind mir eine ganze Eeilie von Fällen, namentlich schwerer
psychischer Epilepsie vorgekommen, in denen durch die Herbei-
führung dauernder, vollständiger Alkoholabstinenz die so lange in
mehrwöchentlichen Z^vischenräumen auf ti-etenden Anfälle beizumTheil
Jahr imd Tag fortgesetzter Beobachtung gänzlich oder bis auf seltene,
ganz leichte Verstimmungen, Schwindelgefühle oder dergl. ver-
schwanden. Alle diese, zum Theil ganz überraschenden Erfaluamgen
haben mich zu der Ueberzeugung gebracht, dass auch ein mässiger
oder gelegenthcher Alkoholgenuss bei manchen Epileptikern die
schlummernde ki^ankhafte Anlage erst zur Entwickelung bringt.
Die Prognose des epileptischen Irreseins hängt sehr wesenthch
von der Ursache des Leidens und von dem Zeitpunkte seines Auf-
tretens ab. Wo gTöbere organische Erkrankungen zu Grunde liegen,
ist natürlich eine Besserung nicht zu erwarten; im Gegentheü be-
obachtet man vielfach sogar ein allmähhches Fortschreiten der
geistigen Schwäche, namenthch in den Entwickelungsjahren. Dagegen
kann die genuine Epilepsie heilen und ist auch häufig den thera-
peutischen Massnahmen bis zu einem gewissen Grade zugänghch.
Die schweren postepüeptischen , stuporösen und deliriösen Zustände
pflegen sich besonders gern nach Serien von starken KrampfanfäUen
einzustellen, während sich die rein psychischen Anfälle mehr mit
den leichteren Formen der Epilepsie zu verbinden scheinen.
Die Gefahr des epileptischen Schwachsinns ist im Allgemeinen
am grössten, wenn häufige und schwere Krampfanfälle vorkommen,
und vor Allem, wenn das Leiden in frühem Lebensalter auftritt.
Auch abgesehen von den beträchtlichen Hindernissen, welche die
Krankheitserscheinungen selbst der geistigen Ausbildung entgegen-
setzen, bleibt hier die gesammte psychische Entwickelung regebnässig
zurück, oft sogar auf den niedrigsten Stufen. "Weit seltener und
wol nur bei den leichten Formen der Epilepsie kann sich die
Störung auf das gemüthliche Verhalten beschränken, Avährend die
Kinder intellectuell normal oder sogar besonders gut veranlagt sind.
In höherem Lebensalter ist Zunahme der geistigen Schwäche im
Verlaufe der Krankheit oft ebenfalls deutlich; namentlich aus sehi-
522
IX. Die allgemeinen Neurosen.
langclauerndem Stupor sieht man den Kranken bisweilen erheblich
blödsinniger erwachen, als er vorher war.
Die Diagnose des epileptischen Irreseins bereitet keine nennens-
werthen Schwierigkeiten, sobald man Gelegenheit hat, das Vorhanden-
sein der charakteristischen Krämpfe festzustellen, deren unterscheidende
Eigenthümlichkeiten wir bei Besprechung der ' hysterischen Anfälle
bereits aufgeführt haben. Die Fälle sind jedoch nicht zu selten, in
denen weder die Anamnese, noch die eigene Beobachtung über das
Yorhandensein derartiger epileptischer Krämpfe genügende Klarheit
zu schaffen vermag, während doch die psychische Störung mit der
einleitenden Aura, der tiefen Bewusstseinstrübung, der Mischung
von verworrenen Yerfolgungs- und Grössenideen, namentlich religiösen
Inhalts, ohne 'Ideenflucht, der ängstlichen Stimmung, der Planlosigkeit
und Brutalität der Handlungen ohne Bewegungsdrang, sowie der
abrupte Yerlauf für die Annahme einer epileptischen Grundlage
spricht. Allerdings gelingt es immerhin in einer Anzahl von Fällen,
bei genauerer Nachforschung dennoch manche leicht Überseheue
Anhaltspunkte aufzufinden, welche zur Bestätigung jener Yermuthung
dienen können, das Yorkommen einzelner Schwindel-, Ohnmachts-
oder Angstanfälle, ferner Anzeichen, welche auf nächtliche Paroxysmen
hinweisen, zeitweises Bettnässen, Zungenverletzungen, das gelegentliche
Gefühl starker Abspannung oder heftiger Kopfschmerzen am Morgen.
Endlich muss auch die auffallende Ueberein Stimmung öfter sich
wiederholender Dämmerzustände als ein wichtiger Anhaltspunkt für
die Diagnose der Epilepsie herangezogen werden.
Allein selbst nach Abrechnung aUer derjenigen Fälle, in denen
man an der Hand der aufgeführten Gründe zur Annahme eines
epileptischen Irreseins geführt wird, bleiben noch eine Keihe von
Beobachtungen übrig, welche zwar eine grosse Aehnlichkeit mit
jenen Formen aufweisen, im Uebrigen aber durchaus keinen Zu-
sammenhang mit wirklicher Epilepsie erkennen lassen. Einige
Forscher, vor AUem der um die Kenntniss der epileptischen Psychosen
so sehr verdiente Samt*), sind so Aveit gegangen, auch hier ohne
Weiteres aus theoretischen Gründen eine epileptische Ursache voraus-
zusetzen. Der psychisch -epileptische Anfall Avui'de von Samt ge-
wissermassen als ein Aequivalent des Krampfparoxysmus betrachtet,
*) Archiv f. Psychiatrie, V. u. VI.
Epileptisches Irresein.
523
und jene zweifelhaften Formen waren ihm daher nichts Anderes, als
Epilepsie, bei welcher sämmtliche Krampfanfälle in psycliisch-epi-
leptische Aequivalente umgewandelt sind. Wie man sieht, hängt
die Entscheidung dieser Frage wesentiich davon ab, wie weit man
den Begriff der Epilepsie über die einfache Neurose hinaus aus-
zudehnen geneigt ist. _^
Im Ganzen möchte ich glauben, dass die vöUige klinische
Uebereinstimmung in Entstehangsweise und Ablauf uns berechtigt,
auch dann die gleiche Grundlage für eine psychische Störung an-
zunehmen, wenn sie nicht mehrfach, sondern nur ein einziges Mal
im Leben auftritt. Ganz abgesehen davon, dass jene kleinen, ge-
legentlichen Anzeichen, die wir sonst als gültige Symptome der
Epilepsie anerkennen, sehr leicht übersehen oder vergessen werden
können, ist es durchaus denkbar, dass ein an sich periodisches Leiden
auf weniger stark prädisponirter Grundlage nur ein einziges Mal,
imter besonders ungünstigen Umständen, zum Ausbruche gelangt. Es
giebt thatsächlich zahlreiche Epileptiker, bei denen mehrmals Krämpfe
oder Ohnmächten auftreten, aber nur einmal ein Dämmerzustand;
andererseits sehen wir vielfach diesen letzteren sich wiederholen,
während etwa nur ein einziger Ohnmachtsanfall beobachtet wurde.
Wenn diese klinischen Spielarten wirklich vorkommen, so könnte
uns wol ein einziger, gut charakterisirter Dämmerzustand ebenso
die Diagnose der Epilepsie ermöglichen, wie das ohne Zweifel ein
typischer Krampfanfall thut. Aus diesen Gründen kann ich nicht
umhin, nunmehr auch die sog. „Mania transitoria"*) oder besser das
Delirium transitorium als eine Form des acuten epileptischen
Deliriums anzusehen. Es handelt sich dabei um einen plötzlich ent-
stehenden, nur einmal im Leben auftretenden, furibunden Erregungs-
zustand mit tiefer, traumhafter Bewusstseinstrübimg, der sehr rasch
verläuft und keinerlei Erinnerung hinterlässt. Das gesammte klinische
Bild scheint bis ins Einzelne dem epüeptischen Delirium zu gleichen;
ich selber habe leider noch niemals Gelegenheit gehabt, einen Fall
zu sehen, den ich mit Bestimmtheit dem Delirium transitorium
hätte zurechnen können.
Die Behandlung des epileptischen Irreseins wird, soweit das
*) «chwartzer, die ü-ansitorische Tobsucht. 1880; Veiituri, lo pazzie tran-
sitorie. 1888.
524
IX. Die allgemeinen Neurosen.
möglich ist, in erster Linie eine causale Bekämpfung der Epilepsie
selber in Angrilf zu nehmen haben, wie sie bald in der Trepanation
(Knocheneindrücke am Schädel, corticale Herderkrankungen), bald
(Reflexepilepsie) im Ausschneiden von Narben, der Beseitigung cariöser
Zähne, dem Ausbrennen der Nase, bald auch (Gummata, Periostitis)
in einer antiluetisehen Cur zu bestehen hätte. Eine ganz besondere
Wichtigkeit möchte ich dabei aus früher erörterten Gründen der
Durchführung dauernder und vollständiger Enthaltsamkreit
gegenüber dem Alkohol auch in jenen Fällen beilegen, in denen
es sich nicht um eine eigentliche Alkoholepilepsie handelt. Jeder
Epileptiker ist in höherem oder geringerem Grade intolerant gegen
Alkohol und ist, wie ich glauben muss, dazu disponirt, durch den-
selben gelegentlich in schwere geistige Störung zu verfallen, sich
selbst und Andern in hohem Grade gefährlich zu werden. Von
symptomatisch-medicamentösen Mitteln können vor Allem die Brom-
salze (5 — 6 gr pro die in mehreren Dosen) durch Verminderung
der Anfälle zimächst indirect die psychischen Störungen günstig
beeinflussen. Ereilich kommt es nicht selten vor, dass sich unmittelbar
nach dem Aussetzen des Mittels die Krämpfe und mit ihnen auch
die psychischen Störungen rasch wesentlich verschlimmern. Ausser-
dem sah ich zweimal gerade unter dem Einflüsse des Bromkalium
einen wahren Status epilepticus sich entwickeln, der erst nach Er-
setzung des Mittels durch Ati"opin wieder schwand, und endlich
wurden in einem von mir beobachteten Falle zwar die Anfälle
durch das Bromkalium vorübergehend beseitigt, doch stellten sich
statt ihrer höchst intensive Aufi-egungszustände mit leichter Be-
wusstseinstrübung ein, welche mich die Krämpfe zurückwünschen
und die eingeleitete Cur aufgeben Hessen.
Auf der anderen Seite ist es zweifellos vielfach möglich, durch
sehr energische Brombehandlung (12 — 15 gr pro die) den Verlauf
epileptischer Psychosen nicht nur wesentlich zu mildern und ab-
zukürzen, sondern auch die Häufigkeit psychischer Anfälle herab-
zusetzen. Nur gegen den epileptischen Schwachsinn ist das Brom-
kalium wirkungslos; er macht seine langsamen Fortschritte, selbst
wenn es gelingt, die Anfälle mehr oder weniger vollständig zu unter-
drücken. Unter allen Umständen ist beim Auftreten der Zeichen
des Bromismus sofortiges, aber langsames Herabgehen mit der Brom-
gabe nothwendig. Man kann dann eventuell einen Vei-such mit
Epileptisches Irresein.
525
Amylenhydrat (5—8 gr pro die) machen, welches ebenfalls Zahl und
Stärke der epileptischen Anfälle herabzusetzen scheint.
In symptomatischer Beziehung erheischen die epileptischen
Dämmerzustände eine äusserst sorgfältige Ueberwachung der Kranken
wegen der grossen Gefahr, welche dieselben für sich und ihre Um-
o-ebung repräsentiren. Allmählich scheint in neuester Zeit auch auf
diesem Gebiete der humanen Fürsorge ein Fortschritt sich an-
zubahnen. Den ersten praktischen Yersuch einer Epileptikeranstalt
in gi-össtem Massstabe hat Pastor v. Bodelschwingh in Bielefeld
o-emacht. Leider ist indessen schon jetzt erkennbar, dass hier die
Wohlthaten des Kränkenhauses durch eme specifisch theologische
Auffassung und Behandlung der ohnedies zur Fi'ömmelei neigenden
Kranken vielfach beeinträchtigt werden.
X. Die chronisclierL Intoxikationen.
Die Zahl derjenigen Gifte, welche bei dauernder Einwirkung
auf den Organismus Störungen des Nervensystems und
speciell auch der psychischen Functionen herbeizuführen ver-
mögen, ist eine sehr grosse. Hervorragende praktische Bedeutung
haben indessen nm- diejenigen unter ihnen erlangt, welche als Ge-
nussmittel, zur Erzeugung euphorischer Zustände, in Anwendung
gezogen werden, da nur bei ihnen in der Wirkung des Mttels selbst
die Anreizung zu häufiger Herbeiführung derselben gelegen ist. Yor
Allem aber sind es jene Gifte, deren Aussetzen unangenehme
Störungen im Organismus, sog. „Abstinenzerscheinungen" hervorruft,
welche eine mit jeder Wiederholung sich steigernde und schliesslich
zur unbezwinglichen Leidenschaft werdende Neigung erzeugen,
immer von Neuem den verderblichen ßeiz einwii-ken zu lassen, der
für den behaglichen Ablauf der Lebensfunctionen bereits unentbehrlich
geworden ist. Wie die anthropologische Forschung lehrt, giebt es
kaum ein einziges Yolk, welches nicht durch irgend ein derartiges,
gewohnheitsmässig consumirtes Genussmittel sich über die kleinen
Sorgen und Mühen des Daseins hinwegzutäuschen verstände, und
die Mannichfaltigkeit dieser giftigen Quellen des Wohlbehagens ist
daher eine merkwürdig reiche. Für die psychiatrische Erfahrung in
unserer Heimath kommen indessen naturgemäss nur einige wenige der-
artige Mittel in Beti-acht, von denen sich als die praktisch bei weitem
wichtigsten der Alkohol, das Morphium und das Cocain präsentiren.
A. Der Alkoliolismus.*)
Die Einwirkung, welche die acute Alkoholvergiftung, der Eausch,
auf unser Seelenleben ausübt, besteht, soweit bis jetzt bekannt ist
*) Magnus Huss, Chronische Alkoholkrankheit oder Alkoholismus chronicus,
deutsch von V. d. Busch. 1852; Magnan, de l'alcoholisme. 1874; v. Speyr, Die
alkoholischen Geisteskrankheiten, Diss. 1882.
Alkoholismua.
527
wesentlich in einer dauernden Erschwerung der Auffassung und
Terarbeitung äusserer Eindrücke, some in einer centralen Er-
leichterung der Auslösung von Willensimpulsen. Diese letztgenannte
Erscheinung schwindet nach einiger Zeit, um alsdann einer Lähmung
auch auf psychomotorischem Gebiete Platz zu machen. Je grösser
die Alkoholgabe und je grösser die persönliche Empfindlichkeit
gegen das Gift, desto rascher und stärker macht sich die lähmende
Wirkung geltend, bis sie schliesslich schon von Anfang an, wenige
Minuten nach dem Genüsse des Alkohols, deutlich in den Vorder-
grund tritt. Die Muskelkraft wird durch den Alkohol nur ganz
kurze Zeit und in sehr unbedeutendem Masse gesteigert, darauf
aber andauernd und erheblich herabgesetzt.
Alle diese zunächst durch das Experiment gefundenen und ge-
nauer analysirten Einzelheiten finden wir ohne Weiteres in dem
uns praktisch bekannten Bilde des Rausches wieder. Schon sehr
kleine Mengen Alkohol beeinträchtigen, wie alle guten Beobachter
übereinstimmend angeben, deutlich die Fähigkeit zu höherer geistiger
Arbeit. Wir vermögen unsere Gedanken nicht mehr so gut zu con-
centriren, längeren, verwickeiteren Auseinandersetzungen nur un-
genügend zu folgen. Bei stärkerer Vergiftung fällt die Erschwerung
der Auffassung und der Verstandesthätigkeit immer mehr ins Auge.
Der Betrunkene versteht nicht mehr recht, was man ihm sagt und
was um üm herum vorgeht, vermag nicht zuzuhören, aufzupassen,
irgend einen Gedankengang festzuhalten. Er verliert jedes TJrtheil
über seine eigenen und fremde Verstandesleistungen, jeden Ueber-
blick über die Bedeutung und Tragweite seiner Handlungen. Gleich-
zeitig stellen sich gewisse qualitative Störungen im Ablaufe der Vor-
stellungsverbindungen ein. Einerseits fällt die Neigung zur Wieder-
holung stereotyper Wendungen, gewohnheitsmässiger Redensarten,
andererseits das Vorwiegen rein sprachhcher Associationen auf, das
Reimen, die an den Haaren herbeigezogenen Wortwitze, das Sprechen
im Jargon, das Radebrechen in fremden Sprachen. Zum Schlüsse
geht die Fähigkeit zur Auffassung und geistigen Verrbeitung immer
mehr verloren; der Berauschte wird unempfindlich und unbesinnlich
bis zur vollständigen Bewusstlosigkeit. Die Erinnerung pflegt nach
dem Verfliegen des Rausches auch für diejenigen Stadien niu' sehr
mangelhaft zu sein, in denen der psychische Zusammenhang im Sprechen
und Handeln noch bis zu einem gewissen Grade erhalten war.
528
X. Die chronischen Intoxikationen.
Parallel den intellectuellen Störungen geht die Entwickelung
der psychomotorischen Reizerscheimmgen. Sie beginnt mit jener
leichten „Angeregtheit", Avie wir sie schon bei kleinen Alkohol-
gaben empfinden, mit dem Wegfall der feinen Hemmungen, welche
im täglichen Leben unser Handeln und Benehmen jederzeit auf das
Genaneste reguliren. Wir werden unbekümmerter, sorgloser, muthiger,
fühlen uns freier, ungebundener, sprechen und handeln ungenirter,
aber auch rücksichtsloser. Wegen der Erleichterung der motorischen
Auslösung erscheint uns unsere Kraft und Leistungsfähigkeit erhöht,
im Gegensatze zu deren objectiv nachweisbarer Herabsetzung. Da-
her die weit verbreitete, vollkommen unrichtige Anschauung, dass
der Alkohol „stärke". Bei fortschreitender Berauschung nimmt die
motorische Erregbarkeit zunächst noch zu. Die Ansdrucksbewegungen
werden lebhafter; der Betriinkene fängt an, zu gesticuliren, überlaut
zu sprechen, Eeden zu halten, zu grölen, zn lärmen, aitf den Tisch
zu schlagen. Ein Wort, ein Einfall genügt, um irgend eine un-
sinnige Reaction hervorzurufen, und es kommt auf diese Weise zu
allerlei impulsiven, unüberlegten, ja verbrecherischen Handlungen,
über deren Entstehungsweise der Thäter sich selbst nachträglich
kaum oder gar nicht Rechenschaft zu geben vermag. Das Ende
bilden Coordinationsstörungen, lallende Sprache, schwankender Gang,
vollständige Lähmung.
Auf gemüthlichem Gebiete entspricht dem ersten Stadium
des Rausches eine entschiedene Euphorie, heitere, rosige Stimmung,
Zurücktreten der Sorgen und Verdriesslichkeiten des Alltagslebens.
Wir werden jovialer, zugänglicher, liebenswürdiger. Sehr bald in-
dessen steigert sich die Reizbarkeit. Es kommt nun leicht zu stärkeren
Affectschwankungen, zu tactloser IJeberschwänglichkeit oder zu Zorur
ausbrüchen und leidenschaftlichen Aufwallungen mit brutaler Reaction.
Die höheren ethischen Gefühle treten zurück; der Betrunkene wird
roh, gemein, schamlos. Die wachsende sexuelle Erregbarkeit führt
ihn zu wüsten Excessen.
Der allgemeine Yerlauf des Rausches wird in sehr verschiedener
Weise beeinflusst durch die Individualität. Bei grosser Ermüd-
barkeit stellt sich die Lähmung auch auf motorischem Gebiete ver-
hältnissmässig früh und ohne ausgeprägtere Reizerscheinungen ein.
Andererseits können bei Personen mit stärkerer gemüthlicher Er-
regbarkeit gerade jene letzteren in den Vordergrund treten. Während
Alkoholismus.
529
dort rasch Schläfrigkeit und Stumpfheit die Oberhand gewinnen,
kommt es hier sofort zu unbändiger Streitsucht, grobem Unfug und
selbst blutigen Gewaltthaten. Lebhafte Affecte können im ersteren
Falle, bei Vorwiegen der Lähmungserscheinungen, zu plötzlicher
Ernüchterung führen. Im letzteren Falle dagegen wird durch sie
die Erregung noch gesteigert, so dass unter dem Einflüsse einer
verhältnissmässig sehr geringfügigen Alkoholmenge ganz unvermittelt
die unsinnigsten und gefährlichsten Handlungen begangen werden.
Die abnorme gemüthliche Erregbarkeit nach Alkoholgenuss ist der
forensischen Psychiatrie in der Form der sog. „pathologischen
Eauschzus fände" wohlbekannt. Solche Störungen entwickeln sich
wol ausschhesölich bei psychopathisch veranlagten Personen, viel-
fach unter der vorbereitenden Mitwirkung zufälliger stärkerer Affect-
sch wankungen. Ganz besonders häufig sind pathologische Eausch-
zustände bei Epileptikern mit ihrer bekannten psychomotorischen
Reizbarkeit und ihrer Empfindlichkeit gegen Alkohol; nächstdem
seheinen namenthch gewisse Fälle emotiven Schwachsinns den
günstigen Boden abzugeben.
So manche der in der acuten Alkoholvergiftung uns entgegen-
tretenden Züge finden wir wieder in dem psychischen Krankheits-
bilde des chronischen Alkoholismus. Das wesentlichste, die
Situation von Anfang an beherrschende Symptom ist hier das all-
mähliche Schwinden jener constanten Motive des Handelns,
die man als „moralischen Halt", „Charakter" zusammen-
zufassen pflegt. Der Trinker verliert mehr und mehr die Fähigkeit,
nach feststehenden Grundsätzen zu handeln, und wird auf diese
Weise zum Avülenlosen Spielball zufälliger äusserer Verlockungen,
namenthch aber der immer unbezwinglicher werdenden Neigung
zum Alkohol. Li sehr naiver Weise pflegt er diese Willens-
schwäche einzugestehen, iudem er als vollständig genügende Ent-
schuldigung für einen Excess die Thatsache anführt, dass man ihn
zum Trinken aufgefordert, ihm etwas bezahlt habe, dass Wein „auf
dem Tische stand". Auch wenn er immer und immer wieder den
festen Entschluss fasst, dem Alkohol, den er mehr oder weniger klar
als die Quelle seines körperlichen, sittlichen, gesellschaftlichen und
wirthschaftlichen Unterganges erkennt, endgültig und für immer zu
entsagen, auch wenn er vielleicht unaufgefordert seine guten Vor-
sätze mit den heiligsten A'ersprechungen und Schwüren bekräftigt
Ol
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Anfl.
530
X. Die clironischen Intoxikationen.
und sich beleidigt fühlt, sobald man leise Zweifel an der Aufrichtig-
keit derselben äussert, genügt doch nahezu ausnahmslos bereits die
erste beste Gelegenheit, um den schwachen Willen zu überwältigen
und alle die auf Sand gebauten Vorsätze ohne Weiteres über den
Haufen zu werfen. Ist es doch gerade das durch den Alkohol hervor-
gerufene Gefühl erhöhter Leistungsfähigkeit, das den Kranken über
den Zustand reuevoller Ernüchterung hinwegführt und ihn das Elend
seiner ganzen Lage wieder für einige Zeit vergessen lässt.
Unter immer wiederholtem Siege der wachsenden Leidenschaft über
das sich abstumpfende Pflichtgefühl schreitet die sittliche Entartung des
Trinkers mit Riesenschritten fort. Die mächtigen Motive der Ehi'üebe,
der Gatten- und Kinderliebe, der Scham verlieren ihre Wirkung
über ihn. Er kümmert sich nicht mehr um das Wohl und Wehe
seiner Angehörigen, giebt sie einfach dem Elend Preis, wird gleich-
gültig gegen ihre Bitten und Vorwürfe, wie gegen gesellschaftiiche
Massregelungen und die Verachtung seiner Standesgenossen. Ohne
Eücksicht auf seine Bildung, seine Stellung betrinkt er sich öffentlich,
schliesst wahllos Dutzbrüderschaften, verhandelt seine zartesten
Familienangelegenheiten mit wildfremden Menschen. Meist ent-
wickelt sich dabei ein gevsdsses erhöhtes Selbstgefühl, welches in
handgreiflichen Prahlereien einen um so stärkeren Ausdruck findet,
je weniger der Kranke seine zwingendsten PfUchten zu erfüllen im
Stande ist.
In engster Verbindung damit steht die Thatsache, dass kein
Trinker jemals sich selber irgend welche Verschuldung an
seiner Trunksucht beizumessen geneigt ist. Viele stellen überhaupt
trotz der beweisendsten Anzeichen das Potatorium schlankweg in
Abrede und suchen die aUenfaUs gelegenthch genossenen Alkohol-
mengen als äusserst harmlos und in bedeutend verkleinertem Mass-
stabe hinzustellen; sie weisen namentlich darauf hin, dass sie niemals
oder doch nur sehr selten wirklich „betrunken" gewesen seien, eine
Beweisführung, welche selbst bei Voraussetzung völliger Glaub-
würdigkeit angesichts der sehr subjectiven Kriterien und der sehr
verschiedenen Empfindlichkeit gegen den Alkohol selbstverständlich
nur geringen Werth hat. Andere geben zwar mit einigen Umschweifen
ihre Alkoholexcesse zu, stellen dieselben jedoch als durchaus noth-
wendig, durch ihre besonderen Lebensverhältnisse bedingt dar. „Wie
kann man ohne Wein und Bier schwer jirbeiten!" sagte mii- ein
Alkoholismus.
531
Lastträger; die Andern würden ihn ja auslachen, wenn er nicht
tränke. Es ist interessant, zu sehen, wie kein einziger Beruf sich
völlig unfruchtbar an zwingenden Motiven für den Alkoholgenuss
erweist. "Während den Schmied, den Schlosser, den Glasarbeiter die
Hitze des Feaers zur Schnapsflasche ti-eibt, thut beim Droschken-
kutscher, beim Nachtwächter die nächtliche Kälte denselben Dienst;
die Zie'gelarbeiter finden beim Kneten in der Nässe, die Müller und
Maui-er beim Eiuathmen des trockenen Staubes ihre Eettung im
Trinken, ja ein Angestellter einer Dampfschifffahrtsgesellschaft gab
mir an, dass man „in einem so grossen Geschäft" ohne den Alkohol
nicht auskommen könne. Fast noch häufiger, als durch die Be-
schäftigung, wird die Trunksucht durch wirthschaftliche und häusliche
Verhältnisse begründet. Bald ist es der Kummer über den Eück-
gang des Verdienstes, über den Verlust einer Stellung, bald ist es
die schlechte Wohnung oder die UDgenügende Ernährung, vor Allem
aber das unglückliche eheliche Leben, welches den Trinker nach
seiner Angabe dem Potatorium in die Arme geführt hat. Regel-
mässig ergiebt sich hier bei genauer Nachforschung, dass der Zu-
sammenhang ein umgekehrter gewesen ist, dass die angeblichen
Ursachen der Trunksacht in "Wirklichkeit als mittelbare oder un-
mittelbare Folgen derselben angesehen werden müssen.
Hand in Hand mit der moralischen Verblödung geht eine Er-
höhung der gemüthlichen Reizbarkeit, namentlich während der
Alkoholwirkang. Aus ihr entwickelt sich dann die berüchtigte Streit-
sucht der Trinker, ihre Neigung zu unfläthigem Schimpfen, raschen
Gewaltacten und Rohheiten, Msshandlungen der Angehörigen, zweck-
losen Zerstörungen. In bemerkenswerthem Gegensatze zu der Rück-
sichtslosigkeit und Heftigkeit des Trinkers in seinen häuslichen Ver-
hältnissen steht die Gefügigkeit und Lenksamkeit desselben bei
längerer Enthaltsamkeit unter dem Drucke äusseren Zwanges in der
Irrenanstalt, im Gefängniss u. s. w. Dem Unerfahrenen erscheint
es oft vollkommen unbegreiflich, wie es denn möglich war, dass der
anscheinend ganz ruhige und gutmüthige Mensch in der Fi'eiheit so
rohe und unsinnige Gewaltthaten begehen konnte. Sehr eigenartig ist
dabei vielfach der reumüthige, ja süssliche Ton der Briefe, welche von
Betheuerungen, guten Vorsätzen und frommen^ moralischen Redens-
arten strotzen, Avährend ein Entlassungsversuch binnen kürzester Frist
die ganze Haltlosigkeit des Trinkers aufs deutlichste vor Augen führt.
34*
532
X. Die chronischen Intoxikationen.
Etwas später, als die Störungen auf moralischem Gebiete, aber
niemals gänzlich fehlend, entwickelt sich beim Alkoholisten eine
allmähliche Ab Schwächung der Intelligenz. Die psychisclie
Leistungsfähigkeit nach dieser Kichtung hin, das Festhalten und
Yerarbeiten neuer Eindrücke, beginnt mehr und mehr zu leiden.
Stillstand, dann Eückgang der geistigen Ausbildung, Schwäche des
Gedächtnisses, Yerarmung des Vorstellungsschatzes und Yerengerung
des Gesichtskreises sind die unausbleiblichen Folgen. In schweren
Fällen, kommt es schliesslich zur Entwickelung eines ausgeprägten
Schwachsinns. Der Krank© bleibt zwar besonnen und orientirt,
verliert aber in Folge schiefer und einseitiger Auffassung und
häufig auch einzelner wirklicher Sinnestäuschungen das richtige Yer-
ständniss für die Yorgänge in seiner Umgebung. ISTach derselben
Kichtung wirkt seine Yergesslichkeit, welche ihm unvermerkt ein
völlig verzerrtes, mit eigenen Zuthaten durchsetztes Bild seiner Er-
lebnisse unterschiebt. Bei seinen aufdringlichen, eintönigen Er-
zählungen geräth er daher sehr bald in ein endloses Gefasel, voll
der gröbsten Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten.
Eegelmässig entwickelt sich beim Trinker im Laufe der Zeit
eine gewisse Unruhe und Unstetigkeit. Er kann nicht lange
stillsitzen, treibt sich gern ziellos herum, in den Kneipen oder auf der
Landstrasse. Seine Arbeitsfähigkeit zeigt daher eine sehr bedeutende
Abnahme, nicht nur weil häufige Bäusche die Continuität der Be-
schäftigung durchbrechen, sondern namentlich auch, weil er zu jeder
nachhaltigen und länger dauernden Anstrengung seiner körperlichen
und geistigen Ejräfte unfähig geworden ist. In Folge dessen
pflegt es mit seinen wirthschaftlichen Yerhältnissen rasch bergab zu
gehen. Er verdient wenig oder garnichts mehr, verbraucht aber
verhältnissmässig viel und greift nun zu allerlei Auskunftsmitteln,
um sich das Geld zum Trinken zu verschafi"en. Zunächst hört er
auf, für seine Familie zu sorgen, sucht im Gegentheil noch von ihr
so viel wie möglich zu erpressen. Mehr und mehr bevorzugt er die
Getränke, welche ihn am raschesten und billigsten in den Kausch-
zustand versetzen, treibt sich in den schmutzigsten "Winkelkneipen
und in der verkommensten Gesellschaft herum. Sobald der Credit
bei Kneipwirthen und Saufkameraden- erschöpft ist, geht es ans Ver-
setzen und Verkaufen des persönlichen, dann aber auch des Eigen-
thums der Angehörigen, und nicht zu selten schliesst die weitere
Alkoholismus.
533
Laufbahn mit Zechprellereien, Schwindeleien, Betrügereien, mit
Hehlerei und Diebstahl ab.
Der allgemeinen Störungen, welche der chronische Alkoholis-
mus in den verschiedensten Organen des Körpers regelmässig erzeugt,
ist bereits früher gedacht worden. Es soll daher an dieser Stelle
nur noch kurz auf die schweren Veränderungen im Nervensystem
hingewiesen werden. Ausser Schwindel und Kopfschmerzen, sowie
dem Tremor an Zunge und gespreizten Fingern fallen namentlich
die bekannten neui'itischen Symptome ins Auge, Schwäche der Arme
und Beine, Unsicherheit beim Stehen und Gehen, Muskelatrophie,
schmerzhafte Druckpunkte, Anaesthesien, Hyperaesthesien, Par-
aesthesien. Die Eeflexe sind vielfach gesteigert, seltener erloschen.
Am Opticus hat man ebenfalls eine alkoholische Neuritis (Abblassung
der temporalen Papillenhälfte) kennen gelernt; bisweüen bestehen
Augenmuskellähmungen. Ueberaus häufig sind bei Trinkern ver-
einzelte epileptische Krampfanfälle, aber auch die Entwickelung einer
ganz typischen Epilepsie mit zumeist schweren Krampferscheinungen
(häufig Zungenbiss) wird in etwa 1/3 der Fälle beobachtet. Es liegt nahe,
in solchen Fällen an organische Hirnvoränderungen zu denken.
FreiUch gleichen sich die auffallenden Erscheinungen des chronischen
Alkoholismus selbst bei vorgeschrittener Erkrankung bisweilen mit
überraschender SchuelHgkeit wieder aus. Aber die zurückbleibende
Schwäche, namentlich auf dem Gebiete des Willens, ist doch ein so
hartnäckiges Symptom, dass wir im Hinblicke auf die Giftvnrkungen
des Alkohols am peripheren Nervensystem auch eine dauernde gi'eif-
bare Schädigung der Centraiorgane für überaus wahrscheinlich halten
müssen. Leider fehlt es hier noch an Untersuchungen mit genügend
zuverlässigen Methoden. Pachymeningitische Erkrankungen und Ge-
fässveränderungen sind häufige Befunde.
Unter den Ursachen des chronischen Alkoholismus spielt eine nicht
geringe Eolle die angeborene oder vererbte Disposition. Die Neignng
zum Trinken wird in hohem Masse auf die Nachkommenschaft über-
tragen, wahrscheinlich in Form einer verringerten moralischen Wider-
standsfähigkeit überhaupt, während die Yerführung zum Alkoholismus
insbesondere durch staatliche Einrichtungen und gesellige Gewohn-
heiten in mehr als ausreichender Weise besorgt wird. Namentlich
die Zeiten „flotten" Lebensgenusses fordern unter den haltlos ver-
anlagten Personen ihre sicheren Opfer. Andererseits ist es die Noth,
534
X. Die chronischen Intoxikationen.
das Elend, namentlich aber die yerhängnissvolle Gedankenlosigkeit
und Unwissenheit der Massen, welche sie wehrlos dem für un-
entbehrlich gehaltenen Missbrauche in die Arme ti-eiben. TagtägUch
trinken Tausende und Abertausende gerade desAvegen "Wein, Bier
oder Schnaps, weil sie davon überzeugt sind, dass der Alkohol die
körperliche LeistungsfäMgkeit erhöhe, eine „Stärkung" des Organismus
bewirke. Wenn diese Anschauung schon für die acute Alkohol-
wirkuug durch die objective Messung im "Wesentlichen widerlegt
wird, so ist sie für den chronischen Gebrauch geistiger Geti'änke
zweifellos grundfalsch. Gegen diesen gefährlichen Unfug, an dem
Avir Aerzte zum guten Theil mit Schuld tragen, kann nicht energisch
genug zu Felde gezogen werden. Gar nicht selten knüpft sich die
Entwickelung des chronischen Alkoholismus direct an das zum Früh-
stück verordnete Gläschen Portwein oder Sherry an. So beobachtete
ich kurz hintereinander zwei Frauen, welche dadurch schwerer
Trunksucht verfallen waren , dass ihnen vom Arzte „zur Stärkung"-
nach hartnäckigen Menorrhagien der regelmässige Genuss alkohol-
reichen "Weines empfohlen wurde. Zu welchen entsetzlichen Folgen
endlich eine solche therapeutische Vergiftung bei jugendlichen
Personen führt, hat unlängst De mm e*) in sehr beherzigen swerther
"Weise geschildert.
Die Mengen alkoholischer Getränke, welche . der Einzelne zu sich
nimmt, sind sehr verschieden. Manche Personen vertragen von vorn
herein sehr Avenig, und umgekehrt scheint sich auch bei alten Trinkern
bisweilen Avieder eine verminderte "Widerstandsfähigkeit gegen den
Schnaps einzustellen. Andererseits berichtet Siemerling**) von
einem Arbeiter, der in 24 Stunden 3 Liter Nordhäuser mit Bittein,
von einem andern, der 2 Liter Spiritus mit Kümmel trank, sowie von
einer Eeihe ähnlicher Leistungen. Der Schnaps ist überall bevorzugt
Die Prognose des ausgeprägten chronischen Alkoholismus ist
gewöhnlich eine sehr trübe. Allerdings vermag man durch recht-
zeitiges, energisches Eingreifen in einer Anzahl von Fällen die
dauernde Entwöhnung vom Schnaps durchzusetzen und damit die
durch ihn erzeugten Störungen ziun VerschAvinden zu bringen. Die
freilich noch nicht sehr ausgedehnten Erfahrungen der Trinkeräsyle
*) Ueber den Einfluss des Alkohols anf den Organismus des Kindes. 1891.
*) Charite-Annalen, XVI, p. 373 ss. 1891.
Alkoholismus.
535
scheinen zu zeigen, dass immerhin ^/i— derjenigen Kranken,
welche sich einer längeren, systematischen Behandlung unterwerfen,
dauernd und vollständig geheilt werden, während ein gleicher Bruch-
theil Avenigstens eine sehr wesentliche, anhaltende Besserung erfährt.
Leider hat die Behandlung der Alkoholisten heute noch mit sehr
gi-ossen praktischen Schwierigkeiten zu kämpfen, zu deren Be-
seitigung bis jetzt nicht mehr als die ersten Schritte haben gethan
Averden können. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sinkt
daher der Gewohnheitstrinker nach jeder Kichtung hin allmählich
tiefer und immer tiefer, bis zum völligen körperlichen und geistigen
Ruin, wenn nicht irgend eine der zahlreichen, seine geschwächte
Constitution vor Allem bedrohenden Krankheiten (Pneumonie, Apo-
plexie, Nephritis) das Ende schon früher herbeiführt.
Die Erkennung des Trinkers ist in den vorgeschritteneren
Stadien sehr leicht. Abgesehen von dem vernachlässigten, herunter-
gekommenen Aeusseren, welches lebhaft mit der socialen Stellung
contrastirt, deuten die schwimmenden Augen, das gedunsene, häufig
durch kleine erweiterte Yenen geröthete Gesicht, die stark belegte^
oft zitternde Zunge, ein leichter Tremor der gespreizten Finger und
der fusehge Geruch des Athems unverkennbar auf die chronische
Yergiftung hin. Vielfach fällt frühzeitiges Altern auf. Die genauere
Prüfung lässt ausserdem fast immer leichtere oder schwerere neu-
ritische Symptome entdecken, besonders an den unteren Extremitäten.
Seltener gelingt auch der Nachweis einer der sonstigen, dem chroni-
schen Alkoholismus eigenthümlichen Organerkrankungen.
Die einzige Aufgabe, welche die Behandlung des chronischen
Alkoholismus zu lösen hat, ist die Herbeiführung einer dauernden,
völligen Enthaltsamkeit von allen alkoholischen Getränken.
Alle Yersuche, den Trinker etwa zu einem mässigen Genüsse von
Spirituosen zurückzuführen, scheitern erfahrungsgemäss an dem
Umstände, dass eben gerade der Alkohol die Selbstbeherrschung
vernichtet, die Ausführung impulsiver Handlungen begünstigt und
direct zu Excessen verführt. "Wer einmal, sei es aus Anlage oder
durch äussere Yerhältnisse, zum Trinker geworden ist, kann nur
durch bedingungslose Enthaltsamkeit den Gefahren eines Rückfalles
entgehen, aus dem einfachen Grunde, weü jene letztere unvergleichlich
leichter durchzuführen ist, ausserordentlich viel geringere Anforder-
ungen an die Willenskraft stellt, als das Einhalten irgendwie fixirter
536
X. Die chronischen Intoxikationen.
Mässigkeitsgrenzen. Wenn mir demnach auch die grundsätzliche
Yerdammung jedes Alkoholgenusses für den gesunden Menschen an
sich über das Ziel hinauszuschiessen scheint, so betrachte ich für
den Trinker allerdings die unverbrüchliche Bewahrung voller Ab-
stinenz als die nothwendige Yorbedingimg seiner "Wiederherstellung.
In einer grossen Anzahl von Fällen empfinden die Krauken ihre
hülflose Ohnmacht gegenüber dem Genussmittel stark genug, um
selbst den hier angedeuteten, einzig möglichen Ausweg aus ihrem
Zustande einzuschlagen. Bei kurzem Bestände des Leidens und
grosser ursprünglicher Willenskraft kann die Entziehung sogar ohne
weiteres äusseres Hülfsmittel von dem Kranken durchgeführt und
das erreichte Eesultat dauernd, je länger, um so leichter, festgehalten
werden. Sehr häufig indessen sind die Trinter von vorn herein
oder in Folge ihres Alkoholismus so willensschwach, dass sie den
in ihren häuslichen Yerhältnissen, ihrem Berufe, ihrem Verkehr
liegenden Verführungen nicht aus eigener Kraft zu widerstehen
vermögen. In solchen Fällen passt die Verbringung in ein „Trinker-
asyl", wie sie heute, allerdings in noch gänzlich ungenügender Zahl,
bereits in den meisten Ländern bestehen.
Endlich aber giebt es auch Trinker genug, denen die Einsicht
in ihr eigenes Elend, sowie das Streben, sich aus demselben zu
befreien, völlig fehlt, oder welche aus andern Gründen (Wahnideen)
jedem Versuche einer Freiheitsbeschränkung kategorischen Wider-
stand entgegensetzen. Die zwangsweise Durchführung der Entziehimg
bei solchen Menschen kann heute nur in der Weise geschehen, dass
sie als geisteskrank in eine Irrenanstalt verbracht werden. Da in-
dessen der Alkoholismus als psychische Störung gesetzlich bisher
keineswegs anerkannt wird, so besteht thatsächlich in einer er-
schreckend grossen Zahl von Fällen die rechtliche Unmöglichkeit,
den verblendeten Trinker von der Vernichtung seiner eigenen, ^ne
der Existenz seiner Familie auch gegen seinen Willen zurück-
zuhalten. Dass hier die Nothwendigkeit staatlichen Eingreifens zum
Mindesten ebenso dringend ist, wie etwa bei der zwangsweisen Be-
handlung sypliiütischer Prostituirter, von dem Verfahren gegenüber
gemeingefährlichen Geisteskranken garnicht zu reden, bedarf keiner
weiteren Ausführung.
Die Entziehung des Alkohols kann in der Eegel eine ganz
plötzliche seiu. Ich habe bisher erst in einem einzigen Falle durch
Alkoholismus.
537
den unvermittelten Wegfall des gewohnten Alkohols schwerere
Störungen eintreten sehen. Es handelte sich um einen' jungen Mann
mit einem Herzfehler, welchem in der Heilanstalt, die er wegen
seiner Trunksucht aufgesucht hatte, ärztlicherseits täglich eine Flasche
Cognac verordnet worden war. Hier sah ich mich wegen der
Neigung zum Collaps genöthigt, neben andern Mitteln noch einige
Tage laug kleine Alkoholmengen zu geben. Meist jedoch pflegen
sich die geringen anfänglichen Störungen, Schlaflosigkeit, einzelne
Hallucinationen, Appetitlosigkeit schon nach wenigen Tagen erheblich
zu bessern oder völlig zu verlieren. Die weitere Erholung schreitet
nnn ungemein schnell vorwärts. Gleichwol sollte die Dauer der
Anstaltsbeaufsichtiguug in einigermassen schweren Fällen nicht unter
8/4 — 1 Jahr, nach Recidiven noch längere Zeit betragen, da nament-
lich die psychische "Widerstandsfähigkeit immer noch erheblich ge-
schwächt bleibt, auch wenn der Kranke in allen übrigen Beziehungen,
selbst hinsichtlich seiner Krankheitseinsicht, schon vollständig ge-
nesen erscheint. Hie und da sieht man übrigens erst nach viel-
monatlichem, zunächst widerwilligem Anstaltsaufenthalte doch all-
mählich ein besseres Yerständniss für die Sachlage und damit
Zugänglichkeit für die Bemübungen des Arztes zu Stande kommen-
Alle diese Umstände spielen ebenso wie die Persönlichkeit des
Kranken überhaupt und seine äusseren Yerhältnisse eine 'nächtige
Rolle für die Abmessung der Behandlungsdauer. Jedenfalls soll
die "Wiedereinführung in die Freiheit nach anfänglich strengster
Ueberwachung nicht plötzlich, sondern ganz allmählich geschehen,
um das Selbstvertrauen des Kranken zu kräftigen und seine Wider-
standsfähigkeit praktisch zu erproben. Branntweinbrennern, Wein-
reisenden, Schankwirthen u. s. f. ist eine Aenderung ihres Berufes
dringend anzurathen. Als moralisches Pressionsmittel zur Er-
leichterung der Alkoholentwöhnung ist in neuerer Zeit mehrfach
mit Erfolg auch die hypnotische Suggestion mit herangezogen worden
(Forel).
Ungleich grössere Aussicht auf Erfolg, als die Behandlung des
ausgebildeten Alkoholismus, gewährt die Prophylaxe desselben.
Die verschiedenartigsten Factoren sind berufen, in dieser Richtung
zusammenzuwirken. In der Herabsetzung der Schnapsproductiou, der
Monopolisirung und Einschränkung des Detailverkaufs (Gothen-
burger System), in der öffentlichen Belehrung über die schweren
538
X. Die chronischen Intoxikationen.
Gefahren des Alkoholismus, endlich aber in der Einbürgerung harm-
loser Anregungsmittel (Kaffee, Thee) und auch schon in der Ver-
drängung wenigstens der gefährlicheren Formen des Schnapses mit
Hülfe unverfälschter Biersorten sind uns, wie die Erfahrung lehrt,
die Mittel an die Hand gegeben, welche es uns ermöglichen, den
furchtbaren Begleiter und Feind zugleich unserer Civilisation nicht
nur an seiner weiteren Ausbreitung zu verhindern, sondern ihm
allmählich auch das schon gewonnene, übergrosse Terrain in hartem
Kampfe nach und nach wieder abzuringen. "Wie es scheint, sind
nach dieser letzteren Eichtimg hin, durch die Kräftigung des Ent-
haltsamkeitsentschlusses die in England, Amerika, Skandinavien,
Finnland, der Schweiz sich rasch entwickelnden „Mässigkeitsvereine"
eine beti'ächtliche moralische Einwirkung auszuüben im- Stande ge-
wesen. Gerade für den Trinker mit seiner Willensschwäche bildet
der Kückhalt, den die Yereinigung bietet, ein sehr wichtiges Hülfs-
mittel im Kampfe mit der Yerführung. Der sich durch das Yereins-
leben, durch den Gedankenaustausch, die eigenartige Literatur ent-
wickelnde Fanatismus ist ein wohlthätiges, vielleicht sogar noth-
wendiges "Werkzeug zur Bettung jener ungezählten Schaaren, welche
vereinzelt, auf sich selbst gestellt, unfehlbar zu Grunde gehen würden.
Die wichtigsten in Beti-acht kommenden Vereinigungen sind der
Alkoholgegnerbund (Internationaler Verein zur Bekämpfung des
Alkoholgenusses), der Verein des blauen Kreuzes und der Orden
der Guttempler. Freilich steht diesen Gesellschaften die Legion jener
„gemüthlichen" Vereinigungen gegenüber, welche unter irgend einem
Aushängeschilde nichts anderes sind, als fruchtbare Brutöfen des
„feuchtfröhlichen" deutschen Kneip alkoholismus.
Auf der durch den chronischen Alkoholismus gebildeten Grund-
lage können sich eine Anzahl eigenartiger psychischer Störungen
entwickeln, welche zum Theil wenigstens in ihrem klinischen Auf-
treten selber schon den Eückschluss auf die Grundui'sache gestatten,
aus welcher sie hervorgegangen sind. Die bei weitem häufigste
dieser Störungen, welche vielleicht nur wenigen wirklichen Trinkern
erspart bleibt, ist das Delirium tremens.*)
Vielfach pflegt sich das Delirium tremens an irgend eine Ge-
legenheitsursache, namentlich eine Verletzung oder eine acute Er-
*) Rose, Delirium tremens \md Delirium traumaticum. 1S84.
Alkoliolismus.
539
kranknag (Pnenmonie) anznschliessen, so dass man es vielleicht mit
einem gewissen Eechte als das „Collapsdelirium der Trinker" auffassen
kann. Selten sind die Fälle, in denen lediglich erzwungene Abstinenz
(Yerhaftung, Cur) den Anlass zum Ausbruche der Erkrankung giebt;
ich habe das nur ein einziges Mal sicher beobachtet. Dagegen scheinen
Aifecte, Aufregungen eine auslösende Kolle zu spielen. Einen
Bauern sah ich erkranken, als er die Eeise nach Amerika antrat.
Auch gehäufte Excesse dürften nicht ohne Bedeutung sein. Namentlich
aber ist, wie ich glaube, auf die- schwere chronische Schädigung
der allgemeinen Ernährung Gewicht zu legen. Von den meisten
Deliranten erfährt man, dass sie in Folge ihres Magenkatarrhs seit
"Wochen oder Monaten sehr wenig Nahrung zu sich genommen haben.
Nach den Prodromalersclieinungen einer erhöhten psychischen
(unruhiger Schlaf, Verstimmtheit, Schreckhaftigkeit) und sensoriellen
(Hyperaesthesie, subjective Geräusche, Blitze, feurige Sterne) Er-
regbarkeit, welche bisweilen einige Tage, meist jedoch nur wenige
Stunden andauern, entwickelt sich in rascher Steigerung der Sym-
ptome das volle Krankheitsbild, welches vor Allem durch lebhafte und
zahlreiche phantastische Sinnestäuschungen der verschieden-
sten Gebiete bei meist mässiger, traumartiger Benommenheit und
durch gewisse typische motorische Störungen charakterisirt wird.
Unter den illusionären und hallucinatorischen Trugwahr-
nehmungen, welche Anfangs nur des Nachts, dann aber auch bei
Tage hervortreten und den Kranken lebhaft beschäftigen, pflegen
diejenigen des Gesichtes zu überwiegen. Die Phantasmen sind von
grosser sinnlicher Deutlichkeit, vielfach schreckhaften und unan-
genehmen Inhalts. Meist sehen die Kranken massenhafte kleinere
und grössere Gegenstände, Staub, Flocken, Münzen, Schnapsgläschen,
Flaschen. Noch häufiger sind Thiere, welche sich immerfort zwischen
die Beine drängen, in der Luft herumschwirren, das Essen bedecken.
Spinnen, Käfer, Wanzen, Schlangen, Gewürm, Eatteu, Hunde. Zahl-
lose Menschenmengen dringen auf die Kranken ein (feindliche Reiter,
Gensdarmen) oder marschiren in laugen, phantastisch gruppirten
Zügen an ihnen vorbei; einzelne gefahrdrohende Spukgestalten, Miss-
geburten, kleine Männer, Teufel, „Feuerrüpel", Gespenster stecken den
Kopf in die Thüre, buschen unter den Möbeln herum. Seltener sind
geputzte, lachende Mädchen oder lascive Sceuen. Dazu gesellen sich
die Trugwahrnehmungen von brausenden Geräuschen, unbestimmten!
540
X. Die chronischen Intoxiifationen.
Tumult, lautem, wirrem Greschrei, Musik, Vogelgesang, von Glocken-
geläute, Kanonenschüssen und Salven, bisweilen auch von deutlichen
Stimmen, Scheltworten, Drohungen und Anklagen. Durch verschieden-
artige abnorme Empfindungen auf der Haut entsteht bei dem Kranken
die Idee, dass Ameisen, Kröten, Spinnen auf derselben entlang
kriechen; die G-enitalien werden ihm abgefressen; er fühlt sich von
feinen Fäden eingesponnen, gebissen, gestochen, geschossen. Er
sammelt Geld, das er massenhaft herumliegen sieht und deutlich in
der Hand fühlt, aber es zerrinnt wie Quecksilber. Was er anfasst,
schwindet, kriecht zusammen oder wächst ins Ungeheure, um wieder
zu zerfallen, fortzurollen, wegzufhessen. Nicht selten kann man
dem Kranken gewisse Täuschungen (Ungeziefer am Kocke, eine
Nadel in der Hand) durch energisches Einreden direct suggerireu.
Gerade bei derartigen Versuchen sieht man deutlich, dass viele
dieser Trugwahrnehmungen mehr als Illusionen aufzufassen sind.
Die kleinen Knoten und Unregelmässigkeiten des Gewebes erscheinen
Avie Flöhe auf dem Bettzeug, die Schrammen der Tischplatte als
Nadeln, Flecke am Boden als Münzen; in den "Wänden öffnen sich
geheime Thüren; die Kranken sehen undeutlich, verschwommen, wie
im Nebel; man bemerkt an ihrem Gebahren, wie sie sich abmühen,
klarere Bilder zu bekommen. Trotzdem lässt sich keine schwerere
Sehstörung nachweisen; aUe einzelnen Eindrücke werden richtig
wahrgenommen und aufgefasst; auch Anreden werden wenigstens
bei eindringlicherer Wiederholung regelmässig verstanden und sach-
gemäss beantwortet.
Das Bewusstsein der Kranken ist in leichterem oder schwererem
Grade getrübt. Auch dort, wo anscheinend die sinnliche Wahr-
nehmung äusserer Eeize ganz prompt erfolgt, bietet die weitere
Verarbeitung derselben ausnahmslos die schwersten Störungen dar.
Die Umgebung wird von den Kranken immer verkannt. Sie be-
grüssen Arzt und Mitpatienten auf Befragen mit den Namen alter
Bekannter, identificiren die Eäume mit irgend welchen Localitäten
in der Heimath, am häufigsten mit Wirthshäusern, Brauereien u. dergl.
Alle diese Bezeichnungen können binnen Kurzem wechselu, wenn
die Kranken ihren Aufenthaltsort geändert zu haben glauben, während
sie andererseits wirkliche Reisen gewöhnlich ganz ignoriren. Auch
die Schätzung der durchlebten Zeiträume ist eine ganz unsichere.
Meist erscheint den Krauken die Dauer des Deliriums ungemein
Alkoholismus.
541
lang. Sie berichten daher später über ihre krankhaften Erlebnisse,
als wenn Wochen oder Monate darüber hingegangen wären.
Alle die hier angedeuteten Züge erinnern an unsere Erfahrungen
im Traume, bei denen ims ja auch die klare Auffassung von Ort
und Zeit vollständig verloren zu gehen pflegt, selbst wenn im
üebrigen der Zusammenhang unseres Gedankenganges leidlich gut
erhalten ist. Auch im Delirium tremens pflegen die Kranken trotz
ihrer Desorientirtheit nicht eigentlich verwirrt zu sein. Vielmehr
sprechen sie meist ganz geordnet und erzählen in verständlicher
Weise, wenn auch mit häufigen Unterbrechungen, allerlei phan-
tastische Erlebnisse, fireilich ohne deren ünsinnigkeit klar zu begreifen.
Ganz wie in gewissen Träumen reiht sich während des Deliriums
eine Scene voll abenteuerlicher Einzelheiten an die andere. Der
Kranke durchlebt mit offenen Augen in bunter Folge die merk-
würdigsten und widerspruchsvollsten Episoden und vermischt dabei
oft unentwirrbar wirkliche Eindrücke mit deliriösen Elementen.
Einer meiner Krauken sah sich vor ein geheimes Gericht gestellt,
bei welchem Trinker und Temperenzler um ihn kämpften. Andere
werden zum Tode verurtheilt, mit scheusslichem Gewürm eingesperrt,
ins Bad geführt, vom Arzt untersucht, von Studenten mit Champagner
überschwemmt, machen Festtafeln und weite Spaziergänge mit, finden
sich dann plötzlich wieder eingesperrt und ihrer Kleider beraubt.
Sehr gewöhnlich spielt in den deliriösen Erlebnissen die ge-
wohnte Thätigkeit eine hervorragende Kolle („Beschäftigungsdelirium").
Die Kranken glauben im "Wirthshause zu sein, bestellen Schnaps
oder eine Portion Kalbsbraten, sehen Getränke vor sich, greifen
nach denselben und trinken sie aus, serviren den „Gästen", oder
sie wähnen sich mit irgend einer Arbeit beschäftigt, nähen mit
imaginären Fäden, klopfen mit einem eingebildeten Hammer u. dergl.
Alle diese Hantirungen werden mit grosser Ausführlichkeit vor-
genommen, genau wie im wirklichen Leben.
Die Stimmung der Kranken steht im Allgemeinen mit dem
Inhalte der Delirien in nahem Zusammenhange. Sie ist daher bald
ängstlich, schreckhaft, bald heiter und vergnügt. Bei dem raschen
Wechsel der deliriösen Scenen ändert sich auch der Stimmungs-
hintergrund häufig ganz unvermittelt; Lachen und Todesfurcht folgen
kurz aufeinander. Meist bildet sich auf diese Weise ein eigen-
thümliches, ungemein typisches Gemisch von geheimer Angst und
542
X. Die chronischen Intoxikationen.
Galgenhumor heraus. Der Kranke wird durch die Schreckbilder
und die Unklarheit seiner Lage beunruhigt, empfindet aber doch
gleichzeitig mehr oder weniger deutlich die lächerlichen Unmöglich-
keiten und Widersprüche in seinen deliriösen Erlebnissen.
Im Benehmen und Handeln des Kranken fällt regelmässig
eine gewisse Unruhe auf. Er ist völlig ausser Stande, sich wirk-
lich geordnet zu beschäftigen, sondern wird durch die Täuschungen
vollkommen in Anspruch genommen. Selten lässt er als passiver
Zuschauer die wechselnden Eindrücke einfach an sich vorüberziehen;
meist veranlassen ihn dieselben zu lebhaften Eeactionen. Er ant-
wortet laut auf die rufenden Stimmen, vertheidigt sich gegen die
Yorwürfe, drängt zur Thür hinaus, weil es bereits die höchste Zeit
zu seiner Hinrichtung sei, Alle schon auf ihn Avarten. Ueber die
wunderlichen Thiere amüsirt er sich, schreckt vor den schwii-renden
Yögeln zurück, sucht das GcAvürm wegzuwischen, die Käfer zu zer-
treten, greift mit gespreizten Fingern nach den Elöhen, sammelt das
überall herumliegende Geld auf, sucht die ihn umspinnenden Fäden
zu zerreissen, hüpft mit peinlicher Anstrengung über die an der
Erde gezogenen Drähte hinweg. Dazu gesellen sich die maainich-
fachsten Handlungen, welche aus dem oben erwähnten Beschäftigungs-
delirium hervorgehen. Yerhältnissmässig selten kommt es auch wol
einmal zu plumpen Angriffen auf die für feindselig gehaltene Um-
gebung oder zu ernsthafteren Selbstmordversuchen. Häufiger ver-
unglücken die Kranken in ihren deliriösen Unternehmungen. Einer
meiner Kranken stürzte sich im Arrestlocal aus Angst vor dem
eintretenden Diener zwei Treppen hoch aus dem Fenster und brach
den Eadius; ein Student zwängte sich durch das Fenster seines
Zimmers, um auf einen hallucinirten Bahnsteig zu gelangen, fiel
auf das Geländer des einen Stock tiefer gelegenen Balkons und blieb
dort im weichen Schnee liegen, ohne sich verletzt zu haben.
Der Schlaf ist im Delirium tremens nahezu gänzlich aufge-
hoben; die Unruhe pflegt sich gegen Abend zu steigern und dauert
ohne jede oder doch nur mit sehr geringen Unterbrechungen fort,
wenn nicht der Eintritt soporöser Zustände eine ungünstige Wendung
des Krankheitsverlaufes ankündigt. Die Ernährung ist durch die
ängstliche Erregung der Kranken, durch den regelmässig bestehen-
den Katarrh des Mundes und Magens, sowie durch häufige Yer-
giftungsideen mit Nahrungsverweigerung empfindlich beeinträchtigt.
Alkoholismus.
543
Die Temperatur ist, avo keine gleichzeitige körperliche Erkrankimg
besteht, meist normal, doch werden nicht selten plötzliche, beträcht-
liche Steigerungen der Eigenwärme beobachtet. In einzelnen Fällen
erreicht die Temperatursteigerung eine perniciöse Hartnäckigkeit und
Höhe (bis zu 43") mit letalem Ausgange (Delirium tremens febrile
TonMagnan); es dürfte sich hier wol immer um Infection handeln,
für deren Zustandekommen bei der ünempfindüchkeit und geringen
"Widerstandsfähigkeit der Kranken überall die günstigsten Bedingungen
gegeben sind. Die Athmung ist frequent, ebenso der Puls; häufig
treten profuse Schweisse auf. Der Harn ist nicht selten eiweisshaltig.
Auf sensiblem Gebiete bestehen vielfache Paraesthesien, Hyper-
aesthesien, Anaesthesien und Analgesien, wie sie den chronischen
Alkoholismus überhaupt zu begleiten pflegen. Schwer verletzte
(z. B. gebrochene) Gheder werden mit der grössten Kücksichtslosigkeit
bewegt. Die Eeflexerregbarkeit ist bedeutend gesteigert, be-
sonders hochgradig kurz vor epileptischen Anfällen. Die Zunge
und die gespreizten Finger zeigen stets einen ausgesprochenen,
vibrirenden Tremor, der sich auch noch Aveiter über Gesicht und
Extremitäten ausbreiten kann. Bisweilen beobachtet man Zähne-
knirschen. In einzelnen, besonders schweren Fällen treten auch
stärkere Muskelstösse und selbst tonische Spannungen ^uf, wahr-
scheinlich als Theilerscheinungen der Alkoholepilepsie. Die Gesichts-
züge sind schlajff; häufig machen sich einzelne unwillkürliche
Zuckungen und Mitbewegungen bemerkbar. Alle willkürlichen Be-
wegungen geschehen plump, unsicher, obgleich oft mit grosser Ki'aft;
auch der Gang ist meist unsicher und taumelnd. Häufig werden
epileptische Krampfanfälle beobachtet, in einer grossen Anzahl
von Fällen als Einleitung der ganzen Erkrankung.
Der Y erlauf des Delirium ti'emens ist meist ein rascher und
günstiger. Die Genesung vollzieht sich unter dem Eintritte von
Schlaf, bisweilen rasch und mit einem Male, meist aber unter all-
mählichem Zurücktreten der Sinnestäuschungen, die oft noch in be-
schränktem Grade fortbestehen, wenn der Kranke schon im Stande
ist, sie zu corrigiren. Gewöhnlich überschreitet die Dauer des
Deliriums die Zeit von 1 — 2 Wochen nicht. Die Erinnerung an die
Phantasmen ist im Gegensatze zu den Krankheitszustäuden mit sehr
tiefer Bewusstseinstrübung oft eine ganz klare und detailUrte. In
ungünstig verlaufenden Fällen treten früher oder später die psychischen
544
X. Die chronischen Intoxikationen.
Lähmungserscheinungen stärker hervor. Die Kranken werden un-
besinnlich, deliriren ganz zusammenhangslos; die Bewegungen werden
schwächer und schlaffer; der Puls wird klein, frequent, unzählbar,
und unter rascher Zunahme der Benommenheit tritt der Tod ein.
Dieser Ausgang ist nach meinen Erfahrungen in etwa 15 — 20''/o der
Fälle zu erwarten. Die Gefahr einer Erschöpfung mit tödtlichem
Collapse liegt bei der heruntergekommenen Constitution der Alkoholiker
mit ihren verschiedenen Organleiden sehr nahe, zumal eben häufig
ernste Erkrankungen die Gelegenheitsursache für den Ausbruch des
Deliriums abgeben. Endlich führt auch die Unruhe und Angst der
Kranken in einzelnen Fällen den tödtlichen Ausgang durch Selbst-
mord, Verletzungen oder Yerschlimmerung sonst harmloser begleiten-
der Leiden herbei. Die Leichenöffnung pflegt sehr hochgradige venöse
Stauungen und Oedeme des Schädelinhaltes zu ergeben. Yerhältniss-
mässig selten ist der Ausgang in anderweitige Geistesstörungen.
Die Diagnose des Delirium tremens bietet bei genauer Be-
achtung des Krankheitsbildes gewöhnlich keinerlei Schwierigkeiten.
Immerhin können gewisse acut auftretende paralytische Aufregungs-
zustände, besonders bei vorhergehendem stärkerem Alkoholmissbrauche
zu diagnostischen Zweifeln Anlass geben, wenn man nicht die Ent-
wickelung . des ganzen Krankheitsbildes, die grössere VerwÜTtheit
und Schwäche der Paralytiker, sowie die sonstigen Symptome dieses
Leidens berücksichtigt. Tom Collapsdelirium unterscheidet sich das
Delirium tremens durch das Pehlen der Ideenflucht und des leb-
haften, elementaren Bewegungsdranges, sowie durch die viel grössere
Besonnenheit der Kranken.
Die Behandlung hat sich vor Allem jedes schwächenden Ein-
griffes zu enthalten und für die möglichste Conservirung der
Kräfte durch gute Ernährung (Milch) Sorge zu tragen. Schon
prophylaktisch ist bei somatisch erkrankten Trinkern stets die Mög-
lichkeit eines eintretenden Delirium tremens ins Auge zu fassen
und daher nach den angedeuteten Gesichtspunkten zu verfahren. In
einer grossen Zahl von Fällen wird man mit dem rein zuwartenden
Yerfahren vollständig auskommen. Bisweilen jedoch erscheint es
noth wendig, die Uni'uhe und Schlaflosigkeit direct zu bekämpfen.
Zu diesem Zwecke wird man sich des Paraldehyd, des Sulfonal oder
Trional bedienen; das Chloralhydrat ist nicht ungefährlich. Freiüch
versagen oft alle Schlafmittel. Krafft-Ebing hat dringend die bis
Alkoholismus.
545
zum Eintreten des Schlafes alle 2 — 3 Stunden wiederholte subcutane
Anwendung des Methylal (0,1 gr) angerathen, welche den grossen
Vorzug haben soll, die Dauer des Deliriums abzukürzen. Wo die
Zeichen vorgeschrittener Alkoholdegeneration vorliegen, bei schwereren
Comphcationen und bei Fieber wird auch das Opium (subcutan
0,03 gT Extr. Opü aquosi alle 3—4 Stunden, bis Schlaf eintritt) warm
empfohlen. Dabei ist die Herzthätigkeit sorgfältig zu controliren.
Easches Abbrechen der Opiumbehandlung muss vermieden werden.
Den Alkohol kann man für gewöhnlich vollkommen entbehren, doch
halte ich ihn bei Herzschwäche und Neigung zu Collapsen für noth-
wendig. Ausserdem ist hier ein analeptisches, excitirendes Verfahren
ohne Narkotica am Platze (Aether, Campher, starker Kaffee, kühle
Uebergiessungen).
Von grösster "Wichtigkeit ist endlich bei der notorischen Ge-
fährlichkeit dieser Kranken füi- sich und Andere eine sorgfältige,
unausgesetzte TJeberwachung derselben. Betten mit hohen, ge-
polsterten Wänden, die das Herausspringen erschweren und Selbst-
verletzungen verhindern, sind sehr empfehlenswerth, aber nur dann,
wenn beständig Pflegepersonal in unmittelbarer Nähe sich befindet;
im anderen Falle kann das Hiuausklettern des imgeschickten Kranken
über die hohe Seitenwand zu schweren Verletzungen Veranlassung
geben. Die Keconvalescenz ist durch die Sorge für Beseitigung der
Verdauungsstörungen und gute Ernährimg, sowie dm-ch Eegelung
des Schlafes zu unterstützen.
"Weit seltener, als das DeKrium tremens, hat man bei Trinkern
Gelegenheit, gewisse andere episodische Geistesstörungen zu beobachten.
Vor allem ist hier der acute hallucinatorische Wahnsinn zu
nennen, der meist imter dem Namen der acuten alkoholischen Ver-
rücktheit beschrieben wird. Das Bild desselben ist fiäiher bereits
eingehend geschildert worden. Femer kommen bisweilen eigen-
thümüche chronisch-deliriöse Zustände vor. Die Kranken
halluciniren dauernd ganz in der Art der gewöhnlichen Dehranten,
sind dabei unvollkommen orientirt imd wechsekider, bald gereizter
oder ängstücher, bald gleichmüthig-himaoristischer Stinnnimg. Klare
Einsicht in die krankhafte Natur der Täuschimgen ist nicht vorhanden;
andererseits werden auch keine eigentlichen Wahnideen ausgebildet.
Einer meiner Kranken suchte sich mehrfacli durch Schiessen gegen
die ihn bedrohenden Gestalten zu vertheidigen. Eegelmässig besteht
Kraopelin, Psychiatrie, 4. Änfl. 35
546-
X. Die chrpniscliea Intoxikationen.
bereits ein höherer Grad von alkoholischem Schwachsinn. Die Dauer
solcher Zustände kaan sich über. Jahre hinaus erstrecken. Nach Aus-
setzen des Trinkens pflegen sich die Täuschungen ganz allmählich
zu verlieren, während die' geistige Schwäche fortbesteht. Endlich
giebt ßs noch einzelne Fälle von chronischem Alkoholismus, in denen
häufiger, namentlich des Nachts, einzelne Hallucinationen ohne
weitere psychische Störung und mit voller Einsicht in die Krankhaftig-
keit der Erscheinung auftreten. Yielleicht handelt es sich dabei nur
um die erste Entwickelungsstufe des chronischen alkoholischen
Deliriums. Hier verschwinden die Täuschungen sofort mit dem
Aufhören des Alkoholmissbranches.
Eine wesentüch andere ßedeutimg, als den bisher beti-achteten
alkoholischen Störungen kommt jenem höchst auffallenden Ki-ankheits-
bilde zu, welches man mit" dem Namen der Dipsomanie zu be-
zeichnen pflegt Die Eigenthümlichkeit desselben besteht in der
periodischen Wiederkehr eines unwiderstehlichen Dranges
nach dem Genüsse alkoholischer Getränke. In der Regel
gehen dem dipsomanischen Anfalle gewisse Prodromalerscheinungen
voraus, Unbehagen, Beklenummgsgefühle, tiefe Traurigkeit, Lebens-
überdruss, erhöhte Reizbarkeit, Eingenommenlieit des Kopfes, Appetit-
mangel, Schlaflosigkeit. Gleichzeitig bemächtigt sich des Kranken
eine lebhafte innere Unruhe und damit die triebartige Begierde, sich
durch den Alkoholgenuss Erleichterung zu verschaffen, so dass er
Alles stehen und liegen lässt und „im hellen Galopp" der Kneipe
zueilt. Fast ohne Unterbrechung fängt er an, "Wein, Bier, Schnaps,
selbst Spiritus Tag und Nacht in unglaublichen Quantitäten herunter-
zustürzen. Unbekümmert um irgend welche gesellschaftlichen, sittlichen
und ökonomischen Rücksichten treibt er sich in den Kneipen herum,
versäumt seine sonstigen Obliegenheiten, kehrt nicht mehr- nach
Hause zurück und giebt das letzte Geldstück daran, ja er verkauft
und versetzt die Kleidungstücke von seinem Leibe, lun seine ki-ank-
hafte Gier zu befriedigen. Dabei besteht Schlaflosigkeit, vollständiger
Appetitmangel und eine deutliche motorische Erregung. Trotz der
grossen Mengen des genossenen Alkohols kommt es vielfach doch
nicht zu sinnloser Betrunkenheit. Nach einigen Tagen oder Wochen
hört das Trinken plötzHch auf; es stellt sich unter intensivem Ekel-
gefühl ein häufig von Delirien und Sinnestäuschungen begleiteter
CoUapszustand ein, in Avelchem auch die körperlichen Folgen der
Alkoholismus.
547
Excesse, Erbrechen, Anorexie, Magenkatarrh, Unsicherheit der Be-
wegungen, Tremor, stark hervortreten. Aus ihm geht der Kranke
in relativ normalem Befinden hervor, zeigt oft eine tiefe Eeue über
das Vorgefallene und einen Abschen gegen den Alkohol, gewöhnlich
aber auch die Erscheinungen einer geringen psychischen Wider-
standsfähigkeit, erhöhte gemüthliche Eeizbarkeit und leichte Be-
stimmbarkeit.
Trotz aller guten Vorsätze wiederholen sich die Anfälle in mehr
oder weniger regelmässigen Intervallen ohne besonderen äusseren
Anlass in genau gleicher Weise. Die Zwischenzeiten betragen einige
Wochen oder Monate („Quartalsäufer"), seltener Jahre; sie pflegen
sich bei längerem Bestände des Leidens allmählich zu verkürzen,
wobei zugleich mehr und mehr die gemüthhche Schwäche und
namentlich auch die körperlichen Polgen der gewaltigen Schädlich-
keiten hervortreten.
Die Dipsomanie kann sich bei Menschen entwickeln, welche
während der Zwischenzeiten durchaus nüchtern sind und keinen
Ti'opfen geistiger Getränke zu sich nehmen. Andererseits aber tritt
sie häufig bei Personen auf, welche an sich schon zu Alkoholmiss-
brauch geneigt waren, ohne vielleicht geradezu Trinker zu sein.
Erbhche Veranlagung zur Trunksucht oder zu Geistesstörungen
spielt zweifeUos eine gewisse ätiologische Kolle. In manchen Fällen
wird die Bedeutung des Krankheitsbildes dadurch geklärt, dass es
während des Anfalls gelegentlich zur Entwickelung von Dämmer-
zuständen mit nachfolgender Amnesie kommt. Hier wird man an
einer epileptischen Grundlage des Leidens kaum zweifeln können.
Preilich dauern in solchen Pällen die sinnlosen Alkoholexcesse oft
nur sehr kurze Zeit. Ich kenne einen Kranken, der nach einigen
Tagen reizbarer Verstimmung ganz plötzHch davonlief, jede ihm er-
reichbare Menge schwerster alkoholischer Getränke hinuntersttirzte
und dann in tiefer Bewusstlosigkeit irgendwo aufgefunden wurde, ein-
mal auf dem Eise eines Plusses, wo er die Nacht zugebracht hatte.
Benimmt man diesen Ki-anken durch Internirung die Möglichkeit
des Alkoholgenusses, so geht die geschilderte Verstimmung, die ganz
an die periodische Eeizbarkeit der Epileptiker erinnert, ohne weitere
Polgen binnen wenigen Tagen vorüber.
Ich vermag nicht mit Sicherheit zu sagen, ob aUe Pälle von
Dipsomanie gleichartig sind. Die überwiegende Mehrzahl der von
35*
548
X. Die chronisclieii Intoxikationen.
mir selbst beobachteten Kranken gehörte mit voller Sicherheit oder
doch mit grosser "Wahrscheinlichkeit dem Kreise der epileptischen
Geistesstörungen an. Freilich bildete die Epilepsie überall nur die
Grundlage, während die weitere Gestaltung der klinischen Er-
scheinungen durch den Alkoholmissbrauch beherrscht "\vurde. Endlich
war es zweifellos, dass' durch den episodischen oder dauernden
Alkoholgenuss die Neigung zur Entwickelung der einleitenden Ver-
stimmung ausserordentlich begünstigt wurde. Das kann uns nicht
"Wunder nehmen, wenn wir die bekannten ursächlichen Beziehungen
des Alkohols zur Epilepsie überhaupt berücksichtigen. Für die
eigentliche Grundlage der Dipsomanie glaube ich somit im Allgemeinen
epileptische periodische Yerstimmungen halten zu müssen, die ent-
weder nur auf persönlicher krankhafter Veranlagung oder auf dem
Boden chronischen Alkoholmissbrauches erwachsen. Diese Ver-
stimmungen geben den Anlass zu jenen plötzlichen unsnmigen
Excessen, welche daoin unter Umständen ihrerseits wieder patho-
logische Kauschzustände oder gelegentlich auch wirkliche epileptische
Dämmerzustände auslösen können.
Die Erkennung der Kraniheit bietet bei dem typisch-perio-
dischen Verlaufe nicht die geriagsten Schwierigkeiten. Die Prognose
muss, in TJebereinstimmung mit der soeben entwickelten Anschauung
über das Wesen des Leidens im Ganzen als eine ungünstige be-
zeichnet werden. Gleichwol ist die Behandlung nicht selten im
Stande, einen sehr erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der
Krankheit zu gewinnen. Ich habe mich in mehreren Fällen davon
überzeugen können, dass mit der zunächst zwangsweisen Durch-
führung vollständiger Enthaltsarokeit vom Alkohol nicht nur alle
schweren Störungen während des Anfalles ausblieben, sondern dass
namentlich auch die Anfälle selbst allmählich seltener und wesentlich
leichter wurden. Je länger die völlige Abstinenz bestanden hatte,
desto glatter kamen die Kranken über die Zeiten der Verstimmung
tdnweg. Schliesslich schien dabei der eigenartige Drang nach Alkohol
überhaupt zu schwinden. Jedenfalls muss ich nach meinen Be-
obachtungen die grundsätzliche Beseitigung jeglichen Alkohol-
genusses bei Dipsomanen als unumgänglich nöthig und zugleich
erfolgToich bezeichnen. Wo die dauernde Unterbringung der Kranken
in einer Anstalt nicht möglich ist, sollte Avenigstens mit dem Einüitt
der Verstimmung sofort die Ueberführung in eine Wachabtheilung bis
Alkoholismus.
549
zum Ende des Anfalles (Bettriüie !) erfolgen. In neuerer Zeit werden
aus Russland, wo die Krankheit relativ häufig ist, Heilungen durch
Strychnininjectionen berichtet; eigene Erfahrungen stehen mir Überdie-
seiben bisher nicht zu Gebote. Ausserdem wäre vielleicht ein Yersuch
mit der Anwendung des Bromkalium in grossen Dosen zu empfehlen.
Neben diesen zumeist acut verlaufenden Psychosen haben wir
als dem Alkoholismus eigenthümlich eine recht häufige chronische
Form des Irreseins aufzuführen, welche klinisch dem Bilde der
Verrücktheit gleicht, den sog. Eifersuchtswahn der Trinker.
Diese Störung entwickelt sich unmittelbar aus gewissen Grundzügen,
welche wir schon früher im alkoholischen Schwachsinn vorgefunden
haben. Die aus der Trunksucht als nothwendige Folge hervor-
gehenden ehelichen Zerwürfnisse und die dadurch bedingte Ent-
fremdung der Ehegatten, die Abneigung der Frau und vielleicht
auch die allmählich sich einstellende Impotenz bringen den Trinker,
der ohnedies nur zu sehr geneigt ist, die Schuld für das von ihm
heraufgeführte Unheil in seiner Umgebung zu suchen, allmählich
auf die Idee, dass eine sträfliche Neigung seiner Frau zu anderen
Männern der wahre Grund der veränderten Stellung sei, welche die-
selbe zu ihm einnimmt. Für die Eichtigkeit dieser Yoraussetzung
liefert ihm die tendenziöse Beobachtung allerlei Beweise, welche
seinem geschwächten Urtheü als vollkommen sicher und unumstösslich
erscheinen. Die Einmischung des Nachbarn bei einer ehelichen Scene,
ein freundlicher Bück, eine versteckte Anspielung, die er auffängt,
ein gehei m ni ssvoller Brief, der ihm in die Hände fällt, ein im
Dunkeln an ihm vorbeihuschendes Paar, welches er zu erkennen
glaubt, lassen ihn an dem Thatbestande des Ehebruchs keinen Augen-
blick mehr zweifeln
Hie und da gesellen sich zur YervoUständigung des Indicien-
beweises auch wirkliche Siunestäuschungen hinzu, eine Gestalt, die
er nächtlicher "Weüe ins Schlafzimmer treten sieht, eine höhnische
Bemerkung, die ihm aus dem Nebenzimmer oder von der Strasse
herauf zugerufen wird und Aehnliches. Oder aber der Kranke merkt
aus dem ganzen feindseligen Yerhalten seiner Frau, aus der Schnur,
die er als Aufforderung zum Erhängen in seinem Bette, auf dem
Tische findet, oder aus ihrem Unwillen über sein schroffes Yorgehen
gegen den beargwöhnten Nachbar oder Geschäftsführer, dass es mit
seinem Yerdachte volle Richtigkeit hat.
5Ö0
X. Die chronischen Intoxikationen.
Eine weitere Ausbildung über dieses allerdings inannichfach
variirte Thema der ungerechtfertigten Eifersucht hinaus gewinnt der
Wahn in der Kegel nicht, doch bleibt er innerhalb dieser Grenzen
durchaus fisirt und einer jeden besseren Einsicht völlig unzugänglich.
Natürlich entwickelt sich aus ihm eine immer wachsende Erbitterung
gegen die Frau, gegen den veimeintlichen Nebenbuhler, ein trotz
der sonstigen Schwäche des Trinkers sehr tiefgehender und leiden-
schaftlicher Hass, der ausnahmslos zu rohen Auftritten und häufig
genug zu verhängnissvollen AngriiTen auf Leben und Gesundheit
führt. Ich kenne aus eigener Erfahrung zwei Fälle, in denen der-
artige Trinker in bhnder Eifersucht und unter dem Einflüsse des
Alkohols ihre Frauen erschossen. Die "Wurzeki der Psychose wird
man unschwer bei der Mehrzahl aller Trinker auffinden; leider aber
wiixl die grosse Gefährhchkeit der ausgebildeten Störung nur allzu
leicht verkannt, da die Intelligenz der Ejranken für die oberflächliche
Betrachtung oft nahezu normal zu sein scheint, und da ihre "Wahn-
ideen fast keine phantastischen Elemente enthalten, sondern sich
soweit im Bereiche des Möglichen, ja des Wahrscheinlichen be-
wegen, dass zuweilen nur eine genaue Kenntniss der wirklichen
Verhältnisse die pathologische Natur ihrer ganzen Auffassungsweise
zu enthüllen vermag. Auf der andern Seite ist es natürlich auch
oft schwierig, die thatsächliche Berechtigung der von den Trinkern
vorgebrachten Eifersuchtsideen auszuschliessen. Das Thun und
Treiben des Trinkers führt vielfach zu einer wirklichen, ernsten und
dauernden Entfremdung der Ehegatten, welche dem Ehebruche die
Wege ebnen muss. So typisch daher die Klagen der Trinker über
eheliche Untreue sind, so nothwendig ist doch gerade hier der klai-e
Nachweis ihrer Grundlosigkeit, bevor wir berechtigt sind, sie als
krankhaft zu betrachten.
In manchen Fällen wird unser Urtheil dadm-ch unterstützt,
dass die anfangs schroff und leidenschaftlich vorgebrachten Eifer-
suchtsideen nach längerer Entziehung des Alkohols allmählich von
selbst zurücktreten und bisweilen sogar geradeza als krankhaft an-
erkannt werden. Durch diese, leider nicht sehr häufigen Besserungen,
ja Heilungen des Wahnes unterscheidet sich die krankhafte Eifer-
sucht der Trinker trotz der äusserlichen Uebereinstimmung sehr
wesentlich von der eigentlichen, constitntionellen und grmidsätzlich
unheilbaren Verrücktheit.
Morphinismus.
551
"Wir haben endlich an dieser SteUe noch kurz des Krankheits-
bildes der alkoholischen Paralyse zu gedenken, einer Psychose,
die sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fcälle als eine einfache
Verbindung der Zeichen des chronischen Alkoholismus mit denjenigen
der dementen, seltener der expansiven progTCssiven Paralyse dar-
stellt. Zu der GedächtnissschAväche und der gemüthlichen Stumpfheit
auf der einen gesellen sich Simiestäuschungen, Eifersuchtswahnideen
auf der andereu Seite; die Ataxie des Paralytikers wird begleitet
von dem Tremor und den neui'itischen Störrmgen des Alkoholisten.
Ausserdem scheinen epileptische Anfälle besonders hcäufig zu sein.
In der Eegel ging der Alkohoüsmus hier der Entwickelung der
Paralyse schon lange Zeit voraus; bisweilen aber auch liefert erst
diese letztere den Anstoss zu den gehäuften Excessen, aus denen
die alkoholistischen Symptome entspringen.
Auf der anderen Seite giebt es vereinzelte Fälle von Alkoholismus,
in denen neben leichten motorischen Störungen (Ti-emor, Sprach-
stönmg, Ataxie, Anfälle) ein blühender Grössenwahn mit expansiver
Stimmung ganz von der Art des paralytischen acut zur Ausbildung
kommt, um nach einigen Monaten bis auf die Grundzüge eines
mässigen Schwachsinns wieder zu verschwinden. Die Erkrankung
ist hier damit endgültig abgeschlossen, während sie bei der erst-
erwähnten Form regehnässig den traurigen Ausgang der typischen
Dementia paralytica nimmt. Offenbar handelt es sich einfach Mm
besonders schwere und eigenartig verlaufende Fälle von chronischem
Alkoholismus (alkohoKsche Pseudoparalyse).
B. Der Morpliiuismiis. *)
Gegenüber dem Missbrauche alkoholischer Getränke, welcher
auf ein fast ehrwürdiges Alter zui'ückblicken kann, reicht die ' Ge-
schichte des Morphinismus kaum weiter, als zwei Jahrzehnte zurück,
wenn derselbe auch einen gewissen Zusammenhang mit der alt-
asiatischen Sitte des Opiummissbrauches aufzuweisen hat. Die Er-
findimg der Pravaz'schen Spritze und die durch sie herbeigeführte
*) Fiedler, Deutsche Zeitschr. f. prakt. Medicin 1874, 27, 28 ; Leyins-tein,
Die Morphiumsucht. 3." Auflage, 1883; Erlenmeyerj Die. Mofphiums.uclit mid
ihre BehancUung. .3. Auflage, 1887.
552
X. Die chronischen Intoxikationen.
Yerbesserung der Anwendungsart hatte einen ausserordentlichen
Aufschwung im Gebrauche des Morphiums zur Folge, welches sich
nur zu bald als ein sicheres und angenehmes Mittel zur Bekämpfung
von Schmerzen und Unbehagen aller Ai-t bewährte. Der wirksamste
Hebel für die Ausbildung und Verbreitung des Morphiums lag in
dem Umstände, dass der Ai-zt, unbekannt mit den drohenden Ge-
fahren, aus Eücksichten der Bequemlichkeit dem Ki-anken die Spritze
selbst in die Hand gab, damit er sich je nach Bedarf und nach
eigenem Ermessen die ersehnte Euphorie verschaffen könne.
Allein es stellte sich bald heraus, dass unter diesen Yerhältnissen
das Mittel aus dem Wohlthäter zu einem furchtbaren und fast un-
bezwinglichen Feinde wurde. Die grosse Mehrzahl der Menschen,
welche gewohnheitsmässig kleinere Mengen von Alkohol zu sich
nehmen, vermag demselben, wo es sich als noth wendig erweist,
leichten Herzens auf kürzere oder längere Zeit zu entsagen. Dagegen
zwingt die wahi'haft dämonische Macht des Morphiums denjenigen,
der sich einmal an seinen Gebrauch gewöhnt hat, unerbittlich zm-
Fortsetzung desselben, da jeder Yersuch, sich von der Sklaverei des
Mittels zu befreien, sofort zu derartig unangenehmen Erscheinungen
führt, dass die menschliche Widerstandskraft dadurch gebrochen wird.
Die psychischen Wirkungen des Morphiums, soweit sie bis jetzt
bekannt sind, bestehen, wesentlich verschieden von denjenigen des
Alkohols, in einer Erleichterung und Anregung der intellectuellen
und in einer Erschwerung der psychomotorischen Vorgänge. Dieses
Verhalten, welches sich durch Untersuchimgen bei Morphinisten hat
bestätigen lassen, macht es uns verständlich, dass uns der Morphium-
rausch in eine Art angenehmer Träumerei versinken lässt, in welcher
bunte, wechselnde Phantasiebilder an uns voräberziehen, während
sich gleichzeitig eine sanfte Erschlaffiing auf unsere Glieder legt.
Wir begreifen es auch, dass Morphinisten gerade unter dem Einflüsse
des Mittels sich noch zu geistiger Arbeit angeregt fühlen, welche sie
in dem Zustande ihrer gewöhnlichen dauernden Energielosigkeit nicht
mehr zu leisten vermögen. Das gefährlichste Element der Morphium-
wirkung aber ist gerade die eigenthümliche, ruhige Euphorie, welche
sich von derjenigen des Alkoholrausches sehi^ charakteristisch durch
das vollständige Fehlen der psychomotorischen Reizerscheinimgeu,
des bekannten Bewegungsdranges, unterscheidet. Wie beim Alkohol,
ist übrigens auch hier die Gestaltung des Vergiftungsbildes im
Morphinismus.
553
Einzelnen in hohem Masse von der persönüchen Anlage abhängig.
Ebenso gestalten sich die körperlichen Begleiterscheinungen der
Narkose je nach der Individnaütät des Menschen, natürlich aber
auch nach der Dosis des Mittels verschieden. Ein rasch auftretender
metallischer oder bitterer Geschmack, Kollern im Leibe,|Myosis und
Erbrechen sind häufig. Als Nachwehen der Vergiftung werden
Eingenommenheit des Kopfes, Schwindelgefühl, Migräne, profuse
Schweisse, grosse Hinfälligkeit und Harnverhaltung beobachtet.
Die Entwicklung des Morphinismus nimmt praktisch bei Weitem
am häufigsten ihren Ausgang von der ausgezeichneten?sch merz-
stillenden Wirkung des Mittels. Irgend ein leichteres oder
schwereres schmerzhaftes Leiden, eine Neuralgie, Ischias, Zahn-
schmerzen, Schlaflosigkeit, eine psychische Depression giebt den Anlass
z\M ersten Injection. Die durch sie erzielte Wirkung ist zumeist
die Beseitigung aller quälenden körperlichen und psychischen Keiz-
momente und die Erzeugimg einer überaus behaglichen, befriedigten
Stimmung. Dieser günstige Erfolg ist es, welcher immer von
Neuem zu einer Wiederholung der Einspritzung treibt, namentlich,
wenn das quälende Leiden noch fortbesteht. Ganz unmerklich aber
-wird der Gebrauch des Mittels zum Selbstzweck, zum Lebens-
bedürfniss, auch wenn der ursprüngliche Anlass längst beseitigt ist.
In ähnhcher Weise wie bekanntlich die Gründe zum Trinken nach
Bedarf jederzeit bei der Hand sind, fehlt es bald auch nicht an
mehr oder weniger verschämten Vorwänden für die Morphium-
einspritzung. Das tritt um so sicherer ein, als anscheinend das
Morphium bei längerer Einwirkung wirklich die moralische Wider-
standsfähigkeit gegenüber allen mögüchen kleinen Unannehmlichkeiten
und Schmerzen beträchtlich herabsetzt. In Eolge dessen wird das
Verlangen des Kranken nach dem beruhigenden Mittel immer häufiger
nnd dringender. Der entscheidende Schritt ist die Ausführung der
Einspritzung durch den Kranken selbst, mit oder ohne Vorwissen
des Arztes. Von diesem Augenblicke an ist sein Schicksal besiegelt;
•er ist dem Morphinismus verfallen.
Meist sucht er sich nunmehr von dem Ai-zte möglichst un-
abhängig zu machen. Er kauft sich eine Spritze, oft [auch Wage
und Gewichte, bezieht sein Morphium direct oder durch Vermittelung
von Leidensgefährten aus der Droguenliandlung, die ihm das Mittel
in unverdächtiger Packung zusendet. Die Lösung bereitet der Kranke
554
X. Die chronischen Intoxikationen.
sicli selbst, schliesslich oft nach Gutdünken. Andere ziehen es vor,
Recepte zu fälschen; ich besitze ein solches Beispiel. Auch ein '■
College bediente sich der Pseudonyme, um nicht in den Yerdacht :
des Morphinismus zu kommen. Vielfach findet man bei den Kranken
ausser Terrosteten und stumpfen Nadeln ganz trübe, halbverschimmelte \
Flüssigkeiten, die sie sich ti'otzdem einspritzen, sogar durch die
Kleider hindurch. Die Folge sind häufige Abscesse. Vereinzelte
Kranke greifen, wenn. ihnen die Beschaffung der Spritzen zu schwierig ;
wird, zur innerlichen Anwendung des Morphiums, auch zur Opium-
tinctur, indem sie sich die nöthige Dosis jeweils unter dem Vor- ■
wände von Leibschmerzen allmählich in verschiedenen Apotheken
■zusammenschwindeln.
Beim chronischen Gebrauche des Morphiums treten in Folge der
sich ausbildenden Gewöhnung die unangenehmen Nebenerscheinungen
der Vergiftung mehr und mehr in den Hintergrund, oder sie werden
doch durch eine neue Gabe des Mittels rasch wieder beseitigt. So
kommt es, dass der Morphinist oft lange Zeit hindurch nur die an-
regende und zugleich beruhigende Wirkung empfindet, welche ihn
über alle kleinen und grossen UnannehmHchkeiten hinwegsetzt, wie
sie aus seinem Gesundheitszustande, aus seinem Berufe, aus seinen
socialen und häuslichen Verhältnissen entspringen. Dieselbe Ge- '
wöhnung aber ist es, welche ihn sehr bald von der ursprünglichen
Gabe des Mittels die erhoffte Befriedigung nicht mehr in vollem
Masse finden lässt und ihn daher zu einer Steigerung der Dosis ■
antreibt. Zunächst ist der Erfolg ein voUkonmiener, aber nach
einiger Zeit versagt auch das neue Quantum, und so schraubt sich
das Bedürfniss allmähhch immer höher und höher, bis am letzten
Ende auch die grössten Mengen des Mittels (erfahrungsgemäss bis
zu 2, 3 gr und mehr in 24 Stunden) den sehnlichst gewünschten
Erfolg nur ganz vorübergehend noch erzielen.
Alle die schon früher gelegentlich hervorgetretenen Beschwerden
des Morphinismus erreichen nach und nach ihren Höhepunkt. Das ;
Gedächtniss wird vielfach unsicher; die geistige Leistungsfähigkeit, .
namentlich die Productivität, nimmt ab und kann nur unter dein i
unmittelbaren Einflüsse des Morphiums noch auf einer gewissen i
Höhe erhalten werden. Auf diese W eise kommt es zu einem be-
ständigen Wechsel zwischen Stunden relativen Wohlbefindens und .
solchen apathischer Erschlaffung oder nervöser Unruhe, ein Zustand, :
Morphinismus.
55Ö
ier natürlich eine geregelte, systematische Thätigkeit ' völlig un-
möglich macht. Die Stimmung ist ebenfalls vielfachen Schwankungen
.imterworfen, bald deprimii-t, muthlos, hypochondrisch, bald zu-
versichtlich und übermüthig; nicht selten stellen sich vorübergehende
heftige Angstanfälle ein.
In ganz besonderem Masse aber wird der Charakter der
Kranken in Mtleidenschaft gezogen. Sie verlieren nicht nur voll-__
kommen die Fähigkeit, sich selber endgültig und thatkräftig von
dem verderblichen Mittel loszusagen, sondern sie machen in eigen-
thümlichem Zwiespalte mit sich selbst auch dann schon von vorn-
herein den Versuch, die Entziehungsem' zu vereiteln, wenn sie aus
freien Stücken in dieselbe eingewilligt haben. Kaum ein Morphinist
geht in die Anstalt, ohne sich nicht irgendwie heimlich mit einer
gehörigen Menge des Mittels versehen zu haben; keiner, auch nicht
der heiligsten Yersicherung eines Morphinisten über diesen Punkt
ist jemals .blindlings zu trauen. Selbst Aerzte sind darin ganz
unzuverlässig. Ein College brachte das Morphium unter dem Holz-
belag einer grossen Haarbürste versteckt mit sich und erzwang
durch einen äusserst brutalen Auftritt seine sofortige Entlassung,
als ihm die Benutzung der Bürste unmöglich gemacht wurde. Der
Schlaf erleidet meist hochgradige Störungen. Beim Einschlafen
ü-eten zeitweise Hallucinationen auf, besonders des Gesichtes; die
Kranken liegen viele Stunden lang wach, mit zwangsmässigen, phan-
tastischen Ideen beschäftigt; dafür stellt sich am Tage plötzlich eine
unbezwingbare Müdigkeit ein, die sie mitten in der Gesellschaft, in
der Unterhaltung trotz aller Gegenanstrengungen überwältigt.
In der sensiblen Sphäre machen sich verschiedenartige Par-
aesthesien und Hyperaesthesien bemerkbar,- namentlich am Herzen,
sowie in der Magen- und Blasengegend. Die Eeflexerregbarkei.t
nimmt zu, doch fehlt der Patellarreflex nicht selten; die Bewegungen
werden unsicher, bisweilen zitternd, ataktisch. Hie und da werden
Erschwerung der Sprache, Paresen in der Musculatur des Auges be-
obachtet (Doppeltsehen, Accommodationsparese). Die allgemeine Er-
nährung leidet immer erheblich; das Körpergewicht nimmt ab;
die Haut wird welk, schlaff und fahl; das Fettpolster schwindet. Der
Appetit, namentlich für Fleischspeisen, vermindert sich; es stellt
sich zeitweiliger Heisshunger oder bei grosser Trockenheit des
Mundes unstillbarer Durst ein; die meist bestehende Yerstopfung
556
X. Die chronischen Intoxikationen.
wechselt mit vorübergehender Diarrhöe. Von Seiten der Circulations-
organe werden hie und da quälende Herzpalpitationen beobachtet;
der Puls ist etwas beschleunigt, bisweilen unregelmässig. Das Ohren-
sausen, die Benommenheit, die Schwindel- und selbst Ohnmachtsanfälle,
sowie die reichlichen kalten Schweisse und das Frösteln der Morphi-
nisten sind wol ebenfalls auf vasomotorische Störungen zurück-
, zuführen. Ferner gehören auch Eespirationsstörungen, besonders
asthmatische Beschwerden, nicht selten zu dem hier gezeichneten
Syraptomencomplexe. Die libido sexuahs und die Potenz nimmt
ab; die Menses cessiren. Levinstein betrachtet endlich noch Ei-
weissgehalt des Harns, sowie eigenthümliche tertiane Fieberanfälle
als gelegentliche Symptome des Morphinismus, doch haben andere
Beobachter seine Angaben nicht bestätigen können.
Die Schnelligkeit, mit welcher sich die ganze Reihe dieser .
Störungen entwickelt, ist eine sehr verschiedene; sie hängt natur-
gemäss einmal von der Menge des gebrauchten Morphiums und
weiterhin von der Widerstandsfähigkeit des Organismus ab. Bis-
weilen machen sich die ersten Erscheinungen der chronischen Yer-
giftung schon nach einigen Monaten des Morphiumgebrauches
geltend; in anderen Fällen können Jahre, selbst viele Jahre ver-
gehen, bevor ernstere Symptome zum Ausbruche kommen. Letzteres
ist besonders dann die Regel, wenn der Kranke Selbstbeherrschung
genug besass, von Zeit zu Zeit mit der Gabe des Mittels wieder
etwas zurückzugehen. Der sonst gleichmässig fortschreitende Ver-
lauf des Morphinismus lässt unter diesen Umständen mehr oder
weniger ausgiebige Besserungen des Allgemeinzustandes erkennen,
welche bei der Fortdauer des Grrundübels jedoch nur als Remissionen
aufgefasst werden dürfen. Die Dauer des Morphinismus ist in ge-
wissem Sinne eine fast unbegrenzte; schon jetzt sind FäUe bekannt,
in denen das Morphium ohne Unterbrechung 20 Jahre hindurch und
länger fortgenommen vmi'de.
Der Morphinismus ist fast ausschliesslich eine Ki'ankheit der
besseren Stände, schon aus dem einfachen Grunde, weü er sehr viel
Geld kostet. Die grössere Leichtigkeit, sich das Mittel zu verschaffen,
lässt das mann h' che Geschlecht und hier vor Allem die mit dem
ärztlichen Berufe in Beziehung stehenden Personen besonders stark
prädisponirt erscheinen. Man kann rechnen, dass 75°/o der Morphi-
nisten Männer imd von diesen wieder mindestens die Hälfte Aerzte
Morphinismus.
557
sind. Dazu kommen noch in grosser Zahl deren Angehörige, nament-
lich die Frauen. Weiterhin ist natürlich die Gefahr, dem chronischen
Missbrauche des Morphiums zu verfallen, um so grösser, je an-
genehmer sich die ganze "Wii-kung des Mittels im einzelnen Falle
gestaltet; es giebt Menschen, bei denen bereits die erste Injection
in diesem Sinne über das ganze fernere Leben entscheidet. Endlich
ist offenbar die Disposition zum Morphinismus auch wesentlich von
der psychischen Yeranlagung abhängig. Ich habe immer den Ein-
di'uck gehabt, dass eine grosse Zahl von Morphinisten, ebenso wie
viele Ti'inker, schon vor der chronischen Yergiftung einen bedeuten-
den Grad von Charakterschwäche dargeboten haben. Dafür spricht
die bisweUen staunenswerthe Geringfügigkeit der Beweggründe
(Neugierde, Yerführung), welche zum Missbrauche des Mittels ge-
fühi't haben, sowie der unglaubliche Leichtsinn, mit welchem Morphi-
nisten vielfach Propaganda machen, ihren Leidensgefährten Morphium
verschaffen und in einer Art „esprit de corps" die energische Yer-
folgung ihrer Helfershelfer zu verhindern suchen. Ein junger Morphi-
nist erzählte mir, dass in dem russischen Kegiment, in welchem er
diente, fast alle Offiziere „zu ihrem Yergnügen gespritzt" hätten; ein
morphinistischer Arzt veranlasste seine Braut ohne jeden Grund,
ebenfalls Morphium zu gebrauchen, und diese verführte wiederum
ihre intimste Freundin, sich diesen Genuss zu verschaffen.
Es muss indessen an dieser Stelle mit aller Schärfe die schwere
Anklage gegen den ärztlichen Stand erhoben werden, dass er es
ist, den wir für das Dasein und die erschreckende Yerbreitung des
Morphinismus in allererster Linie verantwortlich zu machen haben.
Gäbe es keine Aerzte, so gäbe es auch keinen Morphinismus. Die
Unwissenheit und der Leichtsinn der Aerzte sind es, welche den
Kranken tagtäglich bei den geringfügigsten Anlässen mit dem höchst
gefährlichen Mittel bekannt machen, das so leicht seine ganze Zukunft
vernichten kann. Namentlich sind es allerdings jene zahlreichen
Aerzte, die selbst unter dem Banne des Morphiums stehen, welche mit
merkwürdiger Regelmässigkeit zu wahren morphinistischen Lifections-
herden werden. Ich kannte einen derartigen Collegen, — und solche
Beispiele sind leider nicht selten — der bei seiner zahlreichen
Clientel jede beüebige Klage durch eine Morphiumin jection zu be-
seitigen pflegte und so gewissermassen das Haupt einer ganzen
Morphinistengemeinde wurde. Dieser Mann handelte freilich unver-
558
X. Die chKonischen Intoxikationen.
antwortlich, aber wenigstens uneigennützig. Viel schlimmer ist es,
class sich in unserm Stande Subjecte finden, welche die Noth der
Morphinisten planmässig ausnützen, um ihnen für schweres Gehl
die ihnen unentbehrlichen Recepte zu schreiben! Ich besass das
Eecept eines Arztes, der einem Morphinisten nicht weniger als
1 gr Morphium in einmaliger Gabe zu beliebiger Verwendung auf-
geschrieben hatte.
Die Prognose des Morphinismus ist in jedem Falle eine sehr
ernste. Hie und da kommen plötzliche Todesfälle vor. Die Kranken
greifen, namentlich nach Entziehungscuren, die Gabe einmal viel zu
hoch, oder es entwickeln sich unter dem Einflüsse der Ersatzmittel
des Morphiums chronische Herzalfectionen, welche zu unvorher-
gesehenen Coliapsen führen. Andererseits ist der Ausgang iU'
schweres, mit dem Tode endendes Siech thum bei reinem Morphi-
nismus nicht gerade allzu häufig, und die Entziehung des Mittels
gelingt unter den nöthigen Vorsichtsmassregeln fast immer ohne
besondere Schwierigkeiten. Allein die Gefahr immer und immer
wiederholter Rückfälle, welche nothwendig zu einer vollständigen Ver-^
nichtung des Lebensglückes führen, ist eine ausserordentlich grosse;
nur eine sehr geringe Zahl von Morphinisten vermag ihr auf die
Dauer zu entgehen. Mit voHer Sicherheit kann ich von mehreren
Dutzend Morphinisten, die ich in den letzten Jahren behandelt habe,
höchstens 2 — 3 für dauernd geheilt halten, also etwa 10 Procent. Ganz
besonders gefährdet sind auch in dieser Beziehung alle diejenigen
Personen, denen entweder ihr Beruf die Erlangimg des Morphiums
besonders leicht macht, oder denen irgend ein chronisches, mit
Schmerzen und Beschwerden verbundenes Leiden die Verführung,
nach dem erlösenden Mittel zu greifen, immer von Neuem mit im-
widerstehlicher Macht aufdrängt.
Eine weitere, ernste Gefahr droht dem Moi-phinisten aus der
Verbindung des Morphiums mit anderen ähnlichen Mitteln. Namentlich
der Alkohol (Wein, Champagner) ist es, der mit oder ohne äi'ztlichen
Eath zur Milderung der Abstinenzerschetnungen herangezogen wird
und den Kranken nur zu häufig dem Alkoholismus in die Ai;me
treibt. In ähnlicher Weise konnnt das Chloralhydi'at, der Aether, das
Chloroform und in. neuerer Zeit vor Allem das Cocain in Anwendung.
So gut wie niemals gelingt es den Kranken, auf diese Weise das
Morphium wirklich los zu werden oder auch nur durch ein anderes
Morpliilüsiuus.
559
Idittel zu ersetzen; in der Regel kommt zu dem alten TJebel einfach
ein neues, kaum weniger schlimmes oder noch schlimmeres hinzu,
k Die Erkennung des Morphinismus stützt sich neben der Be-
ifichtimg der körperlichen Vergittungssjanptome. (Myosis, Appetit-
losigkeit, Ernähnmgsstörimg), sowie der oft sehr ins Auge fallenden
Injectionsspiu'en (glänzende, ovale Narben, schwielige Verhärtungen
oder selbst atonische Geschwüre, meist an den Armen, aber auch
an Bauch und Obei-schenkelnj, namentlich auf den eigenthümlichen
Wechsel der Zustände, Avelchen der Morphinist darzubieten pflegt.
Die geistige Fiische und Leistungsfähigkeit, die gehobene Stinnnung
nach der Injection muss ja niu' allzubald einer hochgradigen Er-
müdung, Schlaffheit, Energielosigkeit und Niedergeschlagenheit
weichen, so dass dem airfmerksamen Beobachter der Gegensatz
zwischen diesen verschiedenartigen Dispositionen kaum verborgen
bleiben kann. Füi" die Erkemitniss der besonderen Ursache finden
sich darm. bei näherem Nachforschen bald weitere anamnestische
imd thatsächliche Anhaltspunkte. Leider lässt sich das Morphium
in den Ausscheidungen der Kranken nur sehr schwierig nachweisen,
da es zum grössten Theile in den Koth übergeht. Die volle Sicher-
heit über das Bestehen des Morphinismus kann man sich durch
eine zuverlässige Isolirung des Kranken verschaffen. Hat man
diesem Letzteren wüMich jede Möglichkeit einer heimlichen
Morphiumzufuhr abgeschnitten, so darf der Eintritt oder das Aus-
bleiben der Abstinenzerscheinimgen als ein untrügliches experimentmn
crucis gelten.
Die wichtigste Aufgabe bei der Bekämpfung des Morphinismus
ist ohne Zweifel die Prophylaxe, cüe leider noch sehr im Argen liegt.
Einen Theil dieser Aufgabe hat die Gesetzgebung zu lösen gesucht, in-
dem sie den Verkauf des Moi^Dhiums ohne besondere ärztliche Yorschrift
in jedem einzelnen Falle verbietet. Es ist öffentliches Geheimniss,
dass die Morphinisten diese Bestimmungen ohne erhebliche Schwierig-
keit zu durchbrechen oder zu umgehen wissen. Die besten Helfers-
helfer sind ibnen dabei gewisse, namentlich morphinistische Aerzte.
Nach meinen Erfahrungen kann ich daher nur aus voller Ueber-
zeugung der von Lew in*) aufgestellten Forderimg zustimmen, dass
jedem an Morphinismus leidenden Arzte bis zum Nachweise seiner
*) Berliner klinische Wochenschrüt, 1891, 51.
560
X. Die chronischen Intoxikationen.
dauernden und vollständigen Heüung das Eecht der Praxis ent-
zogen werden sollte. Freilich stehen der Durchführung einer solchen
Massregel sehr grosse Schwierigkeiten im Wege. Aber auch in
anderer Kichtung können wir Aerzte zur Bekämpfung des Moi-phium-
missbrauches ausserordentlich viel thun. Wir sollten es uns zum
festen Grundsatze machen, bei allen chronischen Erkrankungen nur
dann zum Morphium zu greifen, wenn dieselben durchaus
unheilbar sind und zum Tode führen. Aber auch hier, ebens.,
bei acuten Leiden, soll das Morphium nur dann imd nur so lange
gegeben werden, als es unumgänglich nothwendig ist. Einfache
neurasthenische und hysterische Beschwerden mit MoiiDhium zu
behandeln, muss unbedingt als ärztlicher Kunstfehler gelten.
Gewissenlos ist es endlich, unter welchem Yorwande es auch sei,
ii'gend einem Kranken Spritze oder Lösung zum eigenen Ge-
brauche in die Hand zu geben und überhaupt grössere Mengen
des Mittels zu verschreiben, deren Verwendung nicht genau über-
wacht werden kann.
Die Behandlung des entwickelten Morphinismus besteht in
der Entziehung des Mittels imter ärztlicher Aufsicht. Völlige und
dauernde Abgewöhnung des Moi^hiums aus eigener Initiative des
Kranken kommt erfahrungsgemäss niemals oder doch nur extrem
selten vor. Aus diesem Grunde kann die Entziehimg mit Aussicht
auf Erfolg nur in der Weise durchgeführt werden, dass sich der
Kranke für einige Zeit bedingungslos in die Hände des Ai'ztes und
in Verhältnisse begiebt, welche eine absolute Ausschliessung des
Morphiums mit Sicherheit gestatten. Allerdings ist es, namentlich
im Hinblick auf die moralische Unzuverlässigkeit der Moi-phinisteu,
nicht immer leicht, sich nach dieser Kichtung hin ausreichende
Gewähr zu verschaffen. Die Erfahrung zahlloser schlauer Betrügereien
Seitens der Kranken, ihrer Angehörigen und Freunde, der Mit-
patienten, des Wartpersonals predigt eindringlich die Notliwendigkeit
des äussersten, unermüdlichsten Misstrauens. Ein kranker College
bewog einen Wärter durch Schenken eines Anzugs und das Ver-
sprechen, ihn als Diener anzustellen, zur heimlichen Besorgung eines
Morphiumreceptes.
Es muss daher zum mindesten als eine gefährliche Selbst-
täuschung betrachtet werden, wenn manche Aerzte glauben, bei der
Behandlung des Morphinismus das Sicherungsmittel der genauesten
Morphinismus.
561
Ueberwachiing imcl einen gewissen .äusseren Zwang entbehren zu
können. Ich besitze den Bericht eines Arztes, der im Hinbliclc auf
die Milde der von ihm geübten Entziehungscur seine Krankon frei
schalten und walten Hess und ihnen nur mittheilte, dass sie selbst
die Verantwortung trügen, wenn sie sich ohne sein Wissen Morpliium
rerschaSten. Die Folge davon war, dass die Kranken unter seiner
Behandlung, freilich ohne sein Wissen, noch mehr spritzten, als vorher.
Sobald dem Kranken das gewohnte Keizmittel entzogen wird,
treten nach einigen (5- — 6) Stunden jene Abstinenzerscheinungen
hervor, die wir zum Theil schon in dem Bilde des Morphinismus
als die Ursachen kennen gelernt haben, welche den gequälten
Kranken immer von Neuem zur Spritze greifen lassen. Was aber
dort nur angedeutet war und stets durch die neue Intoxikation
rasch beseitigt wurde, das tritt hier oft jnit grosser G-ewalt in den
Yordergrund. Quälende Unruhe, häufiges Gähnen, Niesen, Angst,
Beklemmungsgefühle,- Paraesthesien in den verschiedensten Eegionen
des Körpers, Hallucinationen mehrerer Sinne ■ stürmen mächtig auf
den Kranken ein und lassen ihn sehr rasch alle die guten Vorsätze
vergessen, mit denen er sich in die Behandlung des Arztes begeben
hat. Dabei besteht, wenigstens in der ersten Zeit, völlige Schlaf-
losigkeit, gegenüber der die gebräuchlichen Schlafmittel meistens
versagen. Speciell das Chloralhydrat pflegt sogar die psychische
Erregung bedeutend zu steigern und Zustände von hallucinatorischer,
traumartiger Verworrenheit herbeizuführen. Aber auch abgesehen
davon kann sich bisweilen, namentlich bei Herzschwäche, unter
lebhafter Zunahme der Aufregung ein Krankheitsbild entwickeln,
welches die grösste Aehnlichkeit mit dem Delirium tremens der
Trinker darbietet, zumal auch die Unsicherheit der Bewegungen
und das Zittern der Hände in gleicher Weise sich einzustellen pflegt.
Allerdings dauert dieser Zustand, bei dessen Zustandekommen viel-
leicht der therapeutische Alkoholgenuss eine geAvisse Rolle spielt,
gewöhnlich nur eine Reihe von Stunden oder doch nicht mehr als
1—2 Tage.
Auch im Bereiche des übrigen Nervensystems macht sich
die gewaltige Umwälzung geltend, welche durch die Entziehung des
gewohnten Reizmittels herbeigeführt wird. Es treten unwillkürliche
Bewegungen und Zuckungen in den Beinen, asthmatische Zufälle,
Krampfhusten, Accommodationsparesen, Tenesmen, Blasenkrämpfe und
Kraepolin, Psychiatrie. 4. Aufl. 36
562
X. Die chronischen Intoxiljationen.
-lähmuDgen, Erbrechen, Herzpalpitationen, namentlich aber Ohn-
mächten und gefährliche Collapse mit plötzlichem, raschem Sinken
der Herzaction auf, die sich unter Umständen mehrmals wieder-
holen und sogar direct in den Tod hinüberfüliren können. Die
secretorischen Functionen, welche unter dem Einflüsse des
Morphiums darniederlagen, zeigen eine rasch vorübergehende be-
trächtliche Steigerung, welche sich in reichücher Speichel- und
Schweissabsonderung, sowie in andauernden starken Durchfällen
kundgiebt; bisweilen tritt Eiweiss im Harn auf. Die Schwere der
Abstinenzerscheinungen ist eine ausserordentlich verschiedene. Sie
hängt von der Grösse der Dosis, der Länge der Gewöhnung, dem
Allgemeinzustande der Kranken und der persönlichen Veranlagung
ab. Bisweilen beschränken sich die Störungen auf einige Durch-
fälle, Schwitzen, lebhaftes Unbehagen und Schlaflosigkeit, während
in anderen Fällen die allerschwersten, das Leben bedrohenden
Symptome auftreten. Eine Entziehung ganz ohne Beschwerden
giebt es indessen nach meinen Erfahrungen nicht. Wo die Er-
scheinungen auffallend gering sind oder gar völliges Wohlbefinden
besteht, wird sicher heimlich Morphium zugeführt. Noch vor einiger
Zeit wurde ich auf einen derartigen Betrug dadurch aufmerksam,
dass ich den betreffenden Kranken, einen CoUegen, bei der Visite
behaglich schlafend antraf.
Alle Entziehungserscheinungen lassen sich nämlich dui'ch das
Morphium selbst wieder beseitigen oder doch erheblich mildern.
Diese Thatsache ist es, welche zur Aufstellung zweier verschiedener
Hauptmethoden der Morphiumentziehung geführt hat, zu der plötz-
lichen und zu der allmählichen Entziehungscur. Bei der ersteren
lässt man von der gewohnten Dosis aus die Morphiuminjectionen
mit einem Schlage vollständig wegfallen, während man im anderen
Falle zuerst langsam mit der Gabe heruntergeht oder die Zwischen-
zeiten vergrössert, bevor man endlich mit den Einspritzungen voll-
ständig abbricht. Beide Methoden haben ihre eifrigen Vertheidiger
gefunden. Während bei der plötzlichen Entziehung (Levinstein)
die Abstinenzerscheinimgen meist ausserordenthch schrofl' hervorti'eteu,
von vorübergehenden Delirien und namenthch der Gefahr schwerer
CoUapse begleitet sind, dafür aber binnen Avenigen Tagen ablaufen,
gestalten sich jene Symptome bei der allmählichen Entziehung (Burkart)
weniger stürmisch, ersti'ecken sich aber über eine viel längere Zeit.
Morphinismus.
563
Gerade dieser Uiustand erschwert natürlich den völligen Ausschluss
joder unberufenen Morpliiumzufuhr ungemein, namentlich wenn man
den besonnenen Kranken, was bei einer Curdauer von 3 — 4 Wochen
schwer zu umgehen ist, etwas fi-eiere Bewegung gestattet; die Mög-
lichkeit eines Betrages liegt daher ausserordentlich nahe. Um dieser
Gefahr einerseits, den oben geschilderten lebenbedrohenden ZufäUen
andererseits auszuweichen, hat Erlenmeyer mit seiner „schnellen"
Entziehungsmethode, die sich über 1—2 "Wochen erstreckt, einen
Mittelweg eingeschlagen, der in der That für die überwiegende Mehr-
zahl der Fälle am angemessensten erscheint. Da jeder Morphinist
weit mehr Morphium zu nehmen pflegt, als für sein Wohlbefinden
notliwendig ist („Existenzminimum") , wird zunächst sofort auf die
Hälfte oder selbst ein Drittel des gewohnheitsmässigen Gebrauches
heruntergegangen und dann allmählich planmässig die Dosis weiter
vermindert; die Abendeinspritzung fällt zuletzt fort.
Die Behandlung der Moi-phiumabstinenz bedarf überall der
vollen und andauernden Aufmerksamkeit des Arztes. Yor
AUem muss der Puls unter genauer Controle gehalten werden, so
dass bei dem Herannahen der CoUapsgefahr ein analeptisches Yer-
fahren (kühle Uebergiessungen, kräftige Hautreize durch den fara-
dischen Pinsel und Sinapismen, Aether- oder Kampherinjectionen,
Punsch, Champagner) eingeleitet werden kann; im Nothfalle wird
man nicht zögern, durch eine Morphiuminjection die schAveren Er-
scheinungen zu beseitigen. Gegen die hartnäckige Um-uhe und Schlaf-
losigkeit wird man bisweilen dm^ch Eisapplication auf den Kopf, durch
laue Bäder oder durch ein Schlafmittel, wenn es der Kranke verträgt,
etwas erreichen können. Die mannichfachen Schmerzen lindert eben-
faUs oft die locale Anwendung der Kälte; gegen die Tenesmen imd
Dian-höe helfen laue Eingiessungen und Stuhlzäpfchen mit Bella-
donna. Das Erbrechen wkd durch Eispülen und Kataplasmen be-
kämpft. Da das Morphium auch bei subcutaner Anwendung sehr
rasch in den Magen gelangt, hat neuerdings Hitzig Magenausspülungen
empfohlen, welche nicht nur die genannte Erscheinung, sondern auch
das Gesammtbild der Abstinenz in sehr günstiger Weise beeinflussen
soUen.
Zur Erleichterung der Entziehimg empfiehlt Burkart, zunächst
die innerliche Anwendung des Morphiums an Stelle der Einspritzung
zu setzen und endlich auch fernerhin dm-ch Opiumgaben den Ausfall
3(3*
564
X. Die chronischen Intoxikationen.
des gewohnten Geniissmittels weniger fühlbar zu machen. Da in-
dessen erfahrimgsgemäss und aus naheliegenden Gründen der Opium-
missbrauch nicht selten denjenigen des Morphiums einfach ersetzt,
so ist der Nutzen dieses Verfahrens nicht recht verständlich. Das in
neuerer Zeit .so enüiusiastisch angepriesene Cocain darf wol nach den
jetzt vorliegenden Erfahrungen einfach als ein minderwerthiger und
zugleich sehr gefährlicher Ersatz für das Morphium angesehen werden;
es lindert viele Beschwerden der Morphiumabstinenz, wirkt aber
immer nur für kurze Zeit und führt in jedem Falle die äusserst
bedenkliche "Wahrscheinlichkeit eines späteren Morphio-Cocainismus
herauf. Yor seiner Anwendung kann daher nicht eindringlich
genug gewarnt werden. lieber den Werth des ebenfalls als Er-
leichterungsmittel bei der Morphium entziehung empfohlenen Nitro-
glycerin und Spartein werden erst weitere Erfahrungen zu ent-
scheiden haben. Ebenso vermag ich ein eigenes TJrtheil über die
Erfolge der Hypnose in diesen Zuständen zur Zeit nicht abzugeben.
Dagegen ist es ohne Zweifel von besonderer Wichtigkeit, in der
Entziehungscur gleich von Anfang an auf eine zweckmässige und
reichliche Ernährung der Kranken bedacht zu sein, da dieselben
wegen ihrer Appetitlosigkeit und Aufregung sonst rasch von Kräften
kommen. Die Einführung von flüssiger Nahiamg, namentHch Milch,
eventuell mit etwas Cognac, pflegt trotz der Neigung zum Erbrechen
meist zu gelingen. Gerade nach dieser Eichtung werden Magen-
ausspülungen voraussichtHch nützHch sein.
Die auffallenderen Abstinenzerscheinungen treten bei der plötz-
lichen Entziehung oft schon nach wenigen Tagen, bei der schnellen
etwas langsamer und bei der allmählichen nach einigen Wochen
oder selbst erst Monaten vollständig in den Hintergrund. Der
Appetit bessert sich; das Körpergewicht steigt rasch; der Schlaf stellt
sich anfangs mit Hülfe von Schlafmitteln, hydropathischen Proceduren,
dann aber auch von selber wieder ein, und es tritt bei dem Kranken
mehr und mehr das Gefühl der Gesundheit und der geistigen
Frische wieder hervor. Allein die Gefahren des Morphinismus sind
damit durchaus noch nicht überwunden. Noch viele Monate,
ja selbst Jahr und Tag nach der völligen Entwöhnung vom Morphium
kann mit einem. Male, häufig im Ansclüusse an einen äusseren
Anlass, ein körperliches Unwohlsein, die Ausführung einer Morphium-
injection, oder bei Eückkehr in die alte Umgebimg, in eine auf-
Morphinismus.
565
reibende Thätigkeit die Neigung zu dem Mittel niit fast unwider-
stehlicher Gewalt wieder hervortreten. Namentlich 6—8 Monate nach
Wiederaufnahme der Arbeit pflegt sich ein Zustand von Nervosität
einzustellen, welcher dem genesenen Morphinisten ausserordentlich
gefälu-Hch ist und eine Ausspannung und Erholung dringend noth-
wendig macht. Auch späterhin kehren noch öfters in schwächerer
Andeutung ähnliche Mahnungen zum Ausruhen wieder.
Unter diesen Umständen müssen wir dem entlassenen Morphi-
nisten ernstlich rathen, jede Schwankung seiner nervösen und
psychischen "Widerstandsfähigkeit genau zu beachten und sich
mindestens ein Jahr lang nach beendeter Cur in irgend einer Porm
imter eine gewisse Ueberwachung zu stellen, welche jede Neigung
zum Eückfalle im Keime erstickt, sei es in der Familie, sei es in
der Gesellschaft eines zuverlässigen, eingeweihten Freundes. Dem
genesenden Arzte ist es ans Herz zu legen, dass er niemals wieder
eine Injection selber ausführt, weil gerade dabei die Gefahr des
Eückfalles am drohendsten hervorzutreten pflegt. Forel empfiehlt
ferner, wie mir scheint, mit vollem Eecht, jedem Morphinisten,
gleichzeitig die volle Enthaltsamkeit von geistigen Getränken durch-
zuführen. Nicht selten ist es der Leichtsinn der Berauschtheit oder
der Missmuth des Katzenjammers, welche die mühsam bewahrte
Selbstbeherrschung über den Haufen werfen und zum Eückfall
führen. Endlich habe ich es in mehreren Fällen erreicht, dass die
Genesenen sich dazu entschlossen, einige Jahre lang 1 — 2mal jähr-
lich eine strenge Quarantäne von 2 — Stägiger Dauer in einer
geschlossenen Anstalt durchzumachen. Auf diese Weise wird dem
Kranken selbst ein gewisser moralischer Halt gegeben; seine An-
gehörigen werden beruhigt, und ein etwaiger Eückfall kann nicht
allzulange unentdeckt bleiben. FreiHch pflegen nur diejenigen wieder-
zukommen, welche abstinent geblieben süid; von den Eückfälligen
hört man meist erst auf Umwegen oder gar nicht.
Die vollständige und dauernde Entziehung des Morphiums er-
weist sich selbst beim besten Willen des Arztes und des Patienten
in einer Eeihe von Fällen als undurchführbar. Abgesehen von
jenen Kranken, denen das Leben wegen irgend eines unheilbaren,
schmerzhaften Leidens nur durch das Morphium erti-ägüch wird,
sieht man bei älteren Personen jenseits der 50er Jahre, sowie bei
sehr lange (Jahrzehnte) bestehendem Morphinismus nicht selten
566
X. Die chronischen Intoxikationen.
die Entziehimg des Morphiums zu einem langsam fortschreitenden
Siechthum führen, welches die Lebensfähigkeit in höherem Grade
beeinträchtigt, als der Morphinismus selbst. Hier muss man sich
damit begnügen, die Gabe des Mittels nach Möglichkeit niedrig zu
halten und den Kranken dauernd unter ärztliche Aufsicht zu stellen.
C. Der Cocainismus.
Der Cocainismus*) ist die modernste der chronischen Intoxi-
kationen. Die euphorischen Wirkungen des Cocains in der Morphium-
abstinenz sind es gewesen, welche diesem Mittel sehr rasch eine
unerfreuliche Verbreitung yerschafft haben. In der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle ist daher der Cocainmissbrauch mit dem Morphi-
nismus complicirt, und Beobachtungen von reinem Cocainismus sind
bei uns relativ selten, während allerdings in der Heimath der Coca,
in Peru, die Polgen dieser chronischen Vergiftung ebenso wohlbekannt
sind, wie diejenigen des Opiumrauchens in China.
Die nächste "Wirkung des Cocains ist eine unter Steigerung der
Pulsfrequenz und Sinken des Blutdruckes eintretende rauschartige
Erregung mit behaglichem Wärmegefühle und ausgesprochenem
Wohlbefinden. Der Mensch wird lebhaft, geschwätzig, fühlt sich
leistungsfähiger und kräftiger. Preiüch folgt ziemlich bald die Er-
schlaffung. Grössere Gaben erzeugen deliriöse Erregimgszustände
mit Neigung zu plötzlichen CoUapsen. Bei längerer Portsetzung der
Einspritzungen, zu der man durch ein starkes Unbehagen beim Aus-
setzen des Mittels (Beklemmungsgefühl, Herzklopfen, Ohnmacht) ge-
drängt wird, stellt sich eine dauernde nervöse Erregung mit leichter
Ideenflucht und völHger Unfähigkeit zu geistiger Beschäftigung,
Energielosigkeit und Abnahme des Gedächtnisses ein. Der Ki-anke
entwickelt eine planlose Vielgeschäftigkeit, ist ungemein redselig und
weitschweifig im mündlichen Verkehre, schreibt langathmige Briefe
ohne ersichtlichen Zweck und verabsäumt dabei seine wichtigsten
Obliegenheiten. Er wird unzuverlässig und vergesslich, unordentlich
*) Erlenmeyer, op. cit. p. 154 ss; Thomsen, Chariteannalen XII, 1887,
p. 405; Heymann, Berliner Klin. Wochenschi-. XKIV, 1887, p. 278; Ober-
steiner, Wiener Klin. Wochenschr. 1888, 19; Saury, Annales medico-psycho-
logiques, 1889, p. 439.
Cocaiiiismus.
567
und kopflos in seiner ganzen Lebensführung, vernachlässigt sein
Aeusseres und geräth mit seiner Berufsthätigkeit, mit seinen ge-
sellschaftlichen und Avirthschaftlichen Verhältnissen in raschen und
unaufhaltsamen Verfall. Die Stimmung schwankt zwischen über-
schwänglichem Wohlbefinden, grosser Keizbarkeit und geheimer
misstrauischer Angst bei gleichzeitiger Abstumpfung der moralischen
Gefühle, die sich in der auffallenden Unempfindlichkeit der Kranken
gegen die nächstliegenden Forderungen der Sittlichkeit kundgiebt.
Diese tiefgreifende psychische Entartung wird regelmässig von
den Anzeichen schweren körperlichen Siechthums begleitet.
Die allgemeine Ernähi-ung liegt trotz reichlicher Nahrungszufuhr
darnieder; das Körpergewicht sinkt ungemein rasch. Das Aussehen
Avird greisenhaft, die Hautfarbe fahl, die Gesichtszüge schlaff, aus-
druckslos, müde, der Gang unsicher; es besteht grosse körperliche
Schwäche und Hinfälligkeit. Die Keflexe sind gesteigert; häufig
beobachtet man lebhafte Muskelunruhe und selbst krampfartige
Zuckungen. Die Pupillen sind stark erweitert; die Zunge zittert.
Der Pols ist beschleunigt; dazu kommt Herzklopfen, Athemnoth,
Neigung zu Ohnmächten. Die Schweissabsonderung ist vermehrt;
die Potenz schwindet trotz gleichzeitiger geschlechtlicher Aufregung.
Der Schlaf ist stets sehr gestört, zeitweise völlig aufgehoben, so dass
die Kranken zu Schlafmitteln, namentlich zum Morphium greifen.
Bei einem lijährigen Knaben meiner Beobachtung, der sich seit
sieben Wochen täglich 2 — 3 gr Cocain einspritzte und in Folge
dessen bereits eine Beugecontractur der beiden, von zahlreichen
Abscessen durchsetzten Arme davon getragen hatte, traten ausser-
dem TJnreinlichkeit, sowie häufige Schwindelanfälle mit deliriöser
Verwirrtheit und zeitweisen Hallucinationen auf.
Auf der allgemeinen Grundlage der cocainistischen Entartung
entwickelt sich überaus häufig ein ganz bestimmtes Krankheitsbild
von der Form des acuten hallucinatorischen Wahnsinns. Der
Beginn der Erkrankung ist meist ein rascher. Nachdem eine reiz-
bare, misstrauische , ängstliche Stimmung mit grosser Euhelosigkeit
und Unstetigkeit kurze Zeit vorhergegangen ist, treten plötzlich
Hallucinationen auf verschiedenen Sinnesgebieten hervor. Der Kranke
hört Schimpf werte, Anspielungen, Drohungen, Gespräche, die sicli
auf sein gegenwärtiges Thun und Treiben, auf fi-ühere Erlebnisse,
ja auf seine geheimsten Gedanken beziehen. Seine Umgebung er-
568
X. Die chronischen Intoxikationen.
scheint ihm unheimlich, verändert. Er sieht Bilder, die ihm Avie mit
einer Laterna magica vorgespiegelt werden, namentüch aber zahllose
winzige Gegenstände, cüe von ihm als Flöhe, Bakterien, Krätzmilben,
KiystaUe aufgefasst und bisweilen auch unter dem j\Iikroskope wieder-
gefunden werden. Besonders stark ausgebildet püegen die Gef ühls-
täiischungen zu sein. Der Kranke empfindet ein lebhaftes Haut-
jucken, das er auf elektrische oder magnetische Beeinflussung zurück-
führt; er glaubt mit Nadeln gespickt, ausgesogen, mit Fäden
umsponnen, von Ungeziefer aufgezehi-t zu werden.
Diese letzten Erfahrungen zeigen uns deutlich den grossen Eiu-
fluss, den hier die wahnhafte Deutung auf die Verfälschimg der
Wahrnehmung hat. Ziehen in den Gliedern wird von dem Kranken
als Zeichen einer feindseligen Vergiftung betrachtet; starkes Herz-
klopfen führt zu der Befürchtung einer bevorstehenden Herzruptui-.
In Folge der Gehörstäuschungen glaubt sich der Kranke überall
bedroht und beobachtet. Mau liest seine Gedanken mit Hülfe geheim-
nissvoller Vorrichtungen; in den Wänden und Thüren sind ver-
steckte OefFnungen, durch die man ihn überwacht; seine Papiere
werden durchstöbert und gelesen; in verleumderischen Briefen werden
Niederträchtigkeiten und Verdächtigungen über ihn ausgestreut. Von
allen Seiten drohen Gefahren, denen sich der Kranke durch Be-
schwerden bei der Polizei, durch Wohnungswechsel, überstürzte
Belsen, durch Drohimgen und schliesslich sogar durch feindliche
Angriffe zu entziehen sucht. Sehr häufig greift er zum Kevolver
und schiesst auf seine vermeintlichen Widersacher, um sein Leben
so theuer als möglich zu verkaufen, oder er macht seiner verzweifelten
Lage durch Selbstmord ein Ende. Einer meiner Kranken, dem das
Blut in Strömen aus der Brust hervorzuquellen schien und der daher
seinen Tod herannahen glaubte, beschwor seine gleichfalls unter dem
Einflüsse des Cocains stehende Frau, mit ihm zu sterben, worauf
sie sich sofort mit H^^oscin vergiftete.
Eine sehr eigen thümliche, aber anscheinend typische Störung in
diesen Zuständen ist der unsinnige Eifersuchtswahn der Cocainisten.
Wenn schon der sonstige Inhalt der Täuschungen vielfach ein ge-
schlechtlich obscöner iat, so bemächtigt sich des tranken ferner die
Idee, dass seine Frau ihm von jeher untreu gewesen sei. Er hört
und glaubt, dass sie von allen Seiten Liebesbriefe empfangen, mit
zahllosen Männern geschlechtlich verkehrt habe. Sie ist blass ge-
Cocainismus.
569
worden, als sie plötzlich von üirem Manne überrascht wurde, hat
schnell ein Papier versteckt, ist schon auf der Hochzeitsreise mit
einein fremden Herrn im Abtritt verschwunden, in der Tanzstunde
von Lieutenants mit aufs Zimmer genommen worden. Ein College
erzählte mir mit dem Ausdrucke tiefsten Bedauerns, seine Frau sei
leider krank, nymphomanisch gewesen; sie habe ihm selber gestan-
den', dass sie sich mit jedem Dienstmann und Droschkenkutscher
vergangen habe; er meine fast, sie sei schon unkeusch auf die "Welt
gekommen. Auch dieser Wahn kann gelegentlich zu gefährlichen
Angriffen auf die vermeintlich Schuldigen führen.
Das Bewusstsein der Kranken ist trotz der zahlreichen, nicht
corrigirten Sinnestäuschungen und Wahnideen andauernd so klar,
dass sie nicht nur über ihre Umgebung orientirt, sondern auch im
Stande sind, zusammenhängend und ziemlich geordnet über ihre
Yorstellungen und Zustände Auskimft zu geben. Nur vorübergehend
kommt es unter lebhafteren Affectschwankungen einmal zu stärkerer
Bewusstseinstrübung und Verworrenheit. Memals besteht jedoch
klai'e Ejrankheitseinsicht; auch bei anscheinend vollkommener Be-
sonnenheit werden die unsinnigen Wahnideen festgehalten und folge-
richtig gegen alle Einwände vertheidigt. Die Kranken weisen den
Verdacht der Geistesstörung bestimmt zurück, suchen vielleicht gar
den Nachweis zu führen, dass diese oder jene Person ihrer Umgebung
plötzlich verrückt geworden sei. Die Stimmung ist erregt, reizbar
zeitweise zornig und erbittert, am häufigsten misstrauisch und de-
primirt. Vielfach sind die Kranken sehr zurückhaltend in der Mit-
theilung ihrer krankhaften Ideen, weichen den Fragen aus, stellen
Alles in Abrede. Ihr Benehmen kann, abgesehen von den Zeiten
deltriöser Benommenheit, bis auf eine gewisse Unruhe normal er-
scheinen, wenn nicht einzelne geradezu durch Wahnideen hervor-
gerufene Handlungen die schwere geistige Störung verrathen. Die
körperlichen Begleiterscheinungen sind diejenigen der chronischen
Cocainvergiftung.
Die ganze Entwickelung des Cocainwahnsinns pflegt sich ziem-
lich schnell, oft binnen wenigen Wochen zu vollziehen. Dabei
schliessen sich deutliche Verschlimmerungen mit Zunahme der
Täuschungen und der Erregung an die einzelnen Cocaingabeu an.
Die Mengen des verwendeten Giftes pflegen rasch zu wachsen, bis
auf einige Gramm in 24 Stunden. Daneben werden zur Bekämpfung
570
X. Die chrunischen Intoxikationen.
der Schlaflosigkeit regelmässig andere Mittel, am häufigsten Morphium,
aber auch Chloralhj^drat, Siilfonal, Hyoscin u. s. f. genommen. So-
bald das Cocain ausgesetzt wird, pflegen die stürmischen deliriösen
Zustände sehr rasch, innerhalb weniger Tage, zu verschwinden,
während die "Wahnideen erst nach Wochen oder selbst Monaten und
die Erscheinungen der psychischen Entartung noch weit langsamer
sich verlieren.
Die Entstehung des Cocainismus schliesst sich, wie früher be-
merkt, fast immer an einen anfänglichen Morphinismus an. Bei dem
Yersuche, sich von demselben zu befreien, greift der Kranke mit
oder ohne Zureden des Ai^ztes zum Cocain, welches ihm zunächst
und ganz vorübergehend Erleichterung verschaffi, ihn dann aber
wegen der wachsenden Unruhe und Schlaflosigkeit zwingt, zum Mor-
phium zurückzukehren. Einer meiner Kranken spritzte Anfangs nur
Morphium ein, pinselte sich aber dann wegen Zahnschmerzen die
Mundschleimhaut mit Cocain. Wenn wir es demnach praktisch fast
mimer mit einer Yerbindung beider Mittel zu thun haben, so düiiten
doch die hier geschilderten Krankheitserscheinungen wesentüch oder
ausschliesslich auf die Cocainwirkung zu beziehen sein. In dem zu-
letzt erwähnten Falle traten die ersten Gehörstäuschungen: „Der wird
verhaftet!" bald nach der Anwendung des Cocains auf, imd wir wurden
erst durch sie dazu veranlasst, nach etwaigem Gebrauche dieses Mittels
zu forschen, von dem der Kranke bis dahin nichts angegeben hatte.
Auch sonst ist die Entwickelung stürmischer psychischer Störungen
bei reinem Morphinismus so überaus selten, bei der Verbindimg mit
Cocainismus dagegen so regelmässig, dass die ursächliche Bedeutung
gerade des Cocains für die eigenartige, schwere Degeneration imd den
hallucinatorischen Walmsinn der Morphio-Cocainisten nicht wol be-
zweifelt werden kann.
Der chronische Cocainismus besitzt eine gTOsse, unverkennbare
AehnHchkeit mit dem Alkoholismus, die sich bis in gewisse Einzel-
heiten hinein erstreckt. Die Sinnestäuschungen der Cocainisten er-
innern dm-chaus an diejenigen der Alkoholdeliranten, die Eifersuchts-
ideen an den bekannten Wahn der Trinker. Audi die acute Wirkmig
des Cocahis scheint derjenigen des Alkohols verwandt zu sein.
Gleichwol bestehen bestimmte Unterschiede.. Die Cocain entartimg
bricht weit gewaltiger und unwiderstehhcher über den Menschen herein
als der Alkoholismus; die schAversten Störungen werden sehr A-iel
Cocainiemus.
571
rascher erreicht. Der Cocainwahnsinn steht symptomatisch etwa in der
Mitte zwischen dem Delirium ti-emens und dem allcohohschen Wahnsinn;
er nähert sich jenem dui-ch die Mannichfaltigkeit der Täuschungen,
diesem durch die grössere Besonnenheit. Der Eifersuchtswahn tritt
hier acut und fi-ühzeitig, beim Trinker erst spät und als chronische
Störung auf. Endlich zeigt sich überall ein unmittelbar verschlim-
mernder Einfluss jeder einzelnen Cocaingahe auf die psychischen
Erscheinungen, wähi-end der Yerlauf der alkoholischen Psychosen
dui'ch den Fortgebrauch des Giftes gar nicht oder nur unerhebhch
verändert Avird.
Die Prognose des Cocainismus ist eine ausserordentlich trübe.
Der acute Cocainwahnsinn fi-eilich scheint regelmässig zu heilen,
sobald die Zuführung des Giftes dauernd verhindert wird. Dagegen
ist die Zerstörung der moralischen Widerstandsfähigkeit hier eine
weit tiefergTeifende und nachhaltigere, als bei Alkohol und Morphium.
Die Kranken werden daher fast ausnahmslos rückfällig, oft nach sehr
kui'zer Zeit.
Eine einigermassen wirksame Bekämpfung des Cocainismus
kann nur von der Yorbeugung desselben ausgehen. Jede nicht rein
örtiiche Anwendung des Mittels muss als unzulässig angesehen, sein
Gebrauch bei der Morphiumentziehung geradezu als Gewissenlosig-
keit gebrandmarkt, noch besser als Kunstfehler bestraft werden.
Wir Alle haben als Aerzte die Pflicht, das Publicum auf das Ein-
dringhchste vor dem gefährlichen Gifte zu warnen und unnachsicht-
lich die niederträchtige Ausbeutung der Elranken durch Händler und
Aerzte zur Anzeige zu bringen. Dass die Entziehung der Praxis
bei cocainistischen Aerzten noch dringender geboten ist, als bei
morphinistischen, bedarf nach den Schilderungen der Cocainwirkung
und nach meinen eigenen, geradezu schrecklichen Erfahrungen keiner
weiteren Ausführung.
Die Entziehung des Cocains allein pflegt nur von geringfügigen
Störungen begleitet zu sein, die theilweise auch wol noch als Yer-
giftungserscheinungen zu betrachten sind. Dazu gehören Unruhe,
Schlaflosigkeit, Herzklopfen, Athemnoth, endlich plötzliche, coUaps-
artige Ohnmächten. Im Allgemeinen wird daher das Mittel in
wenigen Abstufungen oder sogar mit einem Sclilage entzogen werden
können. Natürlich ist dabei sorgfältige TJeberwachung und unter
Umständen ein analeptisches Yeriahren mit Alkohol, Kaffee, kühlen
572
X. Die chronischen Intoxikationen.
Uebergiessungen u. s. f. am Platze. Die Schlaflosigkeit wird durch laue
Bäder, Sulfonal, Trional bekämpft, gleichzeitig auf möglichst kräftige
Ernährung Bedacht genommen. Bei der regebnässigen Verbindung
mit Morphinismus wird man am zweckmässigsten zunächst das Cocain
entziehen und dann erst mit dem Morphium heruntergehen. Selbst-
verständlich kann jede derartige Cur nur in einer Anstalt und unter
sicherem Ausschlüsse jedes unberufenen Verkehrs nach Aussen ge-
schehen. Ist doch die moralische Un Zuverlässigkeit dieser Ej-anken
weit grösser, als selbst diejenige der reinen Morphinisten! Für die
weitere Behandlung der Kranken nach vollendeter Entziehung aller
Mittel gelten die früher ausführhch besprochenen Grundsätze. Nur
empfiehlt es sich, hier überall noch vorsichtiger und misstrauischer
zu verfahren, als dort.
II. Die Dementia paralytica.
Aus der Reihe von Geisteskrankheiten, die mit gröberen ner-
vösen Störungen einhergehen und auf eine tiefer greifende, anatomisch
erkennbare Yeränderung des Gehirnes hindeuten, hat sich seit den
Schilderungen Bayles (1822) und Calmeils (1826), namentlich
aber im Laufe der letzten Jahrzehnte ein bestimmtes Krankheitsbild
herausgehoben, dessen Studium wegen der hervorragenden Betheil-
igung der psychischen I\inctionen nicht der Himpathologie, sondern
vorzugsweise der Psychiatrie anheimgefallen ist. "Während die Geistes-
störungen in Folge von Geschwülsten, Erweichungsherden, multipler
Sklerose u. s. f. eine grosse Einförmigkeit darzubieten jpflegen und
darum neben den sonstigen nervösen und cerebralen Lähmungs- und
Eeizungserscheinungen gänzlich in den Hintergrund treten, hat die
diffuse, chronische Degeneration der Hirnrinde, als des
Centraiorgans unseres Bewusstseins, so erhebliche und mannichfaltige
Yeränderungen der psychischen Leistungen zur Folge, dass sie viel-
fach die wichtigsten Erscheinungen im Krankheitsbilde darstellen,
während man die begleitenden nervösen Störungen früher sogar bis-
weilen als blosse „Complicationen" auffasste.
Als den klinischen Ausdruck des genannten pathologischen Yor-
ganges haben wir die sog. Dementia paralytica*), den fort-
schreitenden Blödsinn mit Lähmung („Gehirnerweichung") zu betrachten,
eine Krankheitsform, die insofern gewissermassen auf der Grenze
zwischen Himpathologie und „Psychopathologie" steht und eine Yer-
einigung beider ermöglicht, als wir hier den Störungen der psych-
*) Voisin, traite de la paralysie generale des alienes. 1879; Mendel,.
Die progressive Paralyse der In'en. 1880; Mi ekle, general paralysis of the insane.
2. ed. 1886.
574
XI. Die Dementia paralytica.
ischen Leistungen unmittelbar greif bare Veränderungen des organischen
Trägers derselben parallel gehen sehen. Der Grundzug im Ki-ankheits-
bilde der Dementia paralytica ist die fortschreitende Schwäche
auf allen Gebieten des psychischen Lebens. Allmählich, aber
nnanfhaltsam nimmt die Leistungs- und Widerstandsfähigkeit im Denken,
Ptihlen imd Handeln ab, bis zur völligen Yernichtung der psychischen
Persönlichkeit, bis zum denkbar tiefsten Blödsinn. Begleitet wd
dieser Vorgang in der Kegel von verschiedenartigen psychischen Reiz-
imgserscheinungen, Aniregimgs- und Depressionszuständen, die sich
von den früber geschilderten wesentlich mu- durch den gemeinsamen,
mehr oder weniger deutlich ausgeprägten Grundzug der Schwäche
unterscheiden.
Auf dem Gebiete der Intelligenz zeigt sich schon beim ersten
Herannahen der Krankheit eine auffallende Unfähigkeit zu dauern-
der Anspannung der Aufmerksamkeit, die sich auch durch
messende Methoden leicht nachweisen lässt. Der Kranke wird zer-
streut, ermüdet ungemein rasch bei geriugfügigen geistigen Ansti-eng-
ungen, muss bald pausiren. Jede geistige Leistung, auch die gewohnte
Arbeit, fällt ihm schwer; trotz häufiger AnläirEe kommt er nicht vor-
wärts, stockt bei jeder kleiuen Schwierigkeit, verhert leicht den Faden,
wiederholt dieses imd übersieht jenes. Er fasst die Vorgänge in seiner
Umgebung nicht mehr mit der früheren Klarheit imd Schärfe auf,
verhert den Ueberbhck und vermag sich schhesshch selbst im Ki-eise
seiner gewohnten Verhältnisse und Obhegenheiten nur mit gi-osser
Mühe oder gar nicht mehr zurecht zu finden. Das Verständniss füi"
verwickeitere Gedankengänge, für feinere Anspielimgen imd "Witze
geht verloren. Der Kranke vermag Erzählimgen nicht mehi- in ihi-em
Zusammenhange zu begreifen, verwechselt imd verkennt Personen
imd Gegenstände, übersieht wichtige Einzelheiten oder Unordnimgen,
die ihm früher nicht entgangen wären, verirrt sich in ihm sonst be-
kannten Gegenden. Ich entsinne mich eiues Zimmermanns, der eines
Tages sogar den Arbeitsplatz nicht mein- auffand, auf dem er bis da-
hin regelmässig beschäftigt gewesen wai\
Auf diese Weise entwickelt sich eine mein- oder weniger aus-
gesprochene Bewusstseinstrübung, und der Ki-anke lebt nun Avie
im. Traiune oder wie üi eiuem leichten Rausche. Einer meiner Kranken
wittde daher geradezu vom Untersuchungsrichter für beti-unken ge-
halten. Oft hefert schon im Beginne des Leidens diese eigenthüm-
Psychische Symptome.
575
licho Benommenlieit, welche den Kranken bis zu einem gewissen
Grade der Wirklichkeit enti'ückt, ein bedeutsames diagnostisches Merk-
mal. Späterhin kann die Desorientirtheit trotz anscheinender Besonnen-
heit in einzelnen Fällen bei obeiilächlicher Betrachtung sogar den
Eindi'uck eines epileptischen Dämmerzustandes machen. Der Kranke
versteht avoI die an ihn gerichteten Fragen, erzählt ziemlich geordnet,
hat aber keine Ahnung, wo er ist, mit wem er spricht, in welcher
Lage er sich befindet, beachtet die Vorgänge in seiner Umgebung
nicht, sondern lebt in einer ganz anderen "Welt. In den letzten Sta-
dien der Krankheit sinkt dann die HeUigkeit des Bewnsstseins dauernd
imd endgültig auf jene niedrigst möglichen Grade herab, welche eine
Anffassimg und Verarbeitung äusserer Eindrücke völlig ausschliessen.
Eine relativ geringe Eolle pflegen in der Paralyse Sinnes-
täuschungen zu spielen, so gering, dass man frülier bisweilen ihr
Vorkommen hier überhaupt geleugnet hat. Ohne Zweifel verläuft wol
die überwiegende Mehrzahl der Fälle olme jenes Symptom; ebenso
unzweifelhaft ist es aber, dass ausgeprägte Trugwahrnehmungen aller
Sinne gelegentlich beobachtet werden. In vereinzelten Fällen treten
sie so sehr in den Vordergrund, dass die psychische Störung in
hohem Grade dem Bilde des haUucinatorischen "Wahnsinns gleicht.
Bisweilen hört man die Kranken mit verstellter Stimme auf ihre
eigenen Aeusserungen antworten, so dass ehie Art Zwiegespräch mit
einer imaginären Person zu Stande kommt, ohne dass es sich jedoch
lun wü'kliche Gehörstäuschungen handelt. Vielmehr werden hier Kede
wie Gegenrede von den Kranken laut vorgebracht, während es bei
den Unterhaltungen mit „Stimmen" entw^eder ganz stumm hergeht
oder doch nur die Erwiderungen der Kranken auf ihi-e haUucina-
torischen "Wahrnehmungen dem Hörer zugänglich sind.
Sehr tiefgTeifend ist ausnahmslos die Beeinträchtigung, welche
das Gedächtniss erleidet, so dass die Störimgen auf diesem Gebiete
als ganz besonders kennzeichnend für die Paralyse angesehen werden
dürfen. Im Anfange ist es vielleicht die unsichere und traumhaft
verschwonunene Auffassung äusserer Eindrücke, welche dieselben nur
kurze Zeit in dei- Erinnerung haften lässt. Der Kranke vergisst da-
her, im Gegensatze zu dem normalen Verhalten des Gedächtnisses,
namentlich die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit. Er weiss
nicht mehr, was ihm vor 8 Tagen begegnet ist, mit wem er vorgestern
spazieren ging, welche Briefe, welche Arbeiten er zu erledigen hatte.
576
XI. Die Dementia paralytica.
ja er kann sich schliesslich nicht mehr entsinnen, was er vor einer
Viertelstunde gethan, ob er den ihn täglich begrüssenden Arzt schon
einmal gesehen hat. Das Gefühl dieser Unsicherheit und Vergess-
lichkeit führt die Kranken bisAveilen dazu, sich über jedes kleine Er-
lebniss, jeden Einfall, den sie haben, sofort Aufzeichnungen zu machen,
in denen sie sich freilich später selbst nicht mehr zui-echtfinden.
Namentlich die Möglichkeit einer zeitlichen Localisation
geht sehr bald verloren. Da sich dem Kranken die Wahrnehmungen
uicht zu jener festgegliederten Kette von Erinnerungsbildern zusam-
menschliessen, welche uns rückschauend den Abstand der einzelnen
Elemente von der Gegenwart abzuschätzen gestattet, so vermag er
namentlich die seit der Erkrankung gemachten Erfahrungen nicht
mehr in einen bestimmten Zeitabschnitt der Vergangenheit einzu-
ordnen. Es gelingt ihm nicht, sich die Aufeinanderfolge seiner Erleb-
nisse und deren Zusammenhang unter einander ins Gedächtniss zurück-
zurufen. Die Zeitgrenzen verschwimmen in einander und verwischen
sich; es wird ihm unklar, ob seit einem bestimmten Ereignisse, seit
seinem Eintritt in die Anstalt Monate, Wochen oder Tage verflossen
sind. Schliesslich weiss er weder Wochentag noch Datum, ja oft
nicht einmal die Jalureszahl, ,,weil er keinen Kalender hat", oder er
lässt sich doch in seinen Angaben ausserordentlich leicht irre machen.
Nicht selten schreibt er z. B. als heutiges Datum Jahi- und Tag
seiner Geburt, kann ohne Weiteres zu ganz unmöglichen Zusammen-
stellungen („30. Eebruar") verleitet werden. Auch die gewöhnlichen
Hülfsmittel des gesunden Menschen, ein Blick auf die Landschaft,
der Stand der Sonne, die Helligkeit, die Temperatur u. s. f. nützen
ihm nichts, da er sie nicht zu verwerthen versteht. Trotz des ge-
heizten Ofens glaubt er der Versicherung, dass es Sommer sei, und
die frischen Kirschen auf dem Tische erregen ihm keinen Zweifel
darüber, ob wir uns wirklich im December befinden. Einer meiner
Kranken fragte mich nach mehrmonatlichem Anstaltsaufenthalte
wochenlang tagtäglich von Neuem, wo er sich denn eigentlich befinde ;
er müsse geschlafen haben, sei vor Kurzem aufgewacht und sehe
sich nun in einer ganz fremden Umgebung. Schon nach einer halben
Stunde hatte er die ihm gegebene Auskunft wieder vergessen imd
war immer wieder höchlichst erstaunt über die Veränderung, die
sich mit ihm „während des Schlafes" vollzogen haben müsse. Andere
leben so sehr im Augenblicke, dass sie nicht einmal die Tageszeit
Psycliische Symptome.
577
mehr auffassen, nicht wissen, ob seit dem Aufstehen kürzere oder
längere Zeit verflossen ist, ob sie schon zu Mittag gegessen haben;
sie kleiden sich Vormittags aus, weil es Zeit zum Zubettgehen sei,
sind gegen Abend entrüstet, dass man ihnen den Kaffee noch nicht
gebracht habe. ■ So hochgradig sind die Störungen freilich nur bei
sehr weit vorgeschrittener Krankheit, , aber sie sind doch oft auch
schon im ersten Beginn auffallend genug, um mit grosser Wahr-
scheinlichkeit die Erkennung der Paralyse zu ermöglichen.
Ausser den jüngsten Eindrücken wird nach und nach aber aus-
nahmslos auch der Erwerb der ferneren Vergangenheit mit in
die Gedächtnissstörung hineingezogen. Am leichtesten gehen dem
Kranken Eigennamen verloren, besonders aber Zahlen und Daten.
Während er frühere Erlebnisse inhaltlich noch leidlich gut vorbringen
kann, verwirrt er sich in der Chronologie, giebt sein Geburts-
datum falsch an, verwechselt die Namen seiner Kinder und Avird
unsicher im Rechnen, eine Störung, welche namentlich bei Kaufleuten
und Beamten oft sehr auffallend und natürlich auch folgenschwer
hervortritt. Bisweilen enthüllen schon die beiden einfachen Fragen
nach Alter und Gebui'tsjahr diese Schwäche, indem die Kranken zAvei
widersprechende Angaben machen, ohne deren Unvereinbarkeit zu
bemerken. Auch der hülfesuchende Blick, mit welchem sie sich bei
solcher Gelegenheit nach ihrer Umgebung umsehen, das zögernde Nach-
denken oder die ausweichende Antwort, das sei aufgeschrieben, stehe
im Taufschein, der Herr Doctor wisse es, genügen, um dem kundigen
Arzte sofort die Sachlage klar zu legen.
Unaufhaltsam vollzieht sich nunmehr eine fortschreitende Ver-
armung des Vorstellungsschatzes, welche schliesslich zur völligen
Vemichtimg des gesammten geistigen Besitzstandes führt. Natürlich
ist die Schnelligkeit, mit welcher sich dieser Vorgang abspielt, eine
sehr verschiedene. Sie wird wol in erster Linie durch die Ai-t und
Stärke der Krankheitsursachen bestimmt, dann aber auch durch den
Umfang der persönlichen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit. Ich
glaube* bemerkt zu haben, dass Personen von sehr bedeutendem und
sicherem Wissen weit länger noch über eine grössere Anzahl von
Vorstellungen verfügten, als Ungebildete und Beschränkte. Die
Reihenfolge, in welcher allmählich der geistige Erwerb verloren geht,
dürfte wesentlich von der Eestigkeit abhängen, mit Avelcher die ein-
zelnen Elemente haften. Stark eingeübte Gedankenverbindungen
Kraepelin, Psychiatrie. 4. Anfl. 37
578
XI. Die Dementia paralytica.
widerstehen am längsten; der Kaufmann pflegt später die Herrschaft
über das Einmaleins zu verlieren, als der Bauer. Bisweilen haften
einzelne ganz nebensächliche Vorstellungen, die durch ein zufälliges
Ereigniss in den Yordergrund gedrängt wurden, auffallend fest. Ein
bereits sehr blödsinniger Kranker wiederholte Monate lang bei jeder
Unterredung die Zimmernummer der Wasserheilanstalt, in der er
sich bis ziu' Aufnahme in die Klinik befunden hatte. Schliesslich
weiss der Kranke nicht mehr, ob er verheirathet ist, ob er Kinder
hat, womit er sich früher beschäftigte, ja er hat vielleicht sogar
sein Alter, seinen "Wohnort und selbst seinen Namen vergessen,
obgleich er sich noch halbwegs geordnet in seiner Umgebung zu
bewegen vermag.
In einzelnen FäUen lassen sich neben der allgemeinen Ab-
schwächung des 'Gedächtnisses auch Lücken desselben feststehen,
bald von grösserem, bald von geringerem Umfange. Eine meiner
Kranken hatte, als sie nach einem kurz dauernden, verwirrten Auf-
regungszustande wieder zur Besinnung kam, die Erinnerung an die
letzten 5 Monate vor dem Eintritte vollständig verloren, obgleich
sie in jener Zeit sich verlobt und verheirathet hatte. Während sie
im Uebrigen vollkommen klar geworden war, zeigte sie sich höch-
lichst erstaunt, als nun ihr Mann sich ihr vorstellte. Nach einem
späteren ähnlichen Anfalle vermochte sie sich auch ihres nur kurze
Zeit zurücküegenden ersten, sechswöchentüchen Anstaltsaufenthaltes
nicht zu entsinnen und erkannte trotz ihrer sonstigen Besonnenheit
die Aerzte und Wärterinnen durchaus nicht wieder.
Sehr häufig wird der Ausfall der Erinnerung ausgefüllt durch
die Phantasie. Gerade weil die wirklichen Keminiscenzen ver-
blassen und verschwinden, hat die freie Erfindung einen weiten
Spielraum. Nicht nur Träume, Gehörtes und Gelesenes werden nun
als Erlebnisse in die eigene Vergangenheit zurückverlegt, sondern
auch eine Eeihe rein erfundener Vorstellungen, wie sie gerade der
Augenblick hervorbringt. Der Kranke hat fabelhafte Abenteuer er-
lebt, grosse Schlachten geschlagen, mit zahlreichen Berühmtheiten auf
vertrautem Eusse gestanden, seit unvordenklichen Zeiten alle histo-
rischen Ereignisse gelenkt und mitgemacht. Er hat England zer-
stört, die Perser vernichtet. Tausende der schönsten Frauen geraubt,
das Zalilensystem, die elektrische Umwandlung von Holz in Gold
erfunden, die Gedichte des Hafis verfasst, mit den Wikingeru
Psychische Symptome.
579
Amerika entdeckt. Auf diese "Weise geräth der Kranke bisweilen
in ein ganz eigenthümliches, bunt wechselndes Spiel der abenteuer-
lichsten Yorstellungen hinein, welches in hohem Grade an unser
Traumleben erinnert und in merkwürdigem Gegensatze zu seinem
sonstigen, leidlich geordneten Benehmen steht. Am ausgeprägtesten
scheinen sich solche traumhafte Dämmerzustände mit reichlichem
Fabuliren bei den Kranken mit Opticusatrophie einzustellen; sie
können Monate und Jahre dauern. Andererseits beobachten wir
nicht selten gelegentlich, dass gerade die Erinnerung an die jüngste
Zeit durch einzelne frei erfundene Eeminiscenzen verfälscht wird.
Der Kranke erzählt in gutem Glauben, dass er vor einer halben
Stunde eine Mittheilung, einen Brief empfangen. Besuch gehabt,
gestern beim Kaiser gespeist, sich am Morgen mit einer Prinzessin
verlobt, eine Eeise gemacht habe. In der Regel kann man solche
Erzählungen durch Suggestivfragen hervorrufen und beeinflussen.
Dabei merkt man dann meist, dass die Kranken sich bei den aus
ihnen herausgelockten Aeusserungen anfangs unsicher fühlen, sich
aber allmählich in die üeberzeugung hineinreden, dass Alles wirklich
so gewesen ist.
Eine weitere, folgenschwere und schon früh deutlich hervor-
tretende Störung auf dem Gebiete des Yerstandes ist die TJrtheils-
losigkeit der Paralytiker. Die durch Erfahrung erworbenen, fest-
stehenden Grundbegriffe/ nach welchen wir die Welt beurtheilen,
die Fähigkeit, durch Beobachtung des Thatsächlichen die Gebilde
unserer Phantasie zu berichtigen, gehen ihm ganz unmerklich ver-
loren, und er findet sich mit einem Male wieder in einer Traum-
welt, in welcher Alles der eigenen Yorstellung, dem eigenen "Wunsche,
der eigenen Befürchtung entspricht. Im Nu ist daher seine ganze
Umgebung, sind seine gesammten Verhältnisse in seinem Simie ver-
ändert, weil er sie mit besonderen Augen ansieht und nicht fähig
ist, den schneidenden Contrast seiner gefärbten Auffassung mit der
"Wirklichkeit wahrzunehmen.
Wir sind diesem Yorgange einer völligen Yerfälschung der
Weltanschauung durch subjective Yoraussetzungen schon wiederholt
begegnet, namentüch bei der Yerrücktheit. Allein was demselben
hier von Anfang an ein ganz eigenartiges Gepräge verleiht, das ist
die zu Grunde liegende geistige Schwäche. Bei der Yerrücktheit
stehen alle die einzelnen phantastischen Elemente, welche sich in
37*
580
XI. Die Dementia paralytica.
die Auffassung hineinmischen, in einem gewissen inneren Zusammen-
hange mit einander, ja sie werden zu einem einheitlichen Systeme,
oft nicht ohne Scharfsinn, weiter verarbeitet und festgehalten —
hier dagegen schiessen bunt durch einander die verschiedenartigsten
Ideen empor, um ohne die mindeste Rücksicht auf die handgi-eif-
lichsten Widersprüche hingenommen, aber ebenso schnell wieder
vergessen zu werden. Daher die ausserordentliche Unsinnigkeit und
Abenteuerlichkeit der paralytischen Wahnideen, welche sofort über
das Wahrscheinliche oder auch nur Möghche mit verblüffender Un-
befangenheit weit hin auszuschweifen pflegen. Wo die Eegsamkeit
der Einbildungskraft die Yernichtung der Kritik überdauert, kann
die Massenhaftigkeit und Ueppigkeit der AYahnbildungen zeit^veise
eine sehr grosse sein. Man wird hier unwillkürlich an gewisse
Formen der psychischen Entartungsprocesse erinnert, bei denen ja
ebenfalls von vorn herein der geistige Verfall das Krankheitsbüd
beherrscht.
Damit hängt auch der Umstand zusammen, dass beim Para-
lytiker der Wahn nichts weniger als constant zu sein pflegt, sondern
sich häufig fortwährend durch innere Anstösse wie durch äussere
Einflüsse verändert. Während der Yerrückte, wenigstens in den
ersten Perioden der Erkrankung, sein System wol bereichert, aber
dasselbe zumeist in allen wesentKchen Punkten dauernd gleich-
lautend wieder vorbringt, bietet jede Darstellung des paralytischen
Wahnes zahlreiche und bedeutende Abweichungen von den früheren
Yersionen dar. Der Graf von gestern ist heute vielleicht Kaiser
und morgen der jüngste Lieutenant, ja es gelingt nicht selten, durch
Suggestivfragen und durch lebhafte Anregung des Kranken, ihn
binnen wenigen Minuten zu einer raschen Selbststeigerung seiner
Ideen bis in's Ungeheuerlichste hinein zu treiben. Andeutungen
dieses Yerhaltens finden sich freilich bisweilen auch bei Yerrückten,
aber immer nur in beschränktem Masse und erst bei weit vorge-
schrittener psychischer Schwäche oder unter dem Einflüsse lebhafter
Afl'ecte.
Die Zerfahrenheit und Zusammenhangslosigkeit des Gedanken-
ganges, die Unfähigkeit zu kritischer Selbstprüfung machen es erklär-
lich, dass eine wirkliche Krankheitseinsicht .in der Paralyse
zumeist nicht zu Stande kommen kann. Im Gegentheil fühlen sich
die Kranken häufig gesünder, als jemals, oder sie bemerken doch
Psychische Symptome.
581
wenigstens nicht, dass ihre ganze geistige Kraft völlig gebrochen ist,
eben Aveil ihnen die Fähigkeit verloren gegangen ist, ihren jetzigen
Zustand mit demjenigen in Längst vergessenen gesunden Tagen zu
vergleichen. Nm- im Beginne der Krankheit ist bisweilen ein rich-
tiges Verständniss für die Natur- des Leidens und das bevorstehende
Schicksal vorhanden. Ich besitze den Brief eines Obersten, in wel-
chem derselbe den Entschluss ankündigt, sich das Leben zu nehmen,
weil er an Gehirnerweichung leide und ein blöder Tölpel werden
müsse. Der weitere Verlauf der Krankheit rechtfertigte seine Ahnung
nur- zu vollkommen. Dass die Kranken wenigstens das Herannahen
eines schweren, unheilbaren Leidens deutlich empfinden, ist nicht
gerade selten. „Wenn Sie wüssten, wie mir zu Muthe ist", sagte
mir ein derartiger, damals noch gar nicht als Paralytiker erkannter
Patient, „so wüi'den Sie nicht mehr an meine Wiederherstellimg
glauben." Nicht zu verwechseln mit dieser wirklichen Krankheits-
einsicht sind jene Fälle, in denen allerlei nervöse oder auch rein
hypochondrische Beschwerden wol den Patienten sich selbst für
krank halten lassen, ohne dass er doch die wahren Zeichen seines
Leidens als solche auffasst und anerkennt.
Kaum geringere Störungen, als die Intelligenz, bietet die
Stimmung der Kranken dar. In der ersten Zeit der Paralyse ist
es namentüch die erhöhte Eeizbarkeit, welche der Umgebung
aufzufallen pflegt. Der Kranke ist launenhaft, leicht verstimmt und
verdriesslich, geräth bei geringfügigen Anlässen in rasch vorüber-
gehende, unmotivirt heftige Aufregung, in der er die Herrschaft
über sich selbst vollständig verliert und sich wol gar gelegentlich
zu Thätlichkeiten hinreissen lässt. Auf der andern Seite ist schon
jetzt nicht selten eine gewisse Stumpfheit gegenüber weiter reichen-
den Interessen bemerkbar, die auf ein Zurücktreten der höheren,
logischen, ethischen und ästhetischen G-efühle hindeutet. Die Freude
an geistiger Arbeit, an künstlerischen Genüssen, an den gemüthlichen
Beziehungen zur Umgebung, zur eigenen Famüie weicht einer trägen
Gleichgültigkeit, die zu der sonstigen Eeizbarkeit des Kranken in
auffallendem "Widerspruche steht.
Die gleichen Eigenthümlichkeiten, leichte Erregbarkeit auf der
einen, Mangel an tieferen, nachhaltigeren Gefühlen auf der anderen
Seite, erhalten sich meist auch während des weitereu Verlaufes der
Krankheit. Dabei zeigt die Färbung der Stimmung eine durch-
582
XI. Die Dementia paralytica.
gehende Uebereinstimmiing niit dem Inhalte der Wahnideen, viel-
leicht weil dieser letztere wesentlich durch jene beeinflusst wird.
Grössenideen Averden von befriedigter, oft überaus glückseliger
Stimmung begleitet, während wir auf der andern Seite tiefe Nieder-
geschlagenheit oder heftige Angstzustände in Verbindung mit quälen-
den Wahnvorstellungen beobachten. Eegelmässig aber ist es nicht
eine und dieselbe Färbung des Stimmungshintergrundes, welche den
ganzen Krankheitsverlauf begleitet. Yielmehr ist ein unvermittelter
Wechsel der Gefühlsregungen in so hohem Masse der Paralyse eigen-
thümlich, dass sich auf ihn bisweilen geradezu die Erkennung der
Krankheit stützt. Mitten hinein in das TJebermass der Fröhlicbkeit
bricht plötzlich ein Thränenstrom, oder das hypochondrische Elend
wird durch die kindische Ereude über irgend einen ausserordentlichen
Vorzug abgelöst. Ganz besonders bemerkenswerth ist es, dass es
häufig gelingt, diese raschen Wandlungen durch die Anregung ge-
eigneter Yorstellungen, ja schon durch den Tonfall der Stimme, den
Gesichtsausdruck gewissermassen experimentell herbeizuführen und
ebenso wieder zu beseitigen. Wo gar keine Wahnideen zur Ent-
wickelung kommen, oder wo sie bereits verblasst sind, da trägt auch
die Stimmung meist keine ausgeprägtere Färbung; höchstens eine
Art blöder Zufiiedenheit oder reizbarer Missvergnügtheit kann das
Fortschreiten der gemüthlichen Stumpfheit bis zu ihren höchsten
Graden noch- längere Zeit begleiten.
Natürlich wird durch diese Störungen der Charakter des
Kranken vollkommen umgewandelt. An Stelle der fi'üheren Festig-
keit und Selbständigkeit tritt eine fortschreitende Willensschwäche
und Haltlosigkeit, welche sich in auffallender Weichheit und Em-
pfindsamkeit, zuweilen auch in einer Art blödsinnigen, impulsiven
Eigensinns kundgiebt. Wähi-end die eigene innere Eegsamkeit, die
„Initiative", mehr und mein- schwindet^ lässt sich der Kranke bei
geschicktem Angreifen fast immer leicht nach jeder beliebigen
Richtung hin lenken. Namentlich die von den Augehörigen meist
sehr gefürchtete Yerbringung in die Anstalt geht oft zu deren
grösster TJeberraschung ohne jede Schwierigkeit von Statten. Die
sorglose Selbstverständhchkeit, mit welcher Paralytiker sich ohne
Weiteres in der Anstalt einzuleben pflegen, das schöne Zimmer, die
gute Verpflegung, die Behandlung rühmen und gern „noch eine Zeit-
lang dableiben", zeigt ihre Willensschwäche vielleicht am deutlichsten.
Psychische Symptome.
583
Ein paar freundliche Worte, ein Scherz, eine ausweichende Antwort
genügen dann, den Kranken immer wieder zu beruhigen, auch wenn
er täglich seine Abreise auf „morgen" anberaumt, seine ünentbehr-
lichkeit zu Hause betont und seine dringenden Zukunftspläne aus-
einandersetzt. Auf diese Weise wii-d er alsbald unfähig zu irgend-
welcher geordneten Arbeitsleistung, da er seine Obliegenheiten zum
Theil einfach vergisst oder vernachlässigt, zum Theil aber lückenhaft,
unordentlich und fehlerhaft erledigt. Ein sehr fein gebildeter, voll-
ständig besonnener Herr bat sich am Tage seines Eintritts in die
Klinik ein Conversationslexikon zur Leetüre aus und wünschte am
nächsten Tage einen neuen Band, da er den ersten ausgelesen habe.
Andererseits pflegt der Kranke auch widerstandslos den in ihm
auftauchenden Antrieben und Einfällen zu folgen. Seine Handlungen
tragen daher den Stempel des Unüberlegten und Planlosen. Einer
meiner Kranken sprang aus dem Fenster des zweiten Stockwerks,
um einen unten bemerkten Cigarrenstumpf aufzusuchen, und zog
sich dabei einen Fibulabruch zu; ein Anderer woUte sich an einem
ganz dünnen Faden- von oben herunterlassen und stürzte dabei in
die Tiefe. Selbst Yerbrechen können auf diese Weise begangen
werden, ohne dass der Kranke im Stande wäre, die Tragweite und
Bedeutung derselben irgendwie zu übersehen. Häufig gesellt sich
dazu eine überstürzte Yielgeschäftigkeit. In rascher Folge und ohne
Besinnen sucht der Kranke seine wahnhaften Pläne auszuführen,
nicht in der zähen, folgerichtigen, von langer Hand vorbereitenden
Art des "Verrückten, sondern er thut bereits die einleitenden Schritte,
sobald ihm nur der Gedanke aufgestiegen ist, um ihn im nächsten
Augenblicke wieder über etwas Anderem, Grösserem zu vergessen
und fallen zu lassen.
Im Benehmen des Kranken macht sich die Paralyse als eine
Abstumpfung gegen die Anforderungen des Anstandes und der
Sitte geltend, die ihn, wie den Angetrunkenen, leicht Tactlosig-
keiten, Ungenirtheiten und selbst grobe Yerstösse begehen lässt,
ohne dass' er das mindeste Yerständniss dafür besässe. Jene an-
erzogenen feinen Hemmungen und Antriebe, welche auch die äussere
Form unseres Thuns und Lassens jederzeit nach der Eücksicht auf
unsere Umgebung regeln, gehen dem Paralytiker sogar schon sehr
früh verloren, am leichtesten und vollständigsten natürlich dort, wo
nicht eine lange Gewohnheit oder natürliche Anlage dieselben sehr
584
XI. Die Dementia paralytica.
tief dem Wesen des Menschen eingeprägt hat. Im letzteren Falle
kann man auch recht blödsinnige Kranke noch die Schablone der
Yerkehrsformen leidlich gut sich bewahren sehen.
"Was der Paralyse vor Allem ihr eigenartiges klinisches Gepräge
verleiht, sind die nervösen Störungen, welche den ganzen Ver-
lauf derselben begleiten. Als sehr regelmässige Erscheinung im
Beginne der Erkrankung beobachtet man starke Kopfschmerzen,
die meist als ein dumpfer, aber äusserst heftiger Druck geschildert
werden, als ob das Gehirn mit grosser Gewalt zusammengepresst
würde. Am stärksten pflegt derselbe in der Stirngegend zu sein.
Dazu gesellen sich oft die Anzeichen von Blutwallungen (Ohren-
sausen, Funkensehen, Schwindelgefühl). Von Seiten der Sinnes-
organe lässt sich anfangs oft gesteigerte Erregbarkeit, später
nicht selten eine leichtere oder schwerere Abstumpfung der Em-
pfindlichkeit feststellen, die aber zweifellos in der Regel vorzugs-
weise auf den psychischen Zustand, insbesondere die mangelnde
Aufmerksamkeit, zurückzuführen ist. Eine eigenthümliche Seh-
störung, die häufig nach paralytischen Anfällen hervortritt und sich
bei negativem Augenspiegelbefunde durch Erschwerung des Er-
kennens und der Localisation von Gegenständen charakterisirt, ist
von Eürstner beschrieben und auf Herderkrankungen [in der
Hinterhauptsrinde zurückgeführt worden. Auch hier dürften ver-
wickeitere psychische Störungen eine wichtige, wenn nicht die Haupt-
rolle spielen. Auf der andern Seite jedoch sind auch greifbare
pathologische Befunde am peripheren Sinnesorgane, am Auge, zu
verzeichnen. Atrophie der Sehnerven verschiedenen Grades wird
in 4—5, nach Möli 's Angaben sogar in 12 Procent beobachtet; bis-
weilen bildet sie das erste Anzeichen des herannahenden Leidens.
Ausserdem hat man bisweilen über eine keineswegs charakteristische
„Retinitis paralytica" und eine ganze Reihe anderer, mehr- gelegent-
licher, recht verschiedenartiger Veränderungen am Auge berichtet.
Sehr auffallend sind die Störungen auf dem Gebiete des Haut-
sinnes. Im Beginne des Leidens stellen sich öfter allerlei unbestimmte,
„rheumatoide" Schmerzen oder abnorme Empfindungen ein, die bis-
weilen längere Zeit das einzige hervortretende Zeichen der Krankheit
bilden. Ich sah einen derartigen Kranken, der über reissende
Schmerzen unter dem linken Schulterblatte klagte und schon seit
Monaten vergeblich deswegen behandelt worden war, ohne dass man
Körperliche Symptome.
585
die Paralyse erkannt hätte. Andere gelten lange Zeit als Neur-
astheniker oder Unfallsnervenkranke. Im weiteren Verlaufe ent-
wickelt sich ausnahmslos früher oder später eine bedeutende Herab-
setzung aller Qualitäten der Hautempfindlichkeit, vor Allem aber
eine sehr hochgradige Analgesie. Namentlich wenn man die Auf-
merksamkeit des Kranken durch Fragen ablenkt, gelingt] es zur
grössten nachträglichen Verwunderung desselben sehr häufig schon
in relativ frühen Stadien, eine Nadel quer durch eine Hautfalte
hüidurch zu stechen, ohne dass er dessen gewahr wird. Gerade
diese Unempfindlichkeit gegen Schmerz begünstigt das Zustande-
kommen von allerlei Verletzungen, besonders ausgedehnten Ver-
brennungen, weil der Kranke die Gefahr nicht bemerkt und sich
ihr daher auch nicht entzieht. Ich kannte einen Hauptmann, der
sich in einer Nacht die Hand mit den Zähnen zerfleischte, weil ilnn
dieselbe als etwas Fremdes, gar nicht zu ihm Gehöriges erschien.
Ganz besonders in den Vordergrund treten bei der Paralyse
die motorischen Störungen, als deren wichtigste wir wol die
„paralytischen Anfälle" zu bezeichnen haben. Die leichtesten Formen
derselben bestehen in rasch vorübergehenden Schwindelanwandlungen,
häufig von kurz dauernder Unfähigkeit, zu sprechen, oder Anstossen
der Zunge, seltener von leichten Hemiparesen begleitet. Erheblich
ernster sind die epileptiformen Anfälle. Ihnen gehen meist allerlei
Prodromalsymptome, Unbesinnlichkeit, grössere Apathie, Schwer-
fälligkeit der Bewegungen, Herüberhängen nach einer Seite voraus,
bis dann der Kranke plötzlich zu Boden sinkt und nun Krämpfe
auftreten, deren eigenthümliche Localisation auf ihren Ursprung in
der Hirnrinde hinweist. Zuerst stellt sich etAva ein leises Zucken
in den Gesichtsmuskeln mit Verdrehen der Augen und nystaktischen
Bewegungen derselben ein; dann schreitet die Erregung auf den
Hals, den Arm, die Athmungsmuskeln, den Bauch, das Bein der-
selben Seite fort, um endlich auch auf die entgegengesetzte Seite
hinüberzugreifen, während sie vielleicht auf der zuerst befallenen
schon wieder nachlässt. Diese Eeihenfolge, von der allerdings oft
nur einzelne Elemente zur Entwickelung kommen, kann sich mit
kürzeren oder längeren Zwischenpausen, in denen der Kranke schAver
benommen oder unbesinnlich Arme und Beine bewegend daliegt,
sehr häufig hintereinander, bisweilen 20-, 30-, ja 80- und 100 mal
innerhalb 24 Stunden wiederholen. In der Regel allerdings pflegt
586
XI. Die Dementia paralytica.
der Anfall schon nach einer oder einigen Stunden vorüber zu sein,
doch wird nicht zu selten eine Dauer von mehreren, selbst bis zu
14 Tagen beobachtet. Die Körpertemperatur ist meist etAvas, selten
beträchtlich erhöht, der Befund von Eiweiss im Harn sehr inconstant.
Blase und Mastdarm sind häufig gelähmt, so dass es zu Harn-
verhaltung und Kothstauung mit deren Folgezuständen, Pyelitis,
Nephritis, Periproktitis, kommen kann, wenn nicht für rechtzeitige
Entleerung beider Organe gesorgt wird. Die selbständige Nahrungs-
aufnahme ist wegen Lähmung der SchHngmuskulatur unmöglich. Da
ausserdem die Kehlkopfreflexe oft gänzlich aufgehoben sind, so ent-
springt eine ernste Gefahr für den Kranken aus der Aspiration von
Speichel aus der mit reichlichen Zersetzungsproducten erfüllten
Mundhöhle (gelegentliche Parotitis); in der That finden wir bei der
Mehrzahl der im Anfalle zu Grunde gehenden Paralytiker Schluck-
pneumonien (sog. „hypostatische Pneumonien") als Todesursache.
Endlich fordert auch der hier bei ungenügender Pflege überaus
leicht entstehende Decubitus zahlreiche Opfer.
Das Erwachen aus dem Anfall geschieht immer allmählich, oft
durch ein Stadium grosser Verwirrtheit und Benommenheit hindurch.
Aber auch weiterhin bemerkt man fast regelmässig eine erhebliche
Zunahme der psychischen Schwäche, in einzelnen Fällen plötzlichen
tiefen Blödsinn nach einem bis dahin nahezu normalen Verhalten.
Gleichzeitig bleiben gern allerlei körperliche Symptome zurück,
Hemiparesen, Zwangsbewegungen, Sprachstörungen, Aphasie, die sich
meist bald wieder verlieren, zuweilen aber auch dauernd bestehen
bleiben.
Eine letzte, im Ganzen seltene Form der paralytischen Anfälle
sind die apoplektiformen Insulte, welche ganz in der Art gewöhn-
licher Schlaganfälle mit plötzlicher Bewusstlosigkeit, Zusammen-
brechen, stertorösem Athmen eintreten und bald mit nachfolgender
Hemiplegie, Contracturen, aphasischen Störungen, bald ohne jede
Folgeerscheinung verlaufen, häufig genug aber auch ganz un-
vermuthet dem Leben ein Ende raachen. Alle diese verschiedenen
Formen können in jeder Phase der Krankheit aufü-eten, doch be-
obachtet man im Allgemeinen die leichteren Anfälle mehr im Be-
ginne, die schwereren häufiger in den späteren Perioden. Ganz
pflegen sie nur selten zu fehlen, wenn auch ihre Zahl in verschiedenen
Fällen eine sehr verschiedene ist; bisweilen kann mau sie alle paar
Körperliche Symptome.
587
Tage oder doch alle paar Wochen sich einstellen sehen. Den
äusseren Anstoss zum Entstehen der Anfälle sollen Gemüths-
beAvegnngen, Excesse, Magenüberfüllung, Kothstauung geben können,
doch herrscht über diesen Punkt, noch keine rechte Klarheit; meist
ist ein Anlass gar nicht erkennbar.
In einer gewissen Beziehung zu den paralytischen Anfällen
scheinen die kataleptischen Erscheinungen zu stehen, die man bis-
weilen in der Paralyse beobachtet. Leichtere Andeutungen derselben
sind in der dem Anfalle folgenden Benommenheit nicht allzu selten;
in einzelnen Fällen aber sieht man kataleptische Zustände mit aus-
gebildeter Elexibilitas cerea längere Zeit hindurch, selbst Wochen
und Monate lang, fortbestehen. Andererseits giebt es auch hie und
da Kranke, welche daneben die besonderen Symptome der Katatonie
in mehr- oder weniger starker Entwickelung darbieten, namentlich
Negativismus, Zwangsbewegungen und Yerbigeration. Vor der Ver-
wechselung mit Katatonikern schützt hier das Lebensalter, die Art
der Entwickelung des Leidens und das Auftreten sonstiger, der
Paralyse eigenthümlicher, psychischer oder körperlicher Krankheits-
zeichen.
Eegelmässige Störungen bietet der motorische Apparat des Auges
dar. Zwar gehören Paresen der Augenmuskeln oder gar vollständige
Ophthalmoplegie zu den seltneren Vorkommnissen; dagegen sind
Enge, Ungleichheit, träge Eeaction oder Starre der Pupillen fast aus-
nahmslos vorhanden; auch einseitige oder doppelseitige Ptosis findet
sich häufig, seltener Mydriasis. Die Gesichtszüge sind schlaff (Ver-
streichen der Nasolabialf alten), ausdruckslos; bisweilen bemerkt man
auch Ungleichheit der. Gesichtshälften. Ungemein häufig sind fibrüläre
Zuckungen und ausgiebige Mitbewegungen, wenn man den sehr
leicht in Verwirrung gerathenden Kranken auffordert, abwechselnd
verschiedene coordinirte Bewegungen auszuführen, die Augen zu
schliessen, den Mund zu öffnen, die Zunge vorzustrecken u. s. f.
Man sieht es wie eine Art „Wetterleuchten" durch die ganze Gesichts-
musku.latur hindurchzittem , während der Kranke angestrengt die
einzelnen, ilim gestellten Aufgaben zu lösen sucht. Die Stimme ist
rauh und verliert ihren gewohnten Klang (Stimmbandparese), hie
und da das erste Zeichen der Paralyse. Die Zunge weicht nicht
selten ab, zeigt starke fibrilläre Zuckungen, wird ungeschickt, stoss-
weise und Unter zahlreichen Mitbewegungen, Aufreissen der Augen,
588
XI. Die Dementia paralytica.
Stirnrunzeln, ja selbst unter Zuhülfenahme der Finger hervorgestreckt.
Um die Muskelstösse zu verhindern, klemmt der Kranke die Zunge
beim Vorzeigen bisweilen unwillkürlich zwischen den Zähnen fest.
Das Schlucken ist namentlich in den letzten Stadien der Krankheit
sehr erschwert; der Kranke verschluckt sich leicht, ohne aber wegen
der Unempfindlichkeit des Kehlkopf ein ganges immer in genügend
energischer Weise darauf zu reagiren. Häufig beobachtet man bei
vorgeschrittenem Blödsinn lange fortgesetztes, rhythmisches Zähne-
knirschen, welches fast als pathognomonisch für die Paralyse
angesehen werden darf.
Zu den allerwichtigsten Symptomen der Paralyse gehören die
Yeränderungen, welche die Sprache erleidet. Wir haben dabei zu
unterscheiden zwischen aphasischen und articulatorischen Störungen.
Zustände vorübergehender, selten länger dauernder Aphasie schliessen
sich ungemein häufig an paralytische Anfälle an. Einer meiner
Kranken konnte wochenlang den Namen keines einzigen Gegenstandes
finden, den man ihm zeigte, obgleich er die Dinge selbst erkannte.
Weit hartnäckiger pflegt die Paraphasie zu sein, die viele Monate
unverändert fortbestehen kann. Hier werden entweder einzelne
Dinge mit unrichtigen Namen belegt, oder es kehren gewisse
stereotype Bezeichnungen fälschlicherweise bei den verschiedensten
Gfelegenheiten wieder, oder endüch die Sprache geht vollständig in
einem Gemisch unsinniger, häufig wiederholter Sübencombinationen
unter. Ich kannte einen sehr gebildeten Kranken, bei dem das erste
auffallende Symptom der Paralyse ein leichter Schlaganfall war,
nach welchem er einige Stunden hindurch die 5 oder 6 Sprachen,
die er beherrschte, in ganz unverständlicher Weise durcheinander
warf. Viel seltener ist Worttaubheit, die sich zudem wegen des
Schwachsinns der Kranken nur sehr schwierig erkennen lässt. Noch
vor Kurzem indessen beobachtete ich einen Kranken, der nach
seinen paralytischen Anfällen selbst die einfachsten Anreden durch-
aus nicht verstand, mimischen Aufforderungen aber meist sofort
nachkam. Hie und da kommt auch eine Art Echolalie vor. Die
Kranken fassen das Gesagte nicht auf, wiederholen es aber regel-
mässig ganz mechanisch.
Häufiger, als diese centralen Sprachanomalien, sind Articulations-
störungen, die sich zunächst vielleicht ebenfalls nur im Gefolge der
paralytischen Anfälle, später aber dauernd geltend machen. Die-
Körpeiiiche Symptome.
589
selben lassen sich in zwei verscliiedene Gruppen zerlegen, welche
sich im einzelnen Ealle freilich meist mit einander verbinden, in
paretische und ataktische, coordinatorische Störungen. Die Schwer-
fälligkeit in den Bewegungen der Lippen- und Zungenmuskulatur
macht es dem Krauken unmöglich, verwickeitere Buchstabenverbind-
ungen rasch im Zusammenhange auszusprechen, so dass die Sprache
durch das schleifende Hinübergleiten über die mangelhaft articulirten
Lautverbindungen undeutlich und verschwommen wird (schmierende,
lallende Sprache). Das Wort „Flanelllappen" eignet sich gut zur
Darstellung dieser Störung. Da dieselbe ganz der bei bulbären Sprach-
lähmungen beobachteten analog ist, so dürfte sie auf Erkrankungen
in der Medulla, insbesondere auf solche des Facialis und Hypoglossus
zurückzuführen sein. Unter die zweite Gruppe von Sprachstörungen
gehört vor Allem das „Silbenstolpern", das Yersetzen und Auslassen
von einzelnen Buchstaben und Silben. Beliebte Beispiele zur De-
monstrirung dieses Yerhaltens sind „dritte reitende Artilleriebrigade"
(drittende reitere Artrilieriebrade), „Elektricität" (Ektriticät), Exterri-
torialität" (Extrorialität) u. a. m. Ebendahin ist die hie und da
beobachtete eigen thümliche Yerdoppelung oder Anhängung tonloser
Silben zu rechnen. Oft wird namentlich die letzte Silbe eines Wortes
trotz sichtlichen Widerstrebens vom Kranken drei-, viermal und öfter
wiederholt, bis seine Sprachwerkzeuge zur Kuhe kommen. Nicht zu
selten begegnet man endlich auch typischem „Scandiren".
Am deutlichsten pflegen die coordinatorischen Sprachstörungen,
wie Eieger festgestellt hat, beim lauten Lesen hervorzutreten.
Der Kranke producirt hier bei mehrmaliger Wiederholung oft immer
wieder neue Silben- und Wortcombinationen, die nur eine bruch-
stückweise und entfernte Aehnlichkeit mit dem Originale darbieten.
Dabei glaubt er vollständig richtig abgelesen zu haben, ohne doch
den Inhalt des Gelesenen zu verstehen. Wieweit hier die sinnliche
Auffassung der Vorlage, die Yerknüpfung der Wortzeichen mit den
Begriffen einerseits, den Bewegungsvorstellungen andererseits, wie
weit endlich die Coordination der Impulse an dem Zustandekommen
der verwickelten Störung betheiligt ist, lässt sich heute noch nicht
entscheiden.
Ganz ähnliche Störungen, wie die Sprache, lässt die Schrift
erkennen. Die einzelnen Züge sind unregelmässig mid unsicher,
ohne doch die rhythmischen Zitterlinien des Tremor seniüs darzubieten ;
590
XI. Die Dementia paralytica.
die Striche fahren häufig über die Grenzen hinaus. Auf der andern
Seite begegnet uns das Analogen des Silbenstolperns in Versetzung
der Buchstaben und Silben, Auslassungen und Wiederholungen der-
selben. Greringe Rücksicht wird auf die räumliche Anordnung der
Schriftstücke genommen. Der Kranke kümmert sich nicht darum,
ob er mit der Linie oder der Seite auskommt, schreibt quer und
schräg durch- und übereinander, oft auch noch auf beide Seiten des
Umschlags. Dabei laufen Klexe, Fettflecken, Unsauberkeiten in Menge
mit unter, so dass die Entzifferung nicht selten völlig unmöglich
•wird. In manchen Fällen wird auch längere Zeit hindurch wahre
Paragraphie beobachtet; ich sah eine Kranke, die sich mündlich
•durchaus geläufig und fast ohne Andeutung einer Sprachstörung aus-
drücken konnte, auf dem Papier aber nur ganz unsinnige Buch-
stab encombinationen zu Stande brachte. Bei weit vorgeschrittener
Krankheit besteht meist völlige Agraphie. Die Kranken sitzen rath-
los vor ihrem Briefbogen da, ohne etwas anderes, als einige unsichere
Linien mühsam hinzumalen, um nach manchen vergeblichen Yersuchen
ihre Bemühungen aufzugeben, weil sie „Rheumatismus in der Hand"
■oder „keine Brille da hätten".
Weniger, als die Störungen bei den so überaus feinen und ver-
wickelten Leistungen des Schreibens und Sprechens, fallen zunächst
■die Innervationsanomalien bei gröberenBewegungen ins Auge. Freihch
wii^d der Paralytiker sehr bald zu allen Beschäftigungen untauglich,
welche eine besondere Handfertigkeit erfordern, zum Clavierspielen,
zum Einfädeln von Nähnadeln, zum Ausführen feiner mechanischer
Arbeiten. Späterhin treten diese ataktischen Störungen deutlicher her-
vor und können in einzelnen Fällen sehr auffallend werden. Die
täppische Langsamkeit und Ungeschicklichkeit beim Zugreifen,
Knöpfen, die stossweise, in Absätzen erfolgende Innervation beim
Drücken der Hand lässt erkennen, dass die Fähigkeit zu einer feineren
Regiüirung der Bewegungen verloren gegangen ist, wenn auch
die grobe Kraft, abgesehen von den bisweilen an die Anfälle sich
anschliessenden Hemiparesen, noch ziemlich normal erscheint Hie
imd da beobachtet man ausgeprägtes Intention szittern. Der Gang
wird allmählich unsicher, breitspurig, schlürfend; zu Zeiten, nament-
lich vor einem Anfalle, hängt der Kranke ganz nach einer Seite
hinüber. Dazu gesellen sich gewöhnlich noch die Zeichen einer
Affection der Hintersti'änge (Romberg'sches Symptom, Ataxie,
Körperliche Symptome.
591
Schleudern) oder Seitenstränge (Steifigkeit, spastischer Gang). Schliess-
lich werden die Kranken immer dauernd bettlägerig, gewöhnlich
mit mehr oder weniger ausgesprochenen Contracturen und Muskel-
atrophien.
Die allgemeine Eeflexerregbarkeit ist in der Regel erhöht,
bisweilen so stark, dass eine heftige Bewegung gegen das Gesicht
des Kranken ein Zusammenfahren des ganzen Körpers zur Folge
hat. Die Untersuchung der Sehnenreflexe erweist sich häufig als
sehr schwierig, da die Kranken ihre Muskeln durchaus nicht ent-
spannen. Gelingt es endlich, durch Zuhülfenahme der bekannten
Kunstgriffe (psychische Ablenkung, Jendrassik'sches Verfahren)
zum Ziele zu kommen, so findet man die Sehnenreflexe je nach dem
Sitze der Eückenmarkserkrankung bald hochgradig gesteigert, so
dass Fussklonus und saltatorischer Reflexkrampf (beim Aufsetzen
der Zehen auf den Boden) auftritt, bald aber auch vollständig er-
loschen (in etwa 50"/o der vorgeschrittenen Fälle). Fehlen des
Patellarreflexes scheint sich auch hier besonders häufig mit absoluter
Pupillenstarre und Myosis zu verbinden. Die elektrische Erregbar-
keit der Muskulatur soll anfangs erhöht sein; später ist sie herab-
gesetzt.
Yen Seiten der Blase sind auch ausserhalb der Anfälle häufig
Störungen vorhanden, sowol Incontinenz wie Retention, erstere meist
als Folge der letzteren (Harnträufeln). Die Trägheit des Mastdarms
kann zu massigen Kothstauungen führen; andererseits besteht in
allen vorgeschrittenen Fällen völlige Unfähigkeit, den Koth zurück-
zuhalten, zum Theü vielleicht wegen Lähmung der Schliessmuskeln,
namentlich aber deswegen, weü der Kranke die herannahende Ent-
leerung ebensowenig bemerkt, wie die Füllung der Blase bis zum
Nabel. Die sexuelle Potenz erlischt, nachdem anfangs nicht selten
die geschlechtliche Erregbarkeit stark gesteigert war.
Unter den vasomotorischen Störungen sind vor Allem die
häufigen Blutwallungen zum Kopfe, Erytheme, lange dauernde
Röthung der Haut und selbst Quaddelbildung bei leichten Reizen,
Cyanose zu nennen. Die Sphygmographencurve zeigt öfters all-
mähliches Ansteigen und Erniedrigung der GipfelweUe („tarde"
Piüsformen), Erscheinungen, die sich auf eine langsamere und wenig
kräftige Ausdehnung der Gefässwand beziehen lassen. An den zu-
gänglichen Arterien, besonders den Temporales, wird nicht selten
592
XI. Die Dementia paralytica.
starke Schlängelung und Starre als Anzeichen atheromatöser Er-
krankung beobachtet. Mit diesen Gefcässveränderungen stehen ohne
Zweifel auch die sog. „trophischen" Störungen in allernächster Be-
ziehung. Es giebt eine ganze Anzahl von Begleiterscheinungen der
Paralyse, deren Auftreten man vielfach als eine unmittelbare Folge
der Entartung gewisser ti'ophischer, die Ernährung der Organe re-
gulirender Nervenbahnen ansieht, den Decubitus, die Rippenbrüche,
die Ohi-blutgeschwulst, ja auch die so häufigen Pneumonien, die man
wol auf einen Nachlass der Yagusinnervation zurückgeführt hat.
Ein unbestreitbares wissenschaftliches und fast noch mehr- praktisches
Verdienst Guddens ist es, den Nachweis geführt zu haben, dass alle
jene Störungen nicht aus inneren Ursachen, sondern ganz ausnahms-
los unter der Einwirkung äusserer Schädlichkeiten sich entwickeln.
Freilich wird man kaum umhin können, eine Herabsetzimg der
Widerstandsfähigkeit des Organismus bei Paralytikern als begünstig-
endes Moment anzunehmen, da hier sehr sch-^ere Störungen schon
bei verhältnissmässig geringen Eeizen zu Stande kommen. Die Ent-
stehung des Decubitus erklärt sich in erster Linie dadurch, dass die
Kranken wegen ihrer TJnempfindlichkeit nicht, wie jeder Gesunde,
durch unangenehme Druckgefühle zu häufigem Lagewechsel ange-
trieben werden, oder doch wegen ihrer Unbehülflichkeit denselben
nicht auszuführen vermögen, sondern wie ein Klotz im Bette liegen.
Unter diesen Umständen kann man schon nach 1—2 Stunden, be-
sonders bei Uebereinanderliegen der abgemagerten Beine oder beim
Sitzen auf einer harten Nachtstuhlkante starke Röthung, Quaddeln-
und selbst Blasenbildung entstehen sehen, während eine einzige un-
bewachte Nacht vollauf genügt, imi eine mehrere Centimeter in die Tiefe
greifende Gangrän zu erzeugen. Rippenbrüche und Othämatome
kommen bei Paralytikern relativ häufig und bisAveilen in schrecken-
erregender Ausdehnimg zu Stande, weil die Kranken sehr imgeschickt,
dabei unruhig und vor Allem ausser Stande sind, sich zu verthei-
digen imd zu beklagen, so dass sie hülflos den Misshandlungen ihrer
Umgebung preisgegeben erscheinen. Möghcherweise spielen auch
hier besondere begünstigende Ursachen mit eine Rolle, abnorme
Brüchigkeit der Rippen, primäre Ernährungsstörungen im Ohrknorpel,
doch steht die Thatsache unzweifelhaft fest, dass mit. der bessereu
Ausbildung und Ueberwachuug des Wartpersonals die Zahl der
Rippenbrüche wie der Othämatome regehnässig abnimmt.
Körperliche Symptome. 593
Störungen der Eigenwärme sind in der Paralyse überaus
hcäufig. Flüchtige, aber oft recht bedeutende Temperatursteigerungen
werden vielfach beobachtet, ohne dass sich immer ein greifbarer
Anlass dafür erkennen Hesse. Bisweilen fördert dann eine Eingiess-
ung gewaltige Kothmassen zu Tage; die Blase ist überfüllt, oder
es wird irgendwo ein Eippenbruch entdeckt. In anderen Fällen
mögen leichte bronchitische oder pneumonische Störungen zu Grunde
liegen. Seltener dürften diese Fieberbewegungen unmittelbar mit
der Hirnerki-ankung im Zusammenhange stehen. Dagegen ist eine
solche Beziehung wahrscheinlich bei den Wärmesteigerungen, welche
die paralytischen Anfälle zu begleiten pflegen. Bei längerer Dauer
dieser letzteren ti-eten allerdings gewöhnlich noch andere fieber-
erregende Ursachen hinzu, namentiich Schluckpneumonien. In den
letzten Stadien der Paralyse kommt es nicht selten zu anhaltender
beträchtlicher Temperatursenkung, die von den Kianken auffallend
gut ertragen wird. Ich sah vor nicht langer Zeit einen Paralytiker
unter massenhafter Nahrungsaufnahme nüt Temperaturen bis zu 30,8
herunter wochenlang munter und lebhaft erregt bleiben.
Yon den übrigen Leistungen des Organismus sind es nament-
lich der Schlaf, der Appetit und das Körpergewicht, welche
durch die Paralyse durchgehends in Mitleidenschaft gezogen wer-
den. Der Schlaf ist in den ersten Stadien der Krankheit vielfach
sehr gestört, später in den Erregungszuständen oft zeitweise ganz
aufgehoben, während er gegen das Ende hin wieder besser wird,
obgleich hier bei dem blödsinnigen Hindämmern der Kranken ein
sicheres Urtheil über diesen Punkt kaum möglich ist. Bei manchen
Kranken ^entwickelt sich eine förmliche Schlafsucht, so dass sie
eigentlich nur dann wach sind, wenn sie essen oder wenn man sich
gerade mit ihnen beschäftigt, während sie unmittelbar nachher sofort
wieder einschlafen. Der Appetit pflegt anfangs und in der Auf-
regung herabgesetzt zu sein, um späterhin gewöhnlich in förmliche Ge-
frässigkeit überzugehen. Dem entsprechend sieht man das Körpergewicht
im Beginn und auf der Höhe der Krankheit siuken, dann aber bei
dauernder Beruhigung unter massiger Fettansammlung sehr bedeutend,
bis weit über die Norm hinaus ansteigen und endlich gegen das Ende
hin wieder unaufhaltsam bis zum tiefsten Marasmus herabgehen.
Die Mannichfaltigkeit der Krankheitsbüder, welche sich aus den
bis hierher besprochenen einzelnen Störungen erfahrungsgemäss zu-
Eraepelin, Psychiatrie. 4. Aufl. 38
594
IX. Die Dementia paralytica.
saramensetzen, ist eine so grosse, dass es kaum möglich erscheint,
eine auch nur einigermassen befriedigende Uebersicht über die
klinischen Gestaltungsformen der Paralyse zu geben. "Wenn wir auch
überall dem gemeinsamen Grrundzuge der psychischen Schwäche, den
Zeichen des organischen Hirnleidens und endlich dem unerbittlich
bis zur Vernichtung des geistigen und körperlichen Lebens fort-
schreitenden Yerlaufe begegnen, so können doch die gegebenen Be-
obachtungen in ilner Entwickelung wie in ihren Zustand sbildem
derartig von einander abweichen, dass dem Anfänger die allgemeine
Zusammengehörigkeit durch den starken Eindruck widersprechender
Einzelheiten völlig verdeckt wird. Erst eine vorgeschrittenere Er-
fahrung lehrt uns, dass alle die anscheinend so verschiedenartigen
Gestaltungsformen unvermittelt und unberechenbar in einander über-
gehen können und nur die oben gekennzeichneten Grundzüge „den
ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht" abgeben. Alle klinische
Einzelschilderung, alle Abgrenzung von typischen Eiankheitsbildern
auf dem grossen Gebiete der Paralyse hat daher zunächst nui' einen
sehr bedingten Werth. Immerhin wollen wir der Uebersichthchkeit
halber in Folgendem versuchen, hergebrachter Weise als hauptsäch-
lichste Verlaufsarten der Paralyse die demente, die depressive,
die expansive und die agitirte Form derselben auseinander-
zuhalten. Vielleicht lehrt uns einmal eine bessere Kenntniss der
ursächlichen oder der pathologisch-anatomischen Verhältnisse des
Leidens unter neuen Gesichtspunkten auch für die klinischen Be-
obachtungen eine zuverlässigere Gruppirung erreichen.
Die demente Form der Paralyse zeichnet sicli aus durch ein
ganz allmähliches, schleichendes Fortschreiten des Ver-
blödungsprocesses, ohne ausgeprägtere Wahnideen und
ohne lebhaftere Affectzustände. Die ersten, aber lange Zeit
hindurch von der Umgebung übersehenen Anzeichen der heran-
nahenden Krankheit sind Unfähigkeit zu geistiger Anstrengung, Ge-
dankenarmuth, Vergesslichkeit und Zerstreutheit, unmotivirte Laimen-
haftigkeit und Eeizbarkeit neben auffallender Gleichgültigkeit in
wichtigen Angelegenheiten, Energielosigkeit und Klagen über Schmerzen
oder Druckempfindungen im Kopfe. Der Kranke ermüdet rasch,
schläft gelegentlich in Gesellschaft ein; er wird unsicher und leicht
bestimmbar in seinem Urtheile, in seinen Entschlüssen, dabei oft zu
Zeiten wieder in Kleinigkeiten sonderbar eigensinnig. Bei Dingen,
Demente Form.
595
die ihm sonst durchaus geläufig waren, irrt er sich und muss sich
lange besinnen, um sich ganz einfache Daten zu vergegenwärtigen,
mit denen er vielleicht täglich zu manipuliren hatte. So kommt es,
dass er anfängt, in seinen gewohnten Terrichtungen unordentlich
und nachlässig zu werden. Er versäumt seine Dienststunden, wichtige
Correspondenzen, vergisst die Adressen auf seinen Briefen, ver-
liert oder verlegt werthvolle Objecte, Geld, Acten, kommt mit seinen
Arbeiten gar nicht oder nicht rechtzeitig zu Stande und lässt sich un-
begi-eifliche Versehen zu Schulden kommen, orthographische Schnitzer,
grobe Rechenfehler u. dergi., ohne es selbst recht zu bemerken.
Die gemüthliche Erregbarkeit pflegt dabei meist mehr und
mehr zu schwinden. Der Kranke wird stumpf, theilnahmlos, zeigt nicht
das geringste Interesse mehr für die Personen und Dinge, die ihn
am nächsten angehen. Die Yorhaltungen, die ihm wegen seiner
Verstösse gemacht werden, nimmt er ohne nachhaltige Eeaction hin ;
er versteht kaum, was man von ihm will, da er den üeberblick
über seine Berufsthätigkeit bereits vollkommen verloren hat. Viel-
fach fällt bei ihm eine Art schwachsinniger Zufriedenheit auf, die
sich in seinem stillvergnügten Lächeln, den freundlichen Menen bei
jeder Anrede und den herzlichen Begrüssungen ganz fremder Per-
sonen kundgiebt. Trotz des raschen geistigen Verfalles fühlt sich
der Kranke doch ganz gesund und leistungsfähig, ist überall „gern
da", findet Alles ausgezeichnet und vortrefflich. In andern Fällen
dagegen besteht doch eine gewisse allgemeine Vorstellung von der tief-
greifenden Veränderung, die sich mit der eigenen Persönlichkeit
vollzogen hat. Der Kranke klagt selbst über die Langsamkeit und
Schwerfälligkeit seines Denkens, über seine Vergesslichkeit, und sucht
deswegen ärztliche Hülfe auf, ja er rafft sich vielleicht sogar in
der mehr oder weniger klaren Furcht vor dem bevorstehenden
Leiden zu eiaem Selbstmordversuche auf, wenn derselbe auch
bei dem Schwachsinn und der Energielosigkeit der Kranken häufig
ergebnisslos bleibt. Mir selbst sind mehrere derartige Fälle vor-
gekommen.
Nach und nach geht aber auch jenes dumpfe Krankheitsbewusst-
sein verloren. Der Kranke wird allmählich immer interesseloser,
blöder, vergesslicher, zeitweise ganz verworren und zieht sich auf
einen immer mehr zusammenschrumpfenden Schatz von einfachen
Vorstellungen und Verkehrsfomien zurück. Er hört gänzlich auf,
38*
596
XI. Die Dementia paralytica.
sich um seine häuslichen und Berufsangelegenheiten zu kümmern,
kommt mit den einfachsten Aufgaben nicht zu Stande, verirrt sich
in seiner eigenen Wohnung und erkennt vielleicht seine nächsten
Angehörigen und Preunde nicht mehr. Hie und da taucht nun auch
wol ganz vorübergehend einmal eine flüchtige Wahnvorstellung in
dem Kranken auf, dass man ihn bestohlen habe, dass er an der
Schwindsucht leide, eine ungewöhnlich schöne Stimme besitze, eine
reiche Frau heirathen werde. Dabei ist er nach Aussage der An-
gehörigen meist „unendlich gut", andauernd ruhig, harmlos, lenksam
und reagirt auf alle Anreden mit freundlichem, ausdruckslosem
Lächeln. In anderen Fällen begegnet man vielmehr einem eigen-
thümiich abstossenden, negirenden Wesen. Die .Kranken geben auf
jede Anrede unwirsche, zurückweisende Antworten ohne klares Mo-
tiv, ohne eigentlichen Affect und ohne sich durch freundliches Zu-
reden beeinflussen zu lassen; sie sträuben sich gegen die best-
gemeinten Massregeln und lassen auch in diesem bomirten Wider-
stande den bereits weit vorgeschrittenen Blödsinn erkennen.
Sehr deutlich tritt gewöhnlich ein stumpfsinniges, rücksichts-
loses Interesse für gröbere Genüsse hervor. Der Kranke isst, trinkt,
raucht, so lange ihm die Genussmittel erreichbar sind, unempfindlich
gegen aUe sich aus seiner Gier ergebenden Folgen. Gerade aus
dieser Quelle entspringen die letzten Lustgefühle, welche die gleich-
massige Apathie des Stimmungshintergrundes bisweilen noch vorüber-
gehend erhellen. In der Eegel wird die Krankheit, da der Patient
ganz aufhört, zu klagen, viel schläft, einen vorzüglichen Appetit zeigt
und an Körpergewicht stark zunimmt, von der Umgebung erst dann
gewürdigt, wenn der Blödsinn schon sehr weit gediehen ist. Die
Angehörigen gewöhnen sich, wie es scheiut, so sehr an den all-
mählich fortschreitenden Untergang der psychischen Persönlichkeit,
dass sie oft gar nicht von der Schwere der Störung zu überzeugen
sind und die bescheidensten geistigen Eegungen als Anzeichen nahezu
völliger Gesundheit betrachten. „Er weiss doch noch AUes", meinen
sie, wenn der Kranke seine Frau erkennt oder sich zufällig zu ent-
sinnen vermag, dass er Kinder besitzt. Mii- wurde ein derartiger
Kranker zugeführt, der noch den verantwortungsvollen Posten eines
Cassirers bekleidete, als er sich bereits häufig verunreinigte und ganz
einfache Additionen nicht mehr auszuführen im Stande wai\ Ein
Anderer, ein Arzt, kam unmittelbar aus seiner umfangreichen Praxis
Depressive Form.
597
selber ins Krankenhaus, um sich ein Panaritium operiren zu lassen.
Als er sich hier in der Nacht veriiTte und in die Frauenabtheilung
gerieth, wurde entdeckt, dass er bereits hochgradig blödsinnig war
und die Dosirung des Morphiums nicht mehr kannte.
Die demente Form ist vielleicht die häufigste Verlaufsart der
Paralyse überhaupt, wenn sie auch dem Irrenarzte verhältnissmässig
seltener vorzukommen pflegt. Sehr bemerkenswerther Weise gehört
namentlich die überwiegende Mehrzahl der Erkrankungen beim weib-
lichen Geschlechte*) diesem Typus an, ohne dass wir dafür
ausser etwa der geschützteren Stellung des Weibes gegenüber Excessen
und äusseren Schädlichkeiten, irgend einen Grund aufzufinden ver-
möchten. Ferner scheinen jene vereinzelten Fälle, in denen die sehr
langsame Entwickelung der Krankheit mit den Erscheinungen der
Tabes beginnt, an die sich erst später die paralytischen Symptome
anschüessen (ascendirende Form), ebenfalls zumeist das Büd des
einfachen fortschreitenden Blödsinns darzubieten.
Die Dauer der dementen Form ist, entsprechend ihrem schleichen-
den Yerlaufe gewöhnlich eine verhältnissmässig lange; sie beträgt
im Durchschnitte 4 — 5 Jahre, doch habe ich auch Fälle von weib-
hcher, wie von ascendirender Paralyse beobachtet, die 8 — 10 Jahre
und selbst noch länger dauerten.
Die depressive Porm der Paralyse ist charakterisirt durch
depressive Terstimmung und Wahnideen, welche den ganzen
Krankheitsverlauf bis zur völligen Verblödung des Kranken begleiten.
Ihren Ausgangspunkt nimmt die psychische Depression häufig von
dem Krankheitsgefühle des Eingangsstadiums, welches im TJebrigen
die gleichen, schon oben geschilderten Symptome einer allmählich
fortschreitenden Schwäche des Gedächtnisses und der InteUigenz,
einer erhöhten äugen bhckhchen Eeizbarkeit neben gemüthlicher
Stumpfheit und Energielosigkeit darbietet. Es sind daher zumeist
hypochondrische Ideen, in denen sich die Verstimmung der
Kranken ausdrückt. Sie sind unheübar krank, syphilitisch, innerüch
verfault; es haben sich Gefässveränderungen entwickelt, weil ihnen
früher einmal ein Blutegel angesetzt wurde; der Schädel ist weich
geworden, an einer Stelle aufgetrieben, das Gehirn eingetrocknet.
Meist bestehen mannichfache unangenehme Empfindungen in den
*) Jacobsen, Dementia paretica hos Evinden. 1891.
598
XI. Die Dementia paralytica.
verschiedensten Partien des Körpers. Die Kranken suchen daher
wegen .allerlei wenig greifbarer Beschwerden die Hülfe des Arztes
auf, der sie beim Mangel oder bei Nichtbeachtung eines objectiven
Befundes für neui'asthenisch, hysterisch, hypochondrisch erklärt.
Alhnählich gewinnen die Klagen der Kranken emen ganz un-
sinnigen Inhalt. Sie haben keine Nase, keine Augen mehr, haben
zAvei Leiber; der Schlund, der Mastdarm ist ihnen zugewachsen,
durch einen Kork verschlossen, so dass sie weder etwas geniessen.
noch etwas entleeren können. Der Schädel ist leer; die Eingeweide
sind verfault, mit Milben vollgestopft. Der Magen, ja auch die
Matratze füllen sich immerfort mit Urin; das Essen steigt in den
Kopf hinein oder fällt nur gerade so hinimter; die Lungen sind
verschwunden. Es ist Musik im Leibe; Alles ist mit Gestank erfüllt.
Der Kopf ist ganz klein zusammengeschrumpft, ausgewechselt oder
gänzlich verloren gegangen, die Zunge angefroren, der Leib auf-
geblasen. Arme und Beine haben sich ungeheuerlich ausgedehnt;
die Ohren sind von Holz, die Zimge von Gold; in der Seite stecken
3000 Mark. Der ganze Mensch ist verdoppelt, viereckig, in ein Pferd
verwandelt, unsichtbar, bereits gestorben, ist „schon längst nichts
mehr gewesen", begraben, eine „lebendige Leiche." Alle diese „miki-o-
manischen" Yorstellungen versetzen den Kranken in lebhaftes Un-
behagen imd vermögen, wenn sie auch zumeist nicht weiter ver-
arbeitet werden, doch sein Benehmen oft lange Zeit zu beeinflussen.
Er bemüht sich wochenlang mit aller Energie, durch seinen zu-
gewachsenen Schlund etwas hindurch zu bringen, manipulirt un-
ablässig an seiner Zunge, am After, an den Genitalien herum, sitzt
mehrere Stunden täglich auf dem Nachtstuhl in der verzweiüungs-
vollen Erwartung dessen, was da kommen soll; er vermeidet ängst-
lich jede Lageveränderung, weü er seine ungeheueren Hände nicht
bewegen kann oder die winzigen Beine unter der Last des mächtigen
„Kikerikikopfes" zusammenbrechen müssten.
Seltener, als die hypochondrische Form der depressiven Paralyse,
ist das Auftreten von Yersündigungsideen. Unter den allgemeinen
Zeichen allmählicher Verblödung wird der Kranke wortkarg, in sich
gekehrt, verstört, betet viel und bringt einzelne abgebrochene Selbst-
anklagen vor, er habe einen Meineid geleistet, gestohlen, Deutschland
verrathen. Alles ermordet und ins Unglück gestürzt, die ganze
Welt zu Grunde gerichtet, etwas Schreckliches begangen. Einer
Depressive Form.
599
meiner Kranken schrieb einen langen Brief an den Erzbischof, in
welchem er mit genauen Zahlenangaben die verschiedenartigsten
Unkeuschheiten aufführte, die er sich habe zu Schulden konmien
lassen. Bisweilen werden die Vorwürfe von. hallucinatorischen Stimmen
erhoben, che den Eä'anken in. grosse Angst versetzen. Im Anschlüsse
an die Versündigungsideen fürchtet der Kranke gewöhnlich, dass
die Poüzei kommen, ihn aufgreifen, arretiren, vergiften, verbrennen
•werde; er sieht in den Personen seiner Umgebung Spione und
gedungene Mörder.
Solche und ähnliche Verfolgungsideen können auch den
einzigen Inhalt des depressiven Wahnes bilden. Dieselben werden
dann meist von Gehörstäuschungen begleitet. Der Elranke hört
von der Strasse herauf, im Sausen des Windes, in den Fusstritten
seiner Umgebung Stimmen, die ihn bedrohen, beschimpfen und
der scheusslichsten Verbrechen beschuldigen. Man will ihn und
seine armen Kinder umbringen, ihm den Leib aufschneiden; er
soll fortgeschleppt, vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Im
Essen ist Gift, Ungeziefer, Menschenfleisch; er soU gestohlen, sich
mit Thieren vergangen haben. Von Knoten werden immerfort
schreckliche Verbrechen vollführt; es wii-d bei ihm eingebrochen,
Feuer angelegt. Ein harmloses Geräusch im Nebenzimmer kündigt
ihm zu seinem grössten Entsetzen die Eäuber an, die sich im nächsten
Augenblicke auf ihn stürzen werden. Ein derartiger Kranker meiner
Beobachtung verwüstete in seiner Angst sehi ganzes Zimmer und hätte
um ein Haar seine Frau umgebracht, die er für einen Einbrecher
hielt' bis man sie mit genauer Noth aus seiner Gewalt befi-eite.
Die Besonnenheit pflegt sich bei diesen letzteren Formen der
depressiven Paralyse vielfach zu trüben. Die Kranken verlieren
meist rasch die Fähigkeit zu ruhiger Auffassung ihrer Lage und
ihrer Umgebung; sie sind ganz von verworrenen Schreckbildern
erfüllt, die sie in die namenloseste Angst versetzen. Gerade hier
kommen häufig Angstzustände zm^ Beobachtung, welche an Heftigkeit
vielleicht Alles übertreffen, was man bei anderen Kraukheitsformen
zu erieben pflegt. Die lü-anken sind in fassungslosester VerzAveiflung,
schreien unausgesetzt aus Leibeskräften, sehen sich mit dem Aus-
drucke des Entsetzens bei jedem Geräusche imi, in der ErM^artung,
von irgend etwas Schrecklichem beti-offen zu werden. Sie sind ganz
unfähig zu irgend einem Entschlüsse, sitzen rathlos im Hemde oder
600
XI. Die Dementia paralytica.
vor ihrem Essen da, ohne sich zum Ankleiden oder Zugreifen auf-
raffen zu können. Schliesslich wagen sie sich nicht mehr aus ihrem
Zimmer, ja aus ihrem Bette heraus, in welchem sie, am ganzen Leibe
zitternd und schwitzend, mit hochgezogener Decke hegen, um jedem
äusseren Eingriffe einen blinden, rücksichtslosen "Widerstand ent-
gegenzusetzen. Durch keinerlei Beeinflussung sind sie zu den ein-
fachsten Massregeln zu bringen, so dass die Bettlagerung, das Auf-
stehen, An- und Auskleiden immer erst nach verzweifeltem Eingen
mit dem vollständig verwirrten Kranken erreicht werden kann. Nicht
selten kommt es zu gewaltthätigen, aber meist sehr unüberlegten
und unsinnigen Selbstmordversuchen oder Selbstverstümmelungen.
Einer meiner Kranken suchte sich das Sero tum aufzureissen; ein
Anderer hieb sich mit einem Beile glatt die gesammten äusseren
Genitalien ab , weil ihm Stimmen vorwarfen, dass er sich vor Jahren
von einem Herrn hatte manustupriren lassen; er wollte sich an dem
Ghede strafen, mit dem er gesündigt hatte. Noch Andere ver-
schlucken grosse Gegenstände, um sich zu tödten; ich fand noch
vor Kurzem im Darm eines derartigen Kranken eine dicke Weichsel-
cigarrenspitze und zwei mehrere Zoll lange Schrauben.
Die Dauer der heftigen Angstzustände schwankt zwischen
Stunden und Wochen. Nicht selten verschwindet die ängstliche
Spannung ganz plötzlich, um ebenso unvermittelt sich wieder ein-
zustellen. Im Uebrigen sind die Kranken niedergeschlagen und
verstimmt, aber ruhig, oft auch im Zusammenhalte mit den von
ihnen geäusserten Ideen auffallend affectlos. Zuweilen schieben sich
vorübergehend Zeiten gehobener Stimmung mit einzelnen kindischen
Grössenvorstellungen dazwischen. Ueberhaupt fehlt der gemüthüchen
Erregung durchaus jene Nachhaltigkeit und Einheithchkeit, welche
den nicht paralytischen Depressionszuständen eigenthümlich ist.
Wir haben hier endhch noch kurz einer kleinen Gruppe von
Fällen zu gedenken, in denen systematisirte Verfolgungsideen
entwickelt werden. Die Kranken sind ruhig, vollkommen besonnen,
geordnet und erzählen in zusammenhängender Weise, dass man seit
einiger Zeit etwas gegen sie im Schilde führe, sie aus dem Wege
räumen wolle, dass sie beobachtet würden, unter polizeilicher Ueber-
wachung stünden, wahi'scheinlich fälschlich irgend eines Verbrechens
bezichtigt würden. Der Inhalt jener Darlegungen gleicht zunächst
ganz denjenigen der Paranoiker. Erst bei genauerer Prüfung ent-
Expansive Form.
601
decken wir einzelne handgreifliche, von dem Kranken aber gar nicht
bemerkte Widersprüche in seinen Erzcählungen, trotzdem er an-
scheinend ganz klar und intelligent ist. Wiederholte Darstellungen
desselben Vorganges weichen von einander ab; es gelingt verhältniss-
mässig leicht, den Kranken in seiner Auffassung wankend zu machen
und zum Eingeständnisse zu bringen, dass er sich geirrt habe. Er
zieht aus seinen wahnhaften Vorstellungen nicht die naheliegenden
Schlussfolgerungen für sein Handeln, sondern zeigt gerade in dieser
Beziehung eine auffallende Weichheit und Unschlüssigkeit. Einer
meiner Kranken, ein sehr thatkräftiger und umsichtiger Grosskauf-
mann, der bei längerer Unterhaltung sonst vollständig normal er-
schien, behauptete in aller Gemüthsruhe, dass seine Frau ihn durch
geschlechtliche Ueberreizung und durch planmässige, geheimnissvoUe
Anspielungen mit Hülfe der Spiritisten geisteskrank zu machen und
zum Selbstmorde zu treiben suche, um in den Besitz seiner
Lebensversicherung zu gelangen. Trotzdem Hess er sie sich von
Amerika nachkommen und suchte sie soviel wie irgend möglich in
seiner Nähe zu haben.
Im weiteren Verlaufe aller im Vorstehenden geschilderten
Formen wird allmählich der Inhalt der verschiedenen Wahnideen
immer dürftiger, während die allgemeine Färbung der Stimmung
und namentlich gelegentliche Angstzustände sich bis zur völügen
Verblödung erhalten können. Schliesslich allerdings geht auch der
Affect in der gleichförmigen Unempfindlichkeit eines stumpfen Blöd-
sinns unter. Die gesammte Dauer der Erkrankung ist hier im
Allgemeinen eine kürzere, als bei der dementen Paralyse und
dürfte im Durchschnitte etwa 2 — 3 Jahre in Anspruch nehmen.
Die expansive Pom. Bei der expansiven Paralyse folgt auf
die einleitenden Erscheinungen, deren Gang vollständig der früher
gegebenen Schilderung entspricht, zunächst ebenfalls eine kürzer
oder länger dauernde Zeit der Depression, an welche sich aber dann
ein Zustand heiterer Erregung mit blühendem Grössenwahn
anschliesst. Die Depression hält sich vielfach im Rahmen einer
einfachen, traurigen oder missmuthigen Verstimmung mit einzelnen
hypochondrischen Klagen oder leichten Versündigungsideen. Das
ganze Leben ist verpfuscht, der Körper ruinirt; der Kranke hat
nicht als ehrlicher Mensch gehandelt, unwürdig communicirt. Nicht
selten indessen beobachten wir hier auch die soeben geschilderten
602
XI. Die Dementia paralytica.
Erscheinungen der depressiven Paralyse in voller Ausbildung, mit
mächtigen AiJecten und beängstigenden Wahnvorstellungen. Die
Dauer solcher Zustände kann sich über viele Monate, selbst über
Jahr und Tag hin erstrecken.
Die Wandlung des Krankheitsbildes vollzieht sich gewöhnlich
ganz allmählich, seltener plötzhch und unvermittelt binnen wenigen
Tagen. Die Angst und Traurigkeit verliert sich; die quälenden
Wahnideen treten in den Hintergrund, allein der Kranke gewinnt
keine Einsicht in sein Leiden, zeigt vielmehr einen merkwürdigen
Mangel an Yerständniss für seine wahre Lage. Seine Menschen-
scheu ist verschwunden; er wird zugänglich, lebhaft und gesprächig,
beginnt „aufzuleben" und geräth nun gewöhnlich rasch in jenen
eigenartigen Erregungszustand, welcher vor Allem als klinisches
Krankheitsbild der Dementia paralytica bekannt geworden ist.
Als auffallendste Erscheinung, Avelche auch die volksthüinliche
Bezeichnung des ganzen Leidens bestimmt hat, stellt sich alsbald
der paralytische Grössenwahn ein, die „Megalomanie". Der Inhalt
desselben umfasst die gesammten Beziehungen des Kranken, seine
körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, sein Wissen, seine äussere
Stellung, seinen Besitz, seine Zukunft. Zunächst halten sich die
Grössenideen vielleicht noch im Bereiche des Denkbaren imd Mög-
lichen und machen den Eindruck kindisch aufdringlicher Prahlereien.
Der Kranke fühlt sich so kräftig, wie noch nie, ist auffallend gut
conservirt, sehr gebildet, versteht viele Sprachen, hat wunderschöne
Töchter. Er macht vortreffliche Gedichte, hat eine ausgezeichnete
Stimme, verkehrt nur mit feinen Leuten, ist sehr angesehen, kann
jeden Tag die besten Partien machen. Sein Geschäft geht glänzend,
wirft ein schönes Geld ab ; er wird es bedeutend vergrössern, überall
EiHalen anlegen, das grosse Loos gewinnen, sich ein Schloss bauen,
Keichstagsabgeordneter werden. Schon jetzt indessen tiitt die be-
deutende psychische Schwäche des Kranken in der widerspruchs-
vollen Zerfahrenheit seines Wahnes, in der traumhaften Unbefangen-
heit, mit der er seine Luftschlösser aufbaut, und in der IJrtheils-
losigkeit gegenüber den nächstliegenden Einwänden niu- allzu deutlich
hervor. Ein armer Gemeindeschreiber erzählte mir triumphii'end,
dass er für jeden Tag seines Anstaltsaufenthaltes 1000 Eubel Ent-
schädigung verlangen und dann mit dem erhaltenen Gelde herrlich
und in Ei-euden leben werde. Andere berauschen sich an dem
Expansive Form.
603
Plane, von nnn an einfach alle Waaren mit 50 o/o Nutzen zu ver-
kaufen oder sämratlicbe Lotterieloose zu erwerben, damit ihnen das
grosse Loos sicher nicht entgehen könne.
In der Eegel nimmt die Unsinnigkeit und Abenteuerlichkeit
des Grössenwahns rasch und unaufhaltsam zu. Der Ki-anke glaubt
über ungeheure Körperkräfte zu verfügen, kann zehn Elephanten
heben, ist der schönste Adonis der Welt, „schläft wie Tausend in
einer Nacht", wiegt vier Centner, hat eine eiserne Brust, geht in
einer Minute tausend Meilen weit, kann fliegen; sein Urin ist Ehein-
wein, seine Excremente Gold. Er hat alle Wissenschaften studirt,
spricht sämmtliche Sprachen der Welt, plaudert mit dem lieben Gott,
trinkt täghch hundert Flaschen Champagner, kann tausend Weiber
befriedigen, alle Krankheiten curiren, Todte auferwecken, wird nie-
mals sterben. Dabei ist er Graf, Eürst, „Kaiser, Gott und Eothschild",
einstimmig zum deutschen Kaiser gewählt, „der höchsten Natur zu-
getheilt", Obergott, „seine eigene Grossmutter im Cubus", besitzt
sämmtüche hohe Orden, blauseidene Wäsche, Berge von Gold, ein
ungeheures Vermögen, Millionen mal Milliarden, ausgedehnte Jagd-
gründe, 600 Orloftraber, ungezählte Yiehheerden in Marmorställen,
100000 Schiffe, jedes hundert Euss lang und hundert Fuss breit,
mit 10000 elektrischen Schrauben, Königreiche, Erdtheile, ja die
ganze Welt. Er hat grosse Eeisen gemacht, war in Amerika, Jerusalem
und Kamerun, überall auf seinem eigenen Kriegsschiffe; er wird die
Kaiserin heirathen, jedem der Mitpatienten eine Million schenken,
dem Arzte eine ]\Iillion Gehalt zahlen „und die Kost", eine Brücke
.über den Ocean nach Indien bauen, einen Thurm errichten in einem
Garten, der tausend Meilen lang ist, mit goldenem Dach, mit eigenem
Theater und Circus; er wird eine Flugmaschine erfinden und im
Weltall herumfliegen, ein Bergwerk bis nach Californien durch die
Erde graben u. s. f. Meist spiegeln sich die persönlichen Lebens-
verhältnisse und Interessen in diesen Ideen wieder, aber immer in
unsinniger Verzerrung. Frauen prahlen mit ihrer Schönheit, ihrem
Schmuck, ihren zahlreichen und schönen Kindern, deren sie täglich
■zwei oder mehrere gebären, erwählen sich die höchsten Würden-
ti-äger zu Männern. Bemerkenswerth ist es, dass im Allgemeinen
die Grössenideen der weiblichen Paralytiker sich in bescheideneren
Grenzen zu halten und nicht so ungeheuerlich über das Mögliche
hinauszugehen pflegen, wie diejenigen der Männer.
604
XI. Die Dementia paralytica.
Das Bewnsstsein der Kranken ist während der Entwickelung
des Grössenwahnes meist leicht getrübt. Die Umgebung wird nur
unvollkommen und bruchstückweise von ihnen aufgefasst und ver-
standen. Ueber Zeit, Ort und Omstände vermögen sie sich keine
klare Kechenschaft zu geben, wie sich bei eingehender Prüfung
bald herauszustellen pflegt. Sie kümmern sich auch wenig um die
wirklichen Yorgänge, sind vielmehr ganz von ihren traumhaften
Glücksvorstellungen und Plänen in Anspruch genommen. Der Zu-
sammenbang ibi-es Gedankenganges ist regelmässig ein sehr lockerer.
Wie sie der Augenblick eingiebt, folgen die verschiedenartigsten
Ideen einander, in buntem Wechsel, unverarbeitet, voll der hand-
greiflichsten Widersprüche. Seltener werden einzelne Bestandtheile
des Wahnes längere Zeit hindurch festgehalten; meist wird Alles
rasch wieder vergessen oder durch Neues verdrängt. Vielfach be-
steht deutliche, bisweilen sogar hochgradige Ideenflucht. Namentlich
in den Schriftstücken der Kranken, bei den Aufzählungen ihrer
Wünsche, Aufträge und Pläne pflegt diese Erscheinung klar hervor-
zutreten.
Die Stimmung des Kranken ist, übereinstimmend mit dem
Inhalte seines Wahnes, freudig gehoben, selbstbewusst und hofihungs-
voll. Sie steigert sich vielfach zu ganz überschwängücher, un-
beschreiblicher Glückseligkeit. Der Kranke dankt dem Himmel
unter heissen Freudenthränen, dass ihm eine solche Wonne beschieden
sei. Die ganze Welt möchte er umarmen und beglücken, wie er
selbst dadurch beglückt ist, dass sich nun sein Schicksal so wunder-
schön und herrlich gestaltet hat. AUes, was ihn lungiebt, ist un-
übertrefflich und köstlich; seine Mahlzeiten, seine Wohnung, seine
Kleider sind eines Königs werth, seine Freunde und Bekannten
ausgezeichnete, edle, hochgebildete Männer, seine Kinder voll-
endete Muster an Wohlerzogenheit und Yerstand.
Andererseits jedoch besteht häufig auch eine ausserordentliche
Eeizbarkeit. Namentlich Zweifel oder Widerspmch gegenüber den
Grössenideen bringen den Kranken leicht in heftigen, aber rasch ver-
rauchenden Zorn, um so mehr, wenn er gerade nichts auf die Ein-
wände zu erwidern weiss. Auch andern Kranken gegenüber wird
er bisweilen rücksichtslos gewaltthätig, da er nicht das geringste
Terständniss für deren Zustand hat, sondern sie ohne Weiteres
für freche Schwindler und für vollständig gesund erklärt. Er droht
Expansive Form.
605
dann, durcli seine Ai-tillerie Alles zusammenschiessen, die ganze
Gesellschaft in Ketten scliliessen, „von 100 Kamerunnegern mit
eisernen Peitschen dui-chprügeln" zu lassen. Nicht selten beobaclitet
man ganz plötzliches Umschlagen der Stimmung in tiefe Depression
oder lebhafte Angst mit krampfhaftem Weinen und einzelnen
hypochondrischen oder Verfolgungsideen. Freilich pflegen solche
Anwandlungen einige Stunden oder Tage nicht zu überdauern.
Auf psychomotorischem Gebiete fällt an dem Kranken fast
immer eine gewisse Erregung auf, die sich unter Umständen zu
sehr erheblichen Graden steigern kann. Der Kranke ist unstät, viel-
geschäftig, unternehmungslustig, treibt sich planlos herum, knüpft
überall Bekanntschaften an, benimmt sich auffallend, lärmend, spricht
laut, geräth leicht in Streit, fängt an, stark zu trinken, zu rauchen,
zu schnupfen, geschlechtlich zu excediren. Sehr bald beginnt er
auch, an die Yerwii'klichung der grossen Pläne zu gehen, welche
ihm aus dem Gefülile unbegrenzter Leistungsfähigkeit und aus seinem
lebhaften Thatendrange hervorwachsen. Ohne jede Ueberlegung
nimmt er die verschiedenartigsten Projecte in Angriff, die nicht nur
über sein Verständniss und seine Geldmittel, sondern sehr bald auch
über das Mögliche überhaupt hinausgehen. Allerdings bleibt es
regelmässig bei einigen unsinnigen einleitenden Schritten, weil rasch
eine neue Idee die frühere verdrängt. Er vergrössert plötzlich sein
Geschäft, fängt an, zu bauen, schliesst eine ganz unpassende Ehe
oder betreibt seine Scheidung, um eine vornehme Partie zu machen,
telegraphiert an Souveräne mit der Bitte um hohe Orden oder
Titel, macht grossartige Geschenke, kauft auf, was ihm vor das
Gesicht kommt, und bestellt ungemessene Mengen der verschiedensten
Gegenstände, die er zur Ausführung seiner Pläne zu brauchen
glaubt. Einer meiner Kranken, der reich und Liebhaberphotograph
war, sandte eine Depesche ab, mit dem Ersuchen, ihm für seinen
Gebrauch Pyrogallussäui-e im Werthe von 200000 Mark zu senden.
Andere studiren die Anzeigentheile der Zeitungen und nehmen
kurzer Hand Alles in Anspruch, was dort angeboten wird, Papageien
und Köchinnen, Kaleschen, Landhäuser und Heirathsparthien. Auf
diese Weise erklärt sich die ausserordentliche Geschwindigkeit, niit
welcher die Kranken grosse Summen verschwenden, die heilloseste
"Verwirrung anrichten und über sich selbst wie über ihre Angehörigen
die schwersten Unannehmlichkeiten heraufbeschwören.
606
XI. Die Dementia paraljtica.
Dazu kommt, class sich in ihrem ganzen erregten und kopflosen
Handeln deutiich jene Abstumpfimg des sittlichen Gefühles geltend
zu machen pflegt, welche durch die Erkrankung regelmässig herbei-
geführt wird. Die Kranken werden nicht mn nachlässig in ihrem
Aeusseren, unsauber und unordentlich in der Kleidung, sondern sie
verlieren auch das Yerständniss für die einfachsten Anforderungen
des Anstandes, erzählen schmutzige Geschichten, befriedigen ihre
Bedürfnisse ohne Kücksicht auf die Umgebung, rühmen in cynischer
Weise die geschlechtlichen Yorzüge ihrer Frauen oder Töchter,
zeigen sich mit öffentlichen Dirnen auf der Steasse oder suchen die-
selben bei Bekannten einzuführen. Ja, wir sehen die Kranken sogar
nicht selten geradezu gefährliche und verbrecherische Handlungen
begehen, kleine Diebstähle, plumpe Betrügereien, unsittliche Angriffe.
Meist verfahren sie dabei so unüberlegt, dass sie sofort entdeckt
werden. Einer meiner Kranken ergriff auf dem Bahnhofe ohne
"Weiteres den Koffer eines neben ihm sitzenden Eeisenden und wollte
damit verschwinden. Da er nachher trotz des offenkundigsten Augen-
scheines oft einfach Alles ableugnet, wird der Kranke bisweilen für
einen ganz besonders frechen und geriebenen Gauner gehalten. Erst
dann, wenn er die verschiedensten Vergehen gegen die öffentliche
Ordnung, gegen die Schamhaftigkeit, Widerstand gegen die Staats-
gewalt-u. s. f. begangen und seine Familie binnen kurzer Zeit an
den Bettelstab gebracht hat, wird er endlich, gemisshandelt und ge-
massregelt, heruntergekommen, von Ausschweifungen erschöpft, als
krank in die Anstalt eingeliefert.
Yielfach tritt .nunmehr eine gewisse Beruhigung ein, in welcher
der Kranke seine Grössenideen und Pläne zum Theil ableugnet, zum
Theil aber auch mehr oder weniger geschickt zu begründen weiss.
Für die Beobachtung in der Anstalt kann er, der bisweilen nach-
drücklich seine Befreiung verlangt, abgesehen von einem gewissen
Grade des Schwachsinns, unter Umständen annähernd gesund er-
scheinen, doch ergiebt sich nach einem Entlassungsversuche früher
oder später in dem Handeln des Kranken ausnahmslos die tiefe
Störung, welche seine gesanunte Persönlichkeit erfahren hat An-
dererseits kann das unsinnige Grössendelirium auch längere Zeit,
oft viele Monate und selbst Jahr und Tag hindui-ch in allmählich
immer ausschweifenderer und zerfahrenerer Form fortdauern. Man
bemerkt sehr bald, dass die ursprüngliche Regsamkeit und Reich-
Expansive Form.
607
haltigkeit des Yorstellungslebens mehr und mehr verloren geht. Die
"Wahnideen werden dürftiger nnd zusammenhangsloser, widerspruchs-
voller; die Stimmung wii-d matter und theilnah mioser, und der
Thatendrang beschränkt sich schliesslich auf das Verfassen von un-
entzifferbaren Briefen und Depeschen, das Entwerfen kindisch un-
geschickter Zeichnungen und Pläne und das Schreiben endloser
Zahlenreihen, in denen sich das unermessliche Vermögen des Kranken
oder der Gewinn ausdrückt, den er durch seine Unternehmungen
zu erzielen hofft.
Nach und nach wird der Kranke immer blödsinniger und
stumpfer, wenn auch ein matter Abglanz des Grössenwahns bis-
weilen noch lange Zeit seinen Stimmungshintergrund erhellt. Zu-
fiieden, mit freundlichem, glücklichem Gesichte, sitzt er da und lallt
vielleicht noch mit kaum verstäudlicher Sprache einzelne aus den
Grössenideen herübergenommene Worte: „gutes Essen", „Millionen",
„schöne Pferde", „goldene Kaiserin", bis endlich' auch die letzte der-
artige Erinnerung mit der vollständigen Vernichtung der psychischen
Persönlichkeit erlischt. Die Dauer der expansiven Paralyse kann,
man im ]\Iittel auf 3—4 Jahre veranschlagen; sie ist indessen sehr
grossen Schwankungen unterworfen. Nicht selten erfährt man, dass
schon mehrere Jahre vor dem deutlicheren Hervortreten der ein-
leitenden Störungen vorübergehend einzelne Krankheitserscheinungen,
namentlich Schwindelanfälle, Eeizbarkeit u. dergl. beobachtet wurden.
Ich sah noch 1884 einen Fall, in welchem durch derartige Vorboten
ein ursächhcher Zusammenhang mit dem Ea-iege von 1870 wahr-
scheinlich wurde.
Das Schwanken zwischen depressiven und expansiven Zuständen,
wie wir es soeben kennen gelernt haben, kann sich in einzelnen
Fällen mehrmals hintereinander wiederholen, so dass kürzere oder
längere Stadien heitersten Grössenwahns mit dem Versinken in ängst-
liche Verstimmung, hypochondrische Verzweiflung oder völlige
Stiimpfheit abwechseln. Diese Verlaufsart hat man auch wol als
circuläre Form der Paralyse bezeichnet. Die äussere Aehnlichkeit
mit gewissen Fällen von circulärem Irresein ist bisweilen eine sehr
grosse. Trotzdem wird man sie von diesem letzteren Avegen ihrer
schleppenden Entstehungsweise in reiferem Lebensalter, wegen der
Unregelmässigkeit der einzelnen Phasen, wegen der deutlichen An-
zeichen zunehmender psychischer Schwäche, wegen der nervösen
€08
XI. Die Dementia paralytica.
■Störungen und des fortschreitenden Verlaufes bei längerer Beobachtung
immer abzugrenzen im. Stande sein.
Die agitirte Form der Paralyse unterscheidet sich von der
expansiven Form hauptsächlich dadurch, dass bei ihr ein ausgeprägtes
depressives Stadium der Krankheit fehlt und von vornherein die
expansive Färbung der Stimmung wie des Vorstellungs-
inhaltes in den Vordergrund tritt. Allerdings geht auch bei
ihr dem eigentlichen Ausbruche der Krankheit zumeist eine Ein-
leitungszeit mit den früher geschilderten Erscheinungen voraus;
dieselbe ist jedoch häufig nur angedeutet, und in einzelnen Fällen
entgehen die etwa vorhandenen leichten Vorläufersymptome so sehr
der Umgebung des Kranken, dass die Psychose anscheinend aus
völlig heiterem Himmel hereinbricht.
Die Art der psychischen Erregung selbst kann sich sehr ver-
schieden gestalten. Verhältnissmässig häufig begegnet man gerade
bei dieser Entwickelungsweise der Paralyse ganz leichten Aufregungs-
zuständen mit anscheinend völliger Erhaltung der Besonnenheit.
Die Kranken sind dabei in sehr gehobener Stimmung; sie sehen
ihre Umgebung, namentlich aber ihre eigene Person und deren
Leistungsfähigkeit in rosigstem Lichte. Sie bauen allerlei Luft-
schlösser und thun auch Schritte zu deren Verwirklichung; sie
prahlen in aufdringlicher Weise mit ihren ausgezeichneten Fähig-
keiten, ihren hohen Verbindungen, ihren glänzenden Aussichten und
ihrer wunderbaren Vergangenheit, ohne es dabei mit der Wahrheit
sehr genau zu nehmen. Sie stehen in nahen Beziehungen zu An-
gehörigen des Fürstenhauses, erfreuen sich des besonderen Aller-
liöchsten Vertrauens, sind durch Ordensverleihungen ausgezeichnet
worden; sie haben eine sehr gewählte Erziehung genossen, an ver-
schiedenen Universitäten ihre Lehrer durch ihre Begabung in Er-
staunen gesetzt, eine Menge Preise gewonnen, sind Meister in allen
ritterlichen Künsten, Lieblinge der Frauenwelt, haben im Kriege
Wunder der Tapferkeit verrichtet, mehrfach durch ihr persönliches
Einschi-eiten den Sieg herbeigeführt. Auf grossen Reisen haben sie
äusserst merkwürdige Erlebnisse durchgemacht, sind wiederholt in
höchster Lebensgefahr gewesen, aus der sie sich immer wieder diu-ch
ihre unerhörte Kraft und Klugheit befi-eit haben. Sie werden jetzt
über ihre Thaten öffentliche Vorträge halten, ein Buch schreiben,
■welches das grösste Aufsehen erregen und ihnen bedeutende Summen
Agitirte Form.
609
einbringen ninss; sie werden sich um einen Sitz im Reichstage be-
werben, glänzende Reden halten nnd ohne Zweifel binnen Kurzem
ins Ministerium berufen werden.
Immerhin halten sich diese Erzählungen und Pläne an sich
noch im Bereiche des Möglichen oder sogar Wahrscheinlichen, ja
man entdeckt, dass dieselben fast überall an die allerdings stark aus-
geschmückte Wirklichkeit anknüpfen, und man kann daher bisweüen
für den Augenblick zweifelhaft werden, ob man es mit Wahnideen
oder mit bewussten Aufschneidereien zu thun hat. Gewöhnlich
zeigen die verschiedenen Ausführungen des Kranken untereinander
durchaus keine Uebereinstimmung; vielmehr ändert er seine Aus-
einandersetzungen bei jeder neuen Wiederholung ab und kann durch
geeignete Beeinflussung zu weiterer Ausmalung veranlasst werden.
Dabei verwickelt er sich in die schreiendsten Widersprüche, ohne
es selbst zu merken; er geräth in einsichtslose zornige Erregung,
sobald man ihn auf dieselben aufmerksam zu machen sucht. Meist
lebt er sorglos und unbekümmert in den Tag hinein, drängt ge-
legentlich auf Entlassung, um seine Pläne verwirklichen zu können,
lässt sich aber stets leicht wieder vertrösten.
In einer weiteren Reihe von Fällen entwickelt sich von vorn-
herein sofort ein fast noch blühenderer und unsinnigerer Grössen-
wahn, als wir ihn schon bei der expansiven Form kennen gelernt
haben. Binnen wenigen Tagen wird der Kranke von allen seinen
früheren Leiden und Gebrechen geheilt; er rückt auf zuin höchsten
Gott, der ewig gelebt und das Weltall erschaffen hat. Sonne, Mond
und Sterne gehorchen seinen Befehlen; mit Gedankengeschwindigkeit
vermag er sich an jeden Punkt des Himmels zu versetzen. Er hat
alle Kriege geführt, alle Schlachten gewonnen, die grössten Ent-
deckungen und Erfindungen gemacht, alle grossen Männer aller
Zeitalter persönlich gekannt oder selber erzeugt. Er gebietet über
fabelhafte Reichthümer, deren Werth in Zahlen überhaupt nicht aus-
gedrückt werden kann, über DeciUionen oder Decilliarden, baut im
Nu die prachtvollsten Schlösser und Dome aus violetter Mondkohle,
Diamanten und Edelsteinen, ' befruchtet Tausende der schönsten
Weiber mit den herrlichsten Göttersöhnen. Bisweilen verbinden sich
Grössen- und Kleinheitsideen in unentwirrbarer Weise miteinander.
Der Kranke ist verzweifelt darüber, dass er sich in seiner Dununheit
in die Anstalt begeben hat, statt seine Millionen deutscher Reichs-
Kraepolin, Psychiatrie. 4. Anfl. 39
610
XI. Die Dementia paralytica.
patente auszunutzen und sich als Kaiser krönen zu lassen. Dadurch
ist ihm der Hals zugewachsen, und er hat unermessüchen Schaden.
Aber er wird so yiele Milliarden unter die Leute vertheilen, dass
Niemand mehr von seiner Yerrücktheit sprechen wird.
Hier pflegt auch die Aufregung eine sehr viel stärkere zu sein.
Der Kranke ist Tag und Nacht unruhig, ohne Unterbrechung mit seinen
unendhchen Plänen beschäftigt, Befehle in alle Himmelsrichtungen
telephonirend. Zeitweise kommt es zu starker ideenflüchtiger Yer-
worrenheit mit grosser Eeizbarkeit und Gewaltthätigkeit. Der Kranke
schläft fast gar nicht, nimmt sehr unregelmässig Nahrung zu sich,
da er unvergleichlich viel Besseres zu beanspruchen hat, nimmt an
Körpergewicht sehr rasch ab. Häufig macht hier nach kürzerer
oder längerer Zeit ein schwerer paralytischer Anfall dem Leben
oder doch der Aufregung plötzlich ein Ende ; auch rascher Nachlass
der Krankheitserscheinungen mit völliger Beruhigung ohne klare
Einsicht ist nicht selten. Die Dauer dieser letzteren Form ist zu-
meist eine kürzere, als diejenige der zuerst beschriebenen Yerlaufs-
art; sie beträgt häufig nur 1 — 2 Jahre, während wir bei jener immer-
hin auf eine Durchschnittsdauer von 2 — 3 Jahren rechnen dürfen.
Als eine Unterform gewissermassen der agitirten Paralyse können
wir ein letztes Krankheitsbild bezeichnen, welches man auch wol
mit dem Namen der galoppirenden Paralyse belegt hat. Die
wesentliche Eigenthümlichkeit derselben besteht in dem überaus
raschen, tödtlichen Yerlaufe der Erki-ankung unter den Er-
scheinungen hochgradigster psychischer und nervöser Er-
regung mit plötzlichem Zusammenbruch. In der Regel schhesst
sich dieses letzte Stadium der Krankheit an das Bild der agitirten
Paralyse an; seltener entwickelt es sich aus einer Depression heraus.
Unter rasch sich steigernder Erregung wird der Kranke vollkommen
ver-nirrt und unbesinnlich, stösst nur unarticulirte Laute oder
stereotype, unsinnige Silben aUs, wälzt sich am Boden, zappelt mit
Armen und Beinen, schläft nicht, nimmt keine Nahrung zu sich,
sondern spuckt Alles wieder aus, lässt Koth und Urin unter sich
gehen. Das Körpergewicht sinkt mit erschreckender SchneUigkeit;
der Puls ist klein und frequent, die Temperatur erhöht (38 — 39"),
wahi-scheinlich meist wegen der zahlreichen Quetschungen imd Haut-
abschürfungen, welche sich der Kranke in seiner sinnlosen Erregung
zuzieht. Nach' einigen Tagen oder Wochen, nachdem vielleicht schon
Vorlauf.
611
wiederholt apoplektiforme oder epileptiforme Anfälle dagewesen sind,
werden die Bewegungen des zeitweise soporösen Kranken unsicher
und zitternd; die Mundhöhle ist trocken, Lippen und Zunge mit
dickem, schwärzlichem, fuliginösem Belage bedeckt; es stellen sich
profuse Diarrhöen, kalte Schweisse, Sehnenhüpfen, grosse Neigung
zu Decubitus ein, und unter zunehmender Erschöpfung erfolgt, bis-
weilen nach vorübergehender Besonnenheit, der Exitus letalis.
Dieses Krankheitsbild ist es, welches ohne Zweifel bisweilen
mit unter der Bezeichnung des „Delirium acutum" zusammengefasst
worden ist. Es gilt das namentlich für diejenigen Fälle, in denen
die einleitenden Erscheinungen wenig oder gar nicht ausgesprochen
sind. Was mir diese Anschauung vor Allem wahrscheinlich macht,
ist der Umstand, dass man hie und da Gelegenheit hat, einen Kranken
aus diesem Zustande sich wieder erholen und nunmehr die vorher
vielleicht nicht bemerkten Symptome der Paralyse unzweifelhaft her-
vortreten zu sehen. Die Dauer der galoppirenden Paralyse beträgt
oft nur wenige Monate, wenn sich auch meist wegen der Unbestimmt-
heit der Prodromalerscheinungen der Beginn der Krankheit nicht
genau feststellen lässt.
"Wie sich aus den vorstehenden Einzel Schilderungen ergiebt,
setzt sich der Gesammtverlauf der Paralyse im Allgemeinen aus
einem bisweilen ganz unbemerkt bleibenden Einleitungsstadium und
aus einer Zeit lebhafterer Krankheitserscheinungen zusammen, an
welche sich dann der später zu besprechende Endzustand tiefen
Blödsinns anschliesst. Es ist jedoch von grösster Wichtigkeit, zu
bemerken, dass in diesen verschiedenen Abschnitten des Krankheits-
verlaufes die Stärke der körperlichen Störungen durchaus nicht
immer der Ausbildung der psychischen Symptome entspricht. Es
giebt einerseits Fälle, in denen selbst schwere Sprach- und Schrift-
störungen lange Zeit bestehen können, bevor eine irgend auffallendere
Beeinträchtigung des Gedächtnisses oder Verstandes nachweisbar ist
Andererseits aber — und das ist praktisch weit wichtiger — ver-
mögen wir aus dem psychischen Krankheits bilde sehr häufig die
beginnende Paralyse bereits mit voller Sicherheit zu erkennen,
während die körperliche Untersuchung durchaus noch keine ver-
werthbaren Anzeichen liefert. Aus der ungenügenden Berücksicht-
igung dieser Erfahrung entspringen zahlreiche diagnostische Fehl-
schlüsse.
39*
612
XI. Die Dementia paralytica.
Der Verlauf aller Formen der Paralyse kann durch zwei ver-
scMedene Ereignisse fast stets in ' unberechenbarer Weise beeinflusst
■werden, durch paralytische Anfälle und durch Remissionen.
Die ersteren können jederzeit einen unvorhergesehenen, bedeutenden
Fortschritt aller Krankheitserscheinungen oder auch plötzlichen Tod
zur Folge haben; ihre Häufigkeit und Schwere scheint in keiner
bestimmten Beziehung zu der besonderen kliuischen Form der
Paralyse zu stehen. Auf der anderen Seite sieht man gelegentlich
ausgiebige Nachlässe der psychischen und nervösen Störungen in
nahezu allen Stadien der Paralyse, mit Ausnahme des allerletzten,
den Ablauf der Krankheit verzögern. Am häufigsten scheinen der-
artige Besserungen bei der expansiven und agitirten Form vor-
zukommen; selten und wenig ausgeprägt beobachtet man sie bei
der dementen Form. Der Eintritt der Beruhigung vollzieht sich
bisweilen ganz rasch, von einem Tage zum andern, wenn auch die
volie Höhe der Remission erst allmählich, vielleicht im Laufe von
Monaten, erreicht wird. Der Kranke erscheint klar, besonnen, geordnet;
die Wahnideen treten zurück und werden von ihm als Träume und
Phantasien bezeichnet; er kann sich oft selbst nicht genug wundem,
wie ihm nur all das „dumme Zeug" in den Kopf hat kommen können.
Gleichwol geräth er vielleicht in den ersten Tagen gelegentlich immer
wieder in seine früheren Ideen hinein, um erst auf ernstes Zureden
die Wahnhaftigkeit derselben von Neuem einzusehen und zuzugestehen.
Die Erinnerung an die Zeit der Krankheit ist zunächst oft eine
verworrene, doch tauchen nach und nach viele Einzelheiten wieder
deutlicher auf. Allmählich kann sogar eine gewisse Krankheits-
einsicht zu Stande kommen, wenn auch manche der verkehrten
Handlungen noch in krankhafter Weise begründet oder als durch
äussere IFmstände und Einwirkungen veranlasst dargestellt werden.
'Mit dieser mangelhaften Klarheit über die Yergangenheit verbindet
sich häufig eine siegesgewisse Einsichtslosigkeit hinsichtlich der Zu-
kunft Der Kranke fühlt sich nunmehr vollständig gesund und weiss
ganz bestimmt, dass er es auch in Zukunft bleiben wird; die
Mahnungen des Arztes schlägt er daher leichthin in den Wind. Die
Stimmung ist bald eine selbstzufriedene, vergnügte, bald aber auch
gedrückt und theilnahmlos, indem der Ki'anke sich müde, abgespannt,
erholungsbedürftig fühlt und über allerlei körperliche Beschwerden
klagt, namentlich über Druck und Schmerzen im Kopfe.
Verlaul'.
613
Nach und nach kann sich der Zustand des Kranken immer
mehr bessern, so dass er, besonders in den .engen, geschützten Ver-
hältnissen der Anstalt, den Eindi-uck eines nahezu oder völlig ge-
sunden Menschen macht. Den nächsten Angehörigen und Freunden
pflegt freilich eine leichte Abschwächung des Yerstandes und des
Gedächtnisses, eine Abstumpfung seiner geistigen Regsamkeit und
seiner gemüthlichen Betheüigung, sowie ein gewisser Mangel an
Thatkraft und Nachhaltigkeit kaum jemals verborgen zu bleiben.
Dennoch sind manche derartige Kranke im Stande, selbst den ver-
antwortungsvollen Beruf eines Eisenbahnbeamten, Officiers, Arztes
während der Besserung mit Erfolg wieder aufzunehmen. In der
Regel allerdings siud diese Nachlässe nur von kürzerer Dauer (bis
zu einigen Monaten); jene Fälle, in denen die Kranken länger, als
■ein Jahr, oder gar 3, 4, 5 Jahre annähernd gesund bleiben, siud
immerhin als vereinzelte Ausnahmen zu betrachten.
Die letzten Stadien der Krankheit sind allen Formen der-
selben, mit Ausnahme etwa der galoppirenden Paralyse, gemeinsam.
Der Kranke wird immer stumpfer und blöder; er kennt die Gegen-
stände und Personen, seiner Umgebung nicht mehr und ist schliess-
lich kaum viel mehr, als ein vegetirender Körper, in dem das
psychische Leben gänzüch oder fast gänzhch erloschen ist. Zugleich
machen auch die nervösen Störungen unaufhaltsame Fortschritte.
Der Kranke wird nahezu vollkommen unempfindlich; die Schwäche
nimmt immer mehr zu; es stellen sich Beugecontracturen und
Muskelatrophien ein, so dass er die Möglichkeit der selbständigen
Bewegung verliert, weder gehen, noch stehen, noch am Ende auch
sitzen kann. Zugleich magert er immer mehr ab und ist dauernd
hochgradig unrein, so dass er wie ein Kind nach jeder Richtung
hin der sorgfältigsten Pflege bedarf. Bis zu diesen tiefsten Stufen
des apathischen Blödsinns und der allgemeinen Lähmung giebt es
allerdings zahlreiche Uebergangsformen, die sich durch die ver-
schiedene Erhaltung der geistigen Regsamkeit, durch Ueberreste
depressiver oder expansiver Stimmungen und Yorstellungen, sowie
endhch durch die verschiedenartige Ausbreitung der nervösen
Störungen von einander abgrenzen.
Der Ausgang der Paralyse ist regelmässig der Tod. Freilich
sind einzelne Fälle bekannt geworden, in denen die Besserung der
Krankheitserscheinungen andauernd ein Jahrzehnt und darüber
614
XI. Die Dementia paralytica.
Stand hielt, so dass man hier von einer Heilung der Paralyse zu
sprechen berechtigt ist Allein derartige Beobachtungen sind so
ungemein selten (lange nicht 1 ^j^ der Fälle), dass sie gegenüber dem
gewöhnlichen Verlaufe gar nicht in Betracht kommen. Ueberdies
erhebt sich hier der Yerdacht, dass es sich vielleicht um ganz anders-
artige chronische diffuse Hirnerkrankungen handeln kann, die wir
vor der Hand klinisch noch nicht von der dementen Form der
Paralyse unterscheiden können. Jedenfalls thut man gut, allen
Fällen von „geheilter" Paralyse das äusserste Msstrauen entgegen
zu bringen, da Nasse festgestellt hat, dass unter 6 von ihm als
geheilt angesehenen Paralytikern nur ein einziger nicht wieder er-
krankt ist, bei dem obendrein die Diagnose nicht über allen Zweifel
erhaben war.
Herbeigeführt wird der tödtiiche Ausgang durch die ver-
schiedensten Ursachen. Abgesehen von den in der ersten Zeit doch
bisweilen glückenden Selbstmordversuchen, können im ganzen Ver-
laufe der Krankheit paralytische Anfälle plötzlich und unerwartet
dem Leben ein Ende machen. In der letzten traurigen Periode der
Psychose sind Schluckpneumonien (Speichel, Speisen), namentlich
während der Anfälle, die bei weitem häufigste Todesursache; ausser-
dem aber kommen noch gelegentlich pyaemische und septische
Processe oder Fettembolien in Betracht, wie sie sich bei der Um-uhe
und Unempfindlichkeit der Kranken aus Verletzungen aller Art, in
Folge von Decubitus oder Blasenkatarrh (Pyelitis) entwickeln können.
Vereinzelte Kranke gehen durch Ersticken zu Grunde, indem sie
sich beim Essen den ganzen Mund mit Speisen, namentlich Brod,
vollpfropfen und dann einen Theil derselben in den Kehlkopf hinunter-
würgen. Endlich aber ist der gewissermassen natürliche Ausgang
der Paralyse, wie man ihn bei einzelnen Kranken beobachtet, welche
allen jenen Gefahren glücklich entgangen sind, der einfache Marasmus,
der Tod in Folge von Herzschwäche. In solchen Fällen magern die
Kranken schliesslich zum Skelett ab; die gesammte Körpermusculatur
atrophirt bis zum Aeussersten; die Temperatur sinkt häufig dauernd
sehr tief unter die Norm; der Puls wird langsam und immer schwächer,
schliesslich nicht mehr fühlbar, bis endlich das Leben vollkommen
erlischt.
Die pathologische Anatomie der Paralyse zeigt uns in den
nervösen Centraiorganen eine Eeihe von Veränderungen, welche in
Pathologische Anatomie.
615
ihrer Gesammtheit bis zu einem gewissen Grade für diese Krankheit
charakteristisch erscheinen. Als wesentlich sind nicht zu betrachten die
bisweilen beobachteten Hyperostosen und Exostosen des Schädels, die
auch bei Gesunden nicht ganz selten vorkommen, doch ist die in weit
vorgeschrittenen Fällen häufiger beobachtete allgemeine Yerdickung
der knöchernen Hülle wol mit Walu'scheinlichkeit als compen-
satorische Hypertrophie gegenüber der Volumsabnahme des Gehirns
aufzufassen. Vielfach sieht man dabei tiefes Einschneiden der Gefäss-
furchen in die mit Osteophyten reichlich besetzte Knochensubstanz.
Wichtiger sind schon die Yeränderungen der Hirnhäute. Die
Dura ist theilweise, seltener in ganzer Ausdehnung, mit dem Schädel-
dache verwachsen; bisweilen lässt sie sich ohne Zerstörung gar nicht
von diesem letzteren trennen. Kecht häufig findet man Pachy-
meningitis interna und Haematome der Dura, bald nur zarte,
schleierartige Anflüge, bald dicke, mehrfache Schichtung aufweisende
Schwarten, meist aiif der Scheitelhöhe. Auch unter der Pia bemerkt
man öfters mehr oder weniger ausgedehnte Oberflächenblutungen.
Die weichen Hirnhäute sind in Folge von zelliger Infiltration regel-
mässig getrübt, verdickt, bisweilen sehr beträchtlich ; hie und da
finden sich eingelagerte Knochenplättchen. Ihre Yenen sind stark
erweitert, besonders bei der galoppirenden Paralyse, zeigen auch
häufig verdickte- Wandungen; die Pacchioni 'sehen Granulationen
sind nicht selten auffallend entwickelt. Das Gehirn ist bei länger
bestehenden FäUen stets atrophisch; das Gewicht desselben sah
ich selbst bei Männern von normaler Körpergrösse bis auf 900 gr
herabsinken. Die Windungen sind verschmälert, besonders in den
vorderen Partien; es finden sich stellenweise förmliche Einsenkungen,
über welche die Pia in Gestalt serumgefüllter Blasen hinwegzieht.
Auch die Einde ist verschmälert und, namentlich am YorderMrn,
häufig mit der Pia so fest verwachsen, dass sich diese nicht ohne
Substanzverlust von ihr ablösen lässt. Das Ependym der Yenteikel,
vorzügüch des vierten, zeigt oft reichUche, stark entwickelte, knötchen-
artige Granulationen.
Die mikroskopische Untersuchung bietet vor Aflem in der
Rinde*) ausgesprochene Yeränderungen. Die Gefässe sind sichtlich
*) Binswanger, Die pathologische Histologie der Grosshimrinden-Erkrankung
bei der allgemeinen progressiven Paralyse. 1893.
616
XI. Die Dementia paralytica.
vermehrt, oft in ganz ausserordentlichem Masse; häufig findet man
die Anzeichen frischer Gefässneubildung, weitverzweigte BLude-
gewebszellen, deren Fortsätze mit den Gefässwandungen in Ver-
bindung treten. Grössere Gefässe erscheinen geschlängelt, die
Wandungen verdickt mit massenhafter Kern Wucherung; stellenweise
kommt es zur völligen Obturation und Obliteration. Einmal sah ich
die ganze Hirnrinde von unzähligen kleinen capülären Blutungen
durchsetzt. Auch in der Grundsubstanz zeigen sich die Kerne stark
vermehrt; die Bindegewebszellen sind enorm entwickelt; namentlich
findet man die als Spinnenzellen bezeichneten, mit zahlreichen Aus-
läufern versehenen Formen in grosser Anzahl und ungewöhnlicher
Ausbildung vertreten. "Weigert konnte mit Hülfe seiner neuen
Färbung in der Körnerschicht des Kleinhirns eine hochgradige
Wucherung der Neuroglia nachweisen.
lieber die Yeränderungen an den Nervenzellen in der
Paralyse wissen wir leider bisher noch wenig Sicheres. Es ist
zwar kaum zweifelhaft, dass hier sehr schwere Entartungsvorgänge
sich abspielen, aber der genaue Nachweis derselben, die Deutung
der einzelnen Bilder, die Abtrennung des wirklich Krankhaften von
einfachen Kunstproducten, des Wesenthchen vom Zufälligen und
endhch die Aufstellung eines der Paralyse eigenthümhchen Be-
fundes erscheint mir zur Zeit noch nicht möglich. Ich will mich
daher, bis die aussichtsreichen Forschungen Nissl's uns hier einen
gesicherten Grund und Boden geschaffen haben, mit der Angabe
begnügen, dass wir im paralytischen Hirn neben einzelnen an-
scheinend gesunden eine grosse Zahl krankhaft veränderter Zellen
vorfinden, deren auffallendste Eigenthümhchkeit in dem Zerfall
der Chromatinkörperchen und der Anhäufung von Pigment besteht.
Sehr hochgradig pflegen die atrophischen Veränderungen an den
Nervenfasern zu sein. Es ist Tuczek's*) Verdienst, dieselben
zuerst mit feineren Methoden (Exner'sche, Weigert'sche Methode)
genauer studirt zu haben. Dabei hat sich herausgestellt, dass bei
allen länger dauernden FäEen von Paralyse sowol die aus der
weissen Substanz in die Hirnrinde einstrahlenden „Radiäi-fasern",
als auch die in der äussersten Rindenschicht der Hirnoberfläche
*) Beiträge zur pathologischen Anatomie imd zur Pathologie der Dementia
paralytica. 1884.
Pathologische Anatomie.
617
parallel laniendeu „zonalen Eindenfasern" in höherem oder geringerem
Grade ati-ophiren, so dass in den spätesten Stadien kaum noch Ner-
venfasern in der Kinde nachzuweisen sind. Am stärksten pflegt
dieser Faserschwund in den vorderen Partien des Gehirns ausge-
sprochen zu sein, doch lässt sich nach Zach er 's Untersuchungen
eine gesetzmässige Beziehung zwischen der Stärke und der Locali-
sation der Yeränderung nicht mit Bestimmtheit feststellen. Eben-
sowenig scheint ein durchgehender Zusammenhang zwischen den
Gefässveränderungen und der Faseratrophie zu bestehen, ja es kann
nicht mehi' zweifelhaft sein, dass jene atrophischen Yorgänge gar
nicht ausschliesslich der Paralyse, sondern unter Umständen auch
andern Psychosen, namentlich der nahe verwandten Dementia senilis,
sowie sonstigen, z. B. den epileptischen Blödsinnsformen, zukommen
können. Allerdings dürfte die Häufigkeit, die Ansdehnung und die
Stärke jener Veränderungen bei der Paralyse eine weit grössere
sein, als bei irgend einer anderen psychischen Erkrankung.
Die Aufdeckung eines engeren Zusammenhanges der aufgezählten
Befunde mit dem besonderen psychischen Krankheitsbilde hat bisher
nicht gelingen wollen. Nur das Eine lässt sich sagen, dass im All-
gemeinen die Ausdehnung und Stärke der anatomischen Veränder-
ungen um so grösser ist, je weiter der klinische Verlauf vorgeschritten
war. In der ersten Zeit der Erkrankung, vielleicht sogar ziemlich
lange, scheinen die Störungen in der Hirnrinde bis zu einem ge-
wissen Grade der Eückbildung fähig zu sein oder doch durch un-
versehi-te Elemente ausgeglichen werden zu können; sonst wären
die häufigen, weitgehenden Besserungen der Ejrankheitserscheinungen
nicht denkbar. Zwischen Oertlichkeit der Himerkrankung und gewissen
Symptomen, den Sprachstörungen, der Worttaubheit, den Ejampf-
erscheinungen, dürften die durch die Localisationslehre geforderten
allgemeinen Beziehungen auch hier' bestehen (besondere Betheiligung
der Stirn-, Schläfen-, Centraiwindungen). Freilich ist es aus naheliegen-
den Gründen meist sehr schwierig, solche Beziehungen ohne sehr ein-
gehende und zeitraubende mikroskopische Untersuchungen festzustellen.
Der Nachweis atrophischer Vorgänge an den nervösen Elementen
einerseits, stärkerer Wucherungen des Bindegewebes andererseits
hat auch in der Pathologie der Paralyse zwei verschiedenen Er-
klärungsversuchen Kaum gegeben, von denen der eine die inter-
stitiellen, der andere aber die parenchymatösen Veränderungen als
618
XI. Die Dementia paralytica.
den Ausgangspunkt des ganzen Krankheitsprocesses auffasst. Mir
persönlich scheinen die Erfahrungen, welche man über die multiple
degenerative Neuritis .zu machen Gelegenheit hat, die Möglichkeit
eines etwa durch eine chronische Vergiftung veranlassten „primären"
Entartungsvorganges ohne ursächliche Erkrankung des interstitiellen
Gewebes unzweifelhaft darzuthun. Auf der anderen Seite wird ja
die Yerdichtung und Wucherung des Bindegewebes auch nach ein-
fachen secundären Degenerationen beobachtet.
Ausser jenen feineren Yeränderungen finden sich in der Rinde
gelegentlich noch kleinere erweichte Stellen, welche sich durch die
leichte Ablösbarkeit der oberflächlichen Rindenschichten oder auch
der ganzen Rindendecke von der weissen Substanz bemerkbar machen.
Ausgedehntere Zerstörungen in der Rinde, wie man sie insbesondere
zur Erklärung der paralytischen Anfälle vermuthen soUte, sind da-
gegen sehr selten; selbst bei einer viele Monate andauernden Hemi-
plegie mit vollständiger Paraphasie konnte ich einen bestimmten
Erweichungsherd im Gehirne nicht auffinden. Wir müssen daher
wol annehmen, dass es sich bei den paralytischen Anfällen wesent-
lich um Kreislaufsstörungen oder umschriebene Oedeme handelt,
welche wegen der Gefässerkrankungen leicht zu Stande kommen und
sich schwer wieder ausgleichen, andererseits aber wegen der Yer-
minderung der functionsfähigen Nervenelemente rasch sehr ernste
Erscheinungen herbeiführen müssen.
Aehnliche Yeränderungen, wie in der Grosshirm-inde , finden
sich auch in den übrigen Theüen des Gehirns, wie das schon im
Hinblicke auf die sehr bedeutende Gewichtsabnahme als erwiesen
angesehen werden darf. Die Markmassen der Hemisphären zeigen
regelmässig einen diffusen Easerschwund, der nur bisweilen einzelne
compacte Bündel verschont. Seltener sind zerstreute Entartungsherde
oder, im Anschlüsse an umschriebenere Rindenläsionen, strangför-
mige Degeneration bestimmter Leitungsbahnen. In den grossen
Ganglien, namentlich im Sehhügel, und ebenso im Kleinhirn ist
ausgedehnter Easerschwund nachgeAviesen worden. Weigert glaubt
auch aus den Güawucherungen auf den Untergang der Fortsätze
der Purkin je'schen Zellen schliessen zu dürfen. Ausserdem finden
sich in den Nervenkernen der MeduUa oblongata, namentlich iu
denjenigen des Hypogiossus, ährdiche Yeränderimgen der Ganglien-
zellen, wie in der Hirnrinde.
Pathologische Anatomie.
619
Im Kücken marke*) beobachtet man ausser pachymenin-
gitischen und leptomeningitischen Yeränderungen namentlich zwei
Formen der Erkrankung, nämlich chronische Myelitis der Hinter-
seitenstränge mit reichlicher Bildung von Kömchenzellen, dann aber
graue Degeneration der Hinterstränge, die sich im Halsmark bis-
weilen nur auf die Goll'schen Sti'änge beschränkt. Yereinzelt finden
sich auch noch eine Eeihe weiterer Yeränderungen, zerstreute De-
generationsherde, diffuse Myelitis u. s. f.
Ob sich an den peripheren Nerven nicht hie und da Yer-
änderungen nachweisen lassen, ist erst wenig**) untersucht worden,
doch lässt sich nach den neueren Befunden bei Tabes und Ange-
sichts der hochgradigen Muskelatrophie im letzten Stadium der Para-
lyse mit Sicherheit erwarten, dass auch hier Entar tun gs Vorgänge in
den peripheren Nerven häufiger vorkommen. Die Befunde in den
übrigen Organen (Phthisen, Pneumonien, Niereninfarcte) stehen zu-
meist wol kaum in unmittelbarer Beziehung zu dem paralytischen
Krankheitsvorgange ; nur das fast ausnahmslos beobachtete Atherom
der Aorta dürfte als eine Theilerscheimmg der allgemeinen Gefäss-
erkrankung aufzufassen sein.
Die Dementia paralytica ist eine sehr häufige Krankheit; im
Durchschnitte gehören etwa 12—13 »/o aller Aufnahmen in Irren-
anstalten ihr an, doch ist dieses Yerhältniss ausserordentlichen
Schwankungen unterworfen. Yon den beiden Geschlechtem ist das
männliche ungefähr 3— 5 mal so stark unter den Erkrankten ver-
treten, als das weibliche; bei Frauen höherer Stände ist die Krank-
heit überaus selten. Die relative Häufigkeit der weibhchen Para-
lyse, namentlich in grossen Städten, scheint allmählich etwas zuzu-
nehmen. Unter den Altersklassen überwiegen diejenigen zwischen
dem 35.— 40. (30.— 45.) Lebensjahre; auch das Klimakterium scheint
von Einfluss zu sein. In den ersten beiden Lebensjahrzehnten kommt
die Paralyse kaum jemals, im dritten noch immer recht selten vor,
doch scheint in neuester Zeit die Paralyse jüngere Lebensalter häu-
figer zu befallen; Strümpell sah dieselbe sogar bei einem dreizehn-
jährigen Mädchen, in Yerbindung mit Tabes und hereditärer Syphilis.
*) Westphal, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XX, XXI; Virchows Ax-chiv,
XXXIX; Archiv f. Psychiatrie, I, XH.
**) Ho che, Beiträge zur Kenntniss des anatomischen Verhaltens der mensch-
lichen Eückenmarks wurzeln. 1891.
620
XI. Die Dementia paralytica.
Ledige Personen scheinen mehr disponirt zu sein, als Verheirathete ;
jugendliche weibliche Paralysen sind auffallend häufig Prostituirte.
Nicht ganz selten beobachtet man, dass zwei Ehegatten gleichzeitig
oder kurz nach einander paralytisch werden. Grosse Städte hefern
einen sehr bedeutend höheren Procentsatz von Paralytikern, als die
Landbevölkerung. Unter den Berufsarten sind Officiere, Kaufleute,
Feuer arbeiter, Eisenbahnbeamte verhältnissmässig zahlreich vertreten.
Der Einfluss der erblichen Anlage tritt hier gegenüber den sonstigen
Oeistesstörungen mehr in den Hintergrund.
Unter den Ursachen der Paralyse haben wir in allererster
Linie der Syphilis zu gedenken. Dieselbe findet sich -auffallend
täufig in der Yergangenheit der Paralytiker, wenn sich auch gegen-
wärtige syphilitische Krankheitserscheinungen nur verhältnissmässig
selten nachweisen lassen. Damit stimmt die Erfahrung überein, dass
«s anscheinend vorzugsweise leichte syphilitische Erkrankungen sind,
welchen ein ursächlicher Zusammenhang mit der Paralyse zukommt,
und dass andererseits regelmässig eine längere Keihe von Jahren
zwischen der Ansteckung und dem Auftreten der Paralyse zu hegen
pflegt. Ueber die Häufigkeit, mit welcher die Syphilis als Tor-
gängerin der Paralyse beobachtet wird, gehen die Angaben sehr
weit auseinander (11 — 77 ^/o). Eieger hat festgestellt, dass Jemand,
der syphilitisch inficirt war, im Allgemeinen 16 — 17 mal so stark
für die Paralyse prädisponirt ist, als der Nicht-Syphiütische. Jeden-
falls steht der Zusammenhang zwischen Syphilis und Paralyse über
allem Zweifel fest; auch manche Punkte der oben angefühi'ten all-
gemeinen Prädisposition, insbesondere die Seltenheit der Paralyse
bei Frauen der besseren Stände, ihre Häufigkeit bei Officieren,
Kaufleuten, Prostituirten, das Vorkommen paralytischer Ehepaai-e,
sind mit grösster Wahrscheinlichkeit in dieser Richtung zu deuten.
Sehr auffallend ist es freüich, dass die Mehrzahl gerade der franzö-
sischen Irrenärzte die ursächliche Bedeutung der Syphüis für die
Paralyse leugnet und statt dessen den Alkoholmissbrauch in den
Yordergrund stellt. Unsere Erfahrungen in Deutschland führen nach
beiden Richtungen zu durchaus anderen Ergebnissen.
Es hat daher in älterer wie in neuerer Zeit auch nicht an
Forschern gefehlt, welche die Paralyse, ebenso wie die ihr offenbar
nahe verwandte Tabes, einfach als syphilitische Erki-ankung des cen-
tralen Nervensystems auffassen zu können glaubten. Strümpell
Aetiologie.
621
hat die Paralyse in Parallele mit ^den diphtherischen Lähmungen
gestellt, indem er annahm, dass dort, wie hier, durch den organi-
sirten Infectionsti-äger, also bei der Paralyse den Syphilisbacillus,
nach Ablauf der ersten Periode der Krankheit ein chemisches Gift
erzeugt werde, welches nun in eigenthümlicher Weise auf die ver-
schiedenen Abschnitte des Nervensystems zerstörend einzuwirken im
Stande sei. Möbius spricht in ähnlichem Sinne geradezu von einer
„MetasyphiEs". Es muss zunächst dahingestellt bleiben, ob diese
Auffassung wenigstens für diejenigen Fälle zutreffend ist, in denen
wirklich Syphilis vorausgegangen ist, doch erscheint es möglich,
vielleicht einmal gerade diese ätiologische Gruppe als eine besondere
Form innerhalb des grossen Kahmens der Paralyse sich abgrenzen
zu sehen, so wenig sich auch bis heute unterscheidende Merkmale
derselben herausfinden lassen. Auf der anderen Seite aber muss
mit Entschiedenheit betont werden, dass die Zahl jener Paralytiker,
bei denen sich keine frühere Syphilis nachweisen lässt, doch immer-
hin noch viel zu gross ist, als dass es sich hier bei diesen letzteren
um ein einfaches IJebersehen oder Verleugnen jener Krankheit handeln
könnte. Für die unbefangene Betrachtung ergiebt sich daher heute
noch der Standpunkt, dass wir in der SyphiHs zwar eine sehr wichtige,
aber eben doch nur eine von den Ursachen der Paralyse zu sehen
haben.
Von sonstigen Schädlichkeiten, denen man für die Entstehung
der Paralyse eine gewisse Kolle zuzuschreiben pflegt, sind auf kör-
perlichem Gebiete der Alkoholismus, Insolation, Wärmebestrahlung
des Kopfes und Kopfverletzungen zu nennen. An diese letzteren
schliesst sich die Erkrankung in einzelnen Fällen ziemüch bald an;
in anderen tritt sie erst nach mehreren Jahren hervor, so dass man
mehr eine vorbereitende Wirkung des Traumas anzunehmen hat. Der
Alkoholmissbrauch ist nach meinen Erfahrungen zweifellos weit
häufiger Folge, als Ursache der Paralyse. Manche andere Emflüsse,
körperüche Erkrankungen, das Wochenbett, können wol nur die Ent-
wicklung der Krankheit beschleunigen. Ebenso scheinen psychische
Schädlichkeiten im Ganzen mehr den letzten Anstoss zum Ausbruche
der Störung auf bereits vorbereitetem Boden abzugeben. Immerhin
soU nicht geleugnet werden, dass eine sehr verantwortimgsvolle, mit
heftigen Gemüthsschwankungen verbundene Thätigkeit, andauernde
Unruhe und Aufregung vielleicht auch zu den unmittelbaren Krank-
€22
XI. Die Dementia paralytica.
heitsursachen gerechnet werden ^ürfen. "Wenigstens sehen wir, dass
der Krieg mit seiner Anspannung der gesammten psychischen Leist-
ungs- und "Widerstandsfähigkeit, das Börsenspiel, Excesse, der auf-
reibende Kampf ums Dasein ia dem lebhaften Getriebe der grossen
Städte regelmässig zahlreiche Opfer fordert. Einfache Yerstandes-
arbeit dagegen, und sei sie noch so anstrengend an sich, führt
schwerlich zur Paralyse, höchstens zur Neurasthenie.
Als gemeinsames Element scheint allen jenen Ursachen, soweit
wir das heute übersehen können, die schwächende Einwirkung auf
die Muscularis der Arterienwand zuzukommen, sei dieselbe durch
eine Vergiftung, sei sie durch häufige und ausgiebige Caliber-
schwankungen bedingt. Gerade die Erschlaffung der Muscularis
aber giebt, wie Thoma nachgewiesen hat, den regelmässigen Anlass
zur Entstehung endarteriitischer Erkrankungen, wie wir sie im para-
lytischen Gehirn so häufig beobachten. Es muss indessen fraglich
erscheinen, ob wir demnach die Entartung des Nervengewebes bei
Paralytikern etwa einfach auf eine Störung der Hirnernährung in
Eolge von Gefässerkrankungen auffassen können, da öfters die Ent-
wickelung beider Störungen in entschiedenem Missverhältnisse steht.
Möglicherweise ist der feinere Zusammenhang der Dinge in ver-
schiedenen Fällen ein wesentlich verschiedener. Die klinischen Krank-
heitsbüder, die wir heute unter dem Sammelnamen der Paralyse zu
Tereinigen pflegen, werden durch die anatomische Untersuchung
vielleicht dereinst in eine Keihe einzelner Formen auseinanderge-
trennt, deren gemeinsame Eigenthümlichkeit nui- in der allmählichen
Yernichtung des centralen Nervengewebes besteht.
Die Erkennung der Paralyse ist eine der wichtigsten Aufgaben
des Irrenarztes, weil von ihr fast immer sehr einschneidende Mass-
regeln, namentlich auch wirthschaftlicher Natur (Entmündigung,
Auflösung von Geschäften), abhängig sind. Wo deutiiche körperliche
Störungen vorhanden sind, wird im Allgemeinen die Aufdeckung
der Krankheit keine Schwierigkeiten bieten. Wir sind aber that-
sächlich sehr häufig in der Lage, die Diagnose der Paralyse aus-
schliesslich oder wesentlich aus dem psychischen Zustande stellen
zu müssen. Einzelne Fehlgriffe sind dabei unausbleiblich, doch ist
im Allgemeinen die Zuverlässigkeit auch dieser Merkmale eine recht
grosse. In den ersten Zeiten der Krankheit ist die Abgrenzung der
Paralyse von neurasthenischen Zuständen bisweilen ebenso schwierig.
Diagnose.
623
wie durch die Sachlage dringend gefordert. Der wichtigste Anhalts-
punkt wii-d liier immer in dem Nachweise der Schwäche auf in-
tellectuellem und gemüthlichem Gebiete liegen, in der Stumpfheit,
der eigenthümlichen Urtheilslosigkeit, dem Mangel an wirklich klarer
Einsicht in die eigentlichen Krankheitserscheinungen gegenüber dem
Affecte, dem ungetrübten Verstände und der peinlichen Selbstprüfung
des Neurasthenischen. Dazu kommt die kaum bemerkte, aber sehr
auffallende Unzuverlässigkeit der Erinnerung auf der einen und die
objectiv ganz unbegründet erscheinenden Klagen über Abnahme des
Gedächtnisses auf der anderen Seite. Endlich kommt natürlich der
Nachweis greifbarer nervöser Störungen in Betracht, von denen je-
doch auf leichte Sehwindelanfälle, auf gelegentliches Stottern, Zittern
der Zunge und eine massige Steigerung der Sehnenreflexe kein all-
zu grosses diagnostisches Gewicht gelegt werden darf. In einzelnen
Fällen klärt hier ein unzweifelhafter paralytischer Anfall mit
Sprachstörung plötzlich die. Sachlage; bisweilen jedoch vermag erst
der weitere Yerlaui die Diagnose zu sichern.
Die depressiven Zustände der Paralytiker können nicht allzu
selten zur Yerwechselung mit melancholischen Erkrankungen oder
depressivem Wahnsinn Anlass geben, vor Allem natürlich dann, wenn,
wie so häufig, die nervösen Störungen erst in einer späteren Periode
der Krankheit hervortreten. Bei Männern zwischen dem 30. und
50. Lebensjahre wird man die Möglichkeit einer Paralyse immer im
Auge behalten müssen; wahrscheinüch wird diese letztere, wenn
sehr intensive Kopf Symptome, auffallend tiefe Benommenheit oder
einzelne leichtere nervöse Erscheinungen vorhanden sind, wenn die
Intelligenzstörung eine ungewöhnliche TJrtiieilslosigkeit und Zerfahren-
heit, der Affect eine gewisse Schwächlichkeit aufweist. Auch sehr
rasche Besserung der Niedergeschlagenheit, plötzlicher Umschlag in
gehobene, überschwängliche oder gar heitere Stinunung, sowie das
unvermittelte Auftauchen einzelner Grössenideen sind sehr ver-
dächtig.
Dem gegenüber sind die expansiven Stadien der Paralyse durch
ihre rasche Entstehungsweise, durch die Ungeheuerlichkeit, Zusam-
menhangslosigkeit und Beeinflussbarkeit des Grössenwahns, sowie
durch die begleitende Gedächtnissschwäche, die auf die letzten Tage
zurückgehenden Erinnerungsfälschungen und die nervösen Symptome
zumeist so gut gekennzeichnet, dass ihre Diagnose sehr bald klar
624
XI. Die Dementia paralytica.
ZU sein pflegt. Gewisse leichtere Erregungszustände der Paralytiker
mit Erhaltung der Besonnenheit können periodisch manischen oder,
beim Auftreten depressiver Zeiten, circulären Erkrankungen sehr ähn-
lich sein. Das höhere Lebensalter und die Anzeichen der Schwäche
auf dem Gebiete des Yerstandes und des Gedächtnisses, die Neigung,
zu fabuliren und Luftschlösser zu bauen, sprechen für Paralyse.
Ganz besondere Schwierigkeiten kann die Abgrenzung gegen-
über der Dementia senüis, den disseminirten Herderkrankungen und
manchen Formen des Alkoholismus bieten. Für die erstere spricht
hohes Alter, sehr langsamer "Verlauf der Erkrankung, Dürftigkeit
der Wahnideen, sowie geringere Entwickelung der motorischen Stör-
ungen, die sich auf einfache Lähmungen und Paresen zu beschränken
pflegen. Die Diagnose einer syphilitischen Herderkrankung oder
der multiplen Sklerose gründet sich auf das meist jugendlichere
Lebensalter und den Nachweis von Herdsymptomen, bei ersterer
besonders an den Augenmuskelnerven, Diffuse Erkrankungen der
Hirnrinde vermögen wir heute von der Paralyse nicht mit Sicher-
heit zu unterscheiden. Alle meine Bemühungen, besondere klinische
Merkmale an denjenigen Fällen herauszufinden, in denen deutliche
Zeichen verbreiteter Syphilis vorhanden waren, sind bisher vergeb-
lich gewesen. Bei den hierher gehörigen alkoholischen Psychosen
ist bisweilen das starke Hervortreten von Sinnestäuschungen, ein
grösserer Zusammenhang des Yorstellungsverlaufes und geringere
Ausbildung der Sprachstörungen zur Abgrenzung von der Dementia
paralytica zu verwerthen; in einzelnen Fällen sichert erst der günstige
weitere Yerlauf die Diagnose.
Bei der Behandlung der Paralyse hat man in erster Linie
häufig genug die Ursache der Krankheit dadurch zu beseitigen ge-
sucht, dass man mit kräftigen antisyphilitischen Massnahmen gegen
die Kranken vorging. Die Erfahrung lehrt indessen regelmässig,
dass hier noch weniger, als bei der Tabes, durch Quecksilber oder
Jodkalium zweifellose Heilerfolge erzielt werden. Nachlässe der
Krankheit kommen allerdings ebenso, wie bei jeder anderen Be-
handlungsart, namentlich unter dem Einflüsse der Anstaltsruhe, nicht
selten vor. Auf der anderen Seite habe ich in einer Eeihe von Fällen,
in denen Syphilis sicher voraufgegangen und zum Theil noch in
frischen Anzeichen vorhanden war, im unmittelbaren Ansclilusse an
eine Schmiercur raschen Yerfall der Kräfte und plötzliches Auftreten
Behandlung.
625
schwerer Aufregungszustände beobachtet. Ich kann daher in üeber-
einstünmung mit der Mehrzahl der Irrenärzte einstweilen nur rathen,
sich im Allgemeinen mit der Darreichung von Jodkalium oder zu-
nächst überhaupt mit symptomatischer Behandlung der Paralyse
zu begnügen.
Das wichtigste Erforderniss einer solchen ist in der ersten Zeit
vor Allem Euhe, Entfernung des Erkrankten aus den gewohnten
Yerhältnissen und Beschäftigungen, sowie eine sorgfältige körperliche
imd geistige Diätetik. Aufgeregte Patienten und solche mit Selbst-
mordneigung gehören unbedingt in eine Anstalt, um sie und ihre
Umgebung vor den Folgen ihrer Handlungen zu schützen; ruhige
und lenkbare Kranke in besseren Yermögensverhältnissen können,
soweit eine sachverständige Behandlung und Ueberwachung mög-
lich ist, auch in privater Pflege erhalten werden. Zu vermeiden
sind jedoch besuchte Badeorte mit ihren vielfachen Zerstreuungen
und Aufreg-ungen, anstrengende Reisen, alle schwächenden Mass-
regeln, angreifende Hunger-, Kaltwasser-, Badecuren u. s. f. Eine
sehr gewöhnliche Erfahrung ist rasche Verschlechterung des All-
gemeinzustandes und plötzlicher Ausbruch tobsüctitiger Erregung in
Folge von Kaltwassermisshandlung. Ausser der Euhe ist Sorge f ür
kräftige Ernährung, ßegelung der Verdauung, Bewegung in frischer
Luft, Vermeidung von Alkoholicis, von Tabak, Kaffee, Thee von
Wichtigkeit; auch eine ganz milde, gut überwachte hydropathische
Behandlung (Abreibungen, laue Bäder, Einwickelimgen; keine Douche,
keine Ueber- und üntergüsse!) kann gute Dienste leisten.
Die Aufregungszustände der Paralytiker sind nur in
geringem Grade der medicamentösen Behandlung zugänglich. Sehr
häufig hilft indessen schon cüe Versetzung in eine ruhige Umgebung,
die Bettruhe oder vorübergehende Isolirung, sowie die Ablenkung
durch ein freundliches und geschicktes, der Stimmung des Krauken
angepasstes Entgegenkommen. Im Nothfalle kann zum Sulfonal oder
Trional gegriffen werden. Gegenüber der EiTegung in der galop-
pirenden Paralyse und ebenso bei den schweren Angstzuständen
mancher Kranker pflegen alle Mittel zu versagen. Auch Bäder und
Einwickelungen sind wegen des hochgradigen Widerstrebens der
Kranken häufig nicht durchzuführen. Wenn man auf anderem Wege
nichts erreicht, würde ich, da die Kranken meist auch keine Nahr-
ung zu sich nehmen, ein bis zwei Mal täglich die Sondenftttterung
Kraepolin, Psychiatrie 4. Aufl. ^0
626
XI. Die Dementia paralytica.
empfehlen, unter Zusatz von je 50 — 60 gr Alkohol oder von 1 gr
Sulfonal. Im Uebrigen wird man sich auf beständige Ueberwachung,
Schutz der Kranken vor Yerletzungen, sorgfältige Behandlung der
entstehenden Hautabschüifiingen u. s. w. beschränken müssen.
Die meiste Sorgfalt erfordert die Behandlung der Paralytiker
im letzten, bettlägerigen Stadium und besonders in den An-
fällen. Schon vorher ist es vielfach nothwendig, sorgfältig auf die
Reinhaltung der Kranken zu achten und die Nahrungsaufnahme zu
überwachen, wegen des mangelhaften Kauens nur gut zerkleinerte,
leicht verdauliche Speisen einzuführen und das gierige Schlingen
durch vorsichtiges Eingeben zu verhindern, da sonst leicht tödtliche
Erstickungsanfälle vorkommen. Im Anfalle und bei sehr erschöpften,
blödsinnigen Kranken ist vor Allem der Entstehung von Decubitus
vorzubeugen. Dieser Aufgabe dienen peinhchste Reinlichkeit, häufige
Waschungen der gefährdeten Theile mit kaltem Wasser oder einer
spirituösen Sublimatlösung, sorgfältige Beseitigung aller Falten, Brod-
krumen u. dergl. aus dem Bette, die Anwendung von Wasser- oder
Luftkissen oder die Lagerung auf feine Holzwolle oder Mooswatte,
welche rasch jede Yerunreinigung aufsaugen. Endlich aber ist ein
regelmässiger, durch Wärterhände bewirkter Wechsel der Lage noth-
wendig, so dass der Kranke (in schweren Fällen alle ^/g Stunde Tag
und Nacht) von einer Seite auf die andere , auf den Rücken, den
Bauch u. s. f. herumgedreht wird. Diese von v. Grudden einge-
führte Massregel, welche bis zu einem gewissen Grade auch der
Entstehung von „hypostatischen" Pneumonien entgegenarbeitet, er-
möglicht es, den sonst für unvermeidlich gehaltenen Decubitus von
den Paralytikern (10 "/q derselben sollen daran zu Grunde gehen)
fast ganz fernzuhalten und jedenfalls gefahrdrohende Formen des-
selben vollständig zu verhüten. Weit schwieriger ist es, den ein-
mal entstandenen Decubitus wieder zur Heilung zu bringen, zumal
der Kranke durch seine Unruhe und Abreissen des Yerbandes die-
selbe oft sehr erschwert. Eine regelrechte chirurgische Behandlung
hat mich bei rechtzeitigem Einschreiten dennoch stets zum Ziele
geführt, wo eine Nachlässigkeit des Wartpersonals die Vorbeugung
verabsäumt und (in wenigen Stunden!) das üebel herbeigeführt hatte.
In sehr schweren Fällen habe ich auch mit befriedigendem Erfolge
mehrere Tage und selbst Wochen laug das dauernde Wasserbad in
Anwendung gezogen.
Bohandlnng.
627
Die Entieerung des Mastdarms und der Blase bedarf im para-
lytischen Anfalle gewöhnlich nur anfangs einer Nachhülfe durch
Eingiessung resp. Einführung des (sorgfältigst gereinigten und des-
inficirten!) Katheters; später vollzieht sie sich regelmässig von selbst,
wenn man nicht durch zu langes Warten üoberfüUung und dadurch
Lähmung beider Organe hat entstehen lassen, die dann zu dauernder
Kunsthülfe zwingt. . Auch ausserhalb des Anfalles sind übrigens
'diese beiden Punkte wol zu beachten, wenn nicht anhaltendes Urin-
träufeln und Schlussunfähigkeit des Mastdarms entstehen soU. Ich
habe bei einem Paralytiker, der bereits 2 Jahre lang katheterisirt
worden war, nach 2 mal täglich wiederholten Blasenausspülungen
(Tanninlösung) in Zeit von 4 Wochen die spontane Entleerung sich
wiederherstellen und dann auch in einem 13 Tage dauernden para-
lytischen Anfalle nicht versagen sehen. Bei demselben Kranken
entstand trotz andauernden tiefsten Komas und fast völliger Puls-
losigkeit unter der oben erwähnten Behandlung bis zum Tode keine
Spur von Decubitus. Die Ernährung hat im Anfalle stets durch die
Sonde zu geschehen (nui- bei mehrtägigen Anfällen nöthig); blosses
Eingiessen in den Mund ist im höchsten Grade gefährlich. Sorgt
man dann noch für häufige Reinigung und Desinfection des Mundes
durch Auswischen mit einem feuchten Läppchen (Kali chloricum)
und für Feuchterhaltung der Hornhaut durch regelmässiges (alle Va
Stunde) Bewegen der meist halbgeöffneten Augenlider (Vermeidung
von ülcerationen), so kann es gelingen, die Kranken noch nach
8—14 Tagen aus dem paralytischen Anfalle sich erholen zu sehen
40*
XII. Die erworbenen Scliwäcliezustände.
Gegenüber den bisher besprochenen Formen psychischer Störung,
in denen wir die mannichfachsten Symptome auf den einzelnen
Gebieten des Seelenlebens sich mit einander mischen sehen, haben
wir nunmehr einiger Krankheitsbilder zu gedenken, deren wesent-
lichen Grundzug die Erscheinungen der erworbenen psychischen
Schwäche bilden. Da dieselben regelmässig das Ergebniss eines
bestimmten Krankheitsvorganges darstellen, so lassen sich neben ihnen
mehr oder weniger deutlich vielfach noch Eeste des früheren
gesunden Lebens oder voraufgegangener Störungen er-
kennen. Bisweilen bildet auch der eigenartige erworbene Schwäche-
zustand die Grundlage mehr vorübergehender Schwankungen des
psychischen Gleichgewichtes. Wahrscheinlich handelt es sich hier
überall um gröbere oder feinere organische Yeränderungen im Him-
gewebe. Eine ganze Reihe der eigentlich hierher gehörigen Zustände,
den epileptischen, alkohohschen, hebephrenischen Schwachsinn, die
Endstadien der Paralyse, haben wir schon früher bei anderem An-
lasse zu berühren Gelegenheit gehabt; an dieser Stelle bleibt uns
hauptsächlich noch übrig, auf die Dementia senilis und den
Schwachsinn bei organischen Hirnerkrankungen einen Blick
zu werfen.
A. Die Dementia senilis.*)
Schon in der allgemeinen Aetiologie des Irreseins sind in
grossen Umrissen die "Wandlungen geschildert worden, welche die
psychische Persönlichkeit im Alter regelmässig zu erleiden pflegt.
*) Türstner, Archiv f. Psychiatrie XX, 2.
Dementia senilis.
629
In ihrer stärksten Ausprägung führen diese Veränderungen zum
Krankheitsbilde des Altersblödsinns. Die ersten Anzeichen desselben
zeigen sich in der Kegel nicht vor dem Beginne der 60 er Jahre,
doch stellt sich bei schon ursprünglich schwach veranlagten oder
durch aufreibende Lebenserfahrungen und schwere Ueberarbeitung
„vorbrauchten" Individuen bisweilen schon erheblich früher, selbst
bereits gegen Ende des 5. Lebensjahrzehnts, ein vorzeitiges geistiges
und körperliches Greisenthum heraus (Senium praecox).
In der Eegel ist es zunächst eine gewisse Vergesslichkeit,
welche an dem Kranken auffällt. Zwar die Erinnerung an längst
entschwundene Tage haftet noch fest, ja einzelne Erlebnisse aus
früher Kindheit tauchen nicht selten mit erstaunlicher Lebhaftigkeit
wieder auf, um in weitschweifiger Breite immer von Neuem vor-
gebracht zu werden. Allein das Gedächtniss für die jüngste Ver-
gangenheit beginnt immer zahlreichere und unbegreiflichere Lücken
aufzuweisen. Die Gegenwart geht fast spurlos, ohne zu haften, an
dem Kranken vorüber; sie ist schon nach kurzer Zeit völlig ver-
gessen, weil sie sein Interesse nicht zu erregen vermag und darum
nur dimkel und unklar erfasst wird. Ganz ähnlich, wie in der
Paralyse, kann auch hier die Lücke wirklicher Erinnerungen durch
allerlei Erdichtungen ausgefüllt werden, deren subjective Entstehung
dem Kranken rasch entschwindet. Halberiebtes und fi-ei Erfundenes
mischt sich derart zu höchst unzuveriässigen Erzählimgen, dass der
Wahrheitskern oft äusserst schwierig oder gar nicht sich heraus-
schälen lässt. Der Kranke vergisst, was er gestern, vorgestern gethan
hat, erzählt im Laufe einer Unterhaltung dieselben altbekannten
Geschichten zum zweiten Male, ohne es zu bemerken, veriiTt sich
in seiner neuen Wohnung, weiss sich auf die Namen alter Bekannter
nicht zu besinnen und verwechselt die Personen seiner Umgebung-
Auf dem Gebiete des Verstandes zeigt sich die Verblödung vor
Allem in der Unfähigkeit des Greises, neue Erfahrungen in sich
aufzunehmen und zu verwerthen. Die Anpassungsfähigkeit und
Bewegüchkeit des Denkens ist dahin; das altgewohnte Spiel erstarrter
Vorstellungsverbindungen erhält sich noch in stetem Kreislaufe, aber
es ist keiner weiteren EntAvickelung mehr fähig, keiner Anregung
von aussen mehr zugänglich. Bei dem fortschreitenden Versagen
des Gedächtnisses, dem kein neuer Erwerb gegenübersteht, kommt
es rasch zu einer Verarmimg des Vorstellungsschatzes, deren Folge
630
Xn. Die erworbenen Schwächezuetände.
uns in der ausserordentlichen Dürftigkeit und Einförmigkeit des
Gedankeniuhaltes entgegentritt. Die geistige Verarbeitung äusserer
Eindrücke, die Bildung von Urtheilen und Schlüssen, die kritische
Sichtung und Prüfung aufsteigender Vorstellungsreihon wird immer
ungenügender und unsicherer. Daraus erklärt sich der völlige
Mangel an Verständniss für fremde Anschauungen und Verhältnisse,
die Unbeugsamkeit seniler Vorurtheile und die geringe Wideretands-
fähigkeit gegenüber den hier sehr häufig sich einstellenden Wahn-
ideen. Meist pflegen sich diese letzteren im Bahmen übertriebener
Krankheitsfurcht, unsinnigen Misstrauens oder kindischer Selbst-
überschätzung zu halten.
Auch im Gemüthsleben macht sich eine gewisse Verödung
geltend. Der Eianke wird stumpf und theilnahmlos. Seine Em-
pfänglichkeit für die Leiden, aber auch für die Freuden des Daseins
erlischt. In den Vordergrund des Interesses tiitt mein- und mehr
das eigene Ich und die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse
und Launen. Das körperliche Wohlbefinden, das Essen und Trinken,
die Verdauung, der Schlaf, der Tabak gewinnen eine ganz besondere
Wichtigkeit. Verlust der nächsten Angehörigen und ähnliche Schick-
salsschläge gehen rasch und spurlos vorüber. Die Familie, der Beruf,
seine Lieblingsbeschäftigung wird dem Kranken gleichgültig. Nicht
selten scheint die geistige und gemüthhche Abstimipfung mehr oder
weniger klar von ihm empfunden zu Averden. Er klagt, dass er
zu nichts mehr nütz ist, an nichts mehr Freude habe, dass es mit
ihm aus und vorbei sei. Dabei nimmt die augenblickliche Er-
regbarkeit häufig zu. Der Kranke Avird rücksichtslos, eigenwillig,
rechthaberisch, durch jeden Widerspruch gereizt und beleidigt.
Dennoch sind die Schwankungen der Stimmung oberflächlich und
ohne Nachhaltigkeit; weinselige Rührung, läppische Freude, kläg-
liches Verzagen werden dui'ch die geringfügigsten Anlässe hervor-
gerufen, um ebenso rasch wieder zu verschwinden. Der Geschlechts-
trieb ist vielfach gesteigert und äussert sich in schamlosen Heden,
stutzerhafter Kleidung, zotigen Aufschneidereien, Heirath splänen, aber
auch in unzüchtigen Handlungen, namentlich an Kindern, füi- deren
strafrechtliche Bedeutung dem geschwächten Verstände die klare
Einsicht mangelt.
Nicht selten gesellt sich zu diesen Störungen eine auffallende
Unruhe und Geschäftigkeit. Die Kranken beginnen, gegen ihre
Deinontia senilis.
631
Gewohnheit ein ausschweifendes Leben zu führen, laufen zwecklos
herum, machen unsinnige Einkäufe nrid Pläne, sammeln allen mög-
lichen Plunder bei sich an, schwatzen viel dm-cli einander und- ge-
rathon durcli ihr unvernünftiges Treiben in manniclifache Schwierig-
keiten. Auch in der Nacht finden sie keine Ruhe, sondern führen
durch vielfaches Aufstehen, Herumwandern im Hause, Kramen in
alten Scharteken, unvorsichtiges Hantii-en mit Licht allerlei Störungen
und selbst ernste Gefahren herbei. Am Tage sind die Kranken dann
müde und schläfiig, nicken mitten im Gespräche oder bei der Mahl-
zeit ein.
Die körperlichen Begleiterscheinungen der Dementia
senilis sind ausser der regelmässigen Störung des Schlafes ein sehr
beträchtlicher Eückgang des allgemeinen Kräf tezustandes, ge-
wöhnlich auch eine Abnahme des Appetits. Die abgemagerten
Kranken sehen mit ihren gerunzelten Zügen und der fahlen Gesichts-
farbe meist noch älter aus, als sie wirklich sind; ihre Muscijjatur ist
schwach, die Körperkräfte sind gering. Dazu können sich eine Reihe von
Erscheinungengesellen, welche auf leichtere oder tiefere Veränderungen
in der Hii-nernährung hindeuten. Sehr häufig sind Schwindelanfälle
mit vorübergehenden oder dauernden aphasischen Erscheinungen;
bisweilen sah ich geistige Störungen, namentlich Aufi-egungszu-
stände, sich unmittelbar daran anschliessen. Ferner beobachtet man
Hemiparesen des Gesichtes, der Zunge, der Extremitäten; endlich
liegt die Gefahr wii-klicher Apoplexien und Hemiplegien hier überaU
ausserordentlich nahe. An den geschlängelten, rigiden Arterien, an
dem harten, aber kleinen und verlangsamten, ni^ht selten imi'egel-
mässigen Pulse lassen sich oft schon im Leben die Zeichen der
arteriosklerotischen Veränderungen erkennen, welchen wir wol nicht
mit Unrecht die wichtigste Eolle in der Entstehungsgeschichte der
Dementia senilis zuschreiben dürfen.
Auf der allgemeinen Grundlage des Altersschwachsinns können
sich eine Reihe von Krankheitsbildern entwickeln, in deren klinischer
Gestaltung mehr oder weniger deutlich der Einfluss der allgemeinen
psychischen Rückbüdung zum Ausdracke kommt. "Wir sehen dabei
ganz ab von denjenigen Störungen, die in jedem und somit auch in
iiohem Alter eintreten können, wenn auch eine gewisse Färbung
derselben durch die Greisenveränderungen sich häufig genug be-
obachten lässt. Die überwiegende Mehrzahl der eigentüch senilen
632
Xn. Die erworbenen Schwächezustände.
Geisteskrankheiten sind Depressionszustände. In ihnen haben
wir vielleicht eine krankhafte Steigerung des schon im gesunden
Greisenalter so häufig sich entwickelnden Gefühles der Avachsenden
Unfähigkeit und Unzulänglichkeit vor uns, im Gegensatze zum über-
quellenden Ki-aftbevrusstsein der Jugendjahre.
In einer ersten Gruppe von Fällen trägt die psychische Yer-
stimmung wesentlich hypochondrische Züge. Sie schliesst sicli
häufig an körperliche Beschwerden, Verdauungsstörungen, die Influenza,
einen Magenkatarrh an. Die &anken werden besorgt für ihre
Gesundheit, fürchten schwer krank zu sein, nicht mehr gesund zu
werden, bald sterben zu müssen. Sie fühlen sich sehr schwach,
„durch und durch caput", können nichts mehr essen, nichts mehr
verdauen, haben keinen Stuhlgang. Oft gewinnen diese Torstellungen
einen ganz abenteuerlichen Inhalt.' In allen Gliedern steckt Eiter
und geht massenweise mit dem Stuhlgang ab, wird beim Eäuspern
ausgeworfen. Unter der Haut liegen Würmer imd krabbeln; die
Haut ist über die Achseln zu eng; der Kranke hat auf der Brust
das Panzergefühl. Es ist aus mit ihm; er ist todt, syi)hilitisch,
innerlich verfault, wird das ganze Kivankenhaus anstecken, hat keine
Augen mehr, kann nicht sitzen, keinen Schritt gehen, nicht mehr
athmen, nicht die Hand geben.
Die Stimmung ist dabei meist auffallend gleichgültig. Zeit-
weise aber kommt es zu heftigen Erregungsausbrüchen, stunden-
langem Jammern, Stöhnen, Herumwälzen, lautem Schreien und selbst
zu Gewaltthätigkeiten gegen die Umgebimg. Widerspruch gegen
die hypochondrischen Ideen pflegt zu gereiztem Schimpfen zu fühi-en.
Selbstmordneigung ist sehi- häufig. Höchst eigenthümlich ist das
unvermittelte Eintreten völliger Beruhigung nach stürmischer Auf-
regung; bisweilen steUt sich vorübergehend heitere Stimmung mit
dem Gefühle völliger Gesundheit ein.
Meist sind die Kranken unruhig imd unstet, schlafen schlecht,
stehen Nachts auf, irren planlos herum, laufen zu den verschiedensten
Aerzten, treiben unsinnige Quacksalbereien. Der Appetit ist ge-
wöhnlich gut, auch wenn die Kranken behaupten, keinen Bissen zu
sich nehmen zu können; „dies ist der letzte", meinte einer meiner
Kranken jedesmal, wenn man ihn auf diesen Widerspruch Mnwies.
In einzelnen lallen beginnt diese Erkrankung schon in den Rück-
bildungsjahren und erinnert dann an gewisse Formen der Hysterie,
Dementia senilis.
638
von denen sie sich aber dnrch die grosse Einförmigkeit der hypo-
chondrischen Bescliwerden unterscheidet. Gelegentlich sieht man
dabei nach Längerer Dauer zunächst einen Naclilass der Krankheits-
erscheinungen, die jedoch später, beim Eintritte des wirklichen
Greisonalters, in verstärktem Masse wiederzukehren pflegen.
Bei weitem am häufigsten ähneln die senilen Psychosen melan-
cholischen Zuständen. Von den typischen Melancholien des fünften
Lebensjahrzehnts führen fortlanfende üebergänge zu denjenigen
Formen hinüber, welche durchaus dem Gebiete des Altersblödsinns
angehören. Die Kranken werden ängsthch, unruhig, schlaflos,
menschenscheu und beginnen Versündigungsideen zu äussern.
Sie haben einen Fehler gemacht, etwas Schlechtes begangen, eine
schwere Schuld auf sich geladen, ohne recht zu wissen, welche.
Sie sollen über den Kaiser räsonnirt haben; sie haben ihre Familie
ins Unglück gestürzt, nicht recht gelebt, sind verdammt, auf ewig
verloren, können nicht mehr sehg werden, kommen in die Hölle.
Der Teufel wird sie holen; sie werden verhaftet, bestraft, vor Gericht
gestellt, im Hemde zum Hause hinausgejagt, hingerichtet, geköpft, ver-
brannt, müssen zum Schrecken und Abscheu aller Menschen auf der
Welt ewig herumirren. Nicht selten vertheidigen sich die Kranken
gegen vermeintliche Anklagen, sie hätten das Vaterland nicht ver-
rathen, ihr Kind doch nicht umgebracht, nichts gestohlen.. An alle
Handlungen und Wahrnehmungen schliessen sich oft die Ver-
sündigungsideen an. Sie sind Schuld, dass die Andern so jammern,
fortgebracht werden. Alle müssen hungern, wenn sie essen. „Was
ich mache, ist verkehrt; ich muss immer Alles wieder zurücknehmen,
was ich rede". Man soll sie daher nur in den Neckar werfen, nackt
in den Wald hinauslaufen lassen, am besten, wenn es recht schneit
und friert.
Sehr vielfach treten ganz besonders die Verfolgungsideen
in den Vordergrund. Sie pflegen sich zunächst an das bekannte
Misstrauen der Greise anzuknüpfen. Die Kranken fiüilen sich vor
ihrer Umgebung nicht sicher. Man ist ihnen feindlich gesinnt,
bestiehlt sie, giebt ihnen Gift ins Essen, will ihnen den Zwangs-
kittel anziehen, sie prügeln, zu fi-emden Leuten thun, ihnen den
Bauch aufschneiden und die Därme herausnehmen; „die Wärter
freuen sich schon darauf". Der Arzt ist gar kein Arzt, ist ein
Mörder, wird den Kranken vergiften und nach seinem Tode aus-
634
XII. Die erworbonon Scbwächezustäiule.
sprengen, er habe den Kaiser umgebracht. Man hat ihn in ein
schlechtes Haus gebracht, ihm Menschonüeisch,* das Fleisch seiner
Kinder zu essen gegeben, ein ganzes Buch über ihn geschrieben;
es geschieht allerhand, was nicht recht ist. Auch die Angehörigen
müssen leiden, werden gemartert; „sie werden doch hoffentlich noch
daheim sein?" In einzelnen Fällen werden sog. „nihilistische" Wahn-
ideen beobachtet. Es ist kein Geld mehr da; Alles ist todt, Alles
kommt fort; der Kranke ist allein auf der Welt, hat kein Nachtlager
mehr, ist gar nichts mehr; es wird überhaupt nicht mehr Nacht.
„Wenn mein Heimathsort noch existirt", sagte mir eine Kranke,
„möchte ich wol gern noch einmal hin". Alles kommt dem Kranken
verändert vor; es ist nichts mehr wie früher. Einer meiner Kranken
hielt die Sonne für künstliche elektrische Beleuchtung und beklagte
sich über die Schwäche seiner Augen, weil er die eigentüche Sonne
(in der Nacht) nicht sehen könne. In der Nacht, im Traume wird
dem Kranken eingegeben, wie schrecklich es zu Hause aussieht,
dass Alles dort zerstört und verschwunden ist. Bisweilen gesellt
sich dazu die Yorstellung häufiger Ortsveränderung. „Ich bin wieder
angekommen", sagte eine Kranke bei jeder Visite, da sie meinte, sie
werde immer fortgeführt, sei jede Stunde an einem anderen Ort.
Andeutungen sexueller Wahnideen sind nicht selten. Die soeben
erwähnte, 65jährige Kranke beklagte sich über unsitthche Angriffe,
glaubte, in die Wochen gekommen zu sein; eine andere im gleichen
Alter wähnte sich fortwährend den Nachstellungen alter Junggesellen
ausgesetzt, die sich zu ihr ins Bett legten. Yielfach halten weibliche
Kranke ihre Mitpatientinnen für verkleidete Männer. Ein älterer
Herr wurde seiner Meinung nach gegen seinen Willen allnächtlich
in Bordells herumgeschleppt, um dort syphilitisch gemacht zu werden.
Endhch kommt es in einzelnen Fällen, namentlich bei vorgeschrittener
geistiger Schwäche, auch zur Entväckelung dürftiger Grössenideen.
Der Arzt ist der Grossherzog, die Oberin Frau Grossherzogin; die
Kranke ist eine Fürstin, verlangt fürstliches Essen.
Deutliche Sinnestäuschungen sind in diesen senilen De-
pressionszuständen meist nicht nachzuweisen. Nur hie und da
scheinen einmal Gehörstäuschungen vorzukommen; es ist so ein
„Getöse"; „es wird soviel daher geredet". Noch seltener sind Ge-
sichtstäuschungen.- Eine meiner Kranken gab an, in der Zunge zu
fühlen, dass sie immerfort unverantwortliche Sachen schwätze. Da-
Dementia senilis.
635
gegen sind illusionäre Wahrnehmungen vorschiodenster Art, nament-
lich auch Personenverkonnungen, recht häufig. Abgeselieu von den
Fällen mit einfachem Versündigungswahn pflegt die Oriontirung
über Zeit und Ort erheblich gestört zu sein.
Die Stimmung ist regelmässig eine niedergeschlagene, klein-
müthige, weit seltener zornig und reizbar. Vielfach kommt es zu sehr
hartnäckigen und heftigen Angstzuständen. Die Kranken bleiben nicht
im Bett, irren jammernd und stöhnend herum, entblössen ihre Geni-
talien, knieen, flehen um Gnade, drängen sinnlos hinaus, verkriechen
sich, zupfen an Bettstücken, Kleidern, Fingern, Ohrläppchen, Haaren,
widersti'eben allen Einwirkungen auf das Aeusserste, klammern sich an
Vorübergehende an, reissen andere Kranke aus dem Bett, machen
planlose Angriffe, lassen vor Angst unter sich gehen. Fast ausnahmslos
besteht entschiedene Selbstmordneigung, in voller Uebereinstimmung
mit der statistischen Erfahrung, dass auch in der gesunden Be-
völkerung die Intensität des Selbstmordes mit Avachsendem Lebens-
alter stetig zunimmt. Freilich führen die Selbstmordversuche hier
vielfach nicht zum Ziele, Aveil die Kranken unüberlegt und kopflos
zu Werke gehen. Der Schlaf ist meist sehr gestört, ebenso der
Appetit. Nicht selten kommt es zu hartnäckiger Nahrungsverweigerung;
das Körpergewicht pflegt sehr beträchtlich zu sinken.
Der Aveitere Verlauf dieser Erkrankungen gestaltet sich ver-
schieden. Bei den leichteren Formen mit einfachen Versündigimgs-
ideen, welche wir mehr bei geistig und körperlich rüstigeren Per-
sonen beobachten, können sich die Krankheitserscheinungen nach
vielen Monaten allmählich wieder verlieren, so dass es zu einer Art
Genesung kommt. Gleichwol pflegt auch hier ein gewisser Grad
geistiger SchAväche und eine grosse Neigung zur Wiederkehr gemüth-
licher Verstimmungen regelmässig zurückzubleiben. Die Fälle mit
tiefergreifender Störung der Besonnenheit und dauernden Angst-
zuständen verlaufen gewöhnlich ungünstiger. Die Wahnideen schAvinden
allmählich; die Angst lässt nach oder tritt doch nur anfallsAveise
noch stärker hervor, aber die Kranken werden blöde, verworren,
stumpf und lassen nur noch in einzelnen Aeusserungen oder Hand-
lungen die spärlichen Beste des abgelaufenen Krankheitsvorganges
erkennen. Meist ist die Verblödung, die natürlich sein- verschieden
hohen Grades sein kann, im Laufe von 1 — 2 Jahren erreicht. Der
körperliche Zustand pflegt sich dabei langsam zu bessern. Endlich
636
XII. Die erworbenen SchwächezAistände.
gehou eine ganze Anzahl von Kranken an Entkräftimg in. Folge der
Nahrungsverweigerung nnd Unruhe, an Pneumonien und auch an
Phthise zu Grunde.
Weit seltener, als die bisher beschriebenen, entstehen manische
Krankheitsbilder im Greisenalter. Die leichtesten Formen derselben
können sich im Eahmen einer Hypomanie mit den deutlichen Zeiclien
geistiger Schwäche halten. Die Kranken werden schlaflos, reizbar,
auffallend heiter, unstät, geschwätzig, ideenflüchtig, putzen sich,
führen obscöne Eeden, wollen heirathen, machen unsinnige Aus-
gaben und sind durch ihre planlose Unruhe äusserst störend für
ihre Umgebung, bisweilen sogar gewaltthätig. Häufig zeigen sich
auch wirkliche Wahnideen und die Neigung zum Fabuliren. Der
Kranke ist von Adel, besitzt Millionen; Gott gehorcht ihm auf den
leisesten Wink. Gestern hat er beim Kaiser gespeist, im Ki'iege ein
ganzes Eegiment eigenhändig umgebracht, fabelhafte Reisen unter-
nommen und Abenteuer erlebt, deren Einzelheiten sich durch Gegen-
fragen leicht beeinflussen lassen.
Das Bewusstsein und die Orientirung kann dabei ziemlich
klar sein. Der Kranke erkennt die Personen, weiss, avo er sich
befindet, hält sich aber für ganz gesund und verlangt täglich mit
naiver Freimdlichkeit seinen „Austrittsschein", da seine Frau ihm
gestern geschrieben habe, dass er zu Hause sehr nöthig sei. Bis-
weilen schlägt die Stimmung ohne äusseren Grund plötzlich in
Traurigkeit oder Angst um. Der Kranke weint, weil Niemand so
vom Schicksal verfolgt sei, wie er, weil man ihn bestohlen habe,
weil er seine Angehörigen nicht mehr sehe, macht auch vielleicht
unvermuthet einen Selbstmordversuch, um wenige Stunden später
wieder in der alten Weise zu witzeln, seine Gesundheit zu loben
und mit seinem Vermögen zu prahlen.
Die Dauer dieser Zustände kann sich ohne wesentliche Ver-
änderung über Jahr und Tag hin erstrecken. Dann kommt es unter
Zunahme des Schwachsinns meist allmählich zu einer gewissen Be-
ruhigung. Im Laufe der Zeit verarmt der Vorstellungsschatz schliess-
lich bis auf einige wenige, völlig stereotype und oft ganz siimlose
Wendungen, die bei jeder Frage 'mit freundlich-stupidem Lächeln
vorgebracht und auch sonst unzählige Male wiederholt werden.
Die Kranken haben nun keine Ahnung mehr davon, wo sie sich
befinden, vermögen sich nicht mehr allein an- und auszukleiden.
Dementia senilis.
637
sind zu den einfachsten Verrichtungen unfähig, hülflos und unrein,
dabei aber meist lenksam und gutmüthig heiter. Hie und da zeigt
sich als Residuum früherer Erregung auch wol noch die Neigung
zum Zerstören und namentlich zum Schmieren und Sammeln; die
Ki-anken kriechen und wischen am Boden herum, wühlen ihre
Bettstücke durcheinander, werfen Kusshände, tanzen und springen
in läppischer Ausgelassenheit durch das Zimmer.
Wir haben endlich noch kurz der deliriösen Aufregungs-
zustände des Greisenalters zu gedenken. Die Kranken werden unter
starker Trübung des Bewusstseins rasch völlig verwirrt, halluciniren,
sprechen ganz zusammenhangslos und gerathen in eine äusserst
hochgradige Erregung hinein, welche binnen Kurzem für sie ver-
hängnissvoll werden kann. Aus ihren kaum verständlichen Reden
entnimmt man, dass sie sich vergiftet, verhext glauben, dass der
Teufel vor der Thüre steht, Leute mit Beilen, Pistolen und Messern
hereindringen, dass ein Schaffet gezimmert wird. Die Umgebung
wird vollständig verkannt. Die Stimmung ist meist ängstlich, vor-
übergehend aber auch heiter und vergnügt. Die Kranken sind un-
ruhig, nahezu schlaflos, drängen fort, rütteln an den Thüren, schlagen
die Fenster entzwei, schreien laut, rufen um Hülfe, verkriechen sich,
rutschen am Boden herum, zerreissen, wischen, schmieren, wälzen
und rollen sich, widerstreben sinnlos, verweigern die Nahrung.
Der Verlauf dieser Formen, welche eine gewisse Aehnlichkeit
mit der Amentia und dem Collapsdelirium darbieten können, zeigt
fast regelmässig Schwankungen, plötzliche Nachlässe mit mehr oder
weniger vollständiger Rückkehr der Besonnenheit. Bei einer 68 jährigen
Kranken sah ich mehrmals monatelange Beruhigungen eintreten, so
dass eine Art periodischen Verlaufes zu Stande kam. Meist jedoch
dauern die Nachlässe nur Tage oder Stunden. Die Aufregung kann
nach einigen Tagen ziemlich rasch schwinden, um dann einem
schwachsinnig-ängstlichen oder rührseügen, sich langsam ausgleichen-
den Nachstadium Platz zu machen. In anderen Fällen dauert sie
Monate lang, mit dem Ausgang in bleibende, mehr oder weniger
ausgeprägte geistige Schwäche.' Sehr vielfach erfolgt auf der Höhe
der Erregung in Folge von Erschöpfung, Schluckpneumonien oder
zufälligen Erkrankungen und Verletzungen der Tod.
Die pathologische Anatomie des Altersblödsinns zeigt uns
in schwereren Fällen makroskopisch, wie mikroskopisch deutliche
638
XII. Die erworbenen öchwächezustände.
Atropliio der Nervensubstanz. Das Hirngewicht ist verringert;
das Volumen bat abgenommen (compensatorische Schädelverdickungen
und bydropische Serumansammlungen); die Windungen sind ver-
schmälert. Die Ganglienzellen erscheinen in verschiedener "Weise
entartet (fettig, pigmentös, verkalkt) ; ebenso lässt sich ein mehr oder
weniger ausgedehnter Schwund der Fasermassen nachweisen. Ausser-
dem trifft man gelegentlich auf Erweichungsherde und Blutungen
in Einde und Marklager; pachymeningitische Erkrankungen, nament-
lich Hämatome, sind verhältnissmässig häufig.
Der unmerkliche üeb ergang der ausgeprägten Formen des
Altersblödsinns in die gewöhnlichen psychischen Yeränderungen des
Seniums macht eine scharfe Abgrenzung derselben von der Norm
unmöghch. Bis zu einem gewissen Grade ist daher die Kennzeich-
nung des Krankhaften hier vollkommen willkürlich, wenn auch das
Auftreten von Wahnideen und stärkeren Erregungszuständen natürhch
an der Ueberschreitung der Gesundheitsbreite keinen Zweifel mehr
zulässt. Andererseits gehen die senilen Geistesstörungen auch ganz
allmählich in diejenigen der Rückbildungsjahre über, in denen sich
ja gewissermassen die Einleitung des Greisenalters vollzieht. Immer-
hin scheinen die einfachen Depressionszustände und der depressive
Wahnsinn mehr dem früheren Lebensalter anzugehören, während
die ausgeprägt hypochondrischen, die ängstlichen und namentlich
die deMriösen und manischen Formen erst später aufzutreten pflegen.
Zudem ist die Prognose dort überall erhebUch günstiger, als hier.
Praktisch kaum weniger schwierig, obgleich theoretisch leichter, kann
sich in einzelnen FäUen die Unterscheidung zwischen der Dementia
senilis und der Paralyse, namentlich den dementen Formen derselben,
gestalten. Beruhen doch beide auf anatomischen Yeränderungen,
welche, soweit wir heute sehen, sehr viele Aehnhchkeit mit einander
darbieten. Wie schon früher angedeutet, ist es namentiich das höhere
Alter der Kranken, der Mangel der charakteristischen Sprach- und
Schriftstörungen, der Eückenmarkserscheinungen, das häufigere Her-
vortreten Avirkhcher Herdsymptome, endlich auch der langsamere
Verlauf und die geringere Productivität in den Wahnideen, welche
für die Abtrennung der Dementia senilis verwerthet werden können.
Die Behandlung der Krankheit hat naturgemäss meist nur
einen sehr engen Spielraum. Sorgsame körperliche Pflege und Ueber-
wachung der oft gebrechlichen und schlecht genährten Kranken, Be-
Schwachsinu bei organischen Hirnerkrankungen.
639
kämpfimg der Schlaflosigkeit durch Urethan oder Sulfonal, der Angst
durch vorsichtige Darreichung von Morphium oder Opium (Pulvis
Doveri), zuweilen auch passend durch Spiritiiosen (abendliches Bier)
und diätetische Massregeln ist so ziemlich Alles, was geschehen kann.
In den deliriöson Aufregimgszuständen ist häufiger die Anwendung
dos Polsterbettes, verlängerter Bäder, sowie Sondenfütterung (mit
Alkohol) nothAvendig. Andererseits ist bei den ruhigen Schwachsinns-
formen sehr häufig die Anstaltsbehandlung unnöthig und unter günst-
igen häuslichen Verhältoissen dui'ch die familiäre Verpflegung voll-
ständig zu ersetzen.
B. Der Schwachsinn bei organischen Hirnerkranknngen.
In ähnlicher Weise, wie bei der Paralyse, sehen wir auch bei
dem an sonstige organische Himerkrankungen sich anschliessenden
Schwachsinn psychische Störungen mit nervösen ßeizungs-
oder Ausfallserscheinungen sich verbinden. Die besondere
Gestaltung der klinischen Ki-ankheitsbüder ist dabei wesentlich durch
die Ausdehnung, den Sitz und die Art des Hirnleidens bedingt.
"Wir werden unter diesem Gesichtspunkte vor Allem diffuse
und örtlich begrenzte Erkrankungen auseinander zu halten
haben.
Eine ■ erste . Gruppe von Störungen, welche sich uns hier dar-
bietet, sind die ausgebreiteten, über einen grösseren Kindenbezirk
sich erstreckenden Hirnerkrankungen. Vielleicht ist es gerade auf
diesem Gebiete der Zukunft vorbehalten, uns noch eine Anzahl ver-
schiedener Krankheitsvorgänge von einander unterscheiden zu lehren,
die wir jetzt unter dem Sammelnamen des „fortschreitenden Blöd-
sinns mit Lähmung", der Dementia paralytica, zusammenwerfen.
Ein Anfang in dieser Eichtling ist bereits gemacht mit der besonders
von P ürstner*) und seinen Schülern näher studirten „Gliose
der Hirnrinde", vorwiegend tumorartigen, multiplen Gliawucher-
ungen in den oberflächhchen Rindenschichten mit Höhlenbildung
und Schwund der nervösen Elemente. Die Krankheit entwickelt sicli
überaus chronisch, bei Individuen, welche schon von Jugend auf
einzelne, als Initialsymptome zu deutende Störungen (Krämpfe, Imbe-
*) Fürstnor und Stüblingcr, Archiv für Psychiatrie, XVII. 1.
640
XII. Die erworbenen Schwächezustände.
cillität, Reizbarkeit) dargeboten haben; später stellt sich dann eine
fortschreitende Demenz ein, mit Gedächtnissschwäche, Sprachstörung,
Opticusatrophie und häufig auch tabischen Symptomen.
In einer gewissen Verwandtschaft zu dieser Form steht vielleicht
auch jener Krankheitsprocess, den man als diffuse Hirnsklerose
bezeichnet, eine ausgedehnte Vermehrung des Bindegewebes in einer
oder in beiden Hemisphären, die ebenfalls mit allmählich fortschreiten-
dem Schwachsinn und mannichfachen centralen Ausfalls- und Reizungs-
erscheinungen einhergeht, Hemiplegien, Krampfanfällen, Steigerung
der Patellarreflexe und Spasmen in den Beinen. Endhch hat
Homen*) ein eigenthümliches, bei mehreren Geschwistern beobach-
tetes Ki-ankheitsbild als vermuthliche Erscheinungsform der Lues
hereditaria tarda beschrieben, welches klinisch der dementen Form
der Paralyse ähnelt. Das Leiden beginnt im jugendlicheren Lebens-
alter mit Schwindel, Kopfschmerzen, Unsicherheit des Ganges und
fortschreitender Abnahme des Gedächtnisses und der Intelligenz.
Dazu gesellen sich später Verlangsamung und Erschwerung des
Sprechens, Spasmen, Contracturen, Incontinenz, Schluckstörungen,
leichter Tremor und bisweilen auch Krämpfe, während die geistige
Schwäche bis zu den höchsten Graden fortschreitet. Der Tod erfolgte
nach einer Reihe von Jahren. Die anatomische Untersuchung ergab
vor Allem sehr ausgedehnte endarterütische Gefässerkrankungen,
ferner Faseratrophie, namentlich im Stirnhirn, sovsäe leichte Ver-
änderungen an den PyramidenzeUen und geringe NeurogHawucherung.
Bei der multiplen Sklerose gestaltet sich die Stärke und
Ausdehnung der psychischen Erscheinungen je nach der Locahsation
und Grösse der einzelnen Herde sehr verschieden. "Wo überhaupt
das Gehirn in beträchtlicherem Masse betheiligt ist, sehen wir in der
Regel einen einfachen, fortschi-eitenden Schwachsinn, Abnahme der
Intelligenz und des Gedächtnisses ohne Verwirrtheit oder Aufregung,
sowie allmählich zunehmende Stumpfheit und Energielosigkeit sich
entwickeln. Unter Umständen können derartige Kranke grosse Aehn-
lichkeit mit dementen Paralytikern darbieten; die Beachtung der
mehr auf einzelne Herde hinweisenden nervösen Symptome, eventuell
auch der scandirenden Sprache, des Intentionszitterns, Nystagmus,
sowie der Mangel jener eigenai-tigen, tiefereu Bewusstseinstrübung,
*) Archiv f. Psychiatrie, XXIV, 1.
Schvvachsimi bei ürf^'aiiisclien Hirnerkrankungen. 641
welche den Paralytiker auszeichnet, ermöglichen jedoch fast immer
die Diagnose.
Die multiple Sklerose bildet gewissermassen den Uebergang
von den diffusen zu den strenger localisirten Erkrankungen des
Gehirns. Im Bereiche dieser letzteren haben wir hauptsächlich zwei
grössere Gruppen von Läsionen auseinander zu halten, die Ge-
schwülste auf der eine^, die Blutungen, Erweichungen, Embolien,
Thrombosen auf der anderen Seite. Bei grösseren Tumoren pflegen
die psychischen Störungen meist wesentlich durch die Steigerung
des intrakraniellen Druckes, weniger durch ihre Localisation bedingt
zu Averden. So kommt es, dass dort, wo die Geschwülste sehr lang-
sam wachsen, oder wo sie mehr zerstören, als verdrängen, die psych-
ischen Erscheinungen lange Zeit hindurch gering sein können.
Ich sah einen Ei-anken, den eine über faustgrosse, im Anschlüsse
an ein Ti-auma aufgetretene tuberculöse Geschwulst den grössten
Theil des rechten Stirnhirns mit der Einde vernichtet hatte, bis
wenige Tage vor seinem Tode keinerlei Störung der Besonnenheit
und Intelligenz darbieten, nur- eine mässige, von dem Kranken selbst
bemerkte Gedächtnissschwäche. Bei denjenigen Geschwülsten da-
gegen, welche den Druck in der Schädelhöhle erhebüch steigern,
stellt sich zunächst eine gewisse Benommenheit und Unbesinnlich-
keit ein. Die Aufmerksamkeit der Kranken wird nur durch relativ
kräftige Eeize und auch dann nur für kurze Zeit erregt; sie liegen
apathisch oder sich unter unerträgüchen Kopfschmerzen herum-
wälzend da, ohne von ihrer Umgebung Notiz zu nehmen. Bisweilen
tritt Katalepsie auf. Nach und nach werden die Kranken immer
stumpfer und somnolenter, obgleich vielleicht noch gar keine aus-
geprägteren Herdsymptome hervortreten. Nicht selten beobachtet
man bis in das letzte Stadium der Somnolenz hinein einzelne
Hallucinationen auf Sinnesgebieten, die für normale Eeize völlig
unerregbar geworden sind, namentlich, wie es scheint, bei Kleinhirn-
tumoren. In einem solchen, von mir beobachteten Falle glaubte
der amaurotische Kranke (Potator) lange Eeisen zu machen, sah
bunte Gegenden und kleine Schnapsgläser vor sich, nach denen er
griff; ein anderer derartiger Kranker, der kein Trinker war, sah
trotz völliger Ati'ophie der Optici ebenfalls monatelang wechselnde
„Bilder" und hörte bei allmählich fortschreitender und schliesslich
vollständiger Taubheit sehr häufig seinen Namen und allerlei
Kraopoliu, l'sychiatno. 4. Aull. 41
642
XII. Die erworbenen Schwächezustände.
Scbimpfworte rufen. Stärkere Aufregungszustände sind bei Tuüioren
selten.
Hirnabscesse können lange Zeit ohne jegliche psychische Sym-
ptome verlaufen, namentlich, wenn sie sich sehr langsam entwickeln.
Ich sah einen Schreiber, der bis zum Eintritte in die Abtheilung
seinen Dienst gethan hatte, dann aber unter den Erscheinungen
leichter Benommenheit und mit Ki'ampfanfällen erkrankte, die auf
das Täuschendste hysterischen glichen. Als er 3 Wochen später in
einem solchen Anlalle starb, fand sich ein apfelgi'osser Abscess im
linken Hinterhauptslappen. Bei frischen traumatischen Abscessen
pflegt die Benommenheit im Vordergrunde des Krankheitsbildes
zu stehen. Die Kranken verstehen ihre Umgebung und die an sie
gerichteten Anreden nicht, geben ganz verkehrte Antworten, deliriren
bisweilen in traumhaft zusammenhangsloser Weise. Dazu können
sich dann noch Katalepsie, aphasische Störungen, Rindenepilepsie
und andere Reizerscheinungen hinzugesellen.
Ein wesentlich anderes Bild pflegen die psychischen Störungen
bei Blutungen und Embolien darzubieten. • In unmittelbarem
Anschlüsse an den Schlaganfall sind die Kranken meist benommen,
desorientirt, verwirrt, verkennen ihre Umgebung, begehen allerlei
verkehrte Handlungen. Bisweilen treten vorübergehend lebhafte
Erregungszustände mit lautem Schreien, Fortdrängen, Widersti-eben
auf. Späterhin jedoch pflegen die Kranken, wenn nicht schon um-
fangreicliere endarteriitische Yeränderungen vorliegen, vollständig
klar und über ihre Umgebung orientirt zu sein. Am meisten in
die Augen fällt gewöhnlich neben den nervösen Störungen eine
mehr oder weniger erhebliche Gedächtnissschwäche. Die Kranken
irren sich leicht, ohne es zu bemerken, hinsichtlich wichtiger
Daten und Ereignisse aus ihrem Yorleben; besonders die zeitliche
LocaUsation ist sehr unsicher. Das Rechnen geht schlecht, selbst
wenn früher grosse Fertigkeit darin bestand. Auch die Erinnerung
an die jüngste Yergangenheit haftet nicht zuverlässig. Dazu kommt,
dass dem Kranken leicht einzelne Kategorien von Vorstellungen,
Eigennamen und Zahlen, verloren gehen, Störungen, welche bereits
als die ersten Andeutungen der amnestischen Aphasie zu betrachten
sind. Die Beurtheilung der Intelligenz wird gerade dui*ch das
Hineinspielen aphasischer und paraphasischer Symptome vielfacli
sehr erschwert; die Kranken erscheinen dadurch bei flüchtiger
Schwachsinn bei organischen Hirnerkrankiingen.
643
Untersuchung oft weit blödsinniger, als sie wirklich sind. So stellte
sich bei einem jugendlichen Herzki'anken meiner Beobachtung, der
zunächst eine wahrscheinlich embolische, Linksseitige Hemiplegie mit
Hemianaesthesie, Hemianakusie, Abducens- und Trigeminus-Lähmung,
Gesichtsfeldeinschränkung, kurz darauf aber eine mit Krämpfen auf-
ti-etende rechtsseitige Hemiparese erhtt, ein eigenthümlicher Agram-
matismus ein, der ihn vollständig kindisch erscheinen liess, da er
ohne jede Construction nur in Infinitivsätzen nach Art der Kinder
sprach. Als sich diese AnomaHe nebst sämmthchen übrigen Sym-
ptomen aUmählich verlor und er mit einer gewissen Anstrengung
auch die immer noch vorhandene Neigung zum Keden in Infinitiven
überwinden konnte, stellte sich heraus, dass die IntelUgenz voll-
kommen erhalten war und sogar nicht unbeträchtiich über das Nor-
malmass hinausging. Genau die gleiche Störung, das kindliche Reden
in Infinitivsätzen, beobachtete ich vorübergehend bei einer 62 jährigen
Frau mit Mammakarcinom und alter Lues nach einem Schlaganfall mit
Aphasie und starker verwirrter Aufregung.
"Wo die Folgen eines apoplektischen Anfalles dauernde sind,
wo es sich also um eine theüweise Zerstörung von Hirnsubstanz
handelt, pflegt eine gewisse Schwächung der gesammten Yerstandes-
thätigkeit nicht auszubleiben. Namentlich langes Fortbestehen apha-
sischer Störungen scheint regelmässig eine empfindliche Einbusse der
intellectuellen Leistungsfähigkeit und des Yorstellungsschatzes nach
sich zu ziehen. Die Eä-anken zeigen eine Erschwerung und Yer-
langsamung ihres Denkens, ermüden ungemein leicht, vermögen
keinem schwierigeren Gedankengange mehr zu folgen, verlieren in
ihren Erzählungen alle Augenblicke den Faden, werden leichtgläubig
imd urtheüslos. Oft haben sie ein deutliches Gefühl für die Yer-
änderung, die sich mit ihnen vollzogen hat, jammern über ihre Un-
fähigkeit. „Ich bin so dimim", klagte mir eine solche Kranke. Die
Stimmung ist bald mehr weinerlich, verdriesslich, querulirend, bald
sorglos heiter und unbekümmert, immer aber leicht erregbar und
zu Schwankungen geneigt. Bisweilen kommt es zeitweise zu leb-
hafteren Aufregungszuständen mit Ideenflucht, grosser Geschwätzigkeit
und Grössenideen, namentlich im Anschlüsse an epileptische An-
fälle, wie sie bei alten Apoplektikem nicht selten aufti-eten. Sehr auf-
fallend ist oft die sittliche Stumpfheit, die Gleichgültigkeit gegenüber
den Angehörigen, gegenüber den früher sorgfältig gepflegten Lebens-
41*
644
XII. Die erworbeneu Schwächezuständo.
interessen, die ausgeprägte Selbstsucht und die Unempfindlichkeit
gegenüber den Geboten der Sitte und des Anstandes. Der Kranke
ist lenksam, leicht bestimmbar, fängt häufig an, zu bummeln, zu
trinken, zu vergeuden. Ein derartiger Kranker aus guter Familie,
der vor 13 Jahren eine rechtsseitige Lähmung in Folge von Lues
erlitten hatte, gerieth dadurch mit dem Strafgesetze in Conflict, dass
er bei jeder Gelegenheit ohne klaren Beweggi-und Strümpfe stahl.
Auch noch in anderer Eichtung können die psychischen Störungen
nach Hirnblutungen eine bedeutende forensische Wichtigkeit ge-
winnen. Die Verstandesschwäche und TJrtheilslosigkeit der Apo-
plektiker, ihre Keizbarkeit auf der einen, ihre leichte Bestimmbarkeit
auf der andern Seite stellen den Arzt bei den bisweilen vorkommen-
den Eheschliessungen, bei Kaufverträgen und Testamentssti-eitigkeiten
vor die Frage nach dem Yorhandensein der Dispositionsfähigkeit.
Eine allgemeine Beantwortung derselben lässt sich selbstverständlich
überhaupt nicht geben; die Schwäche auf den verschiedenen Gebieten
des psychischen Lebens kann von den allerleichtesten, noch in die
Gesundheitsbreite fallenden Schädigungen aUe Grade bis zum tiefsten
Blödsinn erreichen, so dass die Grenze des Krankhaften im einzelnen
Falle sich oft nur nach dem persönlichen Ermessen des Arztes ab-
stecken lassen wird.
In der überwiegenden Mehrzahl der FäUe sind zweifellos die
localisirten Blutungen, Embolien, Thrombosen nur- Theüerscheinungen
ausgebreiteter Yeränderungen, namentlich endarteriitischer Gefäss-
erkrankungen. Wahrscheinlich sind in der Kegel gerade diese
letzteren hier als die wesentlichste Ursache der psychischen Störungen
anzusehen. So würde es sich erklären, dass häufig dem apoplekt-
ischen Anfalle schon eine deutliche Abnahme der geistigen Kräfte
voraufgeht, und dass die allgemeinen psychischen Yeränderungen bei
sehr verschiedenem Sitze des Herdes doch in der Hauptsache die
gleichen zu sein pflegen. Mehrfach habe ich Gelegenheit gehabt,
sogar bei bulbären Herderkrankungen die Erscheinungen eines rasch
entstandenen Schwachsinns zu beobachten, zu dessen Erklärung die
bisweilen durch die Autopsie bestätigte Annahme einer ausgedehnteren
Betheiligung der Hü-ni-inde herangezogen werden musste (chi-onische
Meningitis, Gefässveränderungen). Am nächsten liegt ein solcher
Zusammenhang bei den Herderkrankungen des Greisenalters, deren
wesentlich symptomatische Bedeutung neben den schweren Störungen
Schwachsinn hei organischen Hirnerkranlcungen.
645
der gesammten Hirnfunctionen wir schon früher kennen gelernt
haben.
Die verschiedenen Formen des Schwachsinns bei organischen
Hirnleiden sind im ganzen überaus häufige Erkrankungen, wenn
sie auch dem Irrenarzte nur selten, sondern zumeist dem inneren
Mediciner oder dem Neuropathologen zu Gesicht kommen. Ihre
Dauer und Prognose richtet sich natürlich nach der Art des ur-
sächlichen Krankheitsvorganges. Die Abgrenzung mancher dieser
organischen Himerkrankungen von der Paralyse, namentlich der
dementen Form, stösst bisweilen auf grosse Schwierigkeiten. Bei
diffusen Rindenaffectionen ist eine sichere Trennung während des
Lebens heute nicht selten ganz unmöghch, aber auch die multiple
Sklerose und selbst Tumoren können hie und da zur Verwechselung
mit der Paralyse Anlass geben. Immerhin wird das Auftreten streng
localisirbarer, wenn auch multipler Herdsymptome meist davor
schützen. Die Behandlung der hier besprochenen Psychosen
findet ausser der Berücksichtigung etwa vorhandener Causalindi-
cationen (Syphilis, operative Eingriffe), sowie der Nothwendigkeit
gelegentlicher Beruhigungs- und Schlafmittel (Urethan, Bromkalium)
keinen besonderen "Wirkungskreis.
XIII. Die psycMschen Entwickelungsanomalien.
Die letzte Gruppe psychischer Krankheitsbüder, welcher wir uns
nunmehr zuzuwenden haben, umfasst alle jene Zustände, welche sich
auf dem Boden einer krankhaften Entwickelung des jugend-
lichen Menschen herausbilden. Die krankmachende Ursache wirkt
hier auf den Organismus ein zu einer Zeit, wo die psychische Per-
sönhchkeit erst in ihrer Anlage vorhanden ist, und sie schafft einen
Zustand, welcher in allen wesentlichen Punkten das ganze spätere
Leben hindurch unverändert und unheilbar fortbesteht. Die über-
grosse Mehrzahl aUer in dieser Weise erwachsenden Krankheitsformen
bietet das allgemeine Gepräge der psychischen Schwäche in
den verschiedensten Abstufungen und Färbungen dar, deren Haupt-
gruppen wir als Idiotie, Cretinismus und angeborenen Schwach-
sinn auseinanderhalten können; weiterliin aber werden wir auch an
dieser Stelle noch kiurz jener eigenartigen Störung zu gedenken haben,
die man mit dem Namen der conträren Sexualempfindung zu
belegen pflegt.
A. Die Idiotie.
Unter dem Namen der Idiotie*) pflegt man alle jene hoch-
gradigeren psychischen Schwächezustände zusammenzufassen,
deren Entstehungszeit vor die Geburt oder in die ersten
Lebensjahre fällt. Streng genommen ist diese Abgrenzung nicht
ganz wissenschafthch, insofern sie auf der einen Seite Entwickelungs-
hemmungen, auf der anderen Seite aber durch Krankheitsvorgänge
erworbene Störungen mit einander vereinigt. Leider fehlen uns
*) Emminghaus, Die psychischen Störungen des Kindesalters p. 243. s.
So Iii er, Der Idiot und der Imbecille, deutsch von Brie. 1891.
Tdiotio.
647
jedoch bisher noch brauchbare Anlialtsp unkte, Avelche im einzelnen
Falle gestatten würden, auch klinisch die Zeichen einer Hemniungs-
bildung von denjenigen einer krankhaften Zerstörung wichtiger
Hirntheile durchgreifend zu unterscheiden.
Die psychische Ausbildung der Idioten lässt eine grosse Zahl
von verschiedenen Formen erkennen, deren Abgrenzung von ein-
ander wegen des Ineinanderf Hessens der Bilder erhebliche Schwierig-
keiten darbietet. Als Eintheilungsprincip hat man zmneist das Ver-
halten der Sprache (gänzlichen Mangel, Yorhandensein einzelner
Worte, stufenweise reichere Entwickelung derselben) benutzt, weil
ja in der That die Entfaltung der Yerstandesthätigkeit in sehr nahen
Beziehungen zur Lautsprache steht. Allein die Fähigkeit des Sprechens
deckt sich durchaus nicht immer mit der weit wichtigeren des Yer-
stehens. Es scheint mir daher zweckmässiger, bei einer Betrachtung
dieser Zustände an das Yerhalten der grundlegenden psychischen
Leistung, der bewussten Wahrnehmung der Aussenwelt, an-
zuknüpfen.
In den niedersten Formen der Idiotie ist die Erfassung eines
Eindruckes durch die Aufmerksamkeit gänzlich unmöglich. Es ge-
lingt nicht, durch irgend einen Eeiz Theilnahme zu erwecken, so
dass es oft schwer ist, festzustellen, ob die Sinnesorgane überhaupt
erregbar sind. Die Kranken sammeha keine Erfahrimgen, lernen
ihre Umgebung nicht kennen und sind unfähig, irgendwelche klare
Yorstellungen, Urtheile oder Schlüsse zu bilden; ebensowenig kann
von einem eigentüchen Selbstbewusstsein die Kede sein. Das Ge-
fühlsleben bleibt auf den Wechsel dunkler Gemeingefühle beschränkt,
und die durch sie hervorgerufenen Handlungen, die sich höchstens
noch auf die Nahrungsaufnahme beziehen, behalten den Charakter
des Triebartigen. Die Kranken sind gemüthlich meist gänzlich im-
erregbai-. Sie lächeln nicht, erschrecken nicht, äussern kein Unbehagen
bei Yeranreinigungen, keine Fi-eude bei den Yorbereitungen zur
Mahlzeit oder bei kleinen Geschenken. Nur der Hunger oder stärkerer
körperlicher Schmerz bringt sie zu eintönigem, ausdruckslosem
Schreien. Sie treffen keine Auswahl beim Essen, zeigen kein Yer-
langen, sich Gegenstände anzueignen, greifen nicht zu, spielen nicht
und schreien nicht, wenn man ihnen ein Spielzeug aus der Hand
nimmt. Zu den einfachsten zweckmässigen Handlungen sind sie
unfähig, vermögen z. B. nicht den zufällig zwischen die eigenen
648
XIII. Dio psychischen Entwickelungsanomalien.
Zähne gerathenen Zeigefinger in Sicherheit zu bringen, Aveichen
nicht aus, wenn man sie immer wieder an derselben Stelle mit der
Nadel sticht, ti'otzdem sie vielleicht die Miene verziehen und schreien.
Der Gesichtsausdruck bleibt meist stumpf und leer, kann aber bei
erworbener Idiotie trotz tiefsten Blödsinns intelligent sein.
Von einer Sprachentwickelung ist keine Spur. Das Gehen und
Stehen sogar wird erst spät oder gar nicht erlernt; alle Bewegungen
bleiben ungeschickt und plump. Bisweilen zeigen die Kranken eine
gewisse Unruhe, planloses Herumi-ennen und Betasten, Kreischen,
hartnäckiges Schmieren mit Speichel, Nägelkauen, Zupfen an Haaren
und Kleidern, triebartiges Masturbiren. Häufig sind auch einförmige.
Jahraus, Jahrein oft rhythmisch sich wiederholende Zwangsbewegungen,
Händeklatschen, Blasen und Schnauben, Hin- und Herwiegen des
Körpers im Sitzen oder Stehen. Manche Kranke schlagen sich mehr-
mals takttnässig derb ins Gesicht und weinen dabei vor Schmerz, um
wenige Minuten später das gleiche Spiel zu wiederholen, wenn man sie
nicht daran verhindert. Die gesammte körperliche Entwickelung
dieser tiefststehenden Idioten pflegt erheblich zurückzubleiben. Das
Zahnen vollzieht sich spät und unregelmässig; Krampf anfäUe sind
häufig. Sie gehen ohne die liebevollste Pflege, die für ihre Fütterung,
Beinhaltimg u. s. f. unermüdliche Sorge trägt, rasch zu Grunde.
Ein etwas höherer Stand des Seelenlebens ist dort erreicht, wo
wenigstens passiv, durch besonders auffaUende Eindrücke, die Auf-
merksamkeit des Kranken für einige Zeit erregt werden kann, wenn
auch eine selbständige Lenkung derselben nach inneren Beweg-
gründen noch nicht stattfindet. Hier werden wenigstens einzelne
deutliche Sinneswahrnehmungen dem Bewusstsein zugeführt und
wol auch eine beschränkte Anzahl von einfachen Vorstellungen
gebildet, allein dieselben sind doch vielfach sehr unvollständig und
entbehren des inneren Zusammenhanges. Das Gedächtniss zeigt,
namentlich was die Schnelligkeit der Aufnahme anbelangt, eine
äusserst geringe Leistungsfähigkeit. Galton fand, dass selbst besser
begabte und zu aussergewöhnlichen Gedächtnissleistungen befähigte
Idioten nur Reihen von höchstens 3 — 4 ihnen langsam vorgesagten
Buchstaben sofort richtig wiederholen konnten, während normale,
gleichaltrige Kinder ohne Schwierigkeit sogar 7 — 8 Buchstaben nach-
zusprechen vermochten. Die Fähigkeit zur Absti*action, zur Auf-
findung gemeinsamer Bestandtheile in verschiedenen Wahrnehm-
Idiotie.
ungen, wie sie die Grundlago der Begriff sbildimg ausmacht, bleibt
mangelhaft; es kommt nicht zur Ausbildung einer geschlossenen
psychischen Persönliclikeit.
Die Sprache, wie das Yerständniss, und damit der geistige Ver-
kehr mit der Umgebung ist meist wenig entwickelt; sie bleibt in
der TJnvollkommenheit der Satzbildung, der Einmischung unver-
standener Flickwörter, der Unbeholfenheit des Ausdrucks, ■ der Aerm-
lichkeit des Wortschatzes auf kindlicher Stufe stehen. Der beim
gesunden Kinde so sehr in den Vordergrund ti'etende Nachahmungs-
trieb und die damit zusammenhängende Neigung, zu spielen, sich
selbst zu beschäftigen, fehlt ganz oder bis auf schwache Andeutungen.
Die Kranken ermüden ungemein leicht, vermögen keiner Anregung
längere Zeit hindurch zu folgen. Egoistische, grobsinnliche Grefühle
beherrschen die Stimmung und liefern die Antriebe für ein nur
auf Befriedigung augenblicklicher Gelüste gerichtetes Handeha. Ge-
legentlich kommt es zu plötzlichen, unbändigen Wuthausbrüchen, wo
die eigenen Wünsche durchkreuzt werden. Tiefere Zuneigung zu
einzelnen Personen kommt nicht zu Stande, höchstens eine gewisse
hündische Anhänglichkeit; dagegen kann sich bei ungeeigneter,
rauher Behandlung ein verstocktes, bösartiges, rachsüchtiges Wesen
entwickeln. Der Geschlechtstrieb fehlt ganz oder tritt auch wol
schon in den ersten Lebensjahren hervor und kami zu eifrig be-
triebener, rücksichtsloser Masturbation führen. In ganz vereinzelten
Fällen entwickeln sich gewisse einseitige Fähigkeiten, namentlich
auffallendes mechanisches Wort-, Zahlen-, Klanggedächtniss oder
technische Fertigkeiten einfacher Art.
Je nach der Leichtigkeit, mit welcher die Aufmerksamkeit an-
gezogen und abgelenkt werden kann, lassen sich zwei, allerdings
nur in den ausgeprägtesten Fällen von einander abgegrenzte Formen
unterscheiden, die anergetische (apathische) und die erethische
(versatile). Die Kranken der ersten Gruppe sind nur schwer aus
ihrem stumpfen Hinbrüten aufziulitteln; der Vorstellungsverlauf
bleibt langsam imd träge, die Keproduction wegen der Armuth des
Ideenschatzes und bei dem Mangel an Anknüpfungspunkten dürftig,
meist in einzelnen gewohnheitsmässigen Bahnen sich bewegend. Die
Stimmung ist meist farblos, gleichgültig, zeigt bisweilen eine gewisse
schwerfällige Gutmüthigkeit. Dieser Form gehören namentlich häufig
die später genauer zu besprechenden Fälle von cretinistischem Blöd-
650 XIII. Die psychißcben Entwickelungsanomalien.
sinn mit ihrer eigenthümlichen Körperbildung an. Bei den versatilen
Formen wandert die Aufmerksamkeit, bald hier, bald dort angezogen,
planlos hin und her und erfüllt das Bewusstsein mit buntem, inner-
lich zusammenhangslosem und daher rasch vergessenem Inlialte.
Eascher, oberflächlicher Wechsel der Stimmung und eine äusserliche,
ziellose Unruhe und Beweglichkeit, die sich in Händeklatschen,
Herumspringen, Gesticuliren, Lachen und Schreien kundgiebt, ver-
vollständigen das Bild. Körperlich sind die Kranken oft wohl-
gebildet, aber von kindlichem, schlankem Gäederbau.
Selbstverständlich giebt es nicht nur zwischen den hier ge-
zeichneten Gegensätzen alle möglichen Uebergangsformen, sondern
die einzelnen Fälle zeigen auch sonst in ihren geistigen und ge-
müthlichen Eigenthmnlichkeiten vielfach individuelle Züge. In den
schwersten Formen der Idiotie dagegen wird man bisweilen durch
die typische Uebereinstimmung mancher Kranker in ihrem psychischen
und körperlichen Gesammtverhalten überrascht. Manchmal ent-
wickeln sich auf der idiotischen Grundlage mehr vorübergehende
Störungen des psychischen Gleichgewichts, namentlich periodische
tobsüchtige Erregungszustände, seltener traurige "Verstimmungen oder
Angstanfälle. Bei letzteren beobachtet man gelegentlich starke
Selbstmordneigung.
Bei der Yerschiedenartigkeit der Zustände, welche wir unter
dem Sammelnamen der Idiotie zusammenfassen, kann es uns nicht
Wunder nehmen, wenn wir auch auf körperlichem Gebiete eine
grosse Mannichfaltigkeit der Krankheitszeichen antreffen. Durch-
schnittlich findet sich ein geringeres Längenwachsthum , sogar bis
zum Zwergwuchse; damit verknüpft sich ein Zurückbleiben der ge-
sammten Körperentwickelung, kindlicher Habitus, Ausbleiben des
Bartes und der Schamhaare, geringe Ausbildung der Genitalien,
Fehlen der Menstruation, späte, unregelmässige und mangelhafte
Zahnbildung. Die Sinne, besonders das Gehör, aber aucli Geschmack
und Geruch, erscheinen oft ausserordentlich stumpf, zum Theil ge-
wiss wegen der Aufmerksamkeitsträgheit der Kranken.
Ferner beobachtet man in grösserer oder geringerer Häufigkeit jene
kleinen Entwickelungsstörungen, welche man als Entartungszeichen
anzusehen pflegt, Missbildungen an Augen, Ohren, Gaumen, Nase und
an den Knochen des Gesichtsskeletts^ namentlich falsche Stellung der
Kiefern und Zähne. Wildermuth konnte derartige A.bweichungen
Idiotie.
G51
in 80 "/o der Fälle nachweisen. Ausserdem bestanden vielfach noch
Steigerung oder Felüen der Sehnem-eflexe , sowie Coordinations-
störungen an den unteren Extremitäten, den Augenmuskeln (Nystag-
mus), namentlich aber beim Sprechen, Abstossen der Endsilben,
mangelhafte Articulation einzelner oder der meisten Consonanten
mit Yerstümmelimg und Verunstaltung der Wörter*), Plumpheit und
Ungeschicklichkeit in allen Bewegungen, unüberwindliche Mit-
bewegungen, Wiederkäuen, Speichelfluss, Bettnässen, Unreinhchkeit.
Häufig sind auch Anzeichen, welche auf vorangegangene Hirn-
erki-ankungen hinweisen, halbseitige Lähmungen und Paresen, Con-
tracturen, Spasmen (in einzelnen Fällen brettartige Steifigkeit des
Körpers), partielle Wachsthumshemmungen, Krämpfe verschiedenster
Art, choreatische, athetotische Bewegungen, gewohnheitsmässiges
Zähneknirschen, Aphasie. Als wichtigste Begleiterin des Krankheit-
bildes der Idiotie ist endlich die Epilepsie zu nennen, die sich
nach Wildermuths Mittheilungen in etwa 30°/o der Fälle findet.
Nicht selten treten epileptische Anfälle verschiedener Art, von aus-
geprägten Krämpfen bis zu den leichtesten Erscheinungsformen, bereits
in den ersten Lebensjahren auf und müssen dann als prognostisch
sehr ungünstiges Zeichen betrachtet werden. Entwickelt sich die Epi-
lepsie erst in späterer Zeit, so ist ihre Bedeutung eine weit geringere.
Unter den Ursachen der Idiotie scheint, soweit es sich um
einfache Entwickelungshemmungen handelt, die erbliche krankhafte
Belastung eine gewisse Kolle zu spielen. Wir haben ja schon
früher gesehen, dass die Idiotie, und wol nicht ohne Berechtigamg,
als das letzte Glied in der Kette der familiären Entartung auf-
gefasst worden ist. Insbesondere sollen Trunksucht und namentlich
Betrunkenheit der Eltern während des Zeugungsactes , weiterhin
nahe Yerwandtschaft derselben das Entstehen der Idiotie begünstigen.
Dass diese letzteren Punkte nicht als erwiesen gelten dürfen, wurde
an anderer Stelle bereits ausgeführt. Sehr verscliiedenartige Ursachen
können die eigentlichen Hirnerkrankungen haben, wie sie sich im
jugendlichen Lebensalter ja häufig durch das Auftreten von Eeiz-
erscheinungen (Delirien, Krämpfe) ankündigen. Die Hauptrolle
spielen wol acute oder chronische Vergiftungen, namentlich im Ver-
laufe von Infectionskrankheiten, Typhus, Blattern, Scharlach, seltener
*) Berklian, üeber Störungen der Sprache und der Scliriftspracho, J889,
652
XIU. Die psychischen Entwickelungsanomalien.
Masern und Erysipel. Auch die ererbte Syphilis kommt hier Avahr-
scheinhch in Betracht. Von grosser ursächlicher Wichtigkeit ist
ferner der frühzeitige Missbrauch des Alkohols, vielleicht auch des
Opiums, sowie länger dauernde Asphyxie während und nach der
Geburt. Eine zweite grosse Gruppe von Ursachen bilden die Kopf-
verletzungen, Compression des Kopfes durch ein enges Becken oder
die Zange, vielleicht auch Ueberhitzung des Kopfes. Als mittelbare
Ursachen reihen sich ihnen alle die allgemeinen und persönlichen
Schädigungen der Gesundheit an, welche vorzugsweise die niederen
Yolksschichten treffen und nach dieser oder jener Eichtung hin das
Fortpflanzungsgeschäft oder die Entwickelung des Fötus in krank-
haftem Sinne zu beeinflussen vermögen. Das männüche Geschlecht
scheint bei den Idioten zu überwiegen; vielfach stammen sie aus
kinderreichen Familien, in denen dann gewöhnlich mehrere Ge-
schwister gleichzeitig schwerere oder leichtere Entwickelungstörungen
darbieten.
Eine ganz besondere Bedeutung hat man früher dem Einflüsse
der Nahtverknöcherung am Schädel auf die Ausbildung des
Gehirns zugeschrieben, indem man vorzeitige Knochenverwachsungen
als die Ursache abnormer Kleinheit oder asymmetrischer Gestaltung
desselben ansah. Durch neuere Untersuchungen hat sich indessen
herausgestellt, dass, in der Regel wenigstens, die Entwickelung des
Schädels wesentlich durch die Wachsthumsverhältnisse des Gehirns
bestimmt wird, und nicht umgekehrt. Die Gesetze, welche diesen
letzteren zu Gnmde liegen, sind noch zum grössten Theile ebenso
unklar, wie die Wachsthumsbedingungen überhaupt; es scheint jedoch,
dass die Weite der Blutgefässe, die Menge, namentlich aber auch
die Beschaffenheit des zugeführten Ernährungsmaterials von einigem
Einflüsse sein kann. Natürlich ist die Berücksichtigung der Schädel-
form, wenn man in ihr auch nicht die Ursache der Hiinstörungen
sieht, dennoch bisweilen von grossem Werthe, insofern sie bis zu
einem gewissen Grade einen Rückschluss auf die Art dieser letzteren
gestattet. Thatsächlich finden sich Yerbüdungen des Schädels bei
Idioten, wie Wildermuth gezeigt hat, in etwa der Hälfte der Fälle.
MikrocephaHsche Formen überwiegen bedeutend, entweder als gleich-
mässige Yerkleinerung aller Durchmesser oder, seltener, als sog.
Aztekentypus mit fliehender Stirn und abgeflachtem Hinterhaupt.
Solche Bildungen sind natüi'lich nothwendig mit abnormer Kleinlieit
Idiotie.
653
des Gehii-ns verbunden, die durch gleichzeitigen Hydrocephalus
noch beti'ächtiicher ausfallen kann, als der Augenschein vermuthen
lässt. Eine kleinere G-ruppe von Idioten zeigt im Gegentheil auf-
fallend gi-osse Köpfe, namentlich hydrocephalische Formen mit vor-
gebauchter Stirn und grosser Breite zwischen den Scheitelhöckern.
Da die Schädelnähte verwachsen, sobald der Gegendruck des Hirns
an einer Stelle nachlässt, so lassen sich aus der Schädelbildung
gewisse allgemeine Schlüsse auf die relative Entwickelung der ein-
zelnen Hirntheile ziehen. Verkürzung der Schädelbasis (Triba-
silarsynostose) geht mit einer Yerkümmerung der nach unten ge-
legenen Hii'upartien einher; Verkleinerung der Schädelkapsel nach
irgend einer Richtung mit abnormer Yerknöcherung der auf letzterer
senkrecht stehenden Nähte deutet auf eine geringe Ausbildung der
beti-offenen Rindengegend hin.
Allein es können sich bei diesen begrenzten Störungen nach
anderen Richtungen hin compensatorische Verschiebungen
sowol des Schädels, wie des Gehirns entwickeln, die eine völlig nor-
male Entfaltung aller einzelnen Hirntheile ermöglichen. In der
That finden sich nicht so selten ziemlich hochgradige Vorbildungen
des Schädels bei geistig durchaus gesunden, ja hochstehenden
Menschen, so dass wir jene Befunde im Allgemeinen mehr als eine
Hindeutung auf die Möglichkeit gleichzeitiger anderer Veränderungen,
denn als die nothwendige Ursache krankhafter Functionsstörungen
selbst ansehen dürfen. Jedenfalls bieten sie einstweilen ein weit
grösseres anthropologisches und anatomisches, als eigentlich psychi-
atrisches Interesse, zumal die Versuche, sie zu bestimmten klinischen
Büdern in Beziehung zu bringen, bisher noch wenig erfolgreich
gewesen sind. Nur scheint die Verkümmerung der Basis mehr mit
den tieferstehenden apathischen Formen der Idiotie in Zusammen-
hang zu stehen, während man bei abnormer Kleinheit der Schädel-
kapsel mit fliehender Stirn meist die versatilen Formen beobachtet,
häufig begleitet von Epilepsie.
Die pathologische Anatomie der Idiotie zeigt uns bei
Weitem am häufigsten die Ueberreste krankhafter Vorgänge. Haupt-
sächlich kommen hier encephalitische, meningitische und hydrocepha-
lische Erkrankungen in Betracht, die theilweise Zerstörungen (z. B.
Porencephalie) und Veränderungen der Hirnrinde oder allgemeine
Atropliic derselben durcli Steigerung des Druckes im Schädel herbei-
654
Xlll. Die psychischen Entwickeluuf^sanomalien.
führen können. Seltener finden sich Entwickelungshemmungen
und Missbildungen, Heterotopien der Hirnsubstanz, Fehlen des
Balkens, des Kleinhirns, Ungleichlieit der beiden Heinisphären,
Windungsarmuth oder WindungsanomaJien , Kleinheit des ganzen
Grosshirns u. s. f. Auch dort, wo diese Yerbildungen nicht un-
mittelbar die Grundlage unseres Seelenlebens betreffen, lassen sie doch
einen Eückschluss auf die krankhafte Natur der Gesammtanlage zu.
Die Prognose der Idiotie ist, dem Wesen der Krankheit ent-
sprechend, im Allgemeinen eine durchaus ungünstige; der Idiot wird
niemals im Stande sein, die geistige Reife des normal entwickelten
Menschen zu erreichen. Gleichwol ist es eine Frage von grosser
praktischer Bedeutung, im einzelnen Falle sich darüber klar zu
werden, wie weit der bestehende Zustand die Möglichkeit einer
psychischen Fortentwickelung zulässt, wie weit der Kranke bildungs-
fähig ist oder mcht. In der ersten Kindheit lässt sich darüber in
der Regel ein sicheres Urtheil kaum gewinnen; wird doch oft von
den Angehörigen das Bestehen einer Störung im dritten oder vierten
Lebensjahre überhaupt erst bemerkt. Auch späterhin ist eine pro-
gnostische Aussage ohne längere Beobachtung häufig nicht leicht.
Die Möglichkeit einer Fesselung der Aufmerksamkeit des Kindes für
einige Zeit, das längere Haften einer Erirmerung (Wiedererkennen
von Gegenständen, Sträuben gegen früher erfahrene unangenehme
Einwirkungen), der Nachweis eines Yerständnisses für die Sprache
können als günstige Anzeichen angesehen werden, während das
frühzeitige Auftreten der Epilepsie die Prognose sehr trübt. Im
letzteren Falle kommt es häufiger zur Entwickelung tiefsten Blöd-
sinns, da dem Kranken meist nach und nach auch der geistige Er-
werb verloren geht, den er in seinen ersten Lebensjahren sich etwa
hatte zu eigen machen können. Die durchschnittliche Lebensdauer
der Idioten ist eine verhältnissmässig kurze. Während ein Theil
derselben an den Folgen und gelegentlichen Nachschüben der Ge-
hirnerkrankungen zu Grunde geht, erliegen andere den zahlreichen
Schädlichkeiten, denen sie wegen ihrer geistigen und körperlichen Un-
behülfhchkeit ausgesetzt sind, und endlich scheint ihnen auch noch im
Allgemeinen eine geringere Widerstandsfähigkeit gegenüber zufälligen
Erkrankungen und ungünstigen Lebensverhältnissen zuzukommen.
Die Erkennung der Idiotie bietet nur in der fi'ühen Kindheit
eriioblichere Schwierigkeiten. ADerdings können auch jetzt schon
Idiotie.
655
einzelne Anzeichen, ünempfindlichkeit gegenüber äusseren Einflüssen
und Anregungen, Fehlen der gewöhnlichen Eeactionen gegen Hunger
und Nässe, beim Anlegen an die Brust, bei Annäherung der Mutter,
oder fortwährende planlose Unruhe, Mangel der Aufmerksamkeit,
des Lachens und Weinens, Beibehaltung der fötalen Gliederstellung,
weiterhin aber die Erscheinungen von Hirnerkrankungen, Krämpfe,
Lähmungen und dergl. die Vermuthung einer Idiotie nahe legen.
Sicherheit wird aber erst der weitere Verlauf der Entwickelung,
verspätetes Gehenlernen und vor Allem das gänzliche oder theil-
weise Ausbleiben der Sprachbildung und des Sprachverständnisses
zu geben vermögen. Auf der anderen Seite wird die Abgrenzung
der Idiotie von den leichteren Formen des Schwachsinns immer bis
zu einem gewissen Grade wiUkürHch sein; man pflegt im Allgemeinen
alle diejenigen Kranken der ersten Gruppe zuzurechnen, deren
geistige Entwickelung seit den frühen Kinderjahren höchstens nach
der Seite des Gedächtnisses, nicht aber nach derjenigen des Urtheils
und des Weltverständnisses Fortschritte gemacht hat.
Die Behandlung der Idiotie wird in der Hauptsache immer
eine pädagogische sein müssen, selbstverständlich unter steter Be-
rücksichtigung der für jeden einzelnen Fall in Betracht kommenden
ärztüchen Grundsätze. Sich selbst überlassen oder in ungünstiger,
roher Umgebung pflegen Idioten rasch zu verkommen und zu ver-
thieren, auch bösartig zu werden. Ich erinnere mich an einen
kleinen harmlosen Idioten, den sein Yater in bester Absicht des-
wegen an eine Kette legte, weil er die Neigung hatte, davon zu
laufen, und bei seinen Irrfahrten in allerlei Gefahren gerieth, nament-
lich durch die Misshandlungen und Scherze seiner Nachbarn. Es
ist nicht unwahrscheinlich, dass eine ganze Anzahl jener verwilderten
Menschen, die man zu verschiedenen Zeiten in Wäldern aufgefunden
und neuerdings als besondere Abart des Menschengeschlechts („homo
sapiens ferus") beschrieben hat, verirrte Idioten waren. Noch vor
nicht langer Zeit habe ich einen aus den Wäldern Ungarns stammen-
den zerlumpten Landstreicher gesehen, dessen eigenthümlicher, hoch-
gxadigster Blödsinn sehr wahrscheinlich bis in die früheste Jugend
zurückreichte. Auch die häusliche Pflege tiefstehender Idioten bringt
nicht selten schwere Nachtheile mit sich, namentlich bei den er-
regten Formen. Die mühselige Erziehung solcher Kinder erfordert
einen derartigen Aufwand von Liebe, Geduld und namentlich auch
656
XIll. Diü psycliischoii EutwickclungsanomaUen.
Sachkenntniss, wie er in der Familie fast niemals erreichbar ist
Ausserdem aber können die Kranken durch schlimme Beeinflussung
der Geschwister, durch Gewaltthätigkeiten, unvermuthete Fahrlässig-
keiten, Brandstiftungen, geschlechthche Angriffe gelegentlich in nicht
geringem Grade gefährlich Averden.
Mit vollem Eechte hat man daher mehr und mehr die Behandlung
der Idioten, die zu einer besonderen Specialität ausgebildet worden ist,
in eigens für die Bedürfnisse dieser Kranken eingerichtete Anstalten
verlegt. Geregelter Unterricht in möglichst leicht fasslicher Form, von
den einfachsten Kenntnissen und Fertigkeiten beginnend, fi-euudliche,
liebevolle Pflege der gemütlilichen Regungen, sorgfältige Förderung der
körperlichen Ausbildung, Alles unter genauer Beachtung der kleinen
persönlichen Eigenthümüchkeiten des Einzelnen, sind die hauptsäch-
lichsten Hülfsmittel, mit denen die Idiotenerziehung ai-beitet. Die
Erfolge dieser aufopferungsvollen Arbeit sind zwar der Natur der
Sache gemäss keine glänzenden und in die Augen springenden, aber
sie sind doch Aveit gi-össer, als man von vorn herein denken sollte.
Eine ansehnliche Zahl geistiger Kilippel verlässt alljähi-lich die
Idiotenanstalten, Avenn auch nicht geheilt, so doch derart erzogen,
dass sie in bescheidenem Ki-eise dauernd eine nutzbringende Thätigkeit
zu entfalten im Stande siud. Eine Art ursächlicher Behandlimg
der Idiotie kann unter Umständen mit der Bekämpfung epileptischer
Anfälle durch Bromkalium, Atropin, Ueberosmiumsäure (Wilder-
muth) angestrebt Averden, um so Avenigstens das Fortschreiten des
psychischen Verfalles bis zu einem gOAvissen Grade zu hindern. Der
thörichte Vorschlag, bei MikrocephaUe auf chirui-gischem Wege den
Schädel zu öflheu, um dem vermeintlich zusammen gepressten Ge-
hirne Raum zu schaffen, beruht auf einer so gründhchen Verwechsel-
ung ZAvischen Ursache und Wirkung, dass er hoffentlich kein längeres
Leben haben Avird, als die Kranken, die ihm bisher zimi Opfer ge-
fallen sind.
B. Der Cretiiiismus*)
Der Cretinismus ist ausgezeichnet durch die Verbindung
eines idiotischen psychischen Zustandes mit den körper-
Bailliirger et Krishabor, crotin, c.rötiiiisine et goitre eiuleiuiquo. dictiou-
niüre encyeloi)e(lique des scicnces medicalcs. 1879 (Literatur).
Cretinismus.
657
liehen Begleiterscheinungen einer Verkümmerung oderEnt-
artung der Schilddrüse. Der cretinistische Zustand ist bei der Ge-
burt in der Regel noch nicht vorhanden; in seltenen Ausnahme-
fällen sind indessen Kinder bereits mit Kröpfen geboren worden.
Am häufigsten zeigen sich die ersten Andeutungen des Leidens
gegen Ende des ersten Lebensjahres. Die Kinder bleiben in ihrer
gesammten körperlichen Entwickelung zurück, zeigen ein blasses,
gedunsenes Aussehen. Sie lernen sehr spät oder gar nicht gehen,
sind träge und unbeholfen in ihren Bewegungen. Psychisch sind
sie stumpf, theilnahmlos, sprechen nicht, schlafen viel, essen ohne
Auswahl, vermögen sich nicht reinlich zu halten und bedtlrfen lange,
bisweilen ihr ganzes Leben hindurch, einer sorgfältigen Pflege.
Um das 5. oder 6. Lebensjahr macht sich meist deutlich die
Vergi-össerung der Schilddrüse bemerkbar, die, bis zum 12. oder
15. Jahre fortschreitend, ganz ausserordentliche Grade erreichen kann.
In anderen, weniger häufigen Fällen verschwindet dagegen für
die äussere Untersuchung jede Spur der Schilddrüse. Das geringe
Längenwachsthum des Knochenskeletts führt zum Zwergwuchs. Da-
bei pflegen die einzelnen Skeletttheile massig, öfters sogar unförmlich
entwickelt zu sein; auch der Kopf ist meist auffallend gross, aber
flach, der Hals kurz und dick. Die gesammte Haut ist wulstig,
hypertrophisch, hängt an einzelnen Stellen, am Nacken, an den Ober-
armen, in Form dicker, nur im Ganzen verschieblicher Platten über
der gewöhnlich recht schwächlichen Muskulatur. Namentlich die
breiten Gesichter mit den schwammigen Backen und Augenlidern,
den dicken Lippen, der aufgestülpten, an der Wurzel tief ein-
gedrückten Nase, bieten einen sehr merkwürdigen Anblick dar. Bei
schlechterem Ernährungsstande wird die Haut eigenthümlich faltig,
schlaff und runzlig. Der Haarwuchs ist regelmässig spärlich. Die
Zähne sind sehlecht, cariös, stehen schief, nach vorwärts gerichtet.
Die beiden Zahnreiben passen vielfach nicht aufeinander, weil der
Unterkiefer gegenüber dem oberen zurücktritt oder vorspringt. Die
Zunge ist dick, unbeholfen in ihren Bewegungen, die Sprache daher
auch dort, wo sie sich über unarticulirtes Grunzen erhebt, lallend,
stammelnd, ungelenk. Die Stimme klingt rauh, heiser, bisweilen
fistulös. Die Hautempfindlichkeit ist erheblich herabgesetzt. Alle
Bewegungen sind plump, sclnverfällig, der Gang langsam und
schleppend. Hie und da werden Krampfanfälle beobachtet. Die
Kr ii opelin, Psychiatiio. 4. Aufl. 42
658
Xin. Die psychischen EntwickelungsanomaUen.
Geschlechtsentwickelung tritt spät oder bei den höchsten Graden des
Leidens gar nicht ein. Hier unterbleibt bisweilen auch der Zahn-
wechsel. Die Widerstandskraft der Cretinen gegen Krankheiten und
andere Schädlichkeiten pflegt eine sehr geringe zu sein; sie erreichen
daher meist kein hohes Lebensalter, nur recht selten das 50. Jahr.
In psychischer Beziehung können die Cretinen alle mög-
lichen Grade der Entartung vom tiefsten Blödsinn bis zum leichten
Schwachsinn darbieten, ja es giebt einzelne Personen, welche trotz
gewisser körperlicher Anzeichen des Cretinismus, (namentlich Ki-opf)
dennoch in ihrem geistigen Yerhalten von der Gesundheitsbreite
nicht erkennbar abweichen. Bei der überwiegenden Mehrzahl der
Kranken jedoch findet sich eine ausgeprägte Stumpfheit und Un-
empfänglichkeit, welche sie mehr oder weniger unfähig macht, Ein-
drücke in sich aufzunehmen, Erfahrungen zu sammeln, Yorstellungen
und Begriffe zu bilden. Sie bleiben daher sehr häufig auf der Stufe
des 4—5 jährigen Kindes stehen, öfters auch noch tiefer. Auch die
gemüthliche Erregbarkeit der Cretinen ist regelmässig eine sehr
geringe; sie sind gleichgültig, phlegmatisch, vielfach kindisch zu-
thunlich, gutmüthig und lenksam. Zu geregelter Arbeit sind sie
meist nicht fähig, theils wegen ihrer Trägheit und Schlaffheit, theüs
wegen ihrer geringen Kräfte und der grossen Ermüdbarkeit. Ge-
wöhnlich besteht dieser Zustand durch das ganze Leben gleichmässig
fort. Nur in einzelnen Fällen können sich, gerade wie bei Idioten,
mehr vorübergehende geistige Störungen hinzugesellen, manische
Erregungen, Depressionen oder dürftige Wahnbildungen.
Die pathologische Anatomie des Cretinismus liegt leider
noch völlig im Argen. Wir wissen über den Hirnbefund nur, dass
theilweiser Schwund, Asymmetrien, Erweiterung der Hirnhöhlen vor-
kommen. Der Schädel ist häufig verdickt. Hier wäre ein Angriffs-
punkt für die Forschung mit Hülfe der neueren Methoden.
Der Cretinismus tritt bei Weitem am häufigsten endemisch
auf, namentlich in den grossen Gebirgsstöcken aller Erdtheile, in
Europa besonders in den Alpen und Pyrenäen. Am meisten scheinen
die mittleren Abschnitte sehr heisser und feuchter Gebii'gsthäler
gefährdet zu sein; auch dem Kalkboden wird eine gewisse Bedeutung
zugeschrieben. Die letzten Ursachen dieser endemischen Locali-
sation sind bisher noch unbekannt: man hat die verschiedenartigsten
Momente, grosse Feuchtigkeit, Stagnation der Luft, schlechtes Trink-
Cretinlsmus.
659
Wasser, Gehalt der Luft und des Bodens an gewissen Substanzen,
geologische Formation, ungünstige hygienische Verhältnisse, dafür
verantwortlich gemacht, ohne doch bisher eine sichere Erklärung
auffinden zu können. Immerhin weisen zahlreiche Beobachtungs-
thatsachen vor Allem auf eine sehr wichtige Kollo des Trinkwassers
hin. In der Schweiz hat die Bevölkerung vielfach solche Quellen
als „Kropfbrunnen" bezeichnet, auf deren Benutzung die Entstehung
des Cretinismus zurückgeführt wurde. Hie und da hat sich die
Beschi-änkung des Leidens auf einen bestimmten Brunnenbezirk,
das Aufhören oder das Auftreten des Cretinismus mit der Schliessung
oder Eröffnung- einer bestimmten WasserqueHe nachweisen lassen.
Meistens fi-eilich pflegt die Ursache des Cretinismus eine weitere
Yerbreitung zu besitzen und den Typus der Gesamnitbevölkerung
einer Gegend mehr oder weniger stark zu beeinflussen, so dass eben
dadurch jene zahlreichen Abstufungen bis in die Gesundheitsbreite
hinein entstehen, denen wir regelmässig neben den schwersten
Formen begegnen. Ja, auch die Thiere, Schweine, Hunde, Pferde,
Eindvieh, Katzen, besonders aber Maulthiere, können die Zeichen
des endemischen Cretinismus darbieten. Erwachsene Fremde, welche
sich in den gefährdeten Gegenden niederlassen, erkranken nicht
oder höchstens mit ganz leichten Kropfbildungen, während die dort
von ihnen erzeugten Kinder gar nicht selten cretinistisch entarten.
Andererseits ist der Cretinismus einer erblichen Uebertragung fähig,
auch nach der Auswanderung aus der befallenen Gegend; er pflegt
sich unter solchen Umständen erst nach wiederholter Kreuzung mit
gesundem Blute zu verlieren.
Alle diese eigenthümlichen Thatsachen scheinen darauf hinzu-
weisen, dass wir als die Ursache des Cretinismus eine Schädlichkeit
anzusehen haben, welcher eine gewisse Selbständigkeit der Ent-
wickelung neben der Entstehung unter bestimmten allgemeinen
hygienischen Bedingungen zukommt, ein Verhalten, welches mit
grosser "Wahrscheinlichkeit auf einen organisirten Infecti onsstoff
hinweist. Namentlich der jugendliche, resp. fötale Organismus scheint
diesem, offenbar wenig flüchtigen und vielleicht auf die Nach-
kommenschaft übertragbaren endemischen Contagium besonders leicht
zugänglich zu sein. Nach Allem, was wir über das Myxödem, sowie
über die Entartung nach Ausschneidung der Schilddrüse wissen,
kann kaum noch ein Zweifel sein, dass auch beim Cretinismus die
42*
660
XIII. Die psychischen Entwickelungsanomiilien.
Erkrankung der Schilddrüse das erste Glied der Erkrankung
darstellt, während die Hautveränderungen, die Wachsthumshemmung,
der Blödsinn als die Folgen des Ausfalls der Schilddrüsenfunction an-
zusehen sind. Ist es doch bereits gelungen, absichtlich bei Thieren
und unabsichtlich beim Menschen alle jene Krankheitserscheinungen
geradezu experimentell herbeizuführen! Auf diese Weise erklärt
es sich einmal, dass es Cretineu mit und ohne Kropf giebt, da die
Erkrankung der Schilddrüse natürlich zur Yergrösserung und Ent-
artung, aber auch zur- Schrumpfung des Organs führen kann. So
erklären sich ferner die verschiedenen Grade des Cretinismus durch
die verschiedene Ausbreitung der örtlichen Veränderungen, wie
durch die wechselnde Ausbildung stellvertretender Drüsen. Endlich
aber begreift man leicht, dass es neben dem endemischen hie und
da auch einmal einen Fall von „sporadischem" Cretinismus geben
kann, wenn nämlich die Schilddrüse nicht durch den gewöhnlichen,
auf bestimmte Gegenden beschränkten Krankheitserreger, sondern
durch irgend ein anderes Leiden functionsunfähig wird. Die Aehn-
lichkeit der cretinistischen mit der Malariaentartung scheint mir
eine sehr grosse zu sein; in beiden Fällen handelt es sich um die
Erkrankung einer für den Blutstoffwechsel nothwendigen Drüse,
in beiden wahrscheinlich uin ein organisirtes Ferment, welches
im Grundwasser gewisser Oertlichkeiten von gleicher Boden-
beschaffenheit seine günstigen Entwickeiungsbedingungen findet und
die ganze Bevölkerung heimsucht, den Eiuen stärker, den Andern
weniger.
Aus dieser Erkenntniss der Entstehungsweise des Cretinismus
leiten sich leicht die Massregeln für seine Bekämpfung ab. Die
Erfahrung hat gezeigt, dass Entsumpfung des Bodens und Yer-
sorgung der Bevölkerung mit gutem Trinkwasser überall mit über-
raschender Sicherheit eine Abnahme der Endemie herbeigeführt
hat. Auch die allgemeine Yerbesserung der hygienischen Verhält-
nisse scheint vielfach günstig gewirkt zu haben, vielleicht weil auf
diese "Weise die Widerstandsfähigkeit gegen den Infectionstt-äger ge-
steigert wurde. Es wäre wenigstens denkbar, dass der vielfach be-
stätigte Einüuss der Erblichkeit wesentlich mit auf der Vererbung
einer geschwächten, wenig widerstandsfähigen körperlichen Anlage
beruht. Jedenfalls ist daher reichliche Kreuzung mit gesundem
Blute zu empfehlen. Für die einzelne Person kann die Prophylaxe
Angeborener Sc-bwachsinn.
661
wirksam dadurch eingreifen, dass die kleinen Kinder möglichst früh-
zeitig aus der befallenen Gegend fortgeschickt werden, bis sie das
gefährdete Alter tiberschritten haben, am besten auf die Höhe des
Gebirges. Erfahrene Beobachter theilen mit, dass diese Massregel
selbst dann noch völlige Genesung erzielen könne, wenn bereits die
ersten Zeichen der beginnenden Entartung erkennbar seien; auch
fortgesetzte kleine Jodkaliumgaben sollen in diesem Stadium von
guter Wirkung sein. Gegen das entwickelte Leiden giebt es keiae
Hülfe.
C. Der angeborene Schwachsinn.
Den schweren Beeinträchtigungen des gesammten psychischen
Lebens, wie wir sie als Idiotie geschildert haben, pflegt man alle
die zahlreichen Zwischenstufen zwischen jener letzteren und
den normalen Zuständen unter dem Namen des angeborenen
Schwachsinns oder der Imbecillität gegenüberzustellen. Yon
der Idiotie unterscheiden sie sich nur durch den geringeren Grad
der psychischen Schwäche, so dass sie daher auch wol mit den
fr-üher geschilderten Formen als Idiotie im weiteren Sinne zu einer
gi-össeren Gruppe vereinigt worden sind.
Die Mannichfaltigkeit der Formen in dem grossen Bereiche des
angeborenen Schwachsinns ist eine sehr bedeutende. Um uns den
Ueberblick über dieselben zu erleichtern, wollen wir vier Haupt-
typen hier auseinanderhalten, den intellectu eilen, den morali-
schen, den emotiven und den impulsiven Schwachsinn. Frei-
lich ist eine irgendwie strenge Abscheidung, wie das Studium der
einzelnen Krankheitsbilder selber lehren wird, schlechterdings un-
durchführbar, da die Grenzen überall ineinanderfliessen; nur ge-
wisse allgemeine Gesichtspunkte sollen hier gegeben Averden, um
das Verständniss dieses so ausserordentlich schwierigen Gebietes
wenigstens einigermassen zu erleichtern.
Im Bereiche des intellectuellen Schwachsinns begegnen uns,
ähnlich wie bei der Idiotie, hauptsächlich zwei Gruppen von khni-
schen Bildern, welche sich durch den Grad der geistigen Reg-
samkeit der Kranken von einander unterscheiden. Wir wollen sie
als anergetische und er ethische Formen bezeichnen. Den Grund-
zug der anergetischen Schwächezustände büdet die Stumpfheit
imd Unempfänglichkeit. Den Kranken fehlt die Fähigkeit, eine
662
XIII. Die psychischen Entwickelungsanomalien.
grössere Zahl von Eindrücken und Lebenserfahrungen in sich auf-
zunehmen und weiter zu verarbeiten. Ihre Erkenntniss der Aussen-
welt beschränkt sich auf das unmittelbar Gegebene und Nächst-
liegende; was darüber hinausgeht, liegt ausserhalb des geistigen
Gesichtski-eises und bleibt daher unbemerkt. Yielleicht ist die
wesentliche Ursache dieser „Beschränktheit" darin zu suchen, dass
die YorsteUungen ihre concreten Formen behalten, ohne sich zu
Begriffen zu erweitern. Gerade der Yorgang der Absti-action, die
Yerschmelzung der sämmtlichen Einzelerfahrungen zu Allgemein-
vorstellungen, ist es ja, welcher es uns ermöglicht, überall das
Wesentliche von dem Nebensächlichen zu unterscheiden. Durch sie
gelingt es uns ferner, auch für neue Beobachtungen die Anknüpfung
an frühere "Wahrnehmungen zu finden und endlich eine übersicht-
liche Ordnung unseres gesammten Gedächtnissmaterials zu erreichen.
Bei unseren Kranken geht nur das Einzelne und Kleinliche in den
Erfahrungsschatz ein, ohne begriffliche Yerarbeitung, ohne Auf-
fassung allgemeinerer Yerhältnisse, ohne Gewinnung grösserer Ge-
sichtspunkte. Das Typische trennt sich nicht ab von dem Zufälligen ;
grundsätzüche Uebereinstimmungen und Unterschiede werden nicht
erkannt, sondern durch gelegentliches Beiwerk verdeckt. Neue Ein-
drücke finden keinen Widerhall in ähnlichen Erlebnissen der Yer-
gangenheit; unvermittelt, ohne innere Beziehungen zu gewinnen,
reihen sich die einzelnen Wahrnehmungen aneinander. Es fehlt
eben jene psychische Resonanz, welche beim Gesunden die führende
Melodie des Yorstellungsverlaufes beständig mit den leisen, immer
wechselnden Accorden früherer Erinnerungen begleitet.
So kommt es, dass der gesammte Ideenkreis der Kranken, ab-
gesehen von einer gevsässen Beherrschung der alltäglich aufge-
nommenen Wahrnehmungen, ärmlich bleibt und sich meist in den
gleichen Bahnen bewegt. Der Gedankengang ist, wie Buccola
durch directe Messungen nachgewiesen hat, verlangsamt. Das Ur-
theil der Kranken ist bei ihrer Unfähigkeit zu selbständiger Begrifis-
büdung ein sehr beschränktes, unsicheres, und wird vielfach durch
äusserlich angelernte Ergebnisse fremden Nachdenkens („Schlag-
worte") entscheidend beeinflusst. Ein Ueberblick über den Zu-
sammenhang der Lebensereignisse, eine weitergehende Yoraussicht
der Folgen eigener und fremder Handlungen wird nicht erreicht;
die Einbildungskraft, die Fähigkeit zu wiUküi'licher Wiedei'erweckuug
Angeborener Schwachsinn.
663
und freier Verknüpfung gewonnener Yorstellungen, ist sehr un-
vollkommen ausgebildet.
Das Gedächtniss der Kranken pflegt nur in den gröbsten
Zügen treu zu sein. Manche ganz unwichtige Einzelheiten werden
bisweilen mit grosser Zähigkeit festgehalten, während andere, be-
deutungsvolle Thatsachen einfach vergessen sind. Die Erzählungen
der Kranken sind daher häufig sehr unzuverlässig, weil sie Manches
auslassen, Anderes verwechseln, noch Anderes hinzufügen. Die ver-
schiedenen Berichte über dasselbe Erlebniss stimmen untereinander
entweder ganz wörtlich überein, oder sie zeigen mannichfache sach-
liche Widersprüche. In beiden Fällen ist es schwierig, sich ein TJr-
theil darüber zu bilden, nicht nur wie der Yorfall sich vdrklich ab-
gespielt hat, sondern öfters auch darüber, ob der Kranke absichtlich,
fahrlässig oder in gutem Glauben falsch aussagt.
Das Bewusstsein der Kranken ist dauernd ungetrübt; sie
erkennen ihre Umgebung, fassen die an sie gerichteten Fragen
auf und geben besonnene, wenn auch meist sehr unzulängliche
und schwerfällige Auskunft. Häufig kehren in ihren Aeusserungen
stehende Redensarten und Kraftworte vsdeder. Yon einer Krank-
heitseinsicht ist keine Rede; sie halten sich für ganz gesund, ver-
langen hie und da ihre Freiheit, um sich nunmehr allein fort-
zubringen, sind den Belehrungen über ihre Lage nur in sehr geringem
Masse zugänglich.
Wegen der Beschränktheit des Gesichtskreises gewinnen die Zu-
stände und Angelegenheiten der eigenen Persönlichkeit eine ganz
unverhältnissmässige Wichtigkeit für den Kranken. Je ärmer die
Erfahrung, desto grösser ist die Rolle, welche das Ich in derselben
spielt. So kommt es, dass hier stets eine mehr oder weniger scharf
ausgeprägte selbstsüchtige Richtung des Gedankenganges und
^veiterhin auch der Gefühle sich ausbildet. Das körperliche Wohl
und Wehe, das alltägliche Thun und Treiben, die Befriedigimg der
unmittelbarsten Wünsche, Essen und Trinken, der Besitz begehrens-
werth erscheinender Dinge bleiben dauernd Mittelpunkt des gesammten
geistigen Lebens. Alle Erfahrungen, die nicht augenfällig an diesen
Mittelpunkt anknüpfen, lassen den Kranken gleichgültig, erregen
keinerlei Theilnahme bei ihm und gehen daher spurlos an ihm vor-
über. Vielfach fehlen ihm sogar die natüiiichsten Gefülilsbeziehungen
zu seinen nächsten Angehörigen. Ihr Wohlergehen erweckt höchstens
664
XIII. Dio psychischen Entwickelungsanomalien.
seinon Neid, und das oberflächliche Bedauern über den Verlust etwa
der Eltern wird schon durch den Pomp des Leichenbegängnisses
und den Genuss der neuen Trauerkleider rasch ausgelöscht. Noch
stumpfer steht der Kranke fremdem Leide gegenüber. Daher dio
rohe Gefühllosigkeit beim Anblicke von Noth und Unglück, daher
die naive Grausamkeit, welche unsere Kranken so häufig bei ihren
Thierquälereien wie bei ihren verbrecherischen Handlungen an den
Tag legen. Einer meiner Elranken, der zugleich an ererbter Chorea
ütt, versuchte am hellen Tage seine alte, aufopfernd für ihn sorgende
Mutter mit dem Holzbeile zu erschlagen, um in den Besitz ihres Spar-
kassenbuches zu gelangen. Er wui'de dabei gestört und zu einer lang-
jährigen Zuchthausstrafe verurtheilt, nach deren Verbüssung er end-
lich in die Irrenanstalt wanderte.
Die Stimmung der Kranken ist gleichmüthig , theilnahmlosi
häufig aber auch von einer eigenthümlich leeren, kindischen Heiter-
keit. Gelegentlich indessen kommt es auch einmal zu plötzhchen
Ausbrüchen leidenschaftlicher Heftigkeit, namentiich wenn sie gereizt
werden und sich benachtheiligt oder gekränkt glauben. Li ihrem Be-
nehmen sind sie meist harmlos, lenksam, guten, aber auch schlechten
Einflüssen zugänglich, zeitweise eigensinnig und querköpfig. Schlechte
Behandlung macht sie widerspenstig und gewaltthätig. Zu einer
selbständigen Thätigkeit sind sie in der Eegel nicht fähig, be-
schäftigen sich aber unter Anleitung, freilich auch ohne rechten
Eifer und ohne tieferes Yerständniss. Nur in einzelnen Fällen "wü'd
wol auch eine hervorragende einseitige technische Fertigkeit, An-
lage zur Musik, ziun Zeichnen beobachtet, allerdings stets ohne die
Fähigkeit zu werthvollerer Arbeit selbst auf diesen Gebieten.
Leichtere Formen dieses Schwachsinns sind oftmals überaus
schwer zu diagnosticiren. Trotz der Beschränktheit ihres Ur-
theils und Gesichtskreises vermögen die Kranken es doch vielfach,
sich in einfachen Yerhältnissen noch leidlich gut zurechtzufinden,
ohne dass man sie gerade für abnorm hält, weil sie rein gedächt-
nissmässig eine gewisse Summe von Erfahrung zu beherrschen wissen
imd den gewohnten Kreislauf ihrer Beschäftigungen mit mechanischer
Sicherheit regelmässig durchlaufen. Wo aber eine mächtige Geniüths-
bewegung, eine Entscheidung, eine Versuchung an sie herantritt,
wo die Sachlage Umsicht, Thatkraft und Selbständigkeit des Handelns
erfordert, da tritt unvermuthet die ganze geistige und gemüthliche
Angeborener Schwachsinn.
Ü65
Unfähigkeit des Individuums zu Tage, um allerdings dann meist
nicht sowol unter dem Gesichtspunkte der Ki-ankheit, als unter dem
der sittlichen Schlechtigkeit beurtheilt zu werden. Selbst schwerere
Störungen indessen werden noch merkwürdig häufig verkannt. Na-
mentlich beim Militär scheint das Verständniss für dieselben vielfach
zu fehlen. Einer meiner Ki'anken wurde trotz hochgradigen Schwach-
sinns nacheinander zu 44 Monaten Gefängniss verurtheilt, Jahre
lang aus einem Militärgefängnisse in das andere übergeführt und
mehr als 100 Mal polizeilich und disciplinarisch bestraft, bevor er
in einer Irrenanstalt für „paranoisch" erklärt wurde. Vergebens
hatte er in richtiger Selbsterkenntniss als Beweggrund seiner wieder-
holten Desertionsversuche angegeben, er passe nicht zum Soldaten
und begreife nicht, was man immer wieder von ihm wolle; man
möge ihn in Euhe lassen!
Die Entwickelung der hier beschriebenen Störung kündigt sich
meist schon frühzeitig an. Dem verspäteten Auftreten der ersten
geistigen Kegungen, des Lächelns, der Nachahmung, der Sprache,
folgt das Zurückbleiben in der Schule, wenn auch vielleicht die
Unfähigkeit zu selbständiger geistiger Terarbeitung zunächst noch
durch einfache Gedächtnissleistungen eine Zeit lang verdeckt wird.
Meist sind die Kinder träge, faul, verständnisslos und werden wegen
ihrer geringen Begabung zum Spott ihrer Mitschüler. Nur noth-
dürftig eignen sie sich einige Fertigkeit im Schreiben, Lesen, weniger
im Rechnen an, lernen mühselig eine Anzahl von Sprüchen, geo-
graphischen oder geschichtlichen Thatsachen auswendig, um sie bald
wieder zu vergessen, da der todte Stoff für sie keine Verknüpfung
mit den Erfahrungen des wirklichen Lebens eingeht. In den Ent-
wickelungsjahren tritt die geistige Schwäche gewöhnlich deutlich
hervor, sei es, dass diese Invahden sich bei den gesteigerten An-
forderungen nunmehr von ihren gesunden, fortschreitenden Kame-
raden schärfer abheben,, sei es, dass unter Umständen hier wirklich
* nicht nur ein Stillstand, sondern sogar eine theilweise Rückbildung
der geistigen Entwickelung eintritt. Fälle der letzteren Art, wie
ich sie mehrfach gesehen zu haben glaube, wüi-den den Uebergang
zu gewissen Formen der Dementia praecox darstellen. Die weiteren
Schicksale unserer Ki-anken pflegen verschiedenartige, immer wieder
an der geistigen Unfähigkeit scheiternde Anläufe zu einer Berufs-
wahl zu sein, endlich thatcnloses Daliinlebon in Familienpflege, nocJi
666
XIII. Bio psychischen Entwickelungsanomalien.
häufiger vielleicht der Uebergang zum Gewohnheitsbettel und zur
Landstreicherei. Eine Menge derartiger Kranker findet sich nament-
lich in den Arbeitshäusern und Gefängnissen, wo sie Avegen ihrer
Unverbesserlichkeit der Schrecken der Beamten und Aufseher sind^
bis sie endlich wenigstens zum Theil spät noch in die Irrenanstalten
gelangen.
Zu den Energetischen Schwächezuständen stehen die er ethi-
schen nach mancher Kichtung in einem gewissen Gegensatze. An
Stelle der Stumpfheit zeigt sich eine krankhafte Beweglichkeit
der Aufmerksamkeit und der Einbildungskraft. Die Kranken
sind empfänglich für neue Eindrücke, machen zahlreiche Wahr-
nehmungen, werden durch jeden frischen Eeiz angezogen, vermögen
aber nicht, planmässig und ausdauernd ihre Aufmerksamkeit einem
bestimmten Gegenstande zuzuwenden. Sie begnügen sich überall
mit dem ersten Anschein, schweifen sofort ab, sind mit der Be-
trachtung fertig, bevor sie noch recht angefangen haben. Der
flüchtig und oberflächlich erfasste Inhalt ihrer Erfahrungen ist daher
in hohem Masse von zufälligen Einflüssen abhängig und bietet nur
ein sehr lückenhaftes, vielfach stark verzerrtes Bild der Aussenwelt.
Aus diesen Bestandtheilen setzen sich dehnbare, verschwommene,
vielfach verfälschte Begriffe zusammen, welche die Grundlage für
schiefe und halbrichtige Urtheile, sowie für abenteuerliche Analogie-
schlüsse abgeben. Dem ganzen Denken der Kranken, sobald es
sich über das unmittelbar sinnlich Gegebene erhebt, fehlt die feste
Grenzlinie klar und scharf ausgeprägter AllgemeinvorsteUungen,
welche überall das Spiel der leicht beweglichen Phantasie in die
geordneten Bahnen des logischen Gedankenganges zwingen. Die
Lebens- und Weltanschauung der Kranken wird auf diese Weise
in auffallendem Masse unabhängig von der Wirklichkeit. Wichtige
und massgebende Thatsachen haben für sie gar kein Gewicht, üben
auf ihre Ueberlegungen nicht den geringsten Einfluss, während sie
andererseits ernsthaft mit Verhältnissen rechnen, die nui- in ihrer
Einbildung bestehen. Ein derartiger Kranker begründete seine an-
gebliche tiefe Kenntniss der hohen Politik mit der Angabe, dass
ein Verwandter von ihm Aufseher auf einem Gute Herbert Bis-
marcks sei; er wollte nach seiner Entlassung aus der Anstalt ge-
heimer Polizist werden, trotzdem er bereits mehi-fach wegen aller
möglichen Schwindeleien längere Fi'eiheitsstrafen verbüsst hatte.
Angeborener Schwachsinn.
667
Diese unbekümmerte Vernachlässigung der Wirklichkeit, die
Freiheit von dem unbequemen Ballaste der Bedenken und Ueber-
legungen, giebt dem Gedankengange etwas eigenthiiiulich Zerfahrenes
und Widerspruchsvolles. Ohne Zögern entwickelt der Kranke heute
diese, morgen jene Anschauungen und Pläne, stützt sich im gleichen
Satze auf Gründe, die einander ausschliessen, fertigt Einwände sieges-
gewiss mit ganz unzutreffenden Schlagworten ab. Auch hier ist in
der Eegel trotz aller . anscheinenden geistigen Beweglichkeit die
häufige Wiederkehr bestimmter hochti-abender Kedensarten und
schwülstiger Gemeinplätze sehr deutlich. Der innere Zusammen-
hang zwischen allen diesen, meist mit grosser Geläufigkeit vor-
gebrachten Ausführungen ist stets ein sehr lockerer. Der Kranke
verliert rasch den Faden, bringt die verschiedensten Dinge dui-ch-
einander, berauscht sich förmlich an seinen eigenen klingenden
Phrasen und schHesst plötzlich unvermittelt mit einer rhetorischen
Frage oder einer sonstigen, besonders schlagenden Wendung. Zu
Zeiten lässt sich sogar zweifellose Ideenflucht beobachten, nament-
lich bei lebhafterer gemüthlicher Erregung. Trotzdem pflegt die
Zungengewandtheit der Kranken und der tönende Wortschwall, mit
dem sie den Zuhörer überschütten, häufig genug den Unerfahrenen
über die Unsinnigkeit und Zerfahrenheit des Inhaltes ihrer Eeden
zu täuschen, so dass sie nicht als schwachsinnig, sondern sogar als
besonders schlau angesehen werden. „Den nehmen wir mit; der
ist gescheidter, als wir", sagte eine Gemeindeabordnung, welche ge-
kommen war, um sich selbst von dem Zustande eines derartigen, in
der Anstalt festgehaltenen Kranken zu überzeugen. Freilich brachten
sie ihn schon nach kurzer Zeit wieder zurück.
Aus den bisher besprochenen psychischen Eigenthümlichkeiten
unserer Kranken erklärt es sich, dass wir bei ihnen häufig der
Neigung begegnen, ihre Erinnerungen mit frei erfundenen Zügen
miszuschmücken, die Darstellung früherer Erlebnisse derartig sub-
jectiv zu färben und zu verdrehen, dass man die Grenze absicht-
licher Schwindelei und fahrlässigen Fabulirens nicht mehr -zu er-
kennen vermag*). Bisweüen bringt erst die actenmässige Verfolgung
des Vorlebens Klarheit in den Wust von Wahrheit und Dichtung;
*) Delbrück, die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler,
1891.
m
XUI. Die psychischen Entwickelungsanomalien.
in anderen Fällen lässt uns die plumpe Abenteuerlichkeit der Er-
findung über den Ursprung derselben nicht im Zweifel. Stets aber
pflegen die Kranken trotz der schlagendsten Gegenbeweise an der
Richtigkeit ihrer noch dazu vielfach wechselnden, sich selbst wider-
sprechenden Erzählungen festzuhalten und mit der Miene der ge-
kränkten Unschuld jede weitere Erörterung abzulehnen. Diese Er-
fahrung mahnt zur Yorsicht namentlich gegenüber den häufigen
schweren Beschuldigungen, die von den Krauken gegenüber ihren
Angehörigen, den Mitpatienten oder dem Wartpersonal vorgebracht
werden.
Die wirklichen Kenntnisse sind bei diesen Kranken meist etwas
ausgedehnter, als bei den anergetischen Formen. Manche verfügen
sogar noch über ein ziemlich gutes Gedächtnissmaterial, geographische,
geschichtliche Thatsachen, Citate aus Dichtern und selbst Yocabeln
aus fremden Sprachen. Sie sind auch bis zu einem gewissen
Grade im Stande, Neues zu lernen, sich in ungewohnte Verhältnisse
einzuleben, sich zurechtzufinden, werden rasch mit ihrer Umgebung
bekannt, da sie sich um Alles kümmern, fragen, sich überall ein-
mischen.
Der oberflächlichen, sprunghaften Regsamkeit des Verstandes
entspricht bei unseren Kranken ein leicht bewegliches Gemüths-
leben. Jeder äussere Eindruck ist von lebhafter, aber rasch ab-
klingender Gefühlsbetonung begleitet. Die Stimmungen schwanken
vielfach unvermittelt hin und her und gehen leicht ins Masslose
und Ueberschwängliche. Niedergeschlagenheit und Uebermuth, Ver-
zweiflung, Schwärmerei und Begeisterung werden dui'ch die gering-
fügigsten äusseren Anlässe ausgelöst. Häufig wechseln die Gefühls-
regungen gegenüber dem gleichen Anstosse in ganz regelloser Weise.
Was heute Zorn und Entrüstung hervorruft, ist morgen willkommen;
der „Ehrenmann" wird für sie bald zum niederträchtigen Schurken,
dann wieder zum einzigen Freunde auf der weiten Welt. Alle diese
Schwankungen der Stimmung erscheinen trotz ihrer augenblicklichen
Heftigkeit doch meist oberflächlich, aufgebauscht, theaterhaft. Die
Kranken gefallen sich geradezu in stürmischen Ausdrucksbewegungen,
in gespreizten und übertriebenen Gefühlsausbrüchen, sind aber auch
rasch wieder abzulenken und zu beruhigen. Im Ganzen sind sie gut-
müthig und lenksam, doch fehlt niemals eine gewisse Reizbarkeit
und Empfindlichkeit. Namentlich Eingriffe in die persönlichen
Angeborener Schwachsinn.
669
Ansprücho pflegen nüt lebhaften Erregungen beantwortet zu werden.
Nicht selten beobachtet man bei ihnen zeitweise, auch in regelmässiger
Wiederkehr, stärkere Erregung mit grösserer Geschwätzigkeit, Zer-
fahrenheitj Unruhe und Reizbarkeit; dabei kommt es dann leicht zu
heftigeren Wuthausbrüchen.
Regelmässig besitzen die Ki-anken ein ungemein gesteigertes
Selbstgefühl. Sie zeigen keine Spur von Krankheitsbewusstsein,
halten sich im Gegentheil für geistig hochbegabt, ja genial, prahlen
in aufdringlichster Weise mit ihren Familienverbindungen, der aus-
gezeichneten Erziehung, die sie genossen haben, ihren glänzenden
Kenntnissen und Aussichten. Bei diesen Erzählungen lassen sie
sich sehr leicht zu ganz unsinnigen Uebertreibungen hinreissen,
selbst dann, wenn deren Wahrheitswidrigkeit sich auf der Stelle
darthun lässt. Mehrere meiner Kranken behaupteten nüt ]Srachdrack_,
eine Reihe von Sprachen in Wort und Schrift vollkommen zu be-
herrschen^ während die Probe ergab, dass sie nur über einige wenige
Brocken derselben verfügten.
In ihrem Benehmen sind die Kranken launenhaft, anspruchs-
voll, streitsüchtig. Sie sprechen viel und gern, blicken auf ihre
Umgebung herab, drängen sich an den Arzt heran, suchen mit ihren
Kenntnissen, ihrer Bildung und ihren Fähigkeiten zu glänzen, kleiden
sich auffallend, arbeiten mit sehr wechselndem Eifer. Auch in ihrer
ganzen Lebensführung tritt ihr Schwachsinn deutlich hervor. Sie
gelten in ihrer Jugend häufig für begabt, aber flatterhaft, leicht-
sinnig und lügnerisch, fangen später alles Mögliche an, halten nir-
gends lange aus, springen unstät von einer Beschäftigung zur
anderen über, reisen planlos herum, verschwenden, bauen Luft-
schlösser und gerathen durch ihre Unüberlegtheit, Haltlosigkeit und
Yielgeschäftigkeit häufig in schwere Kämpfe mit dem Leben und
selbst in die Gefängnisse und Arbeitshäuser. Auch sie liefern einen
erheblichen Theil der gewohnheitsmässigen, unverbesserlichen Bummler
und Landstreicher.
Die Erkennung dieser Formen ist, wie schon früher erwähnt,
nicht immer ganz leicht, da die geistige Regsamkeit und ein ge-
wisser Schatz von Kenntnissen die Kranken weit weniger schwach-
sinnig erscheinen lässt, als sie wirklich sind. Gudden pflegte daher
diese Zustände scherzweise als „höheren Blödsinn" zu bezeiclmen.
Nach der Gesundheitsbreite zu finden sich von ihnen her alle mög-
670
XIII. Die psycbischon Entwickelungsanomalien.
liehen Ueborgänge. Daliin gehören jene schwachen und oberfläch-
lichen, leichtgläubigen Naturen, die von Vielem etwas und nichts
gründlich lernen, die alles Neue mit Begeisterung ergreifen, ohne
irgend etwas zu Ende zu führen. Ein geringfügiger Anstoss, eine
auftauchende Idee, ein schlechter oder guter Rath genügt, um sie,
die jeder Verführung widerstandslos zugänglich sind, zu leicht-
sinnigen, unüberlegten, ja sclilechten Sti-eichen und Ausschreitungen
aller Art hinzureissen. So führen sie, sich selbst überlassen, ein
wechselreiches Dasein in steten Kämpfen mit sich selbst und ihrer
Umgebung, oft abenteuerlich und romanhaft, voller ünbegreifüch-
keiten und Widersprüche.
Bei der zweiten Hauptform des angeborenen Schwachsinns,
dem moralischen Irresein (foHe morale, moral insanity), ist
es die Störung im Bereiche des Gemüthes, welche vor Allem
in die Augen fällt. Es handelt sich hier um Mangel oder
Schwäche derjenigen Gefühle, welche der rücksichtslosen
Befriedigung der Selbstsucht entgegenwirken. Der. Ver-
stand dieser Kranken ist innerhalb der Grenzen des praktischen
Lebens leidlich gut entwickelt. Sie fassen gut auf, sammeln eine
gewisse Summe von Kenntnissen und Erfahrungen, die sie, viel-
fach mit schlauer Berechnung, zu ihrem Vortheil zu verwerthen
wissen, zeigen keine Gedächtnisslücken und keine groben Verstösse
in der Folgerichtigkeit ihres Denkens. Dennoch fehlt ihnen meist
die Eähigkeit, allgemeine Gesichtspunkte zu gewinnen, höhere Geistes-
arbeit zu leisten, sich eine zusammenhängende Lebens- und Welt-
anschauung zu bilden.
Auf sittlichem Gebiete zeigt sich oft schon von früher Jugend
an der Mangel des Mitgefühls in grausamen Thierquälereien, bos-
haften Neckereien und tückischen Misshandlungen der Spielgefährten,
in der Unzugänglichkeit gegen jede gemüthliche Beeinflussung.
Daraus entwickelt sich weiterhin unverhülltes Hervorti-eten der aus-
geprägtesten Selbstsucht, sowie Fehlen des Ehrgefühls und jeglicher
Anhänglichkeit an Eltern und Geschwister. Hierher gehören jene
imgeheuerlichen Kinder, welche schon im zartesten Alter ihre An-
gehörigen zu ermorden trachten, um deren Kleider zu besitzen, und
dann mit stumpfer Selbstverständhchkeit über die Einzelheiten ihres
Planes berichten, unter ausdrücklichem Bedauern darüber, dass er
misslungen sei. Alle erziehlichen Einwirkungen bleiben fi-uchtlos,
Angeborener Schwachsinn.
671
weil eben die werthvollsten Hülfsmittel derselben, Liebe und Ehr-
geiz, hier keinen Anknüpfungspunkt finden. Nur die einfache Ver-
gewaltigung vermag noch die Aeusserungen einer wilden Selbstsucht
zü unterdrücken. Ihr wird aber sehr bald durch Falschheit, schlaue
Yerschlagenheit, Hinterlist, durch Yerstocktheit, unbändigen Trotz,
Neigung zu Lug und Trug begegnet. Dabei schreitet die egoistische
Ausbildung der Persönliclikeit immer weiter fort. Das gehobene
Selbstgefühl äussert sich in prahlerischer Eitelkeit, Grossthuerei,
planlosem Eigensinn, rohen Gewaltthaten, die Genusssucht in Arbeits-
scheu, Ausschweifungen, unsinniger Yerschwendung.
Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Veranlagung mit
einer gewissen Nothwendigkeit in die Verbrecherlauf bahn hinein-
treiben muss. Li der That finden wir unter den unverbesserlichen
Gewohnheitsverbrechern nicht wenige, welche die Erscheinungen des
moralischen Schwachsinns, den vollständigen, unausfüllbaren Mangel
der sittlichen Gefühle, in ausgeprägter Form darbieten. Freilich
pflegt man derartige Personen gewöhnlich als sittüch „verwahrlost"
und nicht als krank zu betrachten. Eichtig ist, dass eine mangel-
hafte oder schlechte Erziehung, uneheliche Geburt, Aufwachsen unter
ungünstigen Bedingungen die volle Ausbildung der sittlichen Ge-
fühle hindert. AUein einerseits sind jene Einflüsse selbst nicht
selten einfach der Ausdruck familiärer Entartung, andererseits kann,
wie schon früher dargelegt, weniger die Entstehungsweise, als die
Grösse des sittlichen Mangels für die ärztliche Beurtheilung mass-
gebend sein. Endlich aber lässt sich in wii-klich ausgebildeten
Fällen wol immer die angeborene sittliche Unfähigkeit nachweisen.
Gerade hier begegnen wir nicht selten einer ausserordentlichen
Nachhaltigkeit und Festigkeit des verbrecherischen Wülens, der durch
keinerlei Lebenserfahrungen aus seiner Bahn gelenkt werden kann,
hier aber auch jener merkwürdigen Einseitigkeit und Einförmigkeit
des Handelns, welche zur Entwicklung der bekannten, immer wieder-
kehrenden „Speciaütäten" des Verbrecherthums führt.
Es ist das Verdienst der itaUenischen Psychiatrie*), zuerst die Be-
ziehungen des moralischen Schwachsinns, der krankhaften Gemüth-
*) LombroBO, Der Verbrecher, deutsch von i'ränkel. 1887; Kurella, Natur-
geschichte des Verbrechers. 1893; Bär, Der Verbrecher iu anthropologischer Be-
ziehung. 1893.
672
XIll. Die psychischen Entwickelungsanomalion.
losigkeit, zum Verbrecherthum, und ZAvar zu bestimmten Formen des
selben, nach gewiesen zu haben. Der „geborene" "Verbrecher (delin-
quente nato) kann wissenschaftlich nicht wol anders, als unter dem Ge-
sichtspunkte einer unvollkommenen Veranlagung aufgefasst werden.
Gerade diese Betrachtungsweise hat zum mindesten die eine segens-
reiche Folge gehabt, dass sie auch den Verbrecher wie andere
Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft endlich einmal zum
Gegenstande einer einfach naturwissenschaftlichen Forschung gemacht
hat. Schon jetzt ist die junge Wissenschaft der Criminalpsychologie
nicht ohne Erfolg bemüht, mit Hülfe der Statistik die allgemeine
Aetiologie des Verbrechens aufzuklären und weiterhin auf dem Wege
anthropologischer Messungen wo möglich auch bestimmte körper-
liche Begleiterscheinungen kennen zu lernen, welche den ver-
schiedenen Formen des geborenen Verbrechers eigenthümlich sein
und ge Wissermassen die Einordnung derselben in einzelne klinische
Gruppen ermöglichen sollen. Wir müssen abwarten, zu welchem
Ziele diese letzteren Bestrebungen einmal gelangen werden. Für
jetzt wird uns, wie ich glaube, die Criminalanthropologie wesentlich
nur darüber belehren können, dass auch beim Verbrecher, nament-
lich beim „geborenen", mit auffallender Häufigkeit jene functioneUen
und anatomischen Merkmale zu finden sind, die wir mit mehr oder
weniger Kecht als den Ausdruck allgemeiner Entartung anzusehen
pflegen.
Jedenfalls sind wir von der Möglichkeit einer Erkennung des
moralischen Irreseins aus körperlichen Zeichen noch recht weit ent-
fernt, und selbst bei genauer Kenntniss des ganzen klinischen Krank-
heitsbildes hat die richtige Auffassung desselben häufig genug ihre
Schwierigkeiten. Auf der einen Seite führt der moralische Schwach-
sinn durch das Zwischengebiet der angeborenen verbrecherischen
Veranlagung allmählich in solche Zustände hinüber, die zweifellos
der Gesundheitsbreite angehören. Wegen dieser IJebergänge be-
gegnet namentlich der Eichter der Feststellung eines moralischen
Schwachsinns mit starkem Misstrauen. Praktisch wird, hier nament-
lich das Zurückreichen der sittiichen Unfähigkeit bis in die frühe
Jugend bei genügender Verstandesbildung, sowie die völlige Un-
zugänglichkeit für alle auf das Gemüth -wirkenden Einflüsse für
die Annahme einer krankhaften Persönlichkeit sprechen. Anderer-
seits darf die erworbene Schwächung des sittlichen Willens, wie
Angeborener Schwachsinn.
673
sie durch chronische Yergiftungen, anscheinend aach bisweilen
durch Kopfverletzungen und »andere schwere Schädigungen erzeugt
wird, nicht niit dem hier besprochenen moralischen Schwachsinn
verwechselt werden. Der Nachweis einer Yeränderung der
Persönlichkeit von einem bestimmten Zeitpunkte ab wird hier die
Unterscheidung ermöglichen. Endlich soll noch darauf hingewiesen
werden, dass manche unserer Kranken in der Zucht und im
Schutze des Gefängnisses oder der Anstalt kaum auffallendere
Störungen darbieten, sondern die ganze Grösse ihrer sittlichen Un-
fähigkeit erst dann dentlich zeigen, wenn sie sich selbstüberlassen
und den mannichfachen Verlockungen des Lebens haltlos preis-
gegeben sind.
In naher Yerwandtschaft mit dem moralischen Irresein steht
eine an dieser Stelle kurz zu besprechende, nicht sein- häufige Form
der krankhaften Veranlagung, die vielleicht am besten mit dem Namen
des emotiven Schwachsinns zu belegen ist. Es handelt sich dabei
wesentlich nm eine krankhafte Zornmüthigkeit. Die Kranken
sind geistig in normaler Weise entwickelt, bisweilen sogar ziemlich
gut begabt, haben befriedigende Schulkenntnisse erworben und ver-
fügen über ein zuverlässiges Gedächtniss. Sie sind öfters recht fleissig,
geschickt und ausdauernd bei der Arbeit, namentlich wenn sie unter
einer gewissen Aufsicht stehen. Meist zeigen die Kranken ein er-
höhtes Selbstgefühl, prahlerisches, anmassendes "Wesen, trotzigen Eigen-
sinn und die Anzeichen erheblicher Gemüthsrohheit gegenüber An-
gehörigen und Fremden.
Neben diesen Merkmalen einer leichteren oder schwereren mora-
lischen Verkümmerung fällt aber vor Allem eine ganz ausserordent-
liche Eeizbarkeit auf, die bald nur bei bestimmten Anlässen, bald
zu gewissen Zelten hervortritt. Die Kranken gerathen, wenn sie „ge-
laden" sind, bei einem verhältnissmässig ganz geringfügigen Anstosse
in eine namenlose, unbezähmbare Wuth. Sie zittern am ganzen
Leibe, stossen mit erstickter Stimme Schimpfworte, Flüche oder auch
nur unarticulirte Schreie aus, greifen blindlings ihre Umgebung an,
zerstören, was ihnen unter die Hände kommt, zerschlitzen ihre Kleider,
wälzen sich am Boden, beissen sich in Lippen und Hände, suchen
sich zu erdrosseln, laufen mit dem Kopfe gegen die Wand. Diese
Erregung setzt sich vielfach bis zur völligen Erschöpfung fort, bis
die Kranken athemlos, heiser, schweissbedockt, mit versperrten Zügen,
Kraopolin, Psychiatrie. 4. Ann.
674
Xin. Die psj'chiBchen EDtwickelungsanomalien.
ausser Stande sind, ihre Glieder zu rühren. Während dieses Zustandes
sind die Kranken allem gütlichen Zureden gegenüber unzugänglicli;
der Ausbruch erfolgt fast mit der Sicherheit und Gewalt einer Ex-
plosion. Sie bleiben aber vollständig orientirt, verlieren nur die
Besonnenheit, nicht die Besinnung. Daher richtet sich die Wuth
nach Lage der Dinge öfters gar nicht gegen che Umgebung, sondern
nur gegen leblose Gegenstände oder gegen die eigene Person. Einer
meiner Kranken gerieth jedesmal in einen solchen Anfall, wenn man
mit ihm über einen Processgegner sprach, der ihn in schwere Be-
drängniss gebracht hatte. Dabei zerstörte er nichts, griff Niemanden
an, sondern suchte nur der stürmischen inneren Erregung, deren er
nicht Herr werden konnte, in wüden, rasenden Ausdrucksbewegungen
einen Ausweg zu verschaffen.
Der einzelne AnfaU dauert meistens weniger als eine Stunde,
doch bleibt öfters tagelang eine gereizte Stimmung mit Neigung zu
neuen Ausbrüchen zurück. Nach dem Eintritte der Beruhigung ver-
mögen sich die Kranken des Yorgefallenen im Allgemeinen zu er-
innern, wenn ihnen auch manche Einzelheiten später entfallen sind
und sie für die Höhe der Erregung angeben „nicht mehr gewusst
zu haben, was sie thun". Regelmässig bedauern sie nun lebhaft ihre
Handlungsweise und zeigen eine mehr oderweniger MareKrankheits-
ein sieht. Sie beklagen ihr hitziges, jähzorniges Wesen, versichern
aber gleichzeitig, dass sie sich beim besten Wülen nicht mehr helfen
könnten, wenn es so über sie komme. Bisweilen warnen sie wol
selbst, man möge ihnen nicht zu nahe kommen, üinen rechtzeitig
alle Waffen abnehmen, sie binden oder einsperren.
Stets findet sich bei diesen Kranken eine ausserordentliche Em-
pfindlichkeit gegen Alkohol. Durch dieses Mittel werden die An-
fälle mit der grössten Sicherheit hervorgerufen. Bei völhger Ent-
haltsamkeit werden sie seltener, ohne jedoch ganz zu verschwinden.
Gerade diese Beobachtung und auch die bisweilen bemerkte Regel-
mässigkeit iir der Wiederkehr der Reizbarkeit würde auf eine
Verwandtschaft dieser Zustände mit der Epilepsie hindeuten, doch
ist es mir in den von mir gesehenen Fällen nicht gelungen, weitere
Beweise für eine solche Annahme aufzufinden. Zudem ist ausdrück-
lich zu bemerken, dass auch der Alkohol hier immer nur Erregung,
nicht aber Dämmerzustände mit Sinnestäuschungen, Angst, Personen-
verkennung erzengt, wie Avir sie beim epileptischen Irresein kennen
Angeborener Stihwachsinn.
675
gelernt haben. Andererseits ist grosse gemütlilicbe Reizbarkeit mit
masslosen ■Wuthausbrüchen auch beim moralischen Schwachsinn nicht
selten. Was dem gegenüber diese Formen auszeichnet, ist viel
geringere Ausbildung der dauernden sittlichen Entartung und,
vielleicht damit in Verbindung stehend, die Einsicht in die Krank-
haftigkeit des Zustandes.
Wir haben nun endlich noch jener letzten Form des angeborenen
Schwachsinns zu- gedenken, die man als impulsives Irresein zu
bezeichnen pflegt. Die Eigenthümlichkeit dieser Krankheitszustände
besteht in dem zeitweisen Auftauchen mächtiger, den Willen
überwältigender Antriebe zu bestimmten Handlungen ohne
klaren Beweggrund. Der Kranke handelt dabei einfach, weil er
den unwiderstehlichen Antrieb in sich fühlt, zu bandeln. So kommt
es denn, dass solche Willensäusserungen stets den Stempel des Un-
vorbedachten, des Zwecklosen, ja des Widersinnigen tragen, weil sie
eben nicht durch einen zielbewussten Plan, sondern durch einen
plötzlich auftauchenden und sofort zur Ausführung drängenden,
häufig sehr unklaren Antrieb hervorgerufen werden.
Der Inhalt dieser „Zwangshandlungen" ist vielfach ein gleich-
gültiger, und zahlreiche Menschen mit „absonderlichen Einfällen",
unvermittelt hervortretenden und ebenso rasch wieder verschwinden-
den Antrieben büden die Uebergänge von den schweren, unzweifel-
haft krankhaften Formen des impiüsiven Irreseins zum gesunden
Yerhalten. Eine sehr ernste Bedeutung gewinnen diese Krankheits-
zustände jedoch dadurch, dass die aufsteigenden Antriebe ungemein
häufig die Umgebung oder das eigene Leben und Wohlergehen ge-
fährden. Die klinische Erfahrung lehi't, dass im einzelnen Falle meist
nur eine bestiitmte Richtung der krankhaften Antriebe hervortritt.
Wahrscheinlich am häufigsten ist die Neigung zur Brandstiftung,
wie sie besonders bei jugendlichen Personen weiblichen Geschlechtes
vor und während der Pubertätsentwickelung beobachtet wird. Bis-
weüen geht die krankhafte Freude am flackernden Feuer und der
unbezähmbare Wunsch, sich diesen Anblick zu verschaffen, bis in
die Kindheit zurück. In einem berühmt gewordenen Falle, m welchem
ein Student zahllose Brände in immer genau derselben Weise an-
gelegt hatte, Hess sich feststellen , dass die Ausführung dieser
Handlungen regelmässig unter dem Einflüsse des Alkohols er-
folgt war.
G76 Xni. Die psychischen Entwickelungsanomalien.
Eine zweite Hauptrichtung der krankhaften Antriebe ist die
dauernde oder vorübergehende Neigung, gelegentliche, unsinnige Dieb-
stähle zu begehen. Solchen Anwandlungen begegnen wir ebenfalls
am häufigsten beim weiblichen Geschlechte, und zwar vorzugsweise
in der Zeit geschlechtlicher Umwälzungen (Menstruation, Schwanger-
schaft). Die Krankhaftigkeit dieser Handlungen zeigt sich darin,
dass denselben jeder verständige Beweggrund fehlt. Die gestohlenen
Gegenstände sind vielfach gänzlich oder doch für den Thäter wertli-
los, oder sie werden auch später dem Eigen thümer einfach Avieder
zugestellt. In andern Fällen richtet sich die Begierde des Einzelnen
gerade auf eine ganz bestimmte Art von Dingen, die ohne erkenn-
baren Zweck in grossen Mengen zusammengestohlen werden, so
dass man unwillkürlich an gewisse Ausschreitungen des Sammel-
sports erinnert wird.
Weiteriiin aber ist von hervorragender Bedeutung der krankhafte
Antrieb, zu verletzen oder zu tödten. Eine besondere Gruppe
bilden hier die triebartigen Angriffe junger Mädchen auf die ihrer
Obhut anvertrauten Kinder. Ich behandelte eine schon von Em min g-
haus*) kurz erwähnte Kranke, die im Alter von 13 Jahren zwei
ihrer Pflege anvertraute Kinder, darunter ihr eigenes Brüderchen,
einfacli erstickte, aus keinem anderen Beweggrunde, als „weil ihr
die Lust dazu kam." Auf diesem Gebiete des impulsiven LTCseins
tritt uns am deutlichsten die häufige Verbindung krankhafter Antriebe
mit dem Geschlechtstriebe entgegen. Gerade von dem letzteren
aus scheinen sich bei psychisch wenig widerstandsfähigen Menschen
verhältnissmässig leicht allerlei zwangsmässige Beeinflussungen des
Fühlens und Handelns geltend zu machen, die wir wol am zweck-
mässigsten den Krankheitsbildern des impulsiven Irreseins zurechnen.
Vor Allem haben wir jener eigenthümlichen Erscheinungen zu
gedenken, die man nach dem berüchtigten französischen Roman-
schriftsteller Marquis de Sade als „Sadismus" bezeichnet hat Es
handelt sich dabei um das Auftreten von geschlechtlichen WoUust-
empfindungen bei Acten der Grausamkeit. Die beti-effenden Per-
sonen suchen entweder den Eeiz der geschlechtlichen Vereinigung
durch mehr oder weniger ernste Misshandlungen zu erhöhen, oder
die grausame Handlung erweckt schon au sich die volle sinnliciie
*) Die psychischen Störnngon im Kindesalter, 1887, p. 241.
Angeborener Schwacbsinn.
677
Befriedigung, auch beim Fehlen aller gesunden Yorbedingungen für
die geschlechtliche Erregung. Der letztere Fall stellt offenbar nur
eine weitere krankhafte Entwickelungsstufe des ersteren dar. Was
dort nebensächliches, vielleicht sogar völlig entbehrliches Hülfsmittel
war, ist hier zur Hauptsache geworden, neben welcher die eigent-
liche Hauptsache, die geschlechtliche Yereinigang, vollständig in
den Hintergrund getreten ist. Thatsächlich finden sich zahlreiche
Uebergangsformen von den leichtesten, noch in der Gesundheitsbreite
liegenden Anwandlungen bis zu den schwersten, das Leben der
Opfer fordernden krankhaften Yerirrungen.
Unter den sadistischen Handlungen selbst kommen in erster
Linie Geisselungen auf den entblössten Körper in Betracht, die
häufiger zur Unterstützung und Yorbereitung der geschlechtlichen
Erregung benutzt werden. Als wirklicher Ersatz des Beischlafs
dienen sie weit seltener und wol nur in zweifellos krankhaften
Fällen. Aehnlich mag es mit der Neigung zum Kneifen und Beissen
stehen. Das Stechen und Schneiden tritt bei den von Zeit zu Zeit
einmal beobachteten „Mädchenstechern" geradezu als Form der ge-
schlechtlichen Befriedigung auf. Die Kj-anken suchen sich an hübsche
junge Mädchen heranzudrängen und ihnen mit Dolch oder Messer,
deren sie bisweilen eine grosse Auswahl besitzen, eine blutige, aber
nicht gefährliche Wunde beizubringen, was ihnen lebhafte Wollust-
gefühle verui-sacht. Noch einen Schritt weiter gehen jene Kranken,
Av eiche sich die geschlechtliche Befriedigung durch Quälen und
Tödten von Thieren zu verschaffen suchen. Dann kommen die Lust-
mörder, die ihr Opfer vor oder nach dem Geschlechtsacte erdrosseln
und dann womöglich aufschneiden, zerreissen, zerstückeln. Gerade
in solchen Fällen zeigt sich bisweilen ein buchstäblicher „Blut-
durst", der zum Aussaugen des Opfers und zur wirklichen Menschen-
fresserei führen kann. Ueberall können eigentlich geschlechtliche
Handlungen trotz heftigster geschlechtlicher Erregung voUkommen
fehlen. Als eine Abart der Lustmörder sind wol die glücklicher-
weise recht seltenen Leichenschänder zu betrachten, unter denen
der französische Sergeant Bertrand eine traurige Berühmtheit er-
langt hat, da er, von unwiderstehlicher geschlechtlicher Begierde ge-
trieben, mit grösstem Geschicke frisch bestattete Leichen wieder
ausgrub, schändete und zerstückelte.
Gewissermassen das Gegenstück zum Sadismus bildet die von
678
XIII. Die psychischen Entwickehingsanomalien.
V. Kr äff t-E b i n g *) unter dem Namen des „M a s o g h i s m u s" beschriebene
Sucht, sich die geschlechtliclie Befriedigung durch Erduldung von
Schmerzen zu erhöhen oder überhaupt erst zu verschaffen. Die Be-
zeichnung ist hergenommen von dem Schriftsteller Sacher-Masocli,
der in seinen Eomanen diese eigenthümlicho Erscheinung schilderte.
Wegen der bei beiden bestehenden Verbindung von Schmerz und
Wollust hat V. Schrenk-Notzing für Masochismus imd Sadismus
die gemeinsame Bezeichnung „Algolagnie" vorgeschlagen (Schmerz-
geilheit); jener ist passive, dieser active Algolagnie.
Auch beim Masochismus begegnen wir vor allem der geschlecht-
lichen Erregung durch Geisselung, aber hier durch Erdulden der-
selben. Die unliebsamen Nebenwirkungen erziehlicher Züchtigungen,
namentlich der Schläge auf das Gesäss, sind lange bekannt, ebenso
die Auffrischung der gesunkenen geschlechtlichen Leistungsfähigkeit
durch älmliche Massregeln. Auch das Flagellantenthum hat viel-
leicht eine seiner Wurzeln in der sinnlich aufreizenden Wirkung
der Geisseihiebe gehabt. In das Gebiet des Krankhaften gehören
die Fälle, in denen die geschlechtliche Erregung durch wii-klich
rohe Misshandlungen, Gebissen-, Gestochen-, Getretenwerden u. Aehnl.
ausgelöst wird. Meist werden hier andere Personen vorher zui- Aus-
führung der gewünschten Handlungen angelernt.
Aus naheliegenden Gründen führt die Algolagnie nur- verhält-
nissmässig selten, bei intellectuellem Schwachsinn und grosser sitt-
licher Stumpfheit, zu jenen wirklich gefährlichen Handlungen, welche
in der Entwickelungsrichtung des krankhaften Triebes liegen. Viel-
fach tragen die Acte, welche ausgeübt oder gewünscht werden, mehr
einen symbolischen Charakter, in der Weise, wie schon das Eitzen
der Haut ein Sinnbild des Tödtens, das Einpressen der Zähne ein
solches des Auffressens darstellt. Der sadistische Trieb kann sich
in Handlungen Luft machen, welche ganz allgemein nur die unbe-
schränkte Herrschaft über das geschlechtliche Opfer ausdrücken (Be-
schimpfen, Beschmutzen, Fesseln), während der Masochist sich be-
fiiechgt fühlt, wenn er in mögüchst lebhafter Weise die völlige
Unterwerfung unter einen fremden Willen empfindet (Erdulden von
Beschimpfung, Bedrohung, Missachtung, ekelhafter Besudelung). Bei
der regen Mitarbeit der Einbildungskraft ist die Mannichfaltigkeit
*) V. Krafft-Ebing, Psychopathia sexuaUs, 8. Aufl. 1893.
Angeborener Schwnchsinn.
679
der Kunstgriffe, Avelche diese Kranken zur Vorbereitung oder zum
Ersatz des Beischlafes anwenden oder von Andern fordern, trotz
mancher typischer Erscheinungen eine ausserordentlich grosse.
Wir sind im Vorstehendon wiederholt der Erscheinung begegnet,
dass bei unseren Kranken ein ursprünglich das Zustandekommen der ge-
sclüechtlichon Erregung nur unterstützender Vorgang schliesslich ganz
allein schon und ohne Verbindung mit eigentlichem Geschlechts-
verkehre die erstrebte Befriedigung herbeizuführen vermag. Man
könnte etwa daran denken, dass bei einer krankhaften Steigerung
der geschlechtlichen Erregbarkeit bereits der begleitende Vorgang
genügt, um dieselbe Wirkung zu erzielen, welche er im gesunden
Leben höclistens in Verbindung mit den wirklichen Geschlechtsreizen
erreichte, ähnlich wie dem Empfindlichen schon die Probesignale
bei der Feuerwehrübung unangenehme Gefühle erwecken. Allein
schliesslich kann es so weit kommen, dass nur noch der neben-
sächliche Reiz, nicht aber mehr der natürliche, oder doch jener
unvergieiclüich viel stärker, als dieser, die geschlechthche Befiie-
digung zu erzeugen im Stande ist. Ganz besonders häufig macht sich
eine s^olclie Verschiebung in verschiedenartiger Entwickelung dalün
geltend, dass es einzelne bestimmte Körpertheile oder Kleidungs-
stücke sind, welche zunächst geschlechtlich anregend wirken, dann
bei der Ausführung des Beischlafes eine herrschende Rolle spielen
und endlich für sich aUein in ganz absonderhcher Weise den Ge-
schlechtsgenuss vermitteln. Man bezeichnet diese Störung als „Fe-
tischismus". Von körperüchen Reizen dienen als Eetische bald
Hände oder Füsse, bald Augen, Mund, Ohr, Haare, besonders Zöpfe.
Die einfache Betrachtung, Berührung, Liebkosung der betreffenden
Theile gewährt dem Fetischisten eine weit höhere geschlechtliche
Befriedigung, als der wirkliche Beischlaf. Unter den Kleidungs-
stücken sind Schuhe und Stiefel sehr bevorzugt, nach v. Krafft-
Ebings Ansicht wegen der an sie sich knüpfenden masochistischen
Wollust der Unterwerfung, ferner Taschentücher und Unterkleider,
endlich Sammet- und Pelzstoffe. Wie die Erfahrung lehrt, werden
solche Dinge von den Kranken aus geschlechtlicher Begierde öfters
in grossen Mengen zusammengestohlen (Zopfabschneider!) und zu
einsamen mastui-batorischen Vergnügungen benutzt.
Die geistige Begabung unserer Kranken braucht kerne schäi-fer
hervortretenden Störungen aufzuweisen, doch findet sich in schweren
680
Xm. Die psychischen Entwickehingsanomalien.
Fällen meist ein höherer oder geringerer Grad intellectuellen Schwach-
sinns. Auch bei leichteren Abweichungen wird eine genaue Prüfung
wol selten die Anzeichen einer gewissen Beschränktheit oder Zer-
fahrenheit und Verschwommenheit, namentlich aber ein Zurückbleiben
der gesammten geistigen Ausbildung hinter der durch das Lebens-
alter geforderten vermissen lassen. Noch deutlicher pflegen die
Störungen auf gemüthlichem Grebiete hervorzutreten; nach dieser
Kichtuug haben wir es regelmässig mit schwachen, haltlosen, oft
auch mit kindisch eigensinnigen oder rohen, menschenscheuen, ver-
schlossenen Naturen zu thun.
Auch das impulsive Irresein ist nichts als eine besondere Form
der angeborenen Entartungszustände. Trotzdem sehen wir die
klinischen Erscheinungen desselben öfters nur während bestimmter
Lebensabschnitte, namentlich in den Entwickelungsjahren, hervor-
treten. Diese Erfahrung entspricht der schon bei verschiedenen Ge-
legenheiten besprochenen Thatsache, dass es im Verlaufe des mensch-
lichen Daseins gewisse Zeiten giebt, in denen die allgemeine Wider-
standsfähigkeit auf körperlichem und seelischem Gebiete besonders
gering ist. Gerade der Widerstreit dunkler Gefühle und Antriebe
während der Geschlechtsentwickelung wird daher auch günstige Be-
dingungen für das AnAvachsen ki-ankhafter Willensregungen schaffen
können, welche im späteren Leben durch das gesunde Wollen ein-
fach in den Hintergrund gedrängt werden.
Ausser dem gemeinsamen Ursprünge aus einer krankhaften Ver-
anlagung theilt das impulsive Irresein mit einigen andern verwandten
Formen manche äussere Eigenthümlichkeiten. So kann man die
unausrottbare Kückfälligkeit des sittlich unfähigen Gewohnheitsver-
brechers mit der zwangsmässigen Wiederholung der gleichen ver-
brecherischen Handlungen durch unsere Kranken verwechseln. Auch
der moralisch Irre legt Feuer an, tödtet und stiehlt, aber er thut
es aus selbstsüchtigen Beweggründen, zu irgend einem bestimmten
Zwecke oder um zu schaden, während hier einzig der gebieterische
Antrieb den Ejranken gegen seinen eigentlichen Willen zur Be-
gehung der That zwingt. Sehr häufig ist dabei sogai- ein deutliches
Gefühl von der Widersinnigkeit, ünuatürlichkeit und Krankhaftigkeit
der Handlungsweise vorhanden. Nach einer andern Seite hin nähert
sich das impulsive Irresein gewissen Formen der angeborenen Neur-
asthenie. AUein bei dieser letzteren sind die auftauchenden Antiiebe
Angeborener Schwachsinn. 681
von lebhaften Gefühlen der Angst und des Abscheas begleitet. Die
Kranken wollen durchaus nicht die ihnen vorschwebenden Hand-
lungen begehen; sie fürchten vielmehr, dass sie möglicherweise
unterUegen könnten, was thatsächlich nicht geschieht. Hier dagegen,
beim impulsiven Irresein, verknüpft sich die Vorstelkmg der krank-
haften That mit dem Gefühle einer gierigen Wollust, welche dem
Kranken für die Ausführung volle und ausgiebige Befriedigung ver-
spricht, so dass er nicht ruhen kann, bis er gehandelt hat. Unmittel-
bar nach der That folgt eine deutliche Erleichterung, beim Misslingen
das Bedauern über den Misserfolg. Yen Reue ist oft gar keine
Spur vorhanden, oder sie kommt doch nur bei geringergradigeni sitt-
lichem "Defect und erst dann, wenn nach der Aufregung der That
jene Gegenvorstellungen auftauchen, welche bis dahin durch die
alles beherrschende Begierde zurückgedrängt worden waren. Es ist
daher klar, dass wir es hier mit wirklich krankhaften Trieben, dort
dagegen nur mit einfachen Zwangsbefürchtungen zu tbun haben.
Die Thatsache des impulsiven Irreseins hat auf einer früheren
Entwickeinn gsstufe der Psychiatrie als Grundlage der Lehre von den
„Monomanien" eine wichtige Rolle gespielt. Jetzt ist die für unser
wissenschaftliches Yerständniss gefahrdrohende Annahme isohrter
krankhafter Triebe in der klaren Erkenntniss untergegangen, dass
man es hier überall mit einer angeborenen, allgemeinen psychischen
Invalidität zu thun hat, deren schwächster Punkt gerade in dem
Mangel einer HeiTschaft über die allerdings vielfach in krankhafter
Stärke und Richtung entwickelten Triebe gelegen ist. Das italienische
und spanische StrafgesÄzbuch nimmt auf das impulsive imd wol auch
das emotive Irresein Rücksicht in der Anerkennimg einer „forza
irresistibile" (unwiderstehlichen Gewalt), welche unter Umständen den
Willen des Thäters vollständig fortreissen und damit als Straf-
ausschlies&ungsgrund gelten soll. Möglich, dass plötzhche Antriebe
von unbezwingUcher Stärke bei den heissblütigen Völkern des Südens
häufiger sind, als bei uns; jedenfalls vermag jene Fassung vielfachen
„Missbräuchen" im Sinne der Justiz Thür und Thor zu öffnen. Wie
ich glaube, sollte man das Bestehen des impulsiven Irreseins nur
dort annehmen, wo wirklich der triebartige Ursprung des Handelns
ohne klares, vernünftiges Ziel deutlich hervortritt, und wo auch im
übrigen Bereiche des Seelenlebens die Anzeichen einer krankhaften
Yeranlagung erkennbar sind.
682 Xin. Die i)8yc]iisclien Entwickeliingsanonialicn.
Allo im Yorstelionden gGschildortoii Formen des angeborenen
Schwachsinns sind als der Ausdrnck einer krankhaften, vielfach er-
erbten Entartung- zu betrachten. Man hat sie daher wol auch mit
den von mir als angeborene Neurasthenie bezeichneten und einigen
andern verwandten Zuständen unter der gemeinsamen Bezeichnung
des degenerativen Irreseins zusammengefasst. Diese ihre anthro-
pologische Entstehungsweise pflegen sie sehr vielfach durch das Vor-
kommen der körperlichen Entartnngszeichen zu verrathen. Wir
finden bei ihnen Zurückbleiben der gesammten Körperentwickelung
auf kindlicher Stufe, auffallend jugendliches oder frühzeitig gealtertes
Aussehen, örtliche und allgemeine Wachsthumshemmungen des Gehirns
und Schädels, schiefes Gresicht, abnorme Zahn- und Kieferstellung,
Missbildungen aller Ai-t an Ohren, Gaumen, Geschlechtstlieilen,
Händen. Seltener sind die Spuren überstandener Gehirnkrankheiten.
Im Wesentlichen bleiben natüiiich diese Krankheitsbilder
während des ganzen Lebens unverändert, doch ist, wie fi'üher er-
wähnt, ein Einfluss der physiologischen Zustände oft deutlich er-
kennbar. Namentlich die geschlechtlichen Umwälzungen, die Pubertäts-
entwickelung, die Menstruation, die Scliwangerschaft, wol auch die
Rückbildungsjahre pflegen eine gewisse Rolle zu spielen. Es kommt
vor, dass sie den Gesammtzustand dauernd verschlechtern, oder dass
sie doch ein stärkeres Hervortreten der Krankheitserscheinunsren
bewirken. Andererseits sieht man nicht allzuselten, dass sich mit
der vollen Ausbildung und Festigung der Persönlichkeit eine über-
raschend weitgehende Besserung der Störungen herausstellt. Namentlich
scheint das beim moralischen, emotiven und impulsiven Schwachsinn
vorzukommen. Endlich bedarf es keiner besonderen Erwähnung,
dass sich auf dem Boden der hier besprochenen Formen krankhafter
Yeranlagung auch die verschiedenartigsten vorübergehenden Störungen
des psychischen Gleichgewichtes ausbilden können, am häufigsten
vielleicht periodische Erregungszustände.
In ihren leichtesten Andeutungen gehen die einzelnen Ge-
staltungen des degenerativen Irreseins allmählich über in jene mannich-
faltigen kleinen Unvollkommenheiten der persönliclien Veranlagung,
welche von Koch*) unter dem Namen der „angeborenen, dauernden
psychopathischen Minderwerthigkeiten" beschrieben worden sind.
*) Koch, die psychopatliischeu Minderwerthigkeiten. 1893.
Conträre Sexualempfiiidnng. 683
Dieselben bilden ein grosses und ungemein reiches Zwischengebiet
zwischen dem zweifellosen Irresein und der Gesundheitsbreite. Alle
die verschiedenen abnormen Züge, die wir- in der hysterischen,
neurasthenischen, epileptischen Veranlagung, sowie bei den ange-
borenen Schwächezuständon kennen gelernt haben, namentlich auch
o-eschlochtliclie Yerirrungon, können sich in schärferer oder schwächerer
Ausprägung, einzeln oder gemischt bei sonst rüstigen, leistungsfähigen,
ja hochentwickelten Persönlichkeiten wiederfinden. Wir sehen daher
in diesen Zuständen vielfach, wie die Entartung unmerklich auch im
kräftigen Stamme ün-e Wirkung entfaltet; wir sehen aber wol auch
eben so oft, wie das gesunde Leben allmählich bis auf die letzten
unerheblichen Spinaen die krankhafte Entwickelung früherer Ge-
schlechter zu überwinden vermag.
Die Behandlung der angeborenen Schwächezustände sieht sich
naturgemäss wesentlich auf eine sorgfältige, die körperliche Ent-
wickelung nach Möglichkeit berücksichtigende und im Uebrigen der
Lage des einzelnen Falles angepasste Erziehung beschränkt. Grosse
Geduld, gleichmässige, zielbewusste Festigkeit und vor Allem warm-
herzige Freimdüchkeit Averden hier manchen ungehofften Erfolg er-
ringen. Sehr wichtig erscheint es mir, bei diesen Kranken von
vorn herein dauernde völlige Entiialtsamkeit vom Alkohol zu er-
sta-eben, der ihnen naclnveislich so häufig schweren Schaden bringt.
Eine ganze Reihe von Kranken, namentiich der hier zahlreich ver-
tretenen Gemeingefährlichen, wird nothwendiger Weise der Anstalts-
pflege anheimfallen, unt^r deren Schutz sie meistens noch zu einem
verhältnissmässig nützlichen und für sie selbst befriedigenden Leben
erzogen werden können. Dabei sind ausser den allgemeinen Regeln
der Anstaltsbehandlung überhaupt, Beschäftigung, guter Ernäh-
rung, Ueberwachung und wohlwollender Führung meist kerne be-
sonderen Anzeigen zu erfüllen.
D. Die conträre SexualempfiiidTiiig.
Die verschiedenartigen Verirrungen des Geschlechtstriebes,
weichen Avir auf dem Gebiete des impulsiven Irreseins begegnet
sind, bilden in mancher Beziehung einen üebergang zu jener eigen-
artigen Umwandlung der geschlechtlichen Neigungen, welche West-
phal nach ihrem wichtigsten Zeichen als „conträre Sexualempfindung"
684
XIII. Die iisychiBchen Eutwickelungsanonialien.
bezeichnet hat. Es liandelt sich hier um eine meist in früher Jugend
bereits hervortretende geschlechtliche Zuneigung zu Per-
sonen desselben Geschlechts („Homosexualität"), wähi-end das
andere Geschlecht dem Patienten in dieser Hinsicht gleichgültig
bleibt oder sogar Abscheu und Ekel einflösst. Die Aufmerksamkeit
der L'renärzte wurde auf diese wahrscheinlich uralte, mit der Knaben-
liebe der Griechen und Römer in Beziehung stehende Verirrung
hauptsächlich durch Casper gelenkt; später haben namentlich West-
phal und v. Krafft-Ebing unser Wissen über diesen Gegen-
stand gefördert, der in neuester Zeit gleich eine ganze Reihe ein-
gehendster monographischer Bearbeitungen erfahren hat*j.
In der Mehrzahl der Fälle scheint die Störung Männer zu be-
treffen, oder sie ist doch bei ihnen den Aerzten leichter und häufiger
bekannt geworden; fast immer ist angeborene, häufig ererbte psycho-
pathische Veranlagung vorhanden. Der Geschlechtstrieb pflegt sich
früh und kräftig zu entwickeln und führt sehr häufig zu einer leb-
haft betriebenen Onanie. In manchen Fällen bestehen zunächst ge-
sunde, „heterosexuelle" Neigungen, die erst später durch den stärker
anwachsenden krankhaften Trieb überwältigt werden. Meist aber
beziehen sich die wollüstigen Begleitbilder der geschlechthchen Er-
regung im Wachen und Träumen von vorn herein auf das gleiche
Geschlecht, und alle Yersuche normalen Geschlechtsverkehrs miss-
glücken vollständig oder gewähren doch wenigstens keine Befriedigung.
Gerade diese Erfahrungen sind es, welche dem Kranken, der oft
längere Zeit über sich selbst im Unklaren ist, die Eigenart seines
Geschlechtslebens enthüUen. Entscheidend ist für die weitere Ent-
wickelung die Bekanntschaft mit irgend einer Person gleichen Ge-
schlechts, die entweder einfach durch ihre körperlichen und geistigen
Vorzüge die Sinnlichkeit des Kranken mächtig erregt oder geradezu
die gleichen Neigungen hat und ihn „verführt" oder sich von ihm
verfülu-en lässt. Es kommt zu einem schwärmerischen und leiden-
schaftlichen„Freundschaftsbündnisse" mit allen Ueberschwänglichkeiten
eines Liebesspiels, sentimentalenBriefen,Blumensendungen,Geschenken,
*) Westphal, Archiv f. Psychiatrie, U, 1; v. Krafft-Ebing, Psychopathia
sexualis. 8. Auflage. 1893; Moll, Die conträre Sexualempfiadmig. 1891; v.
Schrenk-Notzing, Die Suggestionstherapie bei krankhaften Erscheinungen des
Geschlechtssinnes. 1892.
Conträre Soxualempfindiing.
685
Eif ersuch tsscenen, brünstigem Küssen und Händedrücken. Meist
schreitet dasselbe zu wollüstigen Umarmungen, gegenseitiger Mastur-
bation und allen möglichen andern „beischlafähnlichen Handlungen",
seltener zu wirklicher Paederastie fort.
Ganz wie bei den Beziehungen verschiedener Geschlechter be-
stehen solche „Verhältnisse" bisAveilen längere Zeit, selbst viele Jahre
hindurch fort. Weit häufiger ist jedoch ein Wechsel der Neigungen
oder sogar grosse Unbeständigkeit. Meist sind beide TheUe homo-
soxual, doch giebt es manche Kranke, die gerade nur mit gesund
fühlenden Personen geschlechtlich zu verkehren lieben. Standes-
unterschiede scheinen, genau Avie im gewöhnlichen Geschlechtsleben,
hier eine weit geringere EoUe zu spielen, als etwa beim rein gesell-
schaftlichen Verkehr. Einzehie Kranke der besseren Stände fühlen
sich sogar am meisten zu Fabrikarbeitern, Kutschern, Lastträgern
u. dergl. hingezogen. Einer besonderen Beliebtheit erfreuen sich
auch hier die Soldaten. Aus allen diesen Umständen erklärt es sich,
dass in grösseren Städten gewöhnlich auch eine mäimliche Prostitution
mit allem Zubehör zu bestehen pflegt, die sich nicht nur aus homo-
sexualen, sondern auch aus geschlechtlich normalen Personen zu-
sammensetzt. Andererseits werden neben den körperlichen Reizen
meist auch zusagende Eigenschaften des Gemüths und des Verstandes
gefordert, mit denen aber die Einbildungskraft des Homosexualen
den Gegenstand seiner Liebe ebenso freigebig ausstattet, wie der
normale Liebesrausch. Der Unbefangene begegnet in seinem ganzen
Leben nicht einer solchen»Schaar von „hochgebildeten", „edeldenken-
den", „charaktervollen" Männern, wie wir sie in der Schilderung
eines einzigen Freundeskreises solcher Kranker anzutreffen pflegen.
Natürlich bleibt die überwiegende Mehrzahl der Homosexualen
unvermählt. Dennoch gehen einzelne der Kranken trotz ihres Wider-
willens gegen das andere Geschlecht die Ehe ein, theils in der
Hoffnung, sich dadurch von ihrem abnormen Triebe zu heilen,
theils in dem Wunsche, Kinder zu besitzen. Nicht immer sind
diese Ehen unglücklich, da die Kranken bisweilen, abgesehen vom
geschlechtlichen Verkehre, mit grosser Pflichttreue ihre eigenthüm-
Hche Stellung auszufüllen verstehen. Ja, es gehngt denselben sogar,
Nachkommenschaft zu erzeugen, allerdings nur, wenn sie sich während
des Geschlechtsactes mit Aufbietung ihrer Phantasie in die Arme
einer jungen und schönen Person gleichen Geschlechtes zu ver-
686
Xni. Dia psychischen Entwickehmgsanomalien.
setzen vermögen. Daneben unterhalten sie vielfach noch gelegent-
lichen oder regelmässigen homosexualen Verkehr.
Gewöhnlich besteht ausser der conträren Sexualenipfindung noch
eine Reihe anderweitiger Züge, welche auf eine ki-ankhafte Veran-
lagung hindeuten. Daliin sind zunächst alle jene vielgestaltigen
körperlichen Entartungszeichen zu rechnen, die wir früher kennen
gelernt haben. Der Verstand der Kranken ist meist normal ent-
wickelt, doch macht sich häufig neben guter Auffassungsgabe grosse
Ermüdbarkeit, geringe Ausdauer bei geistiger Arbeit und Neigung
zu Träumereien geltend. Die Einbildungskraft pflegt stark über die
Fähigkeit zu rein verstandesmässiger Thätigkeit zu überwiegen. Gar
nicht selten beobachtet man auch wirklichen Schwachsinn. Am auf-
fallendsten ist gewöhnlich die erhöhte Erregbarkeit im Gemüths-
leben. Die Kranken sind empfindlich, von Stimmungen und Ein-
drücken in besonderem Masse abhängig, schöngeistig und künstlerisch,
besonders musikalisch veranlagt, zu Schwärmerei und Gefühlsaus-
brüchen geneigt. Meist haben sie, namentlich bei sonstiger geistiger
Begabung, ein lebhaftes Gefühl für ihre eigenartige Stellung. Wenn
sie auch nicht geneigt sind, sich für eigentlich krank zu halten, viel-
mehr an sich ihr Trieb ihnen als etwas ganz Natürliches erscheint,
so empfinden sie doch sehr tief und schmerzlich den Druck, mit
welchem Gesetz und Sitte sie belastet, und sind unglücklich darüber,
keine Familie gründen zu können. Ihr Charakter ist weich, lenk-
sam, unselbständig, sogar schlaff und haltlos. Ihre Lebensführung
weist daher häufiger eine gewisse Zerfahrenheit und Abenteuerlich-
keit auf. UnZuverlässigkeit, Mangel an Wahrheitsliebe, Neigung zum
Prahlen und kleinliche Eitelkeit sind gewöhnliche Untugenden. Die
geschlechtlichen Beziehungen spielen vielfach eine, namentlich für
Männer, ganz merkwürdig wichtige und entscheidende Rolle in ihrem
Leben, können sie längere Zeit ganz vollkommen in Anspruch nehmen,
an jeder geregelten Thätigkeit hindern, sie verbummeln lassen, ihre
Schicksale in durchaus massgebender Weise beeinflussen. Bisweilen
gesellen sich zu der homosexualen Neigung die fi-üher besprochenen
Verirrangen der Algolagnie und des Fetischismus ebenso hinzu,
wie zum heterosexualen Triebe.
Während der Entwickelung der conti'ären Sexualempfindung lässt
sich sehr häufig das gelegentliche Auftauchen heterosexualer
Regungen feststellen. Ich erinnere mich eines von Hause aus
Conträre Sexualempfindung.
687
krankhaft veranlagten jungen Mannes, der zunächst zweifellose
sinnliche Beziehungen zu Mädchen besass, später aber sicli aus-
schliesslich durch Manustupration von Knaben befriedigte. Niclit
selten bestehen Neigungen zu beiden Greschlechtern nebeneinander,
bald als Uebergangsstadiura, bald dauernd. Freilich pflegt meist
die eine Richtung mit stäi'kerer Befriedigung verknüpft zu sein.
Man spricht hier von einer „psychischen Hermaphrodisie".
Bei ausgeprägter Homosexualität zeigt sich häufiger eine Ver-
änderung der ganzen Lebensführung im Sinne des entgegengesetzten
Geschlechtes. Der Mann wnd weibisch in seinen Bewegungen, seinem
Gange, seiner Haltung, seiner Geschmacksrichtimg. Er zeigt em süss-
liches, geziertes Wesen, wird eitel, gefallsüchtig, legt grossen "Werth
auf Aeusseres, kleidet sich mit besonderer Sorgfalt, nach der Mode, trägt
Blumen im Knopfloch, parfümirt, schminkt sich, lässt sich frisiren,
schreibt zierüche Briefe auf duftendem Papier, schmückt seine Zimmer
nach Art der weibhchen Boudoirs aus. Vielfach besteht die Neigung,
sich mit weiblichen Handarbeiten zu beschäftigen, weibliche Kleidung
(Corsett!) zu tragen, Busen und Hüften auszustopfen, in Fistelstimme
zu sprechen, kurz sich in allen Stücken auch äusserlich möglichst
der erwünschten geschlechthchen Stellung zu nähern. Andererseits
sehen wn homosexuale Frauen durch ihre Neigung zu männlichem
Aufti-eten, zum Bauchen und Trinken, zu übermüthigen Sü-eichen,
zu männlicher Kleidung und Haartracht, zu männlichem Sport und
männlichen Berufsarten auffallen. Diese Veränderungen bezeichnet
V Krafft-Ebing als Eff eminatio und Viraginität. Nicht selten
gehen die ersten Spuren derselben schon bis in die Kinderjahre
zurück und geben vielleicht günstige Vorbedingungen für die Aus-
bildung der conträren Sexualempfindung ab; in andern Fallen voll-
zieht sich die ganze Umwälzung erst späterhin, anscheinend wesentlich
unter dem Einflüsse jener letzteren.
Es giebt endlich eine kleine Gruppe von homosexual ver-
anlagten Personen, bei denen auch der körperliche Bau gewisse
Abweichungen vom Geschlechtstypus in der Richtung des andern
Geschlechts aufweist. Dahin gehören die bartlosen Männer mit
weiblicher, hoher Stimme, glatter, weisser Haut, stärkerem Fettpolster,
entwickelten Brustdrüsen, schlanker Taille und breiten Hüften, die
Frauen mit Bartanflug, grobem Knochenbau, tiefer, rauher Stimme,
männlichem Becken, erstere von v. Krafft-Ebin g als Androgyne
688
Xin. Die psychisclien Entwickelungsanomalieii.
letztere als G-ynandrier bezeichnet. Wirkliche Zwitterbildung bei
conträrer Sexualempfindung ist bisher niemals beobachtet worden.
Der Verlauf des Leidens ist stets ein äusserst chronischer.
Der vollen Entwickolung, die sich meist gegen Ende des zweiten
oder im Anfange des dritten Lebensjahrzehntes vollzieht, können
lauge Zeiten des Kampfes oder der Homosexuahtät voraufgehen,
wenn auch andererseits bisweilen eine einzige Lebenserfahrung
plötzlich bestimmend sein kann. In einzelnen Fällen hat man ein
periodisches Auftreten der homosexualen Neigungen beobachtet, mit
oder ohne Verbindung mit allgemeinen Erregungszuständen. Zwei-
mal sah ich acut Verfolgungsideen bei den sonst ganz besonnenen
Kranken auftreten. Sie fürchteten entdeckt, belauscht zu werden,
hörten über sich sprechen, waren äusserst ängstlich und nur theil-
weise und vorübergehend einsichtig. Die Störung erinnerte sehr
an gewisse Fälle von Grefangenenwahnsinn; leider habe ich den
Aveiteren Verlauf nicht beobachten können.
Die conträre Sexualempfindung ist nach den Versicherungen
aller derartiger Kranker keineswegs selten, obgleich die bisher vor-
liegende Casuistik aus begreiflichen Gründen kaum mehr als etwa
150 Fälle umfasst. Dennoch ist die Angabe von Ulrichs, der in
einer Reihe von Schriften diesen Zustand aus eigener Erfahrung
behandelt hat, wahrscheinlich beträchtlich übertrieben; er nimmt
nämlich auf 200 Männer je einen „Urning" an, wie er die hier ge-
schilderten Kranken nennt. Auf Grund dieser Angabe plaidirt jener
Autor sogar für die staatliche Anerkennung der conträren Sexual-
empfindimg und namentlich für die Gestattung dauernder förmlicher
Ehebündnisse. In gewissen Ständen, namentlich den mehr weiblichen
Berufsarten, finden sich Homosexuale besonders häufig, unter den
Decorateuren, Tapezierern, Kellnern, Damenschneidern; auch unter den
Schauspielern scheinen sie viel vertreten zu sein. Moll behauptet,
dass Damenkomiker regelmässig homosexual seien. Meistens wird
hier wol überall die Berufswahl schon durch die ursprüngliche, zum
Weiblichen neigende Veranlagung beeinflusst werden; namentlich das
letzte Beispiel spricht dafür.
Die Erkennung der conti'ären Sexualempfindung ist in den
Fällen mit starker Umwandlung der geistigen oder gar körperlichen
Persönlichkeit vielfach sehr leicht, obgleich auch trotz jener Um-
wandlung völlig normale geschlechtliche Neigungen vorhanden sein
Conträre Sexaalempfindung.
689
können. Sonst ist die . ärztliche Diagnose nur aus den eigenen An-
gaben des Kranken möglich. Alle Angaben der Urninge über die
Schnelligkeit und Unfehlbarkeit ihres Erkennens sind Prahlereien.
Neben der krankhaften conträren Sexualempfindung giebt es auch
eine künstlich gezüchtete. Beide, die übrigens wieder von der ein-
fachen Ausübung homosexualer Acte ohne homosexuales Fühlen
wohl zu unterscheiden sind, gehen in einander über und können nur
nach den im einzelnen Falle vorliegenden Angaben über die Ent-
stehungsweise auseinandergehalten werden.
Es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass die con-
träre Sexualempfindung auf dem Boden einer krankhaft entarte-
ten Persönlichkeit erwächst. Dagegen ist es fragüch, ob die
eigenthümliche Verkehrung des Geschlechtstriebes als solche schon
angeboren ist, oder ob sie nur eine der vielen Erscheinungsformen
krankhafter Triebe darstellt, welche bei geringer gemüthhcher Wider-
standsfähigkeit durch äussere Lebenserfahrungen grossgezogen werden
können. Man ist meist der gewichtigen Ansicht v. Krafft-Ebing's zu
Gimsten der ersteren Möglichkeit gefolgt, und die vielen Selbst-
schilderungen von Urningen behaupten fast ausnahmslos sehr be-
stimmt, dass die homosexualen Neigungen angeboren seien. Auch
die Erfahrung eines Zusammenhanges nicht nur der ganzen Ge-
müthsart, sondern auch gewisser körperücher Eigenthümlichkeiten
mit der conträren Sexualempfindung scheint kaum anders, als im
Sinne eines angeborenen Zwiespaltes zwischen der Bildung der Ge-
schlechtsorgane und der geschlechtlichen Veranlagung der eigent-
lichen Persönlichkeit gedeutet werden zu können. Ulrichs hatte
geradezu von einer „anima muliebris in corpore virili inclusa" ge-
sprochen, und man durfte wenigstens daran denken, dass bei der
erst spät erfolgenden Differenzirung der beiden Geschlechter die
gewöhnhche Uebereinstimmung der körperüchen und geistigen
Gesammtrichtung mit den äusseren Geschlechtskennzeichen mög-
ücherweise einmal nicht zu Stande kommen könne.
Gegenüber diesen Annahmen ist v. Schrenk-Notzing mit
schwerwiegenden Beweisen für eine häufigere Entstehung der con-
trären Sexualempfindung aus mehr zufälügen Anregungen em-
getreten. Mit Recht hat er darauf hingewiesen, dass bei unseren
geseUschaftüchen Einrichtungen die meist lange vor dem eigentlichen
Pubertätsalter sich einstellenden ersten geschlechtlichen Regungen
44
Kraepelin, Psychiatrio. 4. Aull.
4
690
XIII. Die psychischen Entwickeliingsanomalien.
fast mit Nothwendigkeit sich an Erlebnisse, mit dem eigenen Ge-
schleclite anknüpfen müssen (nackte Knaben beim Baden, Ringen
Verführung durch Mitschüler). Thatsächlich sind lebhaft sinnlich
betonte Freundschaften zwischen Schulkindern des gleichen Ge-
schlechts, die noch nichts von den Geschlechtsunterschieden wissen,
ganz ungemein häufig.
Bei gesunden Personen sind die Nebenunistände, unter denen
die ersten sinnlichen Gefühle auftauchen, für die spätere Richtung
des Geschlechtstriebes gleichgültig. Dagegen können dieselben
bei krankhafter Veranlagung, bei der ohnedies das Erwachen des
Triebes früher und heftiger zu erfolgen pflegt, von grosser Be-
deutung werden. Dafür sprechen vor Allem gewisse Erfahrungen
bei Fetischisten, deren geschlechtliche Neigungen ihr ganzes Leben
hindurch unter dem Banne eines bestimmten Eindi^uckes stehen
bleiben. Auch an die dauernde Herrschaft einzelner, von aussen her
angeregter Vorstellungskreise und Antriebe bei den Schreckneu-
rosen, wie bei Neurasthenikern überhaupt darf hier erinnert werden.
Wie der Fetischist nur unter ganz bestimmten Umständen ge-
schlechtlichen Genuss findet, so könnte dieser letztere beim Homo-
sexualen an die Wiederkehr jener Eindrücke sich knüpfen, welche
zum ersten Male oder in besonders alarmirender Weise den Ge-
schlechtstrieb anregten; das würden hier die Kennzeichen des gleichen
Geschlechtes sein. Dass dieser ursprüngliche Zusammenhang später
häufig vergessen wird und nur das anscheinend räthselhafte End-
ergebniss zu Tage liegt, kann in beiden Fällen geschehen. Doch
liegen für Fetischisten wie für Homosexuale genügend zahlreiche
Beobachtungen vor, welche mit Bestimmtheit auf die hier angedeutete
Entstehung hinweisen. Gegen das Angeborensein der Störung spricht
ferner die Thatsache der häufigen psychischen Hermaphrodisie. Ver-
hältnissmässig selten sind jene Personen, bei welchen niemals eine
Spur von heterosexualen Regungen vorhanden gewesen ist. Wie
beim gesunden Menschen die ursprünglich vielleicht am häufigsten
auf das eigene Geschlecht sich richtenden sinnlichen Neigungen
später einfach von mächtigeren Trieben unterdrückt werden, so
wird dort die gesunde Regung von dem homosexuellen Triebe
überwuchert, der sich schon lange vorher auf dem krankhaft em-
pfänglichen Boden üppig entwickelte. Daher die entscheidende Be-
deutung der ersten geschlechtlichen Misserfolge, daher aber auch die
Conträre Sexualempfindung.
691
sonst einfach imerklärlicho, später zu besprechende Möglichkeit einer
Heilung der Kranken auf psychischem Wege! Das Krankhafte üegt
also, wie ich mit v. Schreuk-Notzing glaube annehmen zu müssen,
häufig oder regelmässig nicht in einem ursprünglich verkehrt ent-
wickelten Triebe, sondern es liegt in der eigenthümlichen, auf Ent-
artung beruhenden Bestimmbarkeit des überdies früh erwachenden
Trieblebens. Dui-ch sie wird in dem jugendlichen Gemüthe dis
erste Ani-egung der Sinnlichkeit massgebend für die dauernde Ge-
sammtrichtung derselben.
Allerdings sprechen gegen diese Auffassung der oben erwähnte
Zusammenhang der geistigen und namentlich der körperlichen Eigen-
schaften mit der Geschlechtsumwandlung. Indessen der Werth
dieser Thatsachen ist unter dem Einflüsse der Ulrichs'schen An-
schauung überschätzt worden. Alle jene körperlichen Eigenthümlich-
keiten treffen wir gelegentlich bei beliebigen Entarteten, ohne An-
deutung von conträrer Sexualempfindung. Zudem sind sind sie bei
unsern Kranken selbst durchaus nicht häufig; im Gegentheil besitzt
die überwiegende Mehrzahl derselben vollständig alle körperlichen
Eigenschaften ihres Geschlechtes. Ebenso ist im Allgemeinen die
auffallende geistige Yeranlagung zu beurtheilen. Wir sind derselben
schon bei manchen anderen Formen der krankhaften Entai'tung, bei
der Hysterie, bei gewissen Schwachsinnsformen u. s. w. begegnet,
ohne aUe Yerbindung mit Homosexualität. Umgekehrt kenne ich
Kranke genug, welche jene Züge durchaus nicht besitzen. Immerhin
wäre es wol mögüch, dass bestimmte Charaktereigenschaften wegen
der gesammten Stellung, die sie dem Einzelnen in seiner Umgebung
anweisen, von vorn herein die Entstehung homosexualer Neigungen
begünstigten. Endlich aber ist ein TheU derselben, sind namentiich
die Lebensgewohnheiten einfach die Folge der einmal bestehenden
geschlechtüchen Kichtung. Es giebt übrigens auch zahlreiche sexuell
vöUig gesund veraiüagte Männer, welche ausser jeder Beziehung
zu ihrem Berufe eine überraschende Kenntiiiss der weibüchen
Kleidung, der Küche, ja sogar grosse Fertigkeit in weiblichen Arbeiten
besitzen, während andererseits unsere „emancipirten", rauchenden,
reitenden, schriftstellernden, stiidirenden Damen kemeswegs die
Männerliebe zu verschmähen pflegen.
Durch die hier verti-etene Auffassung, welche vielleicht nicht
für alle doch aber für die Mehrzahl der Fälle von conta-ärer Sexual-
' 44*
692
Xin. Die psychischen Entwickelungeanomalien
empfinclung gelten dürfte, wird die Prognose dieser Störung eine
weit günstigere, als man früher annehmen konnte. Die Ei-fahrung
hat im Laufe der letzten Jahre gezeigt, dass bei nicht wenigen
Kranken eine sehr weitgehende Besserung und sogar Heilung mög-
lich ist.
Die Behandlung besteht wesentlich in dem Yerfahren der
hypnotischen Suggestion, die bei diesen Kranken, wie bei so manchen
andern Gelegenheiten, Heilerfolge erzielt, wo alle andern Behandlungs-
arten machtlos sind. Die Suggestion richtet sich zuerst gegen die
so häufig betriebene Masturbation und die gesteigerte geschlechtliche
Erregbarkeit überhaupt. In zweiter Linie wird TJnempfindüchkeit
gegen das eigene Geschlecht, Verblassen der betreffenden Phantasie-
bilder, in dritter Anregung durch das andere Geschlecht, Neigung
zum heterosexualen Yerkehr Torgeschrieben. Meist ist diese hyp-
notische Erziehung, da es sich schon um tief eingewurzelte Gewohn-
heiten handelt, eine äusserst mühsame und langwierige; gelegentliche
Eückfälle sind nicht selten. Den grössten Werth legt v. Schrenk-
Notzing auf regelmässigen normalen Geschlechtsverkehr, der zwar
bei Männern verhältnissmässig leicht zu beschaffen ist, aber, wie
seine Fälle zeigen, auch manche Gefahren mit sich bringt. Ein
Glück, dass für Mädchen die" Behandlungsfrage weniger brennend
ist! Yor übereilten Coitusversuchen muss gewarnt werden, da ihr
MissUngen das Selbstvertrauen tief zu schädigen geeignet ist. Anderer-
seits kann ein Erfolg in dieser Richtung anscheinend raschen Um-
schlag der Stimmung und sogar die Selbsttäuschung völliger und
endgültiger Heilung bewirken. Unterstützt wird die Behandlung
durch Massnahmen, welche sich gegen den allgemeinen nervösen
Zustand des Kranken richten, Brom, diätetische Yorschriften, gym-
nastische Uebungen und Aehnliches. Das Endergebniss wird natüi-Hch
auch nach dem allmählichen Schwinden der homosexualen Neigungen
eine krankhaft entartete Persönlichkeit sein. Mehrere der so geheilten
Patienten haben geheirathet.
E e g i s t e r.
A.
Aberglaube, Unterscheidung von Wahn-
ideen 108.
Ablenkbarkeit als Symptom 89. 92.
Abreibungen als Heilmittel 209.
Absence der Epileptiker 512.
Abstinenzerscheinungen beim Morphinis-
mus 561.
Abulie als Symptom 132.
Acusticusreaction, elektrische 26. 73. 171.
Aengstlichkeit als Symptom 129.
Aequivalent, psychisch-epileptisches 522.
Aether als Beruhigungsmittel 206.
Aethermissbrauch als Ursache des Irre-
seins 25.
Aetiologie, allgemeine 5.
Affecte s. Gemüthsbewegungen.
Agoraphobie s. Platzangst. ^
Agrammatismus bei Hirnerkrankungen
643.
Aidoiomanie 142.
Algolagnie 678. 686.
Alkohol als Ursache des Irreseins 21. 652.
als Schlafmittel 205.
„ Kampf gegen denselben 196. 537.
Alkoholabstinenz 535.
Alkoholepilepsie 520. 533. 543.
Alkoholismus, chronischer 526. 529.
Alkohohieuritis 22. 533. 535.
Alkoholparalyse 551.
Alkoholwahnsinn 322. 545.
Alkoholwirkung, psychische 526.
Altersblödsinn 628.
Altscherbitz 236.
Amentia 260.
„ bei Untersuchungsgefangenen
326.
Amylenhydrat als Schlafmittel 203.
Amylnitrit als Arzneimittel 208.
Anamnese 167.
Androgyne 687.
Anfälle, epileptische 512.
hysterische 497. 503.
„ paralytische 585. 612.
Angehörige Geisteskranker 167.
Angina als Ursache des Irreseins 16.
Angst als Symptom 127.
„ Behandlung derselben 223.
Angstmelancholie 304.
Anorexie 132.
Ansteckung, psychische 38.
Anthropophagie 677.
Aphasie, amnestische, als Symptom 93.
Apoplexie als Ursache des Irreseins 9. 642.
Apperception 86.
ApperceptionshaUucination 76.
ApperceptionsiUusion 77.
Are de cercle 503.
Arzneimittel 197.
Association s. Vorstellungsverbindung.
Asthenopie, neurasthenische 469.
Atropindelirium 25. 252.
Auffassungsstörungen 86.
Aufnierksamkeit, Untersuchung derselben
178.
Aufnahmeverfahren 234.
Auscultation des Kopfes 170.
Ausgänge des Irreseins 155.
Ausschweifungen, geschlechtliche, als Ur-
sache des Irreseins 30.
Autohypnose, Gefahr derselben 221.
Automatie als Symptom 137.
Autopsie 183.
Aztekentypus bei Idiotie 652.
B.
Bäder als Heilmittel 209.
„ elektrische 211.
Balkeumangel bei Idioten 654.
694
Eegister.
B a s e d 0 w'sche Krankheit als Ursache des
Irreseins 28.
Befehlsautomatie 138.
Begriffsbildung 98.
Behandlung des Irreseins 193.
„ körperliche 197.
„ psychische 215.
., symptomatische 222.
Belastung, erbliche s. Erblichkeit.
„ organische 61.
Beobachtung der Geistesln-anken 182.
Berauschtheit während der Zeugung als
Ursache des Irreseins 64. 651.
Berührungsfurcht 481.
Beruf als Ursache des IiTeseins 57.
Beruf losigkeit als Zeichen des Irreseins 57.
Berufswahl als Vorbeugung des Irreseins
196.
Beschäftigung als Heilmittel 219.
Beschäftigungs delirium der Trinker 541.
Beschleunigung der psychischen Vorgänge
101.
Beschränktheit 662.
„ Abgrenzung ders. von
geistiger Störung 186.
Beschränkung, mechanische 214.
Besessenheitswahn 398.
Besserung der Geisteskrankheit durch
körperliche Krankheit 157.
Bettbehandlung 213.
Bettsucht als Symptom 295.
Bewegungsdrang 134. 278.
Bewegungsstereotypen 140.
Bewusstlosigkeit 86. 91.
Bewusstsein 85.
„ doppeltes 151.
„ Helligkeitsgrade desselben 86.
Bewusstseinstrübung als Symptom 85.
87. 174.
Biegsamkeit, wächserne 139. 171.
Blasenpflaster als Heilmittel 209.
Blattern s. Variola.
Bleivergiftung als Ursache des Irreseins 26.
Blödsinn s. Dementia
„ höherer 669.
Blutentziehungen als Heilmittel 208.
Bluterkrankungen als Ursache des Irre-
seins 18. 28.
Blutstauungen 8.
Blutverluste 8. 18. 265.
Boldin als Heilmittel 201.
Brandstiftungstrieb 142. 675.
Bromaethyl als Heilmittel 206.
Bromammonium als Heilmittel 206.
Bromkalium „ „ 206.
Bromnatrium „ „ 206.
Bromrubidium „ „ 206.
Bromvergiftung als Ursache des Irre-
seins 25.
Bromwasser, kohlensaures, als Heilmittel
207.
Bulimie als Symptom 135.
c.
Cannabinon als Heilmittel 200.
Cannabinum purum als Heilmittel 200.
„ tannicum „ „ 200.
Castration bei Hysterie 504.
Civilstand, Einfluss desselben auf das
Irresein 58.
Chapman'scher Schlauch als Heilmittel
210.
Chininvergiftung als Ursache des Irre-
seins 25.
Chloralamid als Schlafmittel 202.
Chloralhydrat als Schlafmittel 201.
Chloralmissbrauch als Ursache des IiTe-
seins 25.
Chloralrash 202.
Chloroform als Beruhigimgsmittel 200.
Chloroformdelirium 252.
Chlorof ormm i ssbraucb als Ursache des
Irreseins . 25.
Cholaemie als Ursache des Irreseins 21.
Cholera „ „ „ 14.
Chorea „ ,, „ „ 13.
Classification s. Eintheilung.
Claustrophilie 483.
Claustrophobie 483.
Cocainismus 25. 566.
Cocainwahnsinn 567.
Codein als Arzneimittel 198.
Coitus, erster, als Ursache desln-eseins 31.
CoUapsdelirium 254.
Coloniales System 236.
Commotio cerebri s. Gehirnerschütterung.
Coniumvergiftung als Ursache des IiTe-
seins 25.
Contagion s. Ansteckung.
Cornutin als Heilmittel 208.
Cretinismus, endemischer 656.
„ sporadischer 660.
Criminalanthropologie 672.
Criminalpsychologie 672.
Cultur, Beziehimgen derselben zum Irre-
sein 56.
Cysticerken als Ursache des Irreseins 9.
Cytisin als Heilmittel 208.
D.
Dämmerzustand als Symptom 87.
„ epileptischer 512.
„ hysterischer 497.
Register.
695
Daturavergiftung als Ursache des Ii're-
seins 25.
Dauer des Ii-reseins 164.
Deckelbad 209.
Decubitus 586. 592.
„ Behandlung desselben 626.
Degeneration s. Entartung.
Dclinquente nato 672.
DeUre chronique a evolution systematique
427.
Dolire du toucher 129. 481.
Delirium 246.
„ acutum 259. 611.
„ ängstUches, der Epileptiker 516.
„ blandes 247.
„ chronisches der Trinker 545.
„ febriles 543.
„ furibundes 247.
„ im Dunkelzimmer 27.
„ mussitirendes 247.
„ periodisches 349.
„ räsonnirendes der Epileptiker 518.
„ seniles 628.
,, transitorium 523.
„ traumaticum 12.
„ tremens 538.
„ der Morphinisten 561.
Dementia s. Schwachsinn.
„ acuta 267.
„ paralytica s JParalyse, progressive.
„ paranoides 456.
„ praecox 435.
„ senilis 628.
Depression, constitutionelle 476.
Depressionszustände, periodische 379.
Derivantien als Heilmittel 209. »
Diabetes als Ursache des Irreseins 18.
Diaetetik des Irreseins 211.
Diagnostik, allgemeine 166.
Digitalis als Heilmittel 208.
Dipsomanie 546.
Diphtherie als Ursache des Irreseins 16.
Dispositionsfähigkeit 146. 644.
Dissimulation 191.
Doppeldenken als Symptom 76. 84. 397.
Douchen als Heilmittel 209.
Drastica als Heilmittel 209.
Drehschaukel als Heilmittel 231.
Drucksteigerung in der Schädelkapsel als
Ursache des Irreseins 8.
Duboisinimi sulfuricimi 200.
Dunkelzimmer, Delirium in demselben 27.
E.
Echolalie 140.
Effeminatio 687.
Ehe, Beziehungen ders. zum Irresein 58.
Eifersuchtswahn der Cocainisten 568.
der Trinker 549.
,, der Vemickten 395.
Emtheüvmg der Seeionstörungen 239.
„ ätiologische 241.
„ klinische 242.
„ pathologisch-anatomische 240.
„ symptomatische 241.
Einwickelungen, hydropathische 209.
Einzelhaft als Ursache des Irreseins 42. 323.
Eisbeutel als Heilmittel 210.
Ekelgefühle, Verlust ders. als Symptom 124.
Ekstase 130.
Elektrotherapie beim Irresein 210.
Encephalopathia saturnina 26.
Entartungszeichen 63. 170. 650. 682.
Entartungsprocesse, psychische 435.
Enthaltsamkeit, geschlechtliche als Ur-
sache des Irreseins 32.
Entlassung aus der Anstalt 237.
Entwickelungsanomalien, psychische 646.
Entwickelungsstörungen als Ursache des
Irreseins 64.
Entziehungscur bei Alkoholismus 536.
,, „ Cocainismus 571.
„ ,, Morphinismus 562.
Epilepsie als Ursache des Irreseins 13.
., bei Idiotie 651.
;, genuine 520.
,, psychische 512.
„ symptomatische 520.
Epileptisches Irresein 507.
Erblichkeit als Ursache des In-eseins 59.
„ atavistische 60.
„ collaterale 60.
„ cumulative 61.
;, directe 60.
„ gleichartige 63.
„ indirecte 60.
Ergotismus als Ursache des Irreseins 20.
Erinnerungsfälschung 95.
Erinnerungshallucination 95.
Erinnerungslosigkeit 91. ■*
Erinnerungslücke 91.
Erlenmeyer'sches Gemisch 207.
Ermüdbarkeit, Messung ders. 178.
Ernährung der Geisteskranken 211.
künstliche 227.
Erregung, Behandlung ders. 223.
Erschöpftingszustände, acute 254.
Erysipel, bessernder Einlluss desselben
auf Geistesstörungen 157.
Erysipel als Ursache des Irreseins 14. 16.
248. 257. 272. 652.
Erziehung als Ursache des Irreseins 64.
„ Vorbeugung des Irreseins
193.
696
Eegister.
Esclioltzia californica als Schlafmittel 199.
Euphorie als Symptom 130.
Existenzminimum der Morphinisten 563.
F.
Familiäre Verpflegung 237.
Faradisation, allgemeine 211.
Faserschwund bei Paralyse 616. 618.
Fetischismus 679. 686.
Fieberdelirien 14. 15. 246.
Flagellanten 678.
Flexibilitascerea s. Biegsamkeit, wäch-
serne.
Fhegenschwammvergiflung als Ursache
des Irreseins 25.
FoHe ä deux 39.
„ du doute 480.
„ morale 670.
„ raisonnante 367.
„ „ melancholische 476.
Forensische Psychiatrie 146. 187. 189.
Forza irresistibile 681.
Fütterung, künstliche 227.
G.
Galvanisation des Gehirns 210.
Geburt, protrahirte, als Ursache des Irre-
seins 652.
Gedächtniss 90.
Gedächtnissprüfung 176. 179.
Gedächtnissschwäche 91.
Gedächtniss, Störungen desselben 90.
Gefässerkrankungen als Ursache des Irre-
seins 8. 28. 644.
Gefangenenwahnsinn 42. 323.
Gefühle 121.
„ Störungen derselben 121.
Gehirnerschütterung als Ursache des Irre-
seins 8.
Gehirnerweichung s. Paralyse, progressive.
Gehörstäuschung 81.
Geistesstörung s. Irresein und Psychose.
Gelenkrheumatismus als Ursache des Irre-
seins 14. 16. 248. 258. 265.
Gelüste der Schwangeren 136.
Gemüthsbewegungen als Ursache des Irre-
seins 7. 8. 40.
Gemüthsbewegungen Feststellung der-
selben 176.
Genie, Abgrenzung desselben vom Irre-
seüi 187.
Genitalorgane, Erkrankungen ders. als
Ursache des Irreseins 30. 33.
Geschlecht, Beziehungen desselben zum
Irresein 54.
Geschlechtstrieb, Perversitäten desselben
142. 676.
Gesichtstäuschung 80.
Gewohnheitsvorbrecher 57.
Gheel 237.
Gleichgültigkeit als Symptom des Irre-
seins 121.
Gliose der Hii-nrinde 639.
Gothenburger System 537.
Gravidität s. Schwangerschaft.
Greisenalter als Ursache des Ii-reseins 53.
628.
Grössenwahn als Symptom 112.
„ combinatorischer 416.
„ hallucinatorischer 410.
Grübelsucht 479.
Gynandrier 688.
H.
Haematom der Dura bei Paralyse 615.
Hallucination 73.
„ der Erinnerung 95.
„ hypnagogische 72.
„ psychische 76.
,, stabile 72.
Haschisch als Heilmittel 200.
„ als Ursache desIrreseins 25. 252.
Hebephrenie 442.
Heilung des IiTeseins 155.
„ mit Defect 160.
,, unvollständige 158.
Heirathen Geisteskranker 193.
Herderkrankungen als Ursache des Irre-
seins 641.
Heredität s. Erblichkeit
Hermaphrodisie, körperliche 686.
psychische 687. 690.
Herzleiden bei Geisteskranken 7. 8. 27.
HeteroSexualität 684.
Heterotopien bei Idioten 654.
Hirnabscesse als Ursache desIrreseins 642.
Hirnaenamie als Ursache des L-reseins 8.
Hirnblutung als Ursache des Irreseins 7.
642.
Hirndruck als Ursache des Irreseins 7.
Hirnerkrankungen, Schwachsinn bei dens.
639.
Bürngeschwülste als Ursache des Irre-
seins 7. 9. 641.
Hirnhyperaemie als Ursache des Irre-
seins 7.
Hirnsklerose, düfuse 640.
Höhenangst 483.
Homo sapiens ferus 655.
Homosexualität 684.
Hydrocephalus bei Idiotie 653.
Hydrotherapie 209.
Hyoscin als Heilmittel 199.
Hyoscyamin als Heilmittel 200.
Register.
697
Hyoscyamusvergiftiing als Ursache des
Irreseins 25.
Hyperalgesio, psychische 127.
Hyperostose des Schädels bei Paralyse
615.
Hypnon als Heilmittel 205.
Hyiinose 137.
„ als Behandlungsart 220.
„ bei conträrer Sexualempfindung
6!)2.
Hypnotica s. Schlafmittel.
Hypnotische Versuche als Ursache des
Irreseins 39.
Hypochondria gastrica 309.
Hypochondrie der Greise 632,
„ der Hysterischen 494.
der Neurasthenischen 470.
„ der Verrückten 400.
Hysterie 491.
„ als Folge von Genitalleiden 34.
„ „ Ursache des Irreseins 13.
„ männliche 500.
Hysteroepüepsie 503.
I.
Jahreszeiten in Beziehung zum Irresein 59.
Icterus gravis als Ursache des Irre-
seins 21.
Ideenflucht als Symptom 105.
Idiotenanstalten 656.
Idiotie 646.
„ anergetische 649.
„ apathische 649.
„ erethische 649.
„ erworbene 648. ^
„ versatile 649.
IdiosjTikrasien 129.
Illusion 73.
nten 237.
Imbecülität 661.
Inducirtes Irresein 39.
Infectionski-aiikheiten als Ursachen des
Irreseins 14. 18. 651.
Influenza als Ursache des Irreseins 14.
16. 257. 472.
Infusion, subcutane 229.
Initialdelirium 250.
Initialsymptome 150.
Insolation als Ursache des Irreseins 621.
IntelUgenzprüfung 175.
Intentionszittern bei Paralyse 590.
Intermittens als Ursache des Irreseins
14. 16. 151. 250.
Intermittens, bessernder Einüuss dess. auf
das Irresein 157.
Intimidation 191. 220.
Intoxikationen, chronische 526.
Intoxikationsdelirium 250.
Jodoformvergiftung als Ursache des Irre-
seins 25.
Iracundia morbosa 125. 673.
Irrenanstalt 280.
Irrencolonien 236.
Irrenfiirsorge als Vorbeugung 196.
Irresein s. Psychose.
„ circuläres 363.
„ degeneratives 682.
„ emotives 673.
„ epileptisches 507.
„ hysterisches 491.
„ impulsives 675.
„ menstiueUes 354.
„ moralisches 670.
„ neurasthenisches 467.
„ periodisches 348.
„ postepileptisches 513.
„ praeepüeptisches 513.
Isolirung 214.
Juden, Veranlagung zum Irresein 56.
K.
Kachexia strumipriva 28.
Kälte als Behandlungsmittel 209.
Karcinom, s. Krebskachexie.
Katalepsie 139. 171.
„ bei Katatonie 449.
„ bei Paralyse 587.
Kataraktoperationen als Ursache des
Irreseins 27.
Katatonie 137. 140. 445.
Kinder, Irresein derselben 48.
Kleiderangst 484.
Kleptomanie 142. 676.
Klima, Beziehungen dess. zum Irresein 59.
Klimakterium als Ursache des Irreseins
53. 346.
Klimakterium, künstliches, als Ursache
des Irreseins 34.
Knabenliebe der Alten 684.
Kochsalzinfusion als Heilmittel 229.
Körpergewicht bei Geisteskranken 154.
Kolilenoxydgasvergiftung als Ursache des
Irreseins 21.
Kohlensäurevergiftung als Ursache des
Irreseins 21.
Koma 248.
„ vigil 248.
Kopfrose s. Erysipel.
Kopfverletzungen als Ursache des Irre-
seins 8. 10. 621. 652.
Kopfverletzungen , bessernder Einfluss
ders. auf das Irresein 157.
Koprolalie 485.
Koprophagie 136.
698
Eegister
Kosmische Ursachen des Iweseins 59.
Kranlcheiten, körperliche, als Ursache des
Irreseius 14. 265. 272.
Kjankheiten, körperliche, bessernder Ein-
lluss auf das Ei'resein 157.
Kraukheitshewusstsein 174.
Kraukheitseinsicht als Symptom 112.
„ als prognostisches
Zeichen 156.
Krebskachexie als Ursache des Ii-reseins
18. 300.
Ki'ieg als Ursache des In-eseins 43.
Krisen bei Neui'asthenie 473. 484.
Krisen bei Schreckneurose 488.
Kriterien des In-eseins 183.
Kritikstörung bei der Wahnbildung 115.
Kropf bei Cretinen 657. 660.
Kropfbrunnen 659.
L.
Lactation als Ursache des Irreseins 36.
265. 300.
Lebensalter, Beziehungen desselben zum
Irresein 48.
Leichenschändung beim impulsiven IiTe-
sein 677.
Lethargie 248.
Leuchtgasvergiftung als Ursache des
Irreseins 21.
Leukaemie als Ursache des Irreseins 18.
Localisation der psychischen Störungenil.
„ der Wahnideen 118.
„ zeitliche 93.
„ „ Störungen ders. 94.
Lüge, patholog'ische 663. 667.
Lues s. Syphilis.
Lues hereditaria tarda, Schwachsinn
bei ders. 640.
Lungenentzündung s. Pneumonie.
Lungenkrankheiten als Ursache des Ii-re-
seins 27.
Lustmord 142. 677.
Lyssa als Ursache des Irreseins 15. 250.
M.
Mädchenstecher 677.
Mässigkeitsvereine 538.
Magenerlcrankungen als Ursache des Irre-
seins 29. 309.
Malaria s. Interniittens.
Mania 275.
„ furiosa 278.
„ mitis 367.
„ mitissima 367.
„ periodica 352.
„ senilis 636.
Mania sine delü-io 367.
„ transitoria 523.
Mann, Veranlagung dess. zu Geistes-
störungen 54.
Masern als Ursache des Irreseins 14. 652.
Masochismus 678.
Massage als Heilmittel 211:
Mastcur 212.
Masturbation als Ursache des Irreseins .30.
„ Behandlung derselben 226.
,. gegenseitige, bei conträrer
Sexualempfindung 685.
Medicamente s. Arzneimittel.
Megalomanie der Paralytiker 602.
Melancholia 288.
„ activa 304.
„ attonita 310.
„ periodica 379.
„ senilis 633.
„ Simplex 288.
Meningitis als Ursache des Irreseins 7.
Menschenfi'esserei- bei impulsivem Irre-
sein 677.
Menstrualpsychosen 358.
Menstruationsstörungen als Ursache des
Irreseins 33.
Mensti-uationsstörungen, Einfluss derselb.
auf den Verlauf des Irreseins 152.
Metamorphose, Wahn der 110.
Metasyphilis 621.
Methylal als Schlafmittel 205.
Miki-ocephalie bei Idioten 652.
Miki-omanie der Paralytiker 598.
Mimik der Geisteskranken 143.
Minderwerthigkeiten, psychopathische 682.
Monomanie 142. 676. 681.
Moral insanity 670.
Mordtrieb 142.
Moria 282.
Morphinismus 551.
Morphiococainismus 570.
Morphium als Heilmittel 198.
„ als Ursache des Irreseins 24.
Morphiumabstinenz 561.
Morphiumeuphorie 552.
Mutacismus 140. 447.
Myelasthenie 473.
Mysophobie 481.
Mystiker, Beziehung ders. zum Irresein
186.
Myxödem als Ursache des Irreseins 18.
28. 300.
N.
Nachahimmgsautomatio 140.
Nachtwachen als Ursachen des Irreseins
265.
Register.
699
Nachtwandeln 498. 514.
Nahrungsverweigerung, Behandhmg ders.
22G.
Nahtverkuöcherung bei Idioten 652.
Narkotica als Heihnittel 197.
Narrenthürme 230.
Nationalität, Beziehungen dors. zum Irro-
soin 56.
Negativismus als Symptom 140.
Nervcnki'ankheitün als Ursache des Irre-
seins 12.
Neurasthenie 467.
„ angeborene 476.
„ constitutionelle 476.
„ erworbene 467.
Neiu-itis, alkohoHsche 22. 533. 535.
„ bei Paralyse 619.
Neurosen, allgemeine 13. 467.
Neurose, traumatische 487.
Nierenerki-ankungen als Ursache des Irre-
seins 30.
No-restraint 214.
Nyktophobie 483.
Nymphomanie 135.
0.
Ohnmacht, epileptische 512.
Ohrenleiden als Ursache des Irreseins 26.
Onanie s. Masturbation.
Onomatomanie 478.
Opium als Ursache des Irreseins 25.
253 652.
Opium als Heümittel 197. 286. 310. ■
Ophthalmoskopie als Untersuchungs-'
methode 170.
Organerkrankungen als Ursache des
Irreseins 26.
Othaematom 592.
P.
Pachymeningitis interna als Ursache des
Irreseins 7.
Pachymeningitis interna bei Paralyse 615.
Päderastie 685.
Pantophobie 306.
Paraldehyd als Schlafmittel 202.
Paralyse, ängstliche 598.
„ agitirte 608.
„ ascendirende 597.
„ circuläre 607.
„ demente 594.
„ depressive 597.
„ expansive 601.
„ galoppirende 610.
„ hypochondrische 597.
„ progressive 573.
Paralyse, weibliche 597. 603.
Paranoia s. Verrücktheit.
„ completa 427.
Parasiten im Darm als Ursache des
Irreseins 29.
Pellagra als Ursache des IiTeseins 20.
Perceptionsphantasmeu 72.
Personenverwechselung 81.
Petit mal 512.
Pflegepersonal 235.
Phobien der Neurastheniker 484.
Phrenasthenie 473.
Phthise als Begleiterin des Irreseins 163.
„ als Ursache des Irreseins 18.
Physiognomie, epileptische 519.
Picae gravidarum 186.
Piscidia erythi-ina als Heilmittel 201.
Platzangst 129. 483.
Pneumonie als Ursache des Irreseins 14.
248. 256.
Pocken s. Variola.
Politische Bewegungen als Ursache des
Irreseins 58.
Porencephalie bei Idioten 653
Praecordialangst 128.
Praedisposition zum Irresein 47.
„ allgemeine 48.
„ Grundlage derselben 66.
„ individuelle 59.
Primordialdelirien 385.
Processe, krankhafte 148.
Processkrämer 407.
Prodromalsymptome 150.
Prognose des irresems 155.
Prophylaxe des Irreseins 193.
Pseudohallucination 76.
Pseudoparalyse, alkoholische 551.
Psychose, s. Irresein.
„ accidentelle 244.
„ acute typische 244. .
„ angeborene 244.
„ chronische progressive 244.
„ circuläre 152.
„ constitutionelle 244.
„ cyklische 152.
„ der Schwerhörigen 391.
„ menstruale 152.
„ periodische 151. 348.
Pubertätsalter, Geistesstörungen dess. 50.
Puerperium s. Wochenbett.
Pulsbild beim Irresein 172.
Pyromanie 142. 675.
a.
Quartalssäufer 547.
Quecksilberbohandlung bei Paralyse 624.
700
Register.
Quecksilbervergiftung als Ursache des
LTOseius 2G.
Querulantenwahn 407.
R.
Eace, Beziehung derselben zum Ii-re-
sein 56.
Eaptus melancholicus 306.
Eausch 527.
Eauschzustände, pathologische 529.
Eeconvalescenz 153.
Eeflexepilepsie 524.
Eeflexliallucination 78.
Eeflexkrampf saltatorischer 591.
Eeflexpsychosen 13.
Eeinlichkeit, Störungen derselben 124.
Eeizbarkeit, gemüthliche, Erhöhung der-
selben 125.
Eeligiöse Bewegungen als Ursache des
Irreseins 58.
Eemissionen der Paralytiker 612.
Eeperception 75.
Eestraint 215.
Eetinitis paralytica 584.
Eippenbriiche der Paralytiker 592.
S.
Sadismus 676.
Salicylsäurevergiftung als Ursache des
Irreseins 25.
Santonindelirium 252.
Satyriasis 135. ■
Scandiren der Paralytiker 589.
Schädelmessung bei Geisteskranken 170.
Scharlach als Ursache der Idiotie 651.
Scharlachdelirien 14. 16. 248.
Scheinoperationen bei Hypochondern 220.
402.
Schilddrüsenerkrankung als Ursache des
Irreseins 28.
Schilddrüsenerkrankung bei Cretinismus
657. 659.
SchlafanfäUe bei Epilepsie 512.
„ bei Hysterie 497.
Schlaflosigkeit, Behandlung derselben 223.
Schlafmittel 201.
Schmierkur bei Paralyse 624.
Schnauzkrampf als Symptom 140.
Schreck als Ursache des Irreseins 8. 272.
314. 472.
Schreckneurose 487.
Schriftstörungen 144.
Schulepidemie, hysterische 500.
Schwachsinn s. Dementia
,; anergetischer 661.
„ angeborener 148. 661.
,, bei orgfiniscben Hirner-
. krankungen 639.
Schwachsinn, emotiver 673.
„ epileptischer 507.
„ erethischer 666.
„ erworbener 628.
,, impulsiver 675.
„ intellectueller 661.
„ moralischer 670.
„ secundärer 149.
Schwangerschaft als Ursache des Irre-
seins 34.
SchwefelkohlenstofFvergiftung als Ursache
des Irreseins 21.
Schwefelwasserstoff Vergiftung als Ursache
des Irreseins 21.
Schwellenwerth 86.
Schwerhörige, Psychose derselben 391.
Schwindelanfalle epileptische 512.
„ paralytische 585. 612.
Sectionsergebnissebei Geisteskranken 183.
Sehstörung der Paralytiker 584.
Selbstbewusstsein 119.
„ Störungen desselb. 119.
Selbstmord als Symptom 163. 185. 296.
Selbstmordneigung, Behandlimg ders. 224.
Senium praecox 629.
Septicaemie als Ursache des Irreseins 15.
Sexualempfindung, conträre 142. 683.
Silbenstolpern der Paralytiker 589.
Simulation 189.
Sinnestäuschungen 70. 73.
„ elementare 71.
„ Nachweis ders. 174.
Sklerose, diffuse 640.
„ multiple 640.
Somnambulismus s. Nachtwandeln.
Sondenfütterung 227.
Sphygmographie bei Geisteskranken 172.
SpinnenzeUen bei Paralyse 616.
Sprachstörung 144.
„ der Idioten 651.
der Paralytiker 588.
Stadtasyl 235.
Status praesens, körperlicher 169.
„ „ psychischer 173.
Stehltrieb 142. 676.
Stereotypie als Symptom 140. 171.
Stickstoffoxydul als Ursache des Irreseins
21. 253.
Stigmata hereditatis 63.
Stiromen 81.
Stupor 269. 310. 329.
„ epileptischer 515.
„ im circulären Irresein 365.
„ im periodischen Irresein 360.
„ manischer 366.
Suggestion, hypnotische 1.38.
„ ä echcance 138.
Kegister.
701
Suggestion bei conträrer Soxiialompfind-
ung 692.
Suggestion, posthypnotische 138.
Sultbnal als Schlafmittel 204.
Symptomatologie des Irreseins 69.
Syphilis als Ursache des Irreseins 19. 652.
„ bei Paralyse 620.
T.
Tabakmissbrauch als Ursache des Irre-
seins 25.
Tabes als Ursache des Ii-reseins 12.
„ bei Paralyse 590. 597. 619.
Tangentialfasem, Schwund ders. bei Para-
lyse 616.
Telepathie 110. 396.
Tetanie als Ursache des Irreseins 13.
Tetronal als Schlafmittel 204.
Theilnahmlosigkeit als Symptom 121.
Therapie s. Behandlung.
Thermometrie des Kopfes 170.
Thierverwandlung, Wahn ders. 110.
Tobsucht 367, s. auch Manie.
Tod als Ausgang des Irreseins 162.
Transformation der Vererbung 63.
„ desWahnesbeiParanoia427.
Traiuna als Ursache des Irreseins 8. 9.
10. 487.
Tremor, alkoholischer 535. 543.
Tretrad als Behandlungsmittel 231.
Tribasilarsynostose bei Idiotie 653.
Triebe, krankhafte 141.
Trinkerasyle 536.
Trional als Schlafmittel 204.
Tuberculose als Ursache des Irreseins 18.
Typhus als Ursache des Irreseins 14. 16.
248. 250. 265. 272. 651.
Typhus, bessernder Einfluss desselben auf
Geistesstörungen 157.
U.
Ueberanstrengung als Ursache des Irre-
seins 43. 272.
Ueberbürdung der Schuljugend 194.
Ueberemährung als Behandlungsmethode
266.
Uebungsfähigkeit, Messung derselben 180.
Unheilbarkeit 161.
Unreinlichkeit, Behandlung derselben 225.
Unsittlichkeit , Abgrenzung ders. vom
Irresein 187.
Unterricht, psychiatrischer 197.
Untersuchungshaft als Ursache des Irre-
seins 42. 326.
Untersuchungsmethoden, klinische 166.
Uraomie als Ursache des Irreseins 21.
Ural als Schlafmittel 205.
Urethan als Schlafmittel 204.
Urning 688.
Ursachen des Irreseins, äussere 6.
„ „ ,, innere 47.
„ „ körperliche 6.
,, „ „ psychische 37.
„ „. „ rohe 45.
., , „ „ wahre 45.
Urtheilsstörungen 107.
V.
Vagabunden, Beziehungen ders. zimi Irre-
sein 57.
Variola als Ursache des Irreseins 14. 16.
248. 250. 272. 651.
Verbalsuggestion 222.
Verbigeration 141. 450.
„ haUucinatorische 451.
Verblödung 99. 162.
Verbrecher, geborener 672.
Verdauungsstörungen als Ursache des
Irreseins 29.
Vererbung, s. Erblichkeit.
„ cumulative 61.
„ gleichartige 63.
„ Transformation ders. 63.
Verfolgungswahn als Symptom 110.
,, combinatorischer 402.
„ hallucinatorischer 386.
„ hypochondrischer 392.
„ phantastischer 391.
„ physikalischer 396.
., sexueller 393.
Vergiftungen als Ursachen des Irreseins
20. 250.
Verlangsamung der psychischen Leist-
ungen 101.
Verlauf des Irreseins 148.
„ alternirender 153.
„ circulärer 152.
„ continuirlicher 150.
,, cyklischer 152.
„ intermittirender 150.
„ periodischer 151.
„ progressiver 162.
,, remittirender 150.
Verrücktheit 385.
„ acute 385.
„ confabiilirende 430.
„ depressive 386.
„ erotische 420.
„ expansive 410.
„ hypochondrische 400.
„ hysterische 500.
„ katatonische 42ö.
„ originäre 429.
I Versündiguugswahn Iii. 289.
702
Eegister.
Verwandlungawahn HO.
Verwandtschaft der Eltern als Ursache
des Irreseins 64.
Verwirrtheit als Symptom 106.
„ acute 260.
„ affective 106.
„ asthenische 262.
„ combinatorische 106.
„ deliriöse 106.
„ hallucinatorische 107. 260.
ideenflüchtige 106. 277.
„ secundäre 107.
Viraginität 687.
Vision 80.
Vorstellungsverbindiingen , apperceptive
97.
Vorstellungs Verbindungen, associative 97.
„ Schnelligkeit
derselben 181.
Vorstellungsverbindiingen, Statistik der-
selben 181.
Vorstellungsverbindiingen, zeitlicher Ab-
lauf derselben 100.
w.
Wachabtheilimg 235.
Wärmebestrahlung des Kopfes als Ur-
sache des IiTeseins 7. 621.
I Wahnidee als Symptom 108.
„ depressive 109.
„ exaltirte 112.
fixe 114.
„ hypochondrische 109.
„ Nachweis derselben 174.
„ nihilistische 341. 634.
„ systematisirte 114.
„ wechselnde 114.
Wahnsystem 114.
Wahnsinn 318.
„ chronischer 384.
„ depressiver 340.
„ hallucinatorischer 319.
„ „ ängstlich-stu-
poröser 326.
Wahnsinn, hallucinatorischer alkoho-
lischer 322. 545.
Wahnsinn, hallucinatorischer, der Cocai-
nisten 567.
Wahnsinn, haUucinatorischer, der Ge-
fangenen 42. 323.
Wahnsinn, hallucinatorischer, einfacher
319. _
Wahnsinn, hallucinatorischer, labiler 334.
„ ■ „ progressiver
331.
Wahrnehmung, Störungen ders. 70.
Wechselfieber siehe Intermittens.
Weib, Disposition desselben zum Irre-
sein 54.
Weitschweifigkeit der EpUeptiker 508.
Widerstandsfähigkeit, psychische, Mes-
sung ders. 179.
Wülensimpulse, Herabsetzung ders. 131.
Windungsanomalien bei Idioten 654.
Windungsarmuth bei Idioten 654.
Wochenbett als Ursache des Irreseins 35.
256. 265. 272.
Wollusttrieb 142.
Wurstgift als Ursache des- Irreseins 25.
Z.
Zange, Anlegung ders. als Ursache der
Idiotie 652.
Zeitmessungen, psychische 100. 181. 662.
Zeitsinn, Prüfung desselben 180.
„ Störungen desselben 94.
Zerstörungssucht, Behandhmg ders. 224.
Zopfabschneider 679.
Zornmüthigkeit, krankhafte 125. 673.
Zomtobsucht 278.
ZuchthausknaU 43.
Zurechnungsfähigkeit 146.
Zustände, krankhafte 148. 185.
Zwangsbefürchtungen 129. 479.
Zwangsbewegungen 137. 140. 172. 449. 648.
Zwangshandlungen 135. 675.
Zwangsjacke 215.
Zwangsimpulse 136. 485.
Zwangsvorstellungen 103. 129. 478.
Zweifelsucht 480.
ZwilUngsirresein 39.
Zwitter, körperliche 686.
psychische 687. 690.