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Full text of "Psychiatrie : ein kuezes Lehrbuch für Studierende und Ärzte"

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I 

I 


PSYCHIATRIE 


Ein  kurzes  Lehrbuch 

für 

Studirende  und  Aerzte 


von 

Dr.  Emil  Kraepelin 

Professor  in  Heidelberg 


Tierte,  vollständig-  umgearbeitete  Auflage 


Leipzig- 
Verlag  von  Ambr.  Abel  (Arthur  Meiner) 

1893 


Uebersetzungsrecht  vorbehalten. 


Druck  von  Otto  Dttrr,  Leipzig. 


Dem  Andenken 


Bernhard  von  Guddens 


gewidmet. 


Yorwort  zur  vierten  Auflage. 


Seitdem  mich  ein  freundliches  Greschick  in  das  Yaterland  zurück- 
geführt hat,  war  es  mir  vergönnt,  unter  günstigeren  Bedingungen, 
als  je  zuvor,  meine  ganze  Aufmerksamkeit  der  Sammlung  von  klini- 
schen Beobachtungen  zuzuwenden.  Die  Folge  davon  ist  eine  weit- 
gehende Umgestaltung  des  vorliegenden  Buches  gewesen.  Nament- 
lich der  zweite  Theil  desselben  wurde  trotz  Beibehaltung  der  früheren 
Gesammtanordnung  fast  vollständig  neu  geschrieben.  Mein  Bestreben 
bei  dieser  Arbeit  war  die  Erreichung  möglichster  Naturwahrheit. 
Den  einzelnen  Darstellungen  liegen  überall  so  zahlreiche  Kranken- 
geschichten zu  Grunde,  dass  ich  glaube,  jeden  Satz,  soweit  nichts 
Anderes  angegeben  ist,  durch  eigene  Erfahrung  belegen  zu  können. 
In  dieser  persönlichen  Färbung,  deren  EinheitHchkeit  absichtlich 
nicht  durch  Herbeiziehen  zahlreicher  Literaturangaben  gestört  wurde, 
liegt  die  Eigenart  des  Buches.  In  ihr  liegen  naturgemäss  auch  seine 
Schwächen.  HoffentHch  beeinträchtigen  sie  nicht  allzusehr  die  Er- 
füllung der  Aufgabe,  welcher  diese  Arbeit  dienen  soll,  der  Yer- 
breitimg  ärztiicher  Kenntnisse  auf  einem  Gebiete,  dessen  gewaltige 
praktische  Bedeutung  jeder  Tag  eindringlicher  verkündet. 


Heidelberg,  den  14.  September  1898. 


E.  Kraepelin. 


InMtsverzeiclmiss. 


Einleitung  

Lehrbücher  der  Psychiatrie  

Die  allgemeine  Pathologie  und  Therapie  des  Irreseins. 
I.  Allgemeine  Aetiologie   

A.  Aeussere  Ursachen  

1.  Körperliche  Ursachen  

Hirnkrankheiten  

Hyperaemie  —  Anaemie  —  Stauung  —  Traumen  —  Localisation 
der  psychischen  Störungen. 

Nervenkrankheiten  

Periphere  Nervenkrankheiten  (Eeflexpsychosen)  —  Allgemeine 
Neurosen. 

Allgemeine  Erkrankungen  

Acute  Infectionskrankheiten  (Fieber,  Erschöpfung)  —  Chronische 
Ernährungsstörungen  —  Chronische  Infectionskrankheiten 
(Syphilis,  Ergotismus,  Pellagra). 

Vergiftungen  

Stoffwechselproducte  —  Giftige  Gase  —  Alkohol  —  Morphium  — 
Cocain  —  Andere  giftige  Genussmittel  —  Blei;  Quecksilber. 

Organerkrankungen  

Sinnesorgane  (Ohren,  Augen)  —  Lungenaffectionen  —  Herz- 
leiden —  Schilddrüsenerkrankungen  —  Erkrankungen  des 
Verdauungstractus  —  Nierenleiden  —  Genitalerkrankungen 
(Ausschweifungen,  Onanie,  Enthaltsamkeit,  Menstruations- 
störungen, Erauenkraukheiten). 
Schwangerschaft,  Wochenbett  und  Säugegeschäft  


I 


Vni  InhaltsverzeichnisB. 


Soite 

2.  Psychische  Ursachen   37 

Psychische  Ansteckung    38 

Epidemien  —  Zwülingsirresein  —  Irresein  nach  hypnotischen 
Versuchen. 

Gemiithsbewegungen    40 

Acute  und  chronische  Affecte. 

Gefangenschaft   42 

Krieg   43 

Ueberanstrengung   43 

Eohe  und  wahre  Ursachen   45 

B.  Innere  Ursachen  (Praedisposition)   47 

1.  Allgemeine  Praedisposition   48 

Lebensalter   48 

Kinderpsychosen  —  Pubertätsentwickelung  —  Lebenshöhe  — 
Livolution  —  Greisenalter. 

Geschlecht   54 

Eace  und  Nationalität   56 

Cultur   56 

Beruf   57 

Civilstand   58 

Politische  und  religiöse  Bewegungen   58 

Eosmische  Einflüsse   59 

2.  Individuelle  Praedisposition   59 

Erblichkeit   59 

Entwickelungsstörungen   64 

Erziehung   64 

Grundlage  der  Praedisposition   66 

II.  Allgemeine  Symptomatologie   69 

Ä.  Störwngen  des  Wahrnehmvmgsvorgcmges   70 

Sinnestäuschungen   70 

Elementare  Trugwahrnehmungen  —  Perceptionsphantasmen 
(Hallucination  und  Illusion)  —  Eeperception  —  Apperceptions- 
phantasmen  —  Keflexhallucinationen  —  Gesichts-,  Gehörs-, 
Geruchs-,  Geschmacks-,  Gefühlstäuschungen. 

Trübungen  des  Bewusstseins    85 

Störungen  der  Auffassung    86 

B.  Störwigen  der  mtellectuellen  Leistmigen   89 

Störungen  des  Gedächtnisses   90 

Erinnerungslosigkeit  —  Gedächtnissscliwäclie  —  Partielle  Amne- 
sie —  Störungen  der  zeitlichen  Localisation  —  Erinnerungs- 
fälschungen. 


InhaltsverzeichnisB.  IX 

Soite 

Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe    ...  97 
Associative  und  apperceptive  Verbindungen  —  Erscliwert'e  und 
verschwommene  Begriffsbildung.  • 

Störungen  im  Ablaufe  der  Vorstellungen   100 

Verlangsamung  und  Beschleunigung  der  psychischen  Functionen 
—  Zwangsvorstellungen  —  Ideenflucht  —  Verwirrtheit. 

Störungen  des  ürtheils  und  der  Schlussbildung   107 

Wahnideen  (hypochondrische,  telepathische,  Verfolgungswahn, 
Versündigungswahn,  Grössenwahn)  —  Entstehung  der  Wahn- 
ideen —  Localisation  derselben. 

Störungen  des  Selbstbewusstseins    .    .    .  '   119 

0.  Stiyrwngm  des  Gefühlslebens   121 

Störungen  in  der  Stärke  der  Gefühle    121 

Herabsetzung  und  Steigerung  der  gemüthlichen  Erregbarkeit. 

■    Qualitative  Gefühlsstörungen   126 

Psychische  Hyperalgesie  —  Angst  —  Idiosynkrasien  — 
Euphorie  —  Ekstase. 

D.  Stönmgen  des  Handelns   131 

Herabsetzung  der  Willensimpulse   131 

Steigerung  der  Willensimpulse   134 

Zwangshandlungen   135 

Automatie  und  Stereotypie   137 

Hypnose  —  Befehlsautomatie  —  Nachahmungsautomatie  — 
Negativismus  —  Zwangsbewegungen  —  Verbigeration. 

Krankhafte  Triebe   141 

Conträre  Sexualempfindung  —  Perversitäten  des  Geschlechts- 
triebes —  Monomanien. 

Handlungen  in  Folge  von  Wahnideen  und  Gefühlsstörungen     .    .  143 
Mimik  —  Sprache  und  Schrift  —  Beziehungen  zur  Eechtspflege. 

ni.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins   148 

Ä.  Ve^-lauf  des  Irreseins   148 

Beginn  der  Erkrankung   149 

Höhe  der  Erkrankung   150 

Reconvalescenz    I53 

B.  Ausgänge  des  Irresems   I55 

Heilung   I55 

Unvollständige  Heilung   158 

Unheübarkeit   Igl 

Tod   162 

C.  Dauer  des  Irreseins   164 

IV.  Allgemeine  Diagnostik   166 

Ä.  Unterstichungsmethoden   166 

Anamnese   167 


3^  InhaltsverzeichnisB. 

Seite 

 169 

Status  praesens  ,  • 

•  Körperliclie  Untersuclaung  -  Psyeliisclier  Zustand  —  Feinere 
Untersuchungsmethoden  (Aufmerksamkeit,  Ermüdbarkeit,  Ge- 
dächtniss,  UebuDgsfähigkeit,  Zeitsinn,  Schnelligkeit  der 
psychischen  Functionen,  Statistik  der  Associationen). 

Beobachtung  

Autopsie  

183 

B.  Kriterien  des  Irresems  • 

Krankhafte  Processe  und  Zustände  —  Grenzgebiete  (Beschrankt- 
heit, moralische  Schwäche). 

G.  Simulation  umd  Dissimulation  

V.  Allgemeine  Therapie  

193 

A.  Prophylaxis  •  • 

Heirathen  Geisteskranker  —  Erziehung  —  Berufswahl  —  AU- 
gemeine  Prophylaxe. 

B.  Körperliche  Behandlung  

Arzneimittel  

Narkotica  (Opium,  Morphium,  Codein,  Eschholtzia,  Hyoscm, 

Hyoscyamin,  Duboisin,  Haschisch,  Piscidia,  Boldin)  ....  197 
Schlafmittel  (Chloralhydrat,  Ghloralamid,  Paraldehyd,  Amylen- 
hydrat,  Sulfonal,  Trional,  Tetronal,  Urethan,  Ural,  Hypnon, 

Methylal,  Alkohol)  201 

Chloroform,  Aether,  Bromaethyl  206 

Bromsalze  

Amylnitrit,  Digitalis,  Cytisin,  Cornutin  ^Jjo 

Blutentziehungen,  Derivantien  ^09 

Physikalische  Heilmethoden  

Hydrotherapie  —  Kälte  —  Elektrotherapie  —  Massage. 

Diätetische  Massregeln  

Ernährung  —  Mastcur  —  Beruhigung  (Bettlagerung)  —  Iso- 
lirung  —  Mechanische  Beschränkung. 

PI  K 

C.  Psychische  Behandlung  

Allgemeine  Regeln  —  Beschäftigung  —  Suggestion. 

D.  Behtmdlung  eimzelner  Symptome  -'^'^ 

Psychische  Erregung  —  Angst  —  Schlaflosigkeit  —  Selbst- 
mordneigung —  Zerstörungssucht  —  Unreinlichkeit  —  Mastur- 
bation —  Nahrungsverweigerung  (künstliche  Fütterung,  Koch- 
salzinfusion). 

E.  Die  Irrenanstalt  

Historisches  —  Wirkung  der  Anstalt  —  Verbringung  in  die 
Anstalt  —  Stadtasyle  (Wachabtheilung)  —  Colonien  — 
Famüiare  Verpflegung  —  Entlassung  aus  der  Anstalt. 


Inlialtsverzeichniss. 


XI 


Saito 


Die  specielle  Pathologie  iiiul  Therapie  des  Irreseins. 


Die  Eintheilung 


der  SeelenstöruDgeii  239 

I.  Die  Delirien  

Ä.  Das  Fieb&i-deliriwn  

Grade  der  Störung  —  Grundlage  derselben  —  Prognose  —  Be- 
handlung. 

B.  Bas  Intoodkationsäelirium  250 

Vergiftungen  durch  Milcroorganismen  (Initialdelirien)  —  Delirien 
durch  nicht  organisirte  Gifte. 

II.  Die  acuten  Erschöpfungszustände  254 

A.  Das  Collapsdelirmm  254 

Krantheitsbild  —  Dauer  —  Ausgang  —  Diagnose  (Delirium 
acutum)  —  Behandlung. 

B.  Die  acute  Verwiirtheit  (Ämentia)  260 

Meynert's  Amentia  —  Asthenische  Verwirrtheit  —  Verlauf  — 
Ursachen  —  Diagnose  —  Behandlung. 

C.  Die  Dementia  acuta  267 

Manische  und  stuporöse  Form  —  Verlauf  —  Ursachen  —  Patho- 
logische Grundlage  —  Diagnose  —  Behandlung. 

in.  Die  Manie  275 

Krankheitsbüd  —  Leichtere  und  schwerere  Formen  —  Grund- 
lage der  Krantheit  —  Abgrenzung  (periodische  Formen)  — 
Behandlung. 

IV.  Die  Melancholie  288 

.1.  Mela/ncholia  simplex  288 

Krankheitsbild  —  Verlauf  —  Prognose  —  Ursachen  —  Grund- 
lage der  Krankheit  —  Diagnose  —  Behandlung. 

B.  Die  Ängstmelancholie  304 

Krankheitsbild  —  Verlauf  —  Ausgang  —  Grundlage  der  Krank- 
heit —  Diagnose  —  „Hypochondria  gastrica"  —  Behandlung. 

C.  Mela/ncholia  attonita  310 

Krankheitsbild  —  Verlauf  —  Ausgang  —  Grundlage  der  Krank- 
heit —  Diagnose  —  Behandlung. 

V.  Der  Wahnsinn  ".  318 

A.  Der  hallucinatorische  Wahnsinn    319 

a.  Einfache  Formen  .......   319 

Vergiftungswahnsinn  (acute  und  subacute  Form)  —  Gefangenen- 
wahnsinn. 


XII 


Inlialtsverzeichniss. 


Seite. 

b.  Aengstlich-stuporöse  Formen   326 

c.  Progressive  Formen   331 

d.  Labile  Formen   334 

B.  Der  depressive  Wahnsimn   340 

Krankheitsbild  —  Verlauf  —  Prognose  —  Grundlage  der  Krank- 
heit —  Behandlimg. 

VI.  Die  periodisclien  Geistesstörungen  348 

A.  Deliriöse  Formen  349 

Krankheitsbild  —  Ursachen  —  Diagnose  —  Behandlung. 

JB.  Manische  Formen  352 

Formen  mit  kurzen  Zwischenzeiten  353 

Formen  mit  langen  Zwischenzeiten  356 

Typische  Manie  —  Hypomanie  —  Manische  Erregung  mit  Sinnes- 
täuschungen und  Wahnideen  —  Stupor. 

G.  Circuläre  Formen    363 

Depressives  Stadium  363 

Einfache  Hemmung  —  Typische  Melanchoüe  —  Deliriöse  De- 
pression. 

Expansives  Stadium  366 

Typische  Manie  —  Manischer  Stupor  —  Hypomanie. 

Continuirliche  und  discontinuirliche  Formen  371 

Ursachen  —  Grundlage  der  Krankheit  —  Prognose  —  Diagnose 

—  Behandlung. 

D.  Depressive  Formen  379 

Typische  Melancholie  —  Depressiver  Wahnsinn  —  Leichte 
Verstimmung. 

VII.  Die  Verrücktheit  (Paranoia)  384 

Definition  der  Krankheit. 

A.  Depressive  Formen  386 

Der  hallucinatorische  Verfolgungswahn  386 

Der  phantastische  Verfolgungswahn  391 

Hypochondrischer  Verfolgungswahn  —  Sexueller  Verfolgungswahn 

—  Eifersuchtswahn  —  Physikalischer  Verfolgungswahn  — 
Besessenheitswahn. 

Die  hypochondrische  Verrücktheit  400 

Der  combinatorische  Verfolgungswahn  402 

Der  Querulantenwahn  '.  407 

B.  Eocpansive  Foi-men  410 

Der  hallucinatorische  Grössenwahn  410 

Der  combinatorische  Grössenwahn  416 

Die  erotische  Verrücktheit. 


Inhaltsverzeiphniss. 


XIII 


Seite 


Verlauf  der  Verrücktheit  424 

Verbindung  mit  periodischen  Erregungszuständen  —  „Katatonische 
Verrücktheit"  —  „Paranoia  coinpleta". 

Ursachen  der  Verrücktheit  428 

„Originäre  Verrückheit". 

Prognose  430 

Behandlung  432 

Vm.  Die  psycMschen  Entartungsprocesse  435 

Ä.  Die  Dementia  praecox  435 

Leichte  Formen  —  Schwere  Formen  (Hebephrenie). 

JB.  Die  Katatonie  445 

Krankheitsbild  —  Verlauf  —  Ausgang  —  Ursachen  —  Diagnose 

—  Behandlung. 

C.  Die  Dementia  para/noides  456 

Depressive  Formen  —  Expansive  Formen. 

IX.  Die  allgemeinen  Neurosen  467 

A.  Das  nmrastTienische  Irresein  467 

Erworbene  Neurasthenie  467 

Angeborene  Neurasthenie  476 

Constitutionelle  psychische  Depression  —  Zwangsvorstellungen 
(Onomatomanie,Grübelsucht)  —  Zwangsbefürchtungen  (Zweifel- 
sucht, Berührungsfurcht,  Platzangst,  Kleiderangst)  —  Zwangs- 
impulse. 

Die  traumatische  Neurose  (Schreckneurose)  487 

B.  Das  hysterische  Irresein  491 

Hysterischer  Charakter  —  Hypochondrie  —  Dämmerzustände 
(Schlafanfälle,  Nachtwandeln,  Delirien,  läppische  Erregung) 

—  Depressionszustände  —  Wesen  der  Hysterie  —  Verlauf  — 
Prognose  —  Diagnose  —  Behandlung. 

C.  Das  epileptische  Irresein  507 

Periodische  Verstimmungen  —  Dämmerzustände  —  Prae-  und 
postepileptisches  Irresein  (Nachtwandeln,  epileptischer  Stupor, 
acutes  ängstliches  Delirium,  räsonnirendes  Delirium)  —  Ur- 
sachen —  Prognose  —  Diagnose  („Mania  transitoria")  —  Be- 
handlung. 

X.  Die  chronischen  Intoxikationen  526 

A.  Der  Alkoholismus  526 

Bausch  —  Pathologische  Eauschzustände  —  Alkoholischer 
Schwachsinn  —  Delirium  tremens  der  Trinker  —  Hailucina- 
torischer  "Wahnsinn  —  Chronisches  Delirium  —  Dipsomanie 

—  Eifersuchtswahn  der  Trinker  —  Alkoholparalyse. 


XJY  InhaltsverzeichnisB. 

Seite 
551 

B.  Der  Morphinismus  

Acute  Morphiumwirkung  -  Chronische  Vergiftung  -  Abstinenz- 
svmptome  —  Behandlungsmethoden. 

^     .  .    .  566 

C.  Der  Cocamismus  

Charakterveränderung  —  Cocainwahnsinn. 

573 

XI.  Die  Dementia  paralytica  

574 

Psychische  Symptome  

Körperliche  Symptome  

Klinische  Krankheitshilder  '    '  k-u 

Demente  Form  (weibliche,  ascendirende  Paralyse)  •  •  •  •  " 
Depressive  Form  (hypochondrische,  ängstliche  Paralyse)  ■    '  ' 

Expansive  Form  (circuläre  Paralyse)  

Agitirte  Form  (galoppii'ende  Paralyse)  

Verlauf  der  Krankheit  

Ausgang  '    '    '  614 

Pathologische  Anatomie     .    ■  "  

Ursachen  der  Paralyse   622 

Diagnose     ■  . 

Behandlung  

XII.  Die  erworbenen  Schwächezustände  

Ä.  Die  Dementia  senilis   

Einfacher  Altersblödsmn  ^"^ 

Depressionszustände  

Hypochondrische  Formen  -  Melancholische  Formen  -  Aengst- 

liche  Formen. 

Manische  Formen  ' 

Deliriöse  Formen   . 

B.  Der  Schwachsinn  lei  organischen  Hirnerhranhungen    '   '   '  ' 

Diffuse  Erkrankungen  '    "    '    "j-  ■ 

GMose  der  Hirnrinde  -  Diffuse  Hirnsklerose  -  Lues  hereditaria 

tarda  —  Multiple  Sklerose. 

Localisirte  Erkrankungen  

Geschwülste  -  Abscesse  -  Blutungen  -  EmboHen,  Thrombosen. 

XIII.  Die  psychischen  Entwickelungsanomalien    ......  646 

Ä.  Die  Idiotie  

Verschiedene  Grade  —  Anergetische  und  erethische  Formen  — 
Ursachen  —  Pathologische  Anatomie  —  Diagnose  -  Behand- 
lung. 

B.  Der  Cretinismus  '  ' 

Krankheitsbild  —  Ursachen  und  Wesen  des  Cretinismus  —  Be- 
kämpfung desselben. 


Inhaltsverzeichniss. 


XV 


Seite 

0.  Der  a/ngeborene  Schwaclmrm  661 

Intellectueller  Schwachsinn  661 

Anergetische  und  erethische  Formen. 

Moralischer  Schwachsinn  670 

TJebergänge  zum  „gehorenen  Verbrecher". 

Emotiver  Schwachsinn  673 

Impulsiver  Schwachsinn  675 

Brandstiftungstrieb  —  Stehltrieb  —  Mordtrieb  —  Geschlechtliche 
Veiirrungen  (Sadismus,  Masochismus,  Fetischismus)  —  Mono- 
manien, ,,Forza  irresistibile". 
Degeneratives  Irresein,  „Psychopathische  Minderwerthigkeiten"  .    ,  682 

D.  Die  conin-äre  Seooualempfimdwng  683 

Krankheitsbild  —  Psychische  Hermaphrodisie  —  Effeminatio, 
Viraginität  —  Androgyne,  Gynandrier  —  Verlauf  —  Häufig- 
keit —  Erkennung  —  Ursprung  und  Wesen  des  Zustandes  — 
Behandlung. 

Eegister  693 


Einleitung. 


Psychiatrie  ist  die  Lehre  von  den  psychischen  Krankheiten 
lind  deren  Behandlung.  Sie  gehört  dem  Kreise  der  ärztlichen 
Wissenschaften  an  und  bedient  sich  wie  diese  letzteren  bei  ihren 
Untersuchungen  der  Hillfsmittel  und  Methoden  naturwissenschaft- 
licher Forschung.  Allein  die  Psychiatrie  erhält  gegenüber  den  an- 
deren ärztlichen  Disciplinen  eine  besondere  Stellung  durch  den 
Umstand,  dass  das  Object  ihres  Studiums  zum  grossen  Theile  einem 
durchaus  eigenartigen  G-ebiete  der  Lebenserscheinungen  angehört, 
dem  Grebiete  der  sog.  psychischen  Vorgänge.  Psychische  Vor- 
gänge, Vorstellungen,  Gemüthsbewegungen,  Willenserregungen  spielen 
sich  als  solche  einzig  in  der  inneren  Erfahrung  des  einzelnen  In- 
dividuums ab;  sie  sind  der  objectiven  Beobachtung  nicht  unmittel- 
bar, sondern  nur  insoweit  zugänglich,  als  man  aus  gewissen  äusseren 
Veränderungen,  der  Sprache,  den  Geberden,  den  Handlungen,  auf 
ihr  Vonstattengelien  schliessen  kann.  Dieser  eigen thümliche  Gegen- 
satz zwischen  innerer  und  äusserer  Erfahrung,  zwischen  der  Wahr- 
nehmung von  Zuständen  des  eigenen  Innern  und  von  Veränder- 
ungen in  der  Aussenwelt,  ist  es,  welcher  zu  einer  principiellen 
Abgrenzung  der  psychischen  von  den  physischen  Erscheinungen 
geführt  hat.  Auf  ihn  stützt  sich  die  landläufige  dualistische  Hypo- 
these einer  selbständigen,  immateriellen,  vom  Körperlichen  loslös- 
baren Seele. 

Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  gerade  diese  Betracht- 
ungsweise einer  wissenschaftlichen  Entwickelung  der  Psychiatiie 
ausserordentlich  hindernd  im  Wege  gestanden  hat,    da  sie  das 

Kraopelin,  Psychiatrio.  4.  Aufl.  1 


2 


Einleitung. 


Forschimgsobject  derselben  aus  dem  Bereiche  der  Erfahrungswissen- 
schaften in  denjenigen  der  Speculation  verpflanzte.   Während  schon 
die  Aerzte  des  Alterthums  durch  die  ruhige  Beobachtung  auf  den 
nahen  Zusammenhang  zwischen  körperlichen  (insbesondere  Gehirn-) 
Erkrankungen  mit  dem  Irresein  aufmerksam  geworden  waren,  ging 
diese  Erkenntniss  bis  in  die  neuere  und  neueste  Zeit  hinein  fast 
gänzlich  in  einer  religiös -abergläubischen  Auffassung  der  Geistes- 
störungen unter.    Erst  gegen  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  ver- 
mochte die  Medicin  sich  des  verlorenen  Forschungsgebietes  erfolg- 
reich wieder  zu  bemächtigen.    Lange  Kämpfe  zwischen  einseitig 
psychologischen  und  sogar  moralistischen  Anschauungen  einerseits, 
exteem  somatischen  Begründungen  des  Irreseins  andererseits  führten 
schliesslich  in  den  letzten  Jahrzehnten  unter  dem  Einflüsse  der 
mächtigen  Fortschritte  in  der  Medicin  zu  einer  „physiologischen" 
Auffassung  der  psychischen  Erscheinungen  und  Erkrankungen.  Nach 
ihr  steht  das  Seelenleben,  das  man  bis  dahin  meist  als  die  Aeusser- 
ungen   eines   selbständigen   Wesens  betrachtet  hatte,  in  engster 
physiologischer  Abhängigkeit  von  gewissen  körperüchen  Vorgängen. 
Die  psychischen  Erscheinungen  sind  nichts,  als  „Functionen"  des 
Gehirns;  psychische  Störungen  sind  diffiise  Erkrankungen  der  Hirn- 
rinde.   Die  Psychiatrie  ist  demnach  nur  ein  besonders  entwickelter 
Zweig  der  Nervenpathologie,  ihre  Aufgabe  die  Pathologie  der 
Hirnrinde,  eine  möglichst  genaue  Kenntniss  aller  jener  ki-ank- 
haften  Veränderungen  in  Form  und  Verrichtung,  welche  die  ein- 
zelnen Bestandtheile  derselben  unter  irgend  welchen  Einflüssen 
erleiden. 

Allein  es  kann  nicht  energisch  genug  ausgesprochen  werden, 
dass  die  Erreichung  dieses  in  neuester  Zeit  vielfach  aufgestellten 
Ideales  der  Erkenntniss  zwar  von  unschätzbarem  wissenschaftlichen 
Werthe,  aber  durchaus  nicht  im  Stande  sein  würde,  uns  wirklich 
eine  Lehre  von  den  Geistesstörungen  zu  liefern.  Dies  wäre  nur 
dann  der  Fall,  wenn  das  Gehirn  die  Vorstellungen,  Gefühle  u.  s.w. 
wirklich  in  ähnlicher  Weise  absonderte,  wie  „die  Niere  den  Harn", 
wenn  somit  eine  genaue  Kenntniss  der  Hirnmechanik  ohne  Weiteres 
auch  das  Verständniss  der  psychischen  Vorgänge  in  sich  schliessen 
würde.  Niemand  wird  jedoch  bestreiten  Avollen,  dass  wir  eine 
<■  durchaus  vollständige  Anschauung  von  den  feinsten  molecularen  Vor- 
gängen im  Gehirn  haben  könnten,  ohne  darum  auch  nur  zu  ahnen, 


Einleitung. 


3 


dass  wii'  es  in  ilini  mit  dem  Organe  des  Seelenlebens  zu  thun  haben. 
Der  innere  Zusammenhang  zwischen  cerebraleii  und  psychischen 
Verrichtungen  ist  uns  bisher  physiologisch  absolut  unver- 
ständlich; wir  wissen  in  Wahi'heit  nur  dieses  Einzige,  dass  er 
überhaupt  besteht  und  dass  er  allem  Anscheine  nach  ein  gesetz- 
mässiger  ist.  Aus  dieser  unabweisbaren  Ueberlegung  ergiebt  sich 
mit  JSTothweudigkeit  die  Forderung,  das  psychiatrische  Forschungs- 
gebiet von  zwei  verschiedenen  Seiten  her  in  Angriff  zu  nehmen, 
indem  man  einmal  die  körperlichen  Grrundlagen  des  krankhaften 
Seelenlebens,  dann  aber  die  Erscheinungen  dieses  letzteren  selbst 
mit  den  Hülfsmitteln  und  Methoden  der  Erfahrungswissenschaften  zu 
Studiren  sucht.  Nur  auf  diesem  Wege,  durch  die  innige  Ver- 
knüpfung der  Hirnpathologie  mit  der  „Psychopathologie", 
kann  es  gelingen,  die  Gesetze  der  Wechselbeziehungen  zwischen 
körperlichen  und  psychischen  Störungen  aufzufinden  und  somit  zu 
einem  wirklichen,  tieferen  Verständnisse  der  Erscheinungen  des 
Irreseins  vorzudringen. 


Lehrbücher  der  Psychiatrie. 

"W".  Griesinger,   Die  Pathologie  und  Therapie  der  psychischen  Krankheiten. 

4.  Aufl.    1876.    Eine  5.  Auflage  ist  1892  von  Levinstein- Schlegel 

herausgegeben  worden. 
H.  Schale,  Klinische  Psychiatrie  (v.  Ziemssen's  Handbuch  der  Pathologie  und 

Therapie,  XVI).    3.  Auflage.  1886. 
H.  Emmi;nghaus,  Allgemeine  Psychopathologie  zur  Einführung  in  das  Studium 

der  Geistesstörungen.  1878. 
E.  V.  Krafft-Ebing,  Lehrbuch  der  Psychiatrie.    4.  Auflage.  1890. 
J.  Salgo  (Weiss),  Compendium  der  Psychiatrie.    2.  Auflage.  1889. 
K.  Arndt,  Lehrbuch  der  Psychiatrie.  1883. 

H.  Neumann,  Leitfaden  der  Psychiatrie  für  Mediciner  und  Juristen.  1883. 
Th.  Meynert,  Psychiatrie.    Klinik  der  Erkrankungen  dos  Vorderhh-ns  Erste 
Hälfte.  1884. 

J.  L.  A.  Koch,  Kurzgefasster  Leitfaden  der  Psychiatrie.    2.  Auflage.  1889. 
Th.  Meynert,  Klinische  Vorlesungen  über  Psychiatrie.  1890. 
Th.  Kirchhoff,  Lehrbuch  der  Psychiatrie.  1892. 
Fr.  Scholz,  Lehrbuch  der  Irrenheilkunde.  1892. 

1* 


4 


Einleitung. 


Aus  der  neueren  französischen  Literatur  wären  Mer  etwa  noch  die  grösseren 
Werke  von  Dagonet  (1876),  Euys  (1881),  Ball  (2.  Aufl.,  1890),  Voisin  (1883), 
Eegis  (2.  Auflage,  1892),  aus  der  englischen  diejenigen  von  Maudsley  (deutsch 
von  Böhm,  1870),  Clouston  (1887),  Savage  (deutsch  von  Knecht,  1887), 
aus  der  amerikanischen  dasjenige  von  Spitzka  (1883)  und  Hammond  (1883), 
sowie  aus  der  russischen  dasjenige  von  Kowalewski  (1887)  zu  erwähnen. 


Die  allgemeine  Pathologie  und  Therapie 

des  Irreseins. 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 

Für  die  vollständige  Erkeuntniss  des  Yorganges  der  psychischen 
Erkrankung  ist  das  Studium  von  drei  verschiedenen  Eactoren  noth- 
wendig,  nämlich  der  äusseren  Ursachen,  welche  denselben  veran- 
lassen, des  inneren  Zustandes  der  Persönlichkeit,  auf  welche  die- 
selben einwirken,  und  endlich  der  Erscheinungen,  welche  sich  als 
die  nothwendige  Folge  aus  dem  Zusammenwirken  jener  ersten  beiden 
Momente  herausentwickeln. 

Der  zunächst  vorKegende  Stoff  würde  sich  demnach  in  drei 
Hauptabschnitte  gliedern  lassen,  von  denen  der  erste  die  äusseren 
Veranlassungen,  der  zweite  die  inneren  Ursachen  und  der 
dritte  die  Erscheinungen  des  Irreseins  umfasste.  Aus  prak- 
tischen Gründen  indessen  pflegt  man  zumeist  die  beiden  erst- 
genannten Gebiete  als  allgemeine  Aetiologie  zusammenzufassen 
imd  dieselbe  dem  dritten,  der  allgemeinen  Symptomatologie 
der  Geistesstörungen,  gegenüberzustellen. 

Das  gegenseitige  Yerhältniss  der  äusseren  zu  den  inneren  Ur- 
sachen ist  bei  dem  Zustandekommen  der  psychischen  Störungen  ein 
ausserordentlich  wechselndes,  so  zwar,  dass  sie  einander  gewisser- 
massen  ergänzen.  Je  weniger  ein  Mensch  zu  Geisteskrankheiten 
veranlagt  ist,  lun  so  stärker  muss  der  Eeiz  sein,  der  sein  psychisches 
Gleichgewicht  erschüttert,  und  umgekehrt  giebt  es  Psychosen,  die 
sich  schon  unter  dem  Einflüsse  der  kleinen  Kelze  des  täglichen 
Lebens  entwickeln,  weil  die  Widerstandsfähigkeit  des  Individuums 
zu  gering  ist,  um  selbst  diese  ohne  tiefere  krankhafte  Störung  er- 
tragen zu  können. 


6 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


A.  Aeussere  TJrsaclieu. 

Die  grosse  Klasse  der  äusserea  Ursachen  des  Irreseins  pflegt 
man  weiter  in  die  beiden  Gruppen  der  körperlichen  und  der 
psychischen  Ursachen  auseinander  zu  trennen.  Natüiiich  hat 
eine  derartige  Scheidung  keine  tiefere  theoretische,  sondern  lediglich 
classificatorische  Bedeutung,  da  nach  den  überall  festzuhaltenden 
G-rundanschauungen  jede  Beeinträchtigung  der  psychischen  Er- 
scheinungen durchaus  von  einer  Störung  im  Ablaufe  der  körperlichen 
Yorgänge  begleitet  werden  muss. 

1.    Körperliche  Ursachen. 

Hirnkrankheiteii.    Unter  den  körperlichen  Ursachen  sind  die 
nächstliegenden  jene  Störimgen,  die  unmittelbar  das  Centraiorgan 
unseres  Bewusstseins,  die  Hirnrinde,  betreffen.*)  Genau  genommen 
müssen  wir  sogar  sagen,  dass  sie  die  einzigen  wirklichen  Ursachen 
sind,  da  höchst  wahrscheinlich  die  letzte  Grundlage  aller  Formen 
des  Irreseins  ohne  Ausnahme  in  krankhaften  Yorgängen  oder  Zu- 
ständen der  Rinde  des  Grosshirns  zu  suchen  ist.    Yon  einer  ein- 
gehenden Kenntniss  jener  feineren  Hirnpathologie  sind  wir  freilich 
heute  noch  so  weit  entfernt,  dass  diese  letztere  vor  der  Hand  mehr 
eine  nothwendige  Annahme,  als  eine  wissenschaftliche  Thatsache 
genannt  werden  muss.    Unter  den  uns  bisher  bekannten  Cerebral- 
erkrankungen  verlaufen  jedoch  in  der  That  zumeist  diejenigen  mit 
psychischen  Erscheinungen,  welche  entweder  gerade  in  der  Einde 
ihren  Sitz  haben,  oder  welche  doch  dui'ch  Erhöhung  des  Hirndruckes, 
Störungen  der  Blutvertheilung  u.  dergl.  die  Kinde  in  Mtleidenschaft 
ziehen.    Es  kommt  indessen  vor,  dass  selbst  directe  B,indenerkrank- 
ungen,  namentlich  wenn  sie  sich  langsam  entwickeln,  die  psychischen 
Leistungen,  wenigstens  anscheinend,  völlig  unbeeinflusst  lassen.  Ziu- 
Erklärung  derartiger  Thatsachen  ist  einmal  die  so  vielfach  bestätigte 
Möglichkeit  einer  weitgehenden  Stellvertretung  gesunder  Rinden- 
partien für  erkrankte,  dann  aber  der  Umstand  in  Erwägung  zu 


*)  Nothnagel,  Topische  Diagnostik  der  Gehinikrankheiten.  1879.  Wer- 
nicke,  Lehrbuch  der  Gehiriikrankhciteu.  1881.  Gowers,  Vorlesungen  über  die 
Diagnostik  der  Gehirnkrankheiteu,  deutsch  v.  Moniuisen.  1886. 


Hirnkrankhoiten. 


7 


ziehen,  dass  eine  leichte  Yerniinderung  der  psychischen  Leistungs- 
fähigkeit, besonders  wo  sie  sich  ganz  allnicählich  einstellt,  mit  unseren 
heutigen  unvollkommenen  Hiilfsmitteln  schwer  aufzufinden  und  ge- 
nau zu  bestimmen  ist. 

Ihren  psychischen  Ausdi'uck  finden  die  krankhaften  Störungen 
unserer  Hii^nfunctionen  einerseits  in  dem  acuten  Auftreten  von 
Eeizungs-  oder  Lähmungserscheinungen,  andererseits  aber  in  der 
Entwickelung  dauernder  Zustände  von  Herabsetzung  der  psychischen 
Leistungsfähigkeit  oder  Widerstandsfähigkeit.  Als  eine  der  ein- 
fachsten Ursachen  functioneller  Eeizung  darf  die  fluxionäre  Hy- 
perämie gelten,  wie  sie  bei  den  verschiedensten  Anlässen  sich  zu 
entwickehi  pflegi,  unter  denen  das  Fieber,  die  Wärmebestrahlung 
des  Kopfes,  gewisse  Gemüthsbewegungen,  manche  Herzfehler  und 
Störimgen  der  Gefässinnervation  vielleicht  die  v^dchtigsten  sind.  Die 
unter  solchen  Yerhältnissen  beobachteten  psychischen  Reizungs- 
erscheinungen werden  daher  zum  Theil  gewiss  auf  die  Blutüber- 
füllung des  Schädelinhaltes  zu  beziehen  sein,  ebenso  die  ersten 
Symptome  einiger  schwereren  Erkrankungen  des  Hixns  und  seiner 
Häute,  welche  erfahrungsgemäss  mit  vermehrtem  Blutreichthum  in 
der  Rinde  einhergehen,  namentlich  die  verschiedenen  Formen  der 
Meningitis  an  der  Hirnoberfläche.  Ausgiebigere  Reizerscheinungen 
können  ferner  ausgelöst  werden  durch  den  örtlichen  Druck  rasch 
entstehender  Exsudate,  Blutungen  (eitrige  Meningitis,  Pachymenin- 
gitis  interna  hämorrhagica,  Rindenapoplexien),  schnell  wachsender 
Geschwülste,  sowie  endlich  durch  manche  Gifte,  welche  das  cen- 
trale Nervengewebe  direct  chemisch  beeinflussen. 

Die  psychischen  Symptome,  welche  derartigen  Reizeinwirkungen 
entsprechen,  sind  im  Allgemeinen  Unruhe,  Schlaflosigkeit,  in  den 
höheren  Graden  Delirien,  Ideenflucht,  Sinnestäuschungen,  Angst- 
zustände oder  Exaltation,  Jactation,  heftige  motorische  Erregung. 
Mit  diesen  psychischen  Erscheinungen  verbinden  sich  dann  die  ner- 
vösen Störungen  auf  motorischem  oder  sensorischem  Gebiete,  welche 
speciell  von  dem  Sitze  und  der  Art  der  Reizursache  abhängig  sind 
und  daher  in  erster  Linie  für  die  Erkennung  des  körperlichen 
Leidens  Verwerthung  finden. 

Alle  jene  Ursachen,  die  eine  erheblichere  plötzliche  oder  all- 
mähliche Beeinträchtigung  der  Hirnernährung  herbeizuführen  im 
Stande  sind,  vermögen  auf  das  Centraiorgan  unseres  Bewusstseins 


8 


I.  Allgemeiae  Aetiologie. 


eine  lähmende  "Wirkung  auszuüben.  Der  einfachste  Fall  ist  hier 
durch  das  Abschneiden  der  Blutzufuhr,  durch  die  acute  Hirn- 
anämie, gegeben.  In  grösserem  Umfange  und  mit  dem  raschen 
Erfolge  völliger  ßewusstlosigkeit  wird  dieselbe  hervorgerufen  durch 
den  Versuch  beiderseitiger  Carotidencompression;  von  anderweitigen 
Ursachen  sind  namentlich  Herzschwäche,  grosse  Blutverluste  und 
diejenigen  Affecte  (Schreck)  zu  nennen,  welche  mit  einem  plötz- 
lichen Krämpfe  der  Arterien  des  Kopfes  einhergehen.  Wie  es 
scheint,  sind  hierher  auch  die  unmittelbaren  Wildungen  der  sog. 
Commotio  cerebri  zu  rechnen.  Functionen  gleichwerthig  mit  der 
Anämie  sind  Stauungen,  z.B.  in  Folge  von  chronischen  Hyperämien 
(Feuerarbeiter),  Gefässerkrankungen  oder  von  Herzfehlern,  da  auch 
sie  die  mangelhafte  Zufuhr  leistungsfähigen  Blutes  bedeuten.  Ebenso 
wirken  ferner  jene  chemischen  Yeränderungen  der  Ernährungs- 
flüssigkeit, welche  dieselbe  zur  Erfüllung  ihrer  Aufgabe  mehr  oder 
weniger  untauglich  machen.  Sehr  wichtige  Ursachen  schwerer  Er- 
nährungsstörungen des  Gehirns  sind  endlich  aUe  erheblicheren  all- 
gemeinen Druckst  eigeruugen  in  der  Schädeikapsel  dui-ch 
Volumszunahme  ihres  Inhalts. 

Wie  wir  durch  Grashey's  Untersuchungen*)  wissen,  führt  jede 
Erhöhimg  des  Druckes  im  Schädel  über  ein  bestimmtes  individuelles 
Mass  hinaus  sehr  rasch  zur  Compression  der  Hirnvenen  in  ihren 
peripheren  Theilen,  weiterhin  aber  zur  Entstehung  von  Gefäss- 
schwingungen  mit  erheblicher  Yerlangsamimg  der  Kreislaufsgeschwin- 
digkeit und  deren  Folgezuständen  (Stauungen,  Oedeme).  Die  grössere 
oder  geringere  Leichtigkeit,  mit  welcher  eine  derartige  Drucksteiger- 
ung im  einzelnen  Falle  zu  Stande  kommt,  hängt  wesentlich  ab  von 
der  Ausbildung,  welche  die  Abflussbahnen  der  Cerebrospinalflüssig- 
keit  besitzen.  Vermag  diese  letztere  bei  einer  Volumsvermehrung 
des  Schädelinhaltes  rasch  nach  allen  Eichtungen  hin  auszuweichen, 
so  bleibt  der  Druck  im  Schädel  unverändert,  und  die  Blutversorgimg 
erleidet  keine  Störung.  Sind  aber  die  Ausgleichsvorrichtuugen 
mangelhaft  entwickelt,  so  genügt  schon  eine  massige  Zunahme  des 
Schädelinhaltes,  um  das  Aufteeten  der  Gefässschwingungen  zu  ver- 
anlassen und  damit  das  erste  Stadium  einer  schweren  Ernähruugs- 


*)  Experimentelle  Beiträge  zur  Lehre  von  der  ßlutcirculation  in  der  Scliädel- 
Eückgratshöhle.  1892. 


Hirnkrankheiteii. 


9 


Störung  einzuleiten.  "Vielleicht  verdient  gerade  nach  dieser  Eichtung 
die  neuerdings  von  Thoma  festgestellte  Thatsache  besondere  Be- 
achtung, dass  Yon  sämmtlichen  Gefässen  des  Körpers  das  Gebiet  der 
Carotis  interna  bei  weitem  am  meisten  zur  Erkrankung  an  Arterio- 
sklerose disponii't  ist.  Weit  günstiger  liegen  bei  einer  Zunahme  des 
Schädelinhaltes  die  Yerhältnisse  dann,  wenn  sich  dieselbe  langsam, 
alimählich  einstellt,  so  dass  die  Abflussbahnen  sich  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  den  wachsenden  Anforderungen  anzupassen  ver- 
mögen. Hier  kann  die  lähmende  Wirkung  auf  das  Centraiorgan  des 
Bewusstseins  ziemlich  lange  hintangehalten  werden:  jede  acute  Yo- 
lumsvermehrung  des  Schädelinhaltes  dagegen  hat  unausbleiblich  die 
rasche  Erstickung  der  Hirnrinde  zur  Folge.  Umgrenzte  derartige 
Ernährungsstörungen  werden  durch  die  Vorgänge  der  Embolie  und 
Thrombose  bedingt;  ob  hier  eine  Lähmung  der  psychischen  Func- 
tionen eintritt,  hängt  ebenso,  wie  bei  den  örtlichen  Druckwirkimgen 
kleinerer  Geschwülste  (z.  B.  Cysticerken),  von  der  Ausdehnung  und 
vielleicht  von  dem  Sitze  der  Störung  ab.  Endlich  müssen  natürlich 
auch  alle  krankhaften  Processe,  die  eine  umschriebene  oder  diffuse 
Structurveränderuug  oder  Zerstörung  in  der  Hirnrinde  erzeugen, 
mit  einer  mehr  oder  weniger  ausgedehnten  Functionsbeeinträchtigung 
derselben  einhergehen. 

Das  psychische  Symptom  einer  acuten  allgemeinen  Lähmung 
der  Hirnrinde  ist  eine  rasch  eintretende  absolute  Bewusstlosig- 
keit,  die  entweder  unmittelbar  in  den  Tod  übergebt  oder  nach 
einiger  Zeit  wieder  schwindet,  wenn  die  Wirkung  der  anämisirenden 
Ursache  abnimmt.  Ganz  anders  gestalten  sich  die  psychischen  Er- 
scheinungen bei  langsamer  Entwickelung  der  Eindenlähmung.  Ab- 
gesehen von  den  Eeizsymptomen ,  die  in  solchen  Fällen  vielfach 
aufzutreten  pflegen,  macht  sich  allmählich  eine  Abnahme  der 
psychischen  Leistungen  geltend,  Erschwerung  der  Auffassung 
und  Yerarbeitung  äusserer  Eindrücke,  Gedächtnissschwäche,  Ideen- 
armuth  und  Yerlangsamung  des  Yorstellungsverlaufes,  Kiitiklosigkeit, 
bei  höherer  Ausbildung  geradezu  Schlafsucht,  traumartige  Benom- 
menheit, Blödsinn,  ferner  weinerliches,  verdriessliches  Wesen  oder 
Stumpfheit  und  Theilnahmlosigkeit  bis  zur  völligen  Apathie.  Das 
gleiche  Bild  kann  sich  natürlich  auch  im  Ansclilusse  an  eine  acute 
Hiralähmung,  ein  Trauma  (Eisenbahnunglück),  eine  Apoplexie 
u.  dergl.,  entwickeln,  wenn  sich  die  augenblickliche  Störung  ausge- 


10 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


glichen  hat  und  eine  dauernd  wii-kende  Krankheitsursache  zaräck- 
geblieben  ist.  Zumeist  vollzieht  sich  indessen  die  Ausbildung  der 
psychischen  Erscheinungen  nicht  einfach  in  der  hier  angegebenen 
Weise,  sondern  das  Krankheitsbild  setzt  sich  in  den  verschieden- 
artigsten Formen  aus  den  Zeichen  der  Reizung  und  der  Lähmung 
zusammen;  es  wird  ausserdem  noch  begleitet  von  den  mannigfachen 
uervösen  Störungen,  die  ebenfalls  der  Reizung  oder  Lähmung  dieser 
oder  jener  Hirntheile  ihre  Entstehung  verdanken  und  in  ihrer  be- 
sonderen Zusammensetzung  als  Anhaltspunkte  für  eine  Localdiagnose 
der  Brkrankimg  zu.  dienen  vermögen.  Ihre  genauere  Schilderung 
gehört  dem  Gebiete  der  Hirnpathologie  im  engeren  Sinne  an. 

Als  eine  letzte  Art  von  psychischen  Yeränderungen,  die  durch 
Hirnerkrankungen  bedingt  Averden  kann,  hatten  wir  die  Erzeugung 
eines  chronischen  Zustandes  verminderter  psychischer  Wider- 
standsfähigkeit bezeichnet.    Diese  Störung  scheint  sich  vor  Allem 
im  Anschlüsse  an  traumatische  Einwirkungen*)  zu  entwickeln. 
Sie  ist  gekennzeichnet  durch  eine  raschere  geistige  Erschöpf  barkeit, 
erhöhte  Ablenkbarkeit  und  Zerstreutheit,  grosse  gemüthliche  Reiz- 
barkeit und  Empfindlichkeit  gegen  die  verschiedenartigsten,  das  Hii'n 
treffenden  Schädlichkeiten,  insbesondere  gegen  den  Alkohol.  Bis- 
weilen ist  dieser  Zustand,  zu  dem  sich  übrigens  sehr  gewöhnlich 
die  Erscheinungen  verminderter  Leistungsfähigkeit  hinzugesellen, 
nur  das  erste  Anzeichen  tieferer,  fortschreitender  organischer  Hirn- 
erkrankungen, die  dann  in  ihrem  weiteren  Verlaufe  allmählich 
andersartige  psychische  Krankheitsbilder  erzeugen.    Am  häufigsten 
sind  unter  solchen  Umständen  progressiver  Blödsinn  mit  Lähmungs- 
symptomen, häufig  wiederkehrende  Aufregungszustände  oder  epilep- 
tisches Irresein,  namentlich  psychisch-epileptische  Anfälle.  Anderer- 
seits aber  kann  auch  jener  Zustand  verminderter  Widerstandsfähig- 
keit lange  Zeit  hindurch  stationär  (functionell)  bleiben,  bis  etwa  ein 
mehr  zufälliger  Anlass  auf  Grund  der  dui-ch  sie  erzeugten  Prädis- 
position eine  acute,  selbständige  psychische  Erkrankung  zur  Ent- 
wickelung  gelangen  lässt. 

Die  regelmässige  Yerbindung  gröberer  und  ausgedehnterer  Er- 
krankungen der  Hirnrinde  mit  greifbaren  psychischen  Störungen 
legt  im  Hinblicke  auf  die  neuerdings  so  sehr  in  den  Vordergrund 


*)  Guder,  Die  Geistesstörungen  nach  Kopfverletzungen.  18S6. 


Hirnln-ankheiten. 


11 


des  Interesses  gerückten  Localisationsuntersuchungen  die  Frage  nahe, 
wie  weit  wir  etwa  jetzt  schon  im  Stande  sind,  aus  bestimmten  psy- 
chischen Erscheinungen  allein  Eückschlüsse  auf  den  Sitz  der  ihnen 
zu  Grunde  liegenden  Ernährungsstörung  in  der  Hirnrinde  zu  ziehen. 
Die  allgemeine  Möglichkeit  einer  derartigen  topischen  Diagnostik 
kann  bei  dem  heutigen  Stande  der  Localisationsfrage  nicht  wol 
mehr  in  Zweifel  gezogen  werden,  ja  es  liegen  sowol  klinische  wie 
experimentelle,  wenn  auch  nur  sehr  vereinzelte  Thatsachen  vor, 
welche  Ausblicke  nach  der  angedeuteten  Kichtung  hin  zu  eröffnen 
scheinen.    Dahin  gehören  in  erster  Linie  jene  Beobachtungen  über 
Paraphasie,  welche  es  gestatten,  Störungen  in  der  Verknüpfung  von 
Begriffen  mit  den  zugehörigen  sprachlichen  Symbolen  auf  Yer- 
letzungen  in  der  Gegend  der  linken  dritten  Stirnwindung  zu  be- 
ziehen und  vielleicht  auch  für  die  Localisation  der  vielfachen  para- 
phasischen  Störungen  bei  Irren  ohne  gröbere  Hirnerkrankungen 
fruchtbar  gemacht  werden  können.    Weiterhin  legen  es  die  von 
Charcot  und  Wilbrand  mitgetheilten  Fälle  von  Verlust  der  op- 
tischen Phantasiebilder  im  Zusammenhalte  mit  vielfachen  Erfahrungen 
an  operirten  Thieren  nahe,  die  Ursache  ähnlicher  Störungen  bei 
verschiedenen  Formen  acuter  und  chronischer  Psychosen  in  der 
Hinterhauptsrinde  zu  suchen.    Endlich  hat  bekanntlich  Goltz  die 
interessante  Beobachtung  gemacht,  dass  Verlust  der  vorderen  ßinden- 
gebiete  bei  Hunden  neben  anderen  Veränderungen  grosse  Reizbar- 
keit und  directionslose  Unruhe  erzeugt,  während  Exstirpation  der 
Hinterhauptslappen  im  Gegentheü  Trägheit  und  Stumpfheit  selbst 
bei  vorher  bösartigen  Thieren  zur  Folge  hat.    Auch  diese  Ergebnisse 
würden  sich  etwa  mit  den  bekannten  klinischen  Erscheinungen 
agitirter  und  apathischer  Schwachsinnsformen  einigermassen  in  Par- 
allele setzen  lassen. 

Selbstverständlich  indessen  sind  aUe  diese  Analogien,  so  lange 
wir  nur  sehr  grobe  Veränderungen  des  feinen  Gehirnmechanismus 
pathologisch-anatomisch  zu  erkennen  vermögen,  mit  grosser  Vorsicht 
zu  verwerthen.  Denkbar  wäre  es  wol,  dass  uns  etwa  eine  ein- 
gehende Kenntniss  mikrochemischer  ßeactionen,  wie  das  die  ver- 
wickelten Bilder  der  Nissl 'sehen  und  vielleicht  auch  die  räthselhafte 
Lavmenhaftigkeit  der  Golgi 'sehen  Färbungsmethode  andeuten,  der- 
einst feinere  Structur-  und  Functionsverschiedenheiten  des  centralen 
Nervengewebes  auffinden  lässt  und  uns  so  eine  massgebende  Prüfung 


12 


I.  Allgemeine  Aetlologie. 


der  oben  ausgesprochenen  Yermutliungen  ermöglicht.  Man  wird 
jedoch  kaum  erwarten  dürfen,  auf  Grund  von  psychischen  Sym- 
ptomen jemals  zu  einer  so  sicheren  Localdiagnose  zu  gelangen,  wie 
das  schon  jetzt  vielfach  an  der  Hand  isolirter  nervöser  Eeizungs- 
oder  Ausfallserscheinungen  (Krämpfe,  Lähmungen,  Gesichtsfelddefecte) 
möglich  ist.  Abgesehen  von  dem  bisher  fast  völligen  Mangel  ver- 
werthbarer  Methoden  zur  genaueren  Bestimmung  feinerer  psychischer 
Störungen,  scheinen  mir  Gründe  der  allerge wichtigsten  Art  mit 
Entschiedenheit  dafür  zu  sprechen,  dass  alle  höheren  psychischen 
Yorgänge,  die  Bildung  und  Yerlrnüpfung  von  Yorstellungen,  die 
Entstehung  von  Gefühlen  und  "Willen  sentschlüssen,  regelmässig  mit 
Erregung  umfangreicher  Gebiete  des  nervösen  Centraiorgans  ein- 
hergehen. So  sehr  daher  auch  an  sich  die  Uebertrag-ung  der  sinn- 
reichen Unterscheidung  zwischen  Herd-  und  Allgemeinsymptomen 
aus  der  Hu'npathologie  im  engeren  Sinne  auf  die  Psychopathologie 
zu  wünschen  wäre,  so  steht  doch  leider  zu  befürchten,  dass  die  An- 
wendbarkeit derselben  hier  nur  eüie  sehr  beschränkte  wii-d  sein 
können.  Allerdings  deutet  die  ausserordentliche  Mannichfaltigkeit 
der  psychischen  Krankheitsbilder  darauf  hin,  dass  die  einzelnen  Be- 
standtheile  derselben  bis  zu  einem  gewissen  Grade  von  einander 
unabhängig  sind.  Es  fragt  sich  indessen,  ob  diese  relative  Selbst- 
ständigkeit mehr  auf  eine  Yerschiedenheit  des  Entstehungsortes,  als 
auf  eine  solche  der  physiologischen  Entstehungsbedmgungen  zurück- 
zuführen ist. 

Nervenkranklieiteii.  Weniger  unmittelbar,  als  bei  den  directen 
Erkrankungen  des  Schädelinhaltes,  gestaltet  sich  der  ursächüche 
Zusaromenhang  mit  psychischen  Krankheiten  bei  denjenigen  Leiden, 
denen  als  nächster  Angriffspunkt  andere  Theile  des  Nervensystems 
dienen.  Für  die  bei  Tabes  beobachteten  Seelenstörungen  freilich 
ist  es  mir  am  wahrscheinlichsten,  dass  sie  nur  Symptome  jener  de- 
generativen Hirnerkrankung  darstellen,  welche  nicht  so  selten  zu  dem 
Kückenmarksleiden  sich  hinzugesellt. 

Durch  die  Annahme  reflectorischer  Circulationsstörungen  in 
Folge  von  heftigen  Keizungen  peripherer  Nervengebiete  hat 
man  zum  Theil  jene  Fälle  psychischer  Erkrankung  zu  erklären  ver- 
sucht, welche  sich  bisweüen  an  schAvere  Operationen  oder  Nerven- 
verletzungen anschhessen  und  unter  dem  Namen  des  Delirium  trau- 
maticum  zusammengefasst  worden  sind.  Allein  es  handelt  sich  hier 


Nervenkrank  h  eiten . 


13 


zumeist  wol  um  alkoholische,  in  anderen  Fällen  um  septicämische 
oder  auch  um  Erschöpfungsdelirien,  deren  Eintreten  gelegentlich 
noch  durch  hohes  Alter  oder  psychopathische  Prädisposition  be- 
günstigt wird.  Dagegen  sind  vereinzelte  Beobachtungen  bekannt, 
in  denen  anscheinend  durch  die  dauernde  Zerrung  von  Nerven, 
welche  in  Narben  eingeheilt  waren  (meist  Quintusäste),  chronisch 
verlaufende  psychische  Störungen  hervorgerufen  wurden  (Eeflex- 
psychosen).  Dieselben  bestanden  in  einer  gewissen  Benommenheit 
mit  zeitweiligen  Anfällen  gewaltthätiger  Aufregung,  auch  Sinnes- 
täuschungen, die  bisweilen  dui-ch  Druck  auf  die  schmerzhafte  Narbe 
ausgelöst  werden  konnten.  Nur  dort,  wo  dann  die  Excision  dieser 
letzteren  zur  Heilung  führt,  ist  natürlich  die  Annahme  eines  wirk- 
lichen Causalzusammenhanges  zwischen  ihr  und  der  Psychose  statt- 
haft. Derartige  Beobachtungen  erinnern  auch  klinisch  sehr  an  die 
bekannten  ätiologischen  Beziehungen  der  Epilepsie  zu  peripheren 
Nervenreizungen  und  sind  vielleicht  geradezu  unter  diesem  Gesichts- 
punkte zu  erklären.  Möglicherweise  handelt  es  sich  hier  überall 
um  eine  directe  irritirende  Wirkung  lebhafter  Schmerzen  auf  ein 
zu  epileptoiden  Störungen  besonders  prädisponirtes  Gehirn. 

Eine  sehr  grosse  ursächliche  Bedeutung  wird  zumeist  jenen 
allgemeineren  Erki-ankuugen  des  Nervensystems  zugeschrieben,  die 
man  als  Neurosen  bezeichnet.  In  der  That  pflegen  dieselben  ganz 
gewölmlich  mit  leichteren  psychischen  Störungen  einherzugehen,  ja 
sie  verknüpfen  sich  sogar  häufig  genug  mit  schweren  und  schwersten 
Formen  des  Irreseins.  Allein  es  ist  gewiss  zuti-eff ender,  die  ver^ 
schiedenartigen  bei  ihnen  beobachteten  Geistesstörungen  nicht  sowol 
als  die  Folge  der  Neurosen,  sondern  vielmehr  als  die  "Wirkungen 
einer  und  derselben  centralen  Ursache  aufzufassen,  welche  auch 
jenen  zu  Grunde  liegt.  Bei  der  Chorea*)  sieht  man  hauptsächlich 
erhöhte  psychische  Eeizbarkeit,  kindisches,  launenhaftes  Wesen, 
raschen  Stimmungswechsel,  Schlaflosigkeit,  in  schweren  Fällen  ver- 
wirrte Aufregungszustände  vom  Charakter  des  Collapsdelhiums  oder 
derAmentia;  bei  der  Tetanie  habe  ich  ebenso  wie  Frankl-Hoch- 
wart  vorübergehende  deliriöse  Zustände  mit  Sinnestäuschungen 
beobachtet,  die  vielleicht  als  Yergiftungssymptome  aufgefasst  werden 
dürfen.    Die  Epilepsie  endlich  und  die  Hysterie  führen  nicht 


*)  Koppen,  Archiv  für  Psychiatrie,  XX,  3. 


14 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


nur  regelmässig  zu  mehr  oder  weniger  ausgeprägten  degenerativen 
Charakterveränderungen,  sondern  sie  bilden  auch  die  Grundlage  füi' 
eine  ganze  Reihe  verschiedenartiger,  mehr  vorübergehender  psy- 
chischer Störungen,  welche  im  speciellen  Theile  eingehendere  Be- 
sprechung finden  werden. 

Allgemeine  Erkrankungen.    Der  durchgängige  Zusammenhang 
aller  Theile  des  Organismus  macht  es  leicht  erklärlich,  dass  ausser 
den  am  Nervensystem  unmittelbar  und  allein  angreifenden  Schäd- 
lichkeiten auch  eine  ganze  Reihe  sonstiger  Erkrankungen  dui^ch  ihre 
allgemeinen  und  mittelbaren  "Wirkungen  mehr  oder  weniger  stark 
das  Centraiorgan  unseres  Bewusstseins  in  Mitleidenschaft  ziehen  und 
somit  Störungen  der  psychischen  Functionen  herbeiführen  können. 
Am  leichtesten  verständlich  ist  dieser  Zusammenhang  bei  den  acuten 
Infectionskrankheiten*)  mit  ihren  rasch  hereinbrechenden  ge- 
waltigen Umwälzungen  der  gesammten  Lebensvorgänge.    Das  ge- 
meinsame wii'kende  Element  bei  der  ganzen  Reihe  derselben  ist 
das  organisirte  Güt,  welches  bald  direct  das  centrale  Nervensystem 
beeinflusst,  bald  durch  Erzeugimg  allgemeinerer  Krankheitserschein- 
ungen (Fieber),  oder  durch  Yermittelung  gewisser  Organerkrankungen 
Ernährungsstörungen  in  der  Hirnrinde  hervorbringt.   Im  Einzehien 
gestaltet  sich  natürlich  dieser  Zusammenhang  ausserordentlich  ver- 
schieden, je  nach  der  besonderen  Beschaffenheit  des  Krankheitsgiftes 
und  der  Art  seiner  Localisation  im  Körper.    Am  wichtigsten  sind 
von  diesen  Krankheiten  für  die  Entstehung  psychischer  Störungen 
Typhus,   acuter  Gelenkrheumatismus,  Pneumonie,  acute 
Exantheme,    Kopfrose,  Influenza,**)    Wechselfieber  und 
Cholera. 

Eine  directe  giftige  Wirloing  der  beti-effenden  Krankheitsgifte 
auf  das  Gehirn  ist  einigermassen  sicher  bisher  nur  für  den  Typhus, 
die  Pocken  und  das  Wechselfieber,  vielleicht  auch  die  Influenza, 
weil  nur  bei  ihnen  unzweifelhafte  Beobachtiingen  psychischer 
Störung  während  des  fieberlosen  oder  doch  sehr  gering  fieberhaften 
Yerlaufes  (im  Yorläuferstadium)  vorUegen,  bevor  andere  Ursachen 
haben  zur  Entwicklung  gelangen  können.    Beim  Gelenkrheumatis- 


*)  Kraepelin,  Archiv  für  Psychiatric,  Bd.  XI  und  XII. 
**)  lutrosinski,  liifluenzapsychosen, Dissertation,  1890;  Kirn, Volkmanns 
Min.  Vorträge,  Neue  Folge,  XUI,  1890. 


Allgemeine  Erkrankungen. 


15 


mus  kommt  aber,  wenn  auch  selten,  eine  Localisation  des  Giftes 
in  den  Hirnhäuten  vor,  die  dann  natürlich  ebenfalls  psychische 
Eeizungs-  und  Lähmungserscheinnngen  hervorruft.    Eine  weitere 
wirksame  Ursache  bei  dem  Zustandekommen  des  Irreseins  in  acuten 
Infectionskrankheiten  ist  sicherlich  das  Fieber,  einmal  durch  die 
Steigerung  der  Körperwärme,  dann  aber  durch  die  Circulations- 
beschleunigung  in  der  Schädelhöhie.    Fast  regelmässig  sieht  mau 
daher  axich  die  „Delirien"  dem  Gange  des  Fiebers  parallel  gehen, 
ein  Yerhalten,  welches  sich  namentlich  deutlich  bei  dem  typischen 
Verlaufe  der  Typhuscurve  herauszustellen  pflegt,  allerdings  vielleicht 
auch  auf  toxische  Einflüsse  bezogen  werden  kann.    Diese  letztere 
Annahme  gewinnt  durch  die  Erfahrung  an  Wahrscheinlichkeit,  dass 
bei  manchen  anderen  Leiden,  z.  B.  bei  der  Tuberculose,  lange 
dauernde    beträchtliche    Temperatuxsteigerungen  verhältnissmässig 
selten  mit  psychischen  Störungen  einhergehen.    Eine  sehr  wichtige 
Rolle  für  die  Entstehung  der  Delirien  bei  Infectionskrankheiten 
spielt  jedenfalls  nicht  selten  der  Zustand  der  Kreislaufsorgane,  viel- 
leicht auch  der  Lungen,  da  wir  jene  Störungen  nicht  nur  verhält- 
nissmässig häufig  bei  begleitenden  Herzerkrankungen  (Gelenkrheu- 
matismus), sondern  bei  den  verschiedensten  Formen  der  Herzinsuf- 
ficienz,  sogar  neben  kaum  fieberhaften  Temperaturen  aufti'eten  sehen 
(Septicämie).  Wie  viel  gerade  bei  den  so  leicht  delirirenden  Säufern 
auf  die  Herzschwäche  und  die  Gefässer krankungen,  wieviel  auf  die 
dauernden  Giftwirkungen  im  Gehirn  zurückzuführen  ist,  lässt  sich 
schwer  sagen;  wahrscheinlich  ist  das  Verhältniss  in  den  einzelnen 
Fällen  ein  sehr  verschiedenes,  wie  sich  auch  klinisch  alle  Ueber- 
gangsformen  vom  typischen  Delirium  tremens  bis  zum  gewöhnlichen 
Fieberdelirium  hier  beobachten  lassen. 

Das  Symptomenbild  der  Fieberdelirien  setzt  sich  im  Allgemeinen 
aus  den  Erscheinungen  der  Hirnreizung  und  der  Lähmung  zusam- 
men, die  sich  in  der  verschiedenartigsten  Weise  mit  einander  ver- 
binden können  und  in  den  schwersten  Graden  der  Störung,  bei 
denen  wol  immer  tiefgreifende  Circulationshemmnngen,  Stauungen, 
Oedeme  sich  entwickeln,  endlich  in  völlige  Functionslähmung  der 
Hirnrinde,  in  komatöse  und  soporöse  Zustände  übergehen. 

Der  Wirkungsweise  einiger  der  genannten  Infectionskrankheiten 
in  mancher  Beziehung  verwandt  ist  diejenige  der  Lyssa,  insofern 
es  sich  auch  hier  wol  um  eine  directe  Vergiftung  der  nervösen 


16 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


Centralorgane  haadelt.  Emminghaus*)  führt  als  eialeitende  Sym- 
ptome depressive  Verstimmuag  imd  Aengstliohkeit  au ;  auf  der  Höhe 
der  Erkraukung  wechselu  die  Erscheiuuugeu  höchster  psychischer 
Erregung,  furibuude  Delirieu,  Sinnestäuschungeu ,  Gewaltacte,  mit 
vorübergehender  völliger  Klarheit  des  Bewusstseins  ab,  bis  endlich 
mit  dem  Eintritte  psychischer  Lähmung  im  paralytischen  Stadium 
die  Scene  abschliesst. 

"Wesentlich  anders  dagegen,  als  bei  den  Fieberdelirien,  gestaltet 
sich  wahrscheinlich  der  Zusammenhang  zwischeii  Ursache  und  Wir- 
kung bei  jenen  ziemlich  häufigen  Geistesstörungen,  welche  sich  nicht 
auf  der  Höhe,  sondern  nach  dem  Ablaufe  acuter  Infectionskrank- 
heiten  entwickeln.    Allerdings  könnte  man  auch  hier  in  manchen 
Fällen  an  mehr  mittelbare  Giftwirkungen  der  infectiösen  Krankheits- 
ursache denken,  etwa  analog  den  neuritischen  Erkrankungen,  welche 
sich  an  Pocken,  Typhus,  Influenza  und  namentüch  an  Diphtherie  bis- 
weilen anschliessen.    Allein  einmal  sind  jene  Psychosen  gerade  nach 
Diphtherie  verhältnissmässig  selten,  und  andererseits  zeigen  sie  zu- 
meist in  ihrem  klinischen  Verlaufe  eine  so  grosse  Aehnlichkeit  mit 
den  durch  nicht  infectiöse  erschöpfende  Einflüsse  veriu'sachten  Formen 
des  Irreseins,  dass  wir  genöthigt  werden,  auch  hier  der  durch  schwere 
und  andauernde  Fieberzustände,  durch  die  allgemeinen  Ernährungs- 
störungen, vielfach  auch  durch  verschiedenartige  Begleiterkrankungen 
bedingten  Erschöpfung  des  gesammten  Organismus  die  ätiologische 
Hauptrolle  zuzuschreiben.    Dies  güt  besonders  für  Typhus  und  Ge- 
lenkrheumatismus.   Auf  der  anderen  Seite  sehen  wii-,  namentlich 
bei  der  Pneumonie,  aber  auch  nach  acuten  Exanthemen,  Erysipel, 
Influenza,  schweren  Anginen  die  psychische  Störung  sich  unmittel- 
bar an  einen  plötzüchen  Abfall  der  Körperwärme  und  der  Puls- 
geschwindigkeit anschliessen.    Endlich  giebt  es  dann  noch  eine  An- 
zahl von  Fällen  im  Gefolge  des  Typhus,  der  Variola,  der  Intermittens, 
bei  denen  es  sich  offenbar  um  dauernde  organische  Veränderungen 
in  der  Hirnrinde  handelt,  die  wir  doch  wol  als  Ueberreste  der  durch 
die  infectiöse  Krankheitsursache  bewirkten  Ernährungsstörungen  im 
Centrainervensystem    aufzufassen  haben.    Abgesehen  von  dieseu 
schwersten  Formen,  kommt  übrigens  der  psychopathischen  Veran- 
lagung bei  der  Entstehung  der  Erschöpfungspsychosen  eine  weit 

*)  Archiv  der  Heilkunde  XV,  p.  239;  AUg.  Zeitschr.  für  Psychiatrie  XXXI,  5. 


Allgemeine  Erkrankungen. 


17 


gi-össere  Bedeutung  zu,  als  bei  den  Fieberdelirien.  Offenbar  sind 
die  Erkrankungsursachen  im  letzteren  Falle  viel  mächtigere;  sie 
überwältigen  ohne  viel  Unterschied  auch  ein  kräftiges  Nervensystem, 
während  dort  vorzugsweise  nur  die  weniger  widerstandsfähigen 
Organisationen  den  schwächenden  Einflüssen  unterliegen. 

Bis  zu  einem  gewissen  Grade  spiegelt  sich  dieser  Unterschied 
der  ätiologischen  Bedingungen  auch  in  dem  klinischen  Bilde  der 
Erschöpfimgspsychosen  wider.  Während  die  Fieberdelirien  in  der 
Hauptsache  überall  die  gleichen  G-ruppen  von  Erscheinungen  er- 
kennen lassen,  sehen  wir  hier,  wo  die  persönliche  Anlage  stärker 
hervortritt,  eine  ganze  Reihe  verschiedenartiger  und  selbständiger 
sich  entwickelnder  Krankheitsformen  zur  Ausbildung  gelangen.  Dies 
güt  natürlich  nicht  für  die  mit  organischen  Verändenmgen  (InM- 
tration  der  ßinde,  Degeneration  der  Ganglienzellen,  PigmentemboKen) 
einhergehenden  Psychosen,  welche  einfach  eine  mehr  oder  weniger 
ausgesprochene  allgemeine  Abnahme  der  psychischen  Leistungen, 
das  Bild  des  Schwachsinns  bis  zum  tiefsten  apathischen  Blödsinn 
darbieten.  Die  meist  sehr  trübe  Prognose  ist  hier  einfach  an  die 
Möglichkeit  oder  Unmöglichkeit  einer  Rückbildung  der  bestehenden 
Gewebsveränderungen  geknüpft. 

"Wo  die  krankmachende  Ursa*che  in  Form  von  plötzlichem  kri- 
tischem Sinken  der  Temperatur  und  der  Pulsfrequenz  sehr  acut 
hereinbricht,  entstehen  unvermittelt  rasch  verlaufende  Collapsdelirien 
mit  Sinnestäuschungen,  völUger  Yerwirrtheit,  Ideenflucht  und  Auf- 
regungszuständen.  In  anderen  Fällen  verschwinden  die  Fieber- 
delirien mit  dem  Eintritte  der  Reconvalescenz  nicht,  sondern  spinnen 
sich,  wenn  auch  in  veränderter  Form,  noch  einige  Zeit  hindurch 
fort.  Viel  häufiger  aber  kommt  die  Psychose  erst  in  den  ersten 
Tagen  oder  Wochen  nach  dem  Ablaufe  der  Erkrankung,  oft  unter 
dem  Einflüsse  mehr  zufälliger  Reize  (Gemüthsbewegungen),  zum 
Ausbruche,  um  nun  bald  die  Form  der  Amentia,  der  acuten  Demenz, 
bei  weniger  stürmischer  Entwickelung  diejenige  neurasthenischer 
oder  melanchohscher  Zustände  anzunehmen;  seltener,  und  wol  nur 
auf  Grund  bestimmter  psychopathischer  Veranlagung,  beobachtet 
man  auch  hallucinatorischen  oder  depressiven  Wahnsinn.  Der  Zu- 
sammenhang der  psychischen  Störung  mit  der  acuten  Krankheit  ist 
bei  der  zuletzt  genannten  Gruppe  nicht  nur  innerüch,  sondern  häufig 
auch  zeithch  viel  lockerer,  als  bei  den  früheren.   Zuweilen  beginnt 

KraepeUn,  Psychiatrie.  4.  Aufl.  2 


18 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


die  Psychose  bei  dem  wenig  widerstandsfähigen  Eeconvalescenten 
erst  Wochen  oder  gar  Monate  nach  dem  Ablaufe  der  hier  eigentUch 
nur  noch  prädisponirenden  Erkrankung,  ja  wir  wissen,  dass  nament- 
lich nach  Typhus  unter  Umständen  selbst  Jahre  lang  eine  reizbare 
Schwäche  zurückbleiben  kann,  welche  den  günstigen  Boden  für  die 
Entwickelung  späterer  Geistesstörungen  bildet. 

In  ähnlicher  Weise,  wie  bei  diesen  letzterwähnten  Formen, 
dürfte  sich  die  Entstehungsweise  derjenigen  Psychosen  gestalten, 
welche  wir  im  Anschluss  an  gewisse  chronische  und  die  all- 
gemeine Ernährun  g  schwer  beeinträchtigende  körperliche 
Erkrankungen  beobachten.    Es  muss  dabei  vorerst  dahingesteUt 
bleiben,  ob  als  die  pathologische  Grundlage  solcher  Geisteskrank- 
heiten nur  functionelle,  oder  aber,  wenigstens  in  den  schwereren 
Fällen,  nicht  auch  anatomische  Yeränderungen  in  der  Hirnrinde  an- 
gesehen werden  dürfen.    Wenn  die  acute  Anämie  gewöhnlich  sehr 
rasch  zur  Lähmung  des  Centralorganes  unseres  Bewusstseins  führt, 
so  pflegt  die  langsam  entstandene  Ernährun gsinsufficienz,  wie  sie 
durch  wiederholte  Blutverluste  oder  chronische  Inanition, 
schwere  Stoffwechsel-  und  Blutkrankheiten  (Diabetes,  Kar- 
cinome,  Leukämie,  Myxödem)  bedingt  werden  kann,  zunächst  eine 
grössere  Ermüdbarkeit,  sowie  eine  geringere  Widerstandsfähigkeit 
gegenüber  den  kleinen  und  grossen  SchädHchkeiten  und  Eeizen  des 
Lebens  in  ihrem  Gefolge  zu  haben.    Damit  ist  dann  eine  schwer- 
wiegende Prädisposition  zur  Entstehung  verschiedenartiger  psych- 
ischer Störungen  gegeben.    Namentlich  Melancholien  mit  hypochon- 
drisch-seniler  Färbung,  sowie  deren  Uebergangsformen  zum  depres- 
siven Wahnsinn  entwickeln  sich  leicht  auf  solcher  Grundlage. 

Wesentlich  nach  denselben  Gesichtspunkten  muss  zum  Theil 
wol  die  ätiologische  Bedeutung  mancher  chronischen  Infections- 
krankheiten  beurtheilt  werden;  aiich  hier  sind  ja  zumeist  die  Be- 
dingungen zur  Entstehung  von  Inanitionszuständen  verwirkücht 
Bei  der  Tuberculose  kommt  es  hie  und  da  zu  acuten  Geistesstörimgen 
von  der  Art  der  CoUapsdeürien  mit  vorwiegend  expansiver  Färbung, 
entsprechend  der  so  häufig  beobachteten  Euphorie  der  Phthisiker.  In 
anderen  Fällen  sehen  wir  hier  den  Alkoholismus  eine  wesentHche 
ätiologische  KoUe  spielen,  und  endlich  können  natürhch  gelegentüch 
auch  meningitische  Processe  den  psychischen  (und  nervösen)  Keiz- 
erscheinungen  zu  Grunde  liegen. 


Allgemeine  Erkrankungen. 


19 


Bei  der  Syphilis*)  tritt  dagegen,  anders  als  bei  der  Tuber- 
culose,  wol  die  "Wirkung  des  specifischen  Krankheitsgiftes  ganz  in 
den  Yordergrund.  Hier  haben  wir  es  fast  überall  mit  greifbaren, 
auf  die  Infection  als  solche  zurückführenden  pathologischen  Ver- 
änderungen im  Centrainervensystem  zu  thun.  In  Folge  dessen  sind 
auch  die  syphilitischen  Geistesstörungen  regelmässig  Ton  mannig- 
faltigen nervösen  Erscheinungen  begleitet,  deren  verschiedenartige 
Verbindung  im  Einzelnen  häufig  überhaupt  erst  die  Erkennung  des 
Leidens  ermöglicht,  wo  die  psychischen  Symptome  zu  unbestimmt 
sind,  um  eine  Abgrenzung  von  anderen,  nicht  luetischen  Erkrank- 
ungen zu  gestatten.  Dass  nach  dieser  Eichtung  besonders  die 
Störungen  der  Augenmuskelnerven  Beachtung  verdienen,  ist  hin- 
länglich bekannt.  Von  psychischen  Urankheitsbildern  kann  man 
nach  Heubner's  eingehender  Schilderung  hauptsächlich  drei  unter- 
scheiden, die  sogar  an  differente  pathologische  Processe  sich  zu 
knüpfen  scheinen.  Die  erste  Eorm,  häufig  auf  der  Eeizwirkung 
gummöser  Neubildungen  an  der  Convexität  der  Hirnrinde  beruhend, 
zeigt  anfangs  massige  Verstimmung  und  Gereiztheit  bis  zu  de- 
pressiven oder  expansiven  Aufregungszuständen,  im  weiteren  Ver- 
laufe Abnahme  der  Intelligenz,  Gedächtnissschwäche,  Langsamkeit 
des  Denkens,  Oberflächlichkeit  und  Veränderlichkeit  der  Affecte, 
daneben  aphasische  Störungen  und  epileptische  Insulte,  die  gewöhn- 
lich auch  den  ganzen  Symptomencomplex  einleiten.  In  der  zweiten 
Gruppe  von  Fällen  handelt  es  sich  um  eine  Erkrankimg  namentlich 
der  basalen  Hirnarterien,  die  zur  Verengerung  und  schliesslich 
gänzlichen  Obliteration  ihres  Lumens  führt.  Hier  wird  das  Krank- 
heitsbild durch  apoplektische  Zufälle  mit  einfachem  Schwachsinn 
und  länger  dauernden  Lähmungen  beherrscht,  ein  Zeichen  häufiger 
Verstopfung  von  Endarterien  in  den  Stammganglien.  Der  gleiche 
Vorgang  in  der  ßinde  dagegen  erzeugt  wegen  der  hier  gebotenen 
Möglichkeit  collateralen  Ausgleiches  derartiger  Störungen  nui-  eigen- 
thümliche  rauschartige  Zustände  halber  Bewusstlosigkeit  mit  JSTeigung 
zu  unmotivirter,  triebartiger  Geschäftigkeit  und  halbverkehrten  Hand- 
lungen. Endlich  ist  noch  eine  Eeihe  von  Beobachtungen  bekannt, 
in  denen  das  Krankheitsbild  durchaus  die  klinischen  Züge  der  später 


*)  Heubner,  v.  Ziemssen's  Handbuch,  Bd.  XI,  1;  Eumpf,  Die  syphilitischen 
Erkrankungen  des.  Nervensystems.  1887. 

2* 


2Q  I.  Allgemeine  Aetiologie. 

ausführlicher  zu  schildernden  Dementia  paralytica  darbietet.  Eine 
irgendwie  befriedigende  Abgrenzung  ist  hier  nicht  mehr  mögüch, 
um  so  weniger,  als  auch  in  der  Aetiologie  der  progressiven  Paralyse 
die  Syphüis,  fr^eiUch  wol  nur  als  vorbereitende  Ursache,  eine  un- 
gemein vnchtige  Rolle  spielt. 

In  weit  beschränkterem  Masse,  als  die  Syphiüs,  wird  der  Er- 
gotismus, die  Vergiftung  mit  Mutterkorn,  Ursache  psychischer 
Störungen.*)    Bisweilen  scheinen  hier  directe  Intoxikations-  (oder 
Collaps-?)  deürien  vorzukommen;  in  der  Mehrzahl  der  FäUe  da- 
gegen ist  vielmehr  an  secundäre  Giftwirkungen  in  der  Hii'nrinde  zu 
denken.    Allerdings    ist    der  schwierige    Nachweis  pathologisch- 
anatomischer Yeränderungen  im  Gehii^n  hier  noch  nicht  gelungen, 
und  da  die  Krankheitserscheinungen  bei  geeigneter  Behandlung 
wieder  verschwinden  können,  so  besteht  die  Möglichkeit,  dass  es 
sich  hier  nur  um  „functionelle^  vieUeicht  etwa  vasomotorische 
Störungen  handelt.    Die  psychischen  Symptome  waren  im  Allge- 
meinen diejenigen  einer  Herabsetzung  hauptsächlich  der  mtellec- 
tueUen  Functionen,  mehr  oder  weniger  ausgesprochene  Benommen- 
heit des  Sensoriums  bis  zum  Stupor,  Yerlangsamung  des  Denkens, 
Gedächtnissschwäche,  Yerwirrtheit;  daneben  häufige  Angstzustande 
und  tiefes  Krankheitsgefühl.  Bisweüen  fr-eten  articiüatorische  Sprach- 
störungen ein;  ferner  sind  regelmässig  epileptische  Krämpfe  und  die 
obiectiven  Anzeichen  einer  in  mehi'eren  FäUen  diu-ch  die  Leichen- 
öffiiung  festgestellten,  nicht  fortschreitenden  Rückenmarksaffection 
(Hinterstrangsklerose)  vorhanden.  _ 

Dem  Ergotismus  in  ätiologischer  und  künischer  Beziehung 
offenbar  sehr  ähnlich  ist  das  hauptsächlich  in  Oberitahen  vorkom- 
mende Pellagra,  welches  sehr  wahrscheinlich  auf  den  Genuss  von 
verdorbenem  Mais  zurückzuführen  ist  und  ausser  Verdauungs- 
störungen und  Hautaffectionen  auch  chi'onische  Ruckenmai-ks- 
(Hinterseitensti-angsklerose  nach  Tuczek)  und  Geisteski^ankheiten 
(psychische  Depression  mit  Selbstmordneigung,  seltener  Aufregungs- 
zustände,  schliesslich  Blödsinn)  zur  Folge  hat. 

Vergiftimgen  In  Verwandtschaft  zu  allen  diesen  infectiösen  oder 
endemischen  Giftwirkungen  stehen  als  weitere  Ursachen  geistiger 


*)  Siemens,  Archiv  für  Psychiatrie  XI,  1.  u.  2;  Tuczek,  ibid.  XIH.  1: 

xvm,  2. 


Vergiftungen. 


21 


Störung  die  verschiedenen  gelegentlichen  Intoxikationen  durch 
Stoffwechselproducte,  durch  giftige  Gase,  Narkotica  und 
Metallgifte.  Die  häufigste,  ja  sub  finem  vitae  vielleicht  regelmässig 
dem  psychischen  Leben  ein  Ende  bereitende  Vergiftung  ist  die- 
jenige durch  die  Anhäufung  physiologischer  Zerfallproducte  im  Blute. 
Je  nach  der  Reihenfolge,  in  der  die  einzelnen  Organe  des  Körpers 
aufhören,  zu  arbeiten,  gestaltet  sich  auch  dieser  Vorgang  etwas  ver- 
schieden. Wenn  die  Unzulänglichkeit  der  Kreislaufsorgane  die 
nächste  Todesursache  bildet,  so  müssen  die  Bestandtheile  des  venösen 
Blutes  allmählich  die  Erscheinungen  rascherer  oder  langsamerer  Hirn- 
lähmung herbeiführen.  Ungenügende  Athmung  erzeugt  Kohlen- 
säurevergiftung mit  den  Symptomen  rauschartiger  Benommenheit 
und  heftigen  Angstgefühlen,  in  höheren  Graden  Bewusstlosigkeit; 
mangelhafte  Ausscheidung  durch  die  Meren  bedingt  acute  oder 
chronische  Urämie  mit  deliriösen  und  komatösen  Zuständen  oder 
länger  dauernden  Geistesstörungen  melancholischen  Charakters;  in 
Folge  der  Ansammlung  von  Gallenbestandtheilen  im  Blute  (Chol- 
ämie) kommen  Benommenheit  und  psychische  Depression,  bei  der 
acuten  gelben  Leberatrophie  (Icterus  gravis)  furibunde  Delirien  mit 
starker  motorischer  Erregung  und  Sinnestäuschungen,  im  weiteren 
Verlaufe  Sopor  und  Koma  zur  Beobachtung  u.  s.  f. 

Von  giftigen  Gasen  ist  hauptsächlich  das  Kohlen  oxydgas  zu 
erwähnen,  welches  den  Sauerstoff  aus  dem  Hämoglobin  verdrängt 
und  Hirnhyperämie  erzeugt.  Auch  hier  entwickeln  sich  die  An- 
zeichen psychischer  Reizung  (ängstliche  oder  ekstatische  Aufregungs- 
zustände),  denen  diejenigen  der  Lähmung  (Bewusstlosigkeit)  folgen. 
Eine  gewisse  Verworrenheit  und  Schwäche  der  psychischen  Leistungen 
pflegt  die  Vergiftung  einige  Zeit  lang  zu  überdauern,  ja  es  kommt 
sogar  bleibender  Blödsinn  in  Folge  von  Erweichungsherden  zur  Be- 
obachtung. Dass  auch  die  Einathmung  von  Leuchtgas,  Schwefel- 
wasserstoff, Schwefelkohlenstoff,  Stickstoffoxydul  psych- 
ische Eeizungs-  und  Lähmimgserscheinungen  verschiedener  Art 
hervorzurufen  im  Stande  ist,  soll  hier  wegen  des  geringen  prak- 
tischen Interesses  dieser  Vergiftungen  nur  erwähnt  werden. 

Dagegen  haben  wir  uns  nunmehr  der  Betrachtung  eines  Giftes 
zuzuwenden,  welches  für-  die  Psychopathologie  eine  ganz  ausser- 
ordentliche  Bedeutung  gewonnen  hat,  ich  meine  den  Alkohol.*) 

*)  Baer,  Der  Alkoholiemus.  1878. 


22 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


Die  Angaben  über  die  Hänfigkeit,  nüt  welcher  der  Missbrauch  dieses 
G-ennssmittels  zur  Aufnahme  in  die  Irrenanstalt  führt,  schwanken 
je  nach  der  Nationaütät  und  den  besonderen  Yerhältnissen  zwischen 
10_30,  ja  bis  40  »/o  aller  psychisch  Erkrankten.  Das  männliche  Ge- 
schlecht ist  an  der  Tnmksucht  mindestens  10  Mal  so  stark  betheUigt, 
als  das  weibliche;  nur  in  den  niederen  Gesell  Schaftsschichten  ist 
dieses  Yerhältniss  für  die  Weiber  ungünstiger.  Wie  es  scheint, 
nimmt  der  Alkoholismus  im  Allgemeinen  noch  immer  zu,  allerdings 
vorzugsweise  in  der  Fabrikarbeiterbevölkerung,  während  für  die  ge- 
bildeten Stände  der  Missbrauch  berauschender  Getränke  im  Vergleich 
zu  früheren  Jahrhunderten  wesentlich  zurückgegangen  sein  dürfte. 
In  emzelnen  Ländern,  namentlich  in  Skandinavien,  welches  noch  vor 
wenig  Jahrzehnten  als  das  klassische  Land  des  Alkoholismus  galt, 
ist  es  den  energischen  Anstrengungen  der  Gesetzgebung  gelungen, 
eine  sehr  erhebliche  Einschränkung  jener  Yolksseuche  zu  erzielen. 

Die  eigentlich  verderbliche  Form  alkoholischen  Getränkes  ist 
der  Schnaps,  besonders  der  Kartoffelbranntwein,  welcher  häufig 
ausser  dem  Aethylalkohol  auch  noch  die  weit  verderblicher  wii-ken- 
den  höheren  Alkohole  (namentlich  den  Amylalkohol)  enthält,  und 
der  in  Südfrankreich  und  Oberitalien  verbreitete  Absynth  (ätherisches 
Oel  der  Axtemisia  Absynthium).  Im  biertrinkenden  Süddeutschland 
und  selbst  in  den  Weinländern  spielt  daher  der  Alkoholismus  auch 
nicht  im  Entferntesten  die  KoUe,  wie  etwa  in  Posen,  wo  der  Kar- 
toffelfusel das  wichtigste  alkoholische  Genussmittel  des  Arbeiters 
büdet. 

Yen  den  Wirkungen  des  Alkohols  auf  den  Organismus  haben 
hier  vor  Allem  die  Störungen  in  der  Gehirnernähi-img  für  uns  In- 
teresse. Durch  die  acute  Vergiftung  werden  zunächst  die  Gefäss- 
nerven  gelähmt,  bei  grösseren  Dosen  auch  Athmung  und  Herz- 
bewegung verlangsamt;  weiterhin  findet  sicherlich  noch  eioe  directe 
giftige  Wirkung  auf  die  Hirnrinde  statt,  die  wahrscheinlich  in  einer 
fortschreitenden  allgemeinen  Lähmung  mit  anfänglicher  vorüber- 
gehender Steigerung  der  centralen  motorischen  Erregbai'keit  besteht. 
Beim  chronischen  Alkoholmissbrauch  wird  ausser  dem  centralen 
auch  das  periphere  Nervensystem  in  mehr  oder  weniger  ausgedehn- 
tem Masse  ergriffen  (degenerative  Neuritis).  Sodann  kommt  es  zur 
Entwickelung  von  Gefässerkrankungen  und  dauernden  Circulations- 
störungen  mit  ihren  Folgezuständen  (Blutaustritte,  Trübimgen,  Ter- 


Vergiftungen. 


23 


dickiing-ea  der  Hirnhäute,  Infiltration  und  weiterliin  Atrophie  der 
Eindensiibstanz  u.  s.  w.),  ferner  zu  einer  tieferen  Entartung  der  Blut- 
masse (Abnahme  des  Fibrins)  und  endlich  durch  Yermittelung  der 
vielfachen  alkoholischen  Organerkrankungen  (Herzverfettung,  Magen- 
katarrh, Lebercirrhose,  Nierenschrumpfung)  zu  einer  allgemeinen, 
folgenschweren  Störung  der  ernährenden  und  ausscheidenden  Func- 
tionen des  gesammten  Organismus.  Ja,  diese  Degeneration  erstreckt 
sich  sogar  noch  über  den  Bereich  des  Individuums  hinaus  auf  seine 
Nachkommenschaft  und  bringt  in  ihr  Idiotie  oder  die  Anlage  zu 
mannigfachen  psychischen  und  nervösen  Erkrankungen  hervor,  in- 
sonderheit zum  Alkoholismus,  zu  den  psychischen  Entartungsformen 
und  endlich  auch  zum  Yerbrechen. 

In  dieser  seiner  verhängnissvollen  Einwirkung  auf  das  Indi- 
viduum und  die  Eace  wird  der  Alkohol  zumeist  noch  unterstützt 
durch  eine  Anzahl  ähnlicher  Schädlichkeiten,  die  zumeist  mit  dem 
Missbrauche  jenes  Genussmittels  Hand  in  Hand  zu  gehen  pflegen. 
Der  Schnaps  ist  vorzugsweise  das  Getränk  des  armen  Mannes,  der 
von  ihm  Anregung  und  Erwärmung  erwartet,  ja  dem  er  zum  Theil 
die  Nahrung  zu  ersetzen  hat;  die  tägliche  Noth  des  socialen  Elendes, 
der  Armuth,  ungenügende  Ernährung,  schlechte  hygienische  Ter- 
hältnisse  u.  s.  f.  ebnen  seinem  Einflüsse  hier  den  Weg.  So  kommt 
es,  dass  der  Anfangs  nur  aus  bestimmtem  Anlass,  nach  starker  An- 
strengung, am  Lohntage  oder  in  verführerischer  Gesellschaft  genossene 
Schnaps  allmähhch  zum  Lebensbedürfnisse  wird  und  der  Gewohn- 
heitstrinker nun  regelmässig,  Tag  für  Tag,  auch  aUein  und  nur  um 
des  Alkohols  willen  zur  Flasche  greift.  Umgekehrt  aber  ist  es 
gerade  der  Alkohol,  der  durch  seine  vernichtenden  "Wirkungen  auf 
das  körperliche,  geistige  und  sociale  Wohlergehen  des  Trinkers  mit 
Nothwendigkeit  über  ihn  den  ökonomischen  Kuin  hereinbrechen 
lässt  und  auf  diese  Weise  einen  Circulus  vitiosus  herstellt,  aus  dem 
es  kein  Entrinnen  mehr  giebt.  Die  Gefahr,  auf  diese  schiefe  Ebene 
zu  gerathen,  ist  wegen  der  euphorischen  Wirkungen  des  Alkohols 
und  wegen  der  überall  bereiten,  zur  Yolksunsitte  gewordenen  Yer- 
führung  weit  grösser,  als  gemeinhin  angenommen  wird.  Ich  bin  zwar 
der  Ansicht,  dass  die  nachtheiligen  Folgen  eines  massigen  Alkohol- 
genusses und  selbst  eines  gelegentlichen  TJebermasses  im  Interesse 
einer  heilsamen  Agitation  gegen  den  schweren  Nothstand  der  Trunk- 
sucht vielfach  in  zu  schwarzen  Farben  gemalt  werden.    AUein  es 


24 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


ist  zweifellos,  dass  in  den  gebildeten  Kreisen  kaum  weniger  als  in 
den  breiten  Massen  unseres  Yolkes  der  Alkobolmissbrauch  mit  einer 
Nachsicht  geduldet,  ja  mit  einem  Wohlwollen  gezüchtet  wird,  welches 
als  eine  der  wichtigsten  Ursachen  für  die  gewaltige,  verderben- 
bringende Macht  jener  Volksseuche  betrachtet  werden  muss.  All- 
jährlich zahlen  wir  nicht  nur  an  Landstreichern  und  Tagedieben  oder 
ähnlich  werthlosem  Menschenmateriale,  sondern  auch  an  begabten, 
ja  genialen  Naturen  dem  Gifte  einen  reichen  Tribut.  IVeilich  sind 
es  vorzugsweise  haltlose  und  schwache  Charaktere,  welche  dem  Ein- 
flüsse des  Alkohols  unterliegen,  aber  wir  dürfen  dabei  nicht  ver- 
gessen, dass  dieses  Grift  gerade  selbst  die  Energie  und  Widerstands- 
kraft des  Menschen  vernichtet  und  sich  auf  diese  Weise  die  Prä- 
disposition schafft,  welche  ihm  den  endlichen  Sieg  ermöghcht. 

Die  psychischen  Störungen,  welche  der  Alkoholmissbrauch  er- 
zeugt, sind  ausser  dem  Eausch  und  dem  chronischen  Alkoholismus 
vor  Allem  das  Delirium  ü-emens,  ferner  der  acute  hallucinatorische 
Wahnsinn,  sowie  der  Yerfolgungswahn  der  Trinker.  Weiterhin  bildet 
der  Alkoholismus  eine  sehr  wichtige  Ursache  der  Epilepsie  und  der 
sie  begleitenden  Seelenstöruugen,  und  endlich  scheint  demselben 
auch  bei  der  Entstehung  der  Dementia  paralytica  eine  nicht  un- 
wesentliche ätiologische  Kolle  zuzukommen.  Zu  beachten  ist  in- 
dessen, dass  häufig  die  Neigung  zu  Alkoholexcessen  nicht  sowol 
die  Ursache,  sondern  vielmehr  ein  Symptom  des  ausgebrochenen 
Irreseins  darstellt. 

Eine  dem  Alkoholismus  in  vieler  Beziehung  durchaus  analoge 
und  an  Häufigkeit  noch  immer  mit  erschreckender  Schnelligkeit  zu- 
nehmende psychische  Entartungsform  haben  uns  die  letzten  Jahr- 
zehnte in  der  Morphiumsucht  kennen  gelehrt,  wie  sie  sich  bei 
lange  fortgesetztem  Gebrauche  von  Morphiumeinspritzungen  ent- 
wickelt. Auch  beim  Morphium  begegnen  wir  im  AJlgemeiaen  einer 
"Verbindung  von  lähmenden  und  erregenden  Wii-kungen  des  Giftes 
auf  das  centrale  Nervensystem;  wie  es  indessen  scheint,  betreffen 
die  ersteren  mehr  die  motorischen,  die  letzteren  mehr  die  sensori- 
schen und  intellectuellen  Leistungen.  Da  das  anfängliche  Wohl- 
behagen schon  nach  einigen  Stunden  einer  sehr  quälenden  Erschlaf- 
fung und  Depression  weicht,  die  nur  durch  das  Mittel  selbst  wieder 
beseitigt  werden  kann,  so  bildet  sich  überall  dort,  wo  dem  Kranken 
das  Morphium  zugänglich  ist,  ein  beständiger  Wechsel  zwischen 


Vergiftungen. 


25 


scheinbarem  Wohlbefinden  unter  dem  Einflüsse  des  Giftes  und  jenem 
unangenehmen  Nachstadium  des  morphinistischen  Katzenjammers 
heraus.  Dazu  kommt,  dass  mit  der  Zeit  eine  wachsende  Gewöhnung 
an  das  Mittel  eintritt,  welche  gebieterisch  eine  oft  ins  Unglaubliche 
gehende  Erhöhung  der  Dosis  fordert.  Auf  diese  Weise  entsteht  das 
Bild  des  chronischen  Morphinismus  mit  seinen  schweren  Folgen  für 
die  körperliche,  intellectuelle  und  moralische  Leistungsfähigkeit,  mit 
dessen  Betrachtung  im  Einzebien  wir  uns  späterhin  noch  sehr  ein- 
gehend zu  beschäftigen  haben  werden. 

Zur-  Milderung  der  Abstinenzsymptome  bei  der  Morphiument- 
ziehung ist  in  neuerer  Zeit  das  Cocain  vielfach  in  Anwendung 
gezogen  worden.  Niir  zu  bald  hat  sich  indessen  herausgestellt,  dass 
dieses  Mittel  noch  schlimmere  Gefahren  mit  sich  führt,  als  das 
Moi-phium.  Die  psychische  Degeneration  des  Cocainisten  schreitet 
weit  rascher,  nicht  nur  als  beim  Morphinisten,  sondern  auch  als  beim 
Trinker  fort,  und  führt  sehr  bald  zu  hochgradigster  Abschwächung 
der  gesammten  psychischen  Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit. 
Ausserdem,  aber  entwickelt  sich  unter  dem  Einflüsse  jenes  Giftes 
ein  typisches  Krankheitsbild,  welches  die  Züge  des  acuten  hallu- 
cinatorischen  Wahnsinns  in  ganz  eigenartiger  Gestaltung  ti'ägt. 

In  grösster  Ausdehnung  werden  ferner  noch  das  Opium,  das 
Haschisch,  der  Fliegenschwamm  und  eine  Eeihe  ähnlicher 
Droguen  in  yerschiedenen  Ländern  zur  Erzeugung  narkotischer 
Rauschzustände  gewohnheitsmässig  angewandt;  alle  diese  Genuss- 
mittel führen  bei  dauerndem  Missbrauche  ähnliche  Entartungszustände 
herbei,  wie  die  bisher  genannten.  Yereinzelte  derartige  Beobacht- 
ungen liegen  bei  uns  auch  für  die  gewohnheitsmässige  Einathmung 
des  Chloroforms  und  Aethers  vor;  der  letztere  hat  in  manchen 
Gegenden  Irlands  bereits  vollständig  die  EoUe  des  Alkohols  über- 
nommen. Zu  lange  fortgesetzte  Anwendung  der  Bromsalze  führt 
eine  Abschwächung  der  psychischen  Leistungen  bis  zur  völligen 
Demenz  mit  gleichzeitigen  nervösen  Lähmungserscheinungen  herbei. 
Yorübergehende  deliriöse  Verwirrtheit  mit  heiterer  oder  ängstlicherEr- 
regungimd  zuweilen  auch  Sinnestäuschungen  hat  man  bei  sehr  verschie- 
denartigen Yergif  tun  gen  gelegentlich  auftreten  sehen  (Hyoscyamus, 
Datura,  Atropa, .Conium,  Chinin,  Chloralhy drat,  Jodoform^ 
Salicylsäure,  Wurstgift  u.  s.w.).  Endlich  ist  noch  zu  erwähnen, 
dass  man  auch  übermässigen  Tabaksgenuss,  namentlich  das  Kauen 


26 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


Yon  Schnupftabak  bei  Seeleaten,  wie  er  zweifellos  nervöse  Störungen 
hervorzurufen  im  Stande  ist  (Amblyopie),  in  ätiologische  Beziehungen 
zum  Irresein  gesetzt  hat.  Derselbe  soll  nicht  nur  unter  den  Ent- 
stehungsursachen der  Dementia  paralytica  eine  gewisse  Eolle  spielen, 
sondern  eine  eigenartige  Psychose  erzeugen  können,  Avelche  im  Be- 
ginne mit  Sinnestäuschungen  und  depressiver,  später  expansiver  Ver- 
stimmung einhergeht,  schliesslich  aber  zur  allmählichen  Verblödung 
führt. 

Von  metallischen  Giften  stehen  besonders  das  Blei  und  das 
Quecksilber  in  näherer  Beziehung  zu  psychischen  Störungen; 
beide  scheinen  direct  auf  die  Nervensubstanz  der  Hirm'inde  einzu- 
wirken. Die  Erscheinimgen  der  „Encephalopathia  saturnina"  bestehen 
hauptsächlich  in  vorübergehenden  verwirrten,  expansiven  oder  de- 
pressiven Auiregungszuständen  mit  Sinnestäuschungen,  die  nicht 
selten  mit  stuporösen  oder  komatösen,  bisweilen  sehr  schweren  Zu- 
fällen abwechseln  und  von  epileptiformen  Krämpfen  begleitet  sind. 
Die  mercuriellen  Psychosen  bieten  hauptsächlich  die  Symptome  sehr 
erhöhter  Keizbarkeit  dar,  Schreckhaftigkeit,  Verlegenheit,  Verwirrt- 
heit, ängstliche  Träume  und  Schlaflosigkeit,  Sinnestäuschungen.  Auf 
dieser  Grundlage  können  dann  weiterhin  Aufregungszu stände  ver- 
schiedener Art,  oder  aber  eiue  allmähliche  Abnahme  aller  psychischen 
Leistungen  zur  Entwickelung  gelangen,  Schwäche  des  Gedächtnisses 
und  Urtheils,  Gemüthsstumpfheit  und  Apathie. 

Organerkrankimgen.  Eines  der  schwierigsten  und  umstrittensten 
Capitel  in  der  Aetiologie  der  Psychosen  ist  die  Lehre  von  dem  Ein- 
flüsse einzelner  Organerkrankungen.  Hier  ist  der  Zusammenhang 
näturgemäss  stets  ein  sehr  verwickelter,  selbst  durch  die  statistische 
Methode  nicht  immer  sicher  nachweisbarer,  so  dass  die  Deutung  der 
einzelnen  Erfahrung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zumeist  dem  per- 
sönlichen Ermessen  des  Beobachters  überlassen  bleibt.  Unter  den 
Erkrankungen  der  Sinnesorgane  sind  es  namentlich  Ohrenleiden, 
welchen  ein  Einfluss  auf  die  Entstehung  von  Psychosen  zuzukom- 
men scheint.  Einerseits  findet  man  bei  Gehörshallucinanten  so  häufig 
alte  Mittelohrerkrankungen  mit  Veränderungen  der  elektrischen 
Acusticusreaction*),  dass  man  sich  der  Annahme  eines  gewissen  Zu- 
sammenhanges nicht  wol  erwehren  kann,  dann  aber  sieht  mau  bis- 


*)  Buccola,  Eivista  di  freniatria  sperimeatale,  1885,  1. 


Organerkrankungeu. 


27 


weilen  bestehende  subjective  Geräusche  mit  der  Entwickelung  psy  ch- 
ischer  Störungen  sich  verschlechtern  und  wieder  bessern  (gemein- 
same Ursache?).  Endlich  hat  man  hier  und  da  auch  ängstliche 
Aufregungszustände  bei  acuteren  oder  bei  Verschlimmerung  chro- 
nischer Ohrenleiden  beobachtet.  Augenerkrankungen  pflegen,  soweit 
sie  nicht  Theilerscheinungen  eines  Gehirnleidens  sind,  in  keiner 
näheren  Beziehung  zum  Irresein  zu  stehen.  Man  hat  indessen  nach 
Katai-aktoperationen  und  überhaupt  nach  längerem  Aufenthalte  im 
Dnnkelzimmer*)  deliriöse  Zustände  mit  lebhaften  Sinnestäuschungen, 
namenthch  des  Gesichtes,  aber  auch  des  Gehörs,  seltener  reine  Ge- 
sichtshallucinationen  bei  klarem  Bewusstsein  auftreten  sehen ,  welche 
eine  interessante  Analogie  mit  den  in  der  Einzelhaft  beobachteten 
Störungen  darbieten.  Hier  wie  dort  scheint  der  Ausschluss  ge- 
wohnter Sinnesreize  das  Auftreten  der  Trug  Wahrnehmungen  zu  be- 
günstigen. Im  Uebrigen  sind  hier  vor  AUem  das  Greisenalter,  in 
zweiter  Linie  schlechte  Ernährung,  Gemüthsbewegungen,  bisweilen 
wol  auch  alkoholische  Gewohnheiten  als  Entstehungsursachen  zu 
berücksichtigen. 

Von  den  Lungenaffectionen  haben  wir  die  Taberculose  und 
die  fieberhaften  acuten  Erkrankungen  schon  oben  erwähnt;  es  lässt 
sich  über  sie  weiter  nicht  viel  sagen,  als  dass  die  Verkleinerung 
der  Athmungsüäche  mit  ihren  Folgen  für  den  Gasaustausch,  dann 
aber  die  Beklemmungsgefühle  bei  emphysematischen  und  namentlich 
asthmatischen  Beschwerden  wol  auch  auf  den  Ablauf  der  psych- 
ischen Vorgänge  einigen  Binüuss  gewinnen  können. 

Herzleiden**)  scheinen  bei  Geisteskranken  etwas  häufiger 
vorzukommen,  als  sonst;  sie  dürften  einmal  (bei  Hypertrophie  des 
linken  Ventrikels)  durch  gelegentliche  active  Hyperämien,  dann  aber 
(bei  uncompensirten  fflappenfehlern,  bei  Perikarditis  und  Entartung 
des  Herzmuskels)  durch  venöse  Stauungen  und  allgemeine  Ab- 
schwächung  des  Blutkreislaufes  von  Bedeutung  werden.  Im  ersteren 
Falle  scheinen  vorzugsweise  Aufregungszustände,  im  letzteren  häufiger 
depressive  Formen  zur  Ausbildung  zu  kommen.   Als  Andeutung  der- 


*)  V.  Frankl-Hochwart,  Jahrbücher  f.  Psychiatrie  IX,  1  u.  2,  1889. 
**)  Witkowski,  AUgem.  Zeitschr.  f.  Psychiati'ie,  XXXII,  p.  347.  Karrer 
in  Hagen,  Statistische  Untersuchungen  über  Geisteski-ankheiten.  1876.  Mickle, 
Goulstonian  lectures,  März  1888. 


28 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


artiger  Einwirkungen  darf  wol  schon  die  in  der  Breite  des  Normalen 
gelegene  bekannte  gemüthliche  Keizbarkeit  Herzkranker  gelten.  Dass 
ausserdem  die  BeHemmungsgefühle  und  das  Herzklopfen  nicht  ohne 
Einfluss  sind,  ist  sehr  wahrscheinüch.  Ungenügend  studirt  ist  bis- 
her noch  die  Bedeutung  der  Gef  ässerkrankungen  bei  Psychosen. 
Zwar  werden  circulatorische  und  vasomotorische  Störungen,  deren 
Bestehen  im  einzelnen  Falle  sich  kaum  beweisen  noch  widerlegen 
lässt  bei  jeder  Gelegenheit  für  die  widersprechendsten  Erscheinungen 
verantwortlich  gemacht,  aUein  unsere  Kenntniss  der  thatsächlichen 
pathologisch-anatomischen  Yerhältnisse  lässt  noch  Yieles  zu  wünschen 
übrig.  Nur  bei  Lues,  Alkoholismus,  Dementia  senilis.  Dementia 
paralytica  sind  ausgedehnte  und  tiefgTeifende  Yeränderungen  an  den 
Gefässen  beschrieben,  die  ohne  Zweifel  zu  den  Entartungsvorgängen 
in  der  Hirnrinde  in  nahen  Beziehungen  stehen. 

Vielleicht  dürfen  wir  an  dieser  Stelle  auch  der  eigenthümlichen 
psychischen  Störungen  gedenken,  welche  man  im  Zusammenhange 
mit  Schilddrüsenerkrankungen  beobachtet  hat.  Bei  jugendlichen 
Individuen  erzeugt  die  Atrophie  oder  Degeneration  jenes  Organs  di& 
kretinistische  Entartung  des  gesammten  Organismus,  wie  sie  neuer- 
dings von  Grützner  experimenteU  bei  Thieren  erzeugt  worden  ist. 
Auch  ich  sah  Zurückbleiben  des  Körperwachsthums  nach  Heraus- 
nahme der  Schilddrüse  bei  einem  jungen  Fuchse.   Dagegen  steUt 
sich  beim  Erwachsenen  nach  operativer  Entfernung  der  ganzen 
Schilddrüse  das  Bild  der  Kachexia  sti:umipriva  ein,  dessen  wesent- 
üche  Züge  in  einem  allmählich  fortschreitenden  Schwachsinn  mit 
myxödematösen  Veränderungen  der  Haut  und  gewissen  nervösen 
Reizerscheinungen  (Krampfan fäUe,  Tetanie)  bestehen.    Eine  nahe 
Verwandtschaft  zu  diesem  Krankheitsbild  zeigt  dasjenige  des  spon- 
tanen Myxödems,  welches  höchst  wahrscheinlich  durch  eine  Atrophie 
der  Schilddrüse  zu  Stande  kommt.  Hier  gesellen  sich  zu  dem  leich- 
teren oder  schwereren  Schwachsinn  noch  die  Erscheinungen  einer 
psychischen  Depression,  nicht  selten  auch  lebhafte  Angstzustände 
hinzu.    Als  die  gemeinsame  Grundlage  aller  dieser  Störungen  sind 
wol  Blutveränderungen  anzusehen,  welche  durch  den  Ausfall  der 
Schüddrüsenfunction  herbeigeführt  werden.    Möglicherweise  spielt 
die  gleiche  Ursache  beim  Zustandekommen  jener  psychischen  Al- 
terationen eine  Rolle,  die  wir  beim  Morbus Basedowii  gelegentüch 
beobachten;  freilich  kommen  dabei  wol  auch  vasomotorische  uud 


Organerkrankimgen. 


29 


Herzinnervationsstörungen  iu  Betracht.  Am  häufigsten  sind  es  die 
Erscheinungen  einer  Herabsetzung  der  psychischen  Widerstands- 
fähigkeit, die  uns  hier  begegnen,  erhöhte  gemüthliche  Keizbarkeit, 
Stimmungswechsel  und  grosse  Ermüdbarkeit. 

Eine  sehr  weitgehende  ursächliche  Bedeutung  hat  man  von  jeher 
den  Erkrankungen  desYerdauungstractus  zugeschrieben ;  nament- 
lich in  der  älteren  Psychiatrie  spielten  die  Hämorrhoiden,  die  Stau- 
ungen im  Pfortadersystem,  die  „Verstimmungen"  der  Unterleibs- 
geflechte eine  sehr  grosse  RoUe.    In  der  That  ist  der  Einfluss  schon 
leichter  Yerdauungsstörungen  auf  das  aUgemeine  psychische  Wohl- 
befinden, namentlich  bei  nervös  veranlagten  Personen,  ein  ganz 
unverkennbarer.    Es  scheint  sich  hei  diesem  Zusammenhange  einer- 
seits um  die  psychische  Wirkung  unangenehmer  dauernder  Organ- 
gefühle, dann  aber  vielleicht  auch  um  Störungen  der  Blutvertheüung 
im  Organismus  durch  Stauungen  in  den  grossen  abdominellen  Venen- 
plexus  zu  handeln.    Für  letztere  Erklärung  spricht  die  bekannte 
Erfahrung  von  Nicolai  (des  „Proktophantasmisten"  aus  Groethe's 
Walpurgisnacht),  dessen  Hallucinationen  durch  eine  Blutentziehung 
am  After  verschwanden.    Bei  chronischen  Magen-  und  Darmleiden 
kommt  als  wichtiges  ursächliches  Moment  noch  die  empfindliche 
Beeinträchtigung  der  allgemeinen  Ernährung  hinzu,  auf  die  natür- 
lich das  Centraiorgan  des  Bewusstseins  ebenfalls  durch  Störungen 
in  den  psychischen  Leistungen  antwortet.  Verdauungsanomalien 
sind  bei  allen  frischen  Greisteskrankheiten  fast  ausnahmslos  vor- 
handen, aber  sie  sind  hier  sicherlich  vielfach  als  Folge  der  psychisch 
bedingten  IJnregehnässigkeiten  in  der  Nahrungsaufnahme  und  nicht 
als  Ursache  derselben  anzusehen,  wenn  sie  auch  im  weiteren  Ver- 
laufe natürlich  für  die  Entwickelung  des  Zustandes  von  sehr  grosser 
Bedeutung  werden  können.    Bei  schwerem  Darniederliegen  aRer 
psychischen  Leistungen  scheint  allerdings  häufiger  Herabsetzung  der 
Salzsäureabscheidung  im  Magen  vorzukommen;  auch  starke  Schwank- 
ungen des  Salzsäuregehaltes  im  Magensaft  sind  bei  verschieden- 
artigen Geistesstörungen  nicht  selten.*)    Parasiten  im  Darm  können 
durch  die  Beeinträchtigung  der  Ernährung,  mehr  wol  noch  auf  dem 
Wege  reflectorischer  Reizung  bei  Kindern  deliriöse  Erregungs- 


*)  Leubuschor  und  Zielaen,  Klinische  Untersuchiuigen  über  die  Salz- 
säureabscheidung des  Magens  bei  Geisteskranken,  1892. 


30 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


zustände,  auch  Pruritus  in  den  Genitalien  und  allerlei  Stimmungs- 
anomalien  herbeiführen. 

Unter  den  Nierenerkrankungen*)  dtirften  hauptsächlich  die- 
jenigen in  Anschlag  zu  bringen  sein,  die  eine  dauernde  Verkleiner- 
ung der  secretorischen  Fläche  erzeugen  und  somit  zur  Entstehung 
von  acuten  oder  chronischen  urämischen  Yergiftungen  Anlass 
geben.  Der  psychischen  Erscheinungen  ist  bereits  kurz  gedacht 
worden. 

Weitaus  die  grösste  Beachtung  haben  von  Seiten  der  Irrenärzte 
im  Hinblick  auf  die  Entstehung  des  Irreseins  die  mannigfaltigen 
physiologischen  und  pathologischen  Yorgänge  in  den  Genital- 
organen  gefunden.  Die  nahen  Beziehungen,  in  welchen  das  Ge- 
schlechtsleben zu  dem  psychischen  AUgemeinzustande  des  Menschen 
steht,  wird  ja  auf  das  Beste  durch  die  eigenthümlichen  Wandlungen 
der  Pubertäts-  und  der  Involutionsperiode,  durch  die  Charakter- 
veränderung der  Castraten  und  endüch  durch  die  Schwankungen 
des  gemüthlichen  Gleichgewichtes  bezeugt,  welche  schon  normaler 
Weise  den  Ablauf  der  sexuellen  Functionen  begleiten.  Es  ist  daher 
wol  begreiflich,  dass  Krankheitszustände  im  Bereiche  der  Geschlechts- 
organe einen  entscheidenden  Einfluss  auf  das  psychische  Leben  aus- 
zuüben vermögen,  wenn  auch  der  Zusammenhang  im  Einzelnen 
bisher  nur  mit  Hülfe  mehr  oder  weniger  wahrscheinlicher  Yer- 
muthungen  construirt  werden  kann. 

Als  eine  erste  Gruppe  von  Schädlichkeiten,  die  hier  in  Beti-acht 
kommen,  hat  man  geschlechtliche  Ausschweifungen  und 
Onanie**)  bezeichnet.  Yon  vornherein  ist  sehr  zu  beachten,  dass 
in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  diese  Yorgänge  nicht 
so  wol  die  Ursache  des  Irreseins,  als  viehnehr  einfach  Anzeichen 
einer  erhöhten  nervösen  Reizbarkeit,  einer  krankhaften  Anlage  dar- 
steUen.  Sie  werden  in  der  Eegel  nur  dort  eine  sehr  erhebüche 
Ausdehnung  gewinnen  und  nur  dort  einen  wii'klich  verderblichen 
Einfluss  auszuüben  vermögen,  wo  sie  auf  bereits  prädisponii-tem 
Boden  erwachsen  sind.  Andererseits  werden,  namentiich  von  Me- 
lancholikern, Neurasthenischen,  hypochondrischen  Paralytikern  häufig 
in  offenbar  krankhafter  Weise  Jahre  oder  gar  Jahrzehnte  zurück- 

'  *)R^en,  ADgem.  Zeitsclir.  f.  Psychiatrie.  XXXVm,  1;  Vassale,  Eivista 
sperimentale  di  freniatria  XVI,  1890. 

**)  V.  Krafft-Ebing,  Allgem.  Zeitsctr.  f.  Psychiatrie,  XXSI,  4. 


Organerkrankungen . 


31 


liegende  „Jugendsünden"  als  die  Ursache  ihrer  Leiden  angegeben; 
die  Leetüre  einer  gewissen  Klasse  von  Schriften,  welche  die  Folgen 
der  Onanie  in  den  grellsten  Farben  schildern,  liefert  dazu  nicht 
selten  die  Anregung. 

Dennoch  lässt  sich  die  Möglichkeit  einer  gelegentlichen  wirk- 
lichen Schädigung  des  Nei-pensystems  durch  die  hier  besprochenen 
Ursachen  nicht  ganz  in  Abrede  stellen,  zumal  ja  auch  auf  diesem 
Gebiete  ohne  Zweifel  das  Mass  der  individuellen  Leistungs-  und 
"Widerstandsfähigkeit  ein  äusserst  verschiedenes  ist.  Es  wäre  denk- 
bar, dass  einmal  (wol  nur  bei  Männern  und  im  jugendlichen  Alter) 
der  Säfteverlust  eine  gewisse  Bedeutung  für  die  Gesammternährung 
gewinnen  kann;  es  wäre  ferner  möglich,  dass  die  häufige  starke 
Erregung  des  Nervensystems  die  allgemeine  Reizbarkeit  desselben 
steigert  und  seine  Widerstandsfähigkeit  herabsetzt.  Dann  ist  aber 
namentlich  noch  auf  die  psychische  Bedeutung  aller  triebartig  ge- 
wordenen, eingewui-zelten  Leidenschaften  hinzuweisen,  auf  den  ent- 
sittlichenden Einfluss,  welchen  das  stete  Unterliegen  im  fruchtlosen 
Kampfe  mit  übermächtig  angewachsenen  Antrieben  auf  die  Charakter- 
festigkeit des  Individuums  ausübt.  Gerade  in  dieser  letzteren  Be- 
ziehung dürfte  die  Masturbation  weit  verderblicher  wirken,  als  der 
normale  Geschlechtsverkehr,  da  sie  ja  ihr  Ziel  viel  häufiger  und 
leichter  zu  erreichen  vermag,  als  der  letztere.  Beachtenswerth  sind 
übrigens  auch  wegen  ihrer  offenbar  psychisch-nervösen  Entstehungs- 
weise jene  vereinzelten  Beobachtungen,  m  denen  (namentlich  bei 
jungen  Frauen)  der  erste  Coitus  acute  Aufregungszustände  herbei- 
führt. Allerdings  waren  in  einem  derartigen  Falle  meiner  Beobach- 
tung die  Anzeichen  einer  beginnenden  Psychose  schon  vor  der 
Hochzeit  vorhanden,  ja  man  hofi'te  thörichter  "Weise,  die  Erkrankung 
durch  die  Heirath  heilen  zu  können. 

Aus  dem  Umstände,  dass  regelmässig  die  Hauptursache  der  aus 
der  Masturbation  hervorgehenden  Geistesstörungen  in  der  psycho- 
pathischen Yeranlagung  des  Erkrankten  liegt,  erklärt  sich  die  Mannig- 
faltigkeit der  hier  beschriebenen  Krankheitsbilder,  in  deren  Zügen 
eben  zumeist  einfach  die  psychische  Entartung  sich  ausprägt.  Am 
häufigsten  wird  bei  Onanisten  eine  fortschreitende  Abnahme  der 
psychischen  Leistungsfähigkeit  berichtet,  Unvermögen  zur  Auffassung 
\md  geistigen  Verarbeitung  äusserer  Eindrücke,  Gedächtnissschwäche, 
Interesselosigkeit,  Gemüthsstumpfheit;  in  anderen  Fällen  treten  mehr 


32 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


die  Erscheinungen  erhöhter  Reizbarkeit  in  den  Vordergrund,  barocke 
Ideenverbindungen,  Neigung  zu  Mysticismus  und  exaltirter  Schwär- 
merei oder  hypochondrische  und  melancholische  Verstimmung.  Dazu 
gesellen  sich  dann  mannigfaltige  nervöse  Störungen,  besonders  ab- 
norme Gemeinempfindungen,  aus  denen  sich  nicht  selten  unsinnige 
Wahnideen  von  dämonischer  oder  geheimnissvoller  physikalischer 
(magnetischer,  elektrischer,  sympathischer)  Beeinflussung  heraus- 
entwickeln. Wir  erkennen  darin  unschwer  das  Bild  der  Dementia 
praecox  und  der  ihr  verwandten  Krankheitszustände. 

Auch  die  geschlechtliche  Enthaltsamkeit  ist  bisweilen  unter 
den  Ursachen  des  Irreseins  aufgeführt  worden.    Leider  sind  alle 
statistischen  Belege  über  die  Erkrankungshäufigkeit  der  Ehelosen 
u.  s.  f.  für  die  Entscheidung  dieser  Frage  aus  nahe  liegenden  Gründen 
von  nur  sehr  zweifelhaftem  Werth.    Im  Allgemeinen  lehrt  indessen 
die  Erfahrung,  dass  bei  gesunden  Individuen  nach  länger  dauernder 
Enthaltsamkeit  aUmählich  die  geschlechtüche  Erregbarkeit  abnimmt, 
dass  die  Natur  somit  selber  die  hier  etwa  drohenden  Gefahren  be- 
seitigt.  Etwas  anders  liegen,  wie  es  scheint,  die  Dinge  bei  psycho- 
pathisch veranlagten  Personen.  Erzwungene  Enthaltsamkeit,  nament- 
lich nach  vorheriger  Gewöhnung  an  geschlechtliche  Befriedigung, 
disponirt  hier  jedenfalls  zur  Onanie  und  kann  auf  diese  Weise  ver- 
derbliche Folgen  nach  sich  ziehen,  wenn  man  auch  andererseits  bei 
Menschen  mit  krankhafter  sexueUer  Eeizbarkeit  häufig  genug  die 
Masturbation  neben  und  trotz  geregelten  geschlechtüchen  Verkehi-s 
sich  entwickeln  sieht.    Wo  die  Enthaltsamkeit  eine  freiwilHge  ist, 
muss  sie  wel  richtiger  als  Folge  und  nicht  als  Ursache  einer  krank- 
haften Anlage  aufgefasst  werden,  die  ja  so  oft  mit  unvollständiger 
Ausbildung  der  Genitalorgane  und  des  Geschlechtstriebes  einhergeht. 
Eine  nicht  unbedeutende  RoUe  bei  der  Entstehung  mannigfacher 
nervöser  und  psychischer  Störungen  scheinen  aber  nach  vielfachen 
Erfahrungen  für  das  weibliche  Geschlecht  häufige  sexuelle  Reizungen 
ohne  gehörige  Befriedigung  zu  spielen,  wie  sie  mit  der  Dm-chführung 
des  „Zweikindersystems"  nicht  selten  verbunden  sind. 

Beim  weiblichen  Geschlechte  pflegt  schon  der  physiologische 
periodische  Vorgang  der  Ovulation  regelmässig  von  einer  leichten 
Steigerung  der  nervösen  und  psychischen  Reizbarkeit  begleitet  zu 
sein,  die  bei  einzelnen  Individuen  sogar  fast  kranldiafte  Grade 
(äusserste    Verstimmung,    lebhafte    Erregung)    erreichen  kann. 


Organerkranlcungen. 


33 


Störungen  der  Menstruation*)  scheinen  nicht  selten  in  einem 
gewissen  Zusammenhange  mit  psychischen  Zustandsveränderungen 
zu  stehen;  so  hat  man  nach  plötzlichem  Aufhören  der  Menses  in 
einzelnen  Fällen  tobsüchtige  Aufregungen  mit  den  Erscheinungen 
der  Himcongestion,  andererseits  bei  Menorrhagien  solche  mit  den 
Zeichen  der  acuten  Anämie  auftreten  sehen.  Namentlich  im  Ver- 
laiife  psychischer  Störungen  ist  recht  häufig  eine  Yeränderuug  des 
Krankheitsbildes  mit  dem  Wiedereintritte  der  cessirenden  oder  dem 
Aufhören  der  so  lange  regelmässigen  Menses  nicht  zu  verkennen. 
Allein  es  muss  für  die  unbefangene  Würdigung  derartiger  Yor- 
kommnisse  stets  der  Umstand  im  Auge  behalten  werden,  dass  er- 
fahrungsgemäss  den  psychischen  Yorgängen  ein  entschiedener  Ein- 
fluss  auf  die  menstruelle  Blutung  zukommt  und  somit  die  Fest- 
stellung des  wirklichen  Zusammenhanges  hier  durchaus  nicht  immer 
zweifellos  ist.  Yasomotorische  Yorgänge  düi^fen  vielleicht  als  die 
Orundlage  dieser  wechselseitigen  Beziehungen  angesehen  werden; 
dass  profuse  Blutungen  auch  durch  acute  oder  chronische  Anämi- 
sirung  des  Gesammtorganismus  wirken  können,  wurde  bereits  an- 
gedeutet. 

Nicht  selten  sind  bekanntlich  die  Menstruationsstörungen  nur 
Begleiterscheinungen  von  Erkrankungen  der  Genitalorgane,**) 
unter  denen  namentlich  chronische  Entzündungen,  Lageveränderungen, 
Geschwülste  des  Uterus  von  Wichtigkeit  sind.  Allen  derartigen 
Leiden,  wie  auch  denjenigen  der  Ovarien  und  Tuben,  dem  Pruritus 
vulvae,  Yaginismus  hat  man  vielfach  eine  grosse  Bedeutung  für  die 
Entstehung  des  Irreseins  zugeschrieben,  die  man  sich  durch  die 
Annahme  einer  Ausstrahlung  der  bestehenden  Eeizungszustände  auf 
das  Centraiorgan  des  Bewusstseins  zu  erklären  suchte.  Diese  An- 
sicht stützt  sich  zunächst  auf  gewisse  Beobachtungen,  in  denen  durch 
das  Einlegen  eines  passenden  Pessariums,  durch  die  Behandlung 
eines  Cervicalkatarrhs  und  dergleichen  eine  bestehende  Psychose 
gebessert  oder  gar  zur  Heilung  gebracht  wurde.    Im  Allgemeinen 

*)  V.  Krafft-Ebing,  Archiv  f.  Psychiatrie,  VEI,  1;  Powers,  Beitrag  zur 
Kenntniss  der  menstrualea  Psychosen,  Diss.  1883. 

**)  L.  Mayer,  Die  Beziehungen  der  ki-ankhaften  Zustände  und  Yorgänge  in 
den  Sexualorganen  des  Weibes  zu  Geistesstörungen.  1870;  Hegar,  Der  Zusam- 
menhang der  Geschlechtskrankheiten  mit  nervösen  Leiden  und  die  Castration  bei 
Neurosen.  1885. 

Kraepelin,  Psychiatrie.  4.  Anfl.  3 


2^  I.  Allgemeine  Aetiologie. 

dürfte  in  allen  solchen  Fällen  stets  die  Hauptursache  der  Geistes- 
störung in  der  krankhaften  Anlage  des  Individuums  gelegen  sein, 
von  der  wir  ja  wissen,  dass  sie  unter  dem  Einflüsse  der  verschie- 
densten Anlässe,  ja  „von  selbst",  d.  h.  durch  die  Wirkung  der  nor- 
malen Kelze  des  täglichen  Lebens,  zum  Irresein  führen  kann.  Dass 
darum  die  therapeutische  Beachtung  solcher  Keizmomente  trotzdem 
von  grosser  praktischer  Wichtigkeit  werden  kann,  bedarf  keiner 
weiteren    Erörterung.    Als    der   psychopathische   Ausdruck  der 
genanuten    ursächlichen    Erkrankungen    wird  vielfach  noch  das 
formenreiche  Krankheitsbüd  der  Hysterie  betrachtet,  weü  gerade 
bei  diesem  Leiden  durch  die  Beseitigung  leichterer  oder  schwererer 
körperücher  Störungen  ausserordentüch  überraschende  Besserungen 
des  Gesammtzustandes  erreicht  werden.    Man  hat  daher  zur  Heilung 
Hysterischer  nicht  selten  die  operative  Entfernung  erkrankter  oder 
sogar  gesunder  Ovarien  ausgeführt.  Auf  der  anderen  Seite  ist  es  indessen 
bemerkenswert!!,  dass  gerade  im  Anschlüsse  an  grosse  gynäkologische 
Operationen  mehrfach  das  Auftreten  psychischer  Erkrankung  be- 
obachtet worden  ist  (künstliches  Klimakterium).   Den  Geschlechts- 
leiden bei  Männern  scheint  eine  irgend  erhebüche  ursächliche  Be- 
deutung für  das  Irresein  nicht  zuzukommen. 

Schwangerschaft,  Wochenbett  und  Sängegeschäft.  Dagegen 
zeigt  sich  die  hervorragende  KoUe,  welche  das  Geschlechtsleben  auch 
für  die  psychische  Persönlichkeit  des  Weibes  spielt,  weiterhin  in 
jener  Gruppe  von  Geistesstörungen,  deren  Entwickelung  sich  im  Zu- 
sammenhange mit  den  verschiedenen  Phasen  des  Portpflanzungs- 
geschäftes, der  Schwangerschaft,  dem  Wochenbett  und  der  Lactation 
vollzieht.*)    Die  Angaben  über  die  Häufigkeit  dieser  Ursachen  beim 
Zustandekommen  psychischer  Erkrankungen  gehen  ziemlich  weit 
auseinander;  im  Mittel  sind  etwa  U%  aUer  in  Irrenanstalten  be- 
obachteten Geistesstörungen  beiPrauen  auf  dieselben  zurückzuführen. 
Davon  kommen  S^/o  auf  die  Schwangerschaftspsychosen.  Der 
ursächliche  Zusammenhang  scheint  während  dieser  Zeit  hauptsäch- 
lich durch  die  Yeränderungen  in  Mischung  (Abnahme  der  Blut- 
körperchen und  der  Salze,  Yermehrung  des  Pibrins)  und  Circulation 
der  Ernährungsflüssigkeit  (Ausbüdung  des  Placentarkreislaufs)  ver- 

*)  Fürstner,  ArcHv  f.  Psychiatrie,  V,  505;  Eipping,  Die  Geistssstönmgen 
der  Schwangeren,  Wöchnerinnen  und  Säugenden.  1877. 


Schwangerschaft,  Wochenbett  und  Säugegeschäft. 


35 


mittelt  zu  werden,  doch  dürfte  auch,  namentlich  bei  erstmalig  und 
bei  unehelich  Schwangeren,  den  psychischen  Momenten  (Schweben 
zwischen  Hoffnung  und  Furcht  vor  den  Gefahren  der  Geburt,  Sorgen 
u.  s.  f.)  ein  gewisser  Einfluss  zuzuschreiben  sein.  Die  Form  der 
Erki-ankung  ist  meist  eine  melancholische  Verstimmung  von  ver- 
schiedener Intensität ;  ich  sah  bei  einer  Frau  in  mehreren  Schwanger- 
schaften wiederholt  rasch  verlaufende,  deliriöse  Aufregungszustände 
eintreten.  Am  günstigsten  gestalten  sich  die  in  den  ersten  Monaten 
zur  Entwickelung  gelangenden  Störungen;  die  später  beobachteten 
pflegen  länger  zu  dauern.  Durch  die  Geburt  wird  die  Psychose  ge- 
wöhnlich nicht  erheblich  beeinflusst ;  vielmehr  geht  jene  meist  ohne 
besondere  Eeactionserscheinungen  von  statten.  In  einem  von  mir 
beobachteten  Falle  gebar  eine  stuporös-melancholische  Frau  ihr  todtes 
Kind  in  den  Nachtstuhl,  ohne  einen  Laut  von  sich  zu  geben,  so  dass 
man  erst  später  durch  die  Blutmig  auf  das  Ereigniss  aufmerksam  wurde; 
auch  hier  dauerte  die  Geistesstörung  noch  mehrere  Monate  lang  fort. 
Keinesfalls  kann  daher  aus  dieser  letzteren  etwa  die  Indication  zur 
künstlichen  Frühgeburt  hergeleitet  werden. 

Weit  häufiger  (bei  6,80/0  aller  in  die  Irrenanstalten  aufgenom- 
menen Frauen;  unter  etwa  400  "Wöchnerinnen  bei  je  einer)  wird 
das  Wochenbett*)  Ursache  des  Irreseins.  Füx  die  Pathogenese 
ist  hier  einerseits  auf  die  Schmerzen,  den  Blutverlust,  die  raschen 
Kreislaufsänderungen,  sowie  auf  die  psychischen  Einwirkungen  des 
Geburtsactes  selbst  und  etwaiger  Störungen  bei  demselben  Gewicht 
zu  legen.  Unter  dem  Einflüsse  dieser  Ursachen  können  sich  wäh- 
rend der  Geburt  plötzliche  deüriöse  Aufregungszustände,  bisweilen 
mit  Neigung  zu  impulsiven  Gewaltacten  entwickeln,  die  gerade  des- 
wegen eine  grosse  forensische  Bedeutung  besitzen  und  meist  von 
sehr  kurzer  Dauer  sind  (einige  Stunden);  eine  Puerpera  meiner 
Beobachtung  stürzte  sich  in  einem  derartigen  Zustande  aus  dem 
Fenster  durch  das  darunter  befindliche  Glasdach  eines  Treibhauses. 
Andere  erdrosseln  ihre  Kinder  oder  lassen  dieselben  doch  unbeachtet 
ohne  Nahrung  und  Pflege  zu  Grunde  gehen. 

Die  eigentlichen  Puerperalpsychosen  dagegen  beginnen  gewöhn- 
lich erst  am  5.  bis  10.  Tage  des  Wochenbettes  (auch  bisweüen  nach 
einem  Abortus  mit  starkem  Blutverlust).    Sie  müssen  mit  den  mäch- 


*)  Hansen,  Zeitschr.  f.  Geburtshülfe  u.  Gynäkologie,  XV,  1. 

3* 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 

tigen  Umwälzungen  der  ersten  Tage  des  Wochenbettes  (Ausscheid- 
ungen, Gewichtsabnahme),  vielfach  auch  wol  mit  infectiösen  Er- 
krankungen der  Genitalorgane  in  Zusammenhang  gebracht  werden. 
Wo  schwere  infectiöse  Erkrankungen  zu  Grunde  liegen  —  l^Iastitis, 
Endokarditis  ulcerosa  (Westphal),  Parametiitis,  Perimeti^itis  und 
ähnliches  —  hat  die  psychische  Störung  natürlich  in  der  Eegel 
wesentlich  den  Charakter  der  Fieberdelirien  mit  baldigem  Ausgange 
in  komatöse  Zustände. 

Sonst  aber  sind  am  häufigsten,  besonders  bei  jüngeren  Indi- 
viduen, das  rasch  verlaufende  CoUapsdelirium  und  die  Amentia, 
der  ein  kurzes  Stadium  erhöhter  Keizbarkeit  in  depressivem  oder 
expansivem  Sinne,  Schlaflosigkeit,  Unruhe  vorherzugehen  pflegt.  In 
schweren  Fällen  kann  sich  an  die  anfängüchen  deliriösen  Aufi-egungs- 
zustände  ein  kürzeres  oder  längeres  Stadium  acuter  Demenz  an- 
schliessen,  aus  dem  die  Kranke  erst  ganz  allmählich,  nach  Monaten 
oder  selbst  Jahr  und  Tag,  wieder  erwacht.  Prognostisch  ungünstiger 
und  von  durchschnittlich  längerer  Dauer  sind  die  etwas  seltener  zur 
Beobachtung  kommenden  Melanchoüen,  die  sich  durch  die  Neigung 
zu  stuporösen  Zuständen  einerseits,  zu  impulsiven  Acten  ßlord, 
Selbstinord,    ti-iebartiges  Mastiu^biren)    andererseits  auszeichnen. 
Endüch  büdet  die  durch  das  Wochenbett;  hervorgerufene  Ernährungs- 
störung nicht  selten  die  Grundlage,  auf  welcher  sich  in  weniger  un- 
mittelbarem Anschlüsse  aUe   möglichen  Formen  psychischer  Er- 
krankung entwickeln  können.    Zweimal  sah  ich  das  Puerperium  den 
Anlass  zum  Ausbruche  einer  progressiven  Paralyse  geben;  ebenso 
scheint  der  Beginn  des  Wahnsinns  und  der  Verrücktheit  bisweilen 
mit  vorangegangenen  Wochenbetten  in  einem  gewissen  Zusammen- 
hange zu  stehen,  wenn  auch  dieselben  hier  sicherüch  nicht  als  die 
einzigen  Ursachen  der  Psychose  aufgefasst  werden  dürfen. 

In  der  Mitte  zwischen  den  Psychosen  der  Gravidität  und  des 
Puerperiums  stehen  nach  ihrer  Häufigkeit  (4,9o/o  aller  weiblichen 
Aufnahmen  in  Irrenanstalten)  die  psychischen  Erki-ankungeu  der 
Lactationsperiode.  Körperliche  Erschöpfung  durch  Wochenbett  imd 
das  Säugegeschäft,  ferner  örtüche  Erkrankungen  der  Genitaüen  smd 
hier  als  die  wesentlichen  ursächlichen  Momente  zu  beti-achten. 
Ausserdem  aber  spielt  die  psychopathische  Yeranlag-ung  eine  mass- 
gebende Rolle.  Dementsprechend  sehen  wk  neben  der  Amentia  häu- 
figer Melancholien  und  subacuten  hallucinatorischen  Wahnsinn  sich 


Schwangerschaft,  "Wochenbett  und  Säugegeschäft. 


37 


entwickeln.  Die  Zeit  des  Ausbruchs  der  Störung  ist  meist  der  3. 
bis  5.  Monat  nach  der  Entbindung. 

2.  Psychische  Ursachen. 

Schon  wiederholt  haben  wir  in  unserer  bisherigen  Darstellung 
Gelegenheit  gehabt,  neben  der  unmittelbaren,  körperlichen  Einwirkung 
der  besprochenen  Krankheitsursachen  auch  ihres  psychischen  Ein- 
flusses zu  gedenken.  Man  hat  von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
auch  wol  die  gemischten  Ursachen  als  eine  Zwischengruppe  zwischen 
den  körperlichen  und  den  psychischen  hingestellt.  Abgesehen  von 
der  aus  unserer  Grundanschauung  sich  mit  N^othwendigkeit  ergeben- 
den allgemeinen  Forderung,  dass  alle  Störungen  der  psychischen 
Leistungen  an  solche  der  Hirnthätigkeit  geknüpft  sein  müssen,  ist 
der  eigentliche  Mechanismus  der  psychischen  Einwirkungen  begreif- 
licherweise noch  völlig  unbekannt;  nur  einzelne  Glieder  des  ver- 
niutheten  Zusammenhanges  können  wir  mit  grösserer  oder  geringerer 
"Wahrscheinlichkeit  namhaft  machen.  So  geht  namentlich  der  Ein- 
fluss  der  AJfecte  regelmässig  mit  Yeränderungen  der  Circu- 
lation  und  Athmung  einher,  welche  ja  die  sphygmographische 
Untersuchung  schon  bei  den  leichtesten  Gemüthsbewegungen  ohne 
Schwierigkeit  nachweisen  lässt;  auch  Yerdauungsstörungen 
scheinen  durch  psychische  Ursachen  sehr  häufig  hervorgerufen  zu 
werden,  wie  die  alltägliche  Erfahrung  des  Appetitmangels  nach  hef- 
tigem Aerger  oder  bei  grossem  Kummer  darthut.  Das  wichtigste 
Bindeglied  bei  der  Entstehung  des  Irreseins  aus  psychischen  Ur- 
sachen ist  aber  wol  ohne  Zweifel  die  hier  niemals  fehlende  Be- 
einträchtigung des  Schlafes.  "Wo  die  lebhafte  Erregung  des 
Gehirns  die  Möglichkeit  des  Ruhens  und  eines  gehörigen  Ersatzes 
des  verbrauchten  Ernährungsmaterials  ausschüesst,  da  müssen  sich 
mit  Nothwendigkeit  fortschreitende  krankhafte  Veränderungen  heraus- 
bilden, die  durch  den  Erschöpfungszustand  der  reizbaren  Schwäche 
hindurch  immer  tiefere  Störungen  der  psychophysischen  Leistungen 
heraufführen.  Zu  der  "Wirkung  psychischer  Schädlichkeiten  pflegt 
sich  aber  fast  immer  noch  diejenige  mannigfacher  körperlicher 
Schwächungen  durch  Elend,  Entbehrungen,  schlechte  Ernährung, 
unregelmässige  Lebensweise,  Ausschweifungen  aller  Art,  hinzuzu- 
gesellen, so  dass  es  im  Einzelfalle  gänzlich  unmöglich  ist,  den  An- 
theil  der  verschiedenen  Ursachen  an  dem  Zustandekommen  des 


38 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


psychopathisclien  Gesammtergebnisses  auch  nur  annähernd  festzu- 
stellen. G-riesinger  ist  der  Ansicht,  dass  im  Allgemeinen  die 
psychischen  Ursachen  in  der  Aetiologie  des  Irreseins  ziemlich  be- 
deutend die  EoUe  der  körperlichen  überwiegen.  Eine  genauere 
Feststellung  dieses  Verhältnisses  dürfte  übrigens  aus  den  früher 
angeführten  Gründen  nur  einen  sehr  untergeordneten  wissenschaft- 
lichen Werth  haben. 

Nirgends  vielleicht  spielt  die  persönliche  Eigenart,  die 
Eeactionsweise  des  Betroffenen,  eine  grössere  Eolle,  als  bei  der  Ent- 
stehung des  Irreseins  aus  psychischen  Ursachen.  Allerdings  wissen 
wir  ja,  dass  auch  die  körperliche  Widerstandsfähigkeit  verschiedener 
Menschen  innerhalb  recht  weiter  Grenzen  schwankt,  aber  die  Er- 
fahrung lehrt,  dass  auf  psychischem  Gebiete  die  Unterschiede  viel- 
leicht noch  um  ein  Beträchtliches  grösser  ausfallen.  Sind  es  doch 
gerade  diese  Yerschiedenheiten  in  der  Eeaction  auf  die  wechselnden 
Eindrücke  des  Lebens,  in  welchen  sich  uns  die  fast  unabsehbare 
Mannigfaltigkeit  der  psychischen  Individualitäten,  der  „Naturen", 
„Charaktere"  und  „Temperamente"  ausdrückt!  So  kommt  es,  dass 
psychische  Ursachen  allein  im  Allgemeinen  bei  gesund  entwickelten, 
rüstigen  Persönlichkeiten  wol  nur  äusserst  selten  wirkliche  Geistes- 
störungen zu  erzeugen  im  Stande  sind,  während  sie  auf  dem  Boden 
einer  krankhaften  Constitution  zweifellos  zu  den  wichtigsten  Yeran- 
lassungen  des  Irreseins  gerechnet  werden  müssen. 

PsycMsclie  Ansteckung.  Zunächst  haben  wir  hier  des  Vor- 
ganges der  uneigentlich  so  genannten  „psychischen  Contagion"  zu 
gedenken,  der  Ausbreitung  psychischer  Störungen  diu^ch  „Ansteckung". 
Dass  gewisse  einfache  unwiUkürüche  Bewegungen,  das  Gähnen, 
Lachen,  Eäuspern,  Husten,  Erbrechen,  durch  «"achahmung,  d.  h.  durch 
die  Erzeugung  der  YorsteUung  dieser  Bewegungen,  hervorgerufen 
werden,  ja  dass  sogar  Ohnmächten  (Soldaten  beim  Impfen),  epilep- 
tische, hysterische,  choreatische  Krämpfe  (Mädchenschulen)  auf  gleiche 
Weise  ausgelöst  werden  können,  ist  eine  sehr  bekannte  Thatsache. 
Die  Medicinalgeschichte  berichtet  uns  ferner  von  dem  endemischen 
Auftreten  religiöser  Aufregungszustände  in  grösserem  Massstabe, 
offenbar  ebenfalls  unter  dem  Einflüsse  der  Nachahmung*),  und  an- 

*)  Hecker,  Die  grossen  Volkskraukheiteu  des  Mittelalters,  herausgegeben 
von  Hirsch.  1865. 


.Psychische  Ansteckung. 


39 


scheinend  ganz  ähnliche  Vorgänge  werden  unter  verschiedenen  Be- 
zeichnungen noch  heute  bei  gewissen  leicht  erregbaren  Völker- 
Stämmen  und  religiösen  Secten  beobachtet.  Endlich  zeigen  uns  die 
Erfahrungen  an  Hypnotischen,  in  welcher  Weise  man  experimentell 
eine  willenlose  Abhängigkeit  des  Vorstellungs Verlaufes  and  der 
Handlungen  eines  Menschen  von  gewissen  äusseren  Eindrücken  her- 
stellen kann.  So  kommen  denn  auch  Fälle  zur  Beobachtung  ,  in 
denen  mehi-ere  mit  einander  in  Berührung  lebende  Personen  gleich- 
zeitig oder  kurz  nacheinander  unter  ihrem  gegenseitigen  Einflüsse 
in  der  gleichen  Weise  psychisch  erkranken  (inducirtes  Irresein*), 
folie  ä  deux);  ich  selbst  hatte  G-elegenheit,  im  Zeitraum  von  acht 
Tagen  di-ei  mit  religiöser  Aufregung  und  Sinnestäuschungen  erkrankte 
Geschwister  in  die  Anstalt  aufzunehmen.  Die  Psychose  kann  dabei 
entweder  einfach  durch  die  gemüthliche  Erregung,  welche  sie  bei 
der  Umgebung  erzeugt,  als  Gelegenheitsursache  krankmachend 
wirken,  oder  aber  es  werden  geradezu  gewisse  Krankheitserschein- 
ungen durch  eine  Art  von  Suggestion  dauernd  oder  vorübergehend 
von  einer  Person  auf  die  andere  übertragen.  Namentlich  bei  Ver- 
rückten und  Querulanten  macht  man  bisweilen  die  Beobachtung, 
dass  sie  die  eine  oder  andere  Person  ihrer  Umgebung  gänzlich  in 
ihre  Wahnideen  hineinziehen  und  dieselbe  von  der  Berechtigung  ihrer 
Ansprüche  vollständig  überzeugen.  Die  secundär  Erkrankten  sind 
in  solchen  Fällen  regelmässig  krankhaft  veranlagte,  beschränkte 
Personen  mit  sehr  geringer  psychischer  Widerstandsfähigkeit.  Nicht 
ohne  Weiteres  mit  dem  inducirten  Irresein  zusammenzuwerfen  sind 
natürlich  jene  selteneren,  aber  interessanten  Fälle,  in  denen  Ge- 
schwister (besonders  Zwillinge!)  auch  ohne  gegenseitige  Beeinflussung 
eine  mitimter  geradezu  verblüffende  Aehnlichkeit  in  den  Kjank- 
heitserscheinungen  darbieten. 

Eine  gOAvisse  Verwandtschaft  mit  dem  Vorgange  der  psychi- 
schen Ansteckung  zeigen  die  in  der  neueren  Zeit  mehr  beachteten 
Erfahrungen  von  geistigen  Störungen  im  Anschlüsse  an  hypnotische 
Versuche.  Die  Gefahr  liegt  hier  in  dem  Umstände,  dass  bei  stark 
neuropathisch  belasteten  Personen  der  wiederholt  ihnen  aufge- 


*)  Lehmann,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XIV,  1;  Jakowenko,  Wjestnik  Psy- 
chiatrii,  1887;  Werner.  Allgom.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLIV,  4  u.  5;  Wollen- 
berg, Arciiiv  f.  Psychiatric,  XX,  1, 


40 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


drungene  hypnotische  Zustand  bisweilen  später  in  Folge  von  Auto- 
suggestion von  selbst  häufig  und  immer  häufiger  wiederkehren  kann, 
wie  ich  es  in  einem  schliesslich  mit  Selbstmord  endenden  Falle  zu 
beobachten  Gelegenheit  hatte.  Die  Hauptursache  der  Psychose  liegt 
auch  hier  wol  immer  in  der  krankhaften  Anlage,  doch  mahnen 
solche  Vorkommnisse  jedenfalls  zu  grosser  Vorsicht  in  der  prak- 
tischen Handhabung  des  Hypnotismus. 

Gemiitlisbeweguiigen.    Am  mächtigsten  wirken  natürlich  solche 
Eindrücke  auf  die  psychische  Persönlichkeit  ein,  welche  mit  starken 
Schwankungen  der  gemüthlichen  Gleichgewichtslage  verbunden  sind 
und  Aifectzustände  erzeugen.  Drückt  sich  doch  gerade  in  der  Stärke 
der  Gefühle,  die  einen  Eindruck  begleiten,  der  Grad  des  inneren  An- 
theils  aus,  welchen  der  Mensch  an  demselben  nimmt!    Die  äussere 
Ursache  des  Affectes  ist  dabei  an  sich  gleichgültig;  „jedes  Geschlecht, 
jeder  Stand,  jedes  Individuum",  sagt  Griesinger,  „holt  sich  seine 
geistigen  Wunden  auf  dem  Kampfplatze,  den  ihm  die  Natur  und 
die  äusseren  Umstände  angewiesen  haben,  und  Jeder  hat  wieder 
einen  andern  Punkt,  auf  dem  er  am  verletzlichsten  ist,  eine  andere 
Sphäi-e,  von  der  am  leichtesten  heftige  Erschütterungen  ausgehen, 
der  Eine  sein  Geld,  der  Andere  seine  äussere  Werthschätzung,  der 
Dritte  seine  Gefühle,  seinen  Glauben,  sein  Wissen,  seine  Familie 
u.  dergl.  m."  Fast  ausschliesslich  sind  es  die  depressiven  Äff ecte, 
die  wir  hier  in  Betracht  zu  ziehen  haben;  wir  wissen  ja  auch,  dass 
gerade  sie  die  mächtigsten  und  dauerndsten  Stürme  im  Menschen 
zu  erzeugen  vermögen,  während  selbst  die  höchsten  Grade  dßr  Freude 
rasch  in  das  ruhige  Gefühl  des  gesicherten  Glückes  überzugehen 
pflegen.  Angst  vor  einem  bevorstehenden  Unglück,  Schreck  über 
ein  unerwartetes  Ereigniss,  Zorn  über  ein  widerfahrenes  Unrecht, 
Verzweiflung  über  einen  erlittenen  Verlust,  das  sind  die  gewal- 
tigsten  plötzlichen    Erschütterungen,  welchen  unser  psychisches 
Gleichgewicht  ausgesetzt  ist,  und  die  daber  verhältnissmässig  häufig 
als  Ursachen  tieferer  und  länger  dauernder  Störungen  aufgeführt 
werden.    Gerade  hier  dürften  die  regelmässig  vorhandenen  vaso- 
motorischen Erregungs-  und  Lähmungszustände  für  die  Entstehung 
des  Irreseins  von  entschiedenem  Belange  sein. 

Als  symptomatische  Formen  beobachten  -wir  nach  rasch  ein- 
wirkenden Gemüthsbewegungen  ganz  vorwiegend  das  Collapsdetirium 
und  die  Amentia,  in  sehr  schweren  Fällen  acute  Demenz.  Bei  stärker 


Gemüth  sbewegiuigen . 


41 


psjchopathisch  yeranlagten  Personen  können  sich  auch  ängstliche 
oder  stuporöse  Melancholien  oder  "Wahnsinnsformen,  nach  leichteren 
Einwirkungen  manische  Aufregungszustände  entwickeln.  Vielfach 
scheint  das  Bild  der  Psychose  noch  durch  die  Art  des  auslösenden 
Alfectes  beeinflusst  zu  werden  und  sich  in  Yorstellimgskreisen 
zu  bewegen,  die  denselben  hervorriefen.  In  PoJge  von  Angst  und 
Yerzweiflung  sehen  wir  vorzugsweise  depressive,  nach  zornigen 
Alfecten  gewöhnlich  wüthende  Aufregungszustände  und  unter  dem 
Einflüsse  des  Schrecks  zumeist  stuporöse  Pormen  der  psychischen 
Störung  entstehen.  Allein  dieses  Yerhalten  zeigt  durchaus  keine 
zwingende  Eegelmässigkeit;  auch  ein  heiteres  DeUrium  mit  völhgem 
Yerlust  der  Erinnerung  für  den  veranlassenden  Yorfall  kann  z.  B. 
auf  einen  schreckhaften  Eindruck  hin  zur  Entwickelung  gelangen. 
Der  Anschluss  der  Psychose  an  die  Gemüthsbewegung  ist  bisweilen 
ein  ganz  unmittelbarer,  plötzlicher;  weit  häufiger  aber  stellt  sie  sich 
erst  nach  einigen  Tagen  oder  selbst  Wochen  heraus.  Ich  hatte  Ge- 
legenheit, den  sehr  deutlichen  TJebergang  des  normalen  Schmerzes 
einer  Mutter  über  den  Tod  ihres  Kiades  in  den  krankhaften  Affect 
direct  zu  beobachten.  Nachdem  zunächst  die  Trauerbotschaft  selbst 
sie  ausschhesslich  beschäftigt  hatte,  machten  sich  am  dritten  Tage 
unmotivirte  Selbstanklagen,  die  Purcht,  hingerichtet  zu  werden,  sowie 
ängstigende  Sinnestäuschungen  bemerkbar,  während  der  Gedanke  an 
das  verstorbene  K"ind  von  da  ab  und  für  den  ganzen  weiteren  Ver- 
lauf einer  mit  vielfachem  Stimmungswechsel  verbundenen  Amentia 
gänzlich  in  den  Hintergrund  trat. 

Auch  die  chronischen  depressiven  Affecte  sind  ohne  Zweifel, 
und  zwar  vielleicht  in  höherem  Grade,  als  die  acuten,  im  Stande, 
eine  krankhafte  Störung  des  Seelenlebens  zu  verursachen.  Den  Ein- 
fluss  schnell  eintretender,  aber  kurz  dauernder  Schädlichkeiten  ver- 
mag auch  der  psychische  Organismus  oft  leichter  zu  verwiaden,  als 
jene  langsamen,  fortdauernden  Einwirkungen,  welche  eine  beständige 
Trübung  des  Stimmungshintergrundes  herbeiführen,  mit  immer 
stärkerem  Drucke  allmählich  jede  freiere,  freudige  Eegung  zurück- 
drängen imd  das  Gefühl  des  Unglückes  bis  zur  Unerträglichkeit 
anwachsen  lassen.  Schlaflosigkeit,  chronische  Yerdauungs-  und 
Kreislaufsstörungen  mögen  hier  als  die  körperlichen  Einflüsse  an- 
gesehen werden,  deren  Wirkung  derjenigen  der  psychischen  Ur- 
sachen parallel  geht.    Hierher  gehört  namentlich  die  Sorge  in  ihren 


^2  I-  Allgemeine  Aetiologic. 

mannigfaltigen  quälenden  Formen,  der  Kummer  über  erlittene  Ent- 
täuschungen, unglückliche  Liebe,  Trennung  von  geliebten  Personen 
und  Versetzung  in  ungewohnte,  peinigende  Verhältnisse  (Nostalgie, 
Heimweh),  endüch  die  Eeue  über  begangene  Fehltritte.  Auch  hier 
besteht  zumeist  ein  gewisser  symptomatischer  Zusammenhang 
zwischen  Inhalt  des  Affectes  und  Form  der  Psychose.  Es  sind  ganz 
vorwiegend  schwer  neurasthenische  und  melancholische  Zustände, 
bei  stärkerer  psychopathischer  Veranlagung  die  chronischen  Formen 
des  hallucinatorischen  und  der  depressive  Wahnsinn,  die  wir  unter 
solchen  Verhältnissen  sich  ausbilden  sehen.  Im  Ganzen  ist  jedoch 
hier  der  Zusammenhang  zwischen  äusserem  Anlass  und  geistiger 
Störung  ein  weit  weniger  durchsichtiger  und  zwingender,  das  klinische 
Bild  und  der  Verlauf  dieser  letzteren  ungleich  selbständiger,  als  bei 
den  Psychosen  nach  acuten  Gemüthsbewegungen. 

Gefangenscliaft.  Eine  ganze  Eeihe  von  psychischen  Ursachen 
findet  sich  vereinigt  in  der  Gefangenschaft,  namentlich  in  der  Einzel- 
haft, die  erfahrimgsgemäss  einen  grossen  Procentsatz  (2— 3«/o)  von 
Geistesstörungen  erzeugt.*)    In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der 
Fälle  besteht  hier  schon  eine  mehr  oder  weniger  schwere  krank- 
hafte Veranlagung,  theils  auf  Grund  angeborener  Entartung,  theüs 
durch  mannigfache  Lebensschicksale  (uneheUche  Geburt,  schlechte 
Erziehimg,  Krankheiten,  Traumata,  Alkoholismus)  erworben.  Dazu 
kommen  die  besonderen  hygienischen  Verhältnisse  des  Gefängniss- 
lebens (Kost,  ungenügende  Bewegung,  Mangel  frischer  Luft),  die 
Nachwirkungen  der  Untersuchungshaft,  der  Verlust  der  persönüchen 
Freiheit  und  vor  Allem  die  Einsamkeit,  welche  dem  Eingesperrten 
zur  grübelnden  Beschäftigung  mit  den  eigenen  Gedanken  gründliche 
Müsse  giebt  und  ihn  die  Angst  vor  der  Zukunft,  die  Reue  über  das 
Begangene  um  so  lebendiger  empfinden  lässt,  je  weniger  ihn  sein 
Büdungsgrad  und  sein  Charakter  zur  moralischen  Selbsterziehung 
befähigt.   Der  Ausbruch  der  Psychose  erfolgt  bisweüen  schon  in 
den  ersten  Tagen  oder  Wochen  (Untersuchungshaft),  häufiger  nach 
einigen  Monaten,  selten  nach  Ablauf  des  ersten  Jahres.  Bei  Weitem 
am  häufigsten  wird  in  der  Stille  des  Isolii-zimmers  das  Krankheits- 
bild des  hallucinatorischen  Wahnsinns,  namentüch  der  acut  auf- 


*)  Gutsch,  Allgem.  Zeitsclir.  f.  PsycMatrie,  XIX,  p.  1;  Kirn,  ibidem  XLV, 
p.  1.  ' 


Gefangenschaft,  Krieg,  Ueheranstrengiing. 


43 


tretenden,  rasch  verlaufenden  Formen,  meist  mit  heftigen  Angst- 
zuständen und  Selbstraorddrang,  seltener  mit  expansiven  Wahnideen 
und  Sinnestcäuschungen,  beobachtet.  Diese,  zum  Theil  allerdings  von 
ihm  als  acute  hallucinatorische  Melancholie  aufgefassten  Zustände 
bezeichnet  Kirn  als  die  geradezu  charakteristische  Psychose  der 
Einzelhaft.  "Wo  indessen  nicht  sowol  die  Isolirung,  als  vielmehr 
andersartige  Einflüsse  die  hauptsächliche  Ursache  der  Psychose 
bilden,  können  natürlich  auch  alle  möglichen  anderen  Formen  psych- 
ischer Erkrankung  zur  Beobachtung  gelangen.  Ausser  den  ver- 
schiedenen Arten  des  Schwachsinns  mit  oder  ohne  Epilepsie  und 
periodischen,  triebartigen  Aufregungen  („Zuchthausknall")  kommt 
hier  namentlich  die  hallucinatorische  Yerrücktheit  mit  Grössen-  und 
Verfolgungsideen,  sowie  der  Querulantenwahn  in  Betracht. 

Krieg.  Ganz  besonders  reich  an  psychischen  Ursachen  des  Irre- 
seins ist  der  Krieg.  Wenn  Sommer*)  den  ^Tachweis  geliefert  hat, 
dass  der  Militärdienst  im  Frieden  wesentlich  nur  psychopathisch 
veranlagte  Personen  krank  macht  und  keinesfalls  mehr  Opfer  an 
Geistesstörungen  fordert,  als  in  der  entsprechenden  Civilbevölkerung 
beobachtet  werden,  so  pflegen  doch  Kriegsjahre**)  regelmässig  mit 
einer  mächtigen  Steigerung  der  psychischen  Erkrankungen  in  der 
Armee  einherzugehen.  Der  Grund  dieses  Verhaltens  liegt  zum 
Theil  in  der  grösseren  Häufung  von  Gelegenheitsursachen,  nament- 
lich von  Kopfverletzungen  und  acuten  Krankheiten,  hauptsächlich 
aber  in  der  mehr  chronischen  Erschöpfung  durch  körperliche  Ueber- 
anstrengungen,  Schlaflosigkeit  und  tiefgreifende,  anhaltende  gemüth- 
üche  Erregungen.  Die  klinischen  Bilder  sind  demgemäss  einmal 
schwere  neurasthenische  Zustände,  Unfallspsychosen  bis  zur  acuten 
Demenz,  andererseits  ganz  besonders  die  Paralyse,  seltener  Melan- 
cholien und  hallucinatorischer  Wahnsinn.  Häufig  genug  entwickelt 
sich  das  Irresein  (namentlich  die  Paralyse)  auf  der  durch  den  Feldzug 
gelegten  Grundlage  erst  einige  Zeit  nachher,  um  dann  meist  einen 
chronischeren  und  ungünstigeren  Verlauf  zu  nehmen. 

Ueberanstrenguug.  Alle  diese  Betrachtungen  lassen  unschwer 
erkennen,  dass  wir  es  bei  den  chronisch  wirkenden  Ursachen  des 

*)  Allgemeine  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLII. 
**)  Sanitätsbericht  über  die  deutschen  Heere  im  Kriege  gegen  Frankreich 
1870/71,  Bd.  Vn. 


44 


I.  Allgemeine  Aetiologie, 


Irreseins  sehr  gewöhnlich  mit  einer  erst  allmählich  sich  ausbildenden 
Zustandsveränderung  zu  thun  haben,  die  zunächst  noch  nicht  selbst 
als  Krankheit  zu  bezeichnen  ist,  aber  den  Boden  mehr  und  mehr 
vorbereitet,  auf  dem  dann  schliesslich  unter  dem  Einflüsse  der  fort- 
wirkenden äusseren  Schädlichkeiten  die  eigentliche  Psychose  zum 
Ausbruch  gelangt.    Es  lässt  sich  daher  hier  die  unmittelbar  krank- 
machende von  der  vorbereitenden  "Wirkung  auch  theoretisch  nicht 
mehr  trennen.    Geistige  Thätigkeit  und  Gemüthsbewegung  beruhen 
auf  den  normalen  Leistungen  des  Centraiorgans  unseres  Bewusst- 
seins;  nur  das  TJebermass  dieser  Eunctionen  ist  es,  welches  die- 
selben zu  schädigenden  Einflüssen  heranwachsen  lässt.    Wie  auf 
dem  Gebiete  des  peripheren  Nervensystems,  so  führt  auch  im  Gehirn 
jede  übermässig  gesteigerte  Arbeitsleistung  ziinächst  zu  einer  bleiben- 
den Erhöhung  der  Eeizbarkeit,  zu  jenem  Zustande,  den  wir  als 
reizbare  Schwäche  bezeichnen,  und  der  dann  endlich  bei  Fortdauer 
der  Erregung  in  die  Erschöpfung,  in  die  Abschwächung  aller 
psychischen  Leistungen  übergeht.    Die   grössere    oder  geringere 
Schnelhgkeit,  mit  welcher  diese  Zustandsveränderungen  sich  im 
einzelnen  Falle  ausbilden,  hängt  natürüch  ganz  von  der  Ursprung-, 
liehen  persönlichen  Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit  ab. 

Das  sind  ungefähr  die  Gesichtspunkte,  von  denen  aus  sich  die 
prädisponirende  Wirkung  geistiger  und  gemüthlicher  Ueberan- 
strengung  auffassen  lässt.  Die  nächste  Folge  solcher  fortgesetzter 
Schädlichkeiten  sind  regelmässig  die  Erscheinungen  der  Neurasthenie, 
Erhöhung  der  psychischen  Eeizbarkeit,  Zerstreutheit,  Verstimmung, 
hypochondrische  Befürchtungen,  Schlaflosigkeit,  verbunden  mit 
mannigfaltigen  „nervösen"  Störungen,  im  weiteren  Verlaufe  dagegen 
Erschöpfung,  Unfähigkeit  zu  geistiger  Anstrengimg,  wachsendes 
Kuhebedürfniss  und  Apathie.  Diese  Stöningen,  deren  leichteste 
Formen  ein  Jeder  an  sich  gelegentlich  beobachten  kann,  wenn 
irgend  eine  Lebenslage  erhöhte  Anforderungen  an  seine  psycMschen 
Leistungen  stellt  (Examen),  entwickeln  sich  zu  dauernden  Zustands- 
veränderungen dort,  wo  übermässige  Beize  immer  von  Neuem  auf 
den  Menschen  einwirken,  oder  dort,  wo  der  Organismus  von  vorn- 
herein nicht  die  genügende  Elasticität  besitzt,  um  die  schädigenden 
Einflüsse  in  der  Buhe  rasch  und  erfolgreich  ausgleichen  zu  können. 
Praktisch  kommt  die  Ueberanstrengung  als  Ursache  psychischer 
Störungen  hauptsächlich  nach  zwei  Bichtungen  in  Betracht,  einmal 


Kohe  und  wahre  Ursachen. 


45 


als  Uebermass  rein  intellectueller  Leistung  bei  Schülern,  Studenten, 
Gelehrten,  dann  aber  als  Ueberbürdung  mit  Pflichten  verschiedener 
Art  bei  Krankenpflegerinnen,  Erzieherinnen,  Eisenbahnbeamten  u.  s.f- 
Die  erstere  Form  birgt  ernstere  Gefahren  nur  für  jugendliche  oder 
bereits  prädisponirte  Individuen;  hier  können  vor  Allem  Dementia 
acuta  oder  bei  chronischerer,  tiefer  greifender  Einwirkung  Dementia 
praecox  zur  Entwickelung  gelangen,  während  sich  sonst  die  in  der 
Eegel  einfach  neurasthenischen  Erscheinungen  bei  längerer  Euhe 
leicht  wieder  zu  verlieren  pflegen.  Im  zweiten  Falle  wird  die 
geistige  Ueberanstrengung  meist  von  beständiger  gemüthlicher  An- 
spannung, vom  Gefühle  der  Yerantwortlichkeit  sowie  von  körper- 
lichen Strapazen  begleitet.  "Wir  begegnen  daher  hier  im  Allgemeinen 
schwereren  und  länger  dauernden  psychischen  Erkrankungen,  ausser 
den  oben  genannten  besonders  Melancholien  und  den  verschiedenen 
Formen  des  Wahnsinns;  auch  für  die  Entstehungsgeschichte  der 
Paralyse  scheint  die  gemüthliche  Ueberanstrengung  eine  gewisse 
Bedeutung  zu  haben. 

Rohe  und  wahre  Ursachen.  Das  Endziel  der  ätiologischen 
Forschung  ist  ohne  Zweifel  die  Feststellung  eines  derart  gesetz- 
mässigen  Zusammenhanges  zwischen  Ursache  und  "Wirkung,  dass  in 
jedem  einzelnen  Krankheitsfalle  derselben  Schädlichkeit  überall  die 
nämliche  Störung  entspricht  und  umgekehrt.  Thatsächlich  sehen 
wir  iadessen,  dass  man  bisher  den  gleichen  äusseren  Einwirkungen 
die  Erzeugung  verschiedenartiger  Formen  des  Irreseins  zuschreibt, 
und  dass  dieselben  psychischen  Erkrankungen  anscheinend  aus  einer 
Reihe  differenter  Ursachen  hervorgehen.  Dieser  Widerspruch,  der 
sich  übrigens  bei  allen  unentwickelten  Erfahrungswissenschaften 
wiederfindet,  hat  seinen  Grund  einmal  darin,  dass  uns  die  wichtigste 
Gruppe  der  Ursachen,  das  grosse  Gebiet  der  krankhaften  Praedis- 
position,  dem  Wesen  nach  fast  ganz  unbekannt  ist,  weiterhin  aber 
in  dem  Umstände,  dass  wir  wesentlich  nur  die  rohen,  nicht  aber 
die  wahren  Ursachen  und  Wirkungen  zu  berücksichtigen  vermögen. 
Wäre  z.  B.  eine  bestimmte  chemische  Yeränderimg  in  der  Zusammen- 
setzung des  Blutes  die  wahre  Ursache  einer  bestimmten  Psychose,  so 
könnten  sehr  verschiedene  rohe  Ursachen,  etwa  eine  Krebskachexie, 
häufige  Blutungen,  chronische  Malariainfection,  Erkrankungen  der 
blutbildenden  Organe  u.  s.  f.  neben  anderen  Wirkungen  gerade  den 
gemeinsamen  Effect  haben,  dass  die  Ernährungsflüssigkeit  nach  der 


46 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


hier  in  Beti-acht  kommenden  Kichtung  hin  functionsunfähig  wird. 
Umgekehi-t  ist  es  gewiss  möglich,  dass  psychische  Störungen,  die 
der  äusserlichen  Betrachtung  völlig  verschieden  erscheinen,  in  Wahr- 
heit doch  nahe  verwandt,  etwa  nur  verschiedene  Stadien  oder  Stärke- 
grade eines  und  desselben  Krankheitsprocesses  sind.  Den  Grössen- 
und  den  Kleinheitswahn  des  Paralytikers  wird  man  vielleicht  zunächst 
als  Anzeichen  diametral  entgegengesetzter  Störungen  anzusehen 
geneigt  sein,  bis  man  entdeckt,  dass  sie  beide  in  der  psychischen 
Schwäche,  sowie  in  der  Benommenheit  der  Kranken  eine  gemein- 
same Grundlage  haben. 

Diese  TJeberlegungen  können  uns  die  TJnvollkommenheit  unserer 
jetzigen  ätiologischen  YorstelluDgen  verständlich  machen  und  zu- 
gleich vielleicht  den  Weg  zeigen,  den  wir  weiterhin  zu  gehen  haben 
werden.    Immerhin  lässt  auch  der  heutige  Stand  unseres  Wissens 
wenigstens  in  grossen  Umrissen  einige  allgemeine  Beziehungen 
zwischen  Ursache .  und  Krankheitsform  erkennen.    Massgebend  er- 
scheint überall  die  Schnelligkeit,  mit  welcher  die  Ursache  einwirkt. 
Alle  plötzlich  den  Organismus  treffenden  Schädlichkeiten  erzeugen 
im  Ganzen  dieselben  Krankheitsbilder,  mögen  sie  selbst  körperlichen 
oder  psychischen  Ursprungs  sein.    Kegelmässig  begegnen  wir  hier 
auch  acut  verlaufenden  Geistesstörungen,  deren  eine  Gruppe  die 
Yergiftungs-  und  die  ihnen  nahe  verwandten  Fieberdelirien  dar- 
stellen, während  auf  der  anderen  Seite  die  Erscheinungen  der  acuten 
Hirnerschöpfung  stehen.    In  beiden  Gruppen  können  wir  ferner  ver- 
schiedene Stärkegrade  der  Störung  unterscheiden,  von  den  leichtesten 
Anzeichen  einer  erhöhten  psychischen  Erregbarkeit  an  durch  die 
eigenthümlichen  deliriösen  Zustände  hindurch  bis  zum  schwersten 
und  unter  Umständen  dauernden  Darniederliegen  aller  psychischen 
Leistungen.    Wo  dagegen  die  Ursachen  langsam  einwirken  und 
damit  selbst  erst  eine  gewisse  Prädisposition,  eine  allmähliche  Um- 
wandlung in  dem  Gesammtverhalten  des  Organismus  erzeugen,  da 
sehen  wir  zumeist  subacut  oder  chronisch  verlaufende  Psychosen 
sich  entwickeln.    Hierher  gehören  die  verschiedenen  Formen  der 
Melancholie  und  des  Wahnsinns  einerseits,  die  Entartungszustände 
bei  chronischen  Vergiftungen,  die  Dementia  paralytica  und  ver- 
wandte Erkrankungen  andererseits,  je  nachdem  die  Krankheits- 
ursachen ausgleichbare  Functionsstörungen  oder  tiefer  greifende  Ver- 
änderungen in  der  Zusammensetzung  unseres  Nervengewebes  herbei- 


Innere  Ursachen. 


47 


führen.  Selbstverständlich  aber  werden  diese  Beziehungen  zwischen 
Ursache  und  Krankheitsform  überall  auf  das  durchgreifendste  be- 
einflusst  durch  den  ursprünglichen  Zustand  der  erkrankenden  Per- 
son. Wo  bereits  im  Organismus  die  Entstehungsbedingungen  der 
Psychose  gegeben  sind,  kann  sehr  wol  eine  acut  einwirkende  Schäd- 
lichkeit zum  Ausbruche  einer  chronisch  verlauf  enden  Geistesstörung 
den  Anlass  geben,  und  umgekehrt  können  lange  fortgesetzte  leise 
Reize,  die  vom  gesunden  Menschen  einfach  ausgeglichen  werden,  bei 
krankhafter  Veranlagung  sich  summiren  und  zu  plötzlichen,  rasch 
vorübergehenden  Entladungen  führen.  Noch  verwickelter  werden 
die  Verhältnisse  durch  den  Umstand,  dass  wir  praktisch  mit  den 
verschiedensten  Graden  der  Prädisposition  zu  rechnen  haben  und 
demnach  im  Leben  alle  möglichen  Beziehungen  zwischen  rohen 
äusseren  Ursachen  und  klinischen  Eormen  der  Geistesstörung  zur 
Beobachtung  kommen  können.  Die  hier  bestehenden  Gesetzmässig- 
keiten sind  daher  ausserordenthch  schwer  zu  entwirren.  Dass  sie 
aber  in  gleicher  Weise  vorhanden  sind,  wie  auf  allen  übrigen  Ge- 
bieten körperlichen  und  geistigen  Geschehens,  vermögen  wir  auch 
heute  schon  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  zu  erkennen. 


B.  Innere  Ursachen  (Prädisposition). 

Mit  der  Betrachtung  der  psychopathischen  Veranlagung  betreten 
wir  jenes  zweite  grosse  Gebiet  der  ätiologischen  Eorschung,  welches 
sich  mit  den  in  der  Persönlichkeit  des  Erkrankten  selbst 
gelegenen  Ursachen  beschäftigt.  Der  Versuch,  ein  vollständiges 
Verständniss  für  die  Entstehung  der  Erkrankung  zu  gewinnen,  weist 
uns  zurück  auf  die  gesammte  Entwickelungsgeschichte  der  vor- 
liegenden psychischen  Persönlichkeit  und  führt  uns  zu  dem  Studium 
aller  jener  inneren  und  äusserlichen  Einwirkungen,  welche  an  der 
eigenartigen  Ausprägung  derselben  mitgearbeitet  haben.  Der  Ueber- 
sichtiichkeit  wegen  pflegt  man  diese  Einflüsse  in  zwei  Hauptklassen 
abzutrennen,  in  allgemeine  und  individuelle,  je  nachdem  sie 
sich  auf  grössere  Gruppen  von  Personen  insgesammt  erstrecken,  oder 
je  nachdem  sie  nur  einzelne  Mitglieder  derselben  beti-effen  und 
somit  diesen  letzteren  eine  Sonderstellung  gegenüber  ihrer  Umgebung 
verleihen. 


48 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


1.  Allgemeine  Prädisposition. 

Zwei  verschiedenartige  Bedingungen  sind  es,  die  man  zumeist 
unter  der  Bezeichnung  der  allgemein  prädisponirenden  Ursachen 
zusammenfasst,  nämlich  einmal  die  Herabsetzung  der  psych- 
ischen und  körperlichen  Widerstandsfähigkeit,  wie  sie 
durch  die  besondere  Yeranlagung  oder  die  besonderen  Lebensver- 
hältnisse einer  Gruppe  von  Personen  begründet  wird,  dann  aber 
auch  die  von  den  gleichen  Umständen  abhängige  grössere  oder 
geringere  Häufigkeit  der  äusseren  Ursachen  psychischer 
Erkrankung.  Streng  genommen,  kann  natürlich  nur  im  ersteren 
Falle  von  einer  wirklichen  Prädisposition  die  Eede  sein,  doch  em- 
pfiehlt es  sich  aus  praktischen  Gründen,  auch  die  Betrachtung  der 
letztgenannten  Yerhältnisse  hier  anzuschliessen. 

Lebensalter.  Von  den  anthropologischen  Eigenschaften,  welche 
die  Entwickelung  der  psychischen  Persönlichkeit  entscheidend  be- 
einflussen, sind  die  wichtigsten  das  Lebensalter  und  das  Geschlecht. 
Das  Gehirn  des  Neugeborenen  ist  in  gewisser  Beziehung  ein 
leeres  Blatt;  es  ist  wol  die  Anlage  vorhanden,  welche  dasselbe  zu 
seinen  späteren  verwickelten  Leistungen  befähigt,  und  es  bestehen 
gewiss  auch  Dispositionen,  welche  die  Entwickelung  dieser  Leistimgen 
in  eine  bestimmte  Bahn  zwingen,  aber  der  Inhalt  des  Bewusstseins 
ist  noch  äusserst  dürftig,  die  Verknüpfung  der  einzelnen  psychischen 
Vorgänge  unvollkommen  und  die  Eeproductionsfähigkeit  in  Folge 
dessen  überaus  beschränkt:  es  besteht  noch  keine  constante,  den 
Bewusstseinsinhalt  und  die  Triebbewegungen  beherrschende,  von  der 
Aussenwelt  abgegrenzte  psychische  Persönlichkeit. 

Allerdings  wird  dieser  Mangel  sehr  rasch  ausgeglichen  durch 
die  grosse  Leichtigkeit,  mit  der  sich  im  kindlichen  Gehirne  jene 
functionellen  Verbindungen  ausbilden,  die  wir  als  die  Grundlage  der 
psychischen  Vorgänge  anzusehen  pflegen.  Indessen  dieses  Verhalten 
schliesst  zugleich  eine  Gefahr  für  das  psychische  Leben  des  Kindes 
in  sich.  Die  Möglichkeit  einer  so  raschen  Bereicherung  des  Be- 
wusstseinsinhalts  beruht  auf  einer  grösseren  Empfänglichkeit,  und 
hat  somit  auch  eine  geringere  Widerstandsfähigkeit  gegen  äussere 
Eindrücke  zur  Folge.  Die  grössere  Erregbarkeit  des  Interesses  geht 
naturgemäss  mit  einer  leichteren  Ablenkbarkeit  und  Zersb-eutheit 


Lebensalter. 


49 


desselben  einher;  die  Leichtigkeit,  mit  der  sich  die  Vorstellungen 
sm  einander  knüpfen,  schliesst  den  Hang  zu  phantastischer  Auffassung 
und  „märchenhafter  Belebung"  der  Aussenwelt  in  sich.  Dazu  ge- 
sellt sich  eine  grosse  Unbeständigkeit  der  Stimmungen  und  Affecte 
sowie  die  Neigung  zu  raschem,  unüberlegtem  Handeln.  Physio- 
logisch drückt  sich  diese  Eigenthümlichkeit  des  Kindesalters,  wie 
wii-  durch  Soltmann's  Untersuchungen  wissen,  in  der  geringeren 
Ausbildung  der  hemmenden  Einflüsse  im  Nervensystem  aus. 

Man  sollte  daher  erwarten,  dass  diese  geringere  Widerstands- 
fähigkeit des  kindlichen  Gehirns,  wie  sie  auch  im  psychischen  Leben 
hervortritt,  eine  entschiedene  Disposition  zu  geistiger  Erkrankung 
in  sich  schliesst.  In  der  That  spricht  für  diese  Ansicht  die  tägliche 
Beobachtung,  indem  sie  uns  zeigt,  wie  gewisse  Schädlichkeiten,  die 
der  Erwachsene  ohne  Störung  erträgt,  z.  B.  leichte  fieberhafte  Tem- 
peratursteigerungen, im  Kindesalter  alsbald  ausgeprägte  Schwankungen 
des  psychischen  Gleichgewichts  herbeizuführen  pflegen.  Allein  die 
Energie  der  Lebensvorgänge  und  die  Elasticität  der  kindlichen 
Constitution  ermöglichen  gerade  in  diesem  Alter  offenbar  einen 
rascheren  und  vollständigeren  Ausgleich  der  Störungen,  so  dass  die 
Dauer  derselben,  wenn  nicht  Unheilbarkeit  eintritt,  in  der  Eegel  nur 
«ine  kurze  zu  sein  pflegt.  Sie  entgehen  auf  diese  Weise  meist  der 
psychiatrischen  Zählung.  Dazu  kommt,  dass  eine  grosse  Zahl  jener 
Schädigungen,  die  im  Laufe  des  späteren  Lebens  als  die  wichtigsten 
Ursachen  des  Irreseins  angesehen  werden  müssen  (Sorgen  und 
■üeberanstrengung,  Geschlechtsleben,  Excesse  mit  ihren  Eolgen),  im 
Kindesalter  so  gut  wie  ausgeschlossen  sind.  Trotz  der  entschieden 
grösseren  Disposition  sind  daher  psychische  Störungen  nach  der 
Angabe  aller  Beobachter  in  den  ersten  Lebensjahren  verhältniss- 
mässig  selten*);  aUe  genauen  Zahlenangaben  verbieten  sich  wegen 
der  unsicheren  statistischen  Grundlagen  von  selbst. 

Für  die  richtige  Würdigung  dieser  Verhältnisse  ist  indessen 
•noch  ein  weiterer  Umstand  in  Betracht  zu  ziehen,  nämhch  die 
symptomatische  Form  der  Kinderpsychosen.  Der  Mangel  einer 
geschlossenen  psychischen  Persönlichkeit  und  die  geringe  Ausbildung 
der  höheren  Geistesthätigkeit  machen  es  begreiflich,  dass  einmal 


*)  Emminghaus,  Die  psychischen  Störungen  des  Kindesalters,  1887; 
Moreau,  la  folie  chez  les  enfants,  deutsch  von  Galatti.  1889. 

Kraopelin,  Psychiatrie,  4.  Aufl.  4 


50 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


solche  Krankheitsbilder  im  Kindesalter  nicht  zur  Entwickelung  ge- 
langen können,  welche  ihrem  "Wesen  nach  eine  allmähliche  Um- 
wandlung eben  der  psychischen  Persönlichkeit  bedeuten,  und  dass 
andererseits  gerade  hier,  sobald  die  Störung  einmal  eine  tiefergi'eifende 
geworden  ist,  ein  gänzlicher  Verfall  des  Seelenlebens  sehr  rasch 
eintreten  muss,  wo  beim  Erwachsenen  der  Erwerb  der  gesunden 
Vergangenheit  noch  lange  den  krankhaften  Mangel  der  augenblick- 
lichen psychischen  Leistungsfähigkeit  wenigstens  theilweise  zu  ver- 
decken vermag.  So  lange  wir  beim  Kinde  in  der  ersten  Lebenszeit 
überhaupt  noch  nicht  von  einer  eigentlichen  psychischen  Thätigkeit 
sprechen  können,  so  lange  werden  wir  auch  keine  Beeinträchtig- 
ungen derselben  symptomatisch  aufzufassen  vermögen;  die  Psycho- 
pathologie gfällt  hier  mehr  oder  weniger  mit  der  Hirnpathologie 
zusammen  und  hat  höchstens  triebartige  Aufregungszustände  als 
psychische  Begleiterscheinungen  der  Hirnerkrankungen  zu  ver- 
zeichnen. 

Auch  im  späteren  Kindesalter  sind  es  fast  ausschliesslich 
gemüthliche  Schwankungen  (ängstliche  oder  expansive  Erregung) 
oder  ganz  einfache  Störungen  des  Vorstellungsverlaufes  (Delirien), 
aus  denen  sich  die  psychopathischen  Krankheitsbilder  zusammen- 
setzen. Sinnestäuschungen  und  vereinzelte  Wahnideen  sind  eben- 
falls häufig,  aber  wirkliche  Systematisirung  derselben,  wie  iu  der 
Verrücktheit,  überaus  selten.  Auf  der  anderen  Seite  muss  natür- 
lich jede  Entwickelungshemmung  des  Gehirns,  wie  sie  durch  fötale 
Erkrankungen  bedingt  wird,  und  ebenso  jede  dauernde  tiefere  Be- 
einträchtigung seiner  Leistungen  gerade  hier  das  klinische  Bild  des 
Blödsinns  und  Schwachsinns  in  seinen  verschiedenen  Graden,  wie 
es  symptomatisch  durch  die  Entwickelungsstufe  jedes  Neugeborenen 
dargeboten  wird,  zu  einem  dauernden  Zustande  werden  lassen.  Die 
geringe  Zahl  eigentlicher  psychopathischer  Krankheitspro cesse  im 
Kindesalter  wird  daher  durch  ein  ausgedehntes  Gebiet  von  Fällen 
angeborener  oder  in  den  ersten  Lebensjahren  erworbener  psych- 
ischer Schwäche  (Idiotie)  weit  mehr  als  ausgeglichen. 

Mit  der  fortschreitenden  Ausbildung  der  psychischen  Persön- 
lichkeit und  mit  dem  gleichzeitigen  Hervorti-eten  mannigfacher  neuer 
Krankheitsursachen  nimmt  die  Häufigkeit  und  symptomatische  Keich- 
haltigkeit  der  Geistesstörungen  allmählich  zu.  Namentlich  die 
Pubertätsperiode  mit  ihren  mächtigen  Umwälzungen  auf  körper- 


Lebensalter. 


51 


liebem  und  psychischem  G-ebiete  sowie  mit  den  gesteigerten  An- 
forderungen an  die  gesammte  Arbeitskraft  ist  es,  die  hier  eine  be- 
deutsame Eolle  spielt.  Die  eigenthümlichen  Stimmen gsschwankungen 
dieser  Zeit  (erhöhte  Eeizbarkeit,  Neigung  zur  Schwärmerei  und  Sen- 
timentalität) können  sich  zu  ausgeprägten  depressiven  oder  expan- 
siven Krankheitsformen  entwickeln,  vielfach  den  ersten  Vorläufern 
periodisch  wiederkehrender  Störungen;  die  unbestimmten,  triebartigen, 
der  Geschlechtssphäre  entstammenden  Gefühle  geben  den  günstigen 
Boden  ab  für  masturbatorische  Aufregungen  und  allerlei  impulsive 
Handlungen,  während  gleichzeitig  gerade  in  diesem  Alter  der  mass- 
gebende Einfluss  jener  individuellen  Anlagen,  durch  welche  die 
Ausbildung  des  persönlichen  Charakters  und  der  persönlichen 
Lebensauffassung  bestimmt  wird,  stärker  hervorzutreten  beginnt. 
In  den  kleinen  Kämpfen  und  Stürmen  dieses  Alters  macht  sich 
schon  jetzt  die  triebartige  Heftigkeit  der  Affecte,  die  leichte  Be- 
stimmbarkeit des  Handelns  oder  die  Gleichgültigkeit  eines  phleg- 
matischen Egoismus  geltend,  als  Zeichen  innerer  Haltlosigkeit  oder 
Gemüthsstumpfheit.  Auch  hier  überwiegen  noch  durchaus  die 
affectiven  Formen,  des  Irreseins;  die  bisweilen  begleitenden  intel- 
lectuellen  Störungen  kündigen  sich  aber  schon  als  die  ersten  Spuren 
jener  tiefgreifenden  Krankheitsprocesse  an,  welche  im  weiteren  Yer- 
laufe  vorzeitige  Verblödung  oder  eine  durchgängige  Verfälschung 
des  gesamraten  Bewusstseinsinhaltes  herbeiführen.  Gleichwol  ver- 
mag der  Schutz,  welchen  die  heranwachsende  Jugend  im  elterlichen 
Hause  zu  geniessen  pflegt,  die  Morbidität  dieser  Altersklasse  noch 
verhältnissmässig  günstig  zu  gestalten.  Auf  den  nun  folgenden 
Entwickelungsstufen  mit  ihren  allmählich  immer  wachsenden  Ge- 
fahren nimmt  die  Häufigkeit  der  psychischen  Erkrankungen  noch 
stetig  zu. 

Die  nächste  Periode  umfasst  das  Alter  der  Jugendblüthe, 
bis  etwa  zum  25.  Lebensjahre.  Die  in  der  Pubertätszeit  angebahnte 
Entwickelung  des  Verstandes  und  des  Charakters  schreitet  fort,  um 
allmählich  zu  einem  gewissen  Abschlüsse  zu  gelangen.  Noch  immer 
besteht  eine  grössere  Empfänglichkeit,  ein  lebhafteres  und  imbestän- 
digeres Gefühlsleben,  leichte  Bestimmbarkeit  der  Handlungen  dm-ch 
äussere  Einflüsse,  zugleich  aber  auch  eine  gewisse  Elasticität,  die 
dem  Individuum  über  widrige  Erfahrungen  vielfach  leichter  hinweg- 
hilft, als  in  einem  späteren  Lebensalter.    Eine  Keihe  von  Schädlich- 

4* 


52 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


keiten  beginnen  jetzt  mit  der  gi-össeren  Selbständigkeit  der  Lebens- 
stellung und  den  erhöhten  Anforderungen  an  die  geistigen  und 
moraKschen  Kräfte  ihi-e  Wirksamkeit  zu  entfalten;  die  Unzulänglich- 
keit der  persönlichen  Anlage  tritt  daher  nunmehr  deutlicher  hervor, 
wenn  sie  so  lange  in  den.  geschützteren  Verhältnissen  des  Kindesalters 
unbemerkt  geblieben  war.    Jene  psychischen  Invaliden,  die  dem 
Kampfe  um's  Dasein  nicht  gewachsen  sind,  scheiden  sich  durch  die 
eigenthümliche  Art  ihrer  Reaction  auf  die  Lebensreize,  durch  die 
krankhafte  Entwickelung  ihrer  Yorstellungskreise  und  ihrer  Gefühle 
von  den  „rüstigen"  Lidividuen  ab.  Die  angeborene  neurasthenische 
sowie  die  hysterische  Veranlagung  macht  sich  jetzt  in  ihren  eigen- 
thümlichen  Erscheinungen  geltend;   circuläre  oder  periodische  Er- 
krankungen kündigen  sich  in  ausgesprocheneren  Anfällen  an;  die 
Neigung  zu  paranoischen  Wahnbildungen,  aber  auch  zu  raschem 
geistigem  Verfall,  tritt  deutlicher  hervor.    Als  typische  Psychosen 
dieses  Lebensalters  fordern  die  Dementia  praecox  und  die  Katatonie 
ihre  Opfer.    Die  geringere  Widerstandsfähigkeit  auch  der  kräftiger 
Veranlagten  zeigt  sich  in  der  relativen  Häufigkeit  der  Erschöpfungs- 
psychosen, namentlich  in  der  schweren  Eorm  der  Dementia  acuta. 

Die  grösste  statistische  Häufigkeit  der  psychischen  Erkrankungen 
fällt  in  die  Zeit  der  vollen  Kraftentfaltung  vom  25.  bis  zum 
40.  Lebensjahre.  Sicherlich  ist  nicht  die  besondere  Prädisposition 
der  entvdckelten  körperlichen  und  geistigen  Persönlichkeit,  sondern 
lediglich  die  Zahl  der  von  Aussen  auf  dieselbe  einstürmenden  Ki-ank- 
heitsursachen  als  der  Grund  dieses  Verhaltens  anzusehen.  Die 
Widerstandsfähigkeit  ist  in  diesem  Alter  zweifellos  am  gi'össten,  aber 
die  Schädlichkeiten  sind  in  rascherem  Fortschritte  angewachsen,  als 
jene.  Die  Schwierigkeiten  der  Lebensführung  vergrössern  sich  mit 
der  zunehmenden  Selbständigkeit  und  der  Sorge  um  Weib  und 
Kind;  aus  der  weiter  reichenden  Verantwortlichkeit  entspringen 
ernstere  Conflicte  und  Sorgen;  die  höher  gespannten  Hoffnungen 
bringen  Enttäuschungen  mit  sich,  und  die  dauernde  Anspannung 
aller  physischen  und  geistigen  Kräfte  im  Daseinskampfe  wird  nicht 
lange  ohne  Ermüdung  und  Erschöpfung  ertragen.  Dazu  gesellen 
sich  die  vielfachen  körperlichen  Erkrankungen,  denen  die  rücksichts- 
lose Arbeit  den  Menschen  aussetzt,  die  verhängnissvollen  Vorgänge 
des  Geschlechtslebens  beim  Weibe  und  —  last,  not  least  —  die 
verderbliche  Wirkung  der  Ausschweifungen  in  Baccho  et  Venere 


Lebensalter. 


53 


(Syphilis!).  Die  yerschiedensten  ätiologischen  und  symptomatischen 
Gruppen  des  Ii-reseins  gewinnen  daher  in  diesem  Alter  ihre  weiteste 
Verbreitung;  dennoch  darf  als  einigermassen  charakteristisch  für 
dasselbe  besonders  die  allgemeine  Paralyse  angesehen  werden;  auch 
die  ausgebildeten  Formen  der  Verrücktheit  stehen  wegen  ihrer  lang- 
samen Entwickelung  hier  noch  mit  im  Vordergrunde. 

In  dem  Quinquennium  vom  36.  bis  zum  40.  Lebensjahre  ist  die 
psj^chische  Morbidität  auf  ihrem  Höhepunkte  angelangt.  Von  da  ab 
werden  die  Erki-ankungen  allmählich  seltener,  vielleicht  deswegen, 
weil  nunmehr  das  Ziel  einer  gesicherten  Lebensstellung  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  erreicht  ist  und  damit  eine  Anzahl  von  Sorgen  nnd 
Aufregungen  in  Wegfall  kommt,  andererseits,  weil  das  reifere  Alter 
der  Verführung  zu  Excessen  weniger  zugänglich  ist  und  beim  Weibe 
die  Gefahren  des  Fortpflanzungsgeschäftes  nunmehr  zurücktreten. 
Zuerst  langsam,  von  der  Mitte  der  50er  Jahre  aber  rascher  sinkt 
die  Häufigkeit  psychischer  Erkrankungen  mit  zunehmendem  Alter. 
Ohne  Zweifel  kommt  hier,  in  den  späteren  Altersklassen,  auch  der 
Abnahme  der  psychischen  Eindrucksfähigkeit  eine  bedeutsame  Eolle 
zu.  Der  Gesichtskreis  verengt  sich,  die  Reproductions-  und  Combi- 
nationsfähigkeit  nimmt  ab,  das  Gefühlsleben  verödet  und  zieht  sich 
mehr  und  mehr  auf  das  Gebiet  der  unmittelbarsten  egoistischen 
Literessen  zurück.  Gerade  diese  mehr  oder  weniger  ausgesprochene 
Stumpfheit  ist  es,  welche  den  Greis  im  Allgemeinen  weniger  em- 
pfänglich gegen  psychische  Schädlichkeiten '  macht  und  ihn  vor  all- 
zugrossen  Schwankungen  des  gemüthlichen  Gleichgewichts  bewahrt. 
Zudem  ist  dieses  Lebensalter  ja  gewissermassen  bereits  „durch- 
seucht"; die  grosse  Mehrzahl  der  psychischen  Livaliden  ist  schon 
früher  den  verderblichen  Einflüssen  der  Krankheitsursachen  unter- 
legen. Andererseits  hat  nicht  selten  die  aufreibende  Arbeit  des 
Lebens  hier  eine  neue,  erworbene  Prädisposition  geschaffen,  in- 
dem sie  die  Widerstandsfähigkeit  des  verbrauchten,  auch  körper- 
lich erschöpften  Individuums  untergraben  hat.  Von  Wichtigkeit 
sind  nach  dieser  Richtung  hin  namentlich  die  somatischen  Ver- 
änderungen, welche  sich  in  dieser  Periode  vollziehen,  das  Klimak- 
terium der  Frauen,  die  Atheromatose  der  Gefässe,  die  Rückbildungs- 
vorgänge im  Nervensysteme  und  in  den  verschiedensten  Organen. 
Wenn  daher  auch  einerseits  die  psychische  Empfänglichkeit  beim 
Greise  abgenommen  hat  und  andererseits  die  meisten  jener  Krank- 


54 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


heitsursachen,  welche  die  kräftigsten  Lebensalter  bedrohen,  liie^ 
wegzufallen  pflegen,  so  birgt  doch  schon  der  normale  Gang  der 
Ereignisse  eine  Eeihe  von  Gefahren  für  die  geistige  Gesundheit  des 
Menschen  in  sich,  denen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ein  Jeder 
unterliegen  muss.  Der  gemeinsame  Grundzug  aller  senilen  Psychosen 
ist  die  Schwäche,  die  Unzulänglichkeit  der  psychischen  Leistungen. 
Abnahme  des  Gedächtnisses,  Unfähigkeit  zur  Auffassung  und  Yer- 
arbeitung  neuer  Eindrücke,  Terwirrtheit  und  Zerfahrenheit,  Ober- 
flächlichkeit der  Affecte,  hypochondrische  Befürchtungen,  nächtliche 
Unruhe,  dabei  ü^eigung  zu  rascher  Yerblödung  sind  die  hervor- 
stechendsten Züge  der  hierher  gehörigen  llrankheitsbilder,  unter 
denen  die  ungemein  typischen  senilen  Melancholien  und  (namentlich 
bei  Erauen  im  Klimakterium)  der  depressive  Wahnsinn  im  Yorder- 
grunde  stehen.  Bemerkenswerth  ist  die  Häufigkeit  von  Gehirn- 
symptomen, Schwindel,  apoplektiformen  Anfällen,  convulsiven  und 
Lähmungserscheinungen. 

GresclilecM.  Die  Erage  nach  der  Disposition  der  beiden 
Geschlechter  zu  psychischer  Erkrankung  ist  auf  Grund  statistischer 
Erhebungen  vielfach  verschieden  beantwortet  worden.  Ohne  weiteres 
Eingehen  auf  die  Würdigang  der  Eehlerquellen  jener  Methode  sei 
hier  nur  bemerkt,  dass  die  statistische  Häufigkeit  des  Irreseins  im 
Allgemeinen  keine  erheblichen  und  sicheren  Unterschiede  zwischen 
beiden  Geschlechtern  erkennen  lässt.  Li  Wirklichkeit  dürfte  es 
kaum  zweifelhaft  sein,  dass  das  Weib  mit  seiner  zarteren  Organi- 
sation, mit  der  geringeren  Ausbildung  des  Yerstandes  und  dem 
stärkeren  Hervortreten  des  Gefühlslebens  weniger  Widerstandsfähig- 
keit gegen  die  körperlichen  und  psychischen  Ursachen  des  Irreseins 
besitzt,  als  der  Mann.  Allein  die  Bedeutung  dieser  Veranlagung 
für  die  wirkliche  Häufigkeit  psychischer  Erkrankungen  wird  aus- 
geglichen durch  die  verhältnissmässig  geschützte  Stellung,  die  das 
Weib  dem  unvergleichlich  mehr  gefährdeten  Manne  gegenüber  ein- 
nimmt. Alle  jene  Schädlichkeiten,  die  der  Kampf  um's  Dasein  mit 
sich  bringt,  treffen  in  erster  Linie  und  vorwiegend  den  Mann,  dem 
die  Sorge  für  die  Familie  obliegt,  wenn  auch  die  Mühsalen  des 
Lebensunterhaltes  für  das  unverheirathete  Weib  vielfach  weit  grösser 
sein  mögen.  Ferner  ist  vor  Allem  auf  die  Wirkung  der  Excesse 
nach  den  verschiedensten  Eichtungen  hinzuweisen,  Gefahi-eu,  denen 
ganz  vorzugsweise  der  Mann  wegen  der  socialen  und  ökonomischen 


Geschleclit. 


55 


Unabhängigkeit  seiner  Stellung  ausgesetzt  ist,  während  das  Weib, 
durch  Erziehung  und  Sitte  gebunden,  stets  ein  eintönigeres,  regel- 
mässigeres  und  ruhigeres  Leben  zu  führen  gezwungen  ist.  Wo 
dieser  Zwang  einmal  durchbrochen  und  der  Leidenschaftlichkeit  der 
weiblichen  Individualität  freier  Spielraum  gegeben  ist,  bei  Prosti- 
tuirten,  sehen  wir  daher  sofort  die  geringere  Widerstandsfähigkeit 
des  weiblichen  Geschlechtes  in  erschreckenden  Procentsätzen  des 
Irreseins  und  der  Selbstmorde  zum  Ausdi'uck  gelangen.*)  Allerdings 
dürfte  gerade  hier  die  relative  Häufigkeit  ursprünglicher  psycho- 
pathischer Veranlagung  wesentlich  in  Rechnung  zu  ziehen  sein. 

Die  besondere  Aetiologie  der  weiblichen  Psychosen  wird  durch- 
aus beherrscht  durch  die  Zustände  des  Genitalap parates.  Die 
Bedeutiing  der  Sexualerkrankungen,  der  Schwangerschaft,  des 
Wochenbettes,  der  Lactation  ist  schon  früher  berührt  worden;  sie 
tragen  die  Schuld,  dass  zwischen  dem  16.  und  35.  Lebensjahi-e  that- 
sächlich  die  Morbidität  des  weiblichen  Geschlechtes  eine  etwas 
höhere  ist,  als  diejenige  des  Mannes.  Nach  jenem  Zeitpunkte  zeigt 
dieselbe  eine  absolute  und  relative  Abnahme,  bis  mit  den  mannig- 
fachen Umwälzungen  und  Störungen  im  klimakterischen  Alter,  etwa 
von  Mitte  der  40er  bis  Mitte  der  50er  Jahre,  die  Zahl  der  psych- 
ischen Erkrankungen  beim  Weibe  wieder  etwas  überwiegt.  Ja, 
zwischen  dem  61.  und  65.  Lebensjahre  lässt  sich  sogar  eine  absolute 
Zunahme  der  Geistesstörungen  beim  weiblichen  Geschlechte  nach- 
weisen, die  allerdings  im  späteren  Alter  wieder  eiuer  raschen  Ab- 
nahme Platz  macht.  Dennoch  erscheint  das  Weib  von  da  ab  dauernd 
mehr  gefährdet,  als  der  Mann. 

Den  Yerschiedenheiten  in  den  ursächlichen  Yerhältnissen  bei 
beiden  Geschlechtern  entspricht  auch  das  Vorwalten  der  einzelnen 
Krankheitsformen  bei  ihnen.  Die  Dementia  paralytica,  die  Intoxi- 
kationspsychosen, die  Verrücktheit  mit  ihrer  vorzugsweise  intellec- 
tuellen  Störung,  die  erworbene  Neurasthenie  überwiegen  beim 
männlichen  Geschlechte,  während  dem  weiblichen  die  grosse  Gruppe 
der  hysterischen  Erkrankungen  vorzugsweise  eigenthümlich  ist; 
auch  Collapsdelirien,  Amentia,  sowie  Melancholien  imd  depressiver 
Wahnsinn  sind  hier  verhältnissmässig  häufig,  letztere  ganz  besonders 
im  höheren  Lebensalter. 


*)  V.  Dettingen.  Moralstatistik.  3.  Auflage.  1882,  p.  767  ss. 


56 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


Race  und  Nationalität.  Sehr  wenig  Sicheres  lässt  sich  bei  dem 
jetzigen  Stande  der  Statistilc  und  der  grossen  Schwierigkeit  der 
Frage  über  den  prädisponirenden  Einfluss  der  Race  und  Nationalität 
aussagen.  Man  kann  eben  nicht  ermitteln,  wie  weit  die  sich  heraus- 
stellenden statistischen  Unterschiede  nicht  vielmehr  durch  die  socialen 
Unterschiede  bedingt  sind;  jedenfalls  sind  die  häufigen  Angaben 
über  Seltenheit  des  Irreseins  bei  „Naturvölkern"  aus  dem  genannten 
und  vielen  anderen  Gründen  mit  grosser  Yorsicht  aufzunehmen. 
Jene  Fehlerquelle  fällt  nur  dort  aus,  wo  verschiedene  Racen  unter 
annähernd  gleichen  Lebensbedingungen  zusammenwohnen.  So  scheint 
sich  für  die  Juden  in  der  That  eine  grössere  Neigung  zu  psych- 
ischen und  nervösen  Erkrankungen  zu  ergeben. 

Cnltur.  Ton  den  socialen  Verhältnissen  ist  es  namentlich  die 
Höhe  der  allgemeinen  Culturentwickelung,  die  man  als  die  Ursache 
einer  grösseren  Häufigkeit  des  Irreseins  angeschuldigt  hat.  Soweit 
die  bisher  allerdings  noch  ziemlich  unzulänglichen  Anfänge  einer 
internationalen  Irrenstatistik  reichen,  scheint  wol  in  dem  civilisirteren 
"Westeuropa,  namentlich  in  der  Schweiz,  das  Verhältniss  der  Greistes- 
kranken  zur  Bevölkerung  ein  höheres  zu  sein,  als  im  Osten.  Allein 
dieses  Ergebniss  hat  wegen  der  verschiedenen  Zuverlässigkeit  der 
Yergleichszahlsn  nur  einen  sehr  zweifelhaften  "Werth ;  im  Allgemeinen 
dürften  doch  heute  überall  im  Durchschnitt  auf  1000  Einwohner 
eines  Landes  etwa  3  Geisteskranke  zu  rechnen  sein.  Andererseits 
kann  allerdings  kaum  in  Abrede  gestellt  werden,  dass  die  rasche 
Zunahme  der  Geisteskranken,  welche  uns  periodische  Zählungen  er- 
kennen lassen,  nur  zum  Theil  eine  scheinbare,  durch  die  grössere 
Sorgfältigkeit  der  Erbebungen  bedingte  ist,  und  dass  die  wirkliche 
Zunahme  ein  rascheres  Fortschreiten  aufweist,  als  das  allgemeine 
Anwachsen  der  Bevölkerung.  Dieses  Verhalten  wird  treffend  ülustrirt 
einmal  durch  die  ebenfalls  unzweifelhafte  Steigerung  der  Selbst- 
mordhäufigkeit, dann  aber  durch  den  eigenthümlichen  Gegensatz, 
der  sich  zwischen  Stadt-  und  Landbevölkerung  herausstellt.  Gerade 
die  grossen  Städte  mit  ihren  erhöhten  Anforderungen  an  die  in- 
tellectuelle  und  moralische  Kraft  des  Einzelnen,  mit  ihrer  Er- 
schwerung der  Lebensbedingungen  und  ihren  mannigfachen  Ver- 
führungen zu  Excessen  aller  Art  sind  es,  welche  bei  Weitem  den 
grössten  Beitrag  zu  der  raschen  Vermehrung  der  Geisteskrankheiten- 
und  des  Selbstmordes  liefern.   Je  schärfer  und  verwickelter  sich 


Eace  und  Nationalität.    Cultur.  Beruf. 


57 


der  "Wettbewerb  der  Menschen  und  der  Lebensinteressen  gestaltet, 
desto  grösser  ist  der  Procentsatz  Jener,  die  den  gesteigerten  An- 
sprüchen nicht  gewachsen  sind  und  in  dem  friedlichen  Kampfe 
invalide  werden.  Nicht  etwa  die  grössere  „Immoralität"  oder 
„materialistischere  Eichtung"  der  allgemeinen  Besti'ebungen,  die 
sicherlich  in  den  Massen  niemals  viel  „moralischer"  oder  „idealisti- 
scher" gewesen  sind,  als  heute,  darf  man  für  die  Zunahme  des 
Irreseins  verantwortlich  machen,  sondern  dieselbe  ist  eine  noth- 
w endige  Folge  unserer  rasch  fortschreitenden  Entwickelung,  und 
sie  beruht  insofern  sogar  theilweise  auf  einem  stärkeren  Hervor- 
treten echter  Menschenliebe,  als  diese  das  Loos  der  unglücklichen 
Kranken  zu  verbessern  und  selbst  das  invalide  Leben  derselben  so 
lange  wie  möglich  zu  erhalten  sucht. 

Beruf.  Die  Prädisposition  einzelner  Berufsarten  zum  Irresein 
ist  natürlich  zumeist  nur  in  der  grösseren  Häufigkeit  und  Wirksam- 
keit der  mit  ihnen  verknüpften  Schädlichkeiten  begründet;  höchstens 
könnte  man  aus  der  "Wahl  mancher  künstlerischen  Berufsarten,  z.  B. 
des  dichterischen  und  schauspielerischen,  einen  bisweilen  zutreffen- 
den Eückschluss  auf  die  grössere  psychische  Empfänglichkeit  des 
Individuums  machen.  Auch  die  Berufslosigkeit  (Vagabunden, 
Gewohnheitsverbrecher  u.  s.  f.)  düiite  vielfach  eine  ähnliche  Deutung 
(unvollkommene  oder  abnorme  Entwickelung  des  Charakters)  zu- 
lassen. Im  Uebrigen  aber  sind  es  entweder  psychische  oder  körper- 
liche Ursachen,  welche,  an  eine  bestimmte  Art  der  Lebensführung 
sich  knüpfend,  eine  grössere  Häiifigkeit  der  psychischen  Erkrankung 
zur  Folge  haben.  Geistige  Ueberanstrengung  kann  bei  Gelehrten 
oder  im  jugendlichen  Alter  bei  Schülern  prädisponirend  wirken 
oder  auf  anderweitig  vorbereitetem  Boden  dem  Ausbruche  des 
In-eseins  Yorschub  leisten.  Gerade  die  Erkrankungen  an  Dementia 
praecox  sieht  man  auffallend  häufig  bei  jungen  Leuten,  die  wegen 
besserer  Fortschritte  in  der  Schule  dazu  bestimmt  werden,  einen 
Beruf  zu  ergreifen,  der  höhere  Anforderungen  an  ihre  geistige 
Leistungsfähigkeit  stellt.  Gemüthliche  Erregungen  spielen  bei  Mi- 
litärs im  Kriege,  bei  Börsenmännern,  bei  Künstlern,  bei  Gouver- 
nanten ihre  verderbüche  Rolle.  Matrosen,  Schankwirthe,  Prostituirte 
sind  dem  Einflüsse  aufreibender  Excesse,  besonders  in  Alkoholicis, 
ausgesetzt,  während  der  Fluch  der  Noth,  der  Entbehrung,  der 
Nahrungssorgen,  hygienischer  Missstände   hauptsächlich  die  band- 


58 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


arbeitenden  Massen  der  Bevölkerung  drückt.  Körperliche  Ueber- 
anstrengung,  Strapazen,  Nachtwachen  sind  die  Schädlichkeiten,  welche 
der  Militärdienst  mit  sich  bringt;  im  Verein  mit  den  beständigen 
Erschütterungen  des  Fahrens  treffen  sie  den  Eisenbahnbediensteten. 
Wärmebestrahlung,  Kopfverletzungen,  Tergiftungen  verschiedener 
Art  (Blei,  Quecksilber)  sind  weitere  Gelegenheitsursachen,  denen 
•wieder  andere  Berufsarten  vorzugsweise  ausgesetzt  zu  sein  pflegen. 
Der  symptomatische  Ausdruck  dieser  Berafsprädisposition  wird 
natürlich  wesentlich  durch  die  besondere  Art  der  vorherrschenden 
Ursachen  bestimmt;  wir  können  daher  in  dieser  Beziehung  auf  die 
frühere  Besprechung  der  betreffenden  ätiologischen  Verhältnisse 
zurückverweisen, 

Civilstand.  Ein  nicht  unerheblicher  Einfluss  auf  die  Häufigkeit 
des  Irreseins  muss,  wie  es  im  Hinblicke  auf  statistische  Zusammen- 
stellungen den  Anschein  hat,  dem  Civilstande  zugeschrieben  werden. 
Allerdings  hat  Hagen  mit  Kecht  darauf  hingewiesen,  dass  die  zu- 
nächst sich  ergebenden  Differenzen  vor  Allem  auf  die  verschiedene 
Morbidität  des  durchschnittlichen  Lebensalters  zurückzuführen  sind, 
in  welchem  sich  die  Ledigen  und  die  Verheiratheten  befinden. 
Haben  wir  doch  oben  gesehen,  dass  psychische  Erkrankungen 
zwischen  dem  20.  und  40.  Lebensjahre  überhaupt  häufiger  zu  sein 
pflegen,  als  in  späterem  Alter.    Auf  der  anderen  Seite  ist  es  un- 
zweifelhaft, dass  in  einer  grossen  Zahl  von  FäUen  die  Ehelosigkeit 
schon  als  die  Folge  einer  unvollkommenen  psychischen  Entwickel- 
img,    einer    bestehenden  oder  (namentlich  beim  weiblichen  Ge- 
schlechte)  überstandenen  Geistesstörung  anzusehen  ist.  Endlich  aber 
kann  auch  der  Ehe  selbst  trotz  der  aus  dem  Fortpflanzungsgeschäfte 
erwachsenden  Gefahren,  trotz  der  Sorgen,  die  sie  mit  sich  bringt, 
dennoch  wegen  der  grösseren  Befriedigung  und  Sicherheit  des  ge- 
meinschaftlichen Lebens  und  auch  wol  wegen  des  relativen  Schutzes 
vor  Excessen  eine  gewisse  prophylaktische  Bedeutung  nicht  abge- 
sprochen werden.    Am  meisten  gefährdet  scheinen  die  Verwittweten 
und  Geschiedenen  zu  sein;  haben  sie  doch  häufig  fast  alle  Sorgen 
und  Gefahi-en  der  Ehe  zu  tragen,  ohne  deren  schützende  und 
sichernde  Wirkungen  zu  gemessen. 

Politisclie  und  religiöse  Bewegungen.    Von  den  socialen  Be- 
dingungen des  Lebens  ist  endUch  noch  der  politischen  und  religiösen 


Civilstand.  Kosmische  Einflüsse.  Erbliclilieit. 


59 


Stürmo  zu  gedenken,  welche  gelegentlich  die  Massen  in  stärkere 
Erregung  versetzen.  Die  wii-kliche  ätiologische  Bedeutung  derartiger 
Yorgänge  ist  wol  häufig  überschätzt  worden,  da  dieselben  zwar 
den  Vorstellungsinhalt  der  Erkrankten,  weit  weniger  aber  das  Zu- 
standekommen der  Krankheit  selbst  beeinflussen  dürften.  Sicherlich 
sind  die  socialen,  politischen,  religiösen  Missstände  mit  ihren 
Polgen,  aus  denen  derartige  Bewegungen  herauszuwachsen  pflegen, 
weit  bedeutsamere  prädisponirende  Ursachen  des  Irreseins,  als  jene 
Eeactionsbestrebungen  gegen  die  bestehenden  Uebel. 

Kosmisclie  Einflüsse.  lieber  die  prädisponirende  Wii-kung  kos- 
mischer Einflüsse  liegen  bisher  noch  keine  sicheren  Angaben,  vor, 
wenn  sich  auch  nach  Analogie  anderweitiger  Erfahrungen  über  die 
Häufigkeit  der  Yerbrechen  und  der  Selbstmorde  einige  allgemeine 
Beziehungen  der  psychischen  Morbidität  zu  den  Jahreszeiten  und 
zum  Küma  erwarten  Hessen.  Es  scheint  allerdings  schon  jetzt,  dass 
frische  Aufregungszustände  im  Sommer  und  vielleicht  auch  in 
heisserem  Klima  häufiger  zur  Entwickelung  kommen,  als  im  Winter 
und  im  Norden. 


2.  Individuelle  Prädisposition. 

Wenn  uns  die  bisherige  Betrachtung  gezeigt  hat,  wie  den  ver- 
schiedenen Gruppen  von  Individuen  entweder  nach  ihrer  allgemeinen 
Anlage  eine  geringere  Widerstandsfähigkeit  gegen  schädigende  Ein- 
flüsse zukommt,  oder  wie  sie  nach  ihrer  eigenthümlichen  Organi- 
sation und  den  besonderen  Lebensverhältnissen  einer  grösseren  oder 
geringeren  Zahl  von  Grefahren  ausgesetzt  sind,  so  werden  uns  ähn- 
liche Gesichtspunkte  einen  Einblick  in  das  zweifache  Wesen  jener 
vielgestaltigen  Krankheitsursachen  verschaff"en,  die  man  unter  dem 
Namen  der  individuellen  Prädisposition  zusammenzufassen 
pflegt. 

ErbHchkeit.  Die  Analyse  der  einzelnen  Persönlichkeit  weist 
uns  auf  die  Entstehung  derselben  und  damit  über  das  individuelle 
Leben  hinaus  auf  dasjenige  der  Erzeuger  zurück,  welches  uns  über 
die  erste  und  in  mancher  Beziehung  wichtigste  Frage  Aufschluss 
zu  geben  hat,  über  die  Frage  nach  dem  Einflüsse  der  Erblichkeit. 
Die  Bedeutung  dieser  Verhältnisse  in  der  Entstehungsgeschichte 


60 


I.   Allgemeine  Aetiologie. 


psychischer  Ki-ankheiten  ist  jederzeit  und  von  allen  Irrenärzten  auf 
das  Einmüthigste  betont  worden,  so  sehr  auch  bei  den  naheliegen- 
den Fehlerquellen  einer  Statistik  über  diesen  Punkt  die  Zahlen- 
angaben im  Einzelnen  auseinandergehen*)  (von  4  bis  90»/o).  Der 
Grund  für  diese  grossen  Unterschiede  liegt  hauptsächlich  in  der 
verschieden  weiten  Fassung  des  Begriffes  der  Erblichkeit,  in  der 
grösseren  oder  geringeren  Genauigkeit  der  Anamnese  und  in  der 
Besonderheit  des  verarbeiteten  Krankenmaterials.    Wenn  man  be- 
rücksichtigt, dass  nicht  nur  eigentliche  Psychosen,  sondern  eine 
Eeihe  von  verwandten  Zuständen,  Alkoholismus,  Neui'osen,  auffallende 
Charaktere,  verbrecherische  Neigungen  und  dergl.  als  Erscheinungs- 
form neuropathischer  Yeranlagung  angesehen  und  somit  bei  der 
Feststellung  hereditärer  Yerhältnisse  in  Pechnung  gebracht  werden 
müssen,  so  ergiebt  sich,  dass  im  Mittel  bei  mindestens  30  bis  40%  aller 
psychisch  Erkrankten  unter  den  nächsten  Anverwandten  das  Be- 
stehen derartiger  Abnormitäten   sich  nachweisen  lässt.    Für  die 
WürdigTing  dieses  rein  statistischen  Kesultates  ist  es  indessen  sehr 
wichtig,  zu  bedenken,  dass  einmal  das  Zusammentreffen  psycho- 
pathischer Züge  bei  Gliedern  derselben  Familie  noch  keinen  noth- 
wendigen  hereditären  Zusammenhang  zwischen  diesen  Störungen 
erweist,  und  dass  uns  ferner  gänzlich  der  statistische  Nachweis  für 
die  Häufigkeit  einer  derartigen   erblichen  Yeranlagung  bei  der 
grossen  Masse  nicht  geisteskranker  Personen  mangelt.    Müssen  wir 
somit  jene  Zahlenangaben  ledigüch  als  Erfahrungsthatsachen  an- 
sehen, ohne  in  ihnen  zunächst  etwa  den  Ausdruck  eines  ,,Gesetzes" 
zu  erblicken,  so  steht  dennoch  die  allgemeine  Bedeutung  der  Erblich- 
keit in  der  Entstehungsgeschichte  der  Psychosen  über  allem  Zweifel 
fest,  so  wenig  wir  uns  auch  von  dem  tieferen  Zusammenhange  der 
Yorgänge  hier  eine    irgendwie    genügende  Yorstellung  machen 
können. 

"Wie  die  Erfahrung  lehrt,  kann  die  Erblichkeit  entweder  eine 
directe,  von  den  Eltern  ausgehende,  oder  eine  indirecte  sein. 
Im  letzteren  Falle  lässt  sich  wieder  die  atavistische,  von  den 
Grosseltern  hergeleitete,  und  die  collaterale  unterscheiden,  die  sich 
auf  psychopathische  Zustände  in  einer  Seitenlinie  (Onkel,  Gross- 


*)  Legrand  du  Saulle,  Die  erbliche  Geistesstörung,  übersetzt  von  Stark. 
1874;  Saury,  etude  clinique  sur  la  folie  hcreditaire.  1886. 


Erblichkeit. 


61 


tante,  Yetter  u.  s.  f.)  ziirückbezieht.  Am  stärksten  wirkt  sicherlich 
die  clirecte  Heredität,  namentlich  wenn  beide  Eltern  (cumulative 
Vererbung),  und  wenn  sie  schon  bei  der  Zeugung  des  Kindes  geistes- 
krank waren;  doch  kann  auch  auf  ein  vor  dem  Ausbruche  des 
Irreseins  erzeugtes  Kind  die  psychopathische  Veranlagung  über- 
tragen werden.  Der  Einfluss  des  Vaters  scheint  bei  der  Vererbung 
im  Allgemeinen  mächtiger  zu  wirken,  als  derjenige  der  Mutter;  in. 
Uebereinstimmung  damit  steht  die  Erfahrung,  dass  die  weiblichen 
Eamiliengheder  wegen  der  so  häufigen  gekreuzten  Vererbung  nicht 
unerheblich  stärker  gefährdet  sind,  als  die  männlichen. 

Die  Wirkung  der  Erblichkeit  lässt  je  nach  Art  und  Stärke  ge- 
wisse Verschiedenheiten  erkennen.  Wo  die  hereditären  Einflüsse 
sich  häufen,  wie  das  namentlich  bei  Verwandtschaftsheirathen  in 
neui'opathisch  veranlagten  Familien  der  Fall  zu  sein  scheint,  da 
entsteht  schliesslich  eine  „organische  Belastung",  da  treten  bei 
der  Nachkommenschaft  die  schwereren  Formen  psychischer  Ent- 
artung, besonders  intellectuelle  und  moralische  Störungen  hervor. 
Morel  giebt  für  diese  fortschreitende  erbliche  Degeneration  das 
folgende  allgemeine  Schema:  1.  Generation:  nervöses  Temperament, 
sittüche  Depravation,  Excesse.  2.  Generation:  Neigung  zu  Apo- 
plexien und  schweren  Neurosen,  Alkoholismus.  3.  Generation: 
psychische  Störungen,  Selbstmord,  intellectuelle  Unfähigkeit.  4.  Ge- 
neration: angeborene  Blödsinnsformen,  Missbildungen,  Entwickelungs- 
hemmungen.  Es  würde  also  diese  Art  der  Züchtung  von  selbst 
mit  Nothwendigkeit  den  Untergang  des  entarteten  Geschlechtes 
herbeiführen.  Von  einer  so  einfachen  Regelmässigkeit  ist  natürlich 
bei  diesen  ungemein  verwickelten  und  nur  in  den  gröbsten  Um- 
rissen bekannten  Verhältnissen  keine  Rede;  doch  scheint  in  der 
That  vielfach  das  häufigere  Auftreten  angeborener  Schwächezustände, 
bisweüen  neben  hervorragender  Begabung  bei  anderen  Famüien- 
gliedern,  das  Endstadium  hereditärer  Entartung  anzukündigen.  Von 
sonstigen  psychischen  Erkrankungen  sind  es  namentlich  das  perio- 
dische und  noch  mehr  das  circuläre  Irresein,  die  epileptischen, 
hysterischen  und  die  angeborenen  neurasthenischen  Geistesstörungen, 
endlich  die  Verrücktheit,  besonders  die  originäre  Form  derselben, 
welche  am  häufigsten  gerade  auf  ererbter  Grundlage  sich  entwickeln. 
Relativ  wenig  durch  die  Erblichkeitsverhältnisse  beeinflusst  zeigen 
sich  die  Delirien,  die  Erschöpfimgszustände  und  die  progressive 


Q2  I-  Allgemeine  Aetiologie. 

Paralyse,  während  Manie  und  Melancholie,  der  "Wahnsinn  und  der 
Alkoholismus  eine  Art  Mittelstellung  einnehmen.    Es  ergiebt  sich 
somit,  dass  hereditär  belastete  Individuen  im  Allgemeinen  die 
Neigung  haben,   constitutioneU ,  dauernd  oder  doch  in  häufiger 
wiederkehrenden  AnfäUen  zu  erkranken.    Je  mehr  die  eigentHche 
Ursache  der  Psychose  im  Menschen  selber  ihren  Sitz  hat,  desto 
geringfügiger  braucht  eben  auch  hier  der  äussere  Anstoss  zu  sein, 
um  eine  dauernde  und  in  der  Kegel  unheilbare  Störung  der  ge- 
sammten  Persönlichkeit  herbeizuführen.  Nicht  selten  erscheint  dabei 
die  Störung,  rein  symptomatisch  genommen,  als  eine  verhältnitss- 
mässig  geringe,  da  wir  es  mehr  mit  einem  eigenartig,  degenerativ 
entwickelten  Menschen,  als  mit  einem  Krankheitsprocesse  von  typ- 
ischem Ablaufe  zu  thun  haben.   Gerade  die  Mischung  ausgeprägter 
Krankheitserscheinungen  mit  verhältnissmässig  normalen  psychischen 
Leistungen,  wie  sie  auf  diese  Weise  zu  Stande  kommt,  darf  bis  za 
einem  gewissen  Grade  als  charakteristisch  für  die  Psychosen  auf 
erblicher  Grundlage  angesehen  werden. 

Nur  bei  den  schwersten  Formen  der  erblichen  Entartiing  werden 
pathologische  Zustände  als  solche  vererbt;  in  der  Eegel  findet  nur 
die  Uebertragung  einer  krankhaften  Disposition,  einer  geringeren 
Widerstandsfähigkeit  des  psychischen  Organismus  statt,  welche  erst 
dann  zur  wirküchen  Erkrankung  führt,  wenn  ungünstige  Einflüsse 
auf  dem  Boden  der  hereditären  Anlage  ihre  verderbliche  Wirksam- 
keit entfalten.    So  erklärt  es  sich,  dass  der  Beginn  der  Geistes- 
störung bei  erblich  Belasteten  besonders  gern  in  jene  Lebensab- 
schnitte zu  faUen  pflegt,  in  denen  aus  inneren  oder  äusseren  Gründen 
das  psychische  Gleichgewicht  stärkeren  Schwankungen  ausgesetzt 
ist  namentiich  in  das  Pubertätsalter,  ferner  in  die  Zeit  des  Kampfes 
um  eine  selbständige  LebenssteUung  und  der  beginnenden  senilen 
Kückbüdung  resp.  des  Klimakteriums  beim  Weibe.    Wenn  wir 
diesen  Erfahrungen  gegenüber  bei  „rüstigen",  nicht  erblich  be- 
lasteten Individuen  im  Allgemeinen  Geistesstörungen  nur  durch 
intensiv  wirkende  Schädlichkeiten  entstehen  und  dann  entweder  m 
Genesung  oder  aber  in  mehr  oder  weniger  schweres  psychisches 
Siechthum  ausgehen  sehen,  so  bedaii  es  kaum  besonderer  Betonung, 
dass  es  natürlich  zwischen  diesen  beiden  GrenzfäLlen  alle  mögüchen 
Uebergänge  geben  muss,  deren  Entstehung  sich  eben  aus  der  sehr 
verschiedenen  ursächlichen  Bedeutung  erklärt,  welche  der  erbhchen 


Erblichkeit. 


63 


Yeraiilagiing  in  der  Reihe  der  einzelnen  klinischen  Formen  des 
Irreseins  zukommt.  Ebenso  ist  es  selbstverständlich,  dass  die  Be- 
ziehungen zwischen  Heredität  und  bestimmten  psychischen  Krank- 
heitsbildern zunächst  nur  statistische  sind,  dass  also  im  gegebenen 
Falle  die  erbliche  Veranlagung  zweifellos  auch  durch  eine  Häufung 
andersartiger  ungünstiger  Momente  ersetzt  werden,  und  dass 
umgekehrt  auch  ein  hochgradig  hereditär  belastetes  Individuum 
an  einer  acuten,  nicht  periodischen,  heilbaren  Psychose  erkranken 
kann. 

Die  symptomatische  Form,  wie  der  Verlauf  der  psychischen 
Störung  wiederholen  in  einzelnen  Fällen  mit  grösster  Treue  das 
Krankheitsbild  des  Vorfahren,  von  dem  sich  die  Vererbung  herleitet 
(gleichartige  Vererbung).  Mehrere  Generationen  können  auf  diese 
Weise  nach  eiaa^nder  mit  Selbstmord  endigen,  oder  es  kann  bei 
gleichen  Anlässen,  im  gleichen  Lebensalter  dieselbe  Erkrankung  bei 
Vorfahren  und  Nachkommen  zur  Entwickelung  gelangen.  "Weit 
häufiger  ist  indessen  eine  Transformation  der  Vererbung,  die  sich 
in  der  allermannig-faltigsten  Weise  vollziehen  kann.  Alle  jene  oben 
genannten  Erscheimtngsformen  der  neuropathischen  und  psycho- 
pathischen Constitution  ti:eten  als  Glieder  derselben  hereditären  Kette 
neben  einander  auf,  wenn  es  auch  nach  Siolis  sorgfältigen  Unter- 
suchungen den  Anschein  hat,  als  ob  die  affectiven  Formen  des  Irre- 
seins einerseits  und  die  Verrücktheit  andererseits  bei  der  Vererbung 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  einander  ausschhessen.*)  Gemeinsam 
ist  allen  den  hereditären  Aequivalenten  die  krankhafte  Grundlage, 
während  die  Ausbildung  der  Störungen  im  Einzelnen  durch  ver- 
schiedenartige zufällige  Ursachen  bestimmt  zu  werden  scheint.  Am 
leichtesten  verständlich  wird  dieses  Verhalten  dort,  wo  eben  über- 
haupt nur  eine  krankhafte  Anlage  zur  Vererbung  kommt  und  wo 
die  Einflüsse  des  individuellen  Lebens  erst  für  die  Weiterentwickel- 
ung derselben  massgebend  werden. 

Als  körperhche  Anzeichen  der  erbhchen  Entartung  (stigmata 
hereditatis)  pflegt  man  gewisse  Entwickelungsanomalien  zu  beti-achten, 
welche  sich  mit  einiger  Häufigkeit  bei  erblich  belasteten  Individuen 
vorfinden.   Dahin  gehören  Vorbildungen  des  Schädels,  der  Zähne, 


*)  Sioli,  lieber  directe  Vererbung  von  Geisteskrankheiten,  Archiv  fär 
Psychiatrie  XVI. 


I.   Allgemeine  Aetiologie. 

der  Ohren,*)  Asymmetrien,  Inner vationsstöruugen,  mangelhafte 
Ausbildung  der  Genitalien,  umschriebenes  Ergrauen  der  Haare 
und  Aehnliches.  Das  Zusammentreffen  derartiger  Erscheinungen 
mit  psychischer  Entartung  hat  gewiss  ein  nicht  unbedeutendes 
theoretisches  Interesse;  für  die  praktische  Beui'theilung  des  einzelnen 
EaUes  ist  es  wegen  des  Eehlens  einer  durchgreifenden  Gesetzmässig- 
keit nahezu  werthlos. 

EntwlckelungsstörimgeE.    Fast  gänzlich  unbekannt  ist  bisher 
der  Einfluss  solcher  Schädlichkeiten  auf  die  Veranlagung  des  Indi- 
viduums, welche,  ohne  erbUche  zu  sein,  die  erste  Zeit  seiner  Ent- 
wickelung  betreffen,  obgleich  dieselben  höchst  wahrscheinlich  bis- 
weilen von  sehr  einschneidender  Bedeutung  sein  können.    So  wird 
angegeben,  dass  Berauschtheit  während  des  Zeugungsactes  Epüepsie 
der  Nachkommen  zur  Folge  haben,  dass  heftige  Gemüthsbewegung 
der  Mutter  während  der  Schwangerschaft  eine  psychopathische  Yer- 
anlagung  des  Kindes  hervorrufen  kann.  Dass  ferner  aUerlei  körper- 
liche Ursachen,  ungenügende  Ernährung,  hohes  oder  sehr  jugend- 
liches Alter  der  Eltern,  endüch  Krankheiten  dieser  letzteren  oder 
des  Fötus  für    die   Hirnentwickelung  und  'somit  auch  für  die 
psychische  Anlage  des  Individuums  eine  grosse,  wenn  auch  noch 
nicht  im  Einzelnen  bestimmbare  Wichtigkeit   erlangen  dürften, 
bedarf  keiner  weiteren  Ausführung.    Dagegen  muss  es  heute,  na- 
mentüch  im  Hinbücke  auf  die  Verhältnisse  bei  Thieren,  zum  Min- 
desten als  recht  zweifelhaft  gelten,  ob  wii'klich,  wie  man  vielfach 
gemeint  hat,  nahe  Verwandtschaft  der  Eltern  an  sich  schon  eine 
Entartung  der  Kinder  zur  Folge  hat.    Die  anscheinend  in  diesem 
Sinne  sprechenden  positiven  Erfahrungen  lassen  sich  vielmehr  höchst 
wahrscheinlich  auf  eine  cumulative  Vererbung  von  Krankheitsanlagen 
in  bereits  degenerirten  Familien  zurückführen.    Wo  beide  Eltern 
völlig  gesund  sind,  wird  die  Entwickelung  der  Nachkommenschaft 
durch  die  Blutsverwandtschaft  schwerlich  in  krankmachender  Weise 
beeinüusst. 

Erzielmiig.  Unserem  unmittelbaren  Verständnisse  leichter  zu- 
gängüch  erscheint  die  Bedeutung  der  Erziehung  für  die  Entwickel- 
ung der  psychischen  Persönlichkeit.    Allerdings  wissen  wir  heute 


*)  Binder,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XX,  1889,  p.  514. 


Entwickelungsstörungen.  Erziehung. 


65 


noch  nicht,  wieweit  die  Erziehung  überhaupt  in  das  Wesen  des 
Mensehen  einzugreifen  und  dasselbe  umzugestalten  vermag.  Die 
Anschauungen  über  diesen  Punkt  schwanken  zwischen  fatalistischem 
Zweifel  und  hoffnungsvollem  Optimismus  vielfach  hin  und  her.  Die 
einfache  Erfahrung  scheint  mir  zu  lehren,  dass  hier  die  verschieden- 
ai'tigsten  Yerhältnisse  in  der  Natur  wirklich  vorkommen.  So  gewiss 
es  Menschen  giebt,  die  von  vorn  herein  auf  die  psychische  Er- 
krankung unrettbar  zutreiben,  ja,  die  schon  geisteskrank  geboren 
werden,  so  gewiss  alle  wesentlichen  Eigenschaften  des  Verstandes 
imd  Charakters  schon  beim  Kinde  in  der  Anlage  vorhanden  sind,  so 
unzweifelhaft  ist  es  auch,  dass  die  Art  der  Jugenderziehung  für  die 
weitere  Ausbildung  jener  Anlagen  und  damit  auch  für  die  gesammte 
Gestaltung  der  Lebensschicksale  von  eingreifender  Bedeutung  werden 
kann.  Wir  erkennen  das  nicht  nur  aus  der  starken  Betheiligung 
der  unehelich  Greborenen  und  Verwahrlosten  am  Verbrechen,  am 
Selbstmord  und  Irresein,  sondern  auch  an  der  Ausbildung  von 
Menschentypen  je  nach  den  Eindrücken  der  Kindheit.  Die  Gegen- 
sätze zwischen  Stadt-  und  Landbevölkerung,  die  Eigenthümlich- 
keiten  der  Strand-,  Gebirgs-  und  Grenzbewohner  verwischen  sich 
auch  dann  nicht,  wenn  die  Menschen  später  in  ganz  andere  Ver- 
hältnisse hineingeworfen  werden.  Allerdings  ist  hier  überall,  wie 
bei  den  Verbrecher-,  Gelehrten-  und  Künstlerfamilien,  der  Ein- 
fluss  der  Erblichkeit  von  demjenigen  der  Erziehung  schwer  ab- 
zutrennen. 

Die  allgemeinen  Aufgaben  der  Erziehung  sind  einmal  die  intel- 
lectuelle  Ausbildung  desEandes,  die  dasselbe  befähigt,  Erfahrungs- 
material zu  sammeln  und  zu  verarbeiten,  dann  aber  die  Begründung 
eines  constanten,  das  Handeln  nach  einheitlichen  sittlichen  Grund- 
sätzen leitenden  Charakters.  Nach  beiden  Eichtungen  hin  kann 
die  Pädagogik  hinter  den  Anforderungen  zurückbleiben,  die  der 
Kampf  des  Lebens  an  die  Leistimgs-  und  Widerstandsfähigkeit  des 
socialen  Menschen  stellt.  Vernachlässigung  der  Verstandesbildung 
giebt  denselben  allen  Gefahren  der  Kritiklosigkeit  und  des  Aber- 
glaubens Preis,  und  erschwert  ihm  die  Ueberwindung  jener  Schwierig- 
keiten, welche  die  Erringung  einer  selbständigen  Lebensstellung 
bietet.  Andererseits  aber  führt  auch  die  TJeberanstrengung  des 
jugendlichen  Gehirns  schwere  Schädlichkeiten  mit  sich,  indem  sie 
dasselbe  frühzeitig  erschöpft  und  damit  die  volle  Ausbildung  des- 

Krao  pol  in,  Psychiatrie.  4.  Aufl.  5 


66 


I.   Allgemeine  Aetiologie. 


selben  unmöglich  macht.  Behinderung  der  freien  persönlichen  Ent- 
wickelung  durch  übermässige  Sti-enge  und  Pedanterie  macht  den 
Menschen  engherzig  und  verschlossen,  und  erstickt  im  Keime  jene 
gemüthlichen  Regungen  des  Wohlwollens  und  der  Menschenliebe, 
von  deren  Stärke  vor  Allem  die  sittliche  Ausbildung  des  Charakters 
abhängig  ist.  Verzärtelung  endlich  durch  weichliche  Nachgiebigkeit 
lässt  die  augenblicklichen  Launen  und  Begierden  zur  unbezwing- 
lichen  Herrschaft  über  das  Handeln  gelangen  und  verhindert  dadurch 
die  Entwickelung  eines  abgeschlossenen  und  einheitlichen,  fest  in 
sich  selbst  gegründeten  Charakters. 

Den  Einflüssen  der  Erziehung  schliessen  sich  diejenigen  der 
späteren  Lebenserfahrungen  an,  bald  bessernd  und  veredelnd,  bald 
zerrüttend  und  untergrabend,  was  jene  schuf.  Alle  die  schon  früher 
aufgezählten  körperlichen  und  psychischen  Ursachen,  Traumen, 
Krankheiten  und  Yergiftungen  aUer  Ali,  Ueberanstrengungen,  Ge- 
müthsbewegungen,  Excesse  u.  s.  f.,  können  hier,  soweit  sie  nicht 
geradezu  eine  psychische  Erkrankung  herbeiführen,  umwandelnd  und 
vorbereitend  auf  das  Individuum  einwirken.    Auch  hier  zeigt  uns 
die  typische  Gestaltung,  welche  die  einzelnen  Stände,  Berufsarten 
und  sonstigen  socialen  Gruppen  ihren  Mitgliedern  in  der  gesammten 
Auffassung,  der  Moral,  in  der  Lebensführung  und  selbst  in  allen 
möglichen  Aeusserlichkeiten  aufprägen,  dass  nicht  nur  die  Anlage 
des  Einzelnen  seine  Lebensschicksale  bestimmt,  sondern  dass  um- 
gekehrt auch  eine  Rückwirkung  dieser  letzteren  auf  die  besondere 
Entfaltung  seiner  persönlichen  Eigenart  stattfindet. 

Grundlage  der  Prädisposition.  Nichtsdestoweniger  giebt  es  wol 
gewisse  Eigenschaften,  welche  von  vornherein  für  den  Menschen 
charakteristisch  sind  und  durch  keinerlei  spätere  Einwirkungen  sich 
mehr  verwischen  lassen.  Dafür  spricht  die  überraschende  Deutiich- 
keit,  mit  welcher  schon  bei  ganz  kleinen  Kindern  in  den  ersten 
Lebensjahren  Yerschiedenheiten  hervortreten,  die  sich  ti-otz  aller 
nivellirenden  Einflüsse  durch  das  ganze  Leben  hindurch  erhalten. 
Es  liegt  nahe,  hier  an  Unterschiede  in  der  körperlichen  Veranlagung 
zu  denken.  Abweichungen  in  den  Grössenverhältnissen  der  einzelnen 
Organe  untereinander,  in  der  chemischen  Zusammensetzung  der 
Gewebe  könnten  wol  auch  jene  Differenzen  in  den  Lebensleistungen 
zui-  Folge  haben,  welche  uns  als  dauernde  persönliche  Eigenthüm- 
lichkeiten  entgegentreten. 


Erziehung.    Grundlage  des  Prädispoeition. 


67 


Das  besondere  Merkmal  der  psychopathischen  Yeranlagung  ist, 
soweit  ich  sehe,  die  allgemeine  Eigenschaft  der  herabgesetzten 
"Widerstandsfähigkeit  im  Bereiche  des  gesammten  Seelenlebens. 
Sie  kennzeichnet  sich  auf  intellectuellem  Gebiete  durch  die  beiden 
einander  wahrscheinlich  nahe  verwandten  Erscheinungen  stärkerer 
Ermüdbarkeit  und  Ablenkbarkeit.  Die  Grösse  der  geistigen  Arbeits- 
leistung in  einer  bestimmten  Zeit  nimmt  hier  bei  dauernder  An- 
strengung ungemein  rasch  ab  und  wird  in  besonders  hohem  Maasse 
durch  die  Zufälligkeiten  der  äusseren  und  inneren  Disposition  be- 
einflusst.  Im  Bereiche  der  Gefühle  begegnen  wir  erleichterter  Aus- 
lösimg stärkerer  Gleichgewichtsschwankungen,  grösserer  gemüthlicher 
Erregbarkeit,  aber  geringer  ISTachhaltigkeit  der  AJffecte.  Dem  ent- 
spricht endlich  leichte  Bestimmbarkeit  des  Handelns  durch  äussere 
und  innere  Einflüsse,  Haltlosigkeit  auf  der  einen,  zwangsmässige 
Pedanterie  auf  der  anderen  Seite.  In  stärkerer  Ausbildung  geht  die 
psychopathische  Prädisposition  geradezu  in  bestimmte  krankhafte  Zu- 
stände über,  bei  deren  Besprechung  wir  späterhin  die  einzelnen  kli- 
nischen Gestaltungen  verminderter  psychischer  Widerstandsfähigkeit 
eingehender  zu  betrachten  haben  werden. 

Physiologisch  kann  man  den  hier  geschilderten  Zustand  etwa 
mit  demjenigen  der  Asthenie  in  Parallele  setzen,  den  man  an  peri- 
pheren Nerven  beobachtet,  wenn  dieselben  in  Folge  oft  wiederholter 
Keizung  ihre  normale  Eeactionsform  verKeren  und  nun  eben  durch 
ein  Stadium  wachsender  Erregbarkeit  mit  Abnahme  der  Hemmungen 
hindurch  schliesshch  in  den  Zustand  der  Erschöpfung,  der  sinken- 
den Eeizbarkeit,  übergehen. 

Ohne  Zweifel  kennzeichnet  sich  auch  auf  dem  Gebiete  der 
psychischen  Leistungen  das  erste  Stadium  der  Ermüdung  durch  eine 
Zunahme  der  Erregbarkeit,  welche  erst  bei  dauernder  Arbeit  weiter- 
hin einem  fortschreitenden  Nachlasse  derselben  Platz  macht.  Bei 
rüstigen,  leistungsfähigen  Menschen  vollzieht  sich  dieser  ganze  Vor- 
gang langsam  und  allmählich,  während  die  geringere  Widerstands- 
fähigkeit sich  eben  durch  das  rasche  Auftreten  der  Erregbarkeits- 
steigerung kennzeichnet.  Schon  unter  dem  Einflüsse  der  normalen 
Lebensreize  steüt  sich  dieser  Zustand  leicht  und  häufig  ein,  und 
kann  bei  oberflächlicher  Beurtheüung  unter  Umständen  sogar  den 
Anschein  einer  erhöhten  Leistungsfähigkeit  erwecken,  bis  die  ge- 
ringe Ausdauer  und  Stetigkeit  auf  allen  Gebieten  des  Seelenlebens 

5* 


68 


I.  Allgemeine  Aetiologie. 


die  Sachlage  klärt.  So  lange  uns  eine  genauere  Kenntniss  dieser 
Verhältnisse  fehlt,  ist  es  daher  vieUeicht  gestattet,  in  etwas  zuge- 
spitzter Form  den  Zustand  der  psychopathischen  Prädisposition 
wesentlich  als  den  Ausdruck  einer  dauernden  leichterenprschöpf- 
barkeit  unserer  nervösen  Centraiorgane  aufzufassen. 


n.  Allgemeine  Symptomatologie. 


Die  Gesammtheit  aller  krankhaften  Punctionsstörungen  im 
Centraiorgane  unseres  Bewusstseias  bezeiclinen  wir  als  die  Sym- 
ptome des  Irreseins.  Yon  denselben  haben  für  die  allgemeine  Be- 
trachtung hier  ein  unmittelbares  Interesse  nur  diejenigen,  welche 
uns  als  psychische  Veränderung'en  entgegentreten.  Die  ver- 
schiedenen körperlichen  Krankheitserscheinungen,  nervöse  Eeizungs- 
und  Lähmungssymptome  aller  Art,  vasomotorische,  trophische  etc. 
Störungen,  gehören  ihrer  Natur  nach  dem  Gebiete  der  Neuropatho- 
logie  an;  sie  bieten  als  solche  nichts  für  das  Irresein  Charakte- 
ristisches und  werden  daher  erst  später,  bei  der  Darstellung  der 
einzelnen  klinischen  Krankheitsformen,  nähere  Berücksichtigung 
finden. 

Drei  Hauptrichtungen  sind  es  im  Grossen  und  Ganzen,  in  denen 
sich  die  psychischen  Lebenserscheinungen  bewegen,  die  Aufnahme 
und  geistige  Verarbeitung  des  Erfahrungsmaterials,  die 
Schwankungen  des  gemüthlichen  Gleichgewichts  und  die 
Umsetzung  der  centralen  Erregungszustände  in  Hand- 
lungen. Auf  diesen  drei  Gebieten  werden  wir  daher  die  Elementar- 
störungen der  psychischen  Leistungen  aufzusuchen  haben,  aus  deren 
verschiedenartiger  Yerbindung  wir  die  klinischen  Krankheitsbilder 
hervorgehen  sehen.  Bei  weitem  die  grösste  Mannigfaltigkeit  der 
Erscheinungen  bietet  dabei  unserer  Analyse  diejenige  Gruppe  von 
psychischen  Vorgängen  dar,  welche  die  Sammlung  sinnlicher  Ein- 
drücke und  dann  weiter  die  Verarbeitung  derselben  zu  Vorstellungen 
und  Begriffen,  sowie  die  Ausbildung  der  höheren  logischen  Ge- 
dankengänge zum  Gegenstande  hat. 


70 


n.  Allgemeine  Symptomatologie. 


A.  Störungen  des  Wahrnelimungsvorganges. 

Die  "Wahrnehmung  eines  äusseren  Sinnesreizes  steht  im  All- 
gemeinen in  Abhängigkeit  von  zwei  verschiedenen  Bedingungen, 
nämlich  einmal  von  Bau  und  Leistung  des  gesammten  peri- 
pheren und  centralen  Sinnesgebietes,   dann  aber  von  dem 
Zustande  des  Bewusstseins,  welches  den  zugeführten  Eindruck 
in  sich  aufnehmen  soll.    Alle  Störungen,  welche  das  eine  oder  das 
andere  dieser  beiden  Grebiete  in  krankhafter  Weise  verändern,  müssen 
auch  im  Stande  sein,  die  Auffassung  der  Aussenwelt  in  mehr  oder 
weniger  hohem  Grade  zu  beeinträchtigen.    Wo  die  peripheren  reiz- 
aufnehmenden Organe  leistungsunfähig  geworden  sind  (Blindheit, 
Taubheit),  oder  wo  sich  unüberwindliche  Leitungshiudernisse  ent- 
wickelt haben,  welche  die  Fortleitung  der  B,eize  unmöglich  machen, 
fallen  bestimmte  Arten  von  Sinnesvorstellungen  in  dem  Erfahrungs- 
schatze einfach  aus.    Hier  hängt  es  von  der  allgemeinen  psycho- 
logischen Wichtigkeit  derselben,  sowie  von  der  Möglichkeit  einer 
Stellvertretung  durch  andere  Sinne  ab,  wie  weit  dadurch  die  Ge- 
sammtausbildung   der  psychischen   Persördichkeit  zurückgehalten 
wird.    Wenn  auch  vereinzelte  Fälle  bekannt  sind,  in  denen  durch 
eine  überaus  mühevolle  Erziehung  sogar  der  Yerlust  des  Gesichtes 
und  Gehörs  mit  Hülfe  des  Tastsinnes  einigermassen  wieder  ausge- 
glichen werden  konnte,  so  bleiben  doch  nicht  unterrichtete  Taub- 
stumme lebenslänglich  auf  der  Stufe  des  Schwachsinnes  stehen, 
während  Blinde  durch  den  Sinnesdefect  in  ihrer  geistigen  Ent- 
wickelung  durchaus  nicht  in  höherem  Grade  zu  leiden  pflegen. 

Sinnestäusclmiigen.  Ein  weit  grösseres  klinisch-psychiatrisches 
Interesse  nehmen  indessen  diejenigen  Anomalien  des  Wahrnehmimgs- 
vorganges  in  Anspruch,  welche  nicht  auf  dem  vollständigen  Fehlen, 
sondern  auf  functionellen  Störungen  im  Gebiete  der  Sinnesbahn  be- 
ruhen, durch  die  somit  nicht  ein  Ausfall  von  Sinneserfahrung, 
sondern  eine  qualitative  Yeränderung,  eine  Verfälschung 
derselben  erzeugt  wird.  Jedes  Sinnesorgan  reagirt  auf  irgend  welche 
Eeize  in  einer  ihm  eigenthümlichen,  „specifischen"  Weise.  Es  muss 
daher  überall,  wo  der  Reiz,  der  einen  Eindi-uck  erzeugt,  nicht  der 
normale,  dem  getroffenen  Sinne  angemessene  ist,  eine  Täuschung 
über  die  Natur  der  Reizquelle  entstehen.    So  ist,  streng  genommen, 


Sinnestäuschungen. 


71 


der  Liclitblitz,  die  Klangempfiudung  bei  elektrischer  Durchströmung 
dos  Auges  und  Ohres,  der  Greschmackseindruck  bei  mechanischer 
Reizung  der  Chorda  tympani  als  eine  Trugwahrnehmung  anzusehen, 
Avenn  wir  dieselbe  auch  vermöge  unserer  physiologischen  Erfahr- 
ungen sogleich  als  solche  erkennen  und  corrigiren,  so  dass  eine 
weitere  Verfälschung  unseres  Bewusstseinsinhaltes  daraus  nicht  her- 
vorgeht. Dennoch  können  unter  Umständen  bei  Geisteskranken 
(namentlich  bei  stärkerer  Bewusstseinstrübung)  die  subjectiven  Licht- 
erscheinungen in  Folge  von  Blutüberfüllung  des  Auges,  das  Brausen 
und  Klingen  in  den  Ohren  die  Yorstellung  drohender  Feuers-  und 
"Wassersgefahren  und  dergl.  wachrufen  und  auf  diese  "Weise  das 
Zustandekommen  einer  wirklichen,  nicht  ausgeglichenen  Täuschung 
vermitteln.  Derartige  peripher  bedingte  Sinnestäuschungen  hat  man 
elementare  genannt,  weil  sie  eben  wegen  ihres  Entstehungsortes 
in  den  reizaufnehmenden  Flächen  den  Charakter  einfacher,  nicht 
zusammengesetzter  Sinnesempfindungen  tragen. 

Yerfolgen  wir  indessen  die  Bahn  der  Sinnesnerven  weiter 
centralwärts,  so  gelangen  wir  an  diejenigen  Organe,  in  denen  sich 
die  einzelnen  "Wahrnehmungselemente,  wie  sie  von  der  Peripherie 
geliefert  werden,  zu  einem  Gesammteindrucke  verbinden,  der  sodann 
als  Sinnesvorstellung  ins  Bewusstsein  gelangt.  lieber  die  anatomische 
Lage  dieser  Centren  können  wir  freilich  bisher  nichts  Sicheres  aus- 
sagen; am  wahrscheinlichsten  ist  es  jedoch,  namentlich  im  Hinblick 
auf  die  klinischen  und  experimentellen  Erfahrungen  über  die 
„Seelenblindheit",  dass,  wenigstens  beim  Menschen  und  bei  höheren 
Thieren,  die  sog.  centralen  Sinnesflächen  in  der  Rinde  als  solche  zu 
betrachten  sind.  Es  ist  ohne  Weiteres  klar,  dass  auch  hier  nicht 
adäquate  Reize,  also  z.  B.  Yeränderungen  in  der  Circulation,  Gifte 
und  dergl,  Erregungszustände  hervorzurufen  vermögen,  welche  den 
normalen  Reizungen  durch  Sinneseindrücke  sehr  ähnlich  sind,  um 
so  leichter,  wenn  die  Erregbarkeit  des  betreffenden  Centruras  im 
gegebenen  Augenblicke  durch  liegend  welche  Einflüsse  ohnedies  ge- 
steigert ist.  Unter  solchen  Umständen  kann  daher  irgend  eine  mehr 
oder  weniger  zusammengesetzte  Sinnesvorstellung  in  das  Bewusst- 
sein eintreten,  die  nicht  durch  einen  peripheren  Reiz,  sondern  dui-ch 
central  bedingte,  physiologische  oder  krankhafte  Erregungszustände 
in  der  betreffenden  Sinnesbahn  hervorgerufen  wurde.  Da  dieselbe 
gleichwol  auf  einen  äusseren  Gegenstand  bezogen  vsärd,  so  haben 


72 


n.  Allgemeine  Symptomatologie. 


wir  es  demnach  hier  mit  einer  Fälschung  des  Wahrnehmungsvor- 
ganges zu  thun,  die  auf  einer  Täuschung  über  den  wahren  Ursprung 
der  Sinnesreizung  beruht.*) 

Diese  Gruppe  der  Sinnestäuschungen,  die  man  wegen  ihi-er 
yermuthlichen  Entstehung  in  den  „Perceptionscentren"  vielleicht  als 
Perceptionsphantasmen  bezeichnen  kann,  ist  es,  welche  der  nor- 
malen Wahrnehmung  symptomatisch  am  nächsten  steht.  Allerdings 
pflegen  diese  Täuschungen  beim  gesunden  Menschen,  bei  dem  sie 
sich  häufig  vor  dem  Einschlafen  einstellen  (hypnagogische  Hallu- 
cinationen),  nur  ganz  ausnahmsweise  (im  Bereiche  des  Gehöi-s)  eine 
grössere  Lebhaftigkeit  zu  gewinnen;  unter  krankhaften  Yerhältnissen 
dagegen  werden  die   Gegenstände  wirklich  gesehen,  die  Stimmen 
wirklich  gehört  u.  s.  f.;  eine  Berichtigung  der  Fälschung  ist  nur  mit 
Hülfe  der  anderen  Sinne  möglich.    Yom  sonstigen  Gedankengange 
sind  sie  im  Allgemeinen  unabhängig  imd  treten  auch  deswegen  dem 
Bewusstsein  als  etwas  Fremdes,  Selbständiges,  von  aussen  Kommen- 
des gegenüber,  dessen  subjective  Entstehung  ihm  völHg  verborgen 
bleibt.    Aus  demselben  Grunde  haben  sie  auch  meist  einen  ziemlich 
gleichförmigen,  wenig  wechselnden  Charakter  (stabüe  Hallucinationen 
Kahlbaums):  Wiederholung  derselben,  bisweilen  sinnlosen  Worte, 
häufiges  Wahrnehmen  desselben  Geruches,  Sehen  bestimmter  Figuren, 
Thiere  und  dergl.    Da  sie  auf  centralen  Erregungszuständen  be- 
ruhen, so  sind  sie  von  der  Thätigkeit  der  peripheren  Sinnesorgane 
im  Allgemeinen  unabhängig  und  kommen  auch  bei  gänzlicher  Yer- 
nichtung  der  Sinnesnei-ven  und  ihrer  ersten  Endigungen,  der  Nerven- 
kerne, zur  Beobachtung. 

Es  hat  jedoch  den  Anschein,  dass  auch  periphere  Einwii-k- 
ungen  bisweilen  in  den  höheren  Centren  direct  oder  auf  reflectorischeni 
Wege  Erregungszustände  auszulösen  vermögen,  die  zur  Entstehung 
von  Sinnestäuschungen  führen.  Dies  geschieht  ojffenbar  um  so 
leichter,  je  grösser  die  Reizbarkeit  jener  Centren  ist.  Unter  ki-ank- 
haften  Yerhältnissen  genügen  bisweilen  schon  die  gewöhnlichen 
Lebensreize,  um  die  besprochenen  Fälschungen  des  Wahrnehmungs- 
vorganges zu  erzeugen;  in  anderen  Fällen  treten  sie  sogleich  hervor, 


*)  V.  Krafft-Ebing,  Die  Sinnesdelirien,  1864;  Kahlbaum,  AUgem.  Zeit- 
schrift flir  Psychiatrie,  XXIII;  Hagen  ibid.  XXV;  Kandinsky,  Kritische  imd 
klinische  Betrachtungen  im  Gebiete  der  Sinnestäuschungen.  1885. 


Sinnestäuschungen. 


73 


wenn  sich  die  Aiifmerksamkeit  aiif  das  betroffene  Sinnesgebiet 
richtet  und  die  leisen  Erregungszustände  in  demselben  über  die 
Schwelle  des  Bewusstseins  erhebt,  oder  wenn  ein  Affect  eine 
vorübergehende  Steigerung  der  Reizempfänglichkeit  zu  Stande  bringt- 
Sie  schwinden  daher  auch,  sobald  der  Kranke  sich  beruhigt  oder 
durch  ein  Gespräch,  interessante  Leetüre,  die  Versetzung  in  eine 
neue  Umgebung  u.  dergl.  abgelenkt  wird.  Endlich  spricht  noch  für 
die  Mitwirkung  von  Eeizzuständen  in  den  Sinnesorganen  das  ge- 
legentlich beobachtete  Yorkommen  von  einseitigen  Gehörstäuschungen, 
sowie  der  Nachweis,  dass  bei  Gehörshallucinanten  häufiger  chronische 
Erkrankungen  des  Mittelohrs,  sowie  Anomalien  in  der  elektrischen 
Eeaction  des  Acusticus*)  vorhanden  sind.  Ausser  der  einfachen 
Hyperästhesie  findet  man  hie  und  da  paradoxe  Eeaction  des  nicht 
armirten  Ohres  und  namentlich  auch  die  schwerste  Form  der 
Störung,  die  Umkehrung  der  Eormel  für  die  einfache  Hyperästhesie. 
Wie  Jelly  gezeigt  hat,  gelingt  es  hier  auch  gar  nicht  selten,  durch 
elektrische  Eeizung  des  Acusticus  die  Täuschungen  hervorzurufen, 
und  Nägeli  war  in  der  Lage,  bei  einer  Yerbrennung  seiner  Horn- 
haut mit  heissem  Spiritus  an  sich  selbst  längere  Zeit  ausgeprägte 
G  esichtshallucinationen  von  vollkommener  sinnlicher  Deutlichkeit  zu 
beobachten. 

In  der  Eegel  pflegt  es  nur  ein  einzelnes  Sinnesgebiet  zu  sein, 
auf  welchem  in  dieser  Weise  Fälschungen  der  äusseren  Erfahrung 
sich  [vollziehen.  Am  häufigsten  sind  sicherlich  diese  Punctions- 
störungen  im  Gebiete  des  Gehörs  und  Gesichts,  seltener  in  dem- 
jenigen der  drei  übrigen  Sinne  und  in  dem  dunklen  Bereiche  jener 
Wahrnehmungen,  die  wir  unter  dem  Sammelnamen  des  Gemein- 
gefühls zusammenfassen. 

Für  die  klinische  Betrachtung  hatEsquirol  und  nach  ihm  aus 
praktischen  Gründen  die  Mehrzahl  der  Forscher  zwei  Arten  von 
Sinnestäuschungen  unterschieden,  solche  nämlich,  bei  denen  eine 
äussere  Eeizquelle  gar  nicht  vorhanden  ist:  Hallucinationen,  und 
solche,  die  nur  als  die  Yerfälschung  einer  wirklichen  Wahrnehmung 
durch  hinzugetretene  subjective  Elemente  zu  betrachten  sind:  Illu- 
sionen.**)   Im  EinzeKaUe  ist  diese  Trennung  nicht  selten  äusserst 

*)  Jelly,  Archiv  f.' Psychiatrie,  IV,  Buccola,  Eivista  di  freniatria  sperimen- 
tale,  XI,  1885. 

**)  Sully,  Die  Illusionen.  Internat,  wissenschaftliche  Bibliothek,  1883. 


74 


II.  Allgemeine  S}Tiiptomatologie. 


schwierig  oder  gänzlich  unmöglich.  So  sind  wir  namentlich  bei  den 
Contactsinnen  (Geruch,  Geschmack,  Hautsinn)  fast  niemals  im  Stande, 
mit  Sicherheit  das  Yorhaudensein  irgend  einer  äusseren  Reizursache 
.(Zersetzungsvorgänge  in  Mund-  oder  Nasenhöhle,  Temperaturschwank- 
ungen und  dergl.)  auszuschliessen,  noch  weniger  natürlich  bei  den 
Störungen  des  Gemeingefühls.  Auch  beim  Gesicht  geben  nicht  selten 
uncontrolirbare  Reize,  z.B.  das  Eigenlicht  der  Retina,  beim  Gehör 
entotische  Geräusche  u.  s.  f.  gewissermassen  das  erste  Material  für  die 
Ausbildung  der  Trugwahrnehmungen  ab.  In  anderen  Fällen  jedoch 
ist  die  verschiedenartige  Entstehungsweise  ohne  Weiteres  klar.  Der 
Furchtsame,  der  ragende  Baumstämme,  wallende  Nebel  für  Ge- 
spenster hält  („Erlkönig"),  der  Kranke,  der  aus  dem  Läuten  der 
Glocken,  dem  Kritzeln  der  Feder,  dem  Bellen  der  Hunde,  dem 
Knarren  der  Wagen  Schimpfworte  und  Yorwürfe  heraushört  —  sie 
haben  zweifellos  „Illusionen",  während  wir  die  typischen  Gesichts- 
phantasmen  des  Alkoholisten,  die  „Stimmen",  welche  den  Sträfling 
im  stillen  Zellengefängnisse  quälen  oder  beglücken,  höchst  wahr- 
scheinlich als  Haliucinationen  zu  bezeichnen  haben.  Zwischen  beiden 
Formen  giebt  es  alle  möglichen  Uebergänge;  ist  doch  die  Illusion 
im  Grunde  nichts  Anderes,  als  eine  vielfach  wechselnde  Mischform 
von  normaler  Wahrnehmung  mit  hallucinatorischen  Zuthaten. 

Das  Gemeinsame  dieser  ganzen  Gruppe  von  Sinnestäuschungen 
Hegt  in  der  vollkommen  sinnlichen  Deutlichkeit  derselben.  Der 
centrale  Erregungszustand  entspricht  durchaus  demjenigen  beim  nor- 
malen Wahrnehmungsvorgange,  und  das  entstehende  Phantasma 
ordnet  sich  daher  unterschiedslos  in  die  Reihe  der  übrigen  Sinnes- 
eindrücke ein.  Die  Kranken  glauben  nicht  nur,  zu  sehen,  zu  hören, 
zu  fühlen,  sondern  sie  sehen,  hören,  fühlen  wirklich. 

Ein  in  vieler  Beziehung  abweichendes  Yerhalten  bieten  dagegen 
diejenigen  nur  uneigentlich  so  genannten  Sinnestäuschungen  dar, 
die  nichts  Anderes  sind,  als  Erinnerungsbilder  von  besonderer 
Intensität.  Das  Wiederauftauchen  eines  früheren  Eindruckes  pflegt 
in  der  Regel  niemals  die  sinnliche  Deutlichkeit  der  Sinneswahr- 
nehmung selbst  zu  erreichen,  sondern  sich  jederzeit  ganz  unzwei- 
deutig durch  die  geringere  Lebhaftigkeit  und  Schärfe  von  jener  zu 
unterscheiden.  Indessen  bestehen  in  dieser  Beziehung  bedeutende 
persönliche  Differenzen.  Während  von  manchen  Beobachtern  den 
Erinnerungsbildern  jede  genauere  Ausprägung  nach  Farbe  und  Form 


Sinnestäuschungen. 


75 


abgesprochen  wird,  versichern  Andere,  besonders  bildende  Künstler 
dass  dieselben  bisweilen  an  sinnlicher  Deutlichkeit  der  unmittel- 
Jbaren  Wahrnehmung  nur  sehr  wenig  nachgeben. 

Unter  pathologischen  Yerhältnissen  kann  ojffenbar  die  Eepro- 
duction  von  Erinnerungsbildern  nicht  selten  einen  so  hohen  Grad 
von  sinnlicher  Deutlichkeit  erreichen,  dass  sie  von  den  Kranken  als 
wirkliche  Wahrnehmungen  besonderer  Art  aufgefasst  werden.  Eine 
ganze  Reihe  von  Forschern  ist  sogar  der  Ansicht,  dass  alle  Trug- 
wahrnehmungen unmittelbar  als  Phantasievorstellungen  von  ausser- 
gewöhnücher  sinnlicher  Lebhaftigkeit  aufzufassen  seien.  Allein  der 
Umstand,  dass  bei  Hallucinanten  durchaus  nicht  alle,  sondern  nur 
bestimmte  Gebiete  der  reproducirten  Eindrücke  in  den  Sinnes- 
täuschungen eine  Eolle  zu  spielen  scheinen,  und  dass  neben  diesen 
letzteren  stets  auch  Yorstellungen  von  dem  gewöhnlichen,  abgeblassten 
und  gestaltlosen  Charakter  zu  verlaufen  pflegen,  deutet  darauf  hin, 
dass  noch  eine  besondere  Ursache  hinzukommen  muss,  wenn  ein 
Erinnerungsbild  die  greifbare  Deutlichkeit  der  Wahrnehmung  er- 
halten soll. 

Die  nächstliegende  und  zumeist  adoptirte  Erklärung  dieses  Yer- 
haltens  ist  die  Annahme  einer  gleichzeitigen  centrifugalen  Er- 
regung  der  centralen  Sinnesflächen.  Wir  haben  früher  ge- 
sehen, dass  die  Erregungszustände  dieser  letzteren  in  der  Eorm 
sinnlicher  Wahrnehmung  ins  Bewusstsein  treten  müssen,  weil  ja 
alle  Sinneseüidrücke  eben  nur  durch  Vermittelung  jener  Erregungen 
auf  unser  Bewusstsein  einwirken  können.  Wenn  es  demnach  diese 
Centren  sind,  durch  deren  Erregung  die  Wahrnehmung  ihren  sinn- 
lichen Charakter  erhält,  so  liegt  es  nahe,  eine  grössere  oder  ge- 
ringere Betheiligung  derselben  an  dem  Vorgange  der  lebhaften  Re- 
production  zu  vermuthen.  Eine  derartige  Anschauung  würde 
namentlich  gut  die  Thatsache  erklären,  dass  zwischen  der  Sinnes- 
täuschung von  vollkommenster  sinnlicher  Deutlichkeit  und  der  ab- 
geblasstesten  Reproduction  eine  ununterbrochene  Reihe  von  Ueber- 
gangsstufen  Hegt,  ein  Yerhaiten,  das  sich  durch  die  Annahme  einer 
stärkeren  oder  schwächeren  Miterregung  der  Sinnesflächen  am  un- 
gezwungensten erklären  lassen  würde.  Möglich,  dass  sogar  beim 
gewöhnlichen  Denken  die  centrifugale  Reizung,  die  „Reperception", 
wie  Kahlbaum  sie  genannt  hat,  in  sehr  geringer  Stärke  immer 
stattfindet,  und  dass  erst  dann,  wenn  dieser  Vorgang  eine  krankhafte 


76 


II.   Allgemeine  Symptomatologie. 


Ausdehnung  gewinnt,  oder  wenn  die  Sinnesflächen  sich  in  einem 
Zustande  erhöhter  Erregbarkeit  befinden,  die  Lebhaftigkeit  der  Re- 
production  derjenigen  der  sinnlichen  Wahrnehmung  sich  annähert- 
Es  würde  somit  gewissermassen  ein  bestimmtes  Yerhältniss  zwischen 
der  Stärke  der  Reperception  und  der  Reizbarkeit  der  Sinnesflächen 
bestehen:  Je  grösser  die  Reizbarkeit  dieser  letzteren,  desto  leichter 
würden  die  Erinnerungsbilder  den  Charakter  der  sinnlichen  Deut- 
lichkeit erhalten,  desto  schwächer  brauchte  die  centrif  ugale  Erregungs- 
welle zu  sein,  um  dieselben  auszulösen,  und  desto  unabhängiger 
würden  sie  vom  Vorstellungsverlaufe  sein.  Der  Grenzfall  wäre  in 
den  früher  besprochenen,  auf  örtlichen  Reizungsvorgängen  beruhen- 
den Perceptionshallucinationen  gegeben,  die  dem  Kranken  ganz 
fremdartig,  als  etwas  von  aussen  sich  Aufdrängendes  gegenüber- 
stehen. 

Auf  der  anderen  Seite  giebt  es  zahlreiche  Fälle,  in  denen  es 
sich  gar  nicht  um  eigentliche  Sinnestäuschungen,  sondern  lediglich 
um  Yorstellungen  von  grosser  Lebhaftigkeit  handelt.  Bei  genauerem 
Eingehen  gelingt  es,  die  zunächst  auf  Trugwahrnehmungen  deuten- 
den Aeusserungen  der  Kranken  dahin  zu  begrenzen,  dass  die  Ein- 
drücke nicht  eigentlich  sinnliche,  sondern  „innerliche"  gewesen  sind, 
die  aber  dennoch  wegen  ihrer  aufdringlichen  Deutliclikeit  von  den 
gewöhnlichen  Yorstellungen  unterschieden  werden.  Hier  würde  man 
sich  etwa  die  Reperception  sehr  stark  entwickelt,  aber  die  Reizbar- 
keit der  Sinnesflächen  nicht  erhöht  vorzustellen  haben.  Für  diese 
Auffassung  spricht  der  Umstand,  dass  diese  letztgenannte  Gruppe 
der  Reproductionen,  die  man  auch  als  psychische  Hallucinationen 
(Baillarger),  Pseudohallucinationen  (Hagen)  oder  Apper- 
ceptions hallucinationen  (Kahlbaum)  bezeichnet  hat,  zumeist 
mehrere  oder  alle  Sinnesgebiete  in  zusammenhängender  Weise  um- 
fassen, und  dass  sie  stets  in  nahen  Beziehungen  zu  dem  sonstigen 
Bewusstseinsinhalte  stehen,  während  die  an  der  entgegengesetzten 
Seite  unserer  Scala  befindlichen  Perceptionsphantasmen  begreiflicher 
Weise  in  der  Regel  nur  einem  einzelnen  Sinnesgebiete  anzugehören 
pflegen  und  dem  Yorstellungsverlaufe  gegenüber  sich  durchaus 
selbständig  verhalten. 

Eine  interessante  Erläuterung  erhält  die  Theorie  der  Stunes- 
täuschungen  durch  eine  eigenthümliche  Störung,  die  man  als  „Doppel- 
denken" bezeichnet  hat.    Sie  besteht  wesentlich  in  dem  hallucina- 


Siimeätäuschungeu. 


77 


torischen  Mitklingen  der  G-edanken  des  Patienten.  Unmittelbar 
an  die  auftauchende  Yorstellung  schliesst  sich  eine  deutliche  Ge- 
hörswahrnehmung  des  gedachten  Wortes.  Am  häufigsten  tritt  dieses 
Mithaliuciniren  beim  Lesen,  etwas  seltener  beim  Schreiben  auf,  also 
dann,  wenn  eine  Vorstellung  sich  mit  einer  gewissen  Stärke  in's 
Bewusstsein  drängt.  Leises  oder  lautes  Aussprechen  der  "Worte 
bringt  die  hallucinatorischen  Fachkläuge  in  der  Eegel  zum  Yer- 
schwinden.  Stets  bestehen  ausserdem  noch  anderweitige  Gehörs- 
täuschungen.  Zur  Erklärung  dieser  Erscheinung  wäre  etwa  eben 
wegen  der  Hallucinationen  eine  erhöhte  Eeizbarkeit  der  centralen 
Sinnesflächen  anzunehmen,  die  sehr  wol  unter  dem  Einflüsse 
der  Eeperception  zur  fortiauf enden  Entstehung  von  Trugwahrnehm- 
ungen führen  könnte,  welche  den  Gedankengang  inhaltlich  Schritt 
für  Schritt  verfolgen.  Die  Ablenkung  der  centralen  Erregungs- 
zustände auf  motorische  Bahnen  scheint  dann  die  centrifugale 
Reizung  der  Sinnesflächen  durch  den  Yorstellungsverlauf  und  somit 
die  Entstehung  des  Doppeldenkens  bis  zu  einem  gewissen  G-rade 
verhindern  zu  können. 

Die  Schwierigkeit,  Apperceptionshallucinationen,  reproducirte 
Yorstellungen  von  fast  sinnlicher  Lebhaftigkeit,  scharf  von  der  wirk- 
lichen Wahrnehmung  zu  trennen,  ist  die  Ursache,  warum  bei  Geistes- 
kranken gerade  die  Yermischung  von  Sinneseindrücken  mit  sub- 
jectiven,  dem  eigenen  Yorstellungsverlaufe  entstammenden  Elementen 
eine  so  verhängnissvolle  Quelle  der  Yerfälschung  ihrer  Erfahrung 
wird.  Dieser  Yorgang,  den  wir  als  Apperceptionsillusion  den 
früher  berührten  Formen  der  Illusion  gegenüberstellen  können,  ist 
in  geringerem  Umfange  schon  unter  normalen  Yerhältnissen  überaus 
häufig.  Niemandem  kann  es  entgehen,  wie  sehr  auch  die  Wahr- 
nehmung des  Gesunden  unter  dem  Einflüsse  der  Erwartung,  der 
vorgefassten  Meinung  steht,  namentlich  dann,  wenn  lebhafte  Afi'ecte 
die  klare  und  sachliche  Auffassung  unserer  Umgebung  trüben.  Auch 
der  ruhigste  naturwissenschaftliche  Beobachter  ist  nicht  immer  ganz 
sicher,  dass  seine  Wahrnehmungen  sich  nicht  unmerklich  den  An- 
schauungen anpassen,  mit  denen  er  an  seinen  Gegenstand  heran- 
tritt; der  eifrige  Leser  ergänzt  und  verbessert  die  Yersehen  des 
Setzers  aus  dem  Schatze  seiner  Yorstellungen,  ohne  ihrer  nur  ge- 
wahr zu  werden,  und  die  Affecte  sind  bekanntlich  im  Stande,  in 
unserer  Gesammtauffassung  der  Umgebung  eine  so  rasche  und  durch- 


78 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


greifende  Umwandlung  herbeizuführen,  dass  die  einzelnen  Eindrücke 
in  sehr  stark  veränderter,  mit  eigenen  Zuthaten  verfälschter  Gestalt 
in  unser  Bewusstsein  gelangen.  Bei  Geisteskranken  sind  aber  die 
Bedingungen  für  die  Entstehung  von  Apperceptionsillusionen  häufig 
ausserordentlich  günstige:  lebhafte  Affecte,  grosse  Deutlichkeit  der 
reproducirten  Yorstellungen  und  endlich  —  ein  später  noch  näher 
zu  berücksichtigender  Umstand  —  Unfähigkeit  zu  einer  kritischen 
Sichtung  und  Berichtigung  des  Erfahrungsmaterials.  So  kommt  es, 
dass  hier  vielfach  die  sinnlichen  Eindrücke  in  der  Auffassung  des 
Kranken  ganz  abenteuerliche  und  phantastische  Formen  annehmen 
und  auf  diese  Weise  auch  dort,  wo  keine  eigentlichen  Hallucinationen 
vorhanden  sind,  die  Bausteine  zu  einer  durch  und  durch  verfälschten 
Anschauung  von  der  Aussenwelt  zu  liefern  im  Stande  sind. 

Am  leichtesten  kommt  natürlich  eine  derartige  Verfälschung 
der  Erfahrung  dann  zu  Stande,  wenn  die  von  den  Sinnen  gelieferten 
Eindrücke  nicht  klar  und  scharf  ausgeprägt,  sondern  unbestimmt 
und  verschwommen  sind.  "Wie  wir  im  gewöhnlichen  Leben  un- 
deutliche Wahrnehmungen  am  häufigsten  missverstehen,  d.  h.  un- 
willkürlich durch  subjective  Beimischungen  ergänzen  und  auslegen, 
so  spielen  auch  bei  Geisteskranken  die  Apperceptionsillusionen  be- 
sonders dann  eine  grosse  Kolle,  wenn  die  scharfe  Auffassung  der 
Sinneseindrücke  aus  irgend  welchen  peripheren  oder  centiralen 
Ursachen  eine  Beeinträchtigung  erlitten  hat. 

In  der  Kegel  vollzieht  sich  dieser  Yorgang  der  Vermischung 
von  Wahrnehmung  mit  selbst  erzeugten  Bestandtheilen  auf  einem 
und  demselben  Sinnesgebiete;  es  giebt  indessen  auch  eine  ebenfalls 
hierher  gehörige  Gruppe  von  Störungen,  welche  in  der  Auslösung 
einer  Trugwahrnehmung  eines  Sinnes  durch  einen  normalen  Eiu- 
druck  im  Bereiche  eines  anderen  bestehen,  die  von  Kahlbaum 
so  genannten  Eeflexhallucinationen.  Man  kann  sich  dabei  etwa 
vorstellen,  dass  der  centiipetale  Sinnesreiz  Erregimgszustände  her- 
vorruft, die  bei  ihrer  centrifugalen  üebertragimg  auf  eine  über- 
erregliche  Sinnesfläche  dort  zur  Entstehung  des  Phantasma  Veran- 
lassung geben.  Normale  Beispiele  dieses  Vorganges  sind  alle  die 
sogenannten  sympathischen  Empfindungen,  die  Tastempfindung  bei 
einem  blinden,  gegen  uns  gerichteten  Stosse,  die  unangenehmen 
Sensationen  des  nicht  abgehärteten  Zuschauers  bei  schmerzhaften 
Operationen  u.  s.  f.    In  pathologischen  Zuständen  sind  dieselben  bis- 


Sinneatäuschungen. 


79 


weilen  sehr  hochgradig  und  zugleich  in  sehr  bizarren  Formen  ent- 
wickelt; die  Kranken  fühlen  sich  mit  der  Suppe  „ausgefüllt",  von 
ihrer  Nachbarin  „eingeucäht",  „eingestrickt"  und  Aehnliches.  Nament- 
lich Bewegungsempfindungen,  wie  sie  sich  schon  normaler  Weise 
so  häufig  an  Sinneseindrücke  anschliessen,  scheinen  vielfach  auf 
diesem  Wege  zu  entstehen.*)  Es  giebt  Kranke,  welche  die  in  ihrer 
Umgebung  gesprochenen  Worte  in  ihrer  Zunge  fühlen,  denen  ein 
Blick,  eine  Berührung  eigenthümliche  Spannungs-  oder  Erschlaffungs- 
empfindungen im  Körper  erregt.  Dabei  ist  indessen  zu  berücksich- 
tigen, dass  es  sich  hier  vielfach  gewiss  nicht  um  die  einfache  Ueber- 
tragung  der  Sinnesreize  auf  eine  andere  Bahn,  sondern  um  Apper- 
ceptionshallucinationen  handelt,  die  lange  vorbereitet  sind  und  auf 
dem  Wege  einer  mehr  oder  weniger  klar  bewussten  Ueberlegung 
sich  an  irgend  eine  Wahrnehmung  anknüpfen. 

Eine  sehr  bemerkenswerthe  Eigenschaft  der  Sinnestäuschungen, 
welche  einmal  auf  ihre  Entstehungsweise  hindeutet,  andererseits 
ihre  Wichtigkeit  als  psychopathisches  Symptom  kennzeichnet,  ist  die 
gewaltige,  unwiderstehliche  Macht,  welche  sie  alsbald  über  den  ge- 
sammten  Bewusstseinsinhalt  des  Kranken  zu  erhalten  pflegen.  Es 
ist  wahr,  dass  auch  bei  psychisch  vöUig  gesunden  Menschen  aus- 
nahmsweise einmal  eine  ausgesprochene  Hallucination  auftreten  kann, 
und  dass  im  Beginne  der  Geistesstörung  die  Täuschungen  wegen 
ihres  unwahrscheinlichen  Inhaltes  häufig  genug  corrigirt  werden, 
allein  man  sieht  fast  immer,  wie  andauernde  Sinnestäuschungen 
rasch  jede  gesunde  Kritik  überwältigen,  und  wie  schon  nach  kurzer 
Zeit  selbst  die  unsinnigsten  und  abenteuerlichsten  Annahmen  von 
dem  Kranken  erfunden  werden,  um  an  der  Wahrheit  der  Trug- 
wahrnehmungen allen  besonnenen  Gegengründen  zum  Trotz  fest- 
zuhalten. Ja,  wenn  etwa  in  der  Eeconvalescenz  die  Ueberzeugung 
von  der  täuschenden  Natur  der  Phantasmen  sich  schon  zu  festigen 
beginnt,  wird  der  Kranke  im  Augenblicke  der  Hallucinationen 
selbst  doch  fast  regelmässig  wieder  von  ihnen  mit  fortgerissen. 

Diese  eigenartige  Erscheinung,  welche  in  der  Ohnmacht  der 
wirklichen  Wahmehmungen,  des  offenbaren  Augenscheins,  gegenüber 
der  krankhaften  Täuschung  ein  weitere  Erläuterung  findet,  kann 


*)  Gramer,  Die  Hallucinationen  im  Muskelsinn  bei  Geisteskranken  und  ihre 
klinische  Bedeutung,  1889. 


80 


n.  Allgemeine  Symptomatologie. 


eben  deswegen  natürlich  nicht  etwa  in  der  sinnlichen  Deutlichkeit 
der  Trugwahrnehmung  ihren  tieferen  Grund  haben;  im  Gegentheil 
scheint  die  Erfahrung  dafür  zu  sprechen,  dass  die  Macht  der  Phan- 
tasmen mit  dem  Zurücktreten  des  alltäglich  sinnlichen  Charakters 
eher  wächst,  als  abnimmt.  Jener  Grund  ist  daher  yielmehr  in  dem 
tiefgehenden,  dem  Kranken  vielleicht  selber  unbewussten  Zusam- 
menhange mit  den  ihm  geläufigen  Ideenkreisen,  in  der  inneren 
Uebereinstimmung  der  Täuschungen  mit  seinen  krankhaften  Be- 
fürchtungen und  "Wünschen  zu  suchen.  In  vollem  Masse  kann  dies 
natürlich  nur  für  jene  Fälle  gelten,  in  denen  nicht  eine  tiefere 
Trübung  des  Bewusstseins ,  wie  etwa  bei  Deliranten  uud  Epilep- 
tikern, jede  klare  Vorstellungsverbindung  überhaupt  ausschliesst. 
Wenn  aber  auch  dort  wenigstens  der  allgemeine  Inhalt  der  Phan- 
tasmen ungefähr  der  gleichzeitigen  Stimmung  entspricht,  so  ist  das 
in  weit  höherem  Masse  im  halluciaatorischen  Wahnsinn  und  in  der 
Verrücktheit  der  Fall.  Es  sind  daher  hier  nicht  etwa  die  Täusch- 
ungen, welche  nach  Art  gewöhnlicher  Sinneserfahrungen  als  äussere 
Ursachen  in  das  Denken  und  Handeln  des  Kranken  eingreifen, 
sondern  dieselben  sind  nichts  Anderes,  als  eiu  Anzeichen  des  krank- 
haften Gesammtzustaades,  geradeso  wie  die  phantastischen  Gedanken- 
gänge und  die  abnormen  Stimmungen.  Keiu  G-esunder  würde  die 
Worte  eines  Vorübergehenden  „das  ist  der  Kaiser"  sofort  auf  sich 
beziehen,  oder  sich  nun  gar  deswegen  wirklich  für  den  Kaiser  halten 
—  auf  den  Verrückten,  bei  dem  sie  den  Schlussstein  einer  langen 
Kette  geheimer  Ahnungen  und  dunkler  Combinationen  bildet,  macht 
eiue  derartige  hallucinatorische  Wahrnehmung  den  allertiefsten, 
überwältigendsten  Eindruck,  und  lässt  unmittelbar  die  feste  TJeber- 
zeugung  in  ihm  entstehen,  nicht  nur,  dass  jene  Worte  wirklich  ge- 
sprochen seien,  sondern  dass  sie  auch  die  thatsächliche  Wahrheit 
enthalten. 

Die  klinischen  Formen  der  Trugwahrnehmungen  auf  den  ein- 
zelnen Sinnesgebieten  zeigen  eine  grosse  Mannigfaltigkeit.  Unter 
den  Gesichtstäuschungen  sind  am  häufigsten  nächtliche  Er- 
scheinungen, sogenannte  Visionen,  entweder  leuchtende  Gestalten, 
Gott,  Christus,  Engel,  Verstorbene,  lebhaft  bewegte  bunte  Menschen- 
mengen, Blumen,  oder  schreckhafte  Fratzen,  Teufel,  wilde  Thiere 
und  dergl.  Diese  Erscheinungen  werden  entweder  als  übersinnliche 
Offenbarungen  oder  täuschende  Vorspiegelungen  aufgefasst,  oder 


Sinnestäuscliuiigen. 


81 


aber  sie  gleichen  in  ihren  etwas  fremdartigen  und  phantastischen 
Formen,  in  ihrem  raschen  "Wechsel  und  ihrer  Yielgestaltigkeit  den 
Trugwahrnehmungen  des  lebhaften,  unruhigen  Traumes,  besitzen 
jedoch  eine  noch  grössere  Deutlichkeit.  Ungleich  mehr  der 
"wirklichen  Wahrnehmung  sich  nähernd  und  daher  weit  schwieriger 
zu  corrigiron  sind  die  seltener  zur  Beobachtung  kommenden  Ge- 
sichtstäuschungen, die  sich  am  hellen  Tageslichte  zwischen  die 
übrigen  Eindrücke  hineindrängen.  Bisweilen  sind  es  einzelne 
stereotype  Grestalten,  ein  schwarzer  Hund,  Löwenköpfe,  die  zum 
Fenster  hineinsehen,  huschende  Schatten,  Blut,  ein  Leichenantlitz, 
oder  die  Gegenstände  der  Umgebung  haben  ein  ganz  anderes 
Aussehen  angenommen,  zeigen  bestimmte  Gesichter,  Todtenköpfe, 
bewegen,  verändern  sich  und  dergl.  Hierhin  gehören  auch  gewisse 
Fälle  von  Personenverwechselung,  bei  welchen  die  Kranken 
in  fremden  Personen  ihre  Angehörigen  wiederzuerkennen  glauben 
oder  umgekehrt  ihre  Angehörigen  nicht  als  solche  recognosciren, 
behaupten,  dass  dieselben  Personen  immer  andere  Gesichter  und 
Gestalten  annehmen,  Fratzen  schneiden  u.  Aehnl.  Im  Allgemeinen 
sind  Gesichtstäuschungen  einer  Correctur  durch  andere  Sinne,  nament- 
lich den  Tastsinn,  verhältnissmässig  leicht  zugänglich  und  werden 
daher  von  Gesunden  unter  einigermassen  günstigen  Verhältnissen 
auch  regeknässig  als  solche  erkannt.  Nur  wo  heftige  Affecte, 
namentlich  Angst,  oder  weit  fortgeschrittene  psychische  Schwäche 
eine  unbefangene  Prüfung  der  Täuschung  verhindern,  werden  selbst 
gröbere  und  fremdartigere  Verfälschungen  der  Gesichtswahrnehmung 
als  wirkliche  Sinneserfahrungen  hingenommen  und  verarbeitet. 

Weit  verderblicher  aber  sind  in  dieser  Beziehung  jene  Gehörs- 
täuschungen, welche  als  „Stimmen"  auftreten,  ein  Ausdruck,  den 
der  wahre  Gehörshallucinant  fast  immer  sogleich  richtig  versteht. 
Der  Grund  dafür  liegt  offenbar  in  der  tiefgreifenden  Bedeutung, 
welche -die  Ausbildung  der  Sprache  für  unser  Denken  besitzt.  Da 
wir  zumeist  in  Worten  denken,  pflegen  die  „Stimmen"  in  sehr 
innigem  Zusammenhange  mit  dem  Gesammtinhalte  des  Bewusstseins 
zu  stehen,  ja  sie  sind  häufig  nichts,  als  der  sprachliche  Ausdruck 
dessen,  was  die  Seele  des  Kranken  bewegt,  und  haben  daher  für 
ihn  eine  weit  grössere  überzeugende  Gewalt,  als  alle  sonstigen  sinn- 
lich concreten  Täuschungen  und  insbesondere  als  die  wirklichen 
Eeden  der  Umgebung  selbst.    Der  Kranke  hört,  zuerst  gewöhnlich 

Kraepelin,  Psychiatrie.   4.  Aufl.  6 


82 


II.  Allgemeine  Syniptoiiiatologie. 


hinter  seinem  Rücken,  allerlei  unangenehme,  aufreizende  Bemer- 
kungen, die  sich  auf  ihn  beziehen  und  ihn  zu  beleidigen  bestimmt 
sind.  Namentlich  nicht  ganz  deutliche  Reden,  halblaute  Worte  fasst 
er  in  diesem  Sinne  illusionär  auf,  bis  er  dann  später  auch  gerade 
in's  Gesicht  hinein   verhöhnt  und  verspottet  wird.  Schliesslich 
knarren  und  ertönen  dann  die  Wagen  auf  ganz  ungewöhnliche 
Weise  und  liefern  Erzählungen,  die  Schweine  grunzen  Namen  und 
Erzählungen  sowie  Yerwunderungsbezeugungen,  die  Hunde  schimpfen 
und  bellen  Vorwürfe,  Hähne  krähen  solche,  selbst  Gänse  und  Enten 
schnattern  Namen,  einzelne  Redensarten  und  Bruchstücke  von  Refe- 
raten".   Aus  dem  Schwirren  der  Stahlfedern,  dem  Läuten  der 
Glocken  tönen  dem  Kranken  Rufe  entgegen,  oder  aus  der  Wand, 
aus  dem  Bette,  in  dem  er  liegt,  ja  aus  den  eigenen  Ohren  heraus, 
im  Kopfe,  im  XJnterleibe  vernimmt  er  die  quälenden  Stimmen. 
Nicht  selten  haben  dieselben  verschiedene  Höhe  und  Klangfarbe 
und  werden  daher  verschiedenen  Personen  zugeschrieben;  bisweilen 
ist  es  ein  ganzer  Chorus,  dessen  einzehie  Mitglieder  genau  unter- 
schieden werden,  bisweilen  nur  einige  wenige  oder  eine  einzige. 
Yielfach  sind  die  Stimmen  leise,  flüsternd  oder  zischelnd,  wie  aus 
der  Ferne,  von  oben  herunter,  oder  dumpf,  aus  dem  Boden  herauf- 
kommend; seltener  sind  sie  laut  und  schreiend,  alles  Andere  über- 
tönend. Ausser  den  Stimmen  werden  hier  und  da  laute  schiessende 
und  knatternde  Geräusche,  Glockenläuten,  wirres  Geschrei,  seltener 
angenehme  Musik,  Gesang  imd  dergl.  gehört.    In  diesen  letzteren 
Fällen  dürften  vorwiegend  die  centralen  und  peripheren  Sinnes- 
flächen an  der  Entstehung  der  mehr  elementaren  Täuschungen  be- 
theiligt sein. 

Der  Inhalt  der  Gehörstäuschungen  ist,  wie  schon  angedeutet, 
zumeist  ein  aufreizender  und  peinigender;  er  steht  besonders  bei 
den  Stimmen  fast  immer  in  sehr  nahen  Beziehungen  zu  dem  Wohl 
und  Wehe  des  Individuums  und  gewinnt  dadurch  meist  eineA  ausser- 
ordentlichen Einfluss  auf  sein  Handeln.  Die  fortwährenden  Schmä- 
hungen, Beschimpfungen  und  höhnischen  Bemerkungen,  der  Jammer 
gemisshandelter  Angehöriger  machen  den  Kranken  misstrauisch  und 
aufgeregt,  und  bringen  ihn  zu  entrüsteter  Reaction  gegen  seine  ver- 
meintlichen Peiniger;  furchtbare  Drohungen  setzen  ihn  in  Angst 
und  Yerwirrung,  und  zwingen  ihn  zu  rastloser  Flucht,  um  den  Yer- 
f olgern  zu  entgehen;  gebieterische  Befehle  lassen  ihn  die  unsinnigsten 


Sinnestäuschungen. 


83 


imd  bisweilen  unnatüi-lichsten  Thaten  begehen,  weil  er  übernatür- 
lichen Mächten  gehorchen  zu  müssen  glaubt.  Die  Unmöglichkeit 
einer  überzeugenden  Correctur  der  Täuschungen,  denen  er  nirgends 
zu  entfliehen  vermag,  ist  es,  die  ihn  schliesslich  dem  verderblichen 
Einflüsse  derselben  gänzlich  unterliegen  lässt.  Aus  einem  Affecte 
in  den  andern  gejagt,  verliert  er  immer  mehr  die  Fähigkeit  einer 
ruhigen  Kritik  gegenüber  den  durch  die  Aufregung  verstärkten 
Trugwahrnehmungen,  und  es  entwickelt  sich  so  ein  Circulus  vitiosus, 
dessen  Wii-ksamkeit  durch  die  stete  phantastische  Verfälschung  der 
Erfahrung  allmählich  die  Grundlagen  der  gesammten  psychischen 
Persönlichkeit  erschüttert.  Erst  dann,  wenn  die  Gemüthsbewegungen 
nach  und  nach  ihre  gesunde  Lebhaftigkeit  eingebüsst  haben,  wenn 
der  Kranke  mit  einem  gewissen  stumpfen  Gleichmuthe  seine  Täusch- 
ungen über  sich  ergehen  lässt,  verlieren  dieselben  allmählich  die 
gewaltige  Macht  über  seinen  Willen.  Die  lange  Gewohnheit  lehrt 
ihn  sogar  bisweilen,  die  Trugwahrnehmungen  unbeachtet  zu  lassen; 
sie  giebt  ihm  eine  gewisse  Fertigkeit  in  der  äusserlichen  Correctur 
derselben  und  bewahrt  ihn  vor  gemeingefährlichen  Handlungen. 
Zugleich  aber  ist  jetzt  auch  der  ganze  Mensch  ein  anderer  geworden, 
eine  Ruine,  die  zur  Noth  wieder  bewohnbar  gemacht  wurde. 

In  anderen  Fällen  tritt  namentlich  der  übernatürliche  Cha- 
rakter der  gehörten  Stimmen  stärker  hervor;  sie  sind  dann  nicht 
selten  von  Visionen  begleitet.  Gott  oder  Christus  geben  dem  Kran- 
ken einen  Auftrag,  eine  Verheissung,  oder  klären  ihn  über  ein  Ge- 
heimniss  seiner  Persönlichkeit  auf.  Der  ganze  Vorgang  hat  hier 
gewöhnlich  etwas  Traumhaftes,  Uebersinnliches,  während  die  quälen- 
den und  verfolgenden  Stimmen  durchaus  den  Charakter  directester 
Sinneswahrnehmung  zu  besitzen  pflegen.  Im  FieberdeLirium  und 
bei  sehr  verwirrten  Kranken  zeigen  auch  die  Gehörstäuschungen  den 
raschen  Wechsel  und  die  unklare  Verworrenheit  der  unter  gleichen 
Verhältnissen  vorkommenden  Gesichtsphantasmen. 

Von  den  eigentlichen  Gehörstäuschungen  abzutrennen  und  meist 
als  reine  Apperceptionshallucinationen  zu  betrachten  sind  die  soge- 
nannten „inneren  Stünmen",  „Einflüsterungen",  die  „Weltsprache", 
das  „Telephoniren",  „Telegraphiren"  und  dergl.  Es  handelt  sich 
hier  um  Wahrnehmungen,  die  von  dem  Kranken  selbst  nicht  als 
sinnliche  aufgefasst  werden.  Hier  ist  vielfach  die  innige  Beziehung 
zu  dem  eigenen  Gedankengange  sehr  deutlich.    Entweder  schliesst 

6* 


IL  Allgeiiioino  Symptomatologie. 

sich  dieses  leise  Sprechen  in  der  Art  der  Rede  und  Wechselrede 
im  Bewusstsein  des  Kranken  aneinander,  so  dass  die  Wahnidee 
einer  förmlichen  stillen  Unterhaltung  mit  fernen  Personen  entsteht. 
Oder  aber  die  „Gewissensstimmen"  begleiten  jede  Handlung  des 
Kranken  mit  entsprechenden  Bemerkungen,  feuern  ihn  an,  kritisiren 
ihn  oder  die  Umgebung,  ertheilen  ihm  Yerbote,  und  können  auf 
diese  Weise  anscheinend  einen  sehr  erheblichen  Einfluss  auf  sein 
Thun  und  Lassen  ausüben,  während  sie  in  Wirklichkeit  nichts  sind, 
als  der  unwillkürliche  sprachliche  Ausdruck  seiner  mehr  oder  weniger 
klar  bewussten  Gedankengänge.  In  allen  diesen  Fällen  entwickelt 
sich  ebenso  wie  bei  dem  früher  beschriebenen  „Doppeldenken"  leicht 
die  Idee,  dass  die  eigenen  Gedanken  der  Umgebung  bekannt  seien, 
oder  gar,  dass  sie  durch  fremde  Einwirkung  gemacht  und  beein- 
flusst  würden.  „Ich  bin  durchsichtig",  sagte  mir  ein  derartiger 
Kranker. 

Yon  weit  geringerer  unmittelbarer  Bedeutung,  als  die  Phantas- 
men des  Gesichts  und  Gehörs,  deren  Gebiet  ja  vor  Allem  das  sinn- 
liche Material  unserer  Yorstellungen  entnommen  wird,  sind  die 
Täuschungen  im  Bereiche  der  übrigen  Sinne  für  das  psychische 
Leben  des  Kranken.    Der  geängstigte  Kranke  empfindet  den  Ge- 
ruch giftiger  Dünste,  die  ihn  tödten  sollen,  oder  den  Schwefel- 
gestank des  Teufels,  der  ihn  bedroht;  er  schmeckt  allerlei  unappe- 
titliche und  schädliche  Dinge,  Menschenfleisch,  Koth,  Arsenik,  Can- 
thariden  in  seinem  Essen,  die  ihm  von  seinen  Feinden  beigebracht 
werden.    Diese  Trugwahrnehmungen  deuten,  soweit  sie  eben  in  dem 
Ideenkreise  des  Kranken  und  nicht  in  peripheren  Störungen  ilire 
Ursachen  haben,  vielfach  auf  eine  tiefere  Umwälzung  in  der  ganzen 
Stellung  desselben  zur  Aussenwelt  hin.  Dasselbe  gilt  von  den  ent- 
sprechenden Paraesthesien  des  Haut-  und  Muskelsinnes  sowie  des 
G-emeingefühls.    Hier  ist  ja  die  ausschliessende  Controle  etwaiger 
äusserer  Einwirkungen  an  sich  überaus  leicht  und  einfach;  wo  also 
dennoch  die  Wahnideen  des  Elektrisirtwerdens,  des  Besessenseins, 
der  Verwandlung  einzelner  Körpertheile,  des  Yerschwindens  von 
Kopf,  Mund,  Magen,  After  u.  s.  f.  auftreten,  da  handelt  es  sich  nicht 
mehr  um  einfache  Yerfälschungen  der  Wahrnehmung,  sondern  fast 
immer  um  eine  tiefere  Störung  der  gesammten  psychischen 
Persönlichkeit.    Zwar  können  hier  gewiss  die  einzelnen  Ein- 
drücke, welche  das  Erfahrungsmaterial  bilden,  auf  hallucinatorischem 


Sinnestäuschungen;  Trübungen  des  Bewusstseins. 


85 


oder  illusorischem  Wege  entstanden  resp.  verändert  sein,  allein  die- 
selben sind  dennoch  an  sich  meist  zu  unbestimmt,  um  etwa  in 
ähnlicher  "Weise  wie  die  Gehörs-  und  Gesichtstäuschungen  den  Be- 
wusstseinsinhalt  beeinflussen  zu  können.  Erst  dadurch,  dass  eine 
geschwächte  oder  zu  unkritisch -phantastischer  Auslegung  geneigte 
Intelligenz  sich  dieser  verfälschten  Wahrnehmungen  bemächtigt,  um 
sie  zur  Grundlage  einer  veränderten  Auffassung  des  eigenen  Ich 
und  seiner  Umgebung  zu  gestalten,  gewinnen  sie  eine  Bedeutung 
für  den  Yorstellungsverlauf,  welche  sie  in  einem  gesunden  Bewusst- 
sein  niemals  erlangen  könnten. 

Trübungen  des  Bewusstseins.  Ausser  den  Vorgängen  im  peri- 
pheren und  centralen  Sinnesgebiete  ist  für  die  Erwerbung  des  Er- 
fahrungsmateriales  noch  ein  weiterer  Umstand  von  hervorragender 
Wichtigkeit,  nämlich  das  Verhalten  unseres  Bewusstseins.  Aeussere 
Reize  erzeugen  in  unserem  Innern  gewisse  eigenthümliche,  nicht 
näher  definirbare  Zustandsveränderungen,  die  wir  unmittelbar  auf- 
fassen und  als  Vorstellungen,  Gefühle,  Strebungen  und  dergl.  be- 
zeichnen. Diese  allgemeinste  Thatsache  der  inneren  Erfahrung  be- 
zeichnen wir  im  Anschlüsse  an  Fechners  Anschauungen  als  das 
Bewusstsein.  UeberaU,  wo  äussere  Eindrücke  in  psychische  Vor- 
gänge umgesetzt  werden,  ist  Bewusstsein  vorhanden,  denn  dasselbe 
ist  eben  nichts  Anderes,  als  ein  Ausdruck  für  das  Stattfinden  dieser 
Umwandlung.  Das  Wesen  des  Bewusstseins  ist  für  uns  völlig 
dimkel;  wir  wissen  nur,  dass  der  Bestand  desselben  in  gesetz- 
mässiger  Abhängigkeit  von  den  Eunctionen  der  Hirnrinde  steht,  und 
dass  auch  die  einzelnen  Vorgänge  im  Bewusstsein  höchst  wahr- 
scheinlich gewissen,  bisher  noch  unbekannten,  physiologischen  Pro- 
cessen im  Centraiorgane  parallel  gehen,  resp.  an  sie  gebunden  sind. 
Wie  von  der  Beschaffenheit  der  peripheren  Sinnesorgane  die  Um- 
setzung der  physikalischen  Reize  in  Sinneserregung  abhängig  ist, 
so  sind  weiterhin  die  Zustände  des  Centralorganes  für  die  Umwand- 
lung der  physiologischen  Erregungen  in  Bewusstseinsvorgänge  von 
massgebender  Bedeutung.  Ob  und  in  welchem  Masse  diese  letztere 
Umwandlung  stattfindet,  das  ist  bisher  im  Einzelfalle  oft  äusserst 
schwierig  zu  erkennen,  da  uns  in  die  innere  Erfahrung  eines  Indi- 
viduums kein  unmittelbarer  Einblick,  sondern  nur  ein  Rückschluss 
aus  seinem  äusseren  Verhalten  möglich  ist.  Aus  diesem  letzteren 
allein  entnehmen  wir  mit  grösserer  oder  geringerer  Wahrscheinlichkeit, 


gg  n.  Allgemeine  Symptomatologie. 

ob  dasselbe  als  Ausdruck  psycMscber  Vorgänge  zu  betrachten  ist 

oder  nicht.  i.    •  i    •  v. 

Denjenigen  Zustand,  in  welchem  die  Umsetzung  physiologischer 

in  psychische  Processe  gänzlich  aufgehoben  ist,  bezeichnen  wir  als 
Bewusstlosigkeit.   Jeder  Reiz,  der  überhaupt  über  die  Schwelle 
des  Bewusstseins  treten  und  somit  einen  psychischen  Eindruck  her- 
vorrufen soll,  muss  eine  gewisse  Stärke  besitzen,  die  nicht  unter 
einen   bestimmten  Werth,    den   sogenannten  Schwellenwerth, 
heruntersiuken  darf.   AUein  die  Grösse  des  SchweUenwerthes  wech- 
selt je  nach  den  Zuständen  unseres  Centraiorgans  ausserordentlich. 
Während  sie  bei  gespannter  Aufmerksamkeit  ihr  Minimum  erreicht, 
kann  sie  in  tiefster  Ohnmacht  unendlich  werden,  d.  h.  es  genügen 
hier  bisweilen  selbst  die  allerstärksten  Reize  nicht  mehr,  um  Be- 
wusstseinsvorgänge  auszulösen.    Man  kann  demnach  je  nach  der 
Grösse  des  SchweUenwerthes  verschiedene  Helligkeitsgrade  des 
Bewusstseins  annehmen,  wie  sie  auch  praktisch  häufig  unterschieden 
werden;  ein  ähnliches  Princip  ist  bereits  benutzt  worden,  um  die 
Festigkeit  des  Schlafes  in  den  einzelnen  Stadien  desselben  zu  be- 
stimmen.   Auch  dort,  wo  äussere  Reize  keine  Bewusstseinsvorgänge 
auszulösen  vermögen,  findet  übrigens  sicherlich  nicht  selten  wenig- 
stens noch  ein  Wechsel  Yon  dunklen  Vorstellungen  oder  Gemein- 
gefühlen stati;,  welche  durch  die  Zustände  des  eigenen  Innern  er- 
zeugt werden.    Am  deutlichsten  sehen  wir  ja  in  der  alltäglichen 
Erscheinung  des  Traumes,  dass  die  Schwellenwerthe  für  innere  und 
äussere  Reize  eine  sehr  verschiedene  Grösse  besitzen  können. 

Stöningen  der  Auffassimg.  Die  grosse  Mehrzahl  der  Ein- 
drücke, welche  wir  tagtäglich  in  uns  aufnehmen,  ist  an  sich  ziemlich 
undeutlich  und  verschwommen;  sie  werden  erst  dadurch  zu  klaren 
und  verwerthbaren  Wahrnehmungen,  dass  sie  in  den  bereitliegenden 
Erinnerungsbildern  gewissermassen  Resonatoren  vorfinden,  durch 
deren  Miterregung  der  sinnliche  Reiz  verstärkt  wird.  Durch  diesen 
Vorgang,  den  Wundt  als  „Apperception"  bezeichnet,  bildet  sich 
auch  sofort  die  Verknüpfung  der  einzelnen  Wahrnehmung  mit  unserer 
Gesammterfahrung,  ein  Zusammenhang  mit  zahlreichen  anderen  Vor- 
stellungen und  damit  das  „Verständniss"  des  vorliegenden  Eindruckes. 
Gerade  die  Beobachtungen  über  die  tagtäglichen  Dlusionen  zeigen 
uns  am  besten,  in  wie  hohem  Masse  die  sinnliche  Erfahrung  immer- 
fort durch  die  Resonanz  unseres  Erinnerungsschatzes  beeinflusst  wird. 


Störungen  der  Auffassung. 


87 


Sobald  diese  Mitwirkimg  unseres  früheren  geistigen  Erwerbes 
beim  Wahrnehmungsvorgange  fortfällt,  wird  derselbe  unklar  und 
inhaltlos.  Es  können  sich  wol  einzelne  sehr  starke  Eindrücke  in 
unser  Bewusstsein  eindrängen,  aber  sie  hafteu  nicht  und  werden 
nicht  verstanden,  da  ihnen  die  Einordnung  in  das  System  unserer 
Vorstellungen  und  Begriffe  mit  allen  ihren  Folgen  für  die  weitere 
geistige  Verarbeitung  fehlt.  In  dieser  Lage  befinden  wir  uns  z.  B 
gegenüber  dem  völlig  Unverständlichen,  sofern  nicht  etwa  durch 
besondere  Nebenumstände,  ErwartungsafPecte  und  dergl.  die  An- 
regung bestimmter  Vorstellungen  durch  die  Wahrnehmung  ver- 
mittelt wird.  Die  Einzelheiten  einer  Maschinenausstellung,  eines 
auf  dem  Kopf  stehenden  Landschaftsbildes  entgehen  uns  vollkommen, 
obgleich  die  sinnlichen  Eindrücke  an  sich  ebenso  intensiv  auf  uns 
wirken,  wie  auf  den  Ligenieur,  oder  wie  das  aufrechtstehende  Bild. 
Andererseits  kann  der  Verlust  der  normalen  Anknüpfung  unserer 
Wahrnehmungen  an  die  frühere  Erfahrung  auch  durch  das  Ver- 
halten unseres  Bewusstseins  bedingt  sein.  Auf  diese  Weise  werden 
natürlich  nicht  nur  einzelne  Wahrnehmungen  unverständhch,  sondern 
die  Helügkeit  des  gesammten  Bewusstseinsinhaltes  nimmt  ab; 
es  entwickelt  sich  eine  „Trübung"  desselben,  ein  Dämmerzustand. 

Dieser  Vorgang  vollzieht  sich  regelmässig,  sobald  die  Resonanz- 
fähigkeit unserer  Vorstellungen  gegenüber  äusseren  Eindrücken  ab- 
nimmt, sei  es  durch  Sinken  ihrer  allgemeinen  Erregbarkeit,  sei  es 
durch  das  Auftreten  von  Eigenerregungen.  Im  ersteren  Falle 
werden  nur  sehr  intensive  oder  sehr  beziehungsreiche  äussere  Reize 
noch  Erinnerungsbilder  anzuregen  im  Stande  sein.  Diesem  Ver- 
halten begegnen  wir  bei  der  einfachen  Ermüdung  und  den  ihr  ver- 
wandten pathologischen  Zuständen  schwerer  und  schwerster  geistiger 
Erschöpfung.  Hier  fassen  wir  nicht  mehr  auf,  weil  wir  abgestumpft 
sind  und  höchstens  noch  durch  eine  stärkere  Anstrengung  ganz 
vorübergehend  das  Verständniss  des  Dargebotenen  erzwingen  können. 
Ebensowenig  vermögen  die  psychischen  Resonatoren  der  Differeu- 
zirung  äusserer  Eindrücke  zu  dienen,  sobald  sie  durch  lebhafte 
innere  Reize  angeregt  werden.  Jede  intensive  geistige  Arbeit  macht 
uns  mehr  oder  weniger  verständnisslos  gegenüber  dem  Inhalte 
äusserer  Wahrnehmungen.  Auf  pathologischem  Gebiete  begegnen 
wir  dieser  Unfähigkeit,  sich  in  der  Aussenwelt  zurechtzufinden, 
überall  bei  starken  Erregungszuständen  im  Bereiche  der  Vorstel- 


88 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


lungen,  beim  „Phantasiren".  In  der  Regel  geht  dabei  auch  die 
Ordnung  in  dem  eigenen  Gedankeninhalte  verloren;  die  Kranken 
sind  unbesinnlich,  wie  im  Fieberdelirium,  Collapsdelirium  und  ver- 
wandten Psychosen.  Doch  giebt  es  auch  Formen,  in  denen  nur 
das  klare  Yerständniss  der  Umgebung  gestört  ist,  während  die 
Kranken  über  sich  selbst  und  ihre  eigenen  Zustände  sich  noch 
Rechenschaft  zu  geben  vermögen.  Diesen  leichteren  Graden  der 
Desorientirtheit  begegnet  man  namentlich  beim  Wahnsinn,  bei  ge- 
wissen Formen  der  psychischen  Epilepsie  und  ganz  besonders  aus- 
geprägt im  Delirium  tremens. 

Endlich  aber  befinden  wir  Alle  uns  gewissermassen  in  einem 
normalen  Dämmerzustande  während  der  ersten  Zeit  unserer  psych- 
ischen Entwickelung,  so  lange  eben  die  Einwirkungen  der  Aussen- 
welt  noch  keine  bleibenden  Spuren  in  unserer  Erinnerimg  zurück- 
gelassen und  damit  jenes  Netz  psychologischer  Beziehungen  geknüpft 
haben,  welches  alle  kommenden  Lebenserfahrungen  sofort  mit  dem 
geistigen  Erwerbe  der  Yergangenheit  in  Yerbindung  setzt.  In  den 
schwereren  Formen  der  psychischen  Entwickelungshemmungen  ist 
die  Möglichkeit  einer  fortschreitenden  Aufhellung  dieses  geistigen 
Dämmerlebens  für  immer  abgeschnitten;  das  Bewusstsein  bleibt  hier 
dauernd  von  einem  unklaren  Gemisch  einzelner  verschwommener 
Yorstellungen  und  dunkler  Gefühle  erfüllt,  in  welchem  keine  deut- 
liche Auffassung,  keine  übersichtliche  Ordnung  und  Gruppirung 
möglich  ist. 

Die  wichtigste  Folge  des  Einflusses,  den  allmählich  der  er- 
worbene Yorstellungsschatz  auf  die  Wahrnehmung  erlangt,  ist  die 
Möglichkeit  einer  Auswahl  unter  den  sich  darbietenden  Eindrücken. 
Der  Bewusstseinsinhalt  des  Kindes  steht  in  hüfloser  Abhängigkeit 
von  der  zufälligen  Umgebung;  es  nimmt  nur  die  jeweils  intensiv- 
sten Reize  wahr,  ohne  Rücksicht  auf  den  inneren  Zusammenhang 
der  Dinge,  weil  ihm  jene  allgemeinen  Yorstellungen  fehlen,  welche 
auch  die  weniger  aufdringlichen  Wahrnehmungen  als  wesentliche 
Glieder  in  der  Kette  der  Erfahrungen  hervortreten  lassen.  Beim 
Erwachsenen  dagegen  wird  der  -Wahmehmungsvorgang  mehr  und 
mehr  durch  die  besonderen  Dispositionen  beherrscht,  welche  sich 
allmählich  aus  der  individuellen  Lebenserfahrung  heraus  entwickeln. 
Wir  üben  uns  darin,  einzelne  Eindrücke  vorzugsweise  zu  beachten, 
indem  sich  die  Resonanz  unserer  Yorstellungen  für  sie  fortschreitend 


Störungen  der  Auffassung. 


89 


verstärkt,  so  dass  schon  leise  Anklänge  genügen,  um  in  unserem 
Inneren  lebhaften  "Widerhall  zu  finden.  Andererseits  gewöhnen 
wir  uns  daran,  alltägliche  Reize  unbeachtet  zu  lassen  und  ihnen 
keinen  Einfluss  auf  den  Ablauf  unserer  psychischen  Yorgänge  mehr 
einzuräumen.  Diese  Ausbildung  bestimmter  „Gesichtspunkte",  ge- 
wisser Richtungen  unseres  „Interesses"  gestattet  uns  eine  überaus 
mannigfache  Yariation  des  Schwellen werthes ,  so  dass  wir  im 
gleichen  Augenblicke  sehr  intensive  Reize  völlig  zu  ignoriren  im 
Stande  sind,  wo  wir  die  minutiösesten  Yeränderungen  irgend  eines 
Gegenstandes  mit  der  grössten  Schärfe  auffassen. 

Natürlich  ist  die  Fähigkeit,  die  Aufmerksamkeit  dauernd  einer 
bestimmten  Gruppe  von  Wahrnehmungen  zuzuwenden,  sich  geistig 
zu  concentriren,  für  die  gesammte  psychische  Entwickelung  von  der 
allergrössten  Bedeutung.  Je  ablenkbarer  ein  Mensch  ist,  je  mehr 
seine  Auffassung  durch  die  Zufälligkeiten  der  äusseren  Reize  statt 
durch  innere,  der  eigenen  Erfahrung  entspringende  Motive  geleitet 
wird,  desto  weniger  ist  er  im  Stande,  sich  ein  zusammenhäugendes 
und  einheitliches  Yerständniss  der  Aussenwelt  zu  erwerben.  Bruch- 
stückweise und  unvermittelt  werden  sich  die  einzelnen  verschieden- 
artigen Wahrnehmungen  aneinander  schliessen,  ohne  jenes  innere 
Band,  welches  durch  die  systematische  Auswahl  nach  Massgabe 
leitender  Allgemeinvorstellungen  gebildet  wird.  Grosse  Ablenkbar- 
keit  der  Aufmerksamkeit  ist  daher  ein  wichtiges  Zeichen  einer 
Herabsetzung  der  psychischen  Widerstandsfähigkeit.  Die  leichtesten 
Grade  derselben  beobachten  wir  in  jenem  Zustande  von  Zerstreut- 
heit, welcher  sich  bei  geistiger  Ermüdung  einstellt.  In  krankhafter 
Ausbildimg  dagegen  ist  dieses  Symptom  in  neurasthenischen  Zu- 
ständen entwickelt,  bei  Reconvalescenten  nach  psychischen  Erkran- 
kungen, noch  ausgeprägter  bei  manchen  Erschöpfungspsychosen,  in 
der  Manie  und  in  der  Paralyse.  Endlich  aber  giebt  es  gewisse  an- 
geborene Schwachsinnsformen,  bei  denen  eine  ausserordentliche 
Ablenkbarkeit  die  wesentliche  dauernde  Grundlage  des  gesammten 
Krankheitszustandes  bildet. 

B.  Störnngen  der  intellectuelleu  Leistungen. 

Das  durch  die  Sinne  gelieferte  und  mittels  der  Apperception 
aufgefasste  Erfahrungsmaterial  bildet  die  Grundlage  aller  weiteren 
geistigen  Arbeit  und  somit  auch  des  gesammten  Yorstellungsschatzes 


90 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


des  Menschen.  Man  begreift  daher,  dass  die  aufgeführten  Störungen 
der  Sinneserkenntniss,  wie  sie  durch  die  Sinnestäuschungen,  durch 
Aufhebung  und  Verdunkelung  des  Bewusstseins,  endlich  durch  die 
Unfähigkeit  zu  planmässiger  Auswahl  der  Eindrücke  erzeugt  werden, 
nicht  ohne  die  weitreichendsten  Folgen  für  die  Gestaltung  des  ge- 
sammten  Bewusstseinsinhaltes  und  der  psychischen  Persönlichkeit 
bleiben  können.  Je  unvollkommener  und  verfälschter  die  Nach- 
richten von  der  Aussenwelt  zur  Wahrnehmung  gelangen,  desto 
lückenhafter  und  unzuverlässiger  wird  die  Anschauung  bleiben, 
welche  sich  im  Bewusstsein  des  Menschen  von  seiner  Umgebung, 
vom  eigenen  Ich  und  von  der  Stellung  dieses  letzteren  zu  seiner 
Umgebung  entwickelt.  Dazu  kommt,  dass  zu  jenen  Störungen, 
welche  die  Sammlung  des  Erfahrungsmaterials  beeinträchtigen,  fast 
ausnahmslos  sich  noch  solche  gesellen,  die  eine  weitere  Yerarbeit- 
ung  desselben  in  krankhafter  Weise  beeinflussen. 

Störungen  des  GedacMiiisses.  Die  allgemeinste  Grundlage  aller 
geistigen  Thätigkeit  ist  das  Gedächtniss.*)  Jeder  einmal  in's 
Bewusstsein  getretene  Eindruck  hinterlässt  nach  seinem  Schwinden 
aus  demselben  eine  allmählich  abnehmende  „Disposition"  zu  seiner 
Wiedererneuerung,  die  entweder  durch  eine  zufällige  Yorstellungs- 
verbindung  oder  durch  eine  Willensanstrengung  des  Subjectes,  das 
Besinnen,  vermittelt  werden  kann.  Diese  Disposition,  diese  bleibende 
Spux,  welche  die  einmal  gemachte  Wahrnehmung  auf  längere  Zeit 
hinaus  dem  Erfahrungsschatze  des  Menschen  einreiht  und  sie  seinem 
Gedächtnisse  zur  Yerfügung  stellt,  haftet  im  Allgemeinen  um  so 
stärker  und  länger,  je  klarer  der  ursprüngliche  Eindruck  aufgefasst 
worden  und  je  allseitiger  er  zu  dem  übrigen  Bewusstseinsinhalte 
in  Beziehung  getreten  war,  je  mehr  er,  mit  anderen  Worten,  das 
Interesse  des  Menschen  erregt  hatte. 

Die  dauerndste  und  treueste  Erinnerung  finden  wir  daher 
überall  dort  vor,  wo  eine  Erscheinung  oder  eine  Folge  von  Ein- 
drücken in  möglichster  Klarheit  aufgefasst  und,  noch  besser,  mit 
HUfe  der  auswählenden  Aufmerksamkeit  nach  bestimmten  Gesichts- 
punkten verfolgt  wurde.  Wir  werden  daher  erwarten  dürfen,  dass 
Trübungen  des  Bewusstseins,  wie  sie  die  Sammlung  äusserer  Er- 
fahrung beschränken,  so  auch  die  weitere  Verwerthung  der 


*)  Eibot,  Das  Gedächtniss  und  seine  Störungen.  1882. 


Störungen  des  Gedächtnisses.. 


91 


etwa  noch  gemachten  unvollständigen  Wahrnehmungen  beeinträch- 
tigen, da  die  Eeproductionsfäliigkeit  derselben  hier  eine  äusserst 
geringe  ist  und  rasch  gänzhch  verschwindet.  Aus  dem  Fehlen  der 
Erinnerung  an  einen  gewissen  Zeitabschnitt  wird  daher  meistens 
auf  eine  Aufhebung  des  Bewusstseins  während  derselben  zurück- 
geschlossen, ja  streng  genommen  ist  die  Erinnerungslosigkeit, 
die  Amnesie,  fast  der  einzige  Anhaltspunkt,  welcher  uns  mit  einiger 
Sicherheit  die  Annahme  einer  vorangegangenen  Bewusstlosigkeit 
gestattet.  Allein  die  täghche  Erfahrung  des  Vergessens  von  Ti'äumen, 
an  die  wir  bisweilen  nur  durch  einen  zufälligen  Eindruck  wieder 
erinnert  werden,  zeigt  uns,  dass  sehr  wol  ein  psychisches  Leben 
also  Bewusstsein,  bestehen  kann,  ohne  dass  doch  die  Spuren  der 
Eindrücke  und  Yorstellungen  fest  genug  im  Gedächtnisse  haften, 
um  ohne  Schwierigkeit  eine  Wiedererneuerung  derselben  zu  ge- 
statten. Ganz  ähnlich  sind  sicherlich  jene  Bewusstseinsstörungen 
der  Epilepsie,  vieler  Delirien,  des  schweren  Bausches,  des  Hyp- 
notismus  zu  beurtheilen,  in  denen  die  klinische  Beobachtung  häufig 
genug  unzweideutige  Anzeichen  psychischer  Thätigkeit  aufzufinden 
vermag,  trotzdem  nachher  nicht  die  mindeste  Erinnerung  an  die- 
selbe besteht  oder  wachgerufen  werden  kann.  Für  diese  Auffassung 
sind  besonders  wichtig  die  bisweilen  beobachteten  Fälle,  in  denen 
unmittelbar  beim  Abklingen  der  Störung  noch  eine  eevnsse  Eepro- 
duction  des  Vorgefallenen  möglich  ist,  die  aber  späterhin  rasch  ver- 
schwindet. 

Wenn  es  besonders  der  Vorgang  der  activen  Erfassung  eines 
Eindruckes  durch  die  Aufmerksamkeit  ist,  der  eine  dauernde  Be- 
reicherung unseres  Erinnerungsmaterials  vermittelt,  so  werden  wir 
weiterhin  auch  dort  Beeinträchtigungen  der  Erinnerung  zu  erwarten 
haben,  wo  zwar  das  deuthche  Bewusstwerden  der  Wahrnehmungen 
nicht  aufgehoben  ist,  wo  sich  aber  ihre  Anknüpfung  an  die  be- 
stehenden Vorstellungen  nur  in  unvollkommenem  Masse  vollzieht. 
Diese  Störung  ist  es,  auf  welcher  vornehmlich  die  bekannte  Er- 
scheinung der  Gedächtnissschwäche  beruht,  welche  die  ver- 
schiedensten Zustände  des  gesunden  und  krankhaften  psychischen 
Lebens  begleitet.  Schon  die  einfache  Ermüdung  lässt  zwar  im 
Augenblick  noch  klare  Vorstellungen  von  unserer  zufälligen  Um- 
gebimg  in  uns  entstehen,  aber  sie  bedingt,  wie  sich  durch  den  Ver- 
such darthun  lässt,  wegen  der  geringeren  Erregbarkeit  unseres  Interesses 


92 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


ein  rascheres  Verschwimmen  und  Schwinden  derselben  aus  unserer 
Erinnerung.  Im  späteren  Greisenalter  ist  dieser  Zustand  fast  immer 
ein  dauernder.  Die  Auffassung  neuer  Eindrücke  geschieht  gewohn- 
heitsmässig  ohne  rechte  innere  Antheilnahme,  imd  die  Keproductions- 
fähigkeit  bleibt  daher  für  sie  eine  beschränkte,  während  so  oft  die 
Erinnerungen  aus  vergangener  Zeit,  nicht  mehr  verdrängt  durch" 
neuen  Erwerb,  mit  erstaunlicher  Lebhaftigkeit  und  Treue  im  Yor- 
stellungsverlaufe  wiederkehren.  Mit  dieser  Erfahrung  steht  die 
Thatsache  in  bestem  Einklänge,  dass  von  allen  Yorstellungsverbin- 
dungen,  mit  denen  wir  zu  arbeiten  pflegen,  etwa  TO^/o  aus  der 
Jugend  stammen. 

In  krankhafter  Ausprägung  begegnet  uns  die  hier  besprochene 
Erscheinung  bei  der  Dementia  paralytica  und  bei  anderen  Formen 
der  fortschreitenden  Verblödung.  Obgleich  die  Erfassung  auf- 
fallender äusserer  Eindrücke  noch  leidlich  gut  von  Statten  geht, 
werden  dieselben  dennoch  sehr  rasch,  oft  schon  in  der  nächsten 
Minute,  wieder  vergessen,  während  Vorstellungen  aus  früherer,  ge- 
sunder Zeit  noch  immer,  theilweise  wenigstens,  ün  Gedächtnisse 
haften.  Erst  dann,  wenn  die  Störung  immer  weiter  zunimmt,  er- 
lischt schliessKch  auch  die  Eeproductionsfähigkeit  der  geistigen 
Ueberreste  vergangener  Tage,  und  es  kommt  somit  bei  dem  Mangel 
jedes  neuen  Erwerbs  zum  völligen  Untergänge  des  gesammten  Vor- 
stellungslebens, so  dass  das  schwache  Fünkchen  des  Bewusstseins 
nur  noch  durch  den  Wechsel  dunkler,  unbestimmter  Gefühle  glim- 
mend erhalten  wird. 

Ganz  ähnliche  praktische  Folgen,  wie  die  bisher  aufgeführten 
Störungen,  hat  natürlich  die  erhöhte  Ablenkbarkeit  des  Interesses 
für  die  Gestaltung  des  Erinnerungsschatzes.  Wo  die  einzelnen 
Wahrnehmungen  in  bunter,  zusammenhangsloser  Folge  sich  an- 
einanderreihen, bleiben  sie  ebenfalls  nur  in  sehr  geringem  Grade 
reproductionsfähig.  Die  Erinnerung  an  Zustände  höhergradiger 
Zerfahrenheit  der  Aufmerksamkeit  pflegt  daher  regelmässig  eine 
summarische  und  verworrene  zu  sein.  Wir  versuchen  vergebens, 
uns  den  Gedankengang  eines  Aufsatzes  zu  vergegenwärtigen,  bei 
dessen  Leetüre  wir  zerstreut  waren  und  alle  Augenblicke  den  Faden 
verloren. 

Nur  kurz  erwähnt  soll  hier  Averden,  dass  ausser  den  zeitlich 
begrenzten  Erinnerungslücken  bekanntlich  auch  der  Verlust  be- 


Störungen  des  Gedächtnisses. 


93 


stimniter  G-ruppen  von  Yorstellungeu  aus  dem  Gedächtnisse 
beobachtet  wird,  ein  Yorgang,  dessen  bestgekanntes  Beispiel  durch 
die  amnestische  Aphasie,  die  Unfähigkeit  der  Eeproduction  ein- 
zelner oder  aller  sprachlicher  Klangbilder  dargestellt  wird,  und  der 
sich,  wie  es  scheint,  in  ähnlicher  Weise  auch  auf  dem  Gebiete  ge- 
wisser Gesichts  Vorstellungen  abspielen  kann.  Aeusserst  merkwürdige 
und  interessante  Beispiele  derartiger  ganz  umschriebener  Gedächtniss- 
lücken hat  neuerdings  Kieger  bei  der  Untersuchung  eines  Falles 
von  schwerer  Hirnverletzung  beobachtet.  Die  Deutung  solcher  Er- 
fahrungen ist  ausserordentlich  schwierig.  Zumeist  pflegt  man  sie 
auf  die  Unterbrechung  bestimmter  Leitungsbahnen  zu  beziehen,  doch 
reicht  diese  Erklärung  höchstens  für  gewisse  sehr  grobe  Störungen 
aus.  Beachtenswerth  erscheint  es,  dass  auch  unter  normalen  Yer- 
hältnissen  das  Gedächtniss  für  verschiedene  Gruppen  von  Yorstel- 
hmgen  individuell  sehr  verschieden  entwickelt  ist.  Das  Orts-, 
Zahlen-  und  Namen-,  Farben-,  Tonhöhen-,  Formen  gedächtniss  sind 
anscheinend  in  hohem  Masse  von  einander  unabhängig.  Manche 
Erfahrungen  sprechen  ferner  dafür,  dass  auch  die  motorischen  und 
sensorischen  Bestandtheile  der  einzelnen  Yorstellungeu,  die  sprach- 
liche Bezeichnung  und  die  sinnlichen  Elemente,  mit  verschiedener 
Festigkeit  haften  können,  so  dass  schliesslich  auch  eine  allgemeinere 
Störung  je  nach  der  besonderen  Zusammensetzung  der  gegebenen 
Yorstellung  eigenthümlich  begrenzte  Ausfallserscheinungen  zur  Folge 
haben  könnte.  Für  die  Psychiatrie  im  engeren  Sinne  sind  jedoch 
derartige  Symptome  noch  nicht  nutzbar  gemacht  worden. 

Die  ununterbrochene  und  allseitige  Yerknüpfung,  welche  sich 
zwischen  allen  gleichzeitigen  und  unmittelbar  aufeinanderfolgenden 
Yorgängen  in  unserem  Bewusstsein  stetig  vollzieht,  ist  die  Ursache, 
dass  sich  die  ganze  Summe  unserer  Erinnerungen  in  eine  fort- 
laufende Reihe  einordnet,  deren  Endpunkt  der  gegenwärtige  Augen- 
bhck  bildet,  während  das  Anfangsglied  mehr  oder  weniger  weit  in 
die  Yergangenheit  zurückreicht.  Nur  die  jüngsten  Bestandtheile 
dieser  Reihe  sind  jeweils  in  grösserer  Yollständigkeit  und  Klarheit 
Inhalt  unseres  Gedächtnisses;  je  weiter  wir  nach  rückwärts  gehen, 
desto  mehr  verwischen  sich  die  Einzelheiten,  und  desto  rascher 
schrumpft  die  Reihe  auf  vereinzelte,  besonders  bedeutsame  Er- 
innerungsthatsachen  zusammen,  au  welche  sich  ein  Gemisch  von 
Einzelreminiscenzen  in  mehr  oder  weniger  lockerer  "Weise  anknüpft. 


n.  Allgemeine  Symptomatologie. 

Jene  Marksteine  sind  es,  welche  sich  in  bestimmte  Beziehungen  za 
allgemeineren  Ereignissen,  insbesondere  zur  Zeitrechnung  setzen  und 
uns  damit  eine  wenigstens  annähernde  zeitliche  Localisation  unserer 
Erfahrungen  in  der  Yergangenheit  ermöglichen. 

Störungen  dieser  zeitlichen  Localisation  finden  sich  bei 
Geisteskranken  häufig  genug,  vor  Allem  regelmässig  mehr  oder 
weniger  ausgesprochen  in  der  Paralyse.    Die  Kranken  wissen  mcht, 
wie  lange  sie  sich  schon  in  der  Anstalt  befinden,  wann  sie  zuletzt 
Besuch  gehabt,  ja  wann  sie  zu  Mittag  gegessen  haben,  auch  wenn 
sie  sich  der  betreffenden  Thatsachen  selbst  noch  leidüch  gut  er- 
innern.   Die  augenblicklichen  Eindrücke  haften  bei  ihnen  zu  locker, 
um  sich  zu  jener  festgegliederten  Keihe  an  einander  schliessen  zu 
können,  welche  dem  rückschauenden  Blicke  die  Abschätzung  der 
zeitlichen  Entfernung  von  der  Gegenwart  gestattet.    Aehnlich,  wie 
wir  uns  nach  einförmigen,  reizlosen  Wochen  des  letzten  bedeut- 
samen Ereignisses  entsinnen,  als  sei  es  „erst  gestern"  gewesen,  so 
erscheinen  auch  dem  Paralytiker  die  Monate,  die  keine  bleibende 
Spur  in  seiner  Erinnerung  zurückgelassen  haben,  wie  wenige  Tage. 
Oder  aber  die  Bilder  der  letzten  Yergangenheit  verblassen  so  schnell, 
dass  sie  ihm  weit  zurückzuliegen  scheinen,  und  er  sich  schon  Monate 
in  der  Umgebung  glaubt,  in  die  er  gerade  erst  eingetreten  ist.  Das 
gewohnte  Mass  des  Wechsels  der  Tageszeiten,  das  uns  vor  dem  un- 
wmkürlichen  Schätzungsfehler  bewahrt,  geht  füi'  seine  gestörte  Auf- 
merksamkeit verloren,  so  dass  er  rathlos,  nur  auf  die  Hilfe  seines 
unzuverlässigen  Gedächtnisses  angewiesen,  der  Aufgabe  einer  zeit- 
Kchen  Localisation  gegenüber  steht. 

Endlich  aber  ist  es  auch  die  Treue  der  Erinnerung,  die 
inhaltüche  Uebereinstimmung  der  Reproduction  mit  der  vergangenen 
Erfahrung,  welche  bei  Geisteskranken  mannigfaltige  und  erhebliche 
Störungen  darbieten  kann.  Wir  wissen  aus  Yersuchen,  wie  aus 
alltäglichen  Erfahrungen,  dass  selbst  die  allereinfachsten  Erinnerungs- 
bilder schon  unter  normalen  Yerhältnissen  niemals  vollständig  den 
Wahrnehmungen  gleichen,  sondern  sofort  eben  dui'ch  die  Aufbe- 
wahrung im  Gedächtnisse  und  die  Einordnung  in  den  sonstigen 
Bewusstseinsinhalt  nicht  unbeta:ächtiiche  Wandlungen  dui'chzumachen 
pflegen.  Man  denke  nur  daran,  wie  klein  dem  Erwachsenen  nach 
langer  Abwesenheit  die  Dimensionen  erscheinen,  die  ihm  als  Kind 
imponirten.    Mit  der  Yeränderung  des  allgemeinen  Grössenmass- 


Störungen  des  Gedächtnisses. 


95 


Stabes  ist  hier  auch  das  Erinnerungsbild  unvermerkt  gewachsen,  so 
dass  dann  der  Conh-ast  desselben  mit  der  Wirklichkeit  völlig  über- 
raschend wii'kt.  In  ähnlicher  "Weise  Averden  durch  die  krankhaften 
Veränderungen  der  psychischen  Persönlichkeit,  durch  die  Gefühls- 
schwankungen, die  Wahnideen  sehr  häufig  nachträglich  die  Ke- 
miniscenzen  aus  der  Vergangenheit  in  krankhafter  Weise  verfälscht. 
Dem  Melancholischen  erscheint  sein  ganzes  Yorleben  als  eine  Kette 
von  trüben  Erfahrungen  oder  schlechten  Handlungen;  der  Ver- 
folgungs-  und  der  Grössenwahn  werfen  ihren  Schatten  zurück  aui 
frühere  Zeiten  und  lassen  den  Kranken  schon  in  der  Jugend  die 
Andeutungen  eines  feindseligen  Verhaltens  seiner  Umgebung,  auf- 
fallender Beachtung  durch  hochgestellte  Personen  oder  hervorragen- 
der Leistungsfähigkeit  auf  den  verschiedensten  Gebieten  mensch- 
lichen Könnens  ausfindig  machen. 

In  der  Eegel  handelt  es  sich  dabei  nur  um  eine  theilweise 
Vermischung  wirklicher  Erlebnisse  mit  eigenen  Zuthaten,  also  um 
einen  Vorgang,  der  mit  den  Illusionen  in  eine  gewisse  Parallele  zu 
stellen  wäre.  Bisweilen  jedoch  kommt  es  auch  zu  „Hallucina- 
tionen  der  Erinnerung"  (SuUy),  zu  völlig  phantastischer  Er- 
findung scheinbarer  Reminiscenzen,  denen  gar  kein  Vorbild  in  der 
Vergangenheit  entspricht.  Namentlich  bei  Paralytikern  und  Ver- 
rückten wird  diese  Form  der  Erinnerungsfälschung  nicht  selten 
beobachtet.  Die  Kranken  erzählen'  von  fabelhaften  Reisen,  die  sie 
gemacht,  wunderbaren  Abenteuern,  die  sie  erlebt,  gewaltigen  Käm- 
pfen, die  sie  überstanden,  schrecklichen  Verwundungen,  die  sie  er- 
litten haben,  und  lassen  sich  durch  Zwischenfragen  und  Einwürfe 
zu  allen  möglichen,  vielfach  einander  widersprechenden  Einzelan- 
gaben verleiten.  Meist  liegen  solche  Erlebnisse  Jahre,  selbst  Jahr- 
hunderte oder  Jahrtausende  zurück;  nur  von  Paralytikern  und 
Altersblödsinnigen  hört  man  völlig  erfundene  Reminiscenzen  auch 
in  die  jüngste  Vergangenheit,  die  letzten  Tage  oder  Stunden  ver- 
legen. In  anderen  Fällen  werden  die  Erinnerungsfälschungen  nicht 
frei  producirt,  sondern  sie  schliessen  sich  an  irgend  welche  zu- 
fälligen äusseren  Eindrücke  an.  Die  Kranken  (zumeist  Verrückte) 
glauben  einzebie  Personen  oder  Gegenstände  ihrer  Umgebung  früher 
schon  einmal  gesehen  oder  von  ihnen  gehört  zu  haben,  ohne  sie 
doch  mit  wirklichen  Erinnerungsbildern  zu  identificiren.  Sie  ver- 
kennen daher  jene  Objecto  keineswegs,  wie  das  bei  den  Apper- 


96 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


ceptionsillusionen,  bei  der  Beeinflussung  einer  Wahrnehmung  durch 
die  Erinnerung  der  Fall  war,  sondern  es  vollzieht  sich  hier  der 
umgekehrte  Vorgang:  an  die  vollkommen  scharf  aufgefasste  Wahr- 
nehmung knüpft  sich  eine  durchaus  phantastische  Reminiscenz,  deren 
vermeintliches  Vorbild  gewöhnlich  einige  Monate  oder  seltener  Jahre 

zurückdatirt  wird. 

Die  letzte  Form  der  Erinnerungsfälschung,  der  wir  hier  noch 
zu  gedenken  haben,  ist  am  besten  von  Sander  beschrieben  worden. 
Schon  im  gesunden  Leben  begegnet  es  uns  bisweilen,  namentlich 
in  der  Jugend  und  im  Zustande  einer  gewissen  Abspannung,  dass 
sich  uns  in  irgend  einer  Situation  plötzlich  die  Vorstellung  auf- 
drängt, als  hätten  wir  dieselbe  schon  einmal  in  ganz  derselben 
Weise  erlebt.  Zugleich  haben  wir  eine  dunkle  Ahnung  dessen,  was 
nun  voraussichtlich  kommen  wird,  ohne  uns  jedoch  ein  klares  Bild 
davon  machen  zu  können.  In  der  That  scheint  uns  irgend  ein  als- 
bald eintretendes  Ereigniss  wirklich  unsere  Ahnung  zu  erfüllen. 
Auf  diese  Weise  stehen  wir  eine  kurze  Zeit  lang  gewissermassen 
als  passive  Zuschauer  dem  eigenen  Vorstellungsverlaufe  gegenüber, 
der  in  unbestimmten  Andeutungen  dem  wirklichen  Verlaufe  der 
Dinge  vorauseilt,  bis  plötzlich  die  ganze  Erscheinung  verschwindet. 
Gefühle  einer  peinlichen  Unsicherheit  und  Spannung  pflegen  sich 
regelmässig  mit  derselben  zu  verknüpfen. 

In  sehr  ausgeprägter  Weise  wird  diese  Störung  hier  und  da 
unter  pathologischen  Verhältnissen,  besonders  bei  Epileptikern  im 
Zusammenhange  mit  den  Anfällen,  beobachtet.  Was  dieselbe  von 
den  früher  genannten  Formen  der  Erinnerungsfä,lschung  unter- 
scheidet, ist  die  völlige  Identificirung  der  gesammten 
Situation  unter  Einschluss  des  Subjectes  selbst  mit  einer  an- 
scheineuden  Eeminiscenz.  Während  dort  einzelne  Eindrücke  als 
von  früher  her  mittelbar  oder  häutiger  unmittelbar  bekannt  reco- 
gnoscirt  werden,  ist  hier  die  ganze  Situation  mit  allen  Einzelheiten 
vermeintiich  nur  das  getreue  Abbild  eines  identischen  Erlebnisses 
aus  der  eigenen  Vergangenheit.  So  kommt  es,  dass  in  den  seltenen 
FäUen,  in  denen  sich  diese  Fälschung  Wochen,  Monate,  ja  durch 
Jahrzehnte  hindurch  fortspinnt,  mit  einer  gewissen  ISTothwendigkeit 
in  dem  Kranken  die  Vorstellung  erzeugt  wird,  dass  er  ein  sich 
selbst  wiederholendes  Doppelleben  führt.  Die  Grundlage  dieser 
Störung  ist  durchaus  dunkel.  Möglich  ist  es,  dass  bisweilen  wirkliche 


Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe. 


97 


Terschwommene  Erinnerungen,  namentlich  aus  Träumen,  auf  Grund 
entfernter  Aehnlichkeiten  mit  der  vielfach  nur  in  allgemeinen  Um- 
rissen aufgefassten  gegenwärtigen  Situation  fälschlich  identificirt 
werden,  doch  dürfte  diese  Erklärung  schwerlich  für  alle  Fälle  zu- 
treffen. Die  unangenehmen  Erwartungsgefühle  lassen  sich  wol  am 
wahrscheinlichsten  auf  das  vergebliche  Bingen  nach  einer  deutlichen 
Auffassung  des  verschwommenen  Bewusstseinsinhaltes  zurückführen. 

Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe.  Wie 
sich  bei  dem  Vorgänge  der  Illusion  ein  äusserer  Eindruck  mit 
reproducirten  "Wahmehmungselementen  zu  einem  Gesammtbüde  ver- 
einigt und  als  einheitlicher  psychischer  Vorgang  in  das  Bewusstsein 
tritt,  so  liefert  die  Fähigkeit  der  Beproduction  auch  die  Möglichkeit 
einer  Verbindung  der  Vorstellungen  untereinander.  Sehr 
selten  nur  oder  nie  sind  es  einfache  Vorstellungen,  welche  den 
Inhalt  des  entwickelten  Bewusstseins  bilden;  in  mannigfaltigster 
Combination  verschmelzen  und  verknüpfen  sie  sich  mit  einander  zu 
mehr  oder  weniger  zusammengesetzten  psychischen  Gebilden,  deren 
einzelne  Bestandtheile  nur  durch  eine  sorgfältige  Zerlegung  noch 
von  einander  getrennt  werden  können. 

Zwei  grosse  Gruppen  von  derartigen  zusammengesetzten  Ge- 
bilden unserer  Vorstellungsthätigkeit  sind  es,  die  wir  wegen  ihrer 
verschiedenen  intellectuellen  Bedeutung  ziemlich  scharf  auseinander- 
halten können,  die  associativen  und  die  apperceptiven  Ver- 
bindungen. Die  erstere  Gruppe  umfasst  jene  lockeren  Ver- 
knüpfungen, wie  sie  durch  eine  theilweise,  wenn  auch  ganz  äusser- 
liche  Aehnlichkeit,  durch  zufällige  Gewöhnung,  durch  räumliche 
oder  zeitliche  Coesistenz  u.  s.  f.  vermittelt  werden,  während  wir 
als  apperceptive  Verbindungen  die  innigen  Verschmelzungen  der 
Vorstellungen  zu  Begriffen  zusammenfassen,  bei  deren  Zustande- 
kommen eine  bewusste  Auswahl  der  constituirenden  Gebilde  aus 
der  ganzen  Zahl  der  sich  darbietenden  Associationen  getroflFen  wird. 
Dort  finden  wir  die  widerstreb endsten  Bestandtheile  durch  den 
Zufall  ebenso  leicht  an  einander  gebunden,  wie  von  einander  ge- 
trennt und  wieder  zu  neuen  Complexen  vereinigt;  hier  dagegen 
besteht  eine  innere  Einheit,  ein  wesentlicher  Zusammenhang  der 
einzelnen  Elemente,  der  nur  durch  neuen  Erfahrungserwerb  Avieder 
aufgehoben  werden  kann.  Die  Associationen  bieten  der  Vorstell- 
ungsthätigkeit das  Eohmaterial  zur  Verarbeitung  dar;  aus  ihnen 

Kraepolln,  Psychiatrio.    l.  Aufl.  7 


gg  «  II.  Allgemeine  Symptomatologie. 

bilden  sich  durch  Befestigung  des  Nothwendigen  und  Ausscheidung 
des  Zufälligen  die  festgefugten  Grundlagen  aller  geistigen  Arbeit, 
die  Begriffe,  auf  deren  Schärfe,  Klarheit  und  VoUständigkeit  die 
gesammte  Verstandesentwicklung  des  Menschen  beruht.  Aus  den 
Begriffen  leiten  sich  durch  Zerlegung  die  Urtheile,  aus  diesen 
durch  logische  Gedankenarbeit  die  Schlüsse  ab,  durch  deren  immer 
wiederholtes,  festgegliedertes  Ineinandergreifen  dann  endlich  jene 
systematische  Zusammenfassung  der  Gesammterfahrung  entsteht,  die 
wir  als  die  Weltanschauung  des  Menschen  bezeichnen.  In  ihr 
gelangt  die  Auffassung  der  eigenen  Persönlichkeit  und  ihrer  Um- 
gebung, sowie  des  gegenseitigen  Verhältnisses  beider  zu  einander 
zum  Ausdruck. 

Man  sieht  leicht,  dass  diese  stiifenweise  Entwicklung  der  Ver- 
standesthätigkeit  eine  innige  Abhängigkeit  derselben  von  aUen  jenen 
Vorgängen  zur  Folge  haben  muss,  die  wir  als  die  Vorbedingungen 
der  höchsten  geistigen  Leistimgen  kennen  gelernt  haben.  Jede  Ver- 
fälschung der  Sinneswahrnehmung,  jede  Störung  des  Gedächtnisses 
muss  sich  in  der  Büdung  der  Begriffe  widerspiegeln,  und  die  Un- 
vollkommenheiten  dieser  letzteren  werden  dann  weiter  für  die  ver- 
wickeltere  logische  Gedankenarbeit  verhängnissvoU. 

Auf  den  niederen  Stiifen  des  geistigen  Lebens,  wie  sie  haupt- 
sächlich von  [dem  erworbenen  oder  angeborenen  Blödsinn  darge- 
steUt  werden,  findet  überhaupt  keine  engere  Verknüpfung  der  ein- 
zelnen, in  das  Bewusstsein  eintretenden  Wahrnehmungen  statt.  Nur 
durch  das  lockere  Band  der  zufälügen  f Aufeinanderfolge  einer 
bruchstückweisen  Eeproduction  fähig,  fehlt  ihnen  jener  innere  Zu- 
sammenhang, der  durch  die  begriffliche  ^ Verarbeitimg,'  sowie  durch 
die  Einordnung  in  das  System  des  früher  erworbenen  VorsteUungs- 
materials  vermiti:elt  wird.  Die  [Einzelvorstellungen'' behalten  daJier 
ihre  Selbständigkeit  sowol  wie  ihren  sinnlichen  Charakter;  das  Un- 
wesentiiche  in  ihnen  wird  nicht  von  dem  WesentUchen,  das  AUge- 
meine  nicht  von  dem  Besonderen  geti:ennt,  und  [die  Bildung  der 
Urtheüe  und  Schlüsse  kann  daher  nicht  über  das  Gebiet  der  un- 
mittelbarsten sinnlichen  Erfahrung  hinaus  "zur  Erfassung  höherer 
und  weiterblickender  Gesichtspunkte  sich  erheben.  Selbstversümd- 
lich  werden  diese  Folgen  nur  dort  wii'klich  unmittelbar  hervor- 
treten, wo  der  krankhafte  Zustand  ein  angeborener  oder  doch  sehr 
früh  erworbener  und  lange  dauernder  ist;  im  andern  Falle  muss 


Störungea  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe. 


99 


natürlich,  so  wenig  auch  während  der  Störung  selbst  eine  geistige 
Verarbeitung  von  Erfahrungsmaterial  möglich  ist,  der  aus  gesunden 
Tagen  vorhandene  Schatz  von  Vorstellungen  und  Begriffen  eine 
mehr  oder  weniger  vollständige  Ausgleichuag  der  krankhaften  Wirk- 
ungen herbeiführen. 

Die  geringe  Ausbildung  der  Vorstellung s Verbindungen  ist  eine 
Störung,  welche  uns  in  gradweiser  Abstufung  bei  sehr  verschiedenen 
Krankheitsformen,  so  auch  innerhalb  der  Gesundheitsbreite  wieder 
begegnet.  Wo  dieselbe,  wie  das  bei  den  leichteren  Graden  zunächst 
der  Fall  zu  sein  pflegt,  hauptsächlich  nur  die  apperceptiven  Ver- 
schmelzungsproducte  betrifft,  da  keunzeichnet  sie  sich  durch  das 
Stehenbleiben  der  Vorstellungen  auf  der  Stufe  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmungsbilder, sowie  durch  die  Unfähigkeit,  das  Gemeinsame  und 
Allgemeine  in  den  Erscheinungen  aufzufassen  und  die  Zusammen- 
gehörigkeit gleichartiger  Erfahrungen  zu  erkennen.  Mangelhafte 
Entwicklung  auch  der  associativen  Verbindungen  dagegen  hat 
ausserdem  nothwendig  noch  geringe  Ausdehnung  des  Vorstellungs- 
schatzes und  Beeinträchtigung  der  Reproduction  zur  Folge,  da  diese 
letztere  zum  guten  Theil  sicherlich  eben  auf  der  associativen  Ver- 
knüpfung der  einzelnen  Erinnerungsbilder  beruht.  Beschränkt- 
heit der  Weltanschauung  auf  das  unmittelbar  sinnlich 
Gegebene  ist  demnach  im  Allgemeinen,  das  Kennzeichen  der 
ersteren,  Ideenarmuth  u.ad  Gedächtnissstumpfheit  dasjenige 
der  letzteren  Störung 

Ganz  regelmässig  finden  wir  diese  Erscheinungen  in  grösserer 
oder  geringerer  Ausbildung  bei  allen  länger  dauernden  und  tiefer 
in  die  geistige  Persönlichkeit  des  Kranken  eingreifenden  Psychosen, 
das  Zurücktreten  und  Verblassen  der  höheren  und  allgemeineren 
geistigen  Interessen  gegenüber  dem  Greifbaren  und  Naheliegenden 
das  eigene  Ich  unmittelbar  Berührenden,  die  Verkleinerung  des 
Gesichtskreises  und  des  Vorstellungsschatzes,  sowie  das  rasche 
Schwinden  des  gleichgiltig  aufgefassten  und  mit  dem  übrigen  Be- 
wusstseinsinhalte  nicht  in  lebendige  Verbindung  getretenen,  neuen 
Erfahrungsmaterials  aus  dem  Gedächtnisse.  Am  deutlichsten  tritt 
natürlich  diese  Wandlung,  welche  die  intellectuelle  Seite  der  soge- 
nannten „Verblödung"  darstellt,  in  der  Dementia  paraljtica  hervor, 
wo  die  Geschwindigkeit  des  psychischen  Verfalles  den  Vergleich 
der  einzelnen  Stufen  desselben  mit  einander  sehr  erleichtert. 

7* 


n.  Allgemeine  Symptomatologie. 

Kaum  Tiel  weniger  verderblich,  als  die  mangelnde  Ausbildung 
der  Yorstellungsverbindungen  pflegt  für  das  Seelenleben  die  krank- 
hafte Uebererreglichkeit  der  Phantasie  zu  werden,  welche  mit  ab- 
normer Leichtigkeit  die  associative  Brücke  zwischen  den  verschieden- 
artigsten Ideen  zu  schlagen  weiss.    Ihr  genügen  schon  entfernte 
Aehnlichkeiten  und  theilweise  Uebereinstimmungen,  um  zwei  Vor- 
stellungen in  nahe  Beziehungen  zu  setzen;  der  Mangel  an  Zwischen- 
gliedern wird  rasch  durch  immer  bereite  Combination  ergänzt  und 
die  Widersprüche  in  mehr  oder  weniger  willkürlicher  Umgestaltung 
verwischt.    So  entwickelte  mir  ein  kranker  Ingenieur  einmal  an  der 
Hand  umfangreicher  und  sehr  eingehender  Zeichnungen  die  Idee, 
durch  die  verschiedenartige  Anordnung  gewisser  architektonischer 
Ornamente  ganze  Musikstücke  in  symbolischer  Form  wiederzugeben 
imd  auf  diese  Weise  Auge  und  Ohr  gleichzeitig  künstlerisch  anzu- 
regen.   Eine  solche  Subjectivität  der  Ideenverbindung,  welche  die 
Fühlung  mit  dem  sicheren  Boden  der  Wirklichkeit  mehr  und  mehr 
verliert,  macht  natüiiich  bei  der  Begriffsbüdung  eine  Auswahl  des 
Zusammengehörigen  und  die  Ausscheidung  des  Unwesentlichen, 
E  ntlegenen  fast  gänzlich  unmöglich.  So  kommt  es,  dass  die  Begriffe 
hier  durchaus  jener  -  Schärfe  und  Klarheit  entbehren,  welche  sie  zur 
Grundlage  höherer  Geistesarbeit  tauglich  macht;  sie  werden  ver- 
schwommene und  unklare  psychische  Gebilde,  mit  deren  Hilfe 
nur  einseitige  und  verschrobene  Urtheile  von  zweifelhaftem  Werthe, 
sowie  vage  und  unsichere  Analogieschlüsse  zu  Stande  kommen 
können,  sobald  sich  der  Gedankengang  aus  dem  Bereiche  der  un- 
mittelbaren Sinneserfahrung  entfernt.    Es  ist  daher  leicht  verständ- 
lich, dass  die  hier  geschilderte  Störung,  als  deren  Ausdruck  uns  der 
Hang  zum  Schwärmen  und  Träumen,  der  unpraktische  Mangel  des 
Interesses  für  das  Wirkliche  und  Einzelne  begegnet,  nicht  ohne  die 
schwersten  Folgen  für  die  psychische  Gesammtentwicklung  bleiben 
kann.    Sie  büdet  die  Signatur  für  gewisse  Formen  des  angeborenen 
Schwachsinns  und  der  auf  ihrem  Boden  sich  mit  Yorliebe  ent- 
wickelnden originären  Yerrücktheit. 

StörnDgen  im  Ablaufe  der  Vorstelluiigeii.  Die  successive  Ver- 
knüpfung von  VorsteUun  gen  und  Begriffen  mit  einander  nimmt,  wie 
sich  durch  Messungen  zeigen  lässt,  eine  bestimmte,  nicht  unbeträcht- 
liche Zeit  (etwa  0,5—1,0")  in  Anspruch,  deren  Dauer  je  nach  der 
Leichtigkeit  wechselt,  mit  welcher  sich  die  Elemente  an  einander 


Störungeu  iin  Ablaufe  der  Vorstellungen. 


lOi 


fügen.  Sie  gestattet  umgekehrt  Kückschlüsse  aaf  die  innigeren  oder 
entfernteren  Beziehungen  der  psychischen  Yorgänge  za  einander. 
Unter  pathologischen  Yerhältnissen  kann,  wie  es  scheint,  die  Dauer 
jener  Verknüpfungen  und  damit  die  Schnelligkeit  des  Vorstellungs- 
verlaufes  erhebliche  Yercänderangen  erfahren.  So  ist  es  nachgewies  en 
worden,  dass  bei  psychischer  Depression  und  beim  Schwachsinn 
selbst  die  einfachsten  psychischen  Leistungen,  wie  das  Wahrnehme  n 
eines  Sinneseindruckes  und  die  Ausführung  einer  Willkürbewegung, 
diu-chschnittlich  etAvas  längere  Zeit  in  Anspruch  nehmen,  als 
bei  Gesimden.  Bei  verwickeiteren  Yorgängen  lässt  sich  dieses  Yer- 
halten  noch  deutlicher  nachweisen.  Auch  die  einfache  Beobachtung 
zeigt  hier  schon,  dass  die  einzelnen  Yorstellungen  einander  langsam 
und  träge  folgen.  Die  Antworten  werden  zögernd  und  nach  längerer 
Pause  hervorgebracht,  höhere  geistige  Leistungen  entweder  gar  nicht 
oder  nur  unter  grossem  Zeitauf  wände  ausgeführt.  Im  einen  Falle, 
bei  psychischer  Depression,  scheint  diese  Yerlangsamung  auf  einer 
allgemeinen  Hemmung  der  psychischen  Yorgänge  durch 
den  begleitenden  Affect  zu  beruhen,  wie  ja  auch  unter  normalen 
Yerhältnissen  jede  ernstere  Yer Stimmung  mit  einer  Unfähigkeit  zu 
raschem  und  klarem  Denken  einherzugehen  pflegt.  Bei  Schwach- 
sinnigen dagegen  haben  wir  es  wol  mit  einer  dauernden  Herab- 
setzung der  psychischen  Leistungsfähigkeit  zu  thun,  als  deren  vor- 
übergehendes physiologisches  Gegenstück  wir  den  Zustand  der  Er- 
müdung betrachten  können.  Dass  in  diesem  letzteren,  ebenso  wie 
imter  dem  Einflüsse  depressiver  Affecte,  schon  die  einfachsten  und 
noch  mehr  die  verwickeiteren  psychischen  Yorgänge  regelmässig 
eine  Yerlängerung  ihrer  Zeitdauer  erfahren,  lässt  sich  ebenfalls  durch 
Messungen  ohne  Schwierigkeit  nachweisen.  Überall  sieht  man  hier 
zugleich  die  Schwankungen  der  gemessenen  "Werthe,  die  Buccola 
mit  Eecht  als  das  Dynamometer  der  Aufmerksamkeit  bezeichnet 
hat,  in  mehr  oder  weniger  beträchtlichem  Masse  zunehmen. 
Während  sonst  die  psychischen  Yorgänge  gerade  bei  langsamerer 
Arbeit  gleichmässiger  zu  verlaufen  pflegen,  geht  also  hier  die  Herab- 
setzung der  geistigen  Leistungsfähigkeit  mit  einer  unvollkommenen 
Beherrschung  der  Aufmerksamkeit  einher,  ein  Zeichen,  dass  auch 
die  psychische  Widerstandsfähigkeit  abgenommen  hat. 

Beschleunigung  der  psychischen  Functionen  ist  ohne 
Zweifel  ein  sehr  viel  selteneres  Yorkommniss  bei  Geisteskranken, 


-j^Q2  n.  Allgemeine  Symptomatologie. 

als  die  Yerlangsamung  derselben.  Nach  der  Minischen  Erfahrung 
sollte  man  diese  Erscheinung  etwa  in  maniakalischen  Zuständen, 
namentlich  in  denjenigen  des  circulären  Irreseins,  erwarten.  In  der 
That  hat  Marie  Walitzkaja  bei  Maniakalischen  Verkürzungen  der 
Associationszeit  bis  auf  die  Hälfte,  ja  bis  auf  ein  Drittel  der  nor- 
malen Dauer  gefunden.  Der  Annahme  einer  derart  erheblichen 
Beschleunigung  der  Yorstellungsverbindungen  widersprechen  indessen 
meine  eigenen  Erfahrungen  durchaus,  so  dass  ich  jenes  Ergebniss 
einstweilen  als  durch  Fehlerquellen  getrübt  betrachten  muss.  Im 
Ganzen  scheinen  für  eine  grosse  Zahl  von  Geisteskranken  weniger 
Veränderungen  in  der  mittleren  Dauer  ihrer  psychischen  Vorgänge, 
als  vielmehr  abnonn  grosse  Schwankungen  zwischen  den  gewonnenen 
Einzelwerten,  allerdings  mit  der  vorwiegenden  Neigung  zu  längeren 
Zahlen,  charakteristisch  zu  sein. 

Das  Verhalten  der  fortlaufenden  geistigen  Arbeit  bei  Geistes- 
kranken ist  bisher  leider  fast  gar  nicht  untersucht  worden.  Dasselbe 
würde  nicht  nur  über  die  absolute  Grösse  der  Arbeitsleistung,  die 
natürlich  sehr  von  der  Vorbildung  abhängt,  sondern  auch  über  die 
üebungsfähigkeit,  sowie  namentlich  über  die  Ermüdbarkeit  und 
Ablenkbarkeit  voraussichtlich  werthvolle  Aufschlüsse  liefern.  Gerade 
nach  den  beiden  letzteren  Eichtungen  hin  finden  wir  bei  ange- 
borenen und  erworbenen  Schwächezuständen  so  häufige  und  ein- 
greifende Störungen,  dass  an  der  grundlegenden  Bedeutung  der- 
selben nicht  gezweifelt  werden  kann.  Einiges  Material  in  dieser 
Eichtung  liegt  mir  bereits  vor,  doch  ist  dasselbe  noch  zu  lückenhaft, 
als  dass  sich  schon  jetzt  weiterreichende  Schlüsse  daraus  ableiten 
Hessen. 

Ausser  diesen  mehr  formalen  Störungen  haben  wir  nunmehr 
aber  auch  noch  gewisse  Veränderungen  des  Vorstellungsverlaufes 
einer  kurzen  Betrachtung  zu  unterziehen,  bei  denen  der  Inhalt 
der  Gedankenreihen  eine  mehr  oder  weniger  tiefgToifendB  Beein- 
flussung erfährt.  Wie  es  scheint,  ist  die  gemeinsame  Grundlage 
hier  der  dauernde  oder  vorübergehende  Verlust  der  Herrschaft  des 
Kranken  über  seine  Ideenkreise,  die  Unfähigkeit,  nach  bestimmten 
Motiven  aus  der  Zahl  der  sich  darbietenden  Associationen  Auswahl 
zu  treffen.  Auf  diese  Weise  kann  sich  dann  entweder  eine  und 
dieselbe  Vorstellungsgruppe  immer  von  Neuem  wieder  dem  Bewusst- 
sein  aufdrängen,  oder  aber  es  erlangen  gewisse  allgemeine  Eichtungen 


« 


Störungen  im  Ablaufe  der  Vorstellungen. 


103 


der  associativen  Anknüpfung  die  Oberhand  und  zwingen  dadurch 
den  Gedankengang  in  ganz  bestimmte  Bahnen  hinein. 

Beide  Störungen  sind  der  normalen  Erfahrung  geläufig.  Wir 
AUe  wissen,  dass  sich  bei  uns  gewisse  stehende  Wendungen  und 
Ideenverbindungen  ausbüden,  die  mit  erstaunlicher  Unvermeidhch- 
keit  bei  gegebenem  Stichworte  auftauchen  und  ablaufen,  ohne  unser 
Zuthun,  ja  selbst  gegen  unseren  Willen.    Ich  konnte  nachweisen, 
dass  von  einer  grösseren  Gruppe  eingeübter  Associationen  nach  fast 
zwei  Jahren  noch  etwa  70o/o  in  stereotyper  Weise  wiederkehrten. 
Wie  oft  begegnet  es  uns  ferner,  dass  wir  irgend  eine  Vorstellungs- 
gi-uppe,  meist  solche  von  rhythmischer  Gliederung,  einen  Yers  oder 
eine  Melodie,  „nicht  los  werden  können"  und,  vielleicht  zu  unserem 
grössten  Yerdrusse,  in  steter  Wiederholung  auf  dieselbe  zurück- 
kommen müssen.   Auf  diese  Weise  kann  eine  Reproduction,  die 
uns  zunächst  gleichgiltig  und  sogar  angenehm  ist,  bei  häufiger 
Wiederkehr  schliesslich  die  peinlichsten  Gefühle  in  uns  hervorrufen, 
sobald  wir  uns  ausser  Stande  finden,  dieselbe  zu  unterdrücken. 
Experimentelle  Erfahrungen  lehren  diese  Erscheinung  als  Ermüdungs- 
symptom kennen.    Man-  hat  derartige  Vorstellungen,  die  sich  gegen 
unsern  Willen  in  unser  Bewusstsein  drängen,  Zwangsvorstell- 
ungen*) genannt.    Yon  anderen  mit  Macht  hervortretenden  Vor- 
stellungen unterscheiden  sie  sich  somit  nicht  an  sich  selbst,  sondern 
es  ist  der  eigenthümliche  Zustand  des  Bewusstseins,  das  Widerstreben 
des  Individuums,  nicht  der  Zwang  selbst,  sondern  das  unangenehme 
Gefühl  des  Zwanges,  welches  dem  ganzen  Vorgange  seine  be- 
stimmte Färbung  giebt. 

Der  Widerstand  und  weiterhin  das  Unlustgefühl,  welches  die 
TJeberwindung  desselben  durch  die  Zwangsvorstellung  begleitet,  kann 
ausser  der  Beeinträchtigung  des  Gedankenverlaufes  durch  die  häufige, 
ja  unablässige  Wiederholung  jener  letzteren,  noch  aus  ihrem  der 
sonstigen  Denkweise  des  Menschen  widersprechenden  Inhalte  ent- 
springen. Die  einzelnen  klinischen  Eormen  dieser  Störung,  die  regel- 
mässig auf  dem  Boden  einer  verminderten  psychischen  Widerstands- 
fähigkeit zur  Entwickelung  kommt,  werden  wir  späterhin  noch  einer 
näheren  Betrachtung  zu  unterziehen  haben. 

Eine  schwerwiegende  Bedeutung  für  das  psychische  Leben 

*)  Wille,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XII,  1;  Meynert,  Wiener  klin.  "Wochenschr. 
1888,  5—7. 


104 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


können  die  Zwangsvorstellungen  gewinnen,  wenn  sie  nicht  als  ein- 
fache lästige  Erinnerungsbilder,  sondern  als  Befürchtungen  oder 
Hoffnungen  auftreten  und  damit  die  Auffassung  thatsächlicher  Ver- 
hältnisse zu  verfälschen  drohen.  Freilich  wird  eine  ruhige  Kritik 
auch  hier  überall  einer  wirklichen  Assiniilirung  der  krankhaften 
Eindringlinge  dauernd  Widerstand  zu  leisten  vermögen ;  wo  aber  die 
Besonnenheit  sich  trübt,  z.  B.  durch  lebhafte  Affecte,  da  kann  die 
kritische  Sichtung  des  Vorstellungsmaterials  ausbleiben  und  damit 
jenen  pathologischen  Gedankengängen  ein  weitgehender  Einfluss  auf 
den  gesammten  Bewusstseinsinhalt  eröffnet  werden.  Natürlich  tragen 
dieselben  nur  so  lange  den  Charakter  der  Zwangsvorstellungen,  wie 
das  gesunde  Urtheil  noch  gegen  sie  ankämpft  und  sie  als  Eindring- 
linge in  den  normalen  Fluss  der  Ideenverbindungen  auffasst. 

Auch  das  Vorherrschen  bestimmter  Eichtungen  in  den  Ideen- 
verbindungen ist  uns  eine  Avohlbekannte  Erscheinung.  Nicht  nur 
die  individuelle  Lebenserfahrung  pflegt  regelmässig  die  Art  der 
associativen  Bewegung  zu  beeinflussen,  sondern  wir  sehen,  dass  in 
noch  höherem  Masse  vielleicht  die  persönliche  Veranlagung  hier  eine 
wichtige  KoUe  spielt.  Die  Neigung  zu  abstractem  Denken  oder  zu 
rhetorischem  Schwünge,  zu  lyrischer  Schwärmerei  oder  praktischer 
Sinnlichkeit  sind  constitutionelle  Eigenthümlichkeiten,  die  sich  in  den 
gewohnheitsmässigen  Gedankengängen  überall  geltend  machen.  Noch 
eigenartiger  gestaltet  sich  der  nicht  so  seltene  Drang,  überall  Wort- 
spiele und  -Verdrehungen  anzubringen,  Citate  zu  produciren  oder 
aber,  wie  man  es  bei  einzelnen  grossen  Bechenkünstlern  beobachtet 
hat,  umfangreiche  Eechnungen  auszuführen. 

Wie  es  scheint,  kommen  derartige  Störungen  vielfach  dadurch 
zu  Stande,  dass  die  verschiedenartigen  Bestandteile,  aus  denen  sich 
unser  Erfahrungsmaterial  zusammensetzt,  in  verschiedener  Stärke 
entwickelt  sind,  oder  dass  durch  eine  allgemeine  Störung  überall 
eine  bestinnnte  Seite  unserer  Vorstellungen  das  TJebergewicht  über 
die  anderen  gewinnt.  Manche  Erfahrungen  sprechen  dafür-,  dass 
z.  B.  der  Gegensatz  zwischen  den  sensorischen  und  den  motorischen 
Elementen  der  Vorstellungen  eine  gewisse  Bolle  spielt  Es  giebt 
Zustände,  in  denen  die  Ideenverbindung  ganz  vorzugsweise  dui'ch 
einzelne  sinnliche  Erinnerungsbilder  vermittelt  zu  werden  scheint, 
so  im  Traume,  in  gewissen  Vergiftungsdelirien,  namentlich  im  Opium- 
rausch.   Lebhafte  Phantasievorstellungen  schliessen  sich  hier  in 


Störungen  im  Ablaufe  der  Vorstelluagen. 


105 


bunterFolge  an  einander,  entwickeln  sich  anseinancler,  losgelöst  von  dem 
festgefügten  Gerüste  der  absti-acten  Vorstellungen.  In  Folge  dessen  ent- 
steht eine  lockere  Reihe  phantastischer  Situationen  ohne  inneren  Zu- 
sammenhang und  ohne  Correctur  durch  die  allgemeineren  Lebens- 
erfahrungen, deren  schärferes  Hervortreten  in  unserem  Bewusstsein  so- 
fort die  zahli-eichen  Widersprüche  und  die  innere  Unwahrheit  der 
deliriösen  Erlebnisse  deutlich  erkennen  lassen  Avürde.  Andererseits  aber 
dürfte  nij3ht  selten  vielmehr'  ein  Ueberwiegen  der  motorischen  Bezieh- 
ungen, insbesondere  auf  Grund  der  motorischen  Sprachvorsteliungen, 
sich  herausbilden.  Es  kommt  dann  zu  einer  Häufung  sprachlich  ein- 
geübter Associationen,  gewohnheitsmässiger  Wortverbindungen,  oder 
aber  zur  Terknüpfung  nach  der  Klangähnlichkeit.  Regelmässig  geht 
auch  hierbei  natürlich  der  innere  Zusammenhang  der  Ideen  mehr 
oder  weniger  verloren. .  In  leichten  Andeutungen  tritt  diese  Störung 
schon  bei  der  normalen  Ermüdung  hervor;  unser  Gedankengang 
lenkt  dabei  mehr-  und  mehr  in  die  Bahnen  eingeübter  Redensarten 
ein.  Auf  pathologischem  Gebiete  beobachten  wir  sie  namentlich  bei 
solchen  Psychosen,  welche  mit  motorischen  Reizerscheinungen  einher- 
gehen. Der  Redeschwall  reisst  hier  den  Gedankengang  gewissermassen 
vollständig  mit  sich  fort.  Die  Banken  sind  nicht  im  Stande,  zusamme  n- 
hängend  zu  erzählen,  da  sich  überall  stehende  Redewendung  en 
einschieben,  die  der  Ideenverbindung  eine  neue  Richtung  geben, 
so  dass  sie  ,,vom  Hundertsten  ins  Tausendste"  kommen  und  schon 
nach  wenigen  Augenblicken  das  ursprüngliche  Ziel  ihrer  Reden  aus 
dem  Auge  verüeren.  „Der  Nagel  an  der  Wand"  begann  eine  solche 
Kranke,  auf  einen  Nagel  zeigend,  fuhr  aber  sodann  fort:  „hört  seine 
eigene  Schand." 

Man  bezeichnet  diese  Erscheinung  mit  dem  Namen  der  Ideen- 
flucht, obgleich  in  der  Regel  eine  Beschleunigung  der  Ideenfolge 
gar  nicht  vorhanden  ist.  Nur  das  Aussprechen  der  Gedanken 
ist  erleichtert,  sodass  jede  auftauchende  Vorstellung  sich  sofort  in 
eine  Sprachbewegung  umsetzt,  die  dann  andere  eingeübte  oder  ähn- 
liche Redewendungen  nach  sich  zieht,  während  wir  unter  normalen 
Verhältnissen  zahllose  derartige  motorische  Antriebe  einfach  unter- 
drücken. Unter  dem  Einflüsse  des  Alkohols  geht  uns  bekanntlich  diese 
letztere  Fähigkeit  verloren,  und  es  entwickeln  sich  nun  jene  halb  ideen- 
flttchtigen,  halb  stereotypen  Reden,  in  denen  der  Einfluss  der  moto- 
rischen Sprachvorstellungen  deutlich  genug  über  denjenigen  des  Ge- 


-j^Qg  II.   Allgemeine  Symptomatologie. 

dankeninhaltee  überwiegt.  In  den  höheren  Graden  der  Ideenflucht 
schreitet  die  Lockerang  des  begrifflichen  Zusammenhanges  der  Yor- 
stellungen  immer  weiter,  bis  schüesslich  jede  inhaltliche  Verknüpfung 
in  einer  sinnlosen  Aneinanderreihung  von  Assonanzen,  Alüterationen, 
Reimen,  Citaten  und  Bruchstücken  verloren  geht.  Diese  chaotische 
Folge  von  Yorstellungen  kann  dann  bisweilen  höchstens  noch  durch 
sehr  energische  äussere  Eindrücke  (kräftiges  Anreden)  vorübergehend 
soweit  aufgehalten  werden,  dass  es  geüngt,  von  dem  Kranken  etwa 
eine  richtige  Antwort  auf  eine  einfache  Frage  zu  erhalten. 

Das  gemeinsame  Resultat  aller  Störungen,  welche  den  Einfluss  der 
Constanten  psychischen  Persönlichkeit  auf  den  Ablauf  der  Yorstell- 
ungen beeinträchtigen  oder  vernichten,  ist  das  Aufü^eten  einer  sehr 
wichtigen  und  häufigen  Krankheitserscheinung,  der  Verwirrtheit. 
Sie  bedeutet  den  Verlust  des  inneren  Zusammenhanges  zwischen  den 
Vorstellungen  und  die  daraus  sich  ergebende  Unfähigkeit,  dieselben 
zu  ordnen  und  zu  überbücken.  Die  Entstehungsweise  dieses  Symptoms 
ist  wahrscheinlich  eine  vielfach  verschiedene;  dasselbe  bildet  in 
stärkerer  oder  schwächerer  Ausprägung  gewissermassen  das  allgemeine 
Prodromalstadium  der  acuten  Psychosen.     Eine  ganz  besonders 
wichtige  Rolle  spielen  dabei  jedenfalls  die  Affecte,  deren  gewaltigen 
Einfluss  auf  den  klaren  Zusammenhang  unserer  Gedanken  ims  schon 
die  normale  Erfahrung  kennen  lehrt,  von  den  leisesten  Regungen 
der  Verlegenheit  und  Befangenheit  an  bis  zu  den  mächtigen  Ge- 
fühlsschwankungen der  Angst,  des  Zornes  und  der  Verzweiflung. 

Weiterhin  vermag  ein  abnorm  starkes  Hervortreten  der  sinnlichen 
Elemente  unserer  Vorstellungen  anscheinend  eine  deliriöse,  Vor- 
herrschen der  psychomotorischen  Erregung  dagegen  die  charakter- 
istische Erscheinung  der  ideenflüchtigen  Verwirrtheit  zu  erzeugen. 
Bei  rascher  Steigerung  der  combinatorischen  Phantasiethätigkeit 
entwickelt  sich  jene  Form  der  Verwirrtheit,  welche  wir  bei  dem 
plötzlichen  Anstürmen  neuer  Gedanken  und  ungeahnter  Consequenzen 
empfinden;  uns  schwindelt  der  Kopf,  weil  wir  nicht  im  Stande  sind, 
die  massenhaft  aufschiessenden  Vorstellungen  zu  ordnen  und  zu 
überblicken.    Diese  „combinatorische  Verwirrtheit''  findet  sich  als 
Episode  in  jenen  Krankheitsformen,  in  deren  weiterem  Verlaufe 
das  rasch  entstandene  phantastische  Material  zu  einem  dauernden  Wahn- 
system  verarbeitet  wird,  ähnlich  wie  auch  wir  die  uns  anfangs  ver- 
wirrende neue  Idee  allmählich  unsern  Gedankenkreisen  assimilii-en 


Störungen  im  Ablaufe  der  Vorstellungen. 


107 


und  dadiirch  die  innere  Einheit  und  den  Zusammenhang  derselben 
wiederherstellen.  Ein  solcher  Patient  bezeichnete  mir  diese  ver- 
wirrende Ueberproduction  an  phantastischen  Combinationen  als  eine 
wahre  „Hunnenschlacht  des  Geistes".  Yielleicht  kann  ferner  auch 
das  Auftauchen  massenhafter  Sinnestäuschungen  eine  hallu- 
cinatorische  Yerwirrtheit  einfach  in  der  Weise  hervorrufen,  wie  beim 
Gesunden  die  Orientirung  verloren  geht,  wenn  er  sich  plötzlich  in  ein 
unentwirrbares  Gemisch  neuer  rätselhafter  Sinneseindrücke  versetzt 
sieht.  Bei  alten  Paranoikern  und  in  gewissen  Eormen  des  hallucinato- 
rischen  "Wahnsinns  sehen  wir  allerdings,  dass  vollkommene  Ordnung 
der  Gedanken  trotz  zahlreicher  Sinnestäuschungen  bestehen  kann. 
Im  Ganzen  ist  übrigens  zu  bemerken,  dass  die  hier  theoretisch  aus- 
einandergehaltenen Formen  der  Yerwirrtheit  sich  praktisch  fast  immer 
mit  einander  verbinden.  Fast  alle  acuten  Psychosen  gehen  mit  leb- 
haften Affecten  einher;  zu  den  Störungen  im  Ablaufe  der  Yorstell- 
ungen  gesellen  sich  sehr  häufig  Sinnestäuschungen,  sodass  es  im 
einzelnen  Falle  kaum  möglich  erscheint,  den  Anteil  genauer  zu  be- 
stimmen, der  den  verschiedenen  Ursachen  beim  Zustandekommen 
der  Yerwirrtheit  zugeschrieben  werden  muss. 

Endlich  bedarf  es  kaum  noch  einer  besonderen  Ausführung, 
dass  sich  auch  mit  der  Entwickelung  des  Schwachsinns,  mit  dem 
Fortschreiten  des  geistigen  Yerfalles  der  Zusammenhang  der 
YorsteUungen  lockert.  Leider  sind  die  auf  diese  Weise  zu  Stande 
kommenden  mannigfaltigen  Formen  der  secundären  Yerwirrtheit 
in  ihren  Einzelheiten  bisher  noch  sehr  wenig  bekannt. 

Störungen  des  Urtheils  und  der  Schlussbildung.  Die  höchsten 
und  verwickeltsten  Leistungen  auf  intellectuellem  Gebiete  sind  TJrtheil 
und  Schluss.  Da  sie  sich  aufbauen  auf  den  vorbereitenden  Functionen 
der  Wahrnehmung,  des  Gedächtnisses,  der  Bildung  und  Yerbindung 
von  YorsteUungen,  so  ist  es  natürlich,  dass  alle  Beeinträchtigungen 
irgend  eines  dieser  Yorgänge  regelmässig  in  mehr  oder  weniger 
nachhaltiger  Weise  das  in  Drtheil  und  Schluss  sich  darstellende  End- 
resultat der  geistigen  Arbeit  in  Mitleidenschaft  ziehen  müssen. 
Abgesehen  davon  jedoch  kann  eben  die  logische  Yerarbeitung  des 
Yorstellungsmateriales  selbst  gewissen  krankhaften  Störungen  unter- 
liegen, welche  für  das  ganze  psychische  Leben  in  der  Eegel  äusserst 
verhängnissvoll  werden. 

Die  wichtigste  dieser  Störungen  ist  die  Neigung  zu  subjectiver 


108 


II.   Allgemeine  Symptomatologie. 


Interpretation  der  Aussenwelt.  Wenn  schon  im  gesunden  Leben 
vielfach  die  Versuchung  an  uns  herantritt,  an  geringfügige  und  viel- 
deutige thatsächliche  Anhaltspunkte  zu  weitgehende  Wahrscheinlich- 
keitsschlüsse zu  knüpfen  oder  ohne  zureichenden  Grund  Causal- 
verhältnisse  zwischen  zufällig  zusammenfallenden  Ereignissen  zu 
vermuthen,  so  begünstigt  unter  pathologischen  Verhältnissen  der 
Hang  zu  phantastischer  Verbindung  der  Vorstellungen  und  Wahr- 
nehmungen in  ganz  hervorragendem  Masse  das  Suchen  nach  Be- 
ziehungen der  Dinge,  wo  die  Vorstellungen  in  Beziehung  getreten 
sind,  die  Vermuthung  eines  realen  Zusammenhanges  der  Erschein- 
ungen auf  Grund  des  leicht  geschürzten  psychologischen  Bandes 
derselben.  Für  den  Kranken  kann  der  harmloseste  äussere  Vorgang 
zum  tiefsinnigen  Symbol  verborgener  Ereignisse  werden;  in  die 
nüchternsten  Thatsachen  Avird  ein  versteckter  und  entlegener  Sinn 
hineingeheimnisst.  Der  Flug  eines  Vogels  ist  ihm  ein  verheissungs- 
volles  Zeichen  für  die  Zukunft,  eine  zufällig  beobachtete  Geberde 
signalisirt  drohende  Gefahr,  der  Fund  einiger  Kastanien  bedeutet 
die  Zusicherung  künftiger  Weltherrschaft. 

Auf  diese  Weise  entsteht  nicht  selten  jenes  wichtige  psychopa- 
thische Symptom,  welches  man  als  „Wahnidee"  bezeichnet.  Jede 
Wahnidee  ist  eine  krankhaft  verfälschte  Vorstellung,  die  regelmässig 
in  irgend  einer  Beziehung  zu  den  persönlichen  Verhältnissen  des 
Individuums  steht.  Sie  kann  erzeugt  werden  diu'ch  eine  einfache 
Sinnestäuschung,  und  ist  dann  der  Correctur  leicht  zugänglich,  so- 
bald die  Irreahtät  jener  Täuschung  erkannt  worden  ist.  Zumeist 
indessen,  auch  wenn  sie  durch  Trugwahrnehmungen  genährt  und  in- 
haltlich bestimmt  wird,  hat  sie  ihre  eigentliche  Wurzel  in  der 
intellectiiellen  Verarbeitung  von  Vorstellungen,  die  allerdings  wieder 
von  anderer  Seite  her,  z.  B.  durch  Gefühle  und  Affecte,  beeinflusst 
werden  können. 

Ein  physiologisches  Seitenstück  der  Wahnidee  gewissermassen  ist 
der  Aberglaube,  insofern  auch  er  auf  einem  mystischen  Hange, 
auf  der  Neigung  zu  phantastischer  Auslegung  der  äusseren  Er- 
scheinungen beruht,  die  nur  beim  Kranken  vielfach  in  weit  absonder- 
hcheren  und  unkritischeren  Formen  auftritt.  In  der  That  ist  es  bis- 
weilen bei  der  Beurtheilung  des  einzelnen  Falles  überaus  schwer, 
zu  sagen,  wie  weit  der  Aberglaube  und  wie  weit  ein  wirklich 
pathologischer  Wahn  von  der  Weltanschauung  des  Individuums  ße- 


Störungen  des  TJrtheils  und  der  Scblnssbildung_ 


109 


sitz  ergriffen  haben.  Nur  die  FeststelliiDg  des  Durchschnittsaberglaiibens 
bei  der  Umgebung  des  Kranken  kann  hier  einen  einigermassen  sicheren 
Anhalt  an  die  Hand  geben. 

Kegelmässig  stehen  die  Wahnideen  in  nahem  Znsammenhange 
mit  dem  eigenen  Ich  des  Kranken.  Die  Yorstellungsgruppe 
der  eigenen  Persönlichkeit,  das  Selbstbewusstsein,  bildet  ja  schon 
nnter  normalen  Yerhältnissen  den  Mittelpunkt  des  individuellen 
Interesses;  darum  knüpfen  sich  auch  hier  alle  die  symbolischen 
Ausdeutungen  der  Eindrücke  vor  allem  an  dieses  Centrum  an  und 
setzen  das  Netz  geheimnissvoller  Zusammenhänge  und  phantastischer 
Projectionen  in  unmittelbare  Yerbindung  mit  dem  eigenen  "Wohl 
und  Wehe.  Ausserordentlich  begünstigt  wird  diese  Entwickelung 
einer  egocentrischen  Auffassung  der  Umgebung  durch  die  Wirkung 
lebhafter  Gefühle.  Es  giebt  kein  Wahnsystem,  welches  dem 
Kranken  gleichgiltig  wäre,  sondern  dasselbe  ist  stets  auf  das  Engste 
verwebt  mit  seinen  persönhchen  Interessen  und  übt  auf  seine  Stimm- 
ung, wie  auf  seine  Stellung  in  der  Welt  einen  entscheidenden  Ein- 
fluss  aus. 

Nach  dem  begleitenden  Gefühlstone  lassen  sich  somit  zwei  grosse 
Gruppen  von  Wahnideen  unterscheiden,  depressive  und  exaltirte, 
deren  Inhalt  im  Einzelnen  eine  Eeihe  verschiedener,  meist  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  typischer  Formen  annehmen  kann.  Unter 
denjenigen  mit  depressiver  Färbung  sind  zunächst  einige  Formen  zu 
nennen,  die  sich  direct  auf  den  eigenen  Körper  beziehen.  So  besteht 
der  hypochondrische  Wahn  in  der  Idee,  von  einer  schweren 
körperlichen  Krankheit  befallen  zu  sein,  deren  Symptome  und 
Wirkungen  häufig  in  phantastischer  Weise  ausgemalt  werden.  Wie 
■der  angehende  Arzt  die  Anzeichen  so  mancher  der  gerade  von  ihm 
studierten  Leiden  an  sich  zu  entdecken  glaubt,  so  werden  hier  die 
harmlosesten,  durchaus  normalen  Erscheinungen  am  eigenen  Körper 
für  die  Folgen  der  Syphilis,  der  Hundswuth,  mannigfacher  Ver- 
giftungen, schwerer  Blutstockungen,  sexueller  Ausschweifungen  und 
dergl.  angesehen.  Bei  Aerzten  sind  Tabes,  Paralyse,  Phthise  der 
häufigste  Inhalt  hypochondrischer  Wahnideen.  In  schweren  Fällen 
gewinnen  dieselben,  namentlich  unter  dem  Einflüsse  abnormer 
Empfindungen  aller  Art,  nicht  selten  ganz  barocke  Formen;  ein 
lebendiges  Thier  sitzt  im  Körper;  Mund  und  After  sind  verschlossen, 
die  Eingeweide  sämmtlich  ruinirt  oder  herausgenommen,  der  Athem 


110 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


und  das  Blut  vergiftet,  der  Kopf  ausgehöhlt,  der  Hirnschauni  ab- 
geschöpft, die  Knochen  durch  Holzstücke  ersetzt;  der  ganze  Körper 
ist  mit  Gestank  erfüllt,  in  einen  Kikerikihahn  verwandelt,  von  Eisen 
und  Aehnliches. 

Das  hypochondrische  Wahnsystem  geht  dabei  schon  in  zwei  ver- 
wandte Ideenkreise  über,   die  Idee  der  körperlichen  Beein- 
flussung und  diejenige  der  Metamorphose.    Im  ersteren  Falle  wird 
die  Yeränderung  und  Yerschlechterung  des  ganzen  Körpers  feind- 
lichen Einwirkungen  zugeschrieben,  die  entweder  im  Schlafe  vor- 
genommen werden  oder  ganz  mystischer  Natur  sind  (Telepathie). 
Die  Hypothese  des  Behextwerdens,  des  Besessenseins,  die  ja  in  den 
Hexenprocessen  des  Mittelalters  eine  so  grosse  culturhistorische  Be- 
deutsamkeit erlangt  hat,  liegt  hier  dem  abergläubischen  Kranken 
äusserst  nahe;  sie  wird  gestützt  durch  abnorme  Gemeingefühle,  fremd- 
artige, ihm  aufsteigende  Gedanken  und  Reden,  die  Wahrnehmung 
von  Stimmen  im  eigenen  Körper,  lebhafte  Träume.    Ein-  etwas 
anderer  Bildungsgang  macht  den  Kranken  mehr  zur  Annahme  ma- 
gischer, magnetischer,  elektrischer,  physikalischer,  hypnotischer  Ferne- 
wirkungen  geneigt,  die  durch  allerlei  Maschinen,  Telephone,  galva- 
nische ^Batterien,  sympathetische  Manipulationen  von  unsichtbaren 
Feinden  vermittelt  werden.    Die  Ausbildung  derartiger  Hypothesen 
ist  bisweilen  eine  äusserst  eingehende  und  spitzfindige.    Die  Idee 
der  Metamorphose  findet  noch  eine  weitere  Entwickelung  in  dem 
ebenfalls  culturhistorisch  wichtigen  Wahne  der  Thierverwandlung, 
des  Abgestorbenseins,  der  Yerwandlung  in  andere  Personen,  nament- 
lich solche  anderen  Geschlechts,  in  leblose  Dinge  u.  s.  f. 

Ueberaus  häufig  ist  das  allgemeine  Symptom  des  Yerf olgungs- 
wahns.  Derselbe  kann  sich  weit  über  den  Bereich  der  rein  körper- 
lichen Beeinflussung  hinaus,  die  wir  soeben  erwähnt  haben,  auf  das 
ganze  Gebiet  der  Beziehungen  des  Menschen  zur  Aussenwelt  er- 
strecken. Sehr  gewöhnlich  beginnt  derselbe  mit  der  wahnhaften 
Deutung  einzelner  hingeworfener  Aeusserungen  oder  zufällig  wahr- 
genommener Geberden;  genährt  wird  er  vor  Allem  am  ergiebigsten 
durch  Gehörstäuschungen.  Der  Kranke  wird  argwöhnisch  und  miss- 
trauisch  gegen  seine  Umgebung;  er  beginnt  das  Benehmen  derselben 
mit  anderen  Augen  anzusehen  und  seine  Wahrnehmungen  unter  dem 
neugewonnenen  Gesichtspunkte  zu  verwerthen.  Ueberall  entdeckt 
er  geheime  Yerschwörungen  gegen  sich,  Andeutungen  drohender  Ge- 


Störungen  des  Urtheils  und  der  Schlussbildung.  III 

fahren,  übercall  Spione,  die  ihn  auf  Schritt  und  Tritt  beobachten  und 
Verfolgen.  Wohin  er  kommt,  fühlt  er  die  Aufmerksamkeit  auf  sich 
gerichtet;  harmlose  Bemerkimgen,  Zeitungsartikel,  Gassenhauer, 
Predigten  enthalten  versteckte  Verhöhnungen  und  den  Hinweis  auf 
seine  verzweifelte  Lage;  Jedermann  weiss  um  das  quälende  Geheim- 
niss,  und  die  Yersichenmgen  der  Liebe  und  Freundschaft  sind  eitel 
Heuchelei,  um  ihn  desto  sicherer  in  die  Falle  zu  locken.  In  anderen 
Fällen  richten  sich  diese  Yerfolgungsideen  nur  gegen  bestimmte 
Personen,  gegen  Vorgesetzte,  Nachbarn,  Freunde,  Gatten,  oder  gegen 
gewisse,  sehr  mystisch  organisirt  gedachte  Parteien,  die  Geistlichen, 
Freimaurer,  Socialdemokraten.  Der  besondere  Inhalt  des  Wahn- 
systems ist  gewöhnlich  durch  Trugwahrnehmungen  verschiedener 
Art  motivirt.  Vermeintliche  Vergiftungsversuche  und  sexuelle  Attentate 
pflegen  dabei  eine  grosse  RoUe  zu  spielen. 

Als  weitere  Form  von  depressiven  Wahnideen  haben  wir  noch 
den  Versündigungswahn  zu  erwähnen.  Der  Kranke  glaubt,  ein 
grosses  Unrecht  begangen  zu  haben,  klagt  sich  der  scheusslichsten 
Verbrechen  an,  oft  nur  in  allgemeinen  Ausdrücken,  bisweilen  aber 
auch  in  ganz  bestimmter  Erzählung,  hält  sich  für  ein  schlechtes, 
verworfenes,  gemüthloses  Geschöpf,  für  von  Gott  Verstössen  und  ver- 
dammt. An  jede  seiner  Aeusserungen  oder  Handlungen  knüpft 
sich  sehr  bald  die  Idee,  dass  er  dadurch  Andere  geschädigt,  ge- 
täuscht, ins  Unglück  gebracht  habe.  Er  fürchtet  und  wünscht  zu- 
gleich eine  schrecküche  Strafe,  um  seine  Sünden  zu  büssen,  und 
lebt  in  der  beständigen  Erwartung,  dass  er  nunmehr  von  den 
Polizisten  geholt,  hingerichtet,  verbrannt,  zur  Richtstätte  geschleift, 
lebendig  begraben  werden  solle.  Diesen  Wahnideen  nahe  verwandt 
sind  gewisse  Befürchtungen  allgemeiner  Art,  die  häufig  mit  ihnen 
sich  vergesellschaften,  die  Idee  zij  verarmen,  arbeitsunfähig  zu 
werden,  ein  grosses  Unglück  erdulden  zu  müssen  oder  über  die 
Angehörigen  heraufzubeschwören.  Namentlich  die  Vorstellung,  dass 
irgend  etwas  Schreckliches  passirt,  die  Familie  erkrankt  und 
gestorben  sei,  oder  dass  etwas  Furchtbares  bevorstehe,  scheint  zu- 
meist aus  einer  directen  Beeinflussung  des  Bewusstseinsinhaltes 
durch  die  allgemeine  depressive  Verstimmung  ihren  Ursprung  zu 
nehmen;  begegnen  wir  doch  ähnlichen,  allerdings  gewöhnlich  rasch 
vergessenen  „Ahnungen"  auf  dem  Hintergrunde  einer  gemüthlichen 
Erregung  nicht  selten  auch  im  alltäglichen  Leben. 


II.    Allgemeine  Symptomatologie. 


Auch  die  exaltirten  Wahnideen  können  unmittelbar  den 
eigenen  Körper  zum  Gegenstande  haben.    Hier  gewährt  uns  die 
Euphorie  der  Phthisiker  und  die  Selbsttäuschung  Betrunkener  ein 
normales  Beispiel  für  jene  Störungen  des  Selbstbewusstseins,  in 
denen  das  Gefühl  erhöhter  Leistungsfähigkeit  in  Widerspruch  mit 
dem  wirklichen  Verhalten  geräth.   So  rühmen  gebrechliche  Paralytiker 
ihre  Körperkräfte,  ihre  ausgezeichneten  Lungen,  ihre  sexuelle  Potenz, 
sprechen  von  ihrer  schönen  Stimme,  von  ihren  gymnastischen  Fertig- 
keiten, während  sie  keinen  musikalischen  Ton  hervorbringen  und 
nicht  auf  den  Füssen  stehen  können.    Den  hypochondrischen  Ideen 
inhaltlich  verwandt  sind  die  Grössenvorstellungen,  dass  der  eigene 
Koth  Gold,  der  Urin  Kheinwein  sei  und  Aehnliches.    Zuweilen  ge- 
winnen auch  Ideen  depressiven  Inhaltes  durch  die  Art  ihrer  Yer- 
werthung  Seitens  der  Kranken  den  Charakter  von  expansiven.  Wir 
hören  solche  Patienten  mit  grosser  Genugthuung  sich  dessen  rühmen, 
dass  ihnen  schon  30000  Mal  das  Haupt  abgeschlagen  worden  sei, 
dass  sie  den  schrecklichsten  Kopfkrankheiten  ausgesetzt  gewesen 
seien,  jeden  Tag  einen  Centner  Strychnin  eingeblasen  bekämen. 
Hier  dienen  die  unerhörten  Gefahren  nur  dazu,  die  eigene  Kraft 
und  Wichtigkeit  in  ein  um  so  glänzenderes  Licht  zu  setzen. 

Sehr  häufig  ist  die  Idee  geistiger  Gesundheit  trotz  tiefgreifender 
psychischer  Störung,  der  Mangel  der  Krankheitseinsicht,  der 
für  manche  Formen  des  Irreseins  geradezu  als  pathognomonisch 
angesehen  werden  kann.    Namentlich  dort,  wo  die  Combinations- 
fähigkeit  erhöht  ist  und  die  Yerbindung  der  Vorstellungen  mit 
krankhafter  Leichtigkeit  vor  sich  geht,  glaubt  der  Kranke,  gesünder 
zu  sein,  denn  je,  und  giebt  seiner  Umgebung  die  Insinuation 
psychischer  Erkrankung  ohne  Weiteres  zurück.    Bisweilen  steigert 
sich  das  Gefühl  geistiger  Leistimgsfähigkeit  in  so  ausserordentlichem 
Masse,   dass  der  Kranke  sich  für  ein  Universalgenie,  für  einen 
grossen  Entdecker  und  Weltverbesserer  hält,  für  den  es  keine 
Schwierigkeiten  und  keine  unlösbaren  Probleme  mehr  giebt;  er  ver- 
steht alle  Sprachen,  kennt  alle  Geheimnisse  der  Natur  und  ergründet 
die  tiefsten  Käthsel  des  Daseins  mit  spielender  Leichtigkeit.  Wer 
wird  dabei  nicht  an  die  erstaunliche  Gewandtheit  erinnert,  mit  der 
wir  bisweilen  im  Traume  die  schwierigsten  Aufgaben  überwältigen, 
um  nachher  beim  Erwachen  zu  entdecken,  dass  unsere  Producta 
baarer  Unsinn  gewesen  sind ! 


Störimgeu  des  Urtheils  uad  der  Schlussbildung. 


113 


Die  äusseren  Yerhiiltnisse  des  Kraaken  werden  durch  exaltirte 
Wahnideen  in  ähnlicher  Weise  umgewandelt.  Nach  der  einen  Seite 
hin  beziehen  sich  dieselben  auf  seine  social  e  Stellung,  nach  der 
anderen  auf  seinen  Besitz,  ohne  dass  natürlich  im  Einzelfalle  eine 
scharfe  Trennnng  dieser  beiden  Formen!  möglich  wäre.  Der  Kranke 
ist  von  hoher  Abkunft,  Fiirstenkind,  Thronerbe,  oder  er  steht 
wenigstens  in  nahen  Beziehungen  zu  weltlichen  und  geistlichen 
distinguirten  Persönlichkeiten,  ja  er  hat  Verbindungen  mit  über- 
irdischen Mächten,  Verkehr  mit  der  Jungfrau  Maria,  mit  Christus 
oder  Gott  selbst.  In  weiterer,  sehr  häufiger  Steigerung  ist  er  selber 
Bismarck,  König,  Kaiser,  Papst  (sogar  Beides  in  einer  Person);  er 
ist  ein  HeiHger,  Christus,  Braut  Christi,  Grott^  die  personificirte  Drei- 
einigkeit und  Obergott.  Andererseits  rühmt  der  Kranke  seine  schönen 
Kleider,  seine  Pferde  und  Schlösser;  er  besitzt  grosse  Ländereien 
und  ungeheuer  viel  Geld,  Millionen  mal  Milliarden;  ihm  gehört 
Deutschland,  Europa,  alle  f ünf '  Erdtheile,  ja  schliesslich  die  ganze 
Welt.  An  diese  Vorstellungen  der  Macht  und  des  Eeichthums 
knüpfen  sich  sehr  gewöhnlich  mannigfache  Pläne,  welche  mit  Hülfe 
der  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  zur  Ausführung  gebracht  werden 
sollen.  Vom  einfachen  Ankaufe  allerlei  unnützer  Dinge  geht  es 
zum  Projecte  gewaltiger  Bauten,  grossartiger  Feste,  zur  Austrocknung 
ganzer  Oceane,  Durchbohrung  der  Erde,  Kelsen  nach  dem  Monde 
und  durch  das  Weltall.  In  dieser  speciellen  inhaltlichen  Ausprägung 
des  „Grössenwahns"  macht  sich  gerade  der  Einfluss  der  individuellen 
Erfahrung  geltend.  Die  allgemeine  Eichtung  desselben  ist  offenbar 
in  dem  zu  Grunde  liegenden  Krankheitszustande  vorgezeichnet,  aber 
das  ausfüllende  Detail  wird  durch  den  Vorstellungsschatz  des 
Subjectes  geliefert  und  spiegelt  somit  die  Anschauungen,  Interessen 
und  Wünsche  desselben,  bisweilen  in  sehr  drastischer  Weise,  wider. 

Depressive  und  exaltirte  Wahnideen  sind  indessen  durchaus 
nicht  etwa  als  gegensätzliche  und  einander  ausschliessende  Richt- 
ungen der  Vorstellungsthätigkeit  zu  betrachten,  sondern  sie  ver- 
binden sich  sogar  sehr  gewöhnlich  mit  einander.  Der  ver- 
meintlich Verfolgte  sieht  die  Ursache  der  gegen  ihn  gerichteten 
Feindseligkeiten  in  seinen  besonderen  Vorzügen,  in  seinen  natür- 
lichen Ansprüchen  auf  ein  grosses  Besitzthum,  in  seiner  Anwartschaft 
auf  einen  Fürstenthron,  und  umgekehrt  glaubt  der  wahnhafte  Spröss- 
ling  aus  hohem  Hause,  der  Besitzer  ideeller  Reichthümer  die  Nicht- 

Kraepolin,  Psychiatrie.    4.  Anfl.  8 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 

anerkenDurg  seiner  Eechte  auf  die  Machinationen  geheimer  Feinde 
und  Neider  znrückbeziehen  zw  müssen,  betrachtet  seine  Zurückhalt- 
ung in  der  Irrenanstalt  als  das  "Werk  erbschleicherischer  Ver- 
wandten oder  auch  als  eine  von  Gott  auferlegte  Prüfung,  nach  deren 
glücklichem  Ueberstehen  das  ganze  Füllhorn  des  Glückes  sich  über 
ihn  ergiessen  werde.  Das  Zustandekommen  dieser  Vermischung,  wie 
überhaupt  der  Wahnideen,  ist  im  einzelnen  Falle  sicherlich  recht  ver- 
schieden und  bisher  oft  nicht  ganz  klar  zu  stellen. 

Affective  Zustände,  die  oben  geschilderten  Anomalien  in 
der  Verbindung  der  Voistellungen  und  endlich  Verfälsch- 
ungen der  Wahrnehmung,  namentlich  Sinnestäuschungen,  sind 
die  wesentlichen  Quellen,  aus  welchen  die  wahnhaften  Veränder- 
ungen des  Selbstbewusstseins  hervorgehen.  Mit  dieser  mannigfaltigen 
Entstehungsweise   hängt  sicherlich  zum  grossen  Theile  eine  sehr 
wesentliche  klinische  Differenz  der  Wahnideen  zusammen,  welche 
uns  zwei  Formenkreise  derselben  mit  verschiedener  pathologischer 
Bedeutung  von  einander  zu  trennen  erlaubt,  die  fixen  und  die 
wechselnden  Wahnideen.    Nur  bei  den  ersteren  kann  man,  streng 
genommen,  von  einem  „Wahnsysteme"  sprechen;  hier  ist  der 
krankhaft  veränderte  Vorstellungsinhalt  zum  dauernden  Bestand- 
theile  des  Erfahrungsschatzes  geworden  und  übt  somit  auf  die 
gesammte  weitere  Verarbeitung  der  äusseren  Eindrücke  s*einen  ent- 
scheidenden Einfluss  aus.    Die  Stellung  des  Subjectes  zur  Aussen- 
welt  verschiebt  sich  auf  diese  Weise  allmählich  in  bestimmter  Eicht- 
ung;  die  psychische  Persönlichkeit  mit  ihren  früher  gewonnenen 
Anschauungen  erleidet  eine  vollständige  Umwandlung,  in  mancher 
Beziehung  analog  derjenigen  des  gesunden  Menschen,  der  in  eme 
fremde  Welt  voll  neuer  Eindrücke  versetzt  wird.    Gerade  diese  voll- 
ständige Assimilation  des  Wahnes,   die  innigen  Beziehungen 
desselben  zu    der  Vorstellungsgruppe   des  eigenen  Ich   sind  es, 
welche  den  inneren  Zusammenhang  seiner  einzelnen  Bestandtheile, 
die  geistige  Verarbeitung  derselben  zu  einem  Systeme,  einer  Welt- 
anschauung vermitteln. 

Dem  gegenüber  stellen  sich  die  wechselnden  Wahnideen  im 
Allgemeinen  als  eine  mehr  äusserliche  Functionsstörung  im 
Bereiche  des  Verstandes  dar.  Sie  sind  nicht  so  sehr  ein  Ausdruck 
der  persönlichen  Weltauffassung,  als  vielmehr  Vorstellungen,  die  aus 
irgend  einem  Grunde  (Affect,  Sinnestäuschungen)  vorübergehend 


Störungen  des  Urtheils  und  der  ScMussbildung. 


115 


die  Herrschaft  über  den  Bewiisstseinsinhalt  des  Kranken  erlangt 
haben,  ohne  darum  bereits  von  demselben  fest  assimilirt  worden  zu 
sein.  Sie  werden  nicht  geistig  verarbeitet,  haften  daher  nicht  lange 
und  pflegen  die  spätere  Erfahrung  nicht  dauernd  massgebend  zu  be- 
einflussen. Für  den  Augenblick  vermögen  sie  wol  die  Herrschaft 
über  den  Bewusstseinsinhalt  zu  gewinnen,  aber  sie  verlieren  schliess- 
lich ihre  Macht  und  werden  dann  von  der  wieder  hervortretenden 
gesunden  Kritik  leicht  corrigirt,  oder  sie  werden  wenigstens  von 
neuen  Ideen  abgelöst,  wenn  die  tiefe  Störung  der  Intelligenz  eine 
kritische  Ausmerzung  bereits  unmöglich  gemacht  hat.  Es  liegt  auf 
der  Hand,  dass  auch  hier  eine  durchgreifende  Trennung  der  beiden 
Formenkreise  nicht  möglich  ist.  Fixe  "Wahnsysteme  pflegen  sich 
meist  aus  anfänglichen  wechselnden  und  schwankenden  "Wahnvorstell- 
ungen herauszuentwickeln,  die  erst  allmählich  eine  dauernde  Herr- 
schaft über  das  widerstrebende  Subject  gewinnen;  andererseits  können 
unter  Umständen  derartige  detaillirt  ausgearbeitete  Systeme  bisweilen 
nach  Monate,  selbst  Jahre  langer  Dauer  dennoch  wieder  corrigirt 
werden,  namentlich  dann,  wenn  sie  auf  der  Basis  einer  endlich  sich 
ausgleichenden  Gleichgewichtsstörung  des  Stimmungshintergrundes 
entstanden  waren. 

Die  Entstehung  der  Wahnideen  erscheint  dem  gesunden  Be- 
wusstsein  zunächst  als  ein  durchaus  fremdartiger  und  un- 
begreiflicher Vorgang.  Es  ist  uns  unverständlich,  wie  eine 
plötzlich  auftauchende  Idee  dauernde  Macht  über  den  gesammten 
Erfahrungsinhalt  gewinnen  kann,  und  wie  die  grössten  Absurditäten 
trotz  ihrer  handgreiflichen  Unhaltbarkeit,  trotz  des  unmittelbar 
entgegenstehenden  Zeugnisses  der  Sinne,  dennoch  unbeirrt  festgehalten 
werden.  Allerdings  begegnet  es  auch  dem  Gesunden  gelegentlich, 
dass  ihm  einzelne  absonderliche  Ideenverbindungen,  namentlich 
solche,  die  sich  auf  die  abergläubische  Deutung  auffallender  Ereig- 
nisse beziehen,  durch  den  Kopf  schiessen,  dass  seine  schweifende 
Phantasie  ihm  Luftschlösser  vorgaukelt  und  ihm  allerlei  unwirkliche 
Situationen  vormalt,  aber  derartige  Vorstellungen  erhalten  keine 
Gewalt  über  sein  Denken  und  Handeln  —  sie  schwinden,  sobald 
er  beginnt,  den  Bewusstseinsinhalt  kritisch  zu  verarbeiten.  Wir 
werden  durch  diese  Ueberlegung  auf  die  zweite  und  wichtigste 
Störung  geführt,  welche  ausnahmslos  der  Entwickelung  von  Wahn- 
ideen zu  Grunde  liegt:  den  Mangel  an  Kritik.    Aus  der  abnormen 

8* 


116 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


Steigerung  der  Combinationsfähigkeit  erklärt  sich  wol  der  oft  so 
seltsame  und  fremdartige  Inhalt  der  Ideen,  die  in  dem  Bewusst- 
sein  des  Kranken  auftauchen  —  dass  sie  aber  wirklich  im  Stande 
sind,  sein  Urtheil  zu  trüben,  seine  Auffassung  der  Aussenwelt  zu 
verfälschen  und  sogar  dauernde  Bestandtheile  des  Yorstellungs- 
schatzes.zu  werden,  liegt  einzig  und  allein  an  der  Unfähigkeit  des 
Kranken  zu  scharfer  und  durchgreifender  kritischer  Berichtig- 
ung der  neuen  Yorstellungen  an  der  Hand  der  früher  gewonnenen 
Erfahrung. 

Dies  ist  der  Grund,  weshalb  die  Ausbildung  eines  dauernden 
Wahnsystems  stets  auf  eine  tiefe  Erkrankung  der  gesammten 
psychischen  Persönlichkeit  hindeutet,  auf  eine  einschneidende 
ünzulänghchkeit  seiner  intellectuellen  Leistungen.    Je  unsinniger 
die  Wahnideen,  je  grösser  also  der  Widerspruch  derselben  mit  der 
gesunden  Erfahrung  ist,  desto  leichter  sollte  ihre  Correctur  sein,  und 
desto  zerstörender  muss  demnach  der  Krankheitsprocess  auf  die 
Intelligenz  eingewirkt  haben,  welche  nicht  mehr  im  Stande  ist, 
diese  Berichtigung  auszuführen.    Gerade  auf  diesem  Gebiete  ist  es 
überaus  wichtig,  sich  bei  der  Beurtheilung  der  geistigen  Leistungs- 
fähigkeit des  Kranken  nicht  durch  die  gedächtnissmässige  Beherrsch- 
ung einfacher  logischer  Gedankenreihen  und  des  Yorstellungsmaterials 
aus  gesunden  Tagen  täuschen  zu  lassen.    Die  Thatsache,  dass  er 
nicht  im  Stande  ist,  seine  Wahnideen  zu  corrigiren,  zeigt  auf  das 
Unzweideutigste  die  wahre  Grösse  der  geistigen  Schwäche  an.  In 
diesem  Sinne  ist  die  Auffassung  der  fixen  Idee  als  einer  isolirten, 
„partiellen"  Störung,  als  eines  „Herd Symptoms"  bei  sonstiger  psychischer 
Gesundheit  durchaus  unhaltbar.    Der  Vorgang  kritischer  Berichtig- 
ung des  Bewusstseinsinhaltes  mit  Hülfe  von  Urtheil  und  Schluss  ist 
eben  hier  in  weiterem  oder  engerem  Umfange  nicht  mehr  möglich 
und  somit  eine  der  wichtigsten  allgemeinen  psychischen  Leistungen 
als  krankhaft  gestört  zu  betrachten. 

Dass  nun  trotzdem  die  Kritik  zuerst  bei  ganz  bestimmten  Yor- 
stellungsgruppen  versagt,  nämlich  bei  denjenigen,  welche  sich  auf 
das  eigene  Ich  beziehen,  hat  seinen  Grund  in  der  intensiven  Ge- 
fühlsbetonung derselben.  Die  landläufige  Thatsache,  dass  lebhafte 
Gefühle  und  Affecte  das  klare  Urtheil  ü-üben,  und  dass  daher  kein 
Gebiet  des  menschlichen  Denkens  gröberen  Täuschungen  ausgesetzt 
ist,  als  die  Selbsterkenntniss,  wird  auch  durch  das  Yerbalten  der 


Störungen  des  ürtheils  und  der  Schlusstildung. 


117 


Wahnideen  bestätigt,  nur  in  vergrössertem  Massstabe.  Nach  dem 
Beispiel  des  Splitters  im  fremden  und  des  Balkens  im  eigenen  Auge 
sehen  wir  daher  oft  unsere  Krauken  die  Wahnideen  Anderer  ohne 
Weiteres  corrigiren,  während  es  ihnen  unmöglich  ist,  die  anscheinend 
selbstrerständliche  Nutzanwendung  auf  den  eigenen,  durchaus 
analogen  Fall  zu  ziehen.  Man  wird  indessen  darum  die  geistige 
Störung,  welche  diesen  „partiellen"  Wahnsystemen  zu  Grunde  liegt, 
mit  demselben  Kechte  eine  allgemeine  nennen  müssen,  wie  z.  B. 
die  Kreislaufsalterationen  in  Folge  eines  Herzfehlers,  auch  wenn 
hier  die  Stauimgserscheinungen  zunächst  nur  an  den  exponirtesten 
Theilen  zur  Ausbildung  kommen.  So  sehen  wir  denn  auch  häufig 
die  Kritiklosigkeit  weitere  Fortschritte  machen  und  schliesslich  den 
Kranken  unfähig  werden,  die  einfachsten  Yerstandesleistungen  aus- 
zuführen. Die  Beobachtung  des  progressiven  psychischen  Yerfalls, 
wie  er  von  dem  Auftreten  immer  unsinnigerer  Wahnideen  bis  zur 
völligen  Zusammenhangslosigkeit  derselben  untereinander  begleitet 
wird,  zeigt  auf  das  Beutlichste,  dass  es  sich  hier  um  ein  einheit- 
liches Grrundleiden  handelt,  welches  sich  als  eine  zunehmende  Un- 
fähigkeit zu  kritischer  Bearbeitung  des  verfälschten  Bewusstseins- 
inhaltes  darstellt. 

AUe  diese  Bemerkungen  treffen  nur  theilweise  zu  dort,  wo 
mächtige  Gefühle  den  allgemeinen  Stimmungshintergrund 
überhaupt  in  starken  Schwankungen  erhalten,  und  wo  die  Kritik- 
losigkeit gegenüber  den  auftauchenden  Wahnideen  daher  wesentlich 
durch  krankhafte  gemüthliche  Alterationen  bedingt  sein  kann.  Der 
Aengstliche,  der  Zornige,  der  Begeisterte  sind  keiner  sachlichen, 
ruhigen  Ueberlegungen  fähig;  ebenso  machen  die  gewaltigen  Affecte 
des  Wahnsinns  oder  der  Melancholie  die  nüchterne  Berichtigung 
der  immer  wieder  aufsteigenden,  gefühlsstarken  Wahnvorstellungen 
häufig  unmöglich.  Erst  dann,  wenn  mit  dem  Zurücktreten  der 
krankhaften  Affecte  die  Wahnideen  nicht  verschwinden,  sondern 
dauernd  den  Bewusstseinsinhalt  beherrschen,  schliessen  wir  mit 
Eecht  auf  ein  tieferes  Ergriffensein  der  Intelligenz.  Bei  wirklich 
gesunder  Verstandesthätigkeit  müssten  ja  die  wahnhaften  Vorstell- 
ungen aus  den  Zeiten  gemüthlicher  Erregung  nach  dem  Abklingen 
derselben  mit  der  gleichen  Leichtigkeit  und  Sicherheit  ausgemerzt 
werden,  wie  wir  tägKch  die  abenteuerlichen  Phantasien  des  Traumes 
oder  der  Pieberdelirien  berichtigen,  Zustände,  denen  gerade  das  Fehlen 


118 


n.  Allgemeine  Symptomatologie. 


einer  kritischen  Sichtung  des  Bewusstseinsinhaltes  gemeinsam  ist. 
Die  Ursache  der  Kritiklosigkeit  ist  hier  ein  vorübergehender  mehr 
oder  weniger  vollständiger  Yerlust  des  Einflusses, '  den  die  gesunde 
psychische  Persönlichkeit  auf  den  Verlauf  und  die  Verbindung  der 
Vorstellungen  auszuüben  pflegt.  Die  handgreiflichsten  Ungereimt- 
heiten fallen  uns  gar  nicht  auf,  weil  wir  nicht  frei  über  unsern  Er- 
fahrungsschatz verfügen,  und  weil  uns  die  vielen  allgemeinen  Be- 
griffe und  Urtheile,  die  wir  in  demselben  angesammelt  haben,  nicht 
in  vollem  Umfange  zur  sofortigen  kritischen  Anwendung  auf  die 
Erzeugnisse  unserer  spielenden  Phantasie  zu  Gebote  stehen. 

Wesentlich  anders  haben  wir  uns  indessen  das  Zustandekommen 
der  Kritiklosigkeit  dort  zu  denken,  wo  sich  dieselbe  als  eine  dauernde, 
angeborene  oder  erworbene  Eigenschaft  des  Individuiuns  darstellt, 
ohne  dass  eine  Bewusstseinstrübung  oder  langwierige  affective  Stör- 
ungen derselben  zu  Grunde  lägen.  In  solchen  Fällen  dürfte  vor 
Allem  die  unvollkommene  oder  krankhaft  verschwommene  Begriffs- 
bildung als  die  Ursache  des  Defectes  betrachtet  werden  müssen. 
Ungenügende  Abstraction  und  Verschmelzung  der  Vor- 
stellungen, Stehenbleiben  derselben  auf  der  Stufe  sinnlicher 
Wahrnehmungen  verhindert  die  Ausbildung  der  höheren  Verstandes- 
thätigkeit  vollständig,  während  die  unklare  Ausprägung  und 
mangelnde  Schärfe  der  Begriffe  dieselben  ungeeignet  macht, 
als  Grundlage  eindeutiger  Urtheile  und  zwingender  Schlüsse  zu 
dienen.  Je  weniger  sich  in  den  Begriffen  das  Wesentliche  von^dem 
Nebensächlichen,  das  Allgemeine  von  dem  Einzelnen  scheidet,  je 
mehr  in  dieselben  verfälschte  und  oberflächlich  erfasste  Wahr- 
nehmungselemente eingehen,  desto  weniger  wird  der  Mensch  im 
Stande  sein,  sie  zur  kritischen  Verarbeitung  seines  jeweiligen  Be- 
wusstseinsinhaltes zu  benutzen,  und  desto  willenloser  wird  er  den 
wahnhaften  Erfindungen  seiner  geschäftigen  Phantasie  sich  hingeben, 
bis  schliesslich  auch  die  ungeheuerlichsten  Ideen  in  dem  an- 
gesammelten Erfahrungsschatze  keinen  Widerspruch  mehr  wachrufen. 

Es  bedarf  kaum  noch  der  Ausführung,  dass  nach  der  hier  ver- 
tretenen Anschauung  über  die  Entstehung  der  Wahnideen  von  einer 
strengeren  anatomischen  Localisiruug  dieser  letzteren  im  Gehirn 
nicht  nur  heute,  sondern  principiell  nicht  die  Eede  sein  kann.  Die 
Wahnidee  an  sich  ist  zunächst  eine  Phantasievorstellung,  wie  jede 
andere,  wie  etwa  die  Traimivorstellungen  auch,  bei  denen  wir  ja 


Störungen  dos  Selbstbewiisstseins. 


119 


ebenfalls  gewisse  stereotype  Gestaltungen  beobachten.  Ihre  besondere 
Stellung  im  Seelealeben  des  Kranken  aber  und  ihre  eigenartige  Aus- 
bilduüg  erhält  sie  durch  das  augenblickliche  oder  dauernde  Ver- 
halten der  gesatninteii  psychischen  Persönlichkeit.  Sie  ist  also  nicht 
sowol  die  Wirkung  eines  umschriebenen  Krankheitsvorganges,  als  viel- 
mehr das  Zeichen  einer  allgemeinen  Beeinträchtigung  der  gesammten 
Hirnleistung.  Man  hat  allerdings  versucht,  jeder  einzelnen  Vor- 
stellung eine  besondere  Rindenzelle  als  Sitz  anzuweisen,  sodass  etwa 
die  Aufnahmefähigkeit  des  Hirns  einfach  durch  di  e  Zahl  eben  jener 
Zellen  bestimmt  würde,  und  man  könnte  von  diesem  Standpunkte 
aus  immerhin  die  Erkrankung  gewisser  Ganglienzellengruppen  oder 
Fasersysteme  für  das  Auftreten  von  Wahnideen  verantwortlich 
machen.  Allein  jene  Hypothese  ist  im  Hinblicke  auf  psychologische 
und  klinische  Thatsachen  ebenso  unhaltbar,  wie  etwa  die  An- 
schauung, dass  die  Zahl  der  möglichen  optischen  Bilder  von  der 
Menge  der  empfindenden  Elemente  in  unserer  Netzhaut  abhängig 
sei.  Zudem  sehen  wir  thatsächlich  auch  Wahnideen  regelmässig 
nicht  bei  corticalen  Herderkrankungen,  sondern  vielmehr  bei  solchen 
allgemeinen  Störungen  (Vergiftungen,  Affecte,  angeborene  Schwäche- 
zustände) auftreten,  welche  die  Verrichtungen  der  ganzen  Hirnrinde 
in  Mitleidenschaft  ziehen. 

StörmigeE  des  Selbstbewusstseins.  Als  Selbstbewusstsein  be- 
zeichnen wir  die  Summe  aller  jener  Vorstellungen,  aus  denen  sich  für 
uns  das  Bild  unserer  körperlichen  und  geistigen  Persönlichkeit  zu- 
sammensetzt. Diese  Vorstellungsgruppe  bildet  den  dauernden  Hinter- 
grund unseres  Seelenlebens  und  übt  daher  auf  den  Ablauf  unserer 
gesammtenpsychischen  Vorgänge  einen  massgebenden  Einfluss  aus.  Ihr 
Inhalt  wie  ihr  Umfang  wird  wesentlich  durch  die  Lebenserfalirungen 
des  Einzelnen  bestimmt.  Es  ist  daher  erklärlich,  dass  alle  Um- 
stände, welche  jene  letzteren  in  krankhafter  Weise  beeinflussen,  die 
Auffassung  der  eigenen  Persönlichkeit  und  ihres  Verhältnisses  zur 
Aussen  weit  in  Mitleidenschaft  ziehen  müssen.  Verfälschungen  des 
Selbstbewusstseins  ,sind  denn  auch  überaus  häufige  Störungen, 
deren  wichtigste  Formen  wir  bei  der  Besprechung  der  Wahnideen 
bereits  gestreift  haben. 

Regelmässig  wächst  in  der  Krankheit  die  Bedeutung  der 
eigenen  Person  im  Verhältnisse  zur  Umgebung,  sei  es  in  expan- 
sivem oder  depressivem  Sinne.    Wie  jeder   körperliche  Krank- 


120 


II.   Allgemeine  Symptomatologie. 


heitsprocess  die  Aufmerksamkeit  des  Patienten  auf  seine  eigenen 
Zustände  lenkt,  und  alle  sonstigen  Interessen  dahinter  mehr  oder 
weniger  zurücktreten,   so  begünstigen  auch  psychische  Störungen 
ganz  allgemein  die  natürliche  Neigung  des  Menschen,  seiner  Person 
eine  ganz  besondere  Wichtigkeit  beizulegen.  Namentlich  bei  traurigen 
und  ängstlichen  Verstimmungen  tritt  das  krankhafte  Bestreben,  alle 
Ereignisse  und  Einrichtungen  in  der  Umgebung  in  Beziehungen 
zum  eigenen  Ich  zu  setzen,  meist  sehr  deutlich  hervor.  Geradezu 
typisch  ist  ferner  diese  Yerfälschung  des  Selbstbewusstseins  in  jener 
schweren  Form  psychischer  Erkrankung,  deren  wesentlichstes  Symptom 
eben  eine  chronische  Umgestaltung  der  gesammten  "Weltanschauung 
bildet,  in  der  Paranoia.  Durch  die  krankhafte  Combination  wird  hier  das 
Yerhältniss  der  eigenen  Person  zur  Aussenwelt  allmählich  vollständig 
„verrückt",  so  dass  schliesslich  das  Denken  und  Handeln  des  Kranken 
für  den  Unbefangenen  ganz  unverständlich  wird,  während  der  Ein- 
geweihte von  dem  pathologisch  veränderten  Standpunkte  aus  den 
inneren  Zusammenhang  des  verfälschten  Selbstbewusstseins  vielleicht 
noch  zu  erkennen  vermag. 

Bei  weit  vorgeschrittener  psychischer  Schwäche  geräth  schliess- 
lich auch  das  Selbstbewusstsein  in  Yerfall,  freihch  meist  ziemlich 
spät.  Es  giebt  Kranke,  namentlich  Epileptiker,  deren  Yorstellungs- 
schatz  schon  eine  hochgradige  Yerarmung  aufweist,  die  sich  in 
irgendwie  verwickelten  Yerhältnissen  gar  nicht  mehr  zurechtfinden, 
aber  dennoch  über  ein  wohl  erhalten  es  Selbstbewusstsein  verfügen, 
über  ihre  eigenen  Zustände  Kechenschaft  geben  können  und  ihre 
spärlichen  Gedanken  in  vollkommener  Ordnung  erhalten.  Wie  es 
scheint,  pflegen  namentlich  die  secundären  Schwächezustände,  die 
Ausgangsstadien  schwerer  acuter  und  subacuter  Psychosen,  am 
häufigsten  zu  einer  Zertrümmerung  des  Selbstbewusstseins  zu 
führen,  ähnlich  wie  wir  den  Yorgang  sich  in  der  Paralyse  mit  be- 
sonderer Schnelligkeit  vollziehen  sehen.  Hier  sind  es  dann  schliess- 
lich oft  nur  noch  kümmerliche,  zusammenhangslose  Beste  fi-üherer 
normaler  und  krankhafter  Ideen,  welche,  meist  in  ziemlich  stereotyper 
Weise,  einander  ablösen,  ohne  dem  Kranken  mehr  ein  deutliches 
Bewusstsein  seiner  Umgebung  und  seiner  eigenen  Persönlichkeit  zu 
vermitteln. 


Störungen  in  der  Stärke  der  Gefühle. 


121 


C.    Störungen  des  Gefühlslebens. 

Jeder  Sinneseindruck,  der  seinem  Inhalte  nach  in  nähere  Be- 
ziehungen zum  "Wohl  und  Wehe  des  Menschen  tritt,  markirt  sich 
im  Bewusstsein  desselben  durch  ein  begleitendes  Gefühl  der  Lust 
oder  der  Unlust,  je  nachdem  er  die  allgemeinen^  Lebenszwecke  zu 
fördern  oder  zu  hemmen  geeignet  erscheint.  Die  Gefühle  können 
somit  gewissermassen  als  die  subjective  Eeaction  des  Ich  an- 
gesehen werden,  in  welcher  dasselbe  zu  den  'Wahrnehmungen  der 
Aussenwelt  Stellung  nimmt.  Unter  pathologischen  Yerhältnissen, 
welche  eine  Yeränderung  des  psychischen  Individuums  hervorbringen, 
ist  es  daher  sehr  häufig  gerade  diese  subjective  Gefühlsreaction,  das 
„Gemüthsleben"  der  Kranken,  welches  zunächst  die  auffallendsten 
Störungen  darbietet.  Die  Beurtheilung  dieser  Symptomengruppe 
stösst  jedoch  deswegen  auf  gewisse  eigenthümliche  Schwierigkeiten, 
weil  uns  hier  weit  w,eniger,  als  auf  dem  Gebiete  des  Verstandes, 
eine  feststehende  Norm  gegeben  ist,  mit  Hülfe  derer  wir  die 
graduellen  Abweichungen  vom  gesunden  Yerhalten  sicher  bestimmen 
könnten.  Yerfälschungen  der  Sinneserfahrung,  Yerstösse  gegen  die 
•Grundsätze  des  logischen  Denkens  werden  auch  vom  Laien  ohne 
Weiteres  als  abnorme  Erscheinungen  erkannt;  die  Lebhaftigkeit  der 
Gefühlsäusserungen  zeigt  aber  schon  bei  Gesunden  unter  ver- 
schiedenen Yerhältnissen  so  weite  individuelle  Schwankungen,  dass 
die  Abgrenzung  des  Pathologischen  gerade  auf  diesem  Gebiete  häufig 
recht  schwierig  wird.  Der  Laie  (in  forensischen  Fällen  der  Eichter) 
ist  stets  weit  eher  geneigt,  intellectuelle  Defecte,  besonders  Wahn- 
ideen, für  krankhaft  zu  halten,  als  die  eingreifendsten  Störungen  im 
Gemüthsleben. 

Störungen  in  der  Stärke  der  Gefühle.  Die  einfachste  und  auch 
wol  häufigste  Abnormität  im  Bereiche  der  Gefühle  ist  die  Herab- 
setzung ihrer  Intensität.  Während  sich  im  Gemüthe  des  Ge- 
sunden der  innere  Antheil,  den  er  an  seinen  vielfachen  Beziehungen 
zur  Umgebung  nimmt,  in  beständigen,  leiseren  oder  stärkeren 
Schwankungen  des  Stimmungshintergrundes  widerspiegelt,  bedeutet 
die  Abnahme  dieser  Gefühlsbetonung  Gleichgiltigkeit  und  Theil- 
nahmlosigkeit  gegenüber  den  Eindrücken  der  Aussenwelt,  die  bis- 
weilen verstandesmässig  aufgefasst  und  auch  verarbeitet  werden,  ohne 
irgend  welche  Regungen  im  Innern  des  Kranken  wachzurufen.  In  den 


■^22  n.    Allgemeine  Symptomatologie. 

höchsten  Graden  dieser  Störung,  in  denen  völlige  Stumpfheit  be- 
steht wie  bei  gewissen  tiefen  Blödsinnszuständen,  ist  allerdings  regel- 
mässig auch  die  sonstige  psychische  Thätigkeit  auf  ein  sehr  geriuges 
Mass  herabgesetzt. 

Weit  interessanter  aber  und  klinisch  wichtiger,  als  derartige 
Formen  des  geistigen  Bankerotts  sind  diejenigen  Zustände,  in  denen 
vorzugsweise  nur  gewisse  Seiten  des  Gefühlslebens  von  der  Stör- 
ung betroffen  sind.    Am  leichtesten  gehen  dem  Kranken  natürlich 
verloren,  resp.  bleiben  unausgebildet  solche  Gefühle,  welche  nicht 
unmittelbar  an  die  Yeränderungen  des  eigenen  Ich  anknüpfen, 
sondern  sich  auf  die  Yerhältnisse  der  Aussen  weit  beziehen,  und 
ferner  diejenigen,  welche  den  Charakter  des  Sinnlichen  verloren 
haben  und  als  Begleiter  gewisser  abstracter  Ideen  und  Grundsätze 
nur  auf  der  Basis  einer  höheren  geistigen  Entwickelung  in  Wii'ksam- 
keit  treten.    Mit  anderen  Worten:  das  Interesse  des  Ki-anken  zieht 
sich  hier  wesentlich  auf  die  Zustände  der  eigenen  Person  zurück, 
wird  ein  ausschliessüch  egoistisches,  und  er  verliert  die  Freude 
an  den  edleren  geistigen  und  ästhetischen  Genüssen,  das  Gefühl  für 
die  höheren  Arforderungen  des  Anstandes,  der  Sittlichkeit,  der 
Keligion.    Ein  derartiger  Defect  ist  vor  Allem  die  regelmässige  Be- 
gleiterscheinung der  verschiedenen  Formen  des  angeborenen  und 
erworbenen  Schwachsinns.    Wie  der  Ideenkreis  sich  hier  auf 
das  Einfachste,  Nächstliegende  und  persönlich  Wichtigste  beschränkt, 
so  behalten  auch  die  Gefühle  ihren  elementaren,  sinnlichen  Charakter 
und  erstrecken  sich  nur  auf  jene  Eindrücke,  die  in  dem  unmittel- 
barsten und  einleuchtendsten  Zusammenhange  mit  dem  eignen  Wohl 
und  Wehe  stehen.  Fremdem  Schicksale  steht  das  Herz  des  Kranken  kalt 
und  gleichgiltig  gegenüber,  und  die  idealeren  Bestrebungen  ver- 
mögen weder  Verständniss  noch  Theilnahme  in  seinem  Innern  an- 
zuregen.   Es  fallen  also  für  ihn  alle  jene  Motive  und  Hemmungen 
fort,  welche  dem  Gesunden  aus  der  Rücksicht  auf  seine  Umgebung 
entspringen.  Theilnahmlosigkeit  des  Kranken  gegenüber  seinen  natür- 
lichen Beziehungen,  der  Yerlust  des  Schamgefühles,  des  Tactes  sind 
daher  wichtige  Anzeichen  einer  beginnenden  Entartung  auf  dem  Ge- 
biete des  Gemüthslebens.  Namentlich  bei  den  angeborenen  Schwäche- 
zuständen verträgt  sich  damit  ganz  gut  sogar  eine  gewisse  Findig- 
keit in  der  Verfolgung  des  sinnlichen  Genusses,  eine  handwerks- 
mässige  Gewandtheit  in  der  Wahrung  egoistischer  Interessen,  durch 


I 


Störungen  in  der  Stärke  der  Gefühle. 


123 


welche  sich  die  Umgebung  häufig  über  die  geistige  und  geniüth- 
liche  Unfcähigkeit  des  Kranken  hinwegtäuschen  lässt. 

Ein  höchst  bedeutsamer  Unterschied  zwischen  den  niederen, 
sinnKchen  und  den  höheren,  abstracten  (logischen,  ethischen,  ästhe- 
tischen, religiösen)  Gefühlen  wird  durch  den  Umstand  bezeichnet, 
dass  die  ersteren  wol  eine  weit  grössere  augenblickliche  Stärke,  aber 
eine  ungleich  geringere  Eeproductionsf ähigkeit  besitzen,  als  die 
letzteren.  Ein  sinnlicher  Grenuss  oder  Schmerz  kann  uns  für  kurze 
Zeit  in  sehr  lebhafte  Erregung  versetzen,  aber  er  blasst  in  der  Er- 
innerung rasch  ab,  während  z.  B.  die  leiseren,  aber  andauernden 
ethischen  Gefühle  unser  Denken  und  Handeln  durch  das  ganze  Leben 
hindurch  fast  unausgesetzt  begleiten  und  bestimmen,  wo  sie  iiicht 
durch  leidenschaftliche  Gemüthsschwankungen  übertönt  werden.  Ge- 
rade die  höheren  Gefühle  sind  es,  welche  unserem  Stimmungshinter- 
grunde jene  gleichförmige  Ruhe,  unserer  psychischen  Persönlichkeit 
jene  Festigkeit  und  innere  Harmonie  zu  gewähren  vermögen,  die 
man  mit  Recht  als  die  Eigenschaften  eines  gesunden,  normal  ent- 
wickelten Mannes  betrachtet. 

Auch  nach  dieser  Richtung  hin  wird  sich  daher  die  mangel- 
hafte Ausbildung  der  höheren  Gefühle  und  das  Yorherrschen  grober 
Eigenliebe  in  dem  Krankheitsbüde  des  Schwachsinnes  geltend  machen 
müssen.  "Wo  nicht  eine  hochgradige  Stumpfheit  alle  Gefühlsregungen 
überhaupt  begräbt,  sehen  wir  in  der  Ungleichförmigkeit  der  Stimm- 
ung und  ihrer  Abhängigkeit  von  äusseren  Zufälligkeiten,  in  der  ge- 
legentlichen Heftigkeit  der  sinnlichen  Lust-  und  Unlustausbrüche, 
in  dem  raschen  Abklingen  und  der  geringen  Nachhaltigkeit  solcher 
Aufwallungen  den  Mangel  der  constanten,  höheren  Gefühle  zum 
Ausdrucke  gelangen.  Schon  in  der  Gesundheitsbreite  sind  Menschen, 
welche  Andeutungen  dieses  Verhaltens  erkennen  lassen,  sehr  häufig, 
jene  phlegmatischen,  kalten,  egoistischen  Naturen,  die  durch  keine 
Gemüthsbewegung  aus  ihrer  Ruhe  aufgerüttelt  werden,  oder  die 
wenigstens  fremden  Gefühlen  theilnahmlos  gegenüberstehen.  Anderer- 
seits ist  das  stärkere  Hervortreten  der  Eigenliebe  und  der  Sinnlich- 
keit (Geiz,  Schlemmerei)  eine  häufige  Begleiterscheinung  des  höheren 
Lebensalters.  Aus  ihr,  wie  aus  der  gleichzeitigen  Abnahme  in  der 
Lebhaftigkeit  der  Gefühle  überhaupt,  erklärt  sich  einerseits  die 
grössere  Stumpfheit  und  Ruhe,  andererseits  die  Launenhaftigkeit 
und  gelegentliche  Heftigkeit  des  Greises,  Eigenschaften,  die  trotz 


■^24,  II.  Allgemeine  Symptomatologie. 

« 

ihrer  scheinbaren  Yerschiedenheit  dennoch  in  den  gleichen  all- 
gemeinen psychischen  Veränderungen  ihre  Wurzel  haben. 

In  den  schwersten  Formen  der  gemüthlichen  Entartung  können 
auch  gewisse  einfache  Lust-  und  Unlustgefühle  schwinden,  besonders 
solche,  die  einen  mehr  ästhetischen  Charakter  haben.  Dahin  gehören 
vor  Allem  das  Gefühl  für  Eeinlichkeit  and  die  Ekelgefühle. 
Allerdings  sind  dieselben  schon  unter  normalen  Yerhältnissen  bei 
verschiedenen  Menschen  sehr  verschieden  ausgebildet;  dennoch  aber 
deutet  der  gänzliche  Yerlust  derselben,  wie  er  sich  in  dem  rück- 
sichtslosen Herumschmieren  und  Yerzehren  der  ekelhaftesten  Dinge 
(sogar  der  eigenen  Ausleerungen)  kundgiebt,  stets  auf  tiefgreifende 
Störungen  des  Seelenlebens  hin.  Sehr  gewöhnlich  beobachtet  man 
gleichzeitig  auch  eine  psychisch  bedingte,  auffallende  TJnempfindlich- 
keit  gegen  sinnlichen  Schmerz,  gleichmüthiges  Ertragen  schwerer 
Yerletzungen  und  dergl.  Aehnliche  Erscheinungen  können  vor- 
übergehend durch  starke  Affecte  hervorgerufen  werden,  welche  alle 
anderen  Gefühlsregungen  unterdrücken.  Auch  unter  normalen  Yer- 
hältnissen vermögen  ja  heftige  Aufregungszustände  uns  gegen  körper- 
liche Unlust,  wie  gegen  ästhetische  und  ethische  Eücksichten  für 
einige  Zeit  unempfindlich  zu  machen. 

In  der  Eegel  kommt  die  Abstumpfung  der  normalen  Gefühls- 
reactionen,  selbst  wenn  sie  nicht  angeboren,  sondern  erworben  ist, 
dem  Kranken  gar  nicht  zum  Bewusstsein;  er  merkt  es  nicht,  dass 
er  gleicbgiltiger  und  theiln ahmloser  geworden  ist,  weil  ihm  eben 
auch  Neigung  und  Fähigkeit  zur  Beachtung  der  feineren  gemüth- 
lichen Eegungen  in  seinem  Inneren  gänzlich  verloren  gegangen  sind. 
Eine  Ausnahme  von  diesem  Yerhalten  tritt  uns  häufig  in  den  ein- 
fachen Formen  der  Melancholie  entgegen.    Hier  beklagen  sich  die 
Kranken  auf  das  Lebhafteste  darüber,  dass  es  ihnen  so  öde  und  leer 
in  der  Brust  sei,  dass  sie  ihren  eigenen  psychischen  Yorgängen 
wie  ganz  unbetheiligte  Zuschauer  gegenüberständen,  und  dass  [die 
Berührung  ihrer  sonst  heiligsten  Interessen  ihnen  jetzt  weder  Freude 
noch  Schmerz  zu  bereiten  im  Stande  sei.    Gerade  diese  Unempfind- 
lichkeit  wird  dann  als  eine  äusserst  qualvolle  Yeränderung  des 
eigenen  Innern  empfunden.    Ob  dabei  wirklich  die  Yerstimmung 
erst  nachträglich  aus  der  peinlichen  Wahrnehmung  der  Gefühls- 
abstumpfung ihren  Ursprung  nimmt,  oder  ob  vielmehr  die  Abschwäch- 
ung  der  Gefühle  durch  einen  krankhaften  melancholischen  Affect  be- 


Störungen  in  der  Stärke  der  Gefühle. 


125 


dingt  wird,  äliulicli  wie  der  Gesunde  unter  dem  Einflüsse  einer  ge- 
müthlichen  Depression  „den  Sinn"  für  seine  sonstigen  Interessen 
yerliert,  muss  zunächst  zweifelhaft  bleiben. 

Das  Gegenstück  zu  den  bisher  besprochenen  Störungen  bietet 
die  Steigerung  der  gemüthlichen  Erregbarkeit  dar.  Dieselbe 
kann  entweder  eine  theilweise,  auf  einzelne  Gebiete  des  Gefühls- 
lebens beschränkte,  oder  eine  allgemeine  sein.    Im  ersteren  Falle 
spielt  sich  die  Störung  regelmässig  im  Bereiche  der  grob  egoistischen 
Kegungen  ab  und  verknüpft  sich  demgemäss  gewöhnlich  mit  einer 
Abstumpfung  der  höheren  Interessen.    Namentlich  eine  krankhafte 
Zornmüthigkeit  (iracundia  morbosa)  mit  heftigen,  explosiven  Aus- 
brüchen bis  zum  völligen  Verluste  der  Besonnenheit  begegnet  uns 
häufiger  bei  degenerirten  Individuen,   Schwachsinnigen,  Idioten, 
Hysterischen,  bisweilen  auch  ohne  greifbare  intellectuelle  Störung. 
Ein  weiteres  charakteristisches  Beispiel  bietet  uns  die  Keizbarkeit  der 
Epileptiker  mit  ihren  rücksichtslos  gewaltthätigen  Keactionen  gegen 
jede  wirkliche  oder  vermeintliche  Beeinträchtigung  ihrer  persönlichen 
Rechte.    So  sehen  wir  auch  im  Leben  gerade  bei  anscheinend  torpiden 
Naturen  bisweilen  den  unvermutheten  Ausbruch  brutaler  Leiden- 
schaften, wenn  durch  einen  Zufall  gerade  der  empfindliche  Punkt 
bei  ihnen  getroffen  wurde. 

Wo  die  Steigerung  in  der  Gefühlsbetonung  sich  auf  jeden  neuen 
Eindruck  und  auf  den  ganzen  Yorstellungsv erlauf  erstreckt,  da  ist 
das  innere  Gleichgewicht  natürlich  dauernd  ein  äusserst  schwanken- 
des, der  Stimmungshintergrund  in  beständiger  Bewegung  begriffen; 
ein  kleiner  Anlass  genügt,  um  die  Gefühle  der  Lust  und  Unlust  in 
massloser  Heftigkeit  wachzurufen.  Eine  derartige  Yeränderung  hat 
mit  Noth wendigkeit  raschen  Wechsel  der  Affecte,  Schwanken  der- 
selben von  einem  Extrem  in  das  andere  zur  Folge,  weil  ja  gerade 
die  Erhöhung  der  Erregbarkeit  eine  Abhängigkeit  der  Stimmung 
von  jedem  zufälligen  Eindrucke  bedingt,  der  in  das  Bewusstsein 
des  Individuums  eintritt.  Wie  der  Vorstellungsverlauf  des  Tob- 
süchtigen oder  Deürirenden  haltlos  von  einem  Gegenstande  auf  den 
andern  überspringt,  so  wird  auch  die  Gemüthslage  nicht  durch  die 
Summe  der  früheren  Lebenserfahrung  bestimmt  und  gleichmässig 
erhalten,  sondern  der  Augenblick  mit  seinen  wechselnden  Eindrücken 
lässt  die  Stimmung  in  bunter  Folge  die  verschiedensten  Töne  der 
Gefühlsscala  durchlaufen.    Häufig  ist  dabei  allerdings  eine  bestimmte 


126 


II.   Allgeineine  Symptomatologie. 


Richtung  der  Affecte  Yorherrsohend,  aber  dieselbe  wird  leicht  und 
rasch  durch  entgegengesetzte  Einflüsse  abgelenkt,  um  dann  ebenso 
unvermittelt  wieder  mit  der  früheren  Stärke  hervorzubrechen.  Ganz 
ähnliche^ Erfahrungen  pflegt  man  in  den  ersten  Stadien  der  progressiven 
Paralyse  zu  machen. 

Leichtere  Formen  dieser  Störung  kommen  bei  Geisteskranken 
überaus  häufig  zur  Beobachtung,  insbesondere  bei  gewissen  Formen 
des  angeborenen  Schwachsinns  und  bei  Hysterischen,  auch  in  der 
Eeconvalescenz  nach  Erschöpfungszuständen.  Sie  kennzeichnen  sich 
durch  häufigen  unmotivirten  "Wechsel  der  Stimmung,  Launenhaftig- 
keit, heftige  Gefühlsreactionen  auf  geringe  Anlässe,  Neigung  zur 
Schwärmerei  und  zum  Pessimismus.  Als  normales  Beispiel  derselben 
kann  in  gewissem  Sinne  das  Verhalten  des  weiblichen  und  kind- 
lichen Gemüthslebens  gelten,  wie  es  sich  ja  im  Allgemeinen  durch 
eine  grosse  Stärke  der  Gefühlswallungen  einerseits,  dm^ch  Vergäng- 
lichkeit und  rasches  Vergessen  derselben  andererseits  charakterisirt. 
Jäher  Wechsel  der  Stimmungen  ohne  besondere  Veranlassung  ist 
endlich  eine  auch  in  der  gesunden  Erfahrung  bisweilen  beobachtete 
Erscheinung.  Sie  tritt  besonders  dann  hervor,  wenn  die  gemüthliche 
Erregbarkeit  gesteigert  ist  (z.  B.  durch  Alkoholgenuss)  und  der 
herrschende  AfFect  eine  gewisse  excessive  Lebhaftigkeit  erreicht  hat 
(ausgelassenste  Heiterkeit,  Verzweiflung;  Galgenhumor). 

Qualitative  Gefühlsstörimgeii.  Einen  wesentlich  anderen  Charakter, 
als  die  bisher  besprochenen  Erscheinungen,  besitzen  diejenigen  Stör- 
ungen des  Gemüthslebens,  in  denen  es  sich  nicht  um  eine  Ver- 
änderung in  der  Ausgiebigkeit  der  Gefühlsreactionen,  sondern  um 
qualitative  Abweichungen  derselben  handelt.  Trotz  vieler 
individueller  Unterschiede  im  Einzelnen  pflegt  doch  die  Art  der 
Gefühlsbetonung,  welche  wir  den  äusseren  Eindrücken  entgegen- 
bringen, innerhalb  der  Gesundheitsbreite  eine  derartige  allgemeine 
TJebereinstimmung  darzubieten,  dass  die  krankhafte  Natur  qualitativer 
Abweichungen  fast  immer  leichter  erkannt  wird,  als  diejenige  einer 
mangelnden  oder  gesteigerten  gemüthlichen  Erregbarkeit.  Auch 
diese  Störung  kann  entweder  das  ganze  Gebiet  des  Gemüthslebens 
umfassen,  oder  sie  kann  auf  einzelne  Theile  desselben  beschränkt 
sein;  sie  kann  ferner  nach  verschiedenen  Eichtungen  ausgebildet  sein, 
je  nachdem  es  die  Gefühle  der  Unlust  oder  diejenigen  der  Lust  sind, 
in  denen  sich  die  abnorme  Eeactionsweise  bewegt. 


/ 


Qualitative  Gefühlsstönirgen. 


127 


Als  typische Erscheiniiiigsform  der  allgemeinen  Gefühlsumwandel- 
ung  können  wir  jenes  Symptom  betrachten,  welches  man  wol  als 
psychische Hyperalgesie  (gesteigerte  Schmerzempfindlichkeit)  be- 
zeichnet hat.  Jeder  beliebige  äussere  Eindruck,  ja  der  Yorstellimgs- 
verlauf  selbst,  erzengt  hier  immer  von  Neuem  das  Gefühl  der  Un- 
lust, des  Schmerzes.  Der  Kranke  ist  unfcähig,  sich  über  irgend  etwas 
zu  freuen;  auch  die  normale  Freude  am  Dasein  selbst  wandelt  sich 
in  das  Gefühl  des  schmerzlichen  Lebensüberdrusses  um.  Gerade 
diejenigen  Beziehungen,  die  ihn  früher  am  nächsten  berührten, 
werden  jetzt  für  ihn  eine  Quelle  beständiger  trüber  Gemtiths- 
verstimmung,  weil  an  diesem  Punkte  die  gesteigerte  Empfindlich- 
keit besonders  leicht  und  häufig  Erschütterungen  des  inneren  Gleich- 
gewichts herbeiführt.  Wie  den  Bekümmerten  der  Anblick  heiteren. 
Lebens  sein  Leid  nur  noch  tiefer  empfinden  lässt,  so  erweckt  auch 
liier  —  nur  in  noch  ausgedehnterem  Masse  —  selbst  freudiger  An- 
lass  durch  eine  Art  Contrastwirkung  immer  nur  schmerzliche  Ge- 
fühle. Dort  aber  ist  die  gemüthliche  Yerstimmung  durch  er- 
fahrenes Leid  begründet;  hier  ist  sie  eine  ursprüngliche  elementare 
Störung  des  Gefühlslebens.  Dort  ist  sie  eine  mehr  oder  weniger 
rasch  vorübergehende  Schwankung,  die  durch  ein  frohes  Ereigniss 
leicht  beseitigt  wird;  hier  ist  sie  zum  dauernden  Zustande  geworden, 
der  nicht  durch  äusseres  Glück  verändert  werden  kann,  sondern  ge- 
rade durch  die  abnorme  Gefühlsreaction  die  Aufi'assung  desselben 
im  Sinne  der  Unlust  umwandelt.  Eegelmässig  gewinnt  die  psychische 
Hyperalgesie  eine  entscheidende  Einwirkung  auf  die  Kichtung  des 
Yorstellungsverlaufes,  aus  dem  sie  dann  ihrerseits  wieder  neue 
Nahrung  zieht.  In  sehr  ausgeprägter  Form  beobachten  wir  diese 
Störung  bisweilen  in  der  Eeconvalescenz  nach  schweren  Depressions- 
zuständen,  wenn  die  übrigen  Krankheitserscheinungen,  namentlich 
die  psychische  Erregung,  bereits  verschwunden  sind.  Die  Kranken 
werden  ungemein  verdriesslich,  missmuthig,  mit  Allem  unzufrieden, 
zerfallen  mit  sich  und  ihrer  Umgebung,  ärgern  sich  über  jede 
Kleinigkeit  und  queruliren,  oft  gegen  ihre  bessere  Einsicht,  in  der 
unerträglichsten  Weise,  bis  dann  allmählich  die  gesteigerte  Unlust- 
reaction  sich  ebenfalls  verliert. 

In  nicht  seltenen  Fällen  erhebt  sich  das  Gefühl  des  psychischen 
Schmerzes  zu  dem  Affecte  der  Angst.  Zweifellos  ist  die  Angst 
Geisteskranker  an  und  für  sich  häufig  genug  durchaus  nicht  als  ein 


128 


II.  Aligemeine  Symptomatologie. 


krankhaftes  Symptom  zu  betrachten,  dort  nämlich,  wo  dieselbe  durch 
Sinnestäuschungen,  Wahnideen  und  dergl.  vollständig  begründet  er- 
scheint. Man  würde  es  im  Gegentheil  für  pathologisch  halten 
müssen,  wenn  ein  Kranker  etwa  in  der  Erwartung  seiner  sofortigen 
Hinrichtung  keinerlei  gemüthliche  Erregung  rerrathen  würde  Es 
giebt  indessen  auch  Angstzustände,  die  nicht  in  dieser  Weise  durch 
Vorstellungen  begründet  sind,  sondern  sich  ganz  unvermittelt  hervor- 
drängen. Meist  überfällt  die  Angst  den  Kranken  in  einzelnen  An- 
fällen, oder  sie  zeigt  doch  zeitweise  deutliche  Yerschlimmerungen, 
ganz  besonders  in  der  Nacht.  In  der  Melancholie,  selbst  in  den 
leichtesten  Eormen  derselben,  sind  unbestimmte  Beängstigungen  eine 
überaus  häufige  Erscheinung;  die  Kranken  können  sich  des  quälenden 
Gefühls  nicht  erwehren,  trotzdem  sie  klar  einsehen,  wie  völlig  grund- 
los dasselbe  ist.  Fast  regelmässig  geht  die  Angst  hier  mit  der 
Empfindung  von  Druck  und  Beklemmung  in  der  Herzgegend  ein- 
her (Präcordialangst) ;  weit  seltener  wird  ihr  Sitz  in  den  Kopf  hin- 
ein verlegt.  Ob  jene  Beklemmung  wirklich  als  die  Ursache  der 
Beängstigung  oder  nur  als  Begleiterscheinung  derselben  anzusehen 
ist,  lässt  sich  schwer  entscheiden.  IJebrigens  wissen  wir  ja,  dass  die 
Angst  schon  unter  normalen  Verhältnissen,  das  gesammte  Nerven- 
system in  lebhafte  Mitleidenschaft  versetzt;  ihre  Wirkung  auf  die 
Herzthätigkeit  (Herzklopfen),  auf  die  Gefässnerven  (Blasswerden),  die 
Athmung,  die  willkürlichen  Muskeln  (Zittern,  Schlottern),  endlich 
die  Schweiss-,  Harn-  und  Darmsecretion  sind  genugsam  bekannt. 

In  manchen  Fällen  bildet  der  Spannungszustand  der  Angst 
dauernd  den  allgemeinen  Hintergrund  der  Stimmung  und  bringt 
entweder  Unruhe  und  Aufregung  mit  Entladung  in  den  bekannten 
Ausdrucksbewegungen  oder  aber  eine  durchgreifende  Hemmung 
aller  willkürlichen  Bewegungen  zu  Stande,  so  dass  die  Kranken 
regungslos  und  starr  in  der  einmal  eingenommenen  Lage  verharren. 
Jede  äussere  Einwirkung  pflegt  hier  die  Angst  zu  vermehren  und 
einen  rasch  anwachsenden  passiven  Widerstand  hervorzurufen, 
namentlich  jeder  Versuch,  eine  Lageveränderung  mit  dem  Kranken 
vorzunehmen,  oder  ihn  zu  irgend  einer  Handlung  zu  veranlassen. 
Derartige  allgemeine  Angstzustände  werden  am  häufigsten  bei  gewissen 
Formen  der  Melancholie  und  des  Wahnsinns,  auch  in  der  Paralyse 
beobachtet,  ferner  bei  der  Lyssa  und  bei  manchen  körperlichen,  mit 
Kreislaufsstörungen  oder  Athemnoth  verbundenen  Krankheiten. 


Qualitative  Gefühlsstörungan. 


129 


Wo  die  Angst  sehr  leicht  und  häufig,  auf  ganz  geringfügige 
Veranlassungen  hin  auftritt,  entsteht  der  Zustand  der  Aengstlich- 
keit,  das  dauernde  Gefühl  der  Hülflosigkeit  gegenüber  einer  drohen- 
den Gefahr.  Auf  ihm  beruht  die  KleinmütMgkeit  und  Verzagtheit 
In  so  vielen,  namentlich  senilen  und  constitutionellen  Depressions- 
zuständen.  Das  sind  die  Kranken,  die  jedem  kommenden  Ereignisse 
mit  banger  Furcht  entgegensehen,  stets  die  schlimmsten  Möglich- 
keiten in's  Auge  fassen  und  in  ihren  pessimistischen  Erwartungen 
das  Vertrauen  auf  die  Zukunft,  wie  auf  die  eigene  Persönlichkeit 
verloren  haben.  Man  sieht  leicht,  dass  diese  Störung  in  allmählichen 
Abstufungen  unmerklich  in  die  Breite  des  Normalen  zu  jenen  ängst- 
lichen Gemüthern  hinüberleitet,  denen  jede  freie  Regung  der  Lust, 
jeder  Augenblick  des  Genusses  durch  die  Besorgniss  möglichen  Un- 
heils verkümmert  wird. 

Bisweilen  beherrscht  indessen  die  Angst  nicht  in  der  angedeute- 
ten Weise  fortdauernd  die  Gemüthsstimmung,  sondern  sie  wird  nur 
durch  gewisse  Einflüsse  wachgerufen,  die  den  Gesunden  im  All- 
gemeinen vollkommen  gleichgiltig  lassen.  Hierher  gehören  die  so- 
genannten Idiosynkrasien,  die  man  bei  neuropathischen Individuen 
beobachtet,  Angstanfälle,  welche,  meist  ohne  klare  Motivirung, 
beim  Anblicke  bestimmter  Dinge,  kleiner  Thiere,  stechender  oder 
schneidender  Instrumente  (Messer,  Nadeln),  beim  Hineinsehen 
in  den  Spiegel  und  dergl.  auftreten.  Oder  aber  die  Angst  knüpft 
sich  an  gewisse  Zwangsvorstellungen  an,  wie  bei  dem  von 
Legrand  du  Saulle  beschriebenen  „Dölire  du  toucher".  Die 
Kranken  sind  hier  von  der  Idee  gequält,  dass  ihre  Kleider  ihnen 
nicht  richtig  sitzen,  dass  sie  sich  beim  Anfassen  von  Gegenständen 
beschmutzen  oder  vergiften,  dass  sie  Nadeln  oder  Glasscherben  mit 
herunterschlucken  könnten,  dass  sie  in  einem  beliebigen  Fetzen 
Papier  etwa  ein  werthvolles  Document  vernichten  könnten  oder 
Aehnliches.  Demgemäss  pflegt  der  Affect  jedesmal  beim  Ankleiden, 
bei  der  Nothwendigkeit  einer  Berührung,  beim  Trinken,  Essen,  Ver- 
nichten von  Papier  u.  s.  w.  hervorzutreten.  Eine  besondere  Form 
dieser  nur  zeitweise  entstehenden  Angst  ist  endlich  die  Agoraphobie 
die  durch  heftige,  bis  zur  Ohnmacht  sich  steigernde  Angstgefühle 
bedingte  Unmöglichkeit,  über  einen  weiten  Platz,  durch  eine  lange 
menschenleere  Strasse  olme  Begleitung  zu  gehen.  Einige  andere 
ähnliche  Zustände  werden  später  noch  nähere  Berücksichtigung  finden. 

Kraopelln,  Psychiatrie.  4.  Anfl.  9 


130 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


Ebenfalls  in  dieses  Gebiet  gehören  jene  abnorm  entwickelten 
Unlustaffecte,  welche  wir  nicht  selten  bei  Neuropathischen  auftreten 
sehen,  sobald  sie  irgendwie  in  Beziehung  zu  anderen  Menschen  treten 
sollen.  Schon  aus  dem  täglichen  Leben  ist  uns  die  Hemmung  bekannt, 
welche  die  Befangenheit  auf  unser  Denken  und  Handeln  ausübt,  und  es 
giebt  zahlreiche  Gesunde,  die  in  Gegenwart  Anderer  nicht  uriniren  oder 
keinen  Brief  schreiben  können.  Bei  krankhafter  Veranlagung  können 
diese  Hemmungen  eine  gewaltige  Ausdehnung  gewinnen  und  die  geistige 
Freiheit  in  der  empfindlichsten  "Weise  beeinträchtigen.  Um  sich 
gegen  die  beständigen  Einengungen  durch  zwanesmässige  Unlust- 
affecte einigermassen  zu  schützen,  umgeben  sich  die  Eranken  nicht 
selten  mit  einem  System  bizarrer  Vorsichtsmassregeln,  welche  der 
äusseren  Einwirkung  ebenso  wenig  Spielraum  lassen,  wie  der 
eigenen  freien  Entschliessung. 

Der  andauernden  oder  gelegenthchen  Unlustbetonung  gleich- 
giltiger  Reize  stehen  die  Anomalien  der  Lustgefühle  gegenüber. 
Unmotivirte  krankhafte  Gehobenheit  der  Stimmung  (Euphorie)  ist 
am  häufigsten  in  der  progressiven  Paralyse  und  in  der  Manie.  Wie 
es  scheint,  ist  es  namentlich  die  ausserordentliche  Leichtigkeit,  mit 
welcher  hier  die  Umsetzung  der  Vorstellungen  in  Handlungen  von 
Statten  geht,  welche  so  lebhafte  Lustgefühle  erzeugt,  dass  der  Kranke 
sich  glücklicher  und  gesünder  fühlt,  als  je  in  seinem  Leben.  Ganz 
dieselbe  Störung   liegt  wahrscheinlich  der  „Seligkeit^  des  Alkohol- 
rausches zu  Grunde.      Anders  dürfte  es  sich  dagegen  mit  jenen 
eigenthümlichen,  als  Ekstase  bezeichneten  Verzückungszuständen 
verhalten,  die  wir .  in  manchen  Eormen  des  Wahnsinns  und  der  Ver- 
rücktheit beobachten.    Eier  sind  die  motorischen  Aeusserungen  ge- 
j  hemmt;   es  fehlt  vollständig  die  Thatenlust,  das  Gefühl  der  „Ge- 
hobenheit", der  Erleichterung  der  Bewegungen.    Statt  dessen  ist  die 
Phantasie  in  lebhafter  Thätigkeit;  herrliche  Visionen  wechseln  ein- 
ander ab,  und  das  Bewusstsein  des  Kranken  ist  von  einem  Gefühle 
stiller,  seliger  Wonne  und  tiefster  Befriedigung  erfüllt,  das  ihn  weit 
über  alle  Noth  des  Daseins  erhebt  und  häufig  in  religiösem  Sinne 
verarbeitet  wird.    Die  Bewusstseinsstörungen  des  Haschisch-  und 
Opiumrausches,    sowie  manche  Träume  sind  als  verwandte  Zu- 
stände zu  betrachten.     Jener  krankhaften  Lustgefühle,  welche  die 
Perversitäten  des  Geschlechtsti'iebes  begleiten,  werden  wir  später  zu 
gedenken  haben. 


Herabsetzung  der  Willensimpiilse. 


131 


Zu  beachten  bleibt,  dass  bisweilen  Wandlungen  im  Gemüths- 
leben,  namentlich  Abneigung  und  Hass  gegen  fi-üher  geliebte  Personen 
und  so  manche  sonderbare  Sympathien  Geisteskranker  nicht  auf 
eine  ursprüngliche  Gefühlsstörung  zu  beziehen,  sou dem  durch  krank- 
hafte Yorstellungen,  und  zwar  bisweilen  sehr  verständlich,  begründet 
sind.  Besonders  bei  Yerrückten  beruht  die  gemüthliche  Yeränder- 
ung,  abgesehen  von  der  Steigerung  oder  Abstumpfung  der  Erregbar- 
keit, gewöhnlich  auf  intellectueller  Grundlage. 

D.   Störungen  des  Handelns. 

Das  praktisch  wichtige  Eesultat  aller  krankhaften  Störungen, 
welche  das  psychische  Leben  erfährt,  ist  das  Handeln  des  Kranken. 
Die  Richtung  des  Handelns  wird  im  Allgemeinen  bestimmt  durch 
Vorstellungen;  die  Stärke  dagegen,  mit  welcher  die  Antriebe  im 
Bewusstsein  hervortreten,  ist  abhängig  von  der  Intensität  der  be- 
gleitenden Gefühle.  Grosse  Heftigkeit  dieser  letzteren  bei  geringer 
Klarheit  der  Vorstellungen  charakterisirt  diejenigen  Strebungen,  die 
wir  Triebe  nennen,  während  das  zielbewusste,  planmässige 
"Wollen  mit  Gefühlen  von  grosser  Constanz  und  Dauer,  aber  relativ 
geringer  augenblicklicher  Stärke  einherzugehen  pflegt  und  zugleich 
eine  deutliche  Vorstellung  des  beabsichtigten  Erfolges  und  der 
Mittel  zu  seiner  Erreichung  einschliesst.  So  kommt  es,  dass  das 
Triebleben  unter  Umständen  in  einen  entschiedenen  Gegensatz  zu 
den  Willkürhandlungen  treten  kann.  Beim  vollentwickelten,  nor- 
malen Menschen  besteht  die  Fähigkeit,  die  natürlichen  Triebe  durch 
den  überlegenden  Willen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zu  be- 
herrschen und  dieselben  nur  dann  zu  befriedigen,  wenn  keine  ander- 
weitigen, verstandesmässig  aufgefassten  Rücksichten  ihre  Unter- 
drückung fordern.  Dieses  Verhältniss  ist  in  krankhaften  Zuständen 
nicht  selten  verändert,  so  dass  wir  also  bei  der  Betrachtung  der 
Störungen,  welchen  Triebe  und  Willkürhandlungen  unterworfen  sind, 
überall  auf  die  gegenseitigen  Beziehungen  dieser  beiden  Grundlagen 
unseres  Handelns  Rücksicht  zu  nehmen  haben  werden. 

Herabsetzung  der  Willensimpnlse.  Einfache  Herabsetzung  aller 
Impulse  findet  sich  in  den  schwersten  Formen  des  angeborenen  und 
erworbenen  Blödsinns.    Regelmässig  sind  hier  auch  der  Vorstellungs- 

9* 


132 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


verlauf  verlangsamt  und  träge,  die  Gefühlsschwankungen  einförmig 
und  von  geringer  Stärke.  Höchstens  die  vegetativen  Triebe  der 
Nahrungsaufnahme  vermögen  noch  vorübergehend  einen  Anstoss  zu 
einfachen  Bewegungen  zu  geben,  während  im  Uebrigen  auf  dem 
Gebiete  des  Begehrens  und  Strebens  völlige  Ruhe  herrscht.  In  den 
höchsten  Graden  der  Störung  kann  auch  das  Bedürfniss  nach  Nahr- 
ung gänzlich  fehlen  (Anorexie),  so  dass  sich  die  Lebensäusseruugen 
des  Individuums  schliesslich  nur  auf  die  Fortdauer  der  automatischen 
und  einzelner  reflectorischer  Bewegungen  beschränken. 

Wenn  im  Allgemeinen  diejenigen  Triebe,  welche  der  Selbst- 
erhaltang  dienen,  am  längsten  noch  mit  einer  gewissen  Stärke  Hand- 
lungen auszulösen  pflegen,  so  können  doch  in  manchen  Fällen  ge- 
rade einzelne  dieser  Triebe  stark  herabgesetzt  oder  erloschen  sein, 
wo  im  Uebrigen  noch  eine  beträchtliche  Lebhaftigkeit  des  Strebens 
besteht.    So  wird  häufig  Mangel  des  Nahrungsbedürfnisses  beobachtet, 
trotzdem  sogar  geordnete  Willkürhandlungen   ausgeführt  werden. 
Am  häufigsten  ist  dabei  allerdings  diese  Störung  durch  mehr  oder 
weniger  klare  Vorstellungen  begründet  und  als  eine  krankhafte 
Unterdrückung  des  wol  vorhandenen  Triebes  aufzufassen;  hie  und 
da  liegen  demselben  auch  Erkrankungen  der  Yerdauungsorgane 
zu    Grunde,    welche    die   Entstehung    des  Hungergefühles  ver- 
hindern. 

Einen  ganz  anderen  Charakter  tragen  diejenigen  Fälle,  in  denen 
vorzugsweise  nur  der  Einfluss  des  zweckbewussten  "Willens 
auf  das  Handeln  eine  mehr  oder  weniger  beträchtliche  Abschwäch- 
ung  erkennen  lässt.  Man  bezeichnet  diese  Stöning  mit  dem  Namen 
der  Abulie.  Die  Intelligenz  kann  hier  erhalten  sein,  und  es  kann 
eine  klare  Einsicht  in  die  Krankhaftigkeit,  sowie  ein  peinliches  Ge- 
fühl der  Yeränderung  bestehen  (Depressionszustände).  Solche  Kranke 
erkennen  die  Nothwendigkeit  dieser  oder  jener  Handlung  auf  das 
Klarste,  aber  sie  vermögen  dieselbe  nicht  auszuführen,  „weil  sie  nicht 
wollen  können",  weil  ihnen  die  Möglichkeit  eines  selbständigen,  tiiat- 
kräftigen  Antriebes  fehlt.  Bisweilen  ist  dabei  überhaupt  die  Stärke 
der  Willenserregungen  herabgesetzt;  in  anderen  Fällen  aber  iet  es 
eben  nur  die  einheitliche  Leitung,  welche  krankhaft  gestört  ist, 
während  ungeordnete,  triebartige  Ausbrüche  (Unruhe,  Selbst- 
beschädigungsversuche) von  grosser  augenblicklicher  Heftigkeit  in 
auffallendem  Gegensatze  zu  der  von  den  Kranken  selbst  immer 


Herabsetzung  der  Willeneimpulse. 


133 


wieder  bejammerten  Energielosigkeit  die  Gewalt  der  inneren  Be- 
Avegang  deutlich  erkennen  lassen. 

Während  hier  die  Abulie  aus  einer  krankhaften  Hemmung  der 
gesunden  Wülensantriebe  hervorgeht,  ist  sie  auf  dem  grossen  Ge- 
biete des  Schwachsinns  die  Folge  mangelhafter  Entwickelung  eines 
zweckbewussten,  von  bestimmten  Grundsätzen  geleiteten  WiUens 
überhaupt.  Im  Gegensatze  zu  der  peinlich  empfundenen,  erzwungenen 
Unfähigkeit  dort,  entwickelt  sich  daher  hier  eine  völlige  Abhängig- 
keit des  Handelns  von  augenblicklichen  Eindrücken  und  Antrieben. 
Wer  nicht  weiss,  was  er  will,  oder  wessen  Wille  zu  schwach  ist, 
um  dauernd  in  gleicher  Richtung  wirken  zu  können,  dessen  Hand- 
lungen erscheinen  nicht  als  das  Ergebniss  eines  durch  Anlage  und 
Lebenserfahrung  bestimmten,  feststehenden  Charakters,  sondern  als 
der  Ausdruck  zufälliger,  augenblicklicher  Eingebungen  und  äusserer 
Einflüsse.    Derartige  Kranke  sind  daher  passiv  meist  leicht  lenkbar, 
ohne  irgend  zu  widerstreben,  wenn  nicht  etwa  Angst  oder  ein  ähn- 
licher Affect  sie  beherrscht;  ihr-  Treiben  ist  planlos,  ohne  Thatkraft, 
voUer  Halbheiten  und  Unbegreiflichkeiten.    Gute  Vorsätze  werden 
gefasst  und  Anläufe  gemacht,  aber  es  bleibt  Alles  unvollendet;  ein 
Augenblick  kann  die  festesten  Pläne  über  den  Haufen  werfen  und 
den  schwachen  Willen  ohne  Weiteres  in  ganz  andere  Bahnen  lenken. 
Das  Beispiel  in  gutem  und  bösem  Sinne,  die  äussere  Einwirkung 
vermag  hier  zeitweise  ausserordentlich  viel,  aber  der  Einfluss  ist 
kein  nachhaltiger;  er  wird  eben  durch  neue  Eindrücke  immer  rasch 
wieder  verdrängt.    Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  diese  praktisch 
ausserordentlich  wichtige  und  leicht  verkannte  Störung  uns  ohne 
scharfe  Grenze  in  die  Breite  des  Normalen  zu  den  schwachen,  halt- 
losen Naturen  hinüberführt,  die  stets  einer  leitenden  Hand  bedürfen^ 
wenn  sie  nicht  straucheln  sollen,  die  ihr  Leben  lang  hülflose  Einder 
bleiben,  sobald  sie  in  Yerhältnisse  und  Kämpfe  hineingeworfen 
werden,  welche  Thatkraft  und  rasche  Entschlossenheit  erfordern. 

Gewissermassen  auf  der  Grenze  des  Gesunden  stehend  und  viel- 
fach unzweifelhaft  in  das  Krankhafte  hinüberreichend  sind  die 
dauernden  Entartungszustände ,  welche  durch  eingewurzelte  schäd- 
liche Gewohnheiten  über  den  Charakter  des  Menschen  herauf- 
beschworen werden,  häufiger  allerdings  vielleicht  erst  den  günstigen 
Boden  abgeben,  auf  dem  jene  letzteren  sich  übermächtig  zu  ent- 
wickeln vermögen.   Der  Trinker,  der  Morphinist,  der  Spieler,  der 


134 


n.    Allgemeine  Symptomatologie. 


Onanist,  auch  wenn  sie  gerade  keine  auffallenden  psychischen  Krank- 
heitssymptome  darbieten  —  sie  verlieren  sehr  bald  die  Herrschaft 
über  ihre  Leidenschaften;  sie  werden  unfähig  zu  einheitlichem 
Handeln  und  zur  thatkräftigen  Ueberwindung  schwieriger  Lebens- 
lagen. Sinken  sie  doch  schliesslich  zu  willenlosen  Sclaven  ihrer 
triebartigen  Begierden  herab,  die  sie  trotz  besserer  Einsicht,  selbst 
um  den  Preis  ihres  Lebensglückes,  nicht  mehr  zu  besiegen  im  Stande 
sind.  Bei  jenen  Giften  spielt  jedenfalls  eine  unmittelbar  toxische 
"Wülenslähmung  die  Hauptrolle,  wie  sie  sich  durch  Versuche  auch 
für  eine  Reihe  von  anderen  Stoffen  nachweisen  lässt,  die  ebenfalls 
dauernde  Charakterentartung  erzeugen. 

Steigerung  der  WiUensimpiilse.  Eine  Steigerung  der  Willens- 
impulse tritt  überall  dort  hervor,  wo  die  Umsetzung  psychischer 
Erregung  in  Bewegungen  abnorm  erleichtert  ist.  Sobald  daher  jene 
Hemmungen  aufhören,  zu  wirken,  welche  normaler  "Weise  zahllose 
in  uns  aufsteigende  Antriebe  unterdrücken,  sind  die  Bedingungen 
für  die  Entwickelung  der  allgemeinsten  Form  dieser  Störung,  des 
Bewegungsdranges,  gegeben.  Die  leichtesten  Grade  desselben 
können  wir  jederzeit  im  ersten  Stadium  des  Alkoholrausches  beob- 
achten. Bei  Kranken  macht  sich  derselbe  zunächst  in  einer  ge- 
wissen Geschäftigkeit  und  Unstetigkeit,  grosser  Gesprächigkeit,  Neig- 
ung zum  Renommiren,  lebhaften  Geberden,  im  Sammeln  und  Zu- 
sammenkaufen unnützer  Dinge,  dem  Inangriffnehmen  zahlreicher 
Pläne  und  Unternehmungen,  ohne  Durchführung  eines  einzigen,  in 
unsinnigen  Ausschweifungen,  in  zwecklosem  Herumtreiben  und 
Eeisen  bemerkbar.  Bei  den  schweren  Formen  kommt  es  weiterhin 
zu  beständigem  Schreien  und  Singen,  Laufen,  Tanzen,  zum  Entkleiden, 
Zerreissen  der  Kleidungsstücke  mit  mannigfacher  Verwerthung  der 
Fetzen,  Schmieren  und  Malen  mit  Koth,  Waschen  mit  Urin,  Zer- 
stören aller  erreichbaren  Gegenstände,  Trommeln  und  Klopfen  mit 
Händen  und  Füssen.  Auch  hier  tritt  auf  das  Deutlichste  jene  für 
den  Verlust  des  gesunden  Willens  charakteristische  Unbeständigkeit 
der  einzelnen  Antriebe,  jener  rasche  Wechsel  in  der  Richtung  des 
Handelns  hervor,  der  in  eigentümlichem  Gegensatze  zu  der  unver- 
mittelten Rücksichtslosigkeit  steht,  welche  die  Bestrebungen  des 
Kranken  auszeichnet.  Von  den  schwersten  Formen  dieser  Willens- 
störung, die  vor  Allem  der  Manie  und  der  Paralyse  angehören, 
^ühren  uns  leichtere  Abstufungen,  denen   wir  im  cii-culäi-en  und 


Zwangshandlungen. 


135 


periodischen  Irresein  begegnen,  ganz  allmählich  zn  gewissen 
schwachen  Andentungen  bei  gesunden  Personen  hinüber;  es  sind 
das  jene  zerfahrenen  Menschen,  die  trotz  steter  Geschäftigkeit 
doch  nie  etwas  Brauchbares  leisten,  die  Alles  mit  Begeisterung 
ergreifen  und  nichts  fertig  bringen,  deren  Lebensgeschichte  eine 
einzige  Kette  von  untiberlegten  und  übereilten  Handlungen  dar- 
stellt. •  ,  ,  .  ^  .  j- 
Nach  den  verschiedenen  Richtungen  des  Begehrens  hin  püegt  die 

Steigerung  des  Trieb  lebens  hauptsächlich  alskrankhaftesNahrungs- 
bedürfniss  (Bulimie)  und  als  abnorme  sexuelle  Begierde 
(Nymphomanie  bei  Frauen,  Satyriasis  bei  Männern)  aufzutreten.  Im 
ersteren  Falle  kann  die  Grefrässigkeit  so  weit  gehen,  dass  nicht  nur  alle 
irgendwie  durch  Gewalt  oder  List  zugänglichen  Esswaren  vom 
Kranken  mit  Gier  verschlungen  werden,  sondern  dass  auch  gänz- 
lich imgeniessbare,  ja  die  ekelerregendsten  Dinge  (Sand,  Steine,  See- 
gras, Kotb)  den  Weg  in  seinen  Magen  finden,  stets  ein  Zeichen  von 
sehr  hochgradiger  Störung  im  Bereiche  des  Gefühlslebens  und  des 
"Willens.  Die  Steigerung  des  Geschlechtstriebes  drückt  sich  seltener 
geradezu  in  sexuellen  Angriffen,  meist  in  obscönen  Reden, 
Schimpfereien  und  Beschuldigungen,  in  mehr  oder  weniger  rück- 
sichtsloser Masturbation,  bei  Weibern  auch  in  schamlosen  Entblöss- 
ungen,  äusserster  Unreinlichkeit  oder  beständigen  Waschungen  mit 
Wasser,  Speichel,  Urin,  Kämmen  und  Auflösen  der  Haare  aus,  in 
leichteren  Formen  durch  Putzen  und  Coquettiren,  Wechsel  zwischen 
herausforderndem  und  verschämtem  oder  sentimentalem  Wesen, 
durch  Händedrücken,  Briefschreiben,  verständnissvolle  Blicke  u.  dgl. 
Diese  Symptome  können  in  sehr  verschiedenartigen  Krankheits- 
zuständen  zur  Beobachtung  kommen;  sie  sind  in  der  Regel  einfach 
Theilerscheinungen  psychischer  Erregung  bei  Tobsüchtigen,  Paraly- 
tischen, Hysterischen,  senil  Dementen,  hier  und  da  vielleicht  auch 
durch  örtliche  Reize  an  den  Genitalien  hervorgerufen. 

Zwangshandlungen.  Weniger  verständlich,  als  diese  Störungen, 
die  im  Wesentlichen  doch  nur  graduelle  Steigerungen  normaler 
Triebe  bedeuten,  sind  dem  gesunden  Bewusstsein  die  vielfachen  von 
Geisteskranken  vollzogenen  Handlungen,  welche  aus  krankhaften, 
zwangsmässigen  Impulsen  entspringen  und  sie  nicht  selten  zur  VoU- 
briugung  von  Thaten  treiben,  gegen  die  sich  ihre  Einsicht  und  ihre 
gesunden  Gefühle  vergebens  sträuben.    In  der  überwiegenden  Mehr- 


136 


n.   Allgemeine  Symptomatologie. 


zahl  der  Talle  handelt  es  sich  hier  um  vorübergehende  Störungen. 
Dahin  gehören  die  sogenannten  „Gelüste"  (Picae)  der  Schwangeren, 
denen  früher  eine  grosse  Bedeutung  beigemessen  wurde,  plötzliche, 
unwiderstehliche  Antriebe  zu  unsinnigen  oder  gar  verbrecherischen 
Handlungen,  zum  Beissen,  Stehlen,  Genuss  bestimmter  Speisen  oder 
selbst  ekelhafter  Dinge  und  dergl.  Ferner  sind  hierhin  zu  rechnen 
die  namentlich  bei  psychopathisch  veranlagten  Personen  und  im 
Verlaufe  verschiedener  Psychosen  bisweilen  auftretenden  „Zwangs- 
handlungen". Die  Yorstellung  einer  Handlung  drängt  sich  hier 
mit  gebieterischer  Gewalt  in  das  Bewusstsein  des  Kranken,  so  dass 
er  trotz  heftigen  Kämpfens  den  pathologischen  Antrieb  nicht  zu 
unterdrücken  vermag. 

Einen  gewissen  Anhaltspunkt  für  das  Verständniss  dieser 
Zustände  giebt  uns  allenfalls  die  bekannte  Erfahrung  aus  dem 
gesunden  Leben,  dass  uns  in  gewissen  Situationen,  am  Eande 
eines  Abgrundes,  auf  einer  Brücke,  der  Gedanke  auftaucht,  uns 
selbst  oder  unsere  Begleiter  hinabzustürzen,  bei  feierlichen  Ge- 
legenheiten irgend  eine  lächerliche  oder  unpassende  Handlung  zu 
begehen,  im  Theater  plötzlich  „Eeuer"  zu  rufen  und  Aehnliches. 
Im  gesunden  Bewusstsein  werden  diese  Antriebe  ohne  Schwierig- 
keit unterdrückt;  unter  pathologischen  Verhältnissen  dagegen  ver- 
mögen sie  eine  unbezwingliche  Macht  über  den  Willen  zu  erlangen 
und  den  Kranken  trotz  klarer  Einsicht  völlig  zu  überwältigen. 
Selbstmord,  Mord  und  Brandstiftung  kommen  auf  diese  Weise  zu 
Stande;  ausserdem  sind  aber  auch  zahllose  Verkehrtheiten  und  Ge- 
waltacte,  die  man  die  Kranken  begehen  sieht.  Zerstören  von  Gegen- 
ständen, Zerchlagen  von  Scheiben,  Entkleiden,  Kothessen  (Koprophagie) 
gar  nicht  selten  auf  den  gleichen  Ursprung  zurückzuführen.  Der 
Mangel  jedes  verstandesmässig  greifbaren  Motivs,  die  Easchheit  und 
Heftigkeit  der  Ausführung  sind  es,  welche  die  Zwangshandlungen 
kennzeichnen.  Mütter  können  unter  dem  Einflüsse  solcher  Antriebe 
zur  Ermordung  ihrer  heissgeliebten  Kinder  gedrängt  werden;  ein  zu- 
fällig bereit  liegendes  Messer  lässt  den  Impuls  in  dem  kranken  Ge- 
müthe  zu  so  unwiderstehlicher  Höhe  anwachsen,  dass  schliesslich 
alle  Gegenmotive  überwunden  werden.  Bisweilen  haben  die  Patienten 
dabei  das  Gefühl,  als  ob  ihre  Glieder,  ihre  Zunge  von  einer  unsicht- 
baren Macht  (Gott,  der  Teufel,  elektrische  Eeinde)  in  Bewegung  ge- 
setzt würden,  die  sich  ihrer  einfach  als  Werkzeug  bedient.  Einzelne 


Automatie  und  Stereotypie. 


137 


Kranke  besitzen  ein  so.  klares  Yerständniss  für  die  Lage,  dass  sie 
ihre  Umgebung  vor  sich  warnen  und  beim  Hexannahen  solcher  An- 
triebe alle  möglichen  Yorsichtsmassregeln  treflen,  um  sich  selbst 
die  Ausführung  gefährlicher  Handlungen  unmöglich  zu  machen. 
Der  vollbrachten  That  pflegt  zunächst  ein  Gefühl  gi'osser  Erleichter- 
ung zu  folgen,  das  erst  im  weiteren  Yerlaufe  bei  besonnenen  Kranken 
dui-ch  die  volle  Einsicht  in  die  Tragweite  derselben  und  die  bitterste 
Keue  über  das  Geschehene  verdrängt  wird. 

Eine  andere  Entstehungsweise  haben  gewisse,  in  den  Irrenanstalten 
sehr  häufige,  ebenfallszwangsmässigvonStatten  gehende,  aber  sich  durch 
die  fortn^ährende  Wiederholung  von  den  eigentlichen  Zwangshandlungen 
abgrenzende  Bewegungen.  Sie  stellen  zumeist  rudimentäre  Ueberbleibsel 
ehemaliger  zweckbewusster  oder  wenigstens  durch  einen  Wahn  moti- 
virter  Bewegungen  dar,  denen  Bedeutung  und  Absicht  längst  abhanden 
gekommen  ist.  Dahin  gehört  auch  das  sinnlose  Auszupfen  der  Haare, 
das  Zerkauen  der  Nägel,  das  von  einzelnen  Kranken  mit  unerschütter- 
licher Beharrlichkeit  geübt  wird,  das  automatische  Wischen,  Schmieren, 
Rutschen  aufgeregter  Blödsinniger  u.  s.  f.  Durch  ihre  ursprüngliche 
psychische  Motivirung  unterscheiden  sich  diese  Erscheinungen  von 
den  sogleich  zu  besprechenden  eigentlichen  Zwangsbewegungen  oder 
Stereotypen. 

Automatie  und  Stereotypie.  Den  Zwangshandlungen  nahe  ver- 
wandt sind  gewisse  Störungen,  welche  Kahlbaum  vor  längerer 
Zeit  bereits  als  katatonische  beschrieben  hat.  Dieselben  zerfallen  in 
zwei  Hauptgruppen,  welche  zwar  äusserlich  sehr  verschieden  zu 
sein  scheinen,  aber  eine  gemeinsame  Entstehungsweise  haben  müssen, 
da  sie  häufig  ganz  unvermittelt  in  einander  übergehen.  Die  Schil- 
derung der  ersten  Klasse  von  Symptomen,  die  wir  insgesammt 
unter  dem  Namen  der  Automatie  zusammenfassen  können,  knüpft 
am  besten  an  die  bekannten  hypnotischen  Erscheinungen*)  an,  da 
der  Zustand,  der  ihnen  zu  Grunde  liegt,  mit  demjenigen  der  Hypnose 
grosse  Aehnlichkeit  zu  haben  scheint. 

Es  gelingt  bekanntlich  bei  einer  sehr  grossen  Zahl  von  Individuen 
(80 — 90<*/o),  durch  verschiedenartige  Manipulationen,  namentlich  durch 


*)  Kieger,  Der  Hypnotifimus.  1884;  Beaunis,  etudes  physiologiques  et 
psychologiques  sur  le  eonnambulisme  provoque,'  1886;  Forel,  Der  Hypnotismus, 
2.  Auflage,  1891;  Moll,  Der  Hypnotismus,  2.  Auflage. 


138 


n.   Allgemeine  Symptomatologie. 


lebhafte  Erweckaag  der  Yorstellaag  des  Einschlafens,  eine  Alteration 
des  Bewusstseins  in  dein  Sinne  zu  erzielen,  dass  das  gesammte  Seelen- 
leben in  eine  mehr  oder  weniger  vollständige  Abhängigkeit  von  dem 
Willen  des  Experimentators  geräth.    Durch  Saggestion,  d.  h.  durch 
energisches  Anregen  dieser  oder  jener  psychischen  Vorgänge  mit  Hülfe 
des' Wortes  oder  geeigneter  Handlungen,  kann  unter  solchen  Umständen 
nicht  nur  der  Inhalt  der  Wahrnehmungen  ganz  nach  Belieben  frei 
erzeugt  oder  modificirt,   nicht  nur  frei  erfundene  Erinnerungen 
können  mit  allen  Einzelheiten  dem  Individuum  eingepflanzt  werden, 
um  bei  ihm  weitere  phantastische  Verarbeitung  zu  finden,  sondern 
vor  Allem  stehen  auch  seine  Handlungen,  ja  sogar  viele  seiner  un- 
willkürlichen Functionen  gänzlich  unter  dem  Einflüsse  der  ge- 
bieterisch die  eigenen  Willensregungen  knebelnden  Eingebungen. 
Der  Hypnotisirte  sieht,  hört,  riecht,  schmeckt,  fühlt  Alles  das,  was 
der  Experimentator  ihm  vorredet,  und  er  nimmt  von  der  wirklichen 
Umgebung  nichts  wahr,  was  ihm  gewissermassen  wegdisputirt  wird. 
Er  beschwört  bona  fide,  Dinge  erlebt  zu  haben,  die  nie  geschehen 
sind,  und  leugnet  mit  derselben  kategorischen  IJeberzeugungstreue 
das  jüngst  Vergangene;  er  vermag  kein  Grlied  zu  rühren  ohne  Er- 
laubniss  des  Hypnotiseurs  und  begeht  auf  G-eheiss  dieses  Letzteren 
unbedenklich  die  unsinnigsten,  selbst  verbrecherische  Handlungen. 
In  einer  ganzen  Reihe  von  Fällen  dauert  dieser  nur  mangelhaft 
durch  den  Ausdruck  Bef ehlsautomatie  gekennzeichnete  Zustand 
auch  nach  dem  Erwachen  aus  der  Hypnose  noch  kürzere  oder 
längere  Zeit  hindurch  fort  (Möglichkeit posthypnotischer  Suggestionen), 
bis  der  eigene  Wille  wieder  die  Herrschaft  über  den  Ablauf  der 
psychischen  Functionen  gewinnt;  zuweilen  aber  kann  trotz  völliger 
Rückkehr  des  Normalzustandes  im  Voraus  |für  einen  fernliegenden 
Termin  (anscheinend  selbst  bis  zu  einem  Jahre)  der  spontane  Ein- 
tritt suggerirter  Wahrnehmungen  und  Handlungen  erzwungen  werden 
(Suggestion  ä  echeance).    Ja,  es  kann  hie  und  da  die  hypnotische 
Willenslähmung  sogar  'ohne  eigentliche  Hypnose,  wenigstens  ohne 
irgend  tiefere  Bewusstseinstr Übung,  in  anscheinend  wachem  Zustande 
erzielt  werden.    Die  Erinnerung  an  alle  diese  psychischen  Beein- 
flussungen ist  nach  dem  Erwachen  aus  der  Hypnose  bald  völlig 
erhalten  oder  doch  durch  äussere  Anregungen  wieder  wachzurufen, 
bald  getrübt,  bald  ganz  erloschen;  jedenfalls  ist  auch  ihr  Ver- 
halten in  hohem  G-rade  von  dem  Willen  des  Experimentators  abhängig. 


Aiitomatie  und  Stereotypie. 


139 


Wenn  uns  das  Wesen  dieser  viel  discutirten  Erscheinungen 
zur  Zeit  noch  in  vielen  Beziehungen  räthselhaft  ist,  so  lässt  sich 
ein  psychologisches  Yerständniss  für  dieselben  immerhin  durch  die 
Annahme  gewinnen,  dass  es  sich  dabei  um  die  vorübergehende  Be- 
seitigung jenes  regulirenden  Einflusses  handelt,  welchen  unser  Wille 
fortdauernd  auf  den  Ablauf  unserer  psychischen  Functionen  durch 
Unterdrückung  dieser  und  Begünstigung  jener  Bewusstseinsvorgänge 
ausübt.  Die  Analogie  der  hypnotischen  mit  unseren  Traurazuständen 
ist  gerade  unter  diesem  Gesichtspunkte  eine  so  handgreifliche,  dass 
wir  kaum  erst  des  so  häufig  beobachteten  Ueberganges  zwischen 
Hypnose  und  Schlaf  oder  umgekehrt  bedürften,  um  eine  physio- 
logische Verwandtschaft  Beider   anzunehmen.    Auch  im  Traume 
acceptiren  wir  kritiklos  die  widerspruchsvollsten  Wahrnehmungen 
nnd  Yorstellungscombinationen  als  baare  Wirklichkeit;  wir  erfinden 
Erinnerungen  und  vergessen  die  alltäglichen  Erfahrungen;  wir  be- 
gehen ohne  Gewissensbisse  die  zwecklosesten  und  schändlichsten 
Handlungen,  um  uns  andererseits  auf  das  Peinlichste  in  der  Aus- 
führung unserer  einfachsten  Absichten  immer  und  immer  wieder 
gehemmt  zu  sehen.    Nur  ist  es  hier  das  unwillkürliche,  höchstens 
episodisch  durch  äussere  Reize  beeinflusste  Spiel  unserer  eigenen 
Yorstellungen  und  Gefühle,  welches  durch  die  Ausschaltung  der 
regulirenden  Einflüsse  freie  Bahn  gewinnt,  wälirond  bei  der  Hypnose 
der  fremde  Wille  gewissermassen  in  unser  entfesseltes  Seelenleben 
hineingreift  und  nunmehr  als  unumschränkter  Machthaber  in  dem 
herrenlosen  Gebiete  schalten  kann. 

Ein  solcher  Yersuch,  den  Träumenden  von  aussen  her  zu  be- 
einflussen und  dadurch  ohne  Weiteres  die  Hypnose  herzustellen,  ge- 
lingt freilich  nur  unter  besonders  günstigen  Umständen.  Zumeist 
pflegt  der  Schläfer  dabei  zu  erwachen,  wenn  er  überhaupt  der  Ein- 
wirkung zugänglich  ist.  Die  Hypnose  dagegen  dauert  trotz  der 
Wahrnehmungen  von  aussen  fort:  sie  ist  nichts  als  ein  leichter 
Schlaf  mit  der  Autosuggestion,  nicht  ohne  fremde  Hülfe  erwachen 
zu  können. 

Was  nun  die  Erscheinungen  der  Automatie  denjenigen  der 
Hypnose  so  ähnlich  macht,  das  ist  vor  Allem  die  willenlose  Zugänglich- 
keit der  Kranken  gegenüber  äusserer  Beeinflussung.  Sie  zeigen 
regelmässig  die  eigenthümliche  Erscheinung  der  wächsernen  Bieg- 
samkeit (flexibiütas  cerea) :  ihre  Glieder  lassen  sich  ohne  den  geringsten 


140 


II.  .  Allgemeine  Symptomatologie. 


Widerstand  in  jede  beliebige  Lage  bringen  und  behalten  dieselbe 
so  lange  bei,  bis  man  ihnen  einen  anderen  Anstoss  giebt  oder  bis 
sie  in  Folge  hochgradiger  Muskelermüdung  zittternd  dem  Gesetze 
der  Schwere  folgen.  Seltener  gelingt  es,  die  Kranken  durch  die  Ein- 
leitung einfacher,  regelmässiger  Bewegungen  zur  fortgesetzten  Wieder- 
holung derselben  zu  veranlassen  oder  die  Nachahmung  energisch 
vor  ihren  Augen  ausgeführter  Geberden  zu  erreichen  (Nach- 
ahmungsautomatie).  Häufiger  schon  beobachtet  man  das  willenlose 
Nachreden  vorgesagter  Worte  (Echolalie).  Andeutungen  der  Automatie, 
besonders  der  flexibilitas  cerea,  werden  bei  den  verschiedenartigsten 
Ej-ankheitszuständen  gelegentlich  beobachtet.  Ich  sah  sie  bei  Ver- 
rückten, Hysterischen,  Epileptischen,  Maniakalischen,  acut  Dementen, 
Paralytikern  und  Alkoholisten,  bei  traumatischem  Hirnabscess  und 
bei  enormem  Hydrocephalus  mit  Hemiplegie,  hier  aus  begreifhchen 
Gründen  nur  auf  der  nicht  gelähmten  Seite.  Endüch  aber  findet  sie 
sich  in  der  ausgesprochensten  Weise  in  jenem  Krankheitsbüde,  welches 
späterhin  als  Katatonie  abgegrenzt  werden  wird. 

Gerade  bei  der  zuletzt  genannten  Krankheitsform  gesellt  sich 
zu  den  Erscheinungen  der  Automatie  regelmässig  eine  zweite  Gruppe 
von  Störungen  hinzu,  die  ich  mit  dem  Gesammtnamen  der  Stereotypie 
bezeichnen  möchte.  Sie  besteht  ia  langer  Fortdauer  oder  häufiger 
Wiederkehr  derselben  Muskelinnervationen.  Nach  der  einen  Seite 
hin  kommt  es  hier  zur  Fixirung  ganz  bestimmter  Stelluagen,  die 
trotz  aller  äusseren  Einwirkungen  Wochen,  Monate,  Jahre  lang  un- 
verändert festgehalten  werden.  Die  Kranken  stehen  in  der  gleichen, 
oft  sehr  unbequemen  Haltung  stets  in  derselben  Ecke  oder  liegen 
mit  gespannten  Gliedern  im  Bette,  so  dass  man  sie  ohne  Schwierig- 
keit an  dem  starr  gekrümmten  Arme  in  die  Höhe  heben  kann.  Jeder 
Ter  änderung  der  Gliederstellung  setzen  sie  den  äussersten,  aber  nur 
passiven  Widerstand  entgegen  (Negativismus),  der  sich  nicht  selten 
auch  auf  die  Nahrungsaufnahme  erstreckt.  Auch  in  der  mimischen 
Musculatur  bemerkt  man  starre  Spannung,  tiefe  Stirnfalten,  rüssel- 
förmig  vorgeschobene  Lippen  (Schnauzkrampf),  Seitniii-tsrichtung  der 
Bulbi  und  dergl.  Sprachliche  Aeusserungen  pflegen  gar  nicht  zu  er- 
folgen (Mutacismus),  höchstens  einzelne  ausser  jedem  Zusammenhang 
mit  der  Situation  stehende  Ausrufe.  Weit  mannigfaltiger  gestalten 
sich  naturgemäss  die  Bewegungsstereotypen  (Zwangsbewegungeu)- 
Dahin  gehören  alle  Arten  nicht  psychisch  motivirter,  aus  unklaren 


Krankhafte  Triebe. 


141 


Antrieben  zahllose  Male  wiederholter  Handlungen,  Purzelbäume, 
rhythmisches  Klopfen,  Herumgehen  in  absonderlichen  Stellungen, 
Aufspringen,  Niederfallen,  Herumrollen  und  Kriechen  am  Boden, 
bizarre  Essgewohnheiten  u.  s.  f.  In  der  Regel  ist  es  ganz  unmög- 
lich, die  Ki-anken  in  ihrem  Beginnen  zu  hindern,  trotzdem  sie 
sich  dabei  rücksichtslos  anstrengen  und  sogar  verletzen.  Auf  sprach- 
lichem Gebiete  äussert  sich  die  Stereotypie  in  stunden-  ja  tagelanger 
Wiederholung  derselben,  oft  ganz  unsinnigen,  bisweilen  in  der  üm- 
gebung  aufgefangenen  Sätze  und  Redensarten  (Verbigeration);  dasselbe 
Symptom  kehrt  auch  in  den  Schriftstücken  wieder. 

Wie  schon  erwähnt,  stehen  Automatie  und  Stereotypie  wahr- 
scheinlich in  sehr  nahen  Beziehungen  zu  einander.  Es  ist  bisweilen 
sogar  möglich,  durch  gewisse  Kunstgriffe  ohne  Weiteres  Erscheinungen 
der  einen  Gruppe  in  die'  entsprechenden  der  anderen  überzuführen. 
Gemeinsam  ist  beiden  die  willenlose  Unterwerfung  des  Handelns 
unter  zufällige  Einflüsse,  sei  es  dass  dieselben  von  aussen  einwirken 
oder  im  Innern  des  Kranken  selbst  entstehen.  Im  letzteren  Falle 
dauert  der  Antrieb  lange  Zeit  hindurch  fort  und  wird  zur  Stereotypie 
in  Haltung  und  Bewegung,  im  ersteren  kann  er  meist  durch  einen 
weiteren  Eingriff  wieder  abgelöst  werden.  Regelmässig  aber  er- 
strecken sich  diese  Störungen  in  der  geschilderten  Weise  nur  auf 
die  niederen  psychischen  Functionen.  Irgendwie  verwickeitere 
Suggestionen  und  Stereotypen,  welche  eine  höhere  geistige  Arbeits- 
leistung voraussetzen,  werden  nicht  beobachtet,  wahrscheinlich  des- 
wegen, weil  hi*er  überall  eine  tiefgreifende  Störung  des  gesaramten 
Seelenlebens  überhaupt  erst  das  Zustandekommen  der  Erscheinungen 
ermöglicht.  Gerade  unter  diesem  Gesichtspunkte  ist  es  bemerkens- 
werth,  dass  wir  bei  Idioten  ebenfalls  Bewegungsstereotypen  beob- 
achten (rhythmisches  Hin-  und  Herwiegen,  Händeklatschen,  Pfauchen 
und  Blasen),  welche  anscheinend  automatischen,  nicht  gehemmten 
Hirnerregungen  ihre  Entstehung  verdanken. 

Krankhafte  Triebe.  Einen  viel  reicheren  psychischen  Inhalt, 
als  diese  mehr  elementaren  Störungen  der  Willkürbewegungen,  haben 
die  krankhaften  Triebe,  welche  den  Willen  entweder  von  Jugend 
auf  oder  im  Yerlaufe  einer  erworbenen  psychischen  Erkrankung 
nach  einer  bestimmten  Richtung  hin  in  abnorme  Bahnen  lenken. 
Hier  kommt  es  daher  nicht  zu  einzelnen  einfachen  Zwangsbeweg- 
ungen, sondern   zu  sehr  verwickelten,  planmässig  vorbereiteten 


142 


II.    Allgemeine  Symptomatologie. 


Handllingen.  Yon  den  früher  betrachteten  Zwangshandlungen  wiederum 
grenzen  sich  die  Aeusserungen  der  ki'ankhaften  Triebe  dadurch  ab, 
dass  es  dort  einzelne  begrenzte  Acte  sind,  zu  welchen  die  Störung 
drängt,  während  hier  dauernd  ein  ganzes  Gebiet  unseres  Sti-ebens 
von  abnormen  Antrieben  beherrscht  wird.  Dort  kommt  daher  auch 
das  Gefühl  des  Erzwungenen,  Fremdartigen  der  Handlung  viel  leb- 
hafter zur  Entwickelung,  als  hier,  wo  der  Kranke  sich  zwar  des  Un- 
moralischen seiner  Neigungen  bewusst  ist,  sie  aber  zugleich  doch  be- 
greiflich und  vielleicht  sogar  sehr  natürlich  findet.  Zu  den  fast 
immer  angeborenen  abnormen  Trieben  gehört  vor  Allem  die 
conträre  Sexualempfindung,  die  das  geschlechtliche  Fühlen 
und  Begehren  in  unversöhnbaren  Gegensatz  zu  der  körperlichen 
Organisation  des  Kranken  bringt  und  ihn  die  sexuelle  Befriedigung 
beim  eigenen  Geschlechte  aufzusuchen  treibt.  Dieselbe  macht  sich 
regelmässig  schon  in  der  Jugend  geltend  und  wird  nur  selten 
auch  als  vorübergehendes  Symptom  während  anderer  psychischer 
Elrankheiten  beobachtet.  Auch  einige  weitere  Perversitäten  des 
Geschlechtstriebes,  weichein  der  Neigung  zum  Stehlen  weiblicher 
Wäsche,  Schuhe  und  dergl.,  in  der  "Wollust  beim  Msshandeln  und 
Verwunden  oder  gar  beim  Ermorden  und  Zerstückeln  der  sexuellen 
Opfer  (Lustmord),  beim  Saugen  von  Blut  und  beim  Genüsse  von 
Menschenfleisch,  in  der  geschlechtlichen  Befriedigung  mit  Thieren 
und  der  Leichenschändung  glücklicher  Weise  sehr  vereinzelt  vor- 
kommen, sind  höchst  wahrscheinlich  auf  eine  ursprüngliche  degenerative 
Yeranlagung  zurückzuführen. 

Ferner  werden  bei  Personen,  die  ebenfalls  regelmässig  ander- 
weitige Zeichen  psychischer  Entartung,  namentlich  Anomalien  im 
Gefühlsleben,  erkennen  lassen,  bisweilen  gewisse  ki-ankhafte  An- 
triebe beobachtet,  die  man  früher  als  eigene  Krankheitsformen,  als 
„Monomanien"  (Esquirol)  aufzufassen  pflegte.  Sie  sind  indessen 
nur  Theiler scheinungen  einer  krankhaften  Ausbildung  der  gesammten 
psychischen  Persönlichkeit  im  Sinne  des  impulsiven  Schwachsinns. 
Am  bekanntesten  ist  der  „Stehltrieb"  (die  Kleptomanie)  geworden, 
eine  besonders  beim  weiblichen  Geschlechte  vorkommende  Neigung, 
sich  ohne  Noth  selbst  ganz  unnütze,  werthlose  Dinge  durch  Dieb- 
stahl anzueignen,  die  zudem  meist  nachher  dem  Eigenthümer  wieder 
zugestellt  werden.  Aehnlich  hat  man  auch  einen  Mordtrieb,  einen 
Brandstiftungstiieb  (Pyromanie),  einen  WoUusttrieb  (Aidoiomanie) 


Handlungen  in  Folge  von  Wahnideen  und  Gefühlsstömngen. 


143 


u.  s.  f.  imterschieden.  Gemeinsam  ist  allen  diesen  Störungen  die 
degeneraüve  Grundlage;  sie  sind  Anzeichen  einer  unvollkommenen 
Yeranlagung  des  Gemüths-  und  Trieblebens,  welche  die  Ausbildung 
eines  .festen^  leitenden  Charakters  verhindert,  die  "Widerstandsfähig- 
keit des  Individuums  gegen  äussere  und  innere  Antriebe  herab- 
setzt und  somit  dem  Drängen  augenblicklicher  Impulse  jeweils  die 
Herrschaft  über  seinen  "Willen  ermöglicht. 

EaidluDgen  in  Folge  von  WaiDideen  und  Gefühlsstömiigen. 
"Wir  haben  nun  noch  kurz  jener  Anomalien  im  Eandeha  Geistes- 
kranker zu  gedenken,  welche  nicht  sowol  auf  eine  Willensstörung 
selbst,  als  vielmehr  auf  einen  Ursprung  aus  krankhaften  Voraussetz- 
ungen, aus  Wahnideen  oder  abnormen  Gefühlen,  zurückzuführen 
sind.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  von  dieser  Seite  her  die.Be- 
dingungen  zur  Entstehung  der  mannigfachsten  Abweichungen  von 
dem  Yerhalten  des  Gesunden  gegeben  sein,  und  dass  ferner  die 
gleichen  Handlungen  aus  sehr  verschiedenen  Ursachen  sich  heraus- 
entwickeln  können. 

Zunächst  pflegt  sich  der  allgemeine  Charakter  der  psychischen 
Störung  vielfach  schon  in  dem  ganzen  äusseren  Benehmen  des 
Kranken  auszudrücken.  In  seiner  Mimik*)  spiegeln  sich  jene  Ge- 
fühlserregungen wider,  die  sein  Inneres  bewegen.  Der  Deprimirte 
steht  theilnahmslos,  vor  sieb  hinstarrend,  an  der  Wand,  oder  er  sitzt, 
schlajff  in  sich  zusammengesunken,  mit  bekümmerten  Zügen  da;  der 
Aengstliche  wandert  ruhelos,  an  den  Nägeln  kauend,  das  Gesicht 
zerzupfend  und  die  Hände  ringend  auf  und  ab,  rutscht  bald  knieend. 
am  Boden  herum,  bald  drängt  er  mit  lautem  Jammern  zur  Thüre 
hinaus,  während  der  Tobsüchtige,  unter  lebhaften  Ausdrucksbeweg- 
ungen, schwatzend,  lachend,  singend,  tanzend  und  allerlei  Schabernack 
treibend,  dem  Gefühle  erhöhter  Leistungsfähigkeit  Luft  zu  machen 
sucht.  Den  GehörshaUucinanten  sieht  man  mit  lauschendem  Ge- 
sichtsausdrucke in  einer  Ecke  stehen,  unbekümmert  um  seine  Um- 
gebung; nur  hier  und  da  bewegt  er  die  Lippen,  als  ob  er  antworte, 
oder  ruft  auch  plötzlich  laut  einige  Worte,  meist  Selbstvertheidigungen 
oder  Schimpfereien.  Der  verkannte  Graf  oder  Kaiser  dagegen  trägt 
mit  Würde  die  „Gefangenschaft"  der  Irrenanstalt,  an  der  Brust 
vielleicht  die  papiemen  Orden  und  in  der  Tasche  die  selbstverfassten 


*)  Sikorsky,  Neurolog.  Cenü'alblatt,  1887,  20,  21. 


144 


n.   Allgemeine  Symptomatologie. 


Beglaubigungsdocumente  seines  Prätendententhums.  Die  Melancholia 
attonita  endlich  und  der  apathische  Blödsinn  lassen  in  dem  fast 
Tölligen  Mangel  jeder  activen  Reaction  die  Intensität  der  bestehen- 
den Hemmung,  resp.  die  ganze  Grösse  des  psychischen  Verfalles 
erkennen.  Aus  diesen  in  grösster  Mannigfaltigkeit  wechselnden  und 
dennoch  vielfach  typischen  Bildern  vermag  der  Irrenarzt  oft  schon 
beim  ersten  Anblicke  eine  ungefähre  Diagnose  der  Störungen 
zu  stellen.  Zahllos  sind  aber  die  Fälle,  die  für  die  oberflächliche 
Beobachtung  gar  keine  auffallenden  Erscheinungen  darbieten,  ein 
Yerhalten,  welches  durch  die  bekannte  Erfahrung  illustrirt  wird, 
dass  laienhafte  Besucher  der  Anstalt  bei  der  Mehrzahl  der  Kranken 
das  Yorhandensein  einer  Geistesstörung  nicht  aufzufinden  vermögen. 

Yon  besonderer  Wichtigkeit  sind  noch  die  Yeränderungen  in 
Sprache  und  Schrift,  welche  durch  die  Geistesstörung  bedingt 
werden.     Abgesehen    von    dem  Inhalt  derselben,    der  natürlich 
meist  die  Wahnideen  oder  Stimmungen   des  Kranken  erkennen 
lässt,  prägt  sich  auch  in  der  Form  oft  schon  der  Grundzug  der 
Psychose  aus.    Die  Ideenüucht  kennzeichnet  sich  durch  die  Zu- 
sammenhangslosigkeit  der  einzelnen  abgerissenen,  kaum  vollständig 
ausgesprochenen  oder  ausgeschriebenen  Worte,   der  Beweg-ungs- 
drang  in  unaufhörKchem  Schwatzen  und  endlosen  wirren  Schnörkeln. 
Die  depressive  Stimmung  lässt  nur  leise,  zögernde  Worte  zu  ^Stande 
kommen  und  den  Kranken  schon  nach  den  ersten  Buchstaben  die  Feder 
wieder  bei  Seite  legen.  Der  Paralytiker  im  floriden  Grössenwahn  be- 
schreibt in  grossen  Lettern  oder  in  Zahlen  Seiten  über  Seiten,  mit  viel- 
fachen Auslassungen  und  Fehlern,  Yersetzungen  der  Buchstaben  und 
Worte,  voller  Kleckse  und  unsauberer  Correcturen,  indem  gleichzeitig 
hier  wie  in  der  Sprache  die  ataktischen  Störungen  in  charakteristischer 
Weise  hervortreten.    Yerrückte  dagegen  sind  namentlich  durch  die 
Neigung  zur  Bildung  von  neuen,  selbsterfundenen  Wörtern  ausge- 
zeichnet, mit  denen  sie  ihre  eigenthümlichen  Sensationen,  ihre  Feinde, 
ihre  eigenen  hohen  Würden  u.  s.  f.  benennen.    Häufig  begegnet  man 
auch  bei  ihnen  einer  sonderbar  verzwickten  Anordnung  ihrer  Schrift- 
stücke oder  verwickelten,  dem  Uneingeweihten  gänzlich  unver- 
ständlichen Zeichnungen  von  Maschinen,  Situationenj  fabelhaften 
Wesen,  die  schon  auf  den  ersten  Blick  den  Eindruck  des  Krankhaften 
erwecken. 


Handlungen  in  Folge  von  Wahnideen  und  Gefühlsstörungen.  145 


Sehr  beachteuswertb,  wenn  auch  noch  gar  nicht  näher  studirt, 
sind  endlich  gewisse  eigenthümliche  Störungen  der  Sprache  und 
Schrift,  welche  man  bisweilen  in  Zuständen  secundärer  Yerwirrtheit 
zu  beobachten  Gelegenheit  hat.  Die  Kranken  sind  in  Haltung  und 
Benehmen  durchaus  correct,  verstehen  an  sie  gerichtete  Auseinander- 
setzungen und  führen  selbst  etwas  verwickeitere  Aufträge  richtig 
aus;  sie  sprechen  und  schreiben  geläufig  und  in  zusammenhängen- 
den Sätzen,  aber  der  Inhalt  ihrer  Schriftstücke  ist  ein  fast  völlig 
unverständliches  Gewirr  von  zum  Theil  sinnlos  zusammengewürfelten 
Wörtern,  deren  allgemeine  Tendenz  sich  bei  längerer  Bekanntschaft 
mit  ihnen  ungefähr  wenigstens  aus  einzelnen  normalen  Anklängen 
errathen  lässt.  Diese  Beobachtungen  erinnern  sehr  an  die  Aeusser- 
ungen  mancher  Paraphasischer,  noch  mehr  aber  an  die  oft  ganz 
ähnlichen  Reden,  die  wir  im  Traume  zu  halten  pflegen.  Offenbar 
handelt  es  sich  dort,  wie  hier,  um  den  dauernden  oder  vorüber- 
gehenden Verlust  der  Fähigkeit,  Yorstellungen  und  deren  sprach- 
liche Symbole  in  richtiger  "Weise  mit  einander  zu  verknüpfen. 

Auch  nach  den  anderen  Richtungen  des  Handelns  sind  natürlich 
die  krankhaften  Störungen  im  Bereiche  des  Yerstandes  und  der  Ge- 
fühle im  Stande,  einen  massgebenden  Einfluss  auszuüben.  Depressive 
Wahnideen  und  Stimmungen  sind  es  vor  Allem,  die  den  Kranken 
einerseits  zu  Acten  der  Verzweiflung,  zum  Kampfe  gegen  die  eigene 
Person,  zu  Selbstmord  und  Selbstverstümmelung,  zu  Nahrungsver- 
weigerung oder  zu  Bussübungen,  andererseits  aber  zu  Angriffen  aller 
Art,  zum  Verfassen  von  Annoncen,  Flugschriften,  Beschwerden,  zu  Mord 
und  Todtschlag,  oder  zur  Ersinnung  der  mannigfachsten  Schutzmass- 
regeln gegen  seine  vermeintlichen  Verfolger,  zu  Beschwörungen, 
geheimnissvollen  Massnahmen  und  Einrichtungen,  zu  menschenfeind- 
Hcher  Absperrung  oder  zu  unstetem  Herumwandern  in  der  Welt 
antreiben.  Die  Standhaftigkeit  und  Consequenz,  mit  der  auf  Grund 
von  Wahnideen,  namentlich  reUgiöser  Natiu-,  bisweilen  die  raffi- 
nirteste  Selbstquälerei  Monate  und  Jahre  lang  fortgesetzt  wird  (z.  B. 
freiwilHges  Fasten,  ununterbrochenes  Knieen,  immer  wiederholte 
Selbstverletzung),  deutet  hier  auf  eine  völlige  Unterjochung  der 
natürlichen  Triebe  durch  die  krankhaften  Vorstellungen  und  Gefühle 
hin.  Bei  Hypochondern  namentlich  sind  peinliche  Manipulationen 
mit  dem  eigenen  Körper  nicht  selten.  Versuche,  sich  den  Körper 
airfzuschneiden,  um  ein  vermeintliches  lebendes  Thier  herauszuholen, 

Kraepol  in,  Psychiatrie.  4.  Aull.  10 


146 


II.  Allgemeine  Symptomatologie. 


das  Essen  von  Nägeln,  um  sich  durch  die  „Schärfe"  das  Blut  zu 
reinigen,  habe  ich  selber  erlebt.  Aehnliche  Handlungen  Hysterischer, 
das  Yerschlucken  von  Nadeln,  Verletzungen  und  Einführen  von 
Eremdkörpern  in  die  Genitalien,  theatralische  Selbstmordversuche 
gehen  in  der  Eegel  aus  ganz  anderen  Motiven  hervor.  Bisweilen 
sind  diese  Handlungen  offenbar  rein  impulsiver  Natur;  zumeist  liegt 
der  Beweggrund  wol  in  der  krankhaften  Sucht,  aufzufallen  und  das 
allgemeine  Interesse  zu  erwecken. 

Die  psychische  Exaltation  hat  häufig  unsinnige  Excesse  in 
Baccho  et  Teuere  und  auf  diese  Weise  sehr  leicht  Conflicte  mit 
der  öffentlichen  Gewalt  zur  Folge.  Oder  aber  der  Kranke  sucht 
sich  im  Gefühle  seiner  Souverän  etat  über  die  bestehende  Ordnimg 
zu  erheben  und  macht  seine  vermeintKchen  Ansprüche  ungenirt 
geltend,  so  dass  er  durch  die  Schritte,  welche  er  in  seiner  An- 
gelegenheit unternimmt,  Aufsehen  erregt  und  lästig  wird.  Anderer- 
seits führt  die  Yorstellung  grossen  Eeichthums  nur  allzu  oft  derartige 
Kranke  zu  einer  rücksichtslosen  Zerrüttung  ihres  Vermögens  dui'ch 
unsinnige  Einkäufe  und  Schenkungen,  oder  die  Idee,  däss  alle  Gegen- 
stände ihrer  Umgebung  ihr  Eigenthum  seien,  lässt  sie  ganz  harmlos 
von  denselben  Besitz  ergreifen  und  bringt  sie  auf  diese  Weise  in 
Berührung  mit  dem  Strafgesetze.  Es  würde  zu  weit  führen,  hier 
auch  nur  annähernd  alle  die  verkehrten  Handlimgen  aufzuzählen, 
die  im  Einzelfalle  aus  Wahnvorstellungen  hervorgehen  können;  so 
verschieden  die  Beweggründe,  so  verschieden  die  Persönlichkeiten 
sind,  so  mannigfaltig  gestaltet  sich  die  Haudlimgsweise,  wie  sie  sich 
als  Ergebniss  aus  dem  Zusammenwirken  dieser  beiden  Bedingungen 
schliesslich  herausentwickelt.  Nur  darauf  sei  hingewiesen,  dass  im  All- 
gemeinen mit  dem.  Grade  des  psychischen  Verfalles,  dem  Mangel 
an  Urtheil  und  logischer  Schärfe  sowie  an  Selbstbeherrschung  auch 
die  TJnsinnigkeit  und  TJ-nbegreiflichkeit  der  Handlungen  der.Ki-anken 
zunimmt. 

,  Der  praktischen  Rechtspflege,  die  es  ja  gerade  mit  dem 
Handeln  der  Menschen  zu  thun  hat,  haben  die  Störungen  desselben 
bei  psychischen  Erkrankungen  nicht  entgehen  kömien.  Das  Bediü-f- 
niss  jener  Wissenschaft  hat  daiier  zur  Aufstellung  gewisser  geistiger 
Normalzustände,  der  Dispositionsfähigkeit  und  der  Zurechnungs- 
fähigkeit,  geführt,  welche  als  Grundlage  für  die  rechtliche  Tragweite 
menschlicher  Willensäusseruugen  angesehen  werden;   Die  psycholo-. 


Handlurfgen  in  Folge  von  Wahnideen  und  Gefühlsstö rangen.  I47 


gischeu  Voraussetzungen  für  die  Dispositionsfähigkeit  sowol,  wie  für 
die  Zareclmungsfähigkeit  liegen  zum  Theil  auf  dem  Gebiete  des  Ver- 
standes, zum  Theil  aber  in  dqm  Bereiche  des  "Wollens.  Beide  Zu- 
stände erfordern  einmal  eine  klare  Auffassung  der  thatsäch- 
lichen  Verhältnisse,  einen  Einblick  in  die  rechtliche  oder 
moralische  Bedeutung  der  einzelnen  Willenshandlung, 
andererseits  die  Möglichkeit  einer  freien  Entschliessung  auf 
Grund  jener  Motive,  die  der  eigenen  selbstbewussten 
Persönlichkeit  angehören.  Wie  man  leicht  sieht,  werden  bei 
Geisteskranken  in  der  Regel  die  beiden  aufgestellten  Bedingungen 
unerfüllt  sein.  Wo  Wahnideen  die  Stellung  des  Ich  zur  Aussenwelt 
in  krankhafter  Weise  verändern  und  verrücken,  ist  für  die  richtige 
Beurtheilung  des  eigenen  Handelns  durch  den  Ej-ankeu  keine  Ge- 
währ mehr  gegeben,  während  die  Herrschaft  pathologischer  Gefühle 
und  Triebe  über  die  grundlegenden  Willensdispositionen  des  Charakters 
oder  der  Verlust  dieser  letzteren  selbst  dem  Menschen  zweifellos  die 
Freiheit  eigener  Entschliessung  im  gebräuchlichen  Sinne  des  Wortes 
rauben.  Sowol  die  Fähigkeit,  Rechtsacte  zu  vollziehen,  wie  die  Zu- 
rechnungsfähigkeit und  somit  die  rechtliche  Verantwortlichkeit  für 
gemeingefährliche  Handlungen  ist  somit  bei  Geisteskranken  grund- 
sätzlich als  aufgehoben  zu  betrachten.  Eine  allgemeine  „Einsicht  in 
die  Strafbarkeit  der  begangenen  Handlung",  ja  auch  bisweilen  die 
Möglichkeit,  verbrecherische  Antriebe  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
zu  unterdrücken,  kann  darum  trotzdem  recht  wol  vorhanden  sein. 
Die  eingehendere  Würdigung  dieser  rechtKchen  Beziehungen  der 
Irren  bildet  den  Gegenstand  einer  besonderen  Wissenschaft,  der  ge- 
richtlichen Psychopathologie*). 

*)  V.  Krafft-Ebing,  Xehrbuch  der  gerichtlichen  Psychopathologie,  3.  Aufl., 
1892.   Maschkas  Handbuch  der  gerichtlichen  Medicin,  Bd.  IV,  1882. 


10* 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


Wie  die  Erscheinungen,  so  werden  auch  Yerlaui',  Ausgänge  und 
Dauer  des  Irreseins  im  Allgemeinen  dui'ch  jene  zwei  grossen  Gruppen 
von  Ursachen  bedingt,  die  wir  in  der  Aetiologie  der  Psychosen  kennen 
gelernt  haben,  einerseits  durch  die  Art  und  Wirkungsweise  der 
krankmachenden  Einflüsse,  andererseits  dui'ch  die  körperliche 
und  geistige  Eigenart  der  erkrankenden  Person.  Diese  beiden 
Bedingungen  sind  es,  welche  das  Wesen  und  die  klinischen  Eigen- 
thümlichkeiten  des  einzelnen  Krankheitsprocesses  bestimmen;  je  ge- 
nauer daher  der  Antheü  eines  jeden  derselben  an  der  Entstehimgs^ 
geschichte  des  gegebenen  Falles  bekannt  ist,  mit  desto  gi-össerer 
Sicherheit  wird  es  möglich  sein,  die  zukünftige  Gestaltimg  dieses 
letzteren  vorauszusagen.  Allerdings  fehlt  für  jetzt  derartigen  Ver- 
suchen vielfach  noch  die  nothwendige  Grundlage  völlig  gesicherter, 
widerspruchsloser  klinischer  Erfahrung,  namentlich  aber  die  Mög- 
lichkeit eines  tieferen  Emblickes  in  den  oft  sehr  verwickelten  inneren 
Zusammenhang  zwischen  Ursache  und  Wirkung. 


A,  Verlauf  des  Irreseins. 

Nach  ihrem  Verlaufe  haben  wir  die  psychischen  Störungen 
vor  Allem  in  krankhafte  Processe  und  üi  krankhafte  Zustände 
zu  scheiden.  Im  ersteren  Falle  handelt  es  sich  um  den  Ablauf  be- 
stimmter Veränderungen  in  einer  gegebenen  Zeit,  im  letzteren  da- 
gegen um  ein  dauerndes,  sich  gleichbleibendes  abnormes  Verhalten 
der  psychischen  Persönlichkeit,  das  entweder  eine  Folge  von  Ent- 
wickelungshemmungen,  angeboren  (z.  B.  Idiotie,  Cretinismus),  oder 


Beginn  der  Erkrankung. 


149 


die  AVirkung  einer  vorauf  gegangenen  Geisteskrankheit  erworben  sein 
kann  (secundäror  Schwachsinn).  In  den  krankhaften  Zuständen  hat 
die  äussere  krankmachende  Ursache  längst  aufgehört,  zu  wirken;  in 
den  krankhaften  Processen  dauert  ihr  Einfluss  fort.  Zu  beachten  ist 
übrigens,  dass  dauernde  abnorme  Zustände  sehr  häufig  den  günstigen 
Boden  abgeben,  auf  welchem  andersartige,  vorübergehende  Krank- 
heitsprocesse  ihren  typischen  Verlauf  nehmen  können. 

Den  Vorgang  der  psychischen  Störung  fasste  Griesinger  im 
Anschlüsse  an  seinen  Lehrer  Zeller  als  einen  einheitlichen  auf, 
dessen  einzelnen  Stadien  die  verschiedenen  klinischen  Formen  des 
Irreseins  (Melancholie,  Manie,  Verrücktheit,  Verwirrtheit,  Blödsinn) 
entsprechen  sollten.  Allein  die  Erfahrung  hat  die  Annahme  eines 
gesetzmässigen  Ablaufes  „der  Geisteskrankheit"  in  bestimmten  Stadien 
nicht  bestätigt  und  zunächst  durch  den  Hinweis  auf  die  Thatsache 
einer  „primären"  Verrücktheit  das  künstlich  aufgebaute  Schema 
durchbrochen.  In  der  That  lässt  eben  die  Beobachtimg  der  Formen 
psychischer  Störung  durchaus  nicht  den  nach  der  angeführten 
Hypothese  erwarteten  einheitlichen,  sondern  einen  überaus  verschieden- 
artigen Verlauf  derselben  erkennen. 

Beginn  der  Erkrankung.  Der  Beginn  einer  Geisteskrankheit  ist 
in  der  Regel  ein  allmählicher;  weit  seltener  bricht  die  Störung 
plötzlich,  ohne  alle  Vorboten  über  das  Individuum  herein.  Der 
Grund  für  dieses  Verhalten  liegt  in  der  Aetiologie  der  Psychosen. 
Es  giebt  hier  nur  verhältnissmässig  wenige  Ursachen,  die  rasch  eine 
durchgreifende  Schädigung  in  den  Centraiorganen  der  psychischen 
Thätigkeit  heiworzubringen  vermögen  (Gifte,  Schreck,  Fieber,  Gebär- 
act);  meistens  erleidet  der  Organismus  des  Erkrankenden  erst  nach 
und  nach  durch  stetig  wirkende  Einflüsse  mehr  und  mehr  hervor- 
tretende Veränderungen.  Je  geringer  der  Antheil  äusserer  Ursachen 
an  der  Entstehung  des  Irreseins  ausfällt,  desto  langsamer  wird  unter 
sonst  gleichen  Umständen  die  Stömng  sich  ent^vickeln,  bis  ihre  Aus- 
bildung endlich,  wo  die  Bedingungen  der  Psychose  ganz  in  der  eigen- 
thümlichen  Anlage  der  Person  gelegen  sind,  zuweilen  Jahrzehnte 
in  Anspruch  nimmt,  sobald  kein  heftigerer  Anstoss,  kein  Conflict 
u.  dergl.  den  Ausbruch  derselben  beschleunigt. 

Bemerkenswerth  ist  es,  dass  regelmässig  kleine  Veränderungen 
im  Gefühlsleben  die  ersten  und  bisweilen  Wochen,  Monate,  selbst 
Jahre  lang  einzigen  Anzeichen  einer  herannahenden  Geisteskrankheit 


150 


III.  Verlauf,  Ausgänge  imd  Dauer  des  Irreseins. 


ZU  bilden  pflegen.  Ueberall,  wo  überhaupt  ein  Stadium  der  „Prodrome'- 
sich  abgrenzt,  spielen  unter  denselben  erhöhte  gemüthliche  Reizbar- 
keit nnd  Launenhaftigkeit,  Unruhe,  uumotivirt  heitere  oder  häufiger 
deprimirte  Stimmung  die  Hauptrolle,  selbst  wenn  späterhin  ,die  Stör- 
ungen der  Gefühle  ganz  in  den  Hintergrund  treten.  Ausserdem  sind 
Zerstreutheit,  Interesselosigkeit  oder  auffallende  Geschäftigkeit  häufige 
prodromale  Symptome.  Zugleich  lässt  sich  regelmässig  eine  mehr 
oder  weniger  tiefgreifende  Beeinträchtigung  des  Schlafes,  häufig  auch 
eine  Störung  des  Appetites  und  fortschreitendes  Sinken  der  all- 
gemeinen Ernährung  beobachten.  Bei  den  sehr  langsam  zui'  Ent- 
wickelung  gelangenden  Geistesstörungen  ist  der  eigentliche  Anfang 
derselben  häufig  schwer  festzustellen;  der  Zeitpunkt,  an  Avelchem  von 
der  Umgebung  die  erste  Yeränderung  an  dem  Ki-anken  wahi-genommen 
■wurde,  bietet  oft  nur  einen  sehr  unzuverlässigen  Anhalt  für  die 
Beurtheilung  dar. 

An  das  Stadium  der  Prodrome  schliesst  sich  bisweilen  ein 
solches  der  Initialsymptome  an,  in  welchem  zwar  die  Psychose 
bereits  deutlich  hervortritt,  aber  doch  erst  nach  und  nach  zu  jener 
vollständigen  Ausbildung  sich  steigert,  die  man  als  die  Höhe  der 
Krankheit  bezeichnen  kann.  In  andern  Fällen  erfolgt  der  eigentliche 
Ausbruch  der  Geistesstörung  nach  den  vorangegangenen  unbestimmten 
Symptomen  mehr  oder  weniger  plötzlich,  besonders  im  Anschlüsse 
an  irgend  eine  äussere  Veranlassung,  welche  die  schon  angebahnte 
Störung  rasch  zur  explosiven  Höhe  anwachsen  lässt 

Höhe  der  Erkrankung.  Der  weitere  Verlauf  lässt  je  nach  der 
Krankheitsform  erhebliche  Yerschiedenheiten  erkennen.  Die  Krank- 
heit kann  sich  lange  Zeit  auf  derselben  Höhe  erhalten:  continuir- 
licher  Verlauf;  oder  sie  kann  vielfache  SchAvankungen  in  der  Stärke 
ihrer  Erscheinungen  und  selbst  zeitweise  völliges  Zuillcktreten  der- 
selben darbieten:  remittirender  und  intermittirender  Verlauf. 
Die  letzteren  Formen  des  Verlaufes  sind  im  Allgemeinen  die  häufigeren, 
namentlich  so  lange  das  Gefühlsleben  noch  in  höherem  Masse  von 
der  Krankheit  in  Mtleidenschaft  gezogen  ist,  da  gerade  den  Gefülilen 
eine  grosse  Neigung  zu  gegensätzlichen  Schwankungen  eigen  zu  sein 
pflegt.  Bei  vorwiegend  intellectuellen  Störungen  wird  ein  derartiger 
"Wechsel  im  Krankheitsbilde  seltener  beobachtet  Die  Eemissionen 
und  Intermissionen  schliessen  sich  häufig  mit  einer  gewissen  Regel- 
mässigkeit an  den  Ablauf  bestimmter  physiologischer  Functionen, 


ilühe  der  Erkrankung. 


151 


des  Schlafes,  der  Nalirungsaiifnahme  an,  während  die  Menses  nicht 
selten  mit  einer  Verschlechterung  des  ganzen  Zustandes  einhergehen. 
Melancholiker  erscheinen  sehr  gewöhnlich  in  den  Morgenstunden 
stärker  deprimirt,  als  gegen  Abend.  Yereinzelt  sind  die  Beobacht- 
ungen von  sogenanntem  „doppeltem  Bewusstsein",  in  denen  eine 
förmliche  Yerdoppelung  det  Persönlichkeit  stattfindet.  Die  Kranken 
bieten  hier  in  abwechselnden  Perioden  ihrer  Psychose  nicht  nur 
gänzlich  verschiedene  Zustände  dar,  sondern  sie  bewahren  auch  die 
Erinnerung  jeweils  immer  nur  für  den  gleichartigen  Zustand,  wie 
jener  Packträger,  der  sich  in  der  Betrunkenheit  an  dasjenige  erinnerte, 
was  er  in  frülieren  Eäuschen  gethan  hatte,  während  ihm  in  nüchternen 
Zeiten  diese  Erinnerung  vollkommen  fehlte.  Die  Analogie  mit  hypno- 
tischen Zuständen  liegt  hier  nahe. 

Sehr  begreiflich  ist  der  intermittii'ende  Verlauf  einer  Psychose, 
wo  neue  Anfälle  auf  Grund  einer  vorhandenen  Prädisposition  immer 
durch  neue  Geiegenheitsursachen  hervorgerufen  werden,  wie  nament- 
lich die  alkoholischen  Aufregungszustände  in  Folge  von  wiederholten 
Excessen.  Bei  den  epileptischen  Bewusstseinsstörungen  beruht  das 
intermittirende  Aufti-eten  in  der  eigenthümlichen  Periodicität  der  zu 
Grunde  liegenden  vasomotorischen  Umwälzungen;  die  seltenen,  den 
Fiebertypus  nachahmenden  und  an  seiner  Stelle  einsetzendenPsychosen 
in  Folge  von  Malariavergiftung  sind  in  ähnlicher  "Weise  an  die  regel- 
mässige Wiederkehl'  der  krankmachenden  Veränderung  gebunden. 
Das  Individuum  ist  jedoch  hier  überall  während  der  freien  Zwischen- 
zeiten nicht  als  gesund  zu  betrachten,  sondern  die  Krankheits- 
erscheinungen sind  nur  zurückgetreten.  Die  psychische  Entartung 
der  Trioker  und  Epileptiker,  die  Unsicherheit  ihres  inneren  Gleich- 
gemchtes  bildet  gewissermassen  ebenso  das  Bindeglied  zwischen 
den  einzelnen  Ausbrüchen  des  Irreseins,  wie  die  Malariavergiftung 
mit  ihren  Zeichen  die  einzelnen  Fieberanfälle  überdauert. 

Ganz  ähnlich  sind  diejenigen  Geistesstörungen  zu  beurtheilen, 
welchen  man  wegen  ihres  ausgesprochen  remittirenden  Verlaufes  den 
Namen  der  periodischen  Psychosen  beigelegt  hat.  Es  handelt  sich 
dabei  um  einen  ziemlich  regelmässigen  Wechsel  krankhafter  mit 
nahezu  normalen  Zuständen;  die  einzelnen  Perioden  können  Tage, 
Wochen,  Monate,  ja  selbst  eine  Eeihe  von  Jahren  dauern.  Die 
wesentliche  Ursache  der  Krankheit  liegt  hier  offenbar  im  Organismus 
des  Erkrankten  selber,  da  sich  häufig  gar  kein  oder  doch  nur  ein 


152 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


sehr  geringfiigiger  Anlass  für  den  Ausbruch  des  Anfalles  auffinden 
lässt;  auch  hier  knüpft  sich  derselbe  besonders  häufig  an  den 
physiologischen  Yorgang  der  Menstruation  an.  Es  giebt  indessen 
auch  TJebergangsformen,  in  denen  die  einzelnen  Erkrankungen  nur 
im  Gefolge  ungünstiger  ävisserer  Lebensereignisse  auftreten,  die 
allerdings  bei  rüstigem  Gehirn  schwerlich  eine  solche  Schwankung 
des  psychischen  Gleichgewichts  herbeigeführt  haben  würden;  hier 
sind  die  Anfälle  meist  seltenere  und  unregelmässigere.  Auch  sonst 
ist  übrigens  die  Dauer  der  freien  oder  relativ  freien  Zwischenzeiten 
durchaus  keine  gleichmässige ;  sie  pflegt  aber  in  einem  gewissen  Yer- 
hältnisse  zu  derjenigen  der  einzelnen  Anfälle  zu  stehen.  Einige 
Tage  oder  "Wochen  beträgt  sie  meist  bei  kurzdauerndem,  bis  zu  einer 
ganzen  Keihe  von  Jahren  bei  langsamerem  Krankheitsverlauf.  Bei 
starker  Häufung  kurzdauernder  Anfälle  kann  endlich  unter  raschem 
Fortschreiten  der  psychischen  Schwäche  der  intermittirende  Verlauf 
in  einen  nur  remittirenden  oder  gar  völlig  continuirlichen  übergehen. 
Auch  während  der  freien  Zwischenzeiten  ist  übrigens  der  Mensch  in 
der  Regel  nicht  als  völlig  gesund  zu  betrachten ;  gewisse  Charakter- 
eigenthümlichkeiten,  verschlossenes  oder  sehr  aufgeregtes  Wesen, 
ausfallende  gemüthliche  Reizbarkeit  oder  Stumpfheit,  Schwäche  oder 
Einseitigkeit  in  den  psychischen  Leistungen,  namentlich  aber  der 
Mangel  einer  ganz  klaren  Einsicht  in  die  eigenen  Krank- 
heitszustände  lassen  sich  fast  ausnahmslos  auch  dann  nachweisen, 
wenn  der  anscheinend  Genesene  wieder  voll  in  seinen  früheren 
"Wirkungskreis  eingetreten  ist. 

Ein  in  mehrfacher  Beziehung  abweichendes  Bild  bieten  die  so- 
genannten cijculären  oder  cyklischen  Psychosen  dar.  Die  krank- 
hafte Umwandlung  der  ganzen  psychischen  Persönlichkeit  tritt  hier 
oft  viel  deutlicher  hervor.  Bisweilen  ist  das  ganze  Leben  derartiger 
Kranker  ausgefüllt  dm-ch  immerfort  einander  ablösende  Perioden 
abwechselnd  depressiver  und  expansiver  Geistesstönmg :  die  an- 
scheinend normalen  Zwischenzeiten  erweisen  sich  bei  genauerer  Be- 
trachtung einfach  als  die  allmählich  sich  vollziehenden  üebergänge 
aus  einem  Zustande  in  den  anderen.  Der  Eintritt  dieser  Stadien 
selber  ist  meist  völlig  unabhängig  von  äusseren  Anlässen;  er  voll- 
zieht sich  mit  der  grössten  Sicherheit  und  Regelmässigkeit,  offenbar 
desshalb,  weil  er  schon  von  den  Tagen  der  Kindheit  her,  durch 
die  ganze  Veranlagung  des  Kranken  mit  Nothwendigkeit  bedingt  ist. 


Eeconviiloscen/i. 


153 


Endlicli  wird  auch  nicht  selten  in  der  Dementia  paralytica  eine 
Ai't  intermittirenden  Verlaufes  beobachtet.  Diese  fcankheit  kann 
lange  Zeit,  selbst  eine  Eeihe  von  Jahren  hindurch,  still  stehen  und 
somit  zur  Herausbildung  eines  anscheinend  stationären  Zustandes 
Veranlassung  geben,  dem  allerdings  fast  immer  ein  früher  oder 
später  erfolgendes  Fortschreiten  des  Grundleidens  ein  Ende  zu  machen 
pflegt.  Während  bei  den  periodischen  und  namentlich  circulären 
Psychosen  der  regelmässige  "Wechsel  der  Perioden  geradezu  die 
kemizeichnende  Eigenthümlichkeit  des  ganzen  Krankheitsprocesses 
ausmacht,  sind  hier  die  Intermissionen  oder  richtiger  Remissionen 
mehr  zufällige  Ereignisse,  die  von  ganz  imberechenbaren,  den  Gang 
des  Leidens  beeinflussenden  Ursachen  abhängig  sind. 

ReconvalesceEZ.  Am  häufigsten  finden  sich  Schwankungen  zum 
Bessern  oder  Schlimmem  im  Stadium  des  Abklingens  heilbarer 
Psychosen;  sie  sind  daher  im  Allgemeinen,- soweit  sich  ein  periodisches 
Leiden  ausschliessen  lässt,  als  ein  prognostisch  günstiges  Zeichen  an- 
zusehen. Allerdings  kommt  auch,  besonders  bei  den  sehr  rasch  ent- 
standenen und  sehr  kurz  dauernden  Geistesstörungen  (alkoholische, 
epileptische  Aufregungen,  Collapsdelirien,  Fieberdelirien  und  ähnliche), 
ein  fast  plötzliches  Verschwinden  der  ganzen  Ki-ankheitsersch einungen 
vor,  z.  B.  nach  einem  tiefen  Schlafe.  In  der  übergrossen  Mehrzahl 
der  Fälle  jedoch  geschieht  die  Abnahme  einer  psychischen  Störung 
ganz  allmählich,  durch  Lyse.  Zuerst  verliert  sich,  avo  sie  vorhanden 
war,  die  Verwirrtheit;  die  Kranken  beginnen  sich  in  ihrer  Umgebung 
zurecht  zu  finden,  Arzt  und  Mitpatienten  richtig  zu  bezeichnen. 
Weit  später  schwinden  die  Zeichen  gemüthlicher  Erregung,  die 
expansive  oder  deprimirte  Stimmung;  die  Kranl^en  werden  ruhiger, 
freier,  gleichmässiger  in  ihrem  Benehmen.  Anfangs  besteht  diese 
Besserung  vielleicht  nur  für  kurze  Zeit,  Tage  oder  Stunden,  um 
einem  abermaligen  Hervorti-eten  der  Krankheitserscheinungen  bald 
wieder  zu  weichen.  Nicht  selten  beobachtet  man  gerade  in  dieser 
Periode  der  Kranldieit  einige  Zeit  hindurch  einen  förmlich  alter- 
nirenden  Verlauf  der  Störung,  in  der  Weise,  dass  gute  und 
schlechtere  Tage  ganz  regelmässig  mit  einander  wechseln.  Nach  und 
nach  aber  werden  die  Remissionen  ausgiebiger  und  gewinnen  längere 
Dauer;  die  Exacerbationen  verlieren  an  Stärke,  bis  schliesslich  nur 
noch  leichte  Verschlimmerungen  bei  besonderen  Anlässen  den  fort- 
schreitenden Gang  der  Genesung  unterbrechen. 


154 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


Am  längsten  pflegt  sich  von  den  Kranklieitssymp turnen  die 
Empfindlichkeit  des  gemüthlichen  Gleichgewichts,  die  leichte 
Erregbarkeit  in  depressivem  oder  expansivem  Sinne  zu  erhalten,  auch 
wenn  die  intellectuellen  Störungen  und  die  dauernden  Stimmungs- 
anomalien sich  schon  längere  Zeit  ausgeglichen  hatten.    So  lässt  sich 
der  Verlauf  der  Krankheit  in  seüien  einzelnen  Phasen  am  genauesten 
an  dem  Verhalten  der  Gemüthssphäre  verfolgen.    Sind  es  doch  aber 
auch  gerade  die  Gefühle,  in  denen  sich  unmittelbar  die  augenblick- 
liche Reactionsweise  der  Person  gegen  die  Eindrücke  und  Vorstell- 
ungen seines  Bewusstseinsinhaltes  kundgiebt,  die  uns  somit  über  den 
Zustand  desselben  jeweils  am  besten  aufzuklären  vermögen,  während 
die  intellectuellen  Vorgänge  weit  mehr  von  dem  Erwerbe  vergangener 
Tage,  dem  Schatze  früher  gebildeter  Vorstellungen,  BegTiffe  und 
Urtheile  beherrscht  werden.    Eine  Störung  ihres  Ablaufes  kommt 
daher  erst  verhältnissmässig  spät  zu  Stande,  und  sie  gleicht  sich 
unter  dem  Einflüsse  der  gesammelten  Erfahrung  früher  wieder  aus, 
als  die  Veränderungen  im  Bereiche  des  Gefühls,  wenn  nicht  die 
Krankheit  selbst  eine  so  tiefgreifende  Umwandlung  der  psychischen 
Persönlichkeit  hervorgebracht  hat,  dass  dieselbe  nicht  mehr  voUständig 
die  Herrschaft  über  die  Producte  ihrer  ehemaligen  geistigen  Arbeit 
wiederzugewianen  im  Stande  ist. 

Einen  vollständigen  und  praktisch  überaus  wichtigen  Paralleüs- 
mus  mit  dem  Gesammtveriaufe  der  psychischen  Störimgen  pflegt  das 
Körpergewicht  unserer  Ki-anken  darzubieten.  Während  alle  consti- 
tutionellen  Psychosen  nur  insoweit  erheblichere  Schwankungen  des 
Körpergewichtes  erkennen  lassen,  als  greifbare  Ernährungsstörungen 
oder  etwa  vorübergehende  Aufregimgszustände  dasselbe  beeüiflussen, 
beginnt  jeder  eigentliche  psychische  Ki'ankheitsprocess  ausnahmslos 
mit  einem  entschiedenen  Sinken  des  Körpergewichtes,  welches  unter 
Umständen  20,  30  Pfund  und  noch  mehr  in  wenigen  Monaten  und  selbst 
"Wochen  betragen  kann.  Während  des  Kranklieitsverfaufes  schreitet 
die  Abnahme  langsam  fort;  im  Uebrigen  pflegen  nur  geringfügige 
Schwankungen  vorzukommen.  Dagegen  hebt  sich  das  Körpergewicht 
regelmässig,  sobald  eine  entscheidende  Aenderung  im  Zustande  des 
Kranken  eintritt,  falls  nicht  körperiiche  Leiden  dem  entgegenwirken. 
Der  Gang  des  KörpergCAvichtes  kündigt  eine  bevorstehende  A\  endung 
des  Krankheitsverlaüfes  häufig  schon  längere  Zeit  an,  bevor  dieselbe 
dem  sonstigen  Symptomenhilde  erkennbar  ist.    Zunahme  der 


Heilung. 


155 


Ernälinmg  bedeutet  untor  allen  Umständen  eine  Beruhigung  des 
Kranken,  die  entweder  der  Genesung  desselben  oder  dem  Ausgange 
in  einen  unheilbaren  Schwächezustand  entsprechen  kann.  Welche 
dieser  beiden  Möglichkeiten  im  einzelnen  Falle  zuti-ilft,  muss  aus  der 
Gestaltung  der  psychischen  Erscheinungen  erschlossen  werden,  welche* 
dort  die  Kückkehr  ziu-  Norm,  hier  die  Anzeichen  der  beginnenden 
Verblödung  erkemien  lassen. 

ß.  Ausgänge  des  Irreseins. 

Heilung.  Das  Stadium  der  Eeconvalescenz  geht  ohne  scharfe 
Grenze  in  dasjenige  der  vollendeten  Heilimg  über.  Die  wenigen 
Beste  der  üb  erstandenen  Ki-ankheit,  vereinzelte  Wahnideen  oder 
Sinnestäuschungen,  unmotivirte  Verstimmungen,  erhöhte  Keizbarkeit, 
verlieren  sich  allmählich;  die  gesunden  Anschauungen  und  Interessen 
ti'Qten  neu  hervor;  die  gewohnten  Beschäftigxmgen  werden  wieder 
aufgenommen:  die  psychische  Persönlichkeit  mit  üirer  -ganzen 
Eigenart  knüpft  über  den  krankhaften  Zeitraum  hinüber  an  die  vor 
demselben  liegende  gesunde  Vergangenlieit  an,  ganz  ähnlich,  wie 
wir  nach  wii-rem  Traume  beim  Erwachen  sogleich,  vielleicht  auch 
erst  nach  einigem  Besinnen,  mit  den  Erlebnissen  vor  dem  Einschlafen 
wieder  Fühlung  zu  gewinnen  suchen.  Ist  diese  Wiedereinsetzung  der 
psychischen  Persönlichkeit  in  die  Herrschaft  über  ihren  Erfahrungs- 
schatz^ in  allen  Punkten  vollzogen,  wird  der  Ablauf  der  psychischen 
Vorgänge  nirgends  mehr  dui-ch  krankhafte  Gefühle  oder  Vorstellungen 
beeinträchtigt,  dann  haben  wir-  das  Kecht,  von  einer  völligen  Ge- 
nesung des  Keconvalescenten  zu  sprechen,  ein  Ereigniss,  welches  in 
etwa  30 — 40^/o  jener  Erkrankungsfälle  zu  verzeichnen  ist,  Avelche 
in  die  Anstaltsbehandlung  kommen.  Zur  Würdigung  dieser  Zahlen 
ist  zu  beachten,  dass  einerseits  viele  chronisch'  verlaufende,  unlieil- 
bare  Fälle  niemals  in  die  Irrenanstalten  gelangen,  und  dass  anderer- 
seits zahlreiche  leichte  Erkrankungen  ebenfalls  in  Faniilienpflege  ihren 
günstigen  Ablauf  finden. 

Unter  Berücksichtigiuig  dieser  Verhältnisse  zeigt  es  sich,  dass 
die  Prognose  der  Geistesstörungen,  entgegen  der  landläufigen  Meinung, 
sich  nicht  erheblich  ungünstiger  stellt,  als  diejenige  schwerer 
körperlicher  Erkrankungen.  Ei-wägt  man  die  enormen  Zahlen  der 
Phthisen,  Herzfehler,  Karcinome,  der  unheilbaren  Hirn-,  Nerven-  und 
Nierenkranken  auf  gi'ossen  medicinischen  Abtheilungen,  so  erkennt 


156 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


man  bald,  wie  der  Unterschied  der  wirklichen  Heilungsprocente 
ZAvischen  den  letzteren  und  den  Irrenanstalten  wesentlich  auf  dem 
Umstände  beruht,  dass  man  sich  eben  zum  Eintritte  in  ein  Kranken- 
haus auch  schon  bei  geringfügigeren  Anlässen  zu  entscliliessen 
pflegt. 

Ebenso  unzutreffend,  wie  hinsichtlich  der  Prognose  psychischer 
Störungen  überhaupt,  ist  das  verbreitete  Yorurtheil,  wenn  es  dem 
einmal  geistig  Erkrankten  häufige  Rückfälle  seiner  Psychose  Torher 
sagt.  Diese  Meinung  beruht  auf  der  bekannten  Erfahrung,  dass 
einzelne,  besonders  aufdringliche  Beobachtungen,  in  diesem  Falle 
vor  Allem  die  periodischen  Geistesstörungen,  das  allgemeine  Urtheü 
weit  nachhaltiger  beeinflussen,  als  ganze  Eeihen  einfach  negativer 
Thatsachen.  Wie  Hagen  überzeugend  nachgewiesen  hat,  bleiben 
etwa  aller  einmal  als  genesen  aus  der  Anstalt  entlassenen 
Kranken  ihr  ganzes  späteres  Leben  hindurch  dauernd  psychisch 
gesund. 

Das  wichtigste  Kriterium  der  ■  eingetretenen  Genesung  ist  ausser 
dem  Schwinden  der  wahrnehmbaren  Krankheitssymptome  die  Ein- 
sicht in  die  krankhafte  Natur  des  überstandenen  Leidens  und  da- 
mit zumeist  das  Auftreten  einer  gewissen  Dankbarkeit  für  die  ge- 
nossene Behandlung  und  Pflege.  Jene  Einsicht  ist  es  ja  gerade, 
welche  uns  die  Gewähr  dafür  bietet,  dass  der  Reconvalescent  die 
krankhaften  Yeränderungen  seines  psychischen  Lebens  als  etwas 
Fremdartiges  empfindet,  dass  er  mit  anderen  Worten  auf  den  Boden 
der  Beurtheilung  zurückgekehrt  ist,  auf  dem  er  vor  der  Erkrankung, 
in  gesunden  Tagen  stand.  Mangel  der  Krankheitseinsicht  deutet 
stets  auf  die  Umnögiichkeit  einer  kritischen  Berichtigung  des 
wälirend  der  Geistesstörung  gesammelten  Erfahrungsmaterials  hin. 
Dieselbe  hat  ihren  Grund  entweder  in  der  Assimilation  krankliafter 
Elemente,  welche  den  Standpunkt  der  Person  gegenüber  seiner  Um- 
gebung verrückt  haben  und  seine  psychischen  Leistungen  entscheidend 
beeinflussen,  oder  aber  in  der  noch  bestehenden  Unfähigkeit  zu 
durchgreitendem  Gebrauche  des  frülier  erworbenen  kritischen  Rüst- 
zeuges, dessen  Handhabung  einerseits  Ruhe  und  Gleichgewichtslage 
des  Gemüthes ,  andererseits  aber  eine  gewisse  Ansti-engung  und 
geistige  Regsamkeit  eifordert.  Kein  Banker  ist  als  ,wirklich  ge- 
nesen zu  betrachten,  der  nicht  klare  und  volle  Einsicht  in  seine 
Krankheit  besitzt,  während  umgekehrt  ganz  wol  ein  Verständniss 


Heilung'.  '  157 

füi-  die  pathologische  Natur  der  psychischen  Störung  bestehen  kann, 
ohne  dass  dai'uni  immer  die  Heilung  zu  erwarten  wäre.  Ja,  gerade 
in  manchen  Fällen  unheilbaren,  tief  in  der  ganzen  Anlage  des 
Menschen  wurzelnden  Irreseins  ist  eine  derartige  Selbsterkenntniss 
nicht  so  selten  vorhanden.  Darimi  bleibt  aber  die  Krankheitsein- 
sicht dennoch  fast  immer  ein  prognostisch  sehr  günstiges  Zeichen, 
namentlich  wenn  sie  mit  dem  Nachlasse  stürmischerer  Erschein- 
ungen von  selber  hervortritt.  In  manchen  Fällen  allerdings  nur 
dann,  wenn  ein  leichterer  oder  höherer  Grad  von  Schwäche  des  Ver- 
standes nebenbei  besteht,  kommt  die  Krankheitseinsicht  erst  sehr 
spät  und  zögernd  zu  Stande,  nachdem  im  üebrigen  bereits  sämmt- 
üche  Erscheinungen  der  Geistesstörung  sich  vollkommen  verloren 
haben. 

Ganz  regelmässig,  wenigstens  bei  allen  länger  dauernden  Geistes- 
störungen, geht  mit  der  fortschreitenden  Genesung  auch  eine  körper- 
liche Erholung  einher,  ausser  Zunahme  des  Gewichtes  Besserung  des 
Appetites  und  Schlafes  und  das  Gefühl  des  Wohlseins,  Anzeichen, 
die  bei  gleichzeitigem  Hervortreten  günstiger  psychischer  Veränder- 
imgen  einen  bedeutenden  prognostischen  Werth  besitzen  und  haupt- 
sächlich mit  einer  Abnahme  der  gemüthlichen  Erregimg  in  innerem 
Zusammenhange  zu  stehen  scheinen.  In  einer  kleinen  Anzahl  von 
FäUen  hat  man  das  Einti'eten  psychischer  Genesung  während 
oder  nach  einer  fieberhaften  Erkrankung  (namentlich  Typhus,  Erysipel, 
Intermittens) ,  seltener  nach  stärkeren  Blutungen  oder  Kopfverletz- 
ungen beobachtet*).  Am  häufigsten  handelt  es  sicli  dabei  natüi'lich 
um  relativ  fitische  Erkrankungen,  Melancholie,  Manie,  Amentia,  Wahn- 
sinn, aber  bisweilen  tritt  die  günstige  Wendung  auch  nach  längerer 
Dauer  und  in  prognostisch  anscheinend  aussichtslosen  Fällen  ein,  ja 
selbst  bei  ganz  alten  Yerrückten  und  Schwachsinnigen  kaim  man 
hie  und  da  während  einer  intercurrenten  Erkrankimg  die  Wahn- 
ideen ziu-ücktreten  und  einer  unerwarteten  geistigen  Regsamkeit 
Platz  machen  sehen,  hier  allerdings  immer  nur  für  kurze  Zeit.  Die 
Erklärung  derartiger  Erfahrungen  ist  dunkel;  wir  müssen  uns  mit 
der  Erwägung  begnügen,  dass  sich  hier,  wie  ja  auch  der  gelegent- 


*)  Fiedler,  Deutsches  Archiv  f.  klinische  Mediciu,  1880,  XXVI,  3;  Leh- 
mann, Allgem.  Zeitschrift  f.  Psychiatrie,  1887,  XLIII,  3;  Wagner,  Jahrb.  f. 
Psychiatrie,  1887  VII. 


158 


III.  Verlauf,  Ausgänfj;e  und  Dauer  des  Irreseins. 


lieh  kranlaiiachende  Einfluss  der  besprochenen  Ursachen  darthut, 
offenbar  mächtige  Unmälzungen  in  der  Ernährimg  der  Himiinde 
vollziehen. 

YoUständige  Heilung  einer  Geisteskrankheit  wird  im  Allgemeinen 
am  leichtesten  in  den  rüstigen  Lebensaltern  und   dort  zu  Stande 
konnnen,  wo  ein  vorübergehender  äusserer  Anlass  die  Ursache 
des  ganzen  Leidens  bildete.    Je  weniger  die  Bedingungen  der  Er- 
krankung in  dem  erkrankten  Organismus  selber  liegen,  desto  rascher 
und  vollständiger  wird  derselbe  ceteris  paribus  im  Stande  sein,  die 
Störungen  auszugleichen  und  zum  Normalzustande  zurückzukehren, 
In  der  That  sehen  wir  daher  namentlich  diejenigen  ätiologischen 
Gruppen  von  Psychosen  die  günstigste  Prognose  darbieten,  welche 
durch  stark  wü^kende,  aber  gewöhnlich  keine  dauernde  Yeränderung 
hervorbringende  Ursachen  erzeugt  werden  (Vergiftungen,  acute  Krank- 
heiten, Wochenbett,  plötzliche  Gemüthsbewegungen).  Weit  ungünstiger 
schon,  liegen  die  Yerhältnisse  dann,  wenn  die  Krankheitsursachen 
ent^veder  bleibende  organische  Störungen  hinterlassen  (Körperverletz- 
ungen, Syphilis,  Typhus  bisweilen),  oder  aber,  wenn  sie  diu'ch  längere 
Zeit  hindurch  stetig  auf  den  Menschen  einwirken  und  somit  dui'ch 
Häufimg  ihres  Einflusses  nach  und  nach  eine  tiefere  Yeränderung 
in  den  Gesammtzuständen  desselben  herbeiführen  (chronische  Ge- 
müthsbewegungen und  Krankheiten,  Alkoholismus,  Morphinismus 
u.  s.  f.).    Durch  derartige  Ursachen  wird  nicht  nm  eine  einzelne 
psychische  Erkrankung  erzeugt,  sondern  es  wird  auch  die  gesammtß 
Widerstandsfähigkeit  des  Menschen  dauernd  herabgesetzt. 

Unvollständige  Heümig.  Yon  der  Grösse  dieser  dauernden 
Störung  und  den  Einflüssen,  welchen  der  Kranke  im  weiteren  Yer- 
laufe  ausgesetzt  ist,  hängt  es  hier  ab,  wie  weit  es  möglich  ist,  eine 
Wiederherstellung  des  früheren  gesunden  Zustandes  zu  erzielen. 
Nimmt  daher  auch  der  ausbrechende  Krankheitsvorgang  selbst  einen 
günstigen  Ablauf,  so  ist  damit  doch  die  Wirkung  der  eigentlichen 
Grundursache  nicht  aufgehoben.  Es  bleibt  eine  „Disposition"  zu 
weiteren  Erkranlamgen  zurück,  die  namentlich  dann  ihren  verderb- 
lichen Einfluss  geltend  macht,  wenn  der  Genesene  sich  in  den  Be- 
reich der  alten  Schädlichkeiten  zurückbegiebt.  Er  fällt  jetzt  weit 
leichter,  bei  dem  ersten  gegebenen  Anlasse,  in  die  überstandene 
Krankheit  zurück.  Jedes  Eecidiv  steigert  wiederum  die  Dispoeition 
für    die  Folgezeit,  so   dass   immer  geringfügigere  Anstösse  ge- 


Un  vol  1  st  äiul  i     1  f  o  i  1 1 1  n  fj;. 


159 


nügen,  um  die  krankhaften  Zustände  auf's  neue  wieder  herbei- 
zuführen. 

Ganz  ähnliche  Verhältnisse,  wie  sie  sich  auf  diese  Weise  unter 
dem  Einflüsse  dauernder  oder  häufig  wiederkehrender  Ursachen 
herausbilden  können,  finden  sich  bei  ursprünglich  krankhaft  ver- 
anlagten Menschen  als  angeborene  Constitutionsanomalien  vor.  Die 
Ki-ankheitsbedingungen  sind  hier  nicht  mehr  •  ausserhalb,  sondern  in 
der  Person  selber  zu  suchen.  Es  ist  leicht  begreiflich,  dass  unter 
solchen  Umständen  voneinereigentlichenHeilungpsychischerStönmgen 
nicht  in  dem  Sinne  einer  völligen  Kückkehr  zur  Norm  die  Kede 
sein  kann,  da  ja  der  relativ  gesunde  GleichgCAvichtszustand  selbst 
nicht  als  ein  wirklich  normaler  anzusehen  ist.  Das  wichtigste  Ei- 
fordemiss  einer  jeden  Heilung,  die  Entfernung  der  Krankheitsursache, 
bleibt  ja  hier  unerfüllbar,  da  diese  letztere  eben  durch  die  ganze 
Eigenart  des  Menschen  dargestellt  wird.  Trotzdem  sehen  wir  bei 
solchen  Personen  nicht  selten  ausgeprägte  und  schwere  psychische 
Krankheitserscheinungen  mit  derselben  Geschwindigkeit  sich  wieder 
verlieren,  mit  welcher  sie  aus  unbedeutenden  Anlässen  hervor- 
gewachsen sind. 

Das  eigentlich  Auffallende  ist  dabei  mehr  die  letztere,  als  die 
erstere  Erscheinung.  Die  krankhafte  Ausgiebigkeit  der  Gleich- 
gewichtsschwankung auf  geringfügige  Kelze  lässt  wegen  .der  an-, 
scheinenden  Bedenklichkeit  der  Symptome  die  SchAvere  der  ganzen 
Erkrankung  weit  bedeutender  erscheinen,  als  sie  wirklich  ist.  "Würde 
es  doch  auch  verfehlt  sein,  etAva  aus  dem  Herzklopfen  eines  Herz- 
kranken auf  einen  gleichen  Grad  psychischer  Erregung  schliessen  zu 
wollen,  wie  wir  sie  unter  denselben  Yerhältnissen  beim  Gesunden 
vorauszusetzen  hätten!  Wir  würden  dann  erstaunt  sein,  dort  so 
rasch  völlige  Beruhigung  zu  beobachten,  wo  wir  glaubten,  es  mit 
einer  tiefen,  dauernden  Gemüthsbewegung  zu  thun  zu  haben.  Aber 
wie  in  diesem  Beispiele  der  leiseste  Anstoss  genügt,  das  Anzeichen 
der  Krankheit  sogleich  in  voller  Stärke  hervorzurufen,  wie  es  schliess- 
lich vielleicht  durch  die  blosse  Lebensarbeit  dauernd  fortbesteht,  und 
wie  das  eigentliche  Leiden  andererseits  lange  Zeit  vorhanden  sein 
kann,  ohne  gerade  lebhafte  Störungen  zu  verursachen,  so  haben  Avir 
es  auch  bei  den  psychischen  Invaliden  mit  einer  Verminderung  der 
Widerstandsfähigkeit  zu  thun,  welche  schliesslich  ohne  irgend  welchen 
besonderen  Eeizanstoss  zur  Entwickelung  abnormer  Geisteszustände 


160 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  IiTeseins. 


föliren  kann,  (iie  eine  krankhafte  Vei'ändorung  der  ganzen  Persön- 
lichkeit bedeutet,  auch  Avenn  sie  nicht  gerade  zur  Ausbildung  einer 
bestrinmten  Psychose  Veranlassung  giebt.  Die  Heilung  der  vorüber- 
gehenden Störungen  ist  daher  etwa  mit  der  BeseitigTing  eines  An- 
falles von  Palpitationen  bei  einem  Herzkranken  auf  gleiche  Stufe  zu 
stellen;  das  eigentliche  Grundleiden  besteht  dabei  unverändert  fort. 

Die  vorstehenden  Erörterungen  haben  uns  bereits  einen 
weiteren  Ausgang  psychischer  Krankheiten  kennen  gelehrt,  den  Aus- 
gang in  unvollständige  Heilung,  „Besserung"  oder  „Heilung  mit 
Defect".  Die  eigentlichen  Ki-ankheitserscheinungen  treten  auch  hier 
iin  Wesentlichen  zurück,  die  Stimmung  wird  ruhiger  und  gleich- 
mässiger,  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  verschwinden  nach  und 
nach,  aber  es  maclien  sich  die  mehr  oder  weniger  ausgeprägten  An- 
zeichen einer  Herabsetzung  der  psychischen  Leistungs-  und  Wider- 
standsfähigkeit, der  Schwäche,  bemerkbar.  Der  Reconvalescent 
denkt  zwar  formal  richtig  und  hat  auch  eine  gewisse  Einsicht  in 
seine  Krankheit,  aber  er  ist  nicht  mehr  derjenige,  der  er  fi-üher 
war;  er  hat  einen  Theil  seiner  Persönlichkeit  eingebüsst.  „Gerade 
das  Beste  und  Werthvollste  ist",  wie  Griesinger  sich  ti-effend  aus- 
drückt, „von  der  geistigen  Individualität  abgestreift."  Oft  genug 
bleibt  indessen  der  volle  Umfang  der  psychischen  Schwäche  im 
Schutze  des  Anstaltslebens  unbemerkt,  weil  an  den  Kranken  in  dem 
ruhigen,  geregelten  Tageslaufe  gar  keine  besonderen  Anforderungen 
herantreten.  Der  Versuch  einer  Entlassung  aus  der  Anstalt  ist  da- 
her die  Cardinalprobe,  welche  häufig  genug  schon  nach  kurzer  Zeit 
die  „mit  Defect  Geheilten"  von  den  völlig  Genesenen  zu  unterscheiden 
gestattet,  auch  wenn  vorher  ein  abschliessendes  Urtheil  noch  nicht 
möglich  war.  Allerdings  kommt  hier  wieder  sehr  viel  auf  die 
äusseren  Umstände  an.  Ist  die  Häuslichkeit  eine  glückliche,  die 
Vermögenslage  und  die  sociale  Stellung  günstig,  so  vermag  der 
Kranke  auch  wieder  in  das  Leben  zurückzukehren  und  in  ge- 
ordneten Verhältnissen  leidlich  seine  Stellung  auszufüllen. 
Allein  die  Thatkraft  und  Festigkeit  seines  Charakters  hat  er  ver- 
loren; schwierigen  Lebenslagen  und  drängenden  Conf liefen  ist  er 
nicht  mehr  gewachsen.  Dieser  Zustand  pflegt  den  Endstadien  der 
senilen  Psychosen,  namentlich  aber  den  Remissionen  der  Dementia 
paralytica,  selbst  den  weitgehendsten,  eigenthümlich  zu  seiu.  Als 
regelmässiger  Ausgang  ist  die  unvollkommene  WiederherstelluDg 


Unheilbarkeit. 


161 


ferner  dort  zu  betrachten,  wo  der  ganze  Krankheitsvorgang  sich 
schon  auf  dem  Boden  einer  von  vornherein  unzulänglichen  Persön- 
lichkeit abspielte.  Hier  pflegt  meist  selbst  die  frühere  Höhe  nicht 
wieder  erreicht  zu  werden,  sondern  das  Individuum  geht  noch  mehr 
geschwächt  aus  dem  Anfalle  hervor,  so  dass  bei  häufigerer  Wieder- 
holung der  Erkrankungen  auch  der  psychische  Verfall  jedesmal  eiae 
neue  Steigerung  erfährt. 

Unheilbarkeit.  Schon  die  Heilung  mit  Defect  bedeutet  die  Ent- 
stehimg einer  unheilbaren  Yeränderung  in  der  Gesammtconstitution 
der  Person,  aber  diese  Yeränderung  besteht  in  einer  einfachen,  mehr 
oder  weniger  hochgradigen  Herabsetzung  der  psychischen  Leistungs- 
und Widerstandsfähigkeit,  ohne  eine  qualitative  Umwälzung  in  dem 
Wesen  und  der  Keactionsweise  des  Erkrankten  zu  bedingen.  Man 
kann  daher  weiterhin  noch  einen  Ausgang  in  Unheilbarkeit 
unterscheiden,  der  entweder  das  unveränderte  Andauern  der  einmal 
vollzogenen  krankhaften  Wandlung,  oder  aber  den  Eortschritt  der- 
selben bis  zum  völligen  Zerfall  der  psychischen  Persönlichkeit  be- 
deutet. Das  erstere  ist  der  Eall  bei  manchen  periodischen  und  nament- 
lich bei  den  continuirlich  verlaufenden  circulären  Psychosen,  sowie  bei 
jenen  constitutionellen  Formen  der  Verrücktheit,  in  denen  eia  langsam 
entwickeltes  Wahnsystem  ohne  wesentliche  Zunahme  der  psychischen 
Schwäche  dauernd  festgehalten  wird.  Völlig  stationär  freilich  pflegt 
auch  hier  der  Krankheitszustand  niemals  zu  bleiben,  und  einem  auf- 
merksamen Beobachter  wird  die  Abnahme  der  psychischen  Leistungs- 
fähigkeit innerhalb  längerer  Zeiträume  kaum  entgehen;  schon  der 
abstumpfende  Einfluss  des  monotonen  Anstaltsaufenthaltes  muss  sich 
vielfach  in  dieser  Eichtung  geltend  machen.  Auch  nach  manchen 
acuten  Psychosen,  besonders  depressiven  Eormen,  beobachtet  man 
die  Rückkehr  zu  einer  Art  dauernden  Gleichgewichtszustandes  mit 
den  Erscheinungen  der  psychischen  Schwäche  und  einzelnen  sonstigen 
TJeberbleibseln  aus  der  Krankheitszeit.  Sie  büden  gewissermassen 
den  Uebergang  zu  den  Heilungen  mit  Defect.  Interessant  sind  hier 
namentlich  manche  Ausgänge  des  haUucinatorischen  Wahnsinns]  und 
der  Amentia  mit  mässigen  Graden  der  Schwäche. 

Diese  Kranken  sind  fähig,  sich  in  einfachen  Verhältnissen  ohne 
erhebliche  Schwierigkeit  zurechtzufinden,  sich  zu  beschäftigen, 
und  besitzen  auch  eine  gewisse  oberflächliche  Krankheitsein- 
sicht,  so  dass  sie  von  ihrer  Umgebung  zeitweise   für  nahezu 

Kraepolin,  Psj-chiatrie.  4.  Anfl.  11 


162 


!in.    Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


gesund  gehalten  werden  können.  Bei  den  geringfügigsten  Anlässen 
jedoch  treten  die  alten  Sinnestäuschungen  wieder  hervor,  und  nun 
lassen  sich  die  Eianken,  ein  Zeichen  ihrer  unzulänglichen  geistigen 
und  gemüthlichen  Widerstandsfähigkeit,  vorübergehend  gänzlich  von 
denselben  beherrschen,  bis  nach  einigen  Stunden  oder  Tagen  die  Auf- 
regung vorüber  und  Alles  rasch  wieder  vergessen  ist,  ohne  irgendwie 
wahnhaft  verarbeitet  zu  werden. 

Allen  diesen  nur  sehr  langsam  sich  ändernden  Zuständen  kann  man 
mitEecht  den  eigentlich  progressiven  Krankheitsverlauf  gegenüber- 
stellen, wie  er  bei  gewissen  Formen  des  periodischen  und  epileptischen 
Irreseins,  bei  den  meisten  ungeheilten  Fällen  der  acuten  Psychosen,  bei 
der  Hebephrenie  und  den  verwandten  Krankheitszuständen,  namentlich 
aber  in  der  Paralyse  typisch  zur  Beobachtung  gelangt.  Diese  Entwickel- 
img  wird  meist  dadurch  eingeleitet,  dass  zunächst  die  Stärke  der  dau- 
ernden gemüthlichen  Erregung  abnimmt,  während  sich  die  begleitenden 
intellectuellen  Störungen  überhaupt  nicht  oder  doch  nicht  vollständig 
zurückbilden,  sondern  inForm  tiefgreifender  Beschränktheit  undKritlk- 
losigkeit,  widerspruchsvoller  und  zusammenhangsloser  Wahnideen  oder 
völliger  Yerwin-theit  bis  zum  tiefsten  Blödsinn  bestehen  bleiben.  Natüi- 
lich  vollzieht  sich  dieser  Yorgang  einer  fortschreitenden  Yernichtung 
der  ursprünglichen  Persönlichkeit,  den  man  mit  dem  Namen  der 
Yerblödung  zu  bezeichnen  pflegt,  je  nach  der  Form  der  G-eistes- 
störung,  welche  er  abschliesst,  in  symptomatisch  verschiedener  Weise 
und  namentlich  in  sehr  verschiedenen  Zeiträumen.  Bei  den  affectiven 
Psychosen  pflegen  Andeutungen  der  früheren  Gemüthsschwankimgen, 
zeitweise  Auiregungen  oder  Depressionen,  auch  späterhin  dem 
Schwachsinne  noch  ein  bestunmtes  Gepräge  zu  verleihen,  namentlich 
im  mimischen  Ausdrucke,  und  ebenso  können  sich  Beste  früherer 
Wahnideen  bisweilen  noch  Jahrzehnte  nach  dem  Eintritte  der  Yer- 
blödung im  Bewusstsein  erhalten.  Nur  bei  der  Paralyse  verschwindet 
binnen  verhältnissmässig  knrzer  Zeit  oft  auch  die  letzte  Spur  der 
früher  vielleicht  iji  Ueberfülle  erzeugten  Ki-ankheitsproducte. 

Tod.  Die  letzte  Form  des  Ausganges,  welchen  die  Geistes- 
störung nehmen  kann,  ist  der  Tod.  Ohne  Zweifel  wii'd  die  Mortalität 
durch  die  psychische  Erkrankung  beträchtlich  gesteigert;  sie  ist  bei 
Irren  etwa  fünfmal  so  gross,  als  bei  der  erwachsenen  geistesgesunden 
Bevölkerung.  Dabei  ist  die  Fi-age,  ob  eine  psychische  Erkrankung 
an  sich  zum  Tode  fuhren  könne,  wie  diese  oder  jene  körperliche 


Tod. 


163 


Krankheit,  dabin  zu  beantworten,  dass  zwar  uicbt  die  Psychose,  als 
eine  rein  symptomatisch  aiifgefasste  Erscheinung,  wol  aber  der 
Ki-ankJieitsvorgang  tödten  kann,  dessen  psychopathischen  Ausdruck 
die  Geistesstörung  darstellt;  ähnlich  betrachten  wir  ja  nicht  die 
Albuminurie,  sondern  die  Nephritis,  welche  ihr  zu  Grunde  liegt,  als 
die  Ursache  eines  gegebenen  Todesfalles.  Der  wichtigste  aller  der- 
artigen krankhaften  Processe  ist  die  dilfuse, .  chronische  Degeneration 
der  Hirnrinde,  welche  die  Grundlage  der  Dementia  paralytica  büdet. 
Die  fortschreitende  Lcähmung  der  nervösen  Centraiorgane  ist  es  hier, 
welche  entweder  unmittelbar,  im  paralytischen  Anfalle,  oder  durch 
die  Yermittelung  von  Decubitus,  Schluckpneumonien,  septischen 
Phlegmonen  u.  dergl.  den  tödtlichen  Ausgang  herbeiführt.  Femer 
können  syphilitische  Hirnerkrankungen,  Geschwülste,  embolische 
Processe  aus  verschiedenen  Ursachen,  wie  sie  die  Erscheinungen 
einer  psychischen  Störung  erzeugen,  im  weiteren  Yerlaufe  dem  Leben 
ein  mehr  oder  weniger  jähes  Ende  bereiten. 

Auf  indirectem  "Wege  wird  der  Tod  durch  die  psychische  Eö-ank- 
heit  verursacht,  wenn  nicht  das  Gehirnleiden,  sondern  einzelne 
Symptome  der  psychischen  Störung  das  Ende  heraufbeschwören. 
Yor  Allem  ist  hier  die  Neigung  zum  S  elbstmorde  zu  nennen,  wie 
sie  sich  so  häufig  aus  depressiven  Wahnideen  oder  Stimmungen  heraus- 
entwickelt. In  ihr  haben  wir  es  mit  einer  äusserst  verhängnissvoUen 
und  praktisch  überaus  wichtigen  Erscheinung  des  Irreseins  zu  thun, 
die  bei  schlechter  Ueberwachung  zahlreiche  Opfer  fordert.  Nächstdem 
ist  es  die  Nahrungsverweigerung,  dann  die  bis  zur  äussersten 
Erschöpfung  andauernde  Unruhe  und  Schlaflosigkeit  mancher 
Kranker,  schwerer  Yerlauf  chirurgischer  Yerletzungen  wegen 
der  UnmögKchkeit  einer  geeigneten  Behandlung,  welche  als  Todes- 
ursachen bei  Geisteskranken  genannt  werden  müssen. 

Endlich  aber  ist  es  eine  sehr  bemerkenswerthe  Thatsache,  dass 
auch  die  Ausbildung  gewisser  körperlicher  Erkrankungen  durch  die 
psychische  Störung  begünstigt  wird.  Namentlich  die  Phthise  fordert 
in  Irrenanstalten  die  fünffache  Zahl  von  Opfern,  wie  bei  Geistes- 
gesunden. Das  kasernenhafte  Leben,  die  häufig  bestehende  Ueber- 
füllung,  die  ausgiebige  Gelegenheit  zur  Infection,  namentlich  aber  die 
Stumpfheit  so  vieler  Kranker  und  die  damit  verknüpfte  Herabsetzung 
der  Athmungs-  und  Kreislauf sthätigkeit  sind  wol  in  erster  Linie  für 
dieses  Yerhalten  verantwortlich  zu  machen;  ob  sonst  noch  in  den 

11* 


164 


in.  Verlaiif,  Ausgänge  und  Dauer  des^  Irreseins. 


Störungen  des  Hirnlebens  als  solchen  gerade  Momente  liegen,  welche 
eine  besondere  Disposition  zu  diesen  oder  jenen  körperlichen  Erkrank- 
ungen („auf  trophoneurotischem  "Wege'')  setzen,  dürfte  recht  zweifel- 
haft sein.  Jedenfalls  ist  die  Gesammtconstitution  und  die  Lebensweise 
der  Kranken  von  weit  erheblicherer  Bedeutung. 

C.   Daner  des  Irreseins. 

Die  Dauer  psychischer  Störungen  bietet  sehr  weitgehende 
Yerschiedenheiten  dar.  "Wo  die  Psychose  ihre  EntstehuBgsbediuguDgen 
im  Menschen  selbst  besitzt,  da  dauert  sie  das  ganze  Leben  hindurch; 
je  mehr  sie  dagegen  Yon  äusseren  Ursachen  abhängig  ist,  und  je 
rascher  und  vorübergehender  die  "Wirkung  derselben  ausfällt,  desto 
kürzer  ist  die  Dauer  der  Krankheit.  Keberdelirien,  Yergiftungs- 
delirien,  CoUapsdelirien  können  nach  wenigen  Tagen,  Stunden,  ja 
Minuten  schon  wieder  verschwinden.  Aber  auch  bei  neuropathischen 
Personen,  bei  Epileptikern,  Hysterischen  werden  „Anfälle"  von  psy- 
chischer Störung  beobachtet,  die  nur  eine  äusserst  kurze  Dauer  aufzu- 
weisen haben.  Hier  ist  jedoch,  wie  schon  früher  ausgeführt,  zu  beachten, 
dass  dieselben  gewissermassen  nur  vorübergehende  Yerschlimmerungen 
eines  an  sich  schon  abnormen,  lange  dauernden  Zustandes  darstellen, 
wenn  derselbe  auch  für  gewöhnlich  nicht  in  auffallenden  Erankheits- 
erscheinungen  hervortritt.  Im  Allgemeinen  zeigen  die  Psychosen 
trotz  der  genannten  Ausnahmefälle  eine  beträchtlich  längere  Dauer, 
als  durchschnittlich  [körperliche  Krankheiten,  so  dass  hier  die  Ab- 
grenzung der  acuten;  und  chronischen  Pormen  nach  einem  anderen 
Massstabe  zu  geschehen  pflegt.  Selbst  bei  frischen  Erkrankungen 
zieht  sich  der  Yerlauf  in  der  Eegel  über  eine  Eeihe  von  Monaten 
hin;  Eälle  bis|zur  Dauer  eines  Jahres  werden  daher  häufig  noch 
als  acute  oder  subacute  bezeichnet.  Lnmerhin  pflegt  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  überhaupt  heilbaren  Psychosen  innerhalb  des  ersten 
Jahres  den  günstigen  Ausgang  zu  nehmen.  Heilungen  nach  mehr 
als  zweijähriger  Dauer  der  Krankheit  sind  schon  ziemlich  selten, 
doch  kommen  solche  Ausnahmefälle  in  sinkender  Zahl  selbst  nach 
fünf,  acht  und  zehn  Jahren  noch  vor,  ja  es  werden  ganz  vereinzelte 
Beobachtungen  berichtet,  in  denen  nach  einem  Anstaltsaufenthalte 
von  zwei  Decennien  noch  eine  unerwartete  Genesung  sich  einstellte.*) 

*)  Luys,  L'Encepiale  1883,  3;  Marandon  d e  Montyel,  Irchives  de  neurologie 
1884,  22;  Gucci,  Lo  Sperimentale,  1888,  Aprile. 


Dauer  des  Irreseins, 


165 


In  derartigen  Fällen  dürfte  es  sich  allerdings  wol  nur  um  „Heilungen 
mit  Defect"  handeln.  Ausser  der  Form  der  Psychose  und  der  Persön- 
lichkeit des  Erkrankten  ist  auf  die  Dauer  derselben  zweifellos  auch 
die  Behandlung  von  Einüuss.  Je  früher  G-eisteskranke  in  eine  ge- 
eignete Umgebung,  in  die  Anstalt  gebracht  werden,  desto  rascher 
vollzieht  sich  unter  sonst  gleichen  Umständen  der  Ablauf  der 
psychischen  Störung,  und  desto  günstiger  sind  gleichzeitig  die  Aus- 
sichten auf  eine  möglichst  vollständige  Genesung. 


lY.   Allgemeine  Diagnostik. 


Die  Beantwortung  der  Frage  nach  dem  Yorhandensein  einer 
Geistesstörung  im  einzelnen  Falle  setzt  vor  Allem  die  Beschaffung  des 
thatsächlichen  Materiales  voraus,  welches  uns  von  der  Geschichte 
und  dem  Zustande  der  gesammten  Persönlichkeit  ein  möglichst  Marcs 
und  vollständiges  Bild  zu  vermitteln  geeignet  ist.  Die  Gesichts- 
puntte  für  die  Yerarbeitung  dieses  Materials  liefert  uns  dann  die 
Minische  Erfahrung,  und  sie  ist  es  auch,  welche  uns  in  den  Stand 
setzt,  die  eigenthümlichen  Fehlerquellen  zu  vermeiden,,  welchen  ge- 
rade bei  der  Beobachtung  und  Beurtheüung  psychopathischer  Zu- 
stände nicht  zu  selten  eine  verhängnissvolle  Eolle  zukommt.  Die 
Aufgabe  der  allgemeinen  Diagnostik  lässt  sich  somit  nach  drei  ver- 
schiedenen, aber  in  innigem  Zusammenhange  mit  einander  stehenden 
Eichtungen  hin  präcisiren:  sie  hat  die  klinischen  Untersuchungs- 
methoden auszubilden,  die  allgemeinen  Kriterien  des  Irre- 
seins festzustellen  und  endlich  die  Erkennung  der  Simulation  und 
Dissimulation  zu  ermöglichen. 

A.  Untersuclmiigsmetliodeii.*) 

Den  nächsten  und  wichtigsten  Anhaltspunkt  für  die  Erkennung 
einer  Psychose  geben  uns  naturgemäss  die  Symptome  und  der 
Yerlauf  derselben;  für  ein  weitergehendes  Yerständniss  ist  aber 
immer  auch  die  Eenntniss  der  äusseren  und  inneren  Drsachen 
erforderlich,  aus  denen  heraus  sich  die  Erscheinungen  entwickelt 
haben.  Das  Endziel  der  Minischen  Untersuchung  ist  daher  nicht 
nur  die  Feststellung  der  etwa  vorhandenen  Anzeichen  geistiger 
Störung,  sondern  auch  die  Auffindung  derjenigen  Anhaltspunkte 
welche  in  ätiologischer  Beziehung  von  Bedeutung  sein  könnten.  Die 
Hülfsmittel,  welche  ihr  für  alle  diese  Zwecke  zu  Gebote  stehen,  sind 


*)  Morselli,  Manuale  cU  semeiotica  delle  malattie  mentali.  1885. 


Anamnese. 


167 


einmal  die  rückscliauende  Betrachtung'  des  Yorlebens  bis  in  frühere 
Generationen  hinein,  die  Anamnese,  Aveiterhin  die  eingehende 
Prüfung  des  gesammten  körperlichen  und  psychischen  Verhaltens  in 
einem  gegebenen  Augenblicke,  die  Aufnahme  des  Status  praesens, 
ferner  die  fortgesetzte  Beobachtung,  und  endlich  in  vereinzelten 
Fällen  auch  die  Erhebung  eines  Leichenbefundes. 

Anamnese.  Die  erste  Frage  richtet  sich  auf  die  Erblichkeits- 
Terhältnisse  im  weitesten  Sinne.  "Wer  hier  zuverlässige  Angaben  er- 
halten will,  wird  gut  thun,  mit  seiner  Prüfung  möglichst  in  das 
Einzelne  einzugehen  und  sich  nicht  mit  allgemeinen  Antworten  zu 
begnügen.  Ausserdem  empfiehlt  es  sich,  verschiedene  Angehörige, 
vielleicht  auch  den  Untersuchten  selbst,  gesondert  auszufragen,  da  oft  ge- 
nug unabsichtlich,  aus  TJnkenntniss  oder  Mangel  an  Verständniss,  bis- 
weilen sogar  absichtlich,  wichtige  Thatsachen  verschwiegen  werden. 
In  nicht  wenigen  Fällen  giebt  die  persönKche  Bekanntschaft  mit  den 
verschiedenen  Familiengliedern  (absonderliche  Vornamen)  dem  ge- 
übten Beobachter  schon  an  sich  genügendes  Material  zur  Beurtheil- 
ung  der  hereditären  Verhältnisse  an  die  Hand.  Völlige,  dauernde 
Einsichtslosigkeit  mit  rührendem  Optimismus  bei  den  tiefgreifendsten 
Störungen  ihrer  Kranken,  Kritiklosigkeit  gegenüber  deren  "Wahnideen, 
übertriebene  oder  affectirte  Aengstlichkeit,  unsinniges  Misstrauen 
gegen  die  Anstalt  und  deren  Einflüsse,  Neigung  zu  allen  möglichen 
Quacksalbereien  und  kindischen  Einmischungen  in  die  Behandlung, 
auf  der  anderen  Seite  Gleichgültigkeit,  ja  Eohheit  sind  nicht 
seltene  charakteristische  Züge  bei  den  „Angehörigen"  degeneiirter 
Kranker. 

Bei  der  historischen  Verfolgung  des  individuellen  Lebens  wird 
man  naturgemäss  sein  Augenmerk  der  Eeihe  nach  auf  alle  jene 
Schädlichkeiten  zu  richten  hab  en ,  welche  wir  früher  als  mö  glich  e  Ursach  en 
des  Irreseins  kennen  gelernt  haben.  Für  die  Zeit  des  inti-autertiien 
Daseins  haben  wir  auf  schwere  Gemüthsbewegungen ,  erschöpfende 
Krankheiten  oder  sonstige  Schädigungen  des  mütterlichen  Organismus 
Kücksicht  zu  nehmen.  "Weiterhin  sind  von  Wichtigkeit  der  Verlauf 
der  Geburt,  Infectionskrankheiten  oder  Gehimleiden  (Krämpfe,  Lähm- 
ungen) im  ersten  Kindesalter,  Entwickelungsstörungen,  die  Einflüsse 
der  Erziehung  und  für  das  spätere  Leben  die  ganze  Keihe  jener 
persönlichen  Schicksale,  welche  das  psychische  Gleichgewicht  zu  er- 
schüttern oder  dauernd  zu  vernichten  im  Stande  sind,  vor  allem  die 


168 


IV.   Allgemeine  Diagnostik. 


mannigfachen  physiologischen  und  krankhaften  Umwälzungen  auf 
dem  Gebiete  des  körperlichen  Organismus,  die  Ausschreitungen,  die 
Entbehrungen,  die  depriniirenden  Affecte.  Oft  genug  freilich  bleibt 
das  Forschen  nach  eiaer  bestimmteren  Ursache  vollkommen  resultatlos, 
sei  es,  dass  überhaupt  kein  greifbarer  äusserer  Anstoss  zur  Ent- 
wickelung  des  Irreseins  vorhanden  war,  sei  es,  dass  er  nicht  beachtet 
wurde  oder  doch  für  die  Erklärung  sich  als  durchaus  ungenügend 
erweist.  So  werden  von  der  Umgebung  nicht  selten  solche  Vor- 
kommnisse als  Ursache  der  Psychose  angesehen,  welche  sich  bei 
näherer  Betrachtung  unzweifelhaft  als  die  Anzeichen  der  bereits  aus- 
gebrochenen Störung  darstellen,  z.  B.  die  Excesse  des  Paralytikers, 
die  unglückliche  Liebe  des  erotisch  Verrückten,  die  Selbstbeschuldig- 
ungen des  Melancholikers  u.  s.  f. 

Ausser  den  Ursachen  hat  die  Anamnese  selbstverständlich  die 
etwaigen  Erscheinungen  des  Irreseins  in  der  Vergangenheit  und 
weiterhin  deren  Verlauf  und  Dauer  zu  untersuchen.  Auch  zu  diesem 
Zwecke  greift  sie  bis  in  die  erste  Jugendzeit  zurück.  Die  Schnellig- 
keit der  körperlichen  und  geistigen  Entwickelung  (Gehen,  Sprechen, 
Lesen),  die  geistige  Befähigung  (Schulzeugnisse)  und  moralische  Ver- 
anlagung, das  Temperament,  der  Charakter,  die  persönlichen  Neig- 
ungen und  deren  Ausbildung,  namentlich  auch  das  Verhalten  im 
Pubertätsalter  (Masturbation)  haben  unter  diesem  Gesichtspunkte  für 
uns  Interesse.  Von  der  grössten  Bedeutung  aber  ist  natürlich  die 
Feststellung  desjenigen  Zeitpunktes,  an  welchem  eine  unverkennbar 
krankhafte  Veränderung  im  Seelenleben  sich  einstellte.  Gerade  in 
dieser  Hinsicht  ist  der  Arzt  den  allergröbsten,  zumeist  unabsicht- 
lichen Täuschungen  ausgesetzt.  Fast  bei  allen  chronisch  verlailfen- 
den  Psychosen  wird  die  Erkrankung  längere  Zeit  hiudurch  verkannt 
und  ihr  Beginn  daher  viel  später  angenommen,  als  er  wirklich  statt- 
fand. Erst  bei  eingehendem  Befragen  erfähi't  man  dann,  dass  doch 
auch  vor  dem  bezeichneten  Termine,  oft  Monate  und  Jahre  vorher, 
schon  diese  oder  jene,  nicht  weiter  beachteten  Anzeichen  |der  Stör- 
ung vorhanden  waren,  dass  die  ersten  krankhaften  Spuren  vielleicht 
schon  bis  in  die  früheste  Jugend  zurückreichen.  Gebildete  Leute 
sind  in  dieser  Beziehung  vielfach  nicht  bessere  Beobachter,!]  als 
Ungebildete. 

Die  genauere  anamnestische  Erhebung  der  Symptome  des  Irre- 
seins setzt  natürlich  eine  vollständige  Kenntniss  der  einzelnen  Krank- 


Status  praesens. 


169 


heitsformen  voraus.  Schon  aus  den  erstea  allgemeinen  Angaben 
über  die  Aetiologie,  über  die  chronische  und  acute  Entwickelung, 
über  das  Bestehen  von  Sinnestäuschungen,  "Wahnideen,  Q-edächtniss- 
und  Intelligenzstörungen,  depressiven  und  expansiven  Yerstimmungen, 
körperlichen  und  besonders  nervösen  Anomalien,  über  den  stationären, 
progressiven,  intermittirenden,  cii'culären  Verlauf,  ergiebt  sich  zu- 
meist bald  der  Verdacht  auf  eine  bestimmte  klinische  Erkraukungs- 
form,  der  dann  durch  Eingehen  auf  das  Einzelne  weiter  begründet 
oder  widerlegt  werden  kann.  Für  praktische  Zwecke  und  in  der 
Hand  des  Erfahrenen  ist  diese  zunächst  nach  einer  allgemeinen 
Orientirung  suchende  Methode  der  anamnestischen  Forschung  un- 
gleich zweckmässiger,  als  die  methodische  Erledigung  eines  bereiten 
Schemas,  welches  alle  überhaupt  möglichen  Erscheinungen  des  Irre- 
seins umfasst.  Weniger  belangreich  für  die  Diagnose,  dafür  aber 
um  so  wichtiger  für  die  Behandlung  sind  endlich  die  nie  zu 
unterlassenden  Fragen  nach  der  Neigung  zu  gemeingefährlichen 
Handlungen,  [zur  ^Tahrungs  Verweigerung  und  namentlich  zum 
Selbstmorde. 

Status  praesens.  Wenn  auch  die  Anamnese  vielfach  schon 
hinreichende  Anhaltspunkte  liefert,  um  mit  grosser  Wahrscheinlich- 
keit nicht  nur  eine  Greistesstörung  überhaupt,  sondern  die  besondere 
Form  derselben  diagnosticiren  zu  können,  so  ist  doch  für  die  Ab- 
gabe eines  ärztlichen  Urtheils  die  persönliche  Untersuchung  auch  in 
den  anscheinend  einfachsten  Fällen  ebenso  unab weisliches  Er- 
forderniss,  wie  bei  irgend  einer  somatischen  Erkrankung.  Der 
innige  Zusammenhang  zwischen  psychischen  und  körperlichen  Stör- 
ungen wird  uns  dabei  zur  Berücksichtigung  auch  dieser  letzteren 
veranlassen,  da  wir  in  ihnen  nicht  selten  Aufschlüsse  über  die  Ursachen 
des  Irreseins,  oder  aber  klinisch  wichtige  Begleiterscheinungen  des- 
selben aufzufinden  erwarten  dürfen. 

Die  somatische  Untersuchung  wird  zunächst  den  allgemeinen 
Zustand  des  Körpers  ins  Auge  zu  fassen  haben.  Missverhält- 
nisse zwischen  Lebensalter  und  Aussehen  (pueriler  Habitus,  Senium 
praecox),  das  Verhalten  desKörperwachsthums,(Zwergwuchs,Kyphosen, 
graciler  Bau,  Akromegalie),  der  Ernährung  (Anaemie,  Fettpolster, 
Hautfarbe),  der  Kräfte  (Musculatur),  das  Vorhandensein  von  Ent- 
wickelungsanomalien  (Spina  bifida,  Hasenscharte,  Wolfsrachen, 
Kryptorchismus,  Missbildungen  der  Ohren,  Zähne,  Grenitalien),  Struma, 


170 


IV.  Allgemeine  Diagnostik. 


Myxödem  u.  dergl.  können  "werthvolle  Fingerzeige  für  die  ätiologische 
Beurtheilung  des  Falles  abgeben.  Einige  jener  Bildungsfehler  werden, 
wie  früher  angeführt,  vielfach  direct  als  ..Degenerationszeichen"  an- 
gesehen. Allerdings  wird  man  bei  der  Yeiwerthnng  derselben  mit 
Vorsicht  zu  verfahren  haben  und  ihnen  nur  in  Verbindung  mit 
anderen,  gewichtigeren  Beweisgründen  eine  weiterreichende  Be- 
deutung zugestehen  dürfen. 

Unzweifelhaft  der  wichtigste  Theil  des  körperlichen  Status 
praesens  ist  der  Zustand  des  Nervensystems,  speciell  des  Ge- 
hirns, welches  freilich  am  Lebenden  unserer  Beurtheilung  nur 
wenige  Angriffspunkte  darbietet.  Ton  der  Grösse  des  Gehirns 
vermag  uns  die  Kranicmetrie,  namentlich  nach  der  von  Eieger 
ausgebildeten  Methode,  ein  ungefähres  Bild  zu  verschaffen,  dem 
indessen  alle  jene  Fehlerquellen  anhaften,  welche  in  dem  unvoll- 
kommenen Barallelismus  der  Schädel-  und  Hirn  Oberfläche  ihren 
Ursprung  haben.  Unmittelbare  psychiatrische  Wichtigkeit  besitzen 
daher  nur  diejenigen  Yerbildungen  des  Schädels  in  Form  und 
Grösse,  welche  unzweifelhaft  über  den  Bereich  jener  Fehlerquellen 
hinausgehen;  alle  feineren,  erst  mit  Hülfe  genauer  Messungen  fest- 
stellbaren Abweichungen  können  höchstens  die  allgemeine  Yermuth- 
ung  begründen,  dass  mit  ihnen  vielleicht  auch  Störungen  in  der 
Hirnentwickelung  einhergehen.  Sehr  beachtenswert  sind  dagegen 
die  Spuren  früherer  Traumen,  Narben,  Impressionen  und  dergl.,  da 
sie  bisweilen  den  einzigen  Schlüssel  für  das  Verständniss  sonst 
räthselhafter  Krank heitsbild er  abzugeben  im  Stande  sind. 

Ueber  die  Circulationsverhältnisse  des  Gehirns  vermag  uns  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  die  Betrachtung  benachbarter  Gefässbezirke, 
des  Gesichtes  und  vor  Allem  des  Auges  Aufschluss  zu  geben.  Für 
die  Hirnpathologie  ist  die  ophthalmoskopische  Untersuchung  bekannt- 
lich ein  überaus  wichtiges  Hülfsmittel  geworden.  Bei  Geisteskranken 
dagegen  sind  ihre  Ergebnisse  leider  noch  allzu  unsichere  geblieben, 
als  dass  man  ihr  heute  einen  praktischen  Werth  für  die  Diagnostik 
zuerkennen  könnte.  Ob  hier  andere  Methoden,  die  Theimometiie 
und  die  Auscultation  des  Kopfes,  bessere  Ergebnisse  liefern  werden, 
muss  der  Zukunft  überlassen  bleiben. 

Yon  durchschlagender  Bedeutung  für  die  Beurtheilung  des  Ge- 
hirnzustandes ist  dagegen  die  Prüfung  seiner  Functionen.  Sehen 
wir  zunächst  ab  von  den  psychischen  Symptomen,  so  werden  wir 


Status  praesens. 


171 


in  erster  Linie  die  Sinnesorgane  zw  nnter?.uchen  haben.  Freilich 
ist  es  hier,  namentlich  beim  Gehör,  oft  recht  schwierig,  ja  unmöglich, 
periphere  Ursachen,  der  etwa  anfgefnndenen  Störungen  mit  Sicher- 
heit auszuschliessen.  Ausser  eingehender  Functionsprtifung  der 
Sinnesorgane  und  ihrer  Besichtigung  mit  dem  Spiegel  kann  ins- 
besondere beim  Ohr  noch  die  elektrische  Untersuchung  des  Acusticus*) 
in  Frage  kommen,  -welche  bisweilen  bemerkenswerthe  Abweichungen 
Ton  der  Brenner'schen  Normalreactionsformel  zu  Tage  fördert. 
Bereits  weit  in  das  psychische  Leben  hinein  reichen  jene  centralen 
Störungen  der  Sinnesthcätigkeit,  die  man  als  „Worttaubheit"  und 
„Seelenblindheit"  bezeichnet  hat.  Allerdings  wird  hier,  namentlich 
bei  der  Seelenblindheit,  auch  die  Diagnose  der  Gehiinläsion  eine 
ziemlich  unsichere.  Einigeimassen  fester  wird  der  Boden  unter 
unseren  Füssen  wieder  auf  dem  Gebiete  der  aphasischen  und  der 
ihnen  verwandten  Störungen.**) 

Nach  der  motorischen  Seite  hin  haben  wir  zunächst  die 
InnerTation  der  Pupille,  der  Augenmuskeln,  der  mimischen 
Musculatur  und  der  Zunge  zu  beachten.  Fernerhin  aber .  pflegen 
bekanntlich  auch  gewisse  Formen  des  Krampfes  (Eindenepilepsie, 
Athetose)  und  der  Lähmung  (spastische  Lähmung  mit  Contractur), 
dann  manche  Coordinationsstörungen  complicirter  "Willkürbeweg- 
ungen, des  Gehens,  Stehens,  namentlich  aber  des  Sprechens  und 
Schreibens,  mehr  oder  weniger  bindende  Eückschlüsse  auf  den  Zu- 
stand der  nervösen  Centraiorgane,  speciell  des  Gehirnes,  zu  ermög- 
lichen. Andere  motorische  Störungen,  die  epileptischen  und  hyste- 
rischen Krämpfe,  die  hysterischen  Lähmungen  weisen  uns  meist  so- 
gar unmittelbar  auf  eine  bestimmte,  freilich  auch  nur  symptomatische 
Diagnose  hin.  Ausserdem  giebt  es  aber  noch  eine  grosse  Klasse 
von  InneiTationsanomalien,  welche  in  mehr  oder  weniger  nahen 
Beziehungen  zu  dem  Yerhalten  des  Seelenlebens  zu  stehen  scheinen, 
da  sie  bei  den  Hirnerkrankungen  im  engeren  Sinne  ohne  psychische 
Störung  nur  ausnahmsweise  beobachtet  werden.  Dahin  gehört 
namentlich  jene  reflectorische  Befehlsautomatie  aller  Muskelgruppen, 
welche  zur  flexibilitas  cerea  führt  (Katalepsie),  ferner  die  Stereotypie 

*)  Chvostek,  Beiträge  zur  Theorie  der  HalluciDaticn.  Jahrb.  f.  Psychiatrie, 
XI.,  3. 

**)  Ballet,  die  iimerHche  Sprache  und  die  verschiedenen  Formen  der  iphasie. 
deutsch  V.  Bongers,  1890. 


1'j2  >  .IV.  Allgemeine  Diagaostik. 


in  Stellung  und  Bewegung  der  Glieder.  Ihrer,  wie  der  ver- 
schiedenen Arten  von  Zwangs-  und  automatischen  Bewegungen,  die 
bisweilen  sehr  bizarre  G-estaltang  annehmen  können,  warde  früher 
bereits  kurz  gedacht;  ihnen  schliessen  sich  endlich  noch  eine  Reihe 
verwickelterer  Störungen  der  Stimme,  der  Sprache,  der  Trieb-  und 
"Willkürbewegungen  an,  die  leider  im  Zusammenhange  immer  noch 
wenig  studirt  worden  sind.*) 

Der  Untersuchung  der  cerebralen  schliesst  sich  eng  diejenige 
der  spinalen  Functionen,  des  Sympathicus  und  endlich  der 
peripheren  Nerven  an,  um  so  enger,  als  ja  selbst  heute  noch 
nicht  immer  die  Ursache  einer  krankhaften  Erscheinung  streng  in 
einem  der  grossen  Abschnitte  des  Nervensystems  localisirt  werden 
kann.  Die  Prüfung  des  Haut-  und  Muskelsinnes  im  weitesten  Um- 
fange, der  Sensibilität  in  ihren  verschiedenen  Qualitäten,  der  Schmerz- 
empfindlichkeit, elektrischen  und  mechanischen  Erregbarkeit,  der 
Motilität  in  willkürlichen  und  unwillkürlichen  Muskeln,  der  Reflexe, 
endlich  der  vasomotorischen,  trophischen,  secretorischen  Functionen 
wird  daher  regelmässig  den  Status  praesens  des  nervösen  Central- 
organes  zu  vervollständigen  haben. 

Nur  mittelbar,  auf  dem  Wege  vielgliedriger  Schlussfolgerangen, 
kann  uns  natürlich  die  Untersuchung  des  übrigen  Körpers  zu 
einer  Diagnose  krankhafter  Vorgänge  im  Bereiche  des  Nervensystems 
verhelfen,  insofern  wir  in  den  aufgefundenen  Veränderungen  ent- 
weder Ursachen,  oder  aber  einfache  Begleiterscheinungen  vor  uns 
haben  können.  So  werden  wir  uns  erinnern,  dass  schwere  allgemeine 
Ernährungsstörungen  (acute  Krankheiten,  Kachexien,  chronische  In- 
fectionen  und  Vergiftungen)  häufig  genug  die  Grundlage  psychischer 
Erkrankungen  büden,  andererseits  aber,  dass  jede  acute  Psychose 
mit  durchgreifender  Beeinträchtigung  des  Appetites,  des  Schlafes  und 
des  gesammten  Stoffwechsels  einherzugehen  pflegt. 

Selbstverständlich  kann  aber  auch  die  körperliche  Veränderung 
im  einzelnen  Falle  ganz  zufällig  mit  psychischer  Erkrankung  zu- 
sammenfallen. G-leichwol  wird  zur  vollen  Würdigung  der  Sachlage 
eine  möglichst  sorgfältige  Untersuchung  aller  zugänglichen  Organe 
und  ihrer  Verrichtungen  stets  unerlässlich  sein.  Besondere  sympto- 
matische Bedeutung  hat  man  bisweilen  der  Form  des  Pulsbildes 


*)  Eoller,  Allgem.  Zeitsckr.  f.  Psychiatrie,  XLII,  1886. 


Status  praesens. 


173 


beigelegt,  ans  der  man  die  weitgehendsten  Aufschlüsse  über  Diagnose 
und  namentlich  Prognose  des  Irreseins  überhaupt  herauslesen  wollte. 
Ohne  Zweifel  sind  den  feinen  und  überraschend  vielseitigen  Yariationen 
der  Sphygmographencurve  noch  so  manche  werthvolle  Andeutungen 
für  das  Verständniss  der  Circulationsverhältnisse  zu  entnehmen,  und 
wir  begegnen  ja  in  derThat,  namentlich  bei  den  affectiven  psychischen 
Störungen,  auffallenden  Aenderungen  der  Gefässinnervation  (Cyanose, 
Congestionen)  überaus  häufig.  Eine  pathognomonische  Beziehung 
zwischen  Pulsbild  und  Irresein  besteht  indessen  nicht,  sondern  jenes 
erstere  kann  im  Verlaufe  einer  und  derselben  Erkrankung  in  Folge 
verschiedenartiger  Einflüsse  (Affecte,  Contractionszustand  der 
peripheren  Gefässe,  Eerzaction)  mannigfaltigen  Schwankungen  unter- 
liegen.*)] 

Hat  uns  die  körperliche  Untersuchung  gewisse  Anhaltspunkte 
für  die  ätiologische  Auffassung  eines  Ealles  oder  Beweise  für  das 
Bestehen  gewisser  Störungen  im  centralen  Nervensystem  zu  liefern} 
so  muss  das  eigentliche  Krankheilsbild  durch  die  Prüfung  der 
psychischen  Functionen  festgestellt  werden.  Leider  stehen  uns 
für  die  Erhebung  dieses  wichtigsten  Theiles  des  Status  praesens  bis- 
her kaum  andere  Hülfsmittel  zu  Gebote,  als  diejenigen,  welche  uns 
die  gewöhnliche  praktische  Lebenserfahrung  an  die  Hand  giebt.  Die 
Untersuchung  des  psychischen  Zustandes  pflegt  daher  auch  für  ge- 
wöhnlich in  keiner  Weise  von  irgend  welchen  Zahl-  und  Mass- 
bestimmungen Gebrauch  zu  machen.  Sie  begnügt  sich  vielmehr  mit 
der  primitivsten  Art  der  Beobachtung  und  mit  dem  einfachsten 
psychologischen  Experimente,  der  Stellung  von  Fragen;  sie  hält  sich 
in  ihrem  Gange  nicht  an  ein  vorherbestimmtes  Schema,  sondern  sie 
schreitet  systemlos  vom  unmittelbar  Yorliegenden  und  Auffallenden 
zum  Yerborgenen  und  schwerer  Auffindbaren  fort.  Gerade  gewisse 
motorische  Aeusserungen  sind  es  somit,  welche  zumeist  den  Ausgangs- 
punkt für  unsere  Untersuchung  zu  bilden  pflegen. | 

Aus  der  Körperhaltung,  den  mimischen  Bewegungen,  dem  Ge- 
sichtsausdrucke können  in  der  Eegel  schon  von  vornherein  einige 
Aufschlüsse  über  die  Stimmung  des  Kranken  gewonnen  werden, 
über  Ausgelassenheit,  Angst  oder  Yerzweiflung  auf  der  einen,  über 
Euhe,  Stumpfheit  oder  Gebundenheit  auf  der  anderen  Seite.  Durch 


*)  Ziehen,  Sphygmographieche  Untersuchungen  an  Geisteskranken.  1887. 


174 


IV.  Allgemeine  Diagaostik. 


einige  einfache  Fragen  über  Namen,  Alter,  Yorleben  wird  weiterhin 
festgestellt,  ob  das  Bewasstsein  getrübt  oder  klar,  ob  die  Besonnen- 
heit, die  Fähigkeit  der  Auffassung  und  unmittelbaren  Verwerthung 
von  Sinneseindrücken  erhalten  ist.  Zugleich  wird  sich  dabei  auch 
ein  annäherndes  XJrtheil  über  die  Schnelligkeit  des  Yorstellungs- 
verlaufes,  sowie  über  das  G-edächtniss  für  die  frühere  Vergangenheit 
ergeben.  Im  Fortgange  unserer  Unterhaltung  werden  wir  festzu- 
stellen suchen,  ob  die  Erinnerung  an  die  jüngste  Zeit,  die  Orientir- 
ung  über  die  augenblickliche  Umgebung  (Aufenthaltsort  wie  Personen), 
imd  ob  Krankheitsbewusstsein  vorhanden  ist;  wir  gewinnen 
dabei  die  Aufklärung,  ob  wir  es  mit  einem  geordneten  oder  mit 
einem  ideenflüchtigen,  deliriösen,  verwirrten,  stereotypen  G-edanken- 
gange  zu  thun  haben.  Inzwischen  werden  sich  zumeist  schon  aller- 
lei weitere  Anhaltspunkte  für  die  BeurtheUung  der  übrigen  psychischen 
Leistungen  ergeben  haben,  die  uns  als  Wegweiser  für  die  Auffindung 
weniger  unmittelbar  zu  Tage  tretender  Störungen  dienen  können. 

Nicht  ganz  leicht  ist  es  bisweilen,  über  das  Bestehen  von 
Sinnestäuschungen  ins  Klare  zu  kommen.  Die  einfache  Frage 
über  diesen  Punkt  wird  uns  nur  selten  zum  Ziele  führen,  sei  es^ 
dass  sich  dem  Kranken  die  Trugwahrnehmungen  unterschiedslos  der 
sonstigen  Sinneserfahrung  einordnen,  sei  es,  dass  er  aus  irgend 
welchen  Gründen  über  dieselben  eine  misstrauische  Zurückhaltung 
bewahrt.  Gleichwol  pflegen  die  Bezeichnungen  „Stimmen"  und 
„Büder"  doch  in  der  Regel  vom  Hallucinanten  sofort  auf  seine 
Täuschungen  bezogen  zu  werden.  Bisweilen  sind  die  Sinnesphantasmen 
trotz  alles  Ableugnens  des  Kranken  mit  ziemücher  Sicherheit  aus 
seinem  Benehmen  zu  erschliessen,  aus  der  horchenden  Stellung,  in 
der  er  längere  Zeit  "verharrt,  plötzlichem  unmotivirtem  Auffahren 
oder  Lachen,  lautem  Sprechen  und  dergl.  Umgekehrt  kann  man 
aber  auch  gelegentlich  zu  der  Annahme  von  Sinnestäuschungen 
kommen,  wo  es  sich  nur  um  eigenthümlich  aufgefasste  und  wieder- 
gegebene wirkliche  Wahrnehmungen  handelt.  Die  Erfahrung  hat 
mir  gezeigt,  dass  Yorsicht  in  dieser  Beziehung  sehr  am  Platze  ist. 

Auch  die  Erkennung  von  Wahnideen  ist  nicht  immer  ganz 
leicht.  Bisweilen  treten  dieselben  bei  der  Versetzung  in  eine  neue  Um- 
gebung zeitweise  in  den  Hintergrund.  Eine  ganze  Zahl  von  Kranken 
pflegt  ferner  ihre  Wahnideen,  namentlich  im  Beginne  der  Erkrank- 
ung und  vor  Femden,  sehr  sorgfältig  geheim  zu  halten  und  jedem 


Status  praesens. 


175 


Versuche  tieferen  Eiadringens  auszuweichen,  bis  irgend  ein  Punkt 
getroffen  wird,  der  sie  in  Erregung  versetzt,  oder  bis  es  gelingt, 
durch  allerlei  Suggestivfragen  eine  Anknüpfung  zu  finden,  mit  Hülfe 
deren  sich  anscheinend  absichtslos  das  ganze  zusammenhängende 
Netz  krankhafter  Ideen  entwickeln  lässt.  Nicht  zu  selten  leitet  auch 
hier  schon  das  äussere  Benehmen  des  Kranken  auf  die  Snur 
bcheues,  missti-auisches  Wesen  wird  uns  geheime  Eeinde  und  Yer- 
folgimgen  vermuthen  lassen;  eine  gewisse  excentrische  Selbstgefällig- 
keit, die  sich  bisweilen  schon  in  der  Tracht  ausspricht,  deutet  auf 
Grössenideen,  während  häufiges  Knieen,  Händefalten,  weinerlich  ver- 
zagter Gesichtsausdruck  das  Bestehen  von  Versündigungswahn  mit 
religiöser  Eärbung  wahrscheinlich  macht  u.  s.  f.  Trotz  aller  Mannig- 
faltigkeit im  Einzelnen  pflegen  dabei  die  G-rundzüge  solcher  Wahn- 
systeme doch  vielfach  eine  so  weitgehende  Uebereinstimmung  mit 
einander  aufzuweisen,  dass  ein  erfahrener  Beobachter  auf  Grund 
seiner  aus  Aeusserlichkeiten  gezogenen  Schlüsse  dem  verblüfften 
Patienten  öfters  mit  überraschender  Schnelligkeit  das  Zugeständniss 
seiner  krankhaften  Ideen  zu  entwinden  vermag. 

Ganz  besondere  Schwierigkeiten  aber  können  dann  erwachsen, 
wenn  der  Inhalt  der  Wahnideen  an  sich  nicht  ohne  Weiteres,  sondern 
nur  auf  Grund  einer  genaueren  Kenntniss  aller  Verhältnisse  als 
krankhaft  erkennbar  ist.  Hier  bewegen  wir  uns  nicht  selten  auf 
Grenzgebieten,  in  denen  das  Urtheil  oft  erst  nach  längerer  Beobacht- 
ung, und  auch  dann  bisweilen  nur  mit  grösster  Zurückhaltung  ab- 
gegeben werden  kann.  Zudem  pflegen  die  Kranken  gerade  hier  sehr 
geschickt  ihre  Wahnideen  zu  verbergen  oder  scheinbar  vollkommen 
zutreffend  zu  begründen. 

Andererseits  kann  die  Erkennung  bestimmter  Wahnideen  auch 
dadurch  erschwert  werden,  dass  der  Kranke  benommen,  verwirrt 
ängstlich  und  dadurch  ausser  Stande  ist,  seine  Gedanken  zusammen- 
hängend zu  äussern.  Hier  können  Monate  vergehen,  bevor  sich 
einigermassen  klar  erkennen  lässt,  welche  Vorgänge  sich  in  seinem  Be- 
wusstsein  abspielen.  Wir  sind  bei  dieser  Beurtheilung  ganz  auf  die 
nicht  immer  zuverlässige  Deutung  jener  unwillkürlichen  Aeusser- 
ungen  angewiesen,  in  denen  sich  die  Seelenzustände  nach  aussen 
kundgeben. 

Die  Untersuchung  auf  das  Bestehen  von  Wahnideen  bietet 
gleichzeitig  Gelegenheit,  sich  über  den  Zustand  der  Intelligenz  und 


176 


IV.  Allgemeine  Diagnostik. 


des  Gedächtnisses  überhaupt  etwas  näher  zu  iniormiren.  Das 
kritiklose  Festhalten  an  widerspruchsvollen  Vorstellungen  ohne 
motivirende  Bewusstseinstrübung  oder  tieferen  Affect,  ferner  die 
Yermischung  von  Erinnerungen  mit  phantastischen  Einzelheiten 
werden  in  dieser  Richtung  zu  verwerthen  sein.  Im  TJebrigen  müssen 
uns  hier  die  Eegeln  der  tagtäglichen  praktischen  Menschenkenntniss 
darüberbelehren,wiedieallgemeinegeistigeyeranlagungundLeistungs- 
f ähigkeit  des  Patienten  beschaffen  ist.  Unter  Berücksichtigung  seiner 
Yergan^enheit,  seiner  Erziehung  und  BUdungsmittel  werden  wir  im 
G  espräche  ungefähr  denUmfang  seiner  Kenntnisse,  seiner  Interessen  und 
seiner  gegenwärtigen  TJrtheilsfähigkeit  zu  ermessen  haben.  Natürlich 
kann  die  so  gewonnene  allgemeine  Orientirung  die  Gewinnung  brauch- 
barer Typen  und  Abstufungen  immer  nur  in  den  allergröbsten  Um- 
rissen gestatten.  Yielleicht  könnte  unter  Umständen  der  Yersuch 
der  Beschreibung  eines  bis  dahin  unbekannten  Gegenstandes,  die 
mündliche  oder  schriftliche  Schilderung  und  Beurtheilung  der  neuen 
Eindrücke  in  der  Anstalt,  die  Ausdauer  bei  einer  bestimmten 
geistigenBeschäftigung  zum  Krankenexamen  mit  herangezogen  werden. 

Eine  tieferdringende  Prüfung  der  Intelligenz  unserer  Kranken 
stösst  zur  Zeit  noch  auf  Schwierigkeiten,  die  im  Hinblick 
auf  die  Yielseitigkeit  der  Frage,  sowie  auf  den  weitreichenden  Ein- 
fluss  der  Erziehung  und  Bildung  kaum  überwindlich  erscheinen. 
Einen  glänzenden  Yersuch  zur  Eröffnung  neuer  Bahnen  nach  dieser 
Richtiing  hin  hat  indessen  Rieger*)  unternommen,  indem  er  bei 
einem  Kranken  mit  schwerer  Hirnverletzung  ein  genaues  Inventar 
seines  Yorstellungsschatzes  und  seiner  geistigen  Leistungen  aufnahm. 
Das  von  ihm  angewandte  und  eingehend  beschriebene  Yerfahren  ist 
ohne  Zweifel  auch  auf  eine  Reihe  anderer  Formen  psychischer 
Störung,  namentlich  auf  Schwächezustände  übertragbar.  Dabei  wird 
sich  voraussichtlich  allmählich  das  besonders  Wichtige  von  'dem 
weniger  Bedeutsamen  abscheiden  und  damit  die  jetzt  noch  ungemein 
mühsame  und  zeitraubende  Methode  praktisch  verwertiibarer  werden. 

Nicht  viel  anders  steht  es  mit  den  Gefühlen,  Affecten  und 
Strebungen.  Was  wir  bei  der  einmaligen  Untersuchung  auf  diesen 
Gebieten  überhaupt  zu  erkennen  vermögen,  offenbart  sich  meist  be- 

*)  Beschreibung  der  Intelligenzstörungen  in  Folge  einer  Hirnverletzung,  nebst 
einem  Entwurf  zu  einer  allgemein  anwendbaren  Methode  der  Intelligenzprüfung. 
1889. 


Status  praesens. 


177 


reits  bei  der  äusseren  Betrachtuag,  in  den  Ausdrucksbewegnngen. 
Darüber  hinaus  sind  wir  wesentlich  auf  die  nicht  immer  ganz  zu- 
verlässigen Selbstschilderuugen  angewiesen,  welche  uns  von  dem 
Zustande  des  eigenen  Innern  entworfen  werden.  Natürlich  vermag 
uns  aber  der  Lauf  der  Untersuchung  über  die  grössere  oder  ge- 
ringere gemüthliche  Eeizbarkeit,  über  Grleichmässigkeit  oder  häufigen 
Wechsel  der  Stimmung,  endlich  über  auffallende  Gefühlsäusserungen 
nach  bestimmten  Eichtungen  hin,  grundlosen  Hass,  religiöse 
Schwärmerei  und  dergleichen  mannigfache  gewichtige  Aufschlüsse 
zu  liefern.  Auf  etwa  vorhandene  krankhafte  Neigungen,  Selbst- 
morddrang, gesteigerte  geschlechtliche  Begierde,  Sucht  zu  kaufen,  zu 
trinken,  werden  wir  ebenfalls  bei  unserer  Prüfung  Eücksicht  nehmen 
müssen;  was  sich  aber  hier  nicht  schon  unwillkürlich  in  dem  ge- 
sammten  Benehmen  verräth,  werden  wir  häufig  genug  dui'ch  Aus- 
fragen der  Ejranken  auch  nicht  erfahren,  und  wir  müssen  daher  zur 
Yervollständigung  unseres  Bildes  nach  dieser  Eichtung  hin  die 
Anamnese  mit  zur  Hülfe  nehmen. 

Es  wird  kaum  in  Abrede  gestellt  werden  können,  dass  für  die 
wissenschaftliche  Betrachtung  und  auch  im  Vergleiche  mit  anderen 
medicinischen  Gebieten  die  Methode,  nach  welcher  wir  den  psychischen 
Status  feststellen,  eine  äusserst  unvollkommene  genannt  werden 
muss;  sie  hat  fast  mehr  Aehnlichkeit  mit  dem  Yorgehen  des 
Criminalisten,  als  mit  einer  naturwissenschaftlichen  Untersuchung. 
Leider  ist  es  weniger  schwer,  diesen  Mangel  zu  erkennen,  als  ihm 
abzuhelfen.  Nicht  nur  setzt  das  Gebiet  der  psychischen  Yorgänge 
an  sich  der  Einfühi-ung  wirklich  exacter  Methoden  den  grössten 
Widerstand  entgegen,  der  nur  allmählich  überwunden  werden  kann, 
sondern  es  ist  auch  nur  allzu  häufig  gar  nicht  möglich,  einen  Geistes- 
kranken der  Eeihe  nach  systematisch  allen  den  Prüfungen  zu  unter- 
werfen, die  man  etwa  für  wünschenswerth  erachtet.  Oft  genug  ist 
das  Object  ein  widerwilliges,  unzugängliches  oder  fast  unverständ- 
liches, so  dass  selbst  eine  ungefähre  Erkenntniss  desselben  nur  durch 
sehr  grosse  Geduld,  ein  feinfühliges  Geschick  und  eine  genaue  Yertraut- 
heit  mit  allen  den  mannigfachen  Erscheinungsformen  erreicht  werden 
kann,  in  denen  sich  psychopathische  Yorgänge  zu  offenbaren  pflegen. 
Trotz,  oder  vielmehr  gerade  wegen  aller  dieser  Schwierigkeiten  will 
ich  es  nicht  unterlassen,  hier,  wenn  auch  nur  in  kurzen  Andeutungen, 
auf  einige  der  Wege  hinzuweisen,  welche  in  absehbarer  Zeit  uns 

Kr aepe litt,  Psychiatrie.   4.  Aufl.  -i  o 


178 


IV.  Allgemeine  Diagnostik. 


doch  Yielleicht  gestatten  werden,  wenigstens  bei  manchen  chronischer 
Terlanfenden  Formen  des  Irreseins  Messung  nnd  Zählung  psychischer 
Grössen  zur  Gewinnung  eines  tieferen  Einblickes  in  die  Art  der 
Störungen  zu  verwerthen.  Alle  diese  "Wege  sind  bereits  betreten 
und  praktisch  erprobt  worden.*) 

Als  Gang  für  eine  exacte  psychische  Untersuchung  würde  sich 
im  Allgemeinen  die  Verfolgung  jener  Bahn  empfehlen,  welche  unsere 
gesammte  Erfahrung  gegangen  ist.  Zuerst  wären  somit  der  "Wahr- 
nehmungsvorgang, das  Yerhalten  der  Aufmerksamkeit,  das  Gedächt- 
niss,  dann  die  Verbindungen  der  Vorstellungen,  die  logischen  Leist- 
ungen, das  Selbstbewusstsein,  kurz  die  Intelligenz,  endlich  die 
niederen  und  höheren  Gefühle,  die  Stimmung,  die  Affecte  und  die 
psychomotorischen  Entladungen  derselben,  das  Handeln,  zu  prüfen. 
Von  allen  diesen  Stationen  sind  es  nur  einige  wenige,  welche  für 
jetzt  einer  genaueren  Prüfung  bei  Geisteskranken  zugänglich  er- 
scheinen; sie  liegen  sämmtlich  auf  dem  Gebiete  der  intellectuellen 
Functionen. 

In  erster  Linie  ist  es  der  Vorgang  der  Aufmerksamkeit,  der 
sich  uns  als  Angriffspunkt  darbietet.  Ich  will  hier  absehen  Ton  der 
Möglichkeit,  den  Grad  der  Aufmerksamkeitsspannung  direct  durch 
Bestimmung  der  jeweiligen  Beiz-  oder  ünterschiedsschwelle  zu  messen, 
und  nur  an  jene  eigenthtimlichen  Schwankungen  der  Aufmerksam- 
keit erinnern,  deren  Ausgiebigkeit,  wie  schon  Buccola  fand,  bei 
Geisteskranken  regelmässig  eine  sehr  grosse  zu  sein  pflegt.  Zu  einer 
möglichst  einfachen  Bestimmung  derselben,  die  auf  verschiedene 
"Weise  geschehen  kann,  habe  ich  in  letzter  Zeit  z.  B.  das  fortlaufende 
Addiren  einstelliger  Zahlen  benutzt.  In  regelmässigen  kürzeren 
Pausen  wurde  auf  ein  Signal  durch  einen  Strich  das  bis  dabin  Ge- 
arbeitete abgegrenzt,  sodass  die  Schwankungen  der  Leistung  in  den 
einzelnen  Zeitabschnitten  unmittelbar  aus  der  Menge  der  addirten 
Zahlen  erkannt  [werden  konnten.  Bei  längerer  Fortsetzung  der- 
artiger und  ^hnlicher  Versuche  wachsen  die  Schwankungen  der  Auf- 
merksamkeit bedeutend  an,  indem  gleichzeitig  die  durchschnittliche 
Grösse  der  geleisteten  Arbeit  abnimmt.  Diese  beiden  Veränderungen 
geben  uns  ein  Mass  für  die  Stärke  der  in  jedem  Zeitpimkte  vor- 


*'<  Vergl.  Kraepelin,  Ueter  die  Beeinflussung  einfacher  psychischer  Vorgänge 
durch  einige  Arzneimittel,  1892. 


Status  praesens. 


179 


handenen  Ermüdung;  sie  gestatten  uns  ferner,  die  Ermüdungsgrösse 
yerschiedener  Personen  nacJi  derselben  Arbeitsdauer  mit  einander 
zu  vergleichen  und  damit  die  relative  Ermüdbarkeit  genau  auszu- 
drücken. Ich  habe  Ursache,  anzunehmen,  dass  die  Grösse  der  Er- 
müdbarkeit eine  grundlegende  Bedeutung  für  die  Beurtheilung  der 
gesammten  psychischen  Yeranlagung  eines  Menschen  besitzt.  Es 
giebt  femer  Thatsachen,  welche  darauf  hindeuten,  dass  dieselbe 
in  nahen  Beziehungen  zu  der  Widerstandsfähigkeit  gegen  psychische 
Einflüsse,  wie  gegen  lähmende  Gifte  steht,  und  die  Hoffiiung  ist  da- 
her nicht  unberechtigt,  einmal  in  der  höhergradigen  Ermüdbarkeit 
eine  wesentliche  Eigenschaft  mancher  Formen  der  psychopathischen 
Constitution  aufzufinden.  Allerdings  erfordert  die  praktische  Mess- 
ung der  Ermüdbarkeit  einstweilen  noch  grosse  Vorsicht,  da  zufällige 
Einflüsse  leicht  das  Ergebniss  trüben,  doch  lassen  sich  diese 
Schwierigkeiten,  wie  mir  die  Erfahrung  gezeigt  hat,  bei  einiger  Sorg- 
falt ganz  gut  überwinden. 

Die  Untersuchung  des  Gedächtnisses  hat  sich  einmal  auf  die 
Festigkeit  zu  erstrecken,  mit  welcher  früher  erworbene  Yorstellungen 
in  unserem  Innern  haften,  dann  aber  auf  die  Fähigkeit,  jetzt  noch 
neue-  Vorstellungen  zu  assimiliren  und  aufzubewahren.  Auf  Stör- 
ungen in  der  ersteren  Eichtung  pflegen  wir  gewöhnhch  zu  fahnden 
durch  die  Frage  nach  gewissen,  als  selbstverständlich  vorausgesetzten 
Kenntnissen,  seien  es  persönliche  Erlebnisse,  seien  es  anderweitig 
erlernte  Daten,  namentlich  die  Kechnungsarten.  Auch  hier  kann 
man  durch  reihenartig  fortlaufende,  systematische  Eechenversuche 
mit  periodischer  Zeitregistrirung  ein  Mass  für  die  Leichtigkeit  ge- 
winnen, mit  welcher  der  Exanke  noch  über  die  in  der  Kindheit 
erlernten  einfachen  Zahlenverbindungen  verfügt.  In  ganz  ähnlicher 
Weise  lässt  sich  die  augenblickliche  Aufnahmefähigkeit  des  Gedächt- 
nisses durch  Auswendiglernen  langer  Zahlen-  oder  sinnloser  Silben- 
reihen ohne  erhebliche  Schwierigkeit  prüfen.  Dabei  ergiebt  sich, 
dass  verschiedene  Personen  die  zu  lernenden  Keihen  mit  individuell 
bestimmter,  aber  sehr  verschiedener  Geschwindigkeit  memoriren. 
Wahrscheinlich  handelt  es  sich  hier  um  Abweichungen  in  der  Lern- 
methode. Berücksichtigt  man,  dass  sich  beim  Lernen  einer  Zahlen- 
reihe die  Auffassung  des  Sinneseindruckes  mit  dem  Aussprechen  der 
Bezeichnungen  verbindet,  so  liegt  die  noch  durch  allerlei  andere  Be- 
obachtungen gestützte  Annahme  nahe,  dass  sich  bei  langsamem 

12* 


180 


IV.  Allgemeine  Diagnostik. 


Memoriren  die  Aufmerksamkeit  vorzugsweise  auf  die  sensorischen 
und  associativen,  bei  schnellem  Memoriren  dagegen  besonders  auf  die 
motorischen  Bestandtheile  der  Gesammtvorstellung  richtet.  Erstere 
werden  bei  langsamer  Einprägung,  letztere  bei  häufiger  Wiederholung 
besser  in  unserem  Gedächtnisse  befestigt.  Die  Geschwindigkeit  des 
Memorirens  gestattet  demnach  einen  Schluss  auf  die  gewohnheits- 
mässige  Bevorzugung  dieser  oder  jener  Seite  unserer  Vorstellungen, 
zunächst  bei  der  vorliegenden  Arbeitsleistung.  Es  ist  indessen  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  diesen  Yerschiedenheiten  eine  weit  über  das 
einzelne  Gebiet  hin  ausreichende  Bedeutung  zukommtr 

Weiterhin  tritt  uns  der  Einfluss  des  Gedächtnisses  bei  fast  allen 
derartigen  experimentellen  Untersuchungen  in  der  Grösse  der  im 
Laufe  der  Zeit  erlangten  Hebung  entgegen.  Da  die  Uebung  in 
gesetzmässiger  Weise  die  Dauer  aller  psychischen  Yorgänge,  wie 
die  Ausgiebigkeit  ihrer  Schwankungen  herabsetzt,  so  ist  es  möglich, 
die  Grösse  derselben  durch  einen  bestimmten  Zahlenausdruck  wieder- 
zugeben. Auch  die  Uebungsf ähigkeit  ist  selbstverständlich  eine 
persönliche  Eigenschaft  von  weitreichendster  Bedeutung.  Wir  werden 
sie  durch  den  Zuwachs  an  Schnelligkeit  messen,  den  eine  psychische 
Arbeitsleistung  erfährt,  wenn  sie  so  oft  in  bestimmten  Zwischen- 
räumen wiederholt  wird,  bis  eine  weitere  Beschleunigung  nicht  mehr 
eintritt.  Verwickelt  wird  die  praktische  Feststellung  der  Uebungsf  ähig- 
keit durch  den  Umstand,  dass  die  erreichte  Uebung  mit  verschiedener 
Geschwindigkeit  wieder  verloren  geht.  Allein  der  Einfluss  der  ver- 
schiedenen Festigkeit  der  Uebung  lässt  sich  durch  geeignete  Ver- 
suche gesondert  studiren  und  nach  seiner  Grösse  in  Anschlag  bringen; 
er  liefert  uns  einen  weiteren  wichtigen  Anhalt  für  die  Beurtheilung 
der  gesunden  und  kranken  Persönlichkeit. 

Als  eine  besondere  Form  des  Gedächtnisses  haben  wir  endlich 
den  Zeitsinn  aufzufassen,  dessen  Störungen  bei  Kranken  ja  oft 
sehr  augenfällige  sind.  Ueber  das  Verhalten  beim  gesunden  Menschen 
liegen  schon  verschiedenartige  Untersuchungen  vor.  Für  praktische 
Zwecke  Hess  ich  die  Methode  dahin  vereinfachen,  dass  eine  bestimmte 
längere  Zeitstrecke  (30")  von  dem  Kranken  eine  gewisse  Anzahl  von 
Malen  wiedergegeben  wurde.  Die  dabei  sich  herausstellenden 
Constanten  und  variablen  Fehler  geben  interessante  Aufschlüsse  über 
das  Zeitgedächtniss  und  die  dasselbe  beherrschenden  psychologischen 
Einflüsse,  namentlich  über  die  Ermüdbarkeit, 


Status  praesens. 


181 


Das  Studium  der  Yorstellungsverbindungen  lässt  sich  nach 
drei  verscliiedeneu  Eichtungen  hin  ausdehnen.  Am  häufigsten  ist 
bisher  die  Schnelligkeit  derselben  gemessen  worden,  obgleich  sie 
zuverlässig  nur  mit  Hülfe  complicirterer  Apparate,  z.  B.  des  Hipp'schen 
Chronoskops,  bestimmt  werden  kann.  Allenfalls  lässt  sich,  wo  das 
Gedächtniss  ungestört  ist,  auch  durch  die  oben  erwähnten  Eechen- 
versiichsreihen  auf  einfache  "Weise  ein  Urtheil  über  diesen  Punkt 
gewinnen.  Jene  genaueren  Methoden  liefern  aber  nur  in  den  Händen 
wirklich  geübter  Untersucher  brauchbare  Ergebnisse;  die  meisten 
bisher  an  Geisteski-anken  angestellten  derartigen  Messungen  sind 
leider  werthlos.  Meine  eigenen  Erfahrungen  haben  mir  gezeigt,  dass 
gerade  bei  der  Untersuchung  der  Associationszeiten  die  systema- 
tische Wiederholung  derselben  Yersuche  mit  denselben  Reizworten 
nach  manchen  Richtungen  wichtigere  und  zuverlässigere  Ergebnisse 
liefert,  als  die  meist  geübte  Vermeidung  solcher  "Wiederholungen. 
Namentlich  der  Einfluss  der  Uebung  auf  die  Schnelligkeit  und 
Festigkeit  der  Vorstellungsverbindungen  lässt  sich  dabei  sehr  schön 
verfolgen.  Allein  auch  ohne  Zeitmessungen  sind  Associationsversuche 
nicht  nur  von  mannigfachem  Interesse,  sondern  auch  ungemein  leicht 
ausführbar.  Indem  man  einfach  irgend  ein  "Wort  ausspricht  und  die 
erste  daraufhin  im  Kranken  auftauchende  Vorstellung  notirt,  kann 
man  in  kurzer  Zeit  das  Material  für  eine  Statistik  der  Associationen 
sammeln,  welche  namentlich  über  das  gewohnheitsmässige  Verhältniss 
der  inneren  zu  den  äusseren  Vorstellungsverbindungen,  die  Häufigkeit 
der  Klangassociationen  und  Eeminiscenzen  gewisse  Aufschlüsse  zu 
liefern  vermag.  Auch  auf  diese  "Weise  lassen  sich  "Werthe  für  die 
Festigkeit  der  einzelnen  Associationsgruppen  gewinnen.  Als  Mass  für 
dieselbe  habe  ich  das  Verhältniss  der  bei  einer  "Wiederholung  neu 
auftretenden  Associationen  zur  Gesammtzahl  der  Versuche  benutzt. 

Mit  diesen  kurzen  Hinweisen  auf  die  wichtigsten  derjenigen 
psychischen  Untersuchungsmethoden,  welche  es  mir  bisher  gelungen 
ist,  in  eine  so  einfache  Form  zu  bringen,  dass  sie  auch  bei  einer 
grösseren  Zahl  von  Geisteskranken  ohne  Schwierigkeit  in  Anwend- 
ung gezogen  werden  können,  muss  ich  mich  hier  begnügen.  "Wenn  es 
auch  zunächst  nur  unbedeutende  Anfänge  sind,  die  uns  heute  vorliegen, 
so  liefern  sie  doch  immerhin  den  Beweis,  dass  es  möglich  ist,  selbst  auf 
unserem  schwierigen  Forschungsgebiete  für  exacte  naturwissenschaft- 
liche Beobachtungsmethoden  allmählich  Boden  zu  gewinnen. 


182 


IV.  Allgemeine  Diagnostik. 


Beobachtmig.  Es  ist  leicht  verständlich,  dass  in  einigermassen 
schwierigen  Fällen  die  einfache  Untersuchung  eiaes  Kranken  niemals 
ausreicht,  sondern  zur  grösseren  Sicherheit  immer  eiue  mehr  oder 
weniger  lang  bemessene  Beobachtungszeit  gefordert  werden  muss. 
Die  Befangenheit  bei  dem  ungewöhnlichen  Examen,  der  psj'^chische 
Eindruck  der  Yersetzung  iu  neue  Yerhältnisse  kann  das  Büd  für 
eioige  Zeit  völlig  verändern,  ganz  abgesehen  von  jenen  Krankheits- 
formen, welche  ihrer  Natur  nach  mit  Intermissionen  verlaufen  oder 
nur-  anfaUsweise  hervortreten.  Als  Ort  für  [die  Beobachtung  dient 
am  besten  die  Irrenanstalt,  weil  nur  in  ihr  eine  dauernde,  sach- 
verständige Ueberwachung  gesichert  erscheiut.  Sehr  häufig  fördern 
hier  che  ersten  Tage  der  Einbürgerung,  die  man  ohne  besonderen  Eiu- 
griff  verstreichen  lässt,  gar  keiu  auffallendes  Beobachtungsmaterial  zu 
Tage ;  erst  nach  und  nach  tretenjjdie  ki-ankhaf ten  Erscheuiungen,  falls 
solche  überhaupt  vorhanden,  deutlicher  hervor.  Alle  jene  eiuzebien 
Züge  des  psychischen  Büdes,  welche  im  Status  praesens  nur  ange- 
deutet waren,  prägen  sich  nun  bei  der  häufigeren  Untersuchung  deut- 
licher aus:  das  Wesenthche  sondert  sich  vom  Unwesentlichen  und 
Zufälligen.  Dazu  kommt,  dass  sich  der  Beobachtete  Seinesgleichen 
gegenüber  und  bei  längerer  Bekanntschaft  mit  dem  Arzte  unbefangener 
giebt,  sich  mehr  gehen  lässt  und  achtlos  Eigenthümlichkeiten,  Ideen, 
Gefühle  verräth,  mit  denen  er  bei  der  eiumaligen  Untersuchung  zu- 
rückhielt. Von  besonderer  Bedeutung  in  dieser  Beziehung  pflegen 
Briefe  zu  seiu,  welche  oft  mit  eiuem  Schlage  ein  kaum  erwartetes 
Licht  über  den  Zustand  ihres  Yerfassers  ausbreiten. 

Weiterhin  aber  ist  man  nun  in  den  Stand  gesetzt,  seiu  Handeln 
zu  controlü'en,  freilich  nur  in  dem  engen  Kähmen  der  Anstaltsverhält- 
nisse, der  aber  für  den  Kranken  doch  noch  der  Gelegenheiten  genug 
zu  pathologischen  WiUensäusserungen  darbietet.  Lebhaftigkeit  oder 
Interesselosigkeit,  Zerstreutheit  oder  Yersunkenheit,  Leistungsfähigkeit 
oder  Schwäche,  Selbstüberschätzung  oder  Kleiumuth,  Reizbarkeit  oder 
Stumpfheit,  Energie  oder  Unentschlossenheit,  Geschäftigkeit  oder  Träg- 
heit —  alle  diese  Eigenschaften  und  viele  andere  Averden  sich  in  den 
täglich  beobachteten  kleinen  Zügen  nach  und  nach  auf  das  Unver- 
kennbarste herausstellen  müssen.  Endlich  ist  es  nur  auf  dem  "Wege 
fortgesetzter  Beobachtung  möglich,  den  fortsclueitenden  oder  gleich- 
bleibenden Yerlauf  des  vermuthHchen  Leidens,  das  Yorkommen  von 
Besserungen,  Yerschlimiuerungen,  „Anfällen"  aUer  Art,  das  Verhalten 


ßjriterien  des  Irreseins. 


183 


des  Schlafes,  Appetites,  der  Verdaaaag  uad  vov  Allem  des  Körper- 
gewichtes in  gesiclierter  "Weise  festzastellen.  Soweit  daher  im  einzelnen 
Falle  überhaupt  eine  Aufklärung  über  das  körperliche  und  psychische 
Verhalten  möglich  ist,  wird  sie  durch  die  mannigfachen  Erfahrungs- 
quellen, welche  die  klinische  Beobachtung  gewähi-t,  in  der  Regel  erreicht 
werden  können. 

Autopsie.  Wenn  wir  in  der  übrigen  Medicia  gewöhnt  siud,  als 
die  letzte  Instanz  für  die  Bestätigung  unserer  Diagaose  den  Sections- 
befund  anzusehen,  so  können  wir  in  der  Psychiatrie  der  Leiohen- 
nntersuchung  bis  jetzt  nur  einen  sehr  beschränkten  Werth  zugestehen. 
Wo  die  Diagnose  eiaer  psychischen  Erkrankung  nicht  aus  den  Er- 
scheinungen am  Lebenden  gestellt  werden  konnte,  vermag  die  Autopsie 
heute  ganz  gewiss  keine  Entscheidung  herbeizuführen.  Bei  der  über- 
grossen  Mehrzahl  aller  Geisteskranken  fäUt  der  Sectionsbefund  Seitens 
des  Grehirns  vöUig  nichtssagead  aus,  oder  er  bietet  doch  nur  uusichere 
und  vieldeutige  Abweichungen,  welche  durchaus  keine  weitergehenden 
Schlussfolgerungen  zulassen.  Freilich  muss  man  dabei  bedenken,  dass 
unsere  Untersuchungsmethoden  im  Hiubücke  auf  die  verwirrende 
Feinheit  und  Complicirtheit  des  Objectes  noch  ganz  ausserordentlich 
roh  und  unvollkommen  genannt  werden  müssen.  Grleichwol  gelingt  es 
auch  jetzt  schon  bei  vieleu  Fällen  schwererer  Idiotie,  bei  länger 
dauerndem  Blödsinn,  namentlich  aber  in  der  Dementia  paralytica  und 
der  Dementia  ^nilis  gröbere  und  feinere  Veränderungen  des  Grehirns 
aufzufinden,  die  wir  ein  gutes  Recht  haben,  als  die  Grrundlagen  der 
im  Leben  beobachteten  psychischen  Störungen  anzusehen^  Ob  und 
wie  weit  den  einzelnen  Veränderungen  bestimmte  klinische  Erschein- 
ungen oder  Krankheitsbilder  entsprechen,  wird  freilich  erst  die  weitere 
Erfahrung  uns  lehren  müssen. 


B.  Kriterien  des  Irreseins. 

Das  Bedürfniss  nach  einer  strengen  Begriffsbestimmung  der 
Geisteskrankheit,  nach  einer  Abgrenzung  dieser  letzteren  von  der  Breite 
des  Gesunden,  ist  in  der  Geschichte  der  Psychiatrie  der  Ausgangspunkt 
zahlloser,  angestrengter  Bemühungen,  scharfsinniger  Auseinandersetz- 
ungen und  spitzfindiger  Beweisführungen  gewesen,  bis  endüch  die 
unvermeidliche  Erkenntniss  sich  immer  mehr  Bahn  zu  brechen  begann, 


184 


IV.  Allgemeine  Diagnostik. 


dass  die  FragesteJlurig  you  Yornherein  eine  falsche  war,  dass  es  hier 
wirklich  scharfe  Grenzen  und  unfehlbare  Kennzeichen  der  Natur  der 
Sache  gemäss  ebensowenig  geben  kann,  wie  hei  der  Unterscheidung 
von  körperlicher  Gesundheit  und  Krankheit.  Die  Symptome  des  Irre- 
seins sind  eben  durchaus  nicht  gänzlich  fremdartige  und  durch  das 
Irresein  neu  erzeugte  Erscheinungen,  sondern  sie  haben  ihre  Wurzeln 
in  normalen  Yorgängen  und  verdanken  ihren  eigenartigen  Charakter 
nur  der  einseitigen,  masslosen  Ausbildung  oder  dem  Untergange 
dieser  oder  jener  Functionen,  sowie  der  besonderen  Yerbindung  der 
verschiedenartigen  Elementarstörungen. 

Yerhältnissmässig  leicht  wird  indessen  die  Erkennung  einer 
Geistesstörung  dann,  wenn  es  gelingt,  den  Nachweis  zu  führen,  dass 
die  verdächtigen  Erscheinungen  nicht  von  jeher  bestanden  haben, 
sondern  etwas  Gewordenes  sind.  Zwar  kommen  ja  auch  im  ge- 
sunden Leben  Wandlungen  vor,  die  bis  in  das  innerste  Wesen  der 
Persönlichkeit  eingreifen,  aber  im  Allgemeinen  legt  dennoch  die  Be- 
obachtung einer  auffallenden  Yeränderung  im  Denken,  Kühlen  und 
Handeln  eines  Menschen  den  Gedanken  an  eine  krankhafte  Natiir 
derselben  sehr  nahe.  Zur  Gewissheit  wird  diese  Yermuthung,  wenn 
die  hervortretenden  Symptome  sich  widerspruchslos  in  eines 
der  bekannte  n  klinischen  Krankheitsbilder  einordnen,  und 
wenn  vielleicht  auch  Ursachen  sich  auffinden  lassen,  welche  er- 
fahrungsgemäss  jene  Gruppe  von  Störungen  häufigerzu  erzeugen  pflegen. 

Es  darf  mit  allem  Nachdrucke  betont  werden,  dass  in  solchen 
Fällen  die  genaue  Erhebung  der  Anamnese,  sorgfältige  Ausnutzung 
aller  Untersuchungsmethoden  und  eine  gewisse  Zeit  fortlaufender  Be- 
obachtung bei  wirklichem  Sachverständniss  regelmässig  zum  Ziele 
führen  wird.  Die  Psychiatrie  ist  in  der  Erkennung  von  Krankheits- 
processen,  auch  solchen  sehr  langsamen  Yerlaufes,  in  keiner  Weise 
hülfloser,  als  etwa  die  innere  Medicin  oder  die  Nervenheilkunde,  die 
ja  ebenfalls  oft  genug  erst  nach  längerer  Beobachtiing  ein  sicheres 
Yerständniss  schwieriger  Krankheitsfälle  en-eichen.  Nur  die  kühnste 
Unwissenheit  kann  sich  daher  zu  der  häufig  wiederholten  Behaupt- 
ung versteigen,  dass  der  Irrenarzt  wegen  der  Unvollkommenheit  der 
Psychiatrie  vielfach  Geistesgesunde  als  krank  betrachte  und  sie  da- 
her widerrechtlich  ihrer  Freiheit  beraube.  Allerdings  sieht  der  Sach- 
vcrs trndige  auch  hier  überall  tiefer,  als  der  meist  von  ganz  abenteuer- 
lichen YorsteUungen  über  das  Irresein  erfüllte  Laie. 


Kriterien  des  Irreseins. 


185 


Die  unerbittliche  Fordemng,  uns  niemals  mit  dem  Nach-weise 
einer  Geistesstörung  im  j^Ugemeinen  zu  begnügen,  sondern  unter  allen 
Umständen  zu  einer  bestimmten  klinischen  Diagnose  zu  gelangen,  wird 
uns  namentlich  davor  bewahren,  einzelne  Erscheinungen  als 
pathognomonisch  zu  betrachten  und  darüber  das  Gesammtbild  des 
vorliegenden  Falles  ausser  Acht  zu  lassen.  Früher  hat  man  z.  B. 
viel  darüber  gestritten,  ob  Sinnestäuschungen  auch  bei  geistiger  Ge- 
sundheit vorkommen  könnten,  und  ob  der  Selbstmord  unter  allen 
Umständen  als  Krankheitserscheinung  aufgefasst  werden  müsse;  jetzt 
wissen  wir,  dass  Beides  Symptome  sind,  welche  im  einzelnen  Falle 
nur  durch  den  Zusammenhalt  mit  anderweitigen  Beobachtungsthat- 
sachen  in  ihrer  wahren  Bedeutung  erkannt  werden  können.  "Wenn 
z.  B.  Esquirol  den  Selbstmord  einfach  als  eine  besondere  Form  des 
Irreseins  beschrieb,  so  habe  ich  in  Uebereinstimmung  mit  den  Er- 
fahrungen Anderer  durch  die  Beobachtung  geretteter  Selbstmörder 
feststellen  können,  dass  nur  SC/o  derselben  wirklich  khnisch  ausgeprägte 
geistige  Störungen  darboten. 

Eecht  schwierig  kann  sich  die  Entscheidung  über  psychische 
Gesundheit  oder  Krankheit  gestalten,  wenn  nicht  über  das  Bestehen 
eines  krankhaften  Processes,  sondern  über  das  Yorhandensein  eines 
krankhaften  Zustandes  entschieden  werden  soll.  Im  ersten  FaUe 
war  uns  die  Norm  der  Beurtheilung  in  dem  Verhalten  des  Kranken 
selber  vor  der  eingetretenen  Yeränderung  gegeben;  hier  dagegen  sind 
wir  gänzlich  auf  die  Abgrenzung  nach  den  allgemeinen  Begriffen  an- 
gewiesen, die  sich  in  der  Wissenschaft  als  Gradmesser  für  die  Be- 
stimmung des  Pathologischen  niedergeschlagen  haben.  Dazu  kommt, 
dass  wir  ein  ausgedehntes  Uebergangsgebiet  zu  verzeichnen  haben, 
auf  dem  es  sich  lediglich  um  die  Abschätzung  gradweiser  Unter- 
schiede handelt,  sodass  es  vielfach  dem  Belieben  und  dem  Stand- 
punkte des  Beobachters  überlassen  bleibt,  wie  weit  oder  wie  eng  er 
die  Grenze  der  {3 ei stesk rankheit  stecken  wiU.  Dies  ist  der  Grund, 
warum  so  häufig  die  Gutachten  selbst  wissenschaftlich  hochstehender 
Sachverständiger  bei  der  Beurtheüung  solcher  FäUe  vollständig  aus- 
einandergehen: die  allgemeinen  Grundsätze  versagen  hier  bisweilen 
durchaus  und  lassen  einzig  dem  persönlichen  Ermessen  die  Ent- 
scheidung zufallen. 

Der  Irrenarzt  ist  demnach  hier  etwa  in  derselben  Lage,  wie  der 
Kassenarzt  bei  der  Beurtheilung  der  Erwerbsfähigkeit,  nur  mit  dem 


186 


rV.  Allgemeine  Diagnostik. 


Unterschiede,  dass  die  Tragweite  seines  Ausspruches  eine  häufig  viel 
grössere  ist.  Es  erscheint  daher  ganz  unvermeidlich,  dass  gelegentlich 
sein  ürtheil  als  Härte  empfunden  und  von  Ej-anken  oder  Angehörigen 
angefochten  wird,  zumal  den  Ersteren  immer,  den  Letzteren  häufig 
das  Yerständniss  für  die  in  Betracht  kommenden  Zustände  völlig  ab- 
geht. An  diesem  Punkte  liegt  wol  die  Öauptquelle  für  die  nament- 
lich in  neuester  Zeit  mit  ebenso  viel  Unkenntniss  wie  Gehässigkeit 
betriebene  Agitation  gegen  die  Thätigkeit  der  Irrenärzte.*)  Natürlich 
würde  Niemand  froher  sein,  als  diese  Letzteren  selbst,  wemi  man  sie 
von  der  leidigen  Verantwortlichkeit  für  die  Beurthedüng  der  Ueber- 
gangsformen  zwischen  geistiger  Gesundheit  und  Ejrankheit  befreien 
wollte.  Leider  ist  dazu  wenig  Aussicht,  da  sich  schwerlich  Jemand 
finden  dürfte,  der  ihnen  diese  undankbare,  Aufgabe  dauernd  abnimmt. 

Das  grosse,  sicher  noch  viel  zu  wenig  gekannte  Gebiet  klinischer 
Eormen,  mit  dem  Avir  es  hier  zu  thun  haben,  ist  dasjenige  des  an- 
geborenen Schwachsinns.  Die  Erscheinungen  desselben  treten  uns 
in  allen  Richtungen  des  psychischen  Lebens  entgegen,  und  wir 
müssen  daher  wenigstens  einen  kurzen  Blick  auf  die  sich  darbieten- 
den Grenzgebiete  werfen,  nicht  so  wol,  um  die  vorhandenen  Schwierig- 
keiten zu  lösen,  sondern  um  auf  die  Unmögüchkeit  einer  durch- 
greifenden Lösung  derselben  hinzuweisen. 

Im  Bereiche  der  Intelligenz  lassen  sich  der  Hauptsache  nach 
zwei  Formen  der  psychischen  Schwäche  auseinanderhalten,  unge- 
nügende Leistungsfähigkeit  des  Verstandes  einerseits,  dann  aber 
Kritiklosigkeit  in  Folge  von  überwuchernder  Ausbildung  der  Phantasie. 
Der  ersteren  Form,  die  sich  durch  das  Fehlen  abstracter  Begriffe, 
Enge  des  Gesichtskreises,  Ideenarmuth,  geringe  geistige  Regsamkeit 
kennzeichnet,  entspricht  in  der  Gesundheitsbreite  jene  Form  der 
Dummheit,  die  man  als  Beschränktheit  zu  bezeichnen  pfiegt.  Die 
höchsten  Grade  dieser  Beschränktheit  fallen  aber  mit  den  leichteren 
Fällen  des  Schwachsinns  unterschiedslos  zusammen;  es  giebt  kein 
einziges  Merkmal,  welches  eine  aadere,  als  gradweise  Abtrennung 
gestattete. 

Dem  zweiten  klinischen  Bilde  des  Schwachsinns  nähert  sich  die 
Gruppe  der  Phantasten  (Mystiker)  durch  die  gemeinsamen  Züge 

*)  Man  vergleiche  nur  die  durch  ihre  naive  Unwissenheit  und  Unverfrorenheit 
geradezu  erfrischenden  Bücher  des  Herrn  E.  A.  Schröder:  Das  Recht  im  Irreni 
wesen  1890;  Zar  Eeform  des  Irrenrechtes  1891. 


Kxiterien  des  Irreseins. 


187 


einer  Herrschaft  der  leichtgläubigen  Einbildaugskraft  über  die  ver- 
standesmässige  Ueberlegang.  Aach  hier  ist  es  unmöglich,  an  irgend 
einem  Punkte  scharfe  Grenzen  abzustecken.  Den  vereinzelten  Bei- 
spielen einseitiger  Begabung  bei  Schwachsinnigen  und  Idioten  lassen 
sich  manche  der  sogenannten  verkannten  Genies,  Erfinder  und  Ent- 
decker an  die  Seite  stellen,  bei  denen  die  mangelnde  Harmonie  der 
Gesammtanlage  auch  den  hervorragenden  Eigenschaften  ihrer  Persön- 
hchkeit  die  fi-eie  und  segensreiche  Entfaltung  verkümmert.  Es  ist 
endlich  kein  Zweifel,  dass  auch  das  wirkliche  Genie  nicht  selten  eine 
gewisse  Verwandtschaft  mit  der  oben  zuletzt  genannten  Form  des 
Schwachsinns  erkennen  lässt.  Die  überraschende  Kühnheit  der 
Combinationen,  die  Lebhaftigkeit  der  Phantasie,  der  Blick  auf  das 
Ganze  bei  Yernachlässigung  der  Einzelheiten  sind  Züge,  welche  beiden 
Yeranlagungen  gemeinsam  sind,  aber  sie  werden  beim  Genie  durch 
die  gleichzeitige  Ausbildung  des  abwägenden,  prüfenden  Yerstandes 
in  sicheren  Grenzen  gehalten,  während  sie  dort  die  ungezügelte 
Herrschaft  über  das  geistige  Leben  an  sich  reissen.  Gleichwol  deutet 
sich  doch  auch  bei  unsern  Kranken  hie  und,  da  durch  unerwartete 
"Wendungen  und  vereinzelte  treffende  Einfälle  jene  Verwandtschaft 
an,  wie  ja  andererseits  auch  das  Genie  neben  glänzenden  Leistungen 
fast  regelmässig  unbegreifliche  Schwächen  erkennen  lässt.  Sehr 
wichtig  ist  es  für  diese  Frage,  dass  Genialität  und  psjchopathische 
Belastung  sich  nicht  selten  in  derselben  Familie  neben  einander 
vorfinden. 

Von  grosser  Tragweite  und  darum  von  jeher  am  eifrigsten  ver- 
sucht worden  ist  die  Abgrenzung  des  Krankhaften  von  der  Gesundheits- 
breite auf  dem  Gebiete  des  Gefühlslebens  und  des  Handelns,  die  wir 
hier]gemeinsam  in's  Auge  fassen  woUen.  Hier  güt  es  ganz  besonders, 
jene  Handlungen,  welche  aus  krankhaften  Voraussetzungen  hervor- 
gegangen ^sind,  abzutrennen  von  denjenigen,  die  ihre  QueUe  in  un- 
moralischen Beweggründen  haben.  Man  wird  hier  nicht  lange  im 
Zweifel  sein,  wenn  es  gelingt,  einei  Wahnidee,  eine  Sinnestäuschung 
oder  auch  ein  unklares  Angstgefühl,  einen  trieb  artigen  Drang  als 
die  Ursache  der  That  aufzufinden.  Die  aUergrössten  Schwierigkeiten  in- 
dessen beginnen  sofort,  sobald  nicht  Veränderungen  in  der  Ai't  der 
Gefühle,  sondern  nur  gradweise  Abstufungen  derselben  der  ärzt- 
lichen BeurtheUung  unterliegen.  Jede  menschüche  Handlung  kommt 
dadurch  zu  Stande,  dass  die  treibenden  Beweggründe  das  Ueber- 


188 


IV.  Allgemeine  Diagnostik. 


gewicht  über  die  etwaigeo  hemmenden  Gegengründe  erlangen.  Eine 
unmoralische  Handlung  kann  somit  entweder  auf  einer  starken  Aus- 
bildung der  unmoralischen  Antriebe  oder  aber  auf  einem  Mangel 
der  moralischen  Hemmungen  beruhen,  und  endlich  kann  sowol  jene 
übermässige,  wie  diese  ungenügende  Entwickelung  aus  krankhaften 
Ursachen  hervorgegangen  sein.  Nun  geht  aber  die  pathologische 
Zornmüthigkeit  ganz  allmählich  in  die  Leidenschaftlichkeit  des 
Cholerikers  über,  die  ihn  vielleicht  zum  Affectverbrechen  treibt,  und 
die  wechselnden  Verstimmungen  des  angeboren  Ne urasthenischen 
sind  nur  Steigerungen  der  oft  ebensowenig  sachlich  begründeten 
weltschmerzlichen  Anwandlungen  des  Pessimisten,  die  ihn  an  dem 
"Werthe  des  Daseins  verzweifeln  lassen.  Der  Selbstmord  in  den 
letzteren,  der  Mord  in  den  ersteren  Fällen  sollte  je  nach  der  Krank- 
haftigkeit oder  der  gesunden  Beschaffenheit  des  Gemüthszustandes 
eine  gänzlich  verschiedene  moralische  Beurtheilung  erfahren,  aber 
auch  die  genaueste  Zergliederung  vermag  hier  oft  die  Grenze  nicht 
zu  finden,  aus  dem  triftigen  Grunde,  weil  eine  solche  überhaupt 
nicht  vorhanden  ist. 

Noch  schlagender  tritt  dieses  Yerhältniss  hervor,  wo  der 
krankhafte  Mangel  der  sittlichen  Gefühle  von  der  „moralischen 
Schlechtigkeit"  abgegrenzt  werden  soll.  So  wenig  wie  das  Fehlen 
einer  Niere  in  einem  Falle  krankhaft  sein  kann,  im  andern  nicht, 
so  wenig  geht  es  an,  eine  normale  sittliche  Yerwilderung  neben  einer 
pathologischen  aufzustellen.  Bei  der  Beurtheilung  der  Unzulänglich- 
keit einer  Leistung  kann  es  nicht  in  erster  Linie  massgebend  sein, 
ob  sie  angeboren,  erworben  oder  wie  immer  sie  entstanden  ist;  nur 
nach  der  Ausdehnung  derselben  kann  man  normale  und  krank- 
hafte Grade  unterscheiden,  wie  ja  auch  die  Kleinheit  der  Niere  erst 
unter  einer  gewissen,  ziemlich  willkürlichen  Grenze  anfängt,  pathologisch 
zu  werden.  Wenn  der  Yerlust  der  höheren  moralischen  Gefühle  als 
Theilerscheinung  gewisser  Krankheitsprocesse  vorkommt  (z.B. Dementia 
paralytica),  so  schliesst  dieser  Umstand  nicht  aus,  dass  auch  der  durch 
sitthche  Verwahrlosung  erzeugte  Ausfall,  sobald  er  ein  gewisses 
Mass  erreicht  hat  und  nicht  beseitigungsfähig  ist,  als  krankhaft  zu 
betrachten  sei.  Jedes  Organ  unseres  Körpers  bedarf  der  Uebung  und 
Ausbildung,  um  die  geforderte  Arbeit  leisten  zu  können:  der  uner- 
zogene Taubstumme  bleibt  anerkanntermassen  auf  der  psychischen 
Entwickelungsstufe    des   Schwachsinns   stehen;    sollte    allein  der 


Simulatioa  und  Dissimulation. 


189 


moralisch  Unerzogene  eine  Ausnahme  machen,  sollte  nicht  bei 
ihm  ebenfalls  eine  Unvollkommenheit  der  gemüthlichen  Ausbildung 
vorhanden  sein,  die  unter  Umständen  eine  ki-aukhafte  Ausdehnung 
erlangen  kann?  Eine  anthropologische,  naturwissenschaftliche  Be- 
trachtung der  Unsitthchkeit  führt  uns  unabwendbar  zu  dem  Schlüsse, 
dass  auch  der  Mangel  sittHcher  Gefühle  nicht  nur  zweifellos  der  Be- 
gleiter bestimmter  klinischer  Krankheitsformen  ist,  sondern  in  seineu 
höheren  Graden  überhaupt  ohne  scharfe  Abgrenzung  in  das  Gebiet 
des  Krankhaften  hinüberspielt  und  als  ein  Anzeichen  der  Schwäche 
im  Gemüthsleben  zu  betrachten  ist,  welchem  nach  anderer  Eichtung 
die  Unzulänglichkeit  der  Verstandeskräfte  genau  entspricht. 

Es  bleibt  daher  in  derartigen  Fällen  bei  der  gerichtlichen 
Diagnostik  der  Geistesstörung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  häufig 
Sache  der  persönlichen  Ansicht,  ob  die  gestellte  Frage  bejaht  oder 
verneint  werden  soll.  So  zuverlässig  es  fast  stets  gelingen  wird, 
wenigstens  bei  längerer  Beobachtung  das  Bestehen  einer  Manie, 
Melancholie,  Verrücktheit  oder  gar  einer  Dementia  paralytica  mit 
Sicherheit  zu  erweisen  oder  auszuschüessen,  so  rathlos  steht  selbst 
.der  ausgezeichnetste  Scharfsinn  den  gradweisen  Abstufungen  des 
Schwachsinns,  vor  Allem  des  angeborenen,  gegenüber.  Die  Schuld 
dafür  trifil  gewiss  nicht  die  Psychiatrie,  sondern  lediglich  die  richter- 
liche Fragestellung,  welche  nur  scharfe  Grenzen  zwischen  Zurechnungs- 
fähigkeit und  Unzurechnungsfähigkeit  kennt,  alle  die  zahllosen  Ueber- 
gangsformen  aber  einfach  vernachlässigt.  Vielleicht  wird  auch  uns 
noch  ein  eingehenderes  Studium  des  Schwachsinns  zu  einer  schärferen 
Erfassung  der  krankhaften  Erscheinungen  verhelf en ;  die  Ueberwind- 
ung  der  grundsätzlichen  Schwierigkeiten  aber  und  die  Gewinnung 
allgemeiner,  unzweideutiger  Gesichtspunkte  kann  sicherlich  nur  durch 
eine  andere  Fassung  der  richterlichen  Fragen  an  den  ärztlichen  Sach- 
verständigen erreicht  werden. 

C.  Simulation  und  Dissimulation. 

Erheblich  einfacher  liegt  die  Aufgabe  dort,  wo  nicht  allgemein 
die  Entscheidung  über  das  Bestehen  geistiger  Gesundheit  oder  Krank- 
heit gefällt  werden  soll,  sondern  wo  es  sich  um  die  Aufdeckung  von 
Simulation*)  handelt.    Hier  ist  eine  sichere  Kichtschnur  der  Be- 

*)  Fürstner,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XIX,  3;  Eritsch,  Jahrb.  f.  Psychiatrie 
vni,  1  u.  2. 


190 


IV.  Allgemeine  Diagnostik. 


urtheilung  durch  die  schon  früher  angeführte  Erwägung  gegeben,  dass 
der  vorliegende  Symptomencomplex  sich  mit  einem  der  erfahrungs- 
gemäss  feststehenden  Xrankheitsbilder  decken  muss.  Bei  der  Mannig- 
faltigkeit psychischer  Störungen  erfordert  es  ziemlich  weitgehende 
fachmännische  Kenntnisse,  ein  widerspruchsloses,  in  sich  wahrschein- 
liches, einheitliches  Krankheitsbild  zusammenzusetzen,  ausserdem  aber 
noch  eine  ganz  ungewöhnliche  Geschicklichkeit  und  Ausdauer,  die  an- 
genommene EoUe  wirklich  durchzuführen  und  festzuhalten.  Die  An- 
schauungen über  Geisteskrankheiten  unter  Laien  weichen  fast  durch- 
gehends  so  sehr  von  dem  wahren  Yerhalten  ab,  dass  es  in  der  Regel 
für  den  Irrenarzt  ein  Leichtes  ist,  die  Simulation  zu  erkennen  und 
zu  entlarven.  Am  häufigsten  werden  tiefer  Blödsinn  oder  Aufregungs- 
zustände  („Tobsucht")  sinäulirt;  dabei  ist  es  überall  die  Sucht  der 
Simulanten,  zu  übertreiben  und  ihre  Geisteskrankheit  möglichst  glaub- 
haft zu  machen,  welche  sie  widersprechende  Erscheinungen  durch- 
einander mischen  lässt  und  auf  diese  "Weise  die  Unterscheidung  von 
wirklich  Kranken  ermöglicht.  Häufig  gelingt  es  auch,  durch  allerlei 
Yexirversuche,  durch  hingeworfene  Bemerkungen  gewisse  Krankheits- 
erscheinungen zu  suggeriren,  namentlich  völlige  TJnempfindlichkeit 
gegen  Nadelstiche  u.  dgl.  Ueberaus  selten  sind  die  Fälle,  in  denen 
selbst  bei  längerer  Beobachtung  die  Simulation  nicht  zweifellos  fest- 
gestellt werden  kann. 

Indessen,  so  leicht  und  sicher  die  absichtliche  Täuschung  als 
solche  erkannt  zu  werden  pflegt,  so  schwierig  ist  es  oft  genug,  das 
Bestehen  einer  psychischen  Störung  ausser  der  Simulation  aus- 
zuschliessen.  Neumann  fordert  mit  Eecht,  dass  überhaupt  kein  Arzt 
jemals  dasZeugniss  geistiger  Gesundheit  ausstellen  soUe;  bei  Simulanten 
ist  in  dieser  Hinsicht  doppelte  Yorsicht  geboten.  Die  erfahrensten 
Irrenärzte  theilen  mit,  dass  wirklich  geistig  gesunde  Individuen  unter 
den  Simulanten  nur  in  verschwindend  geringer  Zahl  vorkommen, 
wenn  auch  die  eigentliche  Störung  eine  ganz  andersartige'  ist,  als  die 
simulirte.  Namentlich  Yerrückte,  Querulanten,  Schwachsinnige  sind 
hierher  zu  rechnen.  Die  Mittel  und  Methoden,  welche  zur  Entlarvung 
von  Simulanten  in  Anwendung  gebracht  werden,  die  Schlüsse,  welche 
man  aus  dem  Benehmen  eines  Individuums  vor,  während  und  nach 
einer  verbrecherischen  That  auf  seinen  Geisteszustand-  ziehen  kann, 
und  eine  Reihe  ähnlicher  Punkte  müssen  wir  hier  übergehen,  da  sie 
den  Aufgaben  der  gerichtlichen  Psychopathologie  angehören. 


Simulation  und  Dissimulation. 


191 


Wir  haben  endlich  noch  der  Dissimulation  von  Geistesstör, 
ungen  zu  gedenken,  die  namentlich  von  Yerrückten  bisweilen  mit 
grosser  Gewandtheit  geübt  wird,  um  die  Entlassung  aus  der  Irren- 
anstalt zu  erreichen.  Die  Erfolge  einer  veralteten  Behandlungs- 
methode, der  „Intimidation",  d.  h.  der  systematischen  Misshandlung 
der  Kranken  bei  jeder  krankhaften  Aeusserung,  gründeten  sich  auf 
diese  Fähigkeit.  Es  giebt  unheilbare  Irre,  die  Jahre  lang  ihre  äussere 
gesellschaftliche  Haltung  zu  bewahren  wissen  und  das  Nest  ihrer 
Wahnideen  tief  in  ihrer  Brust  verschliessen,  bis  eine  unbedachte 
Aeusserung,  ein  gelegentlicher  AfPect  plötzlich  der  erstaunten  Um- 
gebung die  Augen  öffnet  und  ihr  die  Erklärung  für  so  manche 
Sonderbarkeiten  des  Benehmens  giebt,  die  man  so  lange  für  „be- 
rechtigte Eigenthümlichkeiten"  gehalten  hatte.  Wer  nicht  mit  dem 
geheimen  Zusammenhange  und  den  Anknüpfungspunkten  der  Fäden 
bekannt  ist,  aus  welchen  sich  das  Wahnsystem  zurechtspinnt,  dem 
wird  häufig  die  tiefe  Störung  manches  Terrückten  völlig  ver- 
borgen bleiben,  auch  wenn  dieselbe  gar  nicht  besonders  dissimulirt 
wird.  Selbst  dem  Arzte  begegnet  es  bisweilen,  dass  er  trotz  seines 
allgemeinen,  bestimmten  Yerdachtes  sich  lange  vergebens  abmüht 
in  das  Innere  eines  Kranken  einzudringen,  und  dass  ihm  erst  die 
Nachrichten  über  das  Vorleben,  das  Benehmen  in  der  Freiheit  eine 
klare  Einsicht  in  die  wirkliche  Ausdehnung  der  krankhaften  Stör- 
ung verschaffen.  Solche  Kranke  zeigen  sich  in  der  Anstalt  über- 
aus harmlos  und  ungefährlich,  stellen  alle  Berichte  der  Angehörigen, 
alle  Wahnideen  völligin  Abrede  und  wissen  ihre  auffallendenHandlungen 
so  ungezwungen  und  söhlau  zu  begründen,  dass  es  recht  schwierig 
wird,  die  krankhaften  Züge  klar  zu  erfassen.  Unerfahrene  lassen 
sich  daher  oft  vollständig  von  solchen  Kranken  täuschen,|und  auch 
die  öffentliche  Meinung  wird  gelegentlich  immer  wieder  durch  ihre 
sensationellen  Flugschriften  beunruhigt,  in  denen  das  Justizunrecht 
der  willkürlichen  Freiheitsberaubung,  die  Gefahren  der  geistigen 
Ermordung  in  den  grellsten  Farben  ausgemalt  zu  werden  pflegen. 
Da  diese  Patienten  nicht  selten  recht  gefährlich  sind,  so  ist  äusserste 
Torsicht  bei  der  Beurtheilung  derselben  geboten.  Nur  dem  Arzte 
ohne  wahre  Sachkenntniss  können  daher  in  schwierigen  Fällen  schon 
einige  Unterredungen  genügen,  um  das  Bestehen  einer  geistigen 
Störung  auszuschliessen. 

Besonders  sei  hier  schliesslich  noch  auf  die  Dissimulation  be- 


192 


IV.  Allgemeine  Diagnostik. 


sonnener,  selbstmordsüchtiger  Melancholiker  hingewiesen,  die  bisweilen 
mit  grossem  Geschick  ihre  krankhaften  Vorstellungen  und  Gefühle 
zu  verbergen,  Besserung  und  heitere  Stimmung  zu  simuliren  wissen, 
um  den  stillen  Vorsatz  des  Selbstmordes  bei  weniger  sorgfältiger 
Ueberwachung  zur  Ausführung  bringen  zu  können.  Selbst  die  ge- 
naueste Vertrautheit  mit  dieser  höchst  beachtenswerthen  Gefahr  und 
unausgesetzte  Wachsamkeit  vermag  hier  nicht  immer  vor  bitteren 
Erfahrungen  zu  schützen. 


Y.  Allgemeine  Therapie. 


IDie  leitenden  Gesichtspunkte  für  eine  zweckmässige  Behandlimg 
der  Geisteskrankheiten  ergeben  sich  einmal  ans  der  Aetiologie,  dann 
aber  ans  der  Symptomatologie  derselben;  es  gilt,  die  Grundursachen 
zu  bekämpfen  und  die  Erscheinungen  zu  beseitigen  oder  zu  mildern. 
Die  erstere  Aufgabe  beginnt  schon  mit  der  Prophylaxis. 

A.  Prophylaxis. 

In  dieses  Gebiet  gehört  bei  der  gi^ossen  Bedeutung  der  Erb- 
hchkeit  für  die  Verbreitung  des  Irreseins  die  Beantwortung  der 
Frage,  ob  ein  Geisteskranker  heirathen  darf  oder  nicht. 
Namentlich  in  manchen  Formen  der  hysterischen  Psychosen  hat  man 
bisweilen  die  Ehe  geradezu  für  ein  Heilmittel  gehalten;  die  Erfahr- 
ung hat  indessen  gezeigt,  dass  zwar  gesunde  Eheleute  anscheinend 
eine  etwas  geringere  Disposition  zu  Geistesstörungen  besitzen,  als 
Ledige,  dass  aber  bei  schon  bestehender  Krankheit  die  Ehe  viel- 
fach geradezu  schädlich  wirkt.  Dazu  kommt  die  Gefahr  einer  Ver- 
erbung der  krankhaften  Anlage  auf  die  Nachkommenschaft.  So  er- 
scheint denn  der  ziemlich  allgemein  angenommene  Grundsatz  ge- 
rechtfertigt, vom  ärztlichen  Standpunkte  aus  bei  schon  bestehender 
Geistesstörung,  besonders  bei  jenen  Formen,  die  auf  eine  psychische 
Entartiing  hinweisen,  die  Ehe  unter  allen  Umständen  zu  wider- 
rathen,  während  die  blosse  Prädisposition,  insbesondere  die  erbliche 
Anlage,  wenn  sie  nicht  bereits  in  Krankheitserscheinungen  zu  Tage 
tritt,  trotz  der  immerhin  drohenden  Gefahren,  doch  kein  unbedingtes 
Verbot  der  Ehe  begründen  kann. 

Ein  weiterer  bedeutsamer  Punkt,  an  dem  die  Vorbeugung  des 
Irreseins  einzusetzen  hat,  ist  die  Erziehung.    Gerade  abnorm  ver- 

Kraepolln,  Psychiatrie.   4.  Aufl.  13 


194 


V.  Allgemeine  Therapie. 


anlagte  Eltern  vermögen  häufig  nicht  die  rechte  Mitte  zwischen 
pedantischer  Strenge  und  weichlicher  Yerzärtelung  zu  halten,  Ein- 
flüsse, welche  nur  ein  kräftig  organisirtes  Individuum  ohne  dauern- 
den Schaden  für  seine  Charakterentwickelung  zu  ertragen  im  Stande 
ist.  Der  ärztliche  Berather  wird  hier  nicht  so  selten  Gelegenheit  zu 
warnendem  Eingreifen  finden. 

Allgemeineres  Interesse  hat  in  letzter  Zeit  auch  die  Ueber- 
bürdungsfrage  der  Schuljugend  erregt.  Es  kann  keinem  Zweifel 
unterliegen,  dass  kein  jugendliches  Gehirn  auch  nur  im  Entferntesten 
wirklich  das  zu  leisten  im  Stande  ist,  was  die  Schule  vorschrifts- 
mässig  verlangt.  "Wenn  schon  ein  Erwachsener  einer  sehr  einfachen 
geistigen  Arbeitsleistung  nicht  länger  als  etwa  eine  Stunde  zu  folgen 
vermag,  ohne  deutliche,  sich  rasch  steigernde  Ermüdungserscheinungen 
zu  zeigen,  so  tritt  in  jüngerem  Lebensalter  und  bei  den  schwierigeren 
Aufgaben  des  Schulunterrichtes  die  Erschlafl'ung  natürlich  noch  sehr 
viel  rascher  ein.  Freilich  wird  sie  durch  das  Einschieben  von  Er- 
holungspausen immer  einigermassen  wieder  ausgeglichen,  allein  die- 
selben können  in  ihrer  heutigen  Gestaltung  keineswegs  als  aus- 
reichend betrachtet  werden.  Glücklicherweise  indessen  giebt  es  ein 
Sicherheitsventil,  welches  verhindert,  dass  nicht  in  Folge  der  geistigen 
Ueberanstrengung  schwere  Gefahren  über  die  heranwachsenden 
Generationen  heraufgeführt  werden  —  das  ist  die  Unaufmerksam- 
keit, welche  gerade  dann  hülfi^eich  eintritt,  wenn  die  Anspannung 
nothwendig  zu  einer  Erholung  drängt.  Gerade  die  guten,  tüchtigen 
Lehrer  sind  bekanntermassen  deswegen  am  schädlichsten  für  ihre 
Schüler,  weil  sie  deren  Aufmerksamkeit  auch  dann  noch  zu  fesseln 
verstehen,  wenn  im  Laufe  der  ausgedehnten  Unterrichtsstunden  die 
Ermüdung  schon  lange  das  zulässige  Mass  überschritten  hat. 

Unter  allen  Umständen  wird  gerade  vom  Standpunkte  des 
Irrenarztes  aus  eine  Reform  des  Unterrichtes  nach  verschiedenen 
Seiten  hin  angestrebt  werden  müssen.  Yor  Allem  ist  zu  berück- 
sichtigen, dass  die  Ermüdungseinflüsse  eine  fortschreitende  Abnahme 
der  geistigen  Leistungsfähigkeit  bedingen.  Darum  ist  vor  einer 
Häufung  der  Lehrstunden  zu  warnen;  viel  besser  würde  die  Yer- 
theilung  derselben  auf  zwei  tägliche  Hauptabschnitte  sein,  deren 
erster  bald  nach  dem  Erwachen  aus  dem  Schlafe  gelegen  sein  muss,. 
während  der  zweite  etwa  zwei  Stunden  nach  der  Hauptmahlzeit  zu 
beginnen  hätte.    Das  sind  die  beiden  Tageszeiten,  an  denen  die  Er- 


Prophj'laxis. 


195 


müdbaxkeit  am  geringsten  ist.  Jeder  dieser  Abschnitte  soll  durch 
Pausen  in  mehrere  Unterabschnitte  zerlegt  werden,  in  denen  ein 
Wechsel  des  Lehrstoffes  stattfindet,  da  wir  auf  diese  Weise  in  der 
gleichen  Zeit  erheblich  mehr  zu  leisten  vermögen,  als  bei  gleichartigem 
ununterbrochenem  Fortarbeiten.  Entsprechend  dem  Anwachsen  der 
Ermüdung  müssen  diese  Pausen  fortschreitend  länger  werden,  wenn 
sie  ihrem  Zwecke  entsprechen  sollen.  Aus  dem  gleichen  Grunde 
werden  die  schwierigsten  Lehrstoffe  zuerst  zu  behandeln  und  die 
sogenannten  häuslichen  Arbeiten  bei  der  Bemessung  der  Gesammt- 
arbeitszeit  sorgfältig  mit  zu  berücksichtigen  sein. 

Da  das  mechanisch  Eingelernte,  wie  der  Versuch  lehrt,  sehr 
rasch  wieder  aus  unserem  Gedächtnisse  schwindet  und  zudem  nur 
in  äusserst  geringem  Masse  begrifflich  verarbeitet  wird,  so  ist  das 
einfache  Auswendiglernen  zielbewusst  und  unerbittlich  aus  dem 
Lehrplane  zu  verbannen.  Jene  Arbeitsleistung  ist  völlig  unnütz  und 
ungemein  anstrengend  zugleich,  alles  Gerede  von  einer  Stärkung  des 
Gedächtnisses  durch  mechanisches  Lernen  eine  sinnlose  Eabel.  Es 
darf  sogar  als  nicht  unwahrscheinlich  bezeichnet  werden,  dass  jene 
Lernmethode  geradezu  ein  Hemmniss  der  höheren  geistigen  Aus- 
bildung werden  kann,  nicht  nur  dadurch,  dass  sie  die  Arbeitskraft 
in  Anspruch  nimmt  und  damit  die  Empfänglichkeit  nach  anderen 
Eichtungen  hin  vermindert,  sondern  auch  durch  allzustarkes  Betonen 
der  motorischen  Sprachvorstellungen  und  der  rein  gewohnheitsmässigen 
Ideenverbindungen  in  unserem  Seelenleben. 

Endlich  aber  darf  selbstverständlich  nicht  ausser  Acht  gelassen 
werden,  dass  nur  in  einem  gesunden  Körper  eine  gesunde  Seele 
wohnen  kann.  Die  ausgiebigste  Pflege  und  Entwickelung  der  körper- 
lichen Kraft  und  Gewandtheit  durch  Leibesübungen  aller  Art,  reich- 
liche Bewegung  im  Freien,  häufiges  Baden,  Handfertigkeitsunterricht 
und  dergl.  wird  das  beste  Gegengewicht  gegenüber  den  Gefahren 
abgeben,  welche  aus  der  einseitigen  und  übertriebenen  Anspannung 
der  geistigen  Kräfte  erwachsen  können.  Zu  berücksichtigen  ist  da- 
bei indessen,  dass  auch  körperliche  Ermüdung  die  geistige  Leistungs- 
fähigkeit herabsetzt,  dass  daher  anstrengende  körperhche  Uebungen 
nicht  in  die  Mitte,  sondern  nur  an  das  Ende  des  eigentlichen  Schul- 
unterrichtes gelegt  werden  dürfen. 

Im  späteren  Leben  fällt  der  psychiatrischen  Prophylaxe  die 
doppelte  Aufgabe  zu,  einmal  das  einzelne  Individuum  vor  den  nach 

13* 


196 


V.  Allgemeine  Therapie. 


seiner  besonderen  Anlage  drohenden  Gefahren  zu  schützen,  anderer- 
seits jene  allgemeineren  Ursachen  zu  bekämpfen,  welche  erfahrungs- 
gemäss  bei  der  Entstehung  psychischer  Erkrankungen  eine  hervor- 
ragende Kolle  spielen.  Nach  der  ersteren  Eichtung  hin  wird  ein  ein- 
sichtsvoller Hausarzt  ohne  Zweifel  sehr  segensreich  wirken  können 
Hier  gilt  es  vor  Allem,  zu  individualisiren.  Da  die  Leistungs-  und 
Widerstandsfähigkeit  der  Menschen  überaus  ungleich  vertheilt  ist,  so 
wird  es  Sache  des  Arztes  sein,  mit  Eücksicht  auf  diese  beiden  Eigen- 
schaften die  Wahl  des  Berufes  und  die  gesammte  Lebens- 
führung nach  Möglichkeit  zu  überwachen.  Namentlich  dort,  wo 
eine  krankhafte  Yeranlagung  besteht,  sind  alle  Berufsarten,  welche 
die  Gefahren  geistiger  oder  gemüthlicher  TJeberanstrengung,  grosser 
Yerantwortlichkeit  in  sich  schliessen,  auf  das  Entschiedenste  zu 
widerrathen.  Hier  passen  nur  Beschäftigungen,  welche  ein  ruhiges, 
gleichmässiges  Leben,  ohne  Aufregungen  und  Kämpfe,  am  besten 
mit  reichlichem  Aufenthalte  im  Freien,  gestatten.  Ebenso  muss  bei 
gefährdeten  Individuen  von  vornherein  auf  die  Fernhaltung  von  Aus- 
schweifungen, auf  die  Sorge  für  ausreichende  Erholung  und  Ernähr- 
ung, sowie  für  guten  Schlaf  in  besonderer  "Weise  Bedacht  genommen 
werden.  Natürlich  kann  sich  das  ärztliche  Handeln  im  einzelnen 
Falle  hier  überaus  mannigfach  gestalten;  die  zuverlässigste  Eicht- 
schnur  desselben  wird  dabei  immer  aus  einer  genauen  Berück- 
sichtigung der  ätiologischen  Yerhältnisse  des  IiTCseins  zu  ent- 
nehmen sein. 

Die  allgemeine  Prophylaxe  psychischer  Störungen  bietet 
zwar  ebenfalls  vielfache  Angriffspunkte,  aber  zumeist  sehr  weitaus- 
sehende und  über  den  Bereich  der  ärztüchen  Thätigkeit  hinaus- 
gehende Aufgaben.  Alle  Massregeln,  welche  die  aufreibende  Ge- 
walt des  Daseinskampfes  zu  mildern,  welche  Noth,  Elend  und  Krank- 
heit zu  lindern  vermögen,  dienen  auch  zugleich  der  Verhütung  des 
Irreseins.  Ein  besonderes  ärztliches  Interesse  haben  von  denselben 
vor  Allem  der  Kampf  gegen  Trunksucht  und  Syphilis,  sowie  die 
Organisation  einer  schnell  und  umsichtig  arbeitenden  Irrenfürsorge, 
welche  nicht  nur  die  Uebertragung  der  psychischen  Entartung  auf 
die  Nachkommenschaft  bis  zu  einem  gewissen  Grade  beschränken 
kann,  sondern  gewiss  auch  vielfach  im  Stande  ist,  die  Entwickelung 
schwererer  Krankheitsformen  durch  rechtzeitiges  Eingreifen  zu  ver- 
hüten.   Als  ein  wichtiger  Zweig  der  allgemeinen  Prophylaxis  ist 


Arzneimittel. 


197 


endlich  ganz  gewiss  auch  der  psychiatrische  Unterricht  zu  betrachten, 
die  Heranbildung  ärztlicher  Generationen,  welchen  eine  tiefere  Kennt- 
niss  der  Entstehungsbedingungen  und  der  Erscheinungen  des  Irre- 
seins auch  wirklich  die  Fähigkeit  an  die  Hand  giebt,  drohenden  Ge- 
fahren bei  Zeiten  vorzubeugen  und  das  werdende  Uebel  in  seinem 
Keime  zu  ersticken. 

In  Aveit  höherem  Masse,  als  durch  jene  allgemeineren  Aufgaben 
pflegt  das  Interesse  des  ärztlichen  Praktikers  durch  die  Behandlung 
des  einzelnen  Falles  angeregt  zu  werden.    Die  ganze  Zahl  der 
Mittel,  welche  uns  hier  zu  Gebote  stehen,  zerfällt  in  zwei  natürliche 
Gruppen,  je  nachdem  dieselben  die  Krankheit  von  den  körper- 
lichen Grrundlagen  des  gestörten  Seelenlebens  aus  oder  von 
"er  psychischen  Seite  her  in  Angriff  nehmen.    In  die  erstere 
^ruppe  gehören  die  Arzneimittel,  die  physikalischen  Heilmethoden 
nd  die  diätetischen  Massregeln,  in  die  letztere  die  mannigfachen 
sychischen  Einwirkungen,  welche  durch  das  Anstaltsleben  und  ins- 
esondere  die  zieibewusst  handelnde  Persönlichkeit  des  Arztes  er- 
zeugt werden. 

B.  Körperliche  Behandluiig. 
Arzneimittel.  Unter  den  Arzneimitteln  sind  es  besonders  die 
Narkotica,  die  wegen  ihrer  beruhigenden  Wirkung  eine  hervor- 
ragende Stelle  in  dem  Heüapparate  der  Geistesstörungen  einnehmen. 
Seit  alter  Zeit  ist  das  Opium  im  Gebrauch.  Es  wirkt  auf  unsere  nervösen 
Centraiorgane  beruhigend,  besonders,  wie  es  scheint,  bei  anämischen 
Zuständen  derselben.  Eine  genaue  Kenntniss  seines  Einflusses  auf 
die  verschiedenen  psychischen  Leistungen  fehlt  bisher  noch.  Auf- 
regungen, vor  AUem  Angstzustände  oder  solche,  die  durch  schmerz- 
hafte Eeizungen  erzeugt  oder  unterhalten  werden  (Neuralgien,  abnorme 
»Sensationen,  Präcordialangst),  sind  das  wichtigste  Gebiet  seiner 
therapeutischen  Anwendung,  durch  welche  (in  nicht  zu  kleinen  Gaben) 
Beruhigung  und  mittelbar  Schlaf  erzielt  wird.  Dagegen  ist  das 
Opium  nicht  am  Platze  bei  starken  venösen  Hyperämien  des  Gehirns 
(andauerndes  hohes  Fieber),  grosser  körperlicher  Hinfälligkeit  und 
namenthch  Herzschwäche.  Als  unangenehme  Nebenwirkungen  sind 
die  Yerdauungsstörungen  (Appetitlosigkeit,  hartnäckige  "Verstopfung) 
zu  beachten.  Im  Allgemeinen  wird  das  Opium  von  Geisteskranken 
meist  überraschend  gut  vertragen;  nur  einige  Male  schien  es  mir, 
als  wenn  bei  sehr  hohen  Opiumgaben  die  bekämpften  ängstlichen 


198 


V.  Allgemeine  Therapie. 


Aufregungszustände  geradezu  schliiiuner  Avurdeii;  Vorsicht  ist  also 
im  einzelnen  Ealle  jedenfalls  gerathen.  Das  gebräuchliche  Präparat 
ist  Tinctura  Opii  simplex  innerlich  (oder  eine  Lösmig  von 
Extr.  Opii  aquos.  1 :  20  subcutan,  zur  Vermeidung  von  Abscesseu 
oft  frisch  zu  bereiten),  bei  methodischer  Anwendung  in  steigender 
Gabe  von  10—20  Tropfen  (0,05—0,1  Extract)  2— 3 mal  täghch,  selbst 
bis  zum  3-  oder  4fachen,  wenn  nicht  schon  fi'üher  die  erstrebte  Be- 
ruhigung eintritt;  später  allmähliches  Heruntergehen  mit  der  Dosis. 

"Wegen  der  grösseren  Gleichmässigkeit  der  "Wirkung,  der 
sichereren  Dosirung  und  der  bequemeren  (subcutanen)  Handhabung  ist 
an  die  Stelle  des  Opiums  in  neuerer  Zeit  vielfach  das  Morphium  ge- 
treten, welches  wesentlich  dieselben  Indicationen  und  Contraindica- 
tionen  besitzt,  wie  jenes  Mittel.  Das  Morphium  erzeugt,  wie  es 
scheint,  in  massigen  Gaben  wesentlich  eine  Herabsetzung  der  centralen 
Schmerzempfindhchkeit,  sowie  eine  Lähmung  des  Willens,  ohne  Er- 
schwerung der  intellectuellen  Vorgänge.  Es  ist  daher  kein  Schlaf- 
sondern ein  Beruhigungsmittel;  bei  chronischem  Missbrauche  stellt 
es  vorübergehend  die  verloren  gegangene  geistige  Frische  und  Leistungs- 
fähigkeit wieder  her. 

Die  Morphiumbehandlung  ist  ebenfalls  zu  einer  methodischen  Cm- 
ausgebildet  worden,  welche  bei  chronisch-melancholischen,  besonders 
ängstlichen  Zuständen  mit  Parästhesien,  Schmerzen  und  dergi.  in  der 
That  oft  gute  Dienste  zu  leisten  scheint.  Im  Ganzen  muss  indessen 
unser  Bestreben  dahin  gehen,  den  Gebrauch  des  Morphiums  soweit 
wie  nur  irgend  möglich  einzuschränken.  Abgesehen  davon,  dass 
einzelne  Kranke,  namentlich  Frauen,  schon  auf  sehr  kleine  Gaben 
Morphium  (0,01  imd  weniger)  mit  recht  unangenehmen  Symptomen 
(Erbrechen,  Aufregung,  Collapse,  Ischurie)  reagiren,  und  dass  bei  An- 
Avendung  grösserer  Dosen  auch  nach  Stunden  noch  unvermuthet 
schwere,  selbst  tödtlich  ausgehende  Vergiftungserscheinungen  sich 
einstellen  können,  ist  vor  Allem  an  die  kaum  hoch  genug  anzu- 
schlagende schwere  Gefahr  des  chronischen  Morphinismus  zu  erinnern, 
mit  der  wir  uns  später  eingehend  zu  beschäftigen  haben  werden. 

Von  den  übrigen  Bestand theilen  des  .Opiums  ist  in  letzter  Zeit 
das  Codein*)  vneder  wärmer  empfohlen  worden.  Es  soll  ähnlich, 
aber  viel  schwächer  wirken,  als  das  Morphium  und  selbst  beijlängerer 
Anwendung  nicht  die  kachektischen  Zustände  erzeugen,  Avie  jenes. 

*)  Fischer',  Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte  1888,  19. 


Arzneimittel. 


199 


Im  Wesentlichen  scheint  es  sich  um  einen  minder  werthigen,  aber  schwer- 
lich ungefcährliclien  Ersatz  des  Morphiums  zu  handeln.  Die  ebenfalls 
als  Hypnoticum  und  Anodynum  gerülimte,  Morphin  enthaltende 
Papaveracee  Eschholtzia  californica  harrt  noch  weiterer  Prüfung. 

Dagegen  können  wir  als  ein  für  die  psychiatrische  Therapie 
recht  Averthvolles  Mittel  das  von  Gnauck*)  zuerst  bei  Geisteskranken 
angewandte  Hyoscin  (Ladenburg)  bezeichnen.  Dieses  Alkaloid 
(Chlor-,  Brom-  oder  Jodverbindung)  erzeugt  in  subcutaner  Gabe  von 
0^0005—0,001  gr  mit  nicht  üb  er  tr  offener  Sicherheit  einen  nach  10 
bis  15  Minuten  eintretenden  tiefen  Schlaf.  Bei  innerlicher  Anwend- 
ung, die  wegen  der  völligen  Geschmacklosigkeit  des  Mittels  keine 
Schwierigkeiten  hat,  kann  die  Dosis  auf  das  Doppelte  steigen.  Die 
Nebenerscheinungen  sollen  dabei  schwächer  ausfallen,  als  bei  der 
Einspritzung  unter  die  Haut. 

Die  Narkose  wird  eingeleitet  durch  Eingenommenheit  des  Kopfes, 
Trockenheit  im  Halse,  Schwere  der  Zunge,  Unsicherheit  beim  Gehen 
und  eine  mehrere  Tage,  selbst  Wochen  lang  andauernde,  hochgradige 
Mydriasis.  Bei  grösseren  Gaben  scheinen  TJebelkeit,  Unregelmässig- 
keit des  Pulses,  Eespirationsstörung,  Gesichtshallucinationen,  selbst 
Deürien  und  CoUapszustände  auftreten  zu  können,  doch  haben  hier 
vielleicht  gelegentlich  Yerunreinigungen  eine  gewisse  Polle  gespielt. 
Ich  selbst  konnte  wenigstens  niemals  bedrohlichere  Erscheinungen 
beobachten,  obgleich  ich  wegen  ungünstiger  äusserer  Yerhältnisse 
das  Mittel  durch  eine  Reihe  von  Jahren  überaus  häufig  habe  in  An- 
wendung ziehen  müssen.  Nur  besteht  nach  dem  Erwachen  gewöhn- 
lich das  Gefühl  von  Abgeschlagenheit  und  ein  leichter  Druck  im 
Kopfe,  der  sich  meist  bald  verliert.  Das  Hyoscin  ist  demnach  ein 
äusserst  energisches  Mittel,  welches  überall  dort,  wo  die  dringende 
Nothwendigkeit  besteht,  rasch  Beruhigung  und  Schlaf  zu  verschaffen, 
zuverlässig  und  meist  ohne  schwerere  Nachtheile  seine  Wirkung  thut. 
Schwere  tobsüchtige  oder  deliriöse  Erregungszustände  bei  periodischen 
Störungen,  Paralyse,  Epilepsie,  unter  Umständen  auch  im  Delirium 
tremens  oder  Collapsdelirium  kommen  hauptsächlich  in  Betracht. 
Gegen  die  Angst  leistet  das  Hyoscin  nichts.    Bei  längerem  Ge- 

*)  Charitc-Annalen  VII;  Sohrt,  Pharmakotherapeutische  Studien  über  das 
Hyo3cm.  Diss.  1886;  Konrad,  Erlennioyers  Centralbl.,  1888,  18;  Klinke, 
ibidem,  1889,'  7;  Dornbliith,  Therap.  Monatshefte,  1889,  8,  p.  361;  Serger, 
Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLVII.  p.  308. 


200 


V.  Allgemeine  Therapie. 


brauche  tritt  allmählich  eine  gewsse  Gewöhnung  ein,  welche  zu 
langsamer  Erhöhung  der  Gabe  führt.  Besondere  Störungen,  wie 
etwa  Appetitlosigkeit,  Rückgang  der  Ernährung  oder  dergi.  haben 
sich  mir  dabei  niemals  herausgestellt;  ebensoAvenig  führt  das  Aus- 
setzen des  Mittels  zu  Abstinenzsymptomen.  Da  aber  auf  der  anderen 
Seite  auch  keine  dauernde  Beruhigung  erzielt  wird,  sondern  nach 
dem  Yerschwinden  der  Ermattung  die  Aufregung  in  alter  Weise 
mederzukehren  pflegt,  so  dürfte  sich  das  Mttel  wegen  seiner  ge- 
waltigen Wirkung  im  Ganzen  doch  mehr  für  die  gelegentliche,  wurf weise 
Anwendung  eignen.  Ferner  wird  man  gut  thun,  bei  sehr  herunter- 
gekommenen Kranken  und  beim  Bestehen  von  Circulationsstörungen 
das  Mittel  zu  vermeiden  oder  doch  mit  grosser  Vorsicht  zu  handhaben. 

Auf  Beimengungen  von  Hyoscin  ist  wahrscheinlich  auch  die 
schlafmachende  Wirkung  des  früher  viel  angewendeten  Hyoscyamin 
zurückzuführen.  Das  Mittel  ist  jetzt  wol  ziemlich  allgemein  ver- 
lassen worden,  da  es  recht  gefährliche  Nebenwirkungen  mit  sich 
führen  kann  (Delirien,  Collapse,  Sinken  des  Körpergewichtes). 

Neuerdings  ist  zum  Ersatz  des  Hyoscin  das  Duboisinum  sul- 
furicum*)  mehrfach  empfohlen  worden,  da  es  weniger  gefährlich 
sei.  Es  wird  in  Gaben  von  1 — 2  Milligramm  subcutan  gegeben, 
scheint  ziemlich  sicher  zu  wirken,  aber  nach  den  vorliegenden  Be- 
richten doch  nicht  so  ganz  harmlos  zu  sein.  Ein  wesenthcher  Yor- 
theil  vor  dem  gut  erprobten  Hyoscin  lässt  sich  bisher  nicht  erkennen. 

lieber  das  Haschisch  sind  nur  wenige  verwerthbare  Be- 
obachtungen bekannt  geworden,  ein  Umstand,  der  seinen  Grund 
hauptsächlich  in  der  Unsicherheit  und  Yerschiedenheit  der  zugäng- 
lichen Präparate  haben  dürfte.  Man  hat  daher  in  neuerer  Zeit 
mehrere  Bestandtheile  desselben  isolirt  in  Anwendung  gezogen,  das 
Cannabinum  tannicum  (Merck),  das  Cannabinum  purum 
(Bombeion)  und  das  Cannabinon.  Am  meisten  praktische  Yer- 
werthung  hat  von  diesen  Mitteln  das  Cannabinon**)  gefunden. 
Leider  ist  das  gebräuchüche  Präparat  keineswegs  rein.  Man  giebt 
dasselbe  als  Hypnoticum  in  Dosen  von  0,1 — 0,2  gr,  am  besten  in 
Pillen  oder  mit  fein  zerriebenem  Kaffeepulver.  Die  schlaf  machen  de 
Wirkung  tritt  nach  etwa  2 — 3  Stunden  ein,  am  sichersten  in  Bett- 

*)  Ostermeyer,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  XLVn,  p.  278;  Preininger  , 
ibidem  XLVm,  p.  134:  Belmondo,  Eivista  sperimeutale  di  freniatria,  1892. 
**)  Ei  cht  er,  Neurolog.  Centraiblatt,  III,  21;  IV,  1. 


1 


Arzneimittel. 


201 


ruhe,  und  wenn  das  Mittel  in  den  leeren  Magen  gebracht  wurde. 
In  einzelnen  Fällen  werden  unangenehme  Nebenerscheinungen, 
Schwere  in  den  Gliedern  und  in  der  Zunge,  Uebelkeit,  Trockenheit 
im  Halse,  Schwindelgefühl,  Kopfdruck,  Gehörshallucinationen,  selbst 
leichte  Collapse  beobachtet,  doch  pflegen  sich  diese  Störungen  meist 
bald  und  ohne  üble  Folgen  wieder  7ai  verlieren.  Nicht  selten  bleibt 
indessen  die  Wirkung  oder  doch  der  Schlaf  ganz  aus.  Am  sichersten 
scheint  das  Mittel  bei  hysterischer  und  „nervöser"  Schlaflosigkeit, 
sowie  in  leichten  maniakalischen  Aufregungszu ständen  zu  wirken; 
es  ist  hier  bisweilen  ein  willkommener  Ersatz,  wo  andere  Medicamente 
versagen  oder  nicht  vertragen  werden.  Die  Wirkung  der  andern 
beiden  oben  erwähnten  Präparate  ist  derjenigen  des  Cannabinon  ähn- 
lich; das  Cannabinum  tannicum  erfordert  indessen  eine  höhere 
Dosirimg  (0,3—1,0). 

lieber  ein  weiteres  vegetabihsches  Arzneimittel,  welches  von 
Seifert  als  .Hypnoticum  angewendet  wurde,  das  Extractum 
Piscidiae  erythrinae,  hegen  noch  keine  ausreichenden  Erfahr- 
ungen vor.  Soweit  meine  Beobachtungen  reichen,  scheint  die 
Wirkung  eine  unsichere  und  wenig  nachhaltige  zu  sein;  üble 
Zufälle  habe  ich  nicht  dabei  gesehen.  Das  von  Juranville  empfohlene 
Glykosid  Boldin  aus  den  Boldoblättern,  welches  innerüch  oder  sub- 
cutan ohne  schädliche  Nebenwirkungen  Schlaf  erzeugen  soll,  habe  ich 
noch  nicht  erproben  können. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Medicamenten,  welche  in  der  psychia- 
trischen Therapie  hervorragende  Wichtigkeit  erlangt  haben,  ist  die- 
jenige der  Schlafmittel*).  Yor  nunmehr  fast  zwei  Decennien 
wurde  von  Liebreich  das  Chloralhydrat**)  in  die  Praxis  ein- 
geführt, welches  mit  grosser  Sicherheit  in  Gaben  von  2 — 3  gr,  meist 
ohne  andere  Nachwehen,  als  eine  gewisse  Benommenheit  des  Kopfes, 
einen  länger  dauernden,  ruhigen  Schlaf  herbeiführt.  Da  es  ebenso- 
wenig, wie  die  übrigen  Hypnotica,  Schmerzen  stillt,  so  hat  man  es  bis- 
weilen in  Verbindung  mit  Morphium  gegeben.  Wegen  seiner  ätzenden 
Eigenschaften  und  seines  unangenehmen  Geschmackes  giebt  man  das 

*)  Würschmidt,  Ueber  einige  Hypnotica,  deren  Anwendung  und  Wirkung 
bei  Geisteskranken.  1888;  v.  Krafft-Ebing,  Wiener  Klinische  Wochenschrift. 
1890,  2  und  .3. 

**)  Schule,  Allgeiii.  Zeitschrift  für  Psychiatric  XXVllI,  1;  Archiv  für 
Psychiatrie  V,  p.  271;  Arndt,  ibidem  III,  p.  67.3. 


202 


V.  Allgemeine  Therapie. 


Chloralhydrat  in  stark  verdünnter,  schleimiger  Lösang  per  Klysma, 
oder  innerlich  unter  Zusatz  von  Aqua  Menthae  piperitae,  Syrupus 
Liquiritiae  oder  corticum  Aurantii.  Seine  Anwendung  findet  das  Mittel 
bei  schwererer  Schlaflosigkeit  in  den  verschiedensten  Formen  des  Irre- 
seins. Leider  pflegt  sich  bei  längerem  Gebrauche  nach  und  nach  eine 
wachsende  Unempfindlichkeit  gegen  das  Mittel  einzustellen,  die  zui- 
Darreichung  höherer  Graben  verführt.  Nach  dieser  Eichtung  hin  ist 
indessen  grosse  Vorsicht  geboten,  da  die  fortgesetzte  Anwendung 
des  Chloralhydrats  Verdauungsstörungen  und  verschiedenartige 
angioparalytische  Erscheinungen  nach  sich  ziehen  kann.  Das  häufigste 
Symptom  der  chronischen  Chloralvergiftung  ist  der  sog.  „Rash", 
eine  namentlich  beim  Genüsse  von  Alkohol  oder  heissen  Flüssig- 
keiten auftretende  fliegende  Eöthe  und  Hitze  mit  starker  Pulsation 
besonders  am  Kopfe  und  Halse;  ferner  hat  man  Hautausschläge, 
Neigung  zu  Oedemen  und  Decubitus,  endlich  Zustände  von  dauern- 
der stupider  Benommenheit  in  Folge  des  Chlorahnissbrauches  be- 
obachtet, die  erst  nach  dem  Aussetzen  des  Mittels  langsam  wieder 
schwinden.  Gefährlich  und  darum  gänzlich  zu  vermeiden  ist  die 
Anwendung  des  Chloralhydrats  bei  Herz-  und  Gefä?serkrankungen 
(Fettherz,  Myokarditis,  Klappenfehler,  Atherom  u.  s.  f.) ;  schon  nach 
5  gr  wurden  plötzliche  Todesfälle  gesehen. 

Kaum  viel  mehr  Vertrauen,  als  das  Chloralhydrat,  scheint  das 
Chloralamid*)  zu  verdienen,  welches  zudem  weit  unsicherer  wirkt» 
Es  macht  Schlaf  in  Dosen  von  2—3  gr  bei  einfacher  nervöser  Schlaf- 
losigkeit, hat  aber  nicht  selten  unangenehme  Nachwirkungen,  Schwindel, 
Kopfschmerz,  Müdigkeit  u.  dergl. 

Einen  ausgezeichneten  Ersatz  dagegen  für  das  Chloralhydrat 
in  allen  den  Fällen,  wo  dasselbe  bedenklich  erscheint  oder  schlecht 
ertragen  wird,  haben  uns  Cervello  und  Morselli  im  Paral- 
dehyd**)  kennen  gelehrt.  Das  Mittel  bewirkt  in  mittleren  Dosen 
von  5  gr,  die  man  ohne  Bedenken  auf  das  Doppelte  und  selbst 
Dreifache  steigern  kann,  schon  nach  10  bis  15  Minuten  sehr  regel- 
mässig einen  tiefen,  ruhigen,  dem  natürlichen  durchaus  gleich- 

*)  P  ei  per,  Deutsche  Me(ücin.  Wochenschr.  1889,  32;  Alt.  Berliner  Khnische 
Wochenschr.  1889,  36. 

**)  MorseUi,  gazetta  degli  ospitali  1883,  4,  5,  ö;  Eeferat  im  Neurolog.  Central- 
blatt  II,  9;  Berger,  Breslauer  ärztl,  Zeitschr.,  1883;  Gugl,  Zeitschr.  f.  Therapie, 
1883;  V.  Krafft-Ebing,  Zeitschr.  f.  Therapie.  1887,  7. 


Ai'zneiulittel. 


203 


enden,  mehrstündigen  Schlaf.  Die  Ermüdung  tritt  mit  fast  unwider- 
stehlicher Gewalt  ein,  geht  aber,  wenn  äussere  Störungen,  Schmerzen 
und  dergl.  vorhanden  sind,  rasch  wieder  vorüber,  so  dass  an- 
scheinend wesentlich  das  Einschlafen,  weniger  der  spätere  Schlaf, 
unter  dem  Einflüsse  des  Mittels  steht.  Unangenehme  Nachwirkungen, 
Eingenommenheit  des  Kopfes  sind  hier  äusserst  selten,  wirkliche  Ge- 
fahren anscheinend  ausgeschlossen.  Muss  demnach  das  Paraldehyd 
als  ein  überaus  werthvolles  Schlafmittel  bezeichnet  werden,  so  hat  es 
den  recht  störenden  Nachtheil  eines  sehr  widerlichen,  kaum  zu 
corrigirenden  Geschmackes  und  Geruches,  der  wegen  der  Ausscheid- 
ung durch  die  Lungen  noch  12 — 24  Stunden  nach  dem  Einnehmen 
zui'ückbleibt.  Die  relativ  angenehmste  Form  der  Darreichimg  ist  die 
Vermischung  mit  Wein  oder  mit  einer  aromatischen  Tinctur,  Svrup 
imd  "Wasser  (Umschütteln!).  In  sehr  vereinzelten  Fällen  wird  es 
übrigens  vom  Magen  in  jeder  Form  zurückgewiesen;  man  wird  dann 
allenfalls  die  Darreichung  per  Klysma  (in  Oelemulsion)  oder  als 
Suppositorium  (mit  20^1^  Paraffin  im  "Wasserbade  vereinigt)  versuchen 
können.  Bei  längerem  Gebrauche  kann  der  Ai)petit  leiden;  auch 
scheint  dann  eine  Gewöhnung  an  das  Mittel  einzutreten,  die  zur  An- 
wendung höherer  Dosen  nöthigt,  ohne  jedoch  ernstere  Nachtheile  im 
Gefolge  zu  haben.  Nur  bei  ganz  exorbitantem  Missbrauche  des 
Mittels  stellen  sich  Tremor,  Abnahme  der  allgemeinen  Ernährung, 
des  Gedächtnisses  und  der  geistigen  Leistungsfähigkeit  ein,  yne 
V.  Krafft-Ebing  an  Kranken  beobachten  konnte,  welche  Jahr  und 
Tag  30 — 40  gr  Paraldehyd  pro  die  genommen  hatten. 

Die  letzten  Jahre  haben  uns  in  rascher  Folge  noch  mit  einer 
Eeihe  von  Schlafmitteln  bekannt  gemacht,  deren  besondere  gute  und 
schlechte  Seiten  gegen  einander  abzuwägen  nach  so  kurzer  Zeit 
kaum  möglich  ist.  Gewisse  Yorzüge  vor  dem  Paraldehyd  scheint 
das  von  v.  Mering  zuerst  empfohlene  Amylenhydrat*)  zu 
haben,  da  es  entschieden  den  Magen  weniger  belästigt,  als  jenes, 
und  auch  nicht  unangenehm  riecht,  während  der  Geschmack  nach 
meinen  Erfahrungen  bei  den  Patienten  mindestens  auf  den  gleichen 
"Widerwillen  stösst.  Die  wirksame  Dosis  beträgt  2—  5  gr  in 
Schüttelmixtur  mit  Himbeersyrup,  ßothwein  oder  Extract.  Liquiritiae. 


*)  Lehmann,  Neurolog.  Ceutralblatt,  1887,  20;  Schlöss,  Jahrb.  f.  Psychiatrie, 
1888,  1,  2;  Avellis,  Deutsche  Medicin.  "Wochenschr.,  1888,  1. 


204 


V.  Allgemeine  Therapie. 


Alle  die  genannten  Nachtheile  fallen  fort  bei  dem  von  Kast 
eingeführten  Siilfonal*),  welches  rasch  eine  sehr  grosse  Verbreitung 
gefunden  hat.  Das  Mittel  ist  in  der  That  geruchlos,  fast  geschmack- 
los und  beeinträchtigt  die  Verdauung  erst  bei  längerem  Gebrauche. 
Dagegen  wird  es  wegen  seiner  Schwerlöslichkeit  relativ  langsam 
resorbirt  und  wirkt  darum  nach,  sodass  grosse  Müdigkeit  und  Schwäche 
in  den  Beinen  am  nächsten  Tage  nicht  seltene  Erscheinungen  sind. 
Diese  Nachwirkung  kann  unter  Umständen,  bei  chronisch  erregten 
Kranken,  die  man  an  die  Bettruhe  gewöhnen  will,  geradezu  erwünscht 
sein.  Von  sehr  langer  Dauer  ist  sie  übrigens  nicht.  Bei  fortgesetzter 
hoher  Dosirung  tritt  nach  anfänglich  sehr  geringer  Wirkung  bis- 
weilen plötzlich  tagelange  Schlafsucht  auf,  wahrscheinlich  dui'ch 
raschere  Lösung  angesammelter  Mengen  des  Mittels.  Jedenfalls  ist 
vor  dauernder  Darreichung  ungelösten  Sulfonals  zu  warnen,  zumal 
es  dabei  unter  Umständen  anscheinend  zu  chronischer  Blutzersetzung 
kommen  kann  (Hämatoporphyrin  im  Harn).  Am  besten  giebt  man 
das  Mittel  1—2  Stunden  vor  dem  Schlafengehen  in  grösseren  Mengen 
heisser  Flüssigkeit  (Thee,  Suppe)  gelöst.  Auf  diese  Weise  und  ebenso 
durch  Einmischung  in  alle  möglichen  Speisen  hat  man  das  Siüfonal 
vielfach  den  Kranken  ganz  ohne  ihr  Wissen  beibringen  können. 

Dem  Sulfonal  zum  mindesten  gleichwerthig  scheint  das  nahe 
verwandte  Trional**)  zu  sein.  Die  Wirkung  ist  in  Gaben  von 
1 — 3  gr  (in  heisser  Milch  oder  warmem  ßothwein)  eine  recht  sichere 
nnd  dauert  trotz  der  geringen  Löslichkeit  des  Mittels  nicht  zu  lange 
an,  so  dass  die  unangenehmen  Folgeerscheinungen  meist  ausbleiben. 
Dagegen  scheint  es  hie  und  da  Magen  und  Darm  etwas  zu  belästigen. 
Die  Wirkung  des  Tetronais  ist  ähnlich,  nur  vielleicht  ein  wenig 
schwächer  und  unsicherer. 

Ein  mildes,  dafür  aber  durchaus  ungefährliches  Hypnoticum 
ist  das  von  v.  Jacksch  zuerst  geprüfte  ürethan,  dessen  Darreich- 
ung (zu  3—5  gr  mit  Aqua  Menthae  piperitae)  gar  keine  Schwierig- 
keiten macht.    Es  passt  daher  dort,  wo  andere  Mttel  zurückgewiesen 

*)  Kast,  Berl.  Klin.  Wochenschr.,  1888,  IG;  Therapeutische  Monatshefte,  1888, 
Juli;  Eabbas.  Berl.  Klin.  Wochenschr.,  1888, 17;  Gramer,  Münchener  Med. Wochen- 
schrift, 1888,  24;  Therapeutische  Monatshefte,  1888,  24;  ibidem,  1888,  8;  Otto, 
Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLV,  4;  Vorster,  ibidem  XLII,  1. 

**)  Schäfer,  Berl.  Klinische  Wochenchr.  1892,29;  Schnitze,  Therapeutische 
Monatshefte,  1891,  October. 


Arzneimittel. 


205 


werden,  oder  wo  hohes  Alter,  grosse  körperliche  Hinfälligkeit,  be- 
trächtliches Fieber  die  Anwendung  eingreifenderer  Medicationen  nicht 
gerathen  erscheinen  lassen.  Ausbleiben  der  "Wirkung  ist  nicht  selten; 
üble  oder  gar  bedrohliche  Zufälle  sind  bisher  nie  beobachtet  worden, 
doch  wurde  mir  zweimal  von  allerdings  nicht  ganz  zuverlässigen 
Kranken  über  das  Auftreten  von  Sinnestäuschungen  geklagt. 

Ueber  das  von  Com.pari  aus  Chloralhydrat  und  Urethan  dar- 
gestellte, von  Bernardino  empfohlene  Ural  fehlt  mir  eigene  Er- 
fahrung.   Die  Dosis  wird  auf  2 — 3  gr  angegeben. 

Unter  der  Bezeichnung  des  Hypnon*)  ist  von  Dujardin- 
Beaumetz  das  Phenylmethylaceton  in  die  Therapie  eingeführt 
worden.  Das  intensiv  nach  Jasmin  und  bitteren  Mandeln  riechende 
Mittel  wird  in  Gaben  von  5 — 10  Tropfen  angewendet,  die  wegen 
seiner  stark  ätzenden  Eigenschaften  am  zweckmässigsten  mit  Spermacet 
oder  Butyrum  Cacao  verrieben  und  in  Gelatinekapseln  eingeschlossen 
werden.  Die  schlafmachende  Wirkung  ist  keine  besonders  zuver- 
lässige, das  Mittel  daher  fast  wieder  vergessen. 

Den  grossen  Vorzug  einer  subcutanen  Anwendbarkeit  besitzt 
das  Methylal  **).  Allerdings  sind  die  Injectionen  (1  Theil  auf 
9  Theile  Wasser)  ziemlich  schmerzhaft,  und  man  muss  dieselben 
hänfig  wiederholen,  bis  der  Erfolg  eintritt,  v.  Erafft-Ebing 
empfiehlt  das  Mittel  warm  für  die  Behandlung  des  Delirium  tremens 
und  bei  Aufregungszuständen  auf  anämischer  Grundlage;  meine 
eigenen  Erfahrungen  gestatten  mir  noch  kein  sicheres  Urtheil.  Die 
Gabe  beträgt  0,1  in  mehrmaliger  Wiederholung ;  bei  innerlicher  Dar- 
reichung sind  sehr  viel  grössere  Dosen  erforderlich.  Im  Ganzen 
scheint  das  Problem  eines  unschädlichen,  sicher  wirkenden  und  be- 
quem subcutan  anwendbaren  reinen  Schlafmittels  auch  mit  dem 
Methylal  noch  nicht  gelöst  zu  sein. 

Als  eines  sehr  milden,  aber  in  normalen  wie  krankhaften  Zu- 
ständen häufig  genug  in  Anwendung  gezogenen  Hypnoticums  haben 
wir  endlich  noch  des  Alkohols  zu  gedenken.  In  nicht  zu  kleineu, 
individuell  natürlich  sehr  verschiedenen  Gaben  (etwa  40 — 60  gr)  er- 
zielt er  dort,  wo  die  Schlaflosigkeit  durch  erhöhte  centrale  Eeizbar- 

*) Mairet  et  Combemale,  Archivos  de  neurologie,  XIH,  37;  Normaa,  Journal 
of  mental  science,  1887,  Jan.;  Eottenbiller,  Erlenmeyors  Centralbl.  1887,  11. 

**)  Petrazzani,  Eivista  sperimentale  di  freniatria,  XIII,  2;  v.  Krafft- 
Ebing,  Therapeutische  Monatshefte,  1888,  2. 


206 


V.  Allgemeine  Therapie. 


keit  und  Uebermüdnng  bedingt  wird,  nicht  selten  recht  befriedigende 
Erfolge.  Auch  bei  Zuständen  innerer  Spannung  und  Hemmung 
(Depression)  werden  die  euphorischen  und  beruhigenden  Wirkungen 
des  Alkohols  den  Eintritt  des  Schlafes  zu  unterstützen  geeignet  sein. 
Bei  hysterischer,  neurasthenischer,  bisweilen  auch  bei  seniler  Schlaf- 
losigkeit ist  daher  zunächst  ein  Versuch  mit  diesem  Mittel  sehr 
am  Platze.  Man  giebt  es  je  nach  den  Lebensgewohnheiten  und 
Neigungen  des  Kranken  in  Form  von  Bier,  Grog  oder  Schlummer- 
punsch. Ausgezeichnete  Dienste  leistet  der  Alkohol  endlich  im 
Collapsdelirium,  namentlich  bei  Nahrungsverweigerung,  schwerer 
Unruhe  und  schwachem  Pulse.  Hier  passen  die  concentrirteren  Pormen , 
namentlich  der  Cognac,  wenn  nöthig,  als  Zusatz  zur  künstlichen 
Fütterung. 

Sehr  intensive,  allen  anderen  Mitteln  widerstehende  Aufregungs- 
zustände,  die  aus  irgend  einem  Grunde  (chirurgische  Yerletzungen, 
Nothwendigkeit  einer  kleinen  Operation  und  dergl.)  rasches  Ein- 
greifen verlangen,  können  gelegentlich  auch  zur  Anwendung  des 
Chloroforms  führen.  Schwächliche,  nervöse  Personen,  Hysterische, 
Trinker  sind  jedoch  davon  ausgeschlossen,  weil  bei  ihnen  der  Zweck 
einer  Beruhigung  nicht  erreicht  zu  werden  pflegt,  und  die  Narkose 
nicht  selten  grosse  Gefahren  über  sie  heraufführt.  Weniger  gefähr- 
lich, aber  auch  weniger  wirksam  ist  der  Ersatz  des  Chloroforms 
durch  Aether.  Versuche  systematischer  Anwendung  dieses  Mittels 
bei  erregten  Kranken  haben  mir  indessen  gezeigt,  dass  die  erzielte 
Beruhigung  die  eigentliche  Narkose  kaum  zu  überdauern  pflegt  und 
somit  der  Nutzen  durchaus  nicht  die  Gefahren  und  Unannehmlich- 
keiten für  Patienten  und  Arzt  aufzuwiegen  vermag.  Auch  die  von 
Berger  in  psychischen  Exaltationszuständen empfohlene  systematische 
Einathmung  von  Bromäthyl  (täglich  5 — 10  gT)  hat  wegen  des 
unsicheren  Erfolges  und  des  abscheulichen  Bromgestankes  keine 
weitere  Verbreitung  gefunden. 

Eine  letzte  Gruppe  das  Centralnerveusystem  direct  beein- 
flussender Arzneimittel  wird  durch  die  Brom  salze  (Bromkalium, 
— natrium,  — ammonium,  — rubidium  u.  A.)  gebildet,  welche  an- 
scheinend die  sensible  und  motorische  Erregbarkeit  des  Gehirns 
herabsetzen  und  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Epilepsie  und 
Neurasthenie  sehr  werthvolle  Dienste  leisten.  Bei  der  Epilepsie 
wirken  sie  allerdings,  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  nur 


Arzneimittel. 


207 


symptomatisch,  indem  sie  die  Zahl  und  Stärke  der  Anfälle  während 
der  Dauer  ihrer  Amvendung  verringern;  mit  dem  Aussetzen  des  Mittels 
pflegt  die  Krankheit  in  der  füheren  Heftigkeit,  bisweilen  sogar  in  ver- 
stärktem Masse  wieder  hervorzutreten.  Der  Erfolg  wird  in  der  Regel 
mit  der  Sicherheit  des  physiologischen  Experimentes  erreicht;  selten 
nur  bleibt  das  Leiden  gänzlich  unbeeinflusst.  Ausserdem  giebt  es 
indessen,  wie  ich  wiederholt  erfahren,  auch  vereinzelte  Fälle,  in  denen 
eine  sehr  entschiedene  und  sogar  gefahrdrohende  Verschlimmerung 
und  Häufung  der  Anfälle  sich  einstellt;  schon  aus  diesem  Grunde 
sollte  die  Anwendung  der  Mittel  nicht  ohne  dauernde  ärztliche  Ueber- 
wachung  durchgeführt  werden.  Die  sorglose  Versendung  derselben 
im  Grossen  an  beliebige  Laien,  wie  sie  von  der  Bielefelder  An- 
stalt aus  geschieht,  ist  jedenfalls  in  hohem  Masse  gefährlich.' 

Sehr  ausgedehnte  Anwendung  finden  die  Bromsalze  ferner  bei 
der  einfachen  Neurasthenie  und  der  sie  so  oft  begleitenden 
,,nervösen"  Schlaflosigkeit;  die  Herabsetzung  der  centralen  Erreg- 
barkeit genügt  hier  oft,  um  eine  dauernde  Beruhigung  und  Erholung 
zu  Stande  kommen  zu  lassen.  Man  giebt  die  einzelnen  Salze  oder 
die  drei  erstgenannten  in  gleichem  Verhältnisse  gemischt  (Erlen- 
meyer'sches  Gemisch)  entweder  als  Schlafmittel  in  einmaliger  voller 
Dosis  (3 — 6  gr)  oder  aber  in  methodischer  Cur  steigend  und  wieder 
fallend  zu  3—8  gx  pro  die  (Pulver  in  Oblaten  oder  Lösung).  Eine 
sehr  bequeme,  den  stark  salzigen  Geschmack  verdeckende  Form  der 
Anwendung  haben  wir  in  dem  kohlensauren  Bromwasser  ge- 
wonnen, welches  gewöhnlich  in  einer  Flasche  10  gr  Bromkalium 
enthält.  "Wo  die  Anfälle  zu  bestimmten  Zeiten  (Menses)  hervorzu- 
treten pflegen,  wird  man  zweckmässig  die  Maximalgaben  gerade  in 
diese  Periode  fallen  lassen,  um  während  der  Zwischenpausen  herunter- 
zugehen und  wo  möglich  ganz  auszusetzen  (intermittirende  Anwend- 
ung). Grössere  Gaben  der  Bromsalze  können  nämlich  bei  längerer 
ununterbrochener  Anwendung  schwere  Gehirnerscheinungen  hervor- 
rufen (Abnahme  des  Gedächtnisses,  Unsicherheit  der  Bewegungen, 
Apathie);  aber  auch  der  Gebrauch  kleinerer  Dosen  darf  höchstens 
einige  Monate  lang  ohne  die  Gefahr  von  Verdauungsstörungen  und 
fortschreitender  Abmagerung  fortgesetzt  werden.  Das  Auftreten  von 
Acneknötchen  und  Furunkeln,  sowie  starker  foetor  ex  ore  giebt  das 
Zeichen  zur  Unterbrechung. 

In  ähnlicher  Weise  wie  die  Krampfanfälle  vermag  das  Bromkalium 


208 


V.  Allgemeine  Therapie. 


auch  bisweilen  periodisch  auftretende  Aufregungszustäude  abzu- 
schneiden, namentlich  dann,  wenn  dieselben  mit  den  Menses  in  Be- 
ziehung stehen  und  von  kurzer  (1 — 2  wöchentlicher)  Dauer  sind. 
Der  Erfolg  tritt  nicht  überall,  in  einzelnen  Fällen  aber  mit  der  grössten 
Sicherheit  ein.  Von  Wichtigkeit  ist  hier  namentlich  die  rechtzeitige 
Darreichung  bei  den  ersten  Anzeichen  des  beginnenden  Anfalles, 
dann  aber  die  Anwendung  sehr  grosser  Gaben.  Man  giebt  nicht 
weniger  als  12 — 15  gr  pro  die  eine  Reihe  von  Tagen  hintereinander 
und  geht  dann  langsam  herunter,  natürlich  unter  beständiger  Ueber- 
wachung  des  Zustandes,  im  Hinblicke  auf  die  Gefahr  plötzlicher 
CoUapse  oder  bronchitischer  Erkrankungen. 

Die  unzweifelhafte  Bedeutung  der  Blutversorgung  in  der  Pathologie 
der  Geistesstörungen  hat  auch  einigen  Mitteln  in  die  Therapie  des 
Irreseins  Eingang  verschafft,  welche  vorwiegend  auf  das  Herz  und 
die  Gefässe  wirken.  So  hat  man  das  Amylnitrit  wegen  seines 
auffallenden  Einflusses  auf  das  Gefässgebiet  des  Kopfes  in  solchen 
Zuständen  angewendet,  in  denen  man  einen  Gefässkrampf  vermuthete. 
Leider  hat  das  Mittel  bisher  die  gehegten  Erwartungen  nicht  ge- 
rechtfertigt, da  die  "Wirkungen  selbst  im  günstigsten  Falle  sehr  rasch 
vorübergehen.  Ferner  kommt  der  Digitalis,  namentlich  in  Verbind- 
ung mit  Opium  oder  Morphium,  nicht  selten  dort  eine  beruhigende 
Wirkung  zu,  wo  Aufregungszutände  mit  unregelmässigem,  frequentem 
Pulse  und  Herzschwäche  einhergehen  (Herzfehler,  alte  Perikarditis 
u.  s.  f.).  Yielleicht  wird  man  endKch  von  den  neuesten  Mitteln 
dieser  Gruppe,  vom  Cytisin  und  noch  mehr  vom  Cornutin  mit 
seiner  den  Gefässtonus  und  damit  den  Blutdruck  steigernden  Wirk- 
ung bei  Stauungen  und  Anaenrie  in  der  Schädelhölile  aufmunternde 
Erfolge  zu  erwarten  haben.  Wichtiger  freilich  noch  wären  Mittel, 
welche  die  Beschaffenheit  des  Blutes  zu  verbessern  vermöchten. 
Hoffentlich  wird  uns  die  rüstig  fortschreitende  Pathologie  des  Blutes 
bald  nach  dieser  Richtung  hin  sichere  Wege  weisen. 

Fast  gänzlich  aus  der  psychiatrischen  Therapie  verbannt  sind 
die  früher  viel  geübten  Blutentziehungen,  namentlich  die  all- 
gemeinen, seitdem  man  erkannt  hat,  dass  psychische  Störungen  nicht 
durch  „Plethora",  sondern  im  Gegentheil  häufig  genug  durch 
anaemische  und  ischaemische  Zustände  des  Gehirns  bedingt  werden. 
Wo  starke  Congestionen  oder  Entzündungssymptome  eine  Entlastung 
des  Schädelinhaltes  nothwendig  erscheinen  lassen,  können  allenfalls 


Physikalische  Heilmethoden. 


209 


einige  Blutegel  au  den  Processus  mastoidei  oder  au  der  Nasen- 
scheidewand  in  Anwendung  kommen.  Ebenso  sind  auch  die  einst 
sehr  beliebten  ableitenden  Mittel  (Blasen pflaster,  Unguentum 
tartari  stibiati,  Drastica)  fast  völlig  veraltet. 

Physikalische  Heilmethoden.  Unter  den  physikalischen  Heil- 
methoden, die  in  die  irrenärztliche  Praxis  Eingang  gefunden  haben, 
steht  obenan  die  Hydrotherapie,  insonderheit  die  Anwendung  der 
Bäder.  Zwar  sind  die  barbarischen  Douchen  und  die  kalten  Stui'z- 
bäder,  wie  sie  früher  als  „revulsive"  Mittel  beliebt  waren,  lange 
ausser  Gebrauch  gekommen,  aber  der  grosse  "Werth  warmer  und 
lauer,  besonders  verlängerter,  einige  (3 — 4)  Stunden  dauernder  Bäder 
für  die  Behandlung  von  Aufregungszuständen  ist  unzweifelhaft. 
Natürlich  wirken  sie  nur  dann  beruhigend,  wenn  die  Kranken  frei- 
willig darin  bleiben;  das  Festhalten  durch  "Wärter  pflegt  die  Er- 
regung meist  nur  zu  steigern,  besonders  bei  ängstlichen  Patienten. 
Einzelne  erfahrene  Beobachter  rühmen  zwar  den  Nutzen  der  mit 
ausgeschnittenen  Deckeln  verschHessbaren  "Wannen,  doch  kann  ich 
mich  mit  dieser  Einrichtung  nicht  befreunden.  Man  kann  die  ver- 
längerten lauen,  stets  auf  gleicher  Temperatur  (32 — 340  q-^  gj._ 
haltenen  Bäder  auch  mehrmals  täglich  anwenden  und  sogar  den 
ganzen  Tag  andauern  lassen;  gegen  Abend  haben  sie  eine  günstige 
schlaf  machen  de  "Wirkung.  Wo  congestive  Erscheinungen  Seitens 
des  Kopfes  vorliegen,  verbindet  man  sie  mit  gleichzeitiger  kalter  Be- 
rieselung desselben  oder  Eisumschlägen.  An  das  Bad  selbst  schliesst 
sich  zur  Anregung  der  Hautthätigkeit  zweckmässig  ebenfalls  eine 
kühle  Berieselung  mit  darauffolgender  Abreibung  an.  Bei  sehr 
schwächlichen  Kranken  werden  die  Vollbäder  oft  mit  Erfolg  ersetzt 
durch  hydropathische  Einwickelungen  des  ganzen  Körpers, 
die  indessen  nicht  mehr  als  einige  Stunden  ausgedehnt  werden  sollten 
(CoUapsgefahr).  Sanfte  Regendouchen,  kalte  Abreibungen  empfehlen 
sich  für  nervöse  und  hysterische  Kranke,  besonders  auch  Onanisten, 
bei  denen  noch  kalte  Sitzbäder  hinzugefügt  werden.  Von  den 
medicamentösen  Bädern  sind  hauptsächlich  nur  noch  die  Senffuss- 
bäder im  Gebrauch,  die  bei  Neigung  zu  Kopfcongestionen  bisweilen 
einen  schlafmachenden  Einfluss  auszuüben  im  Stande  sind.  Dem 
gleichen  Zwecke  dient  die  örtliche  Anwendung  der  Kälte  am 
Kopfe  in  der  Form  des  Eisbeutels.  Die  Ehafachheit  und  Volksthüm- 
lichkeit  dieser  Massregel  spricht  entschieden  zu  ihren  Gunsten,  wenn 

Kraopolin,  Psychiatrio.  4.  Ann.  14 


210 


V.  Allgemeine  Therapie. 


man  auch  gerade  in  der  Psychiatrie  vielleicht  häufiger  von  ihrem 
psychischen  (Zwang  der  Bettlage),  als  von  dem  physikaüschen  Ein- 
flüsse Erfolg  hoffen  darf.  Beim  Bestehen  von  Menstruationsbeschwerden 
mit  Empfindlichkeit  der  Wirbelsäule  hat  man  auch  die  Kältebehand- 
lung dieser  letzteren  mit  Hülfe  des  eisgefüllten  Chapmann'schen 
Schlauches  empfohlen. 

Verhältnissmässig  beschränkte  Anwendung  hat  bisher  dieElektr  o- 
therapie*)  in  der  Behandlung  der  Geisteskrankheiten  gefunden. 
Die  vorliegenden  Erfahrungen  sind  daher  noch  sehr  lückenhaft 
und  kaum  zui"  Aufstellung  allgemeiner  Grundsätze  geeignet.  Der 
faradische  Strom  scheint  vorzugsweise  als  Erregungsmittel 
zu  wirken.  Dem  gegenüber  erwartet  man  von  der  Galvanisation 
des  Kückenmarks,  des  Sympathicus,  des  Gehirns  (schAvache  Ströme, 
kurze  Sitzungen,  grosse  Elektroden,  Leitung  längs  oder  schräg  diu'ch 
den  Kopf)  namentlich  eine  „katalytische"  Einwirkung  auf  die 
feineren  molecularen  Vorgänge  und  einen  Einfluss  auf  das  Gefäss- 
system.  Man  hat  daher  vorgeschlagen,  bei  Zuständen  mit  erhöhter 
nervöser  Reizbarkeit,  Gefässkrampf  und  dergleichen  die  Anode 
(absteigende  Ströme),  bei  bestehenden  Lähmungserscheinungen, 
Stauungen,  Oedemen  dagegen  die  Kathode  (aufsteigende  Steöme) 
auf  das  centrale  Nervensystem  einwirken  zu  lassen.  Dass  beide 
Elektroden  auch  hier  einen  verschiedenen  Einfluss  ausüben  können, 
scheint  aus  einzelnen  Beobachtungsthatsachen  hervorzugehen. 

Im  Allgemeinen  werden  es  natürlich  vorzugsweise  die  frischen, 
noch  nicht  sehr  ausgebildeten,  und  namentlich  die  mit  nervösen 
Beschwerden  einhergehenden  Fälle  sein,  in  denen  man  von  der 
elektrischen  Behandlung  Erfolg  hoffen  darf.  Hier  mag-  es  bisweilen 
gelingen,  durch  Beseitigung  peripherer  Reizursachen,  dui-ch  Herab- 
setzung der  Erregbarkeit  und  durch  Beeinflussung  des  Blutkreislaufs 
die  drohende  psychische  Erkrankung  schon  in  ihrem  Beginne  zu 
bekämpfen.  Bei  tieferen,  anatomisch  greifbai-en  Störimgen,  Avie 
namentlich  bei  der  Paralyse,  ist  höchstens  auf  eine  ganz  vorüber- 
gehende Wii-kung  zu  rechnen,  doch  hat  man  auch  hier  Rückenmark 
und  Sympathicus  mit  aufsteigenden  Strömen  behandelt.  Hysterische 


*)  Arndt,  Archiv  f.  Psychiatrie  II;  AUgem.  Zeitschrift  f.  Psychiatrie  XXVIII, 
XXXIV;  Erb,' Elektrotherapie  II,  2.  Anflage.  1886.  Tigges,  Allgem.  Zeitschrift 
f.  Psychiatrie  XL. 


Diätetische  Massregeln. 


211 


Dämmerzustände  imd  vielleicht  auch  manche  Formen  der  Melancholie 
oder  des  acuten  Schwachsinns  in  späteren  Stadien  scheinen  unter 
Umständen  durch  methodische  Faradisation  günstig  beeinflusst  zu 
werden;  es  empfiehlt  sich  die  Anwendung  stärkerer  Ströme  an  ver- 
schiedenen Stellen  der  Körperoberfläche  oder  die  allgemeine  Faradi- 
sation.  Galvanisation  und  Faradisation  des  Kopfes  (elektrische  Hand) 
können  wegen  ihrer  hypnotischen  "Wirkung  auch  zui'  Bekämpfung 
der  Schlaflosigkeit  gelegenthch  in  Anwendung  gezogen  werden. 
Die  besten  praktischen  Dienste  leistet  die  elektrische  Behandlung 
(Galvanisation  des  Kopfes,  allgemeine  Faradisation  mit  der  Rolle, 
elektrische  Bäder)  unzAveifelhaft  in  hysterischen  und  nem'asthenischen 
Zuständen.  Gerade  hier  aber  Avird  die  Ausscheidimg  des  sicherlich 
nicht  geringen  Antheils,  Avelcher  dem  psychischen  Einflüsse  des 
Yerfahrens  zugeschrieben  werden  muss,  voUkoramen  undurclrftihrbar. 

Die  modernste  unter  den  pJiysikaHschen  Heilmethoden,  die 
Massage,  hat  sich  ebenfalls  nur  ein  geringes  Gebiet  der  psychiatiischen 
Therapie  zu  erobern  vermocht,  das  sie  zudem  noch  mit  der  Elektricität 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  theileu  muss.  Bei  der  grossen  Mehr- 
zahl der  psychischen  Krankheiten  passt  die  Massage  nur  dort,  wo 
eine  selbstänchge  körperhche  Anzeige  für  dieselbe  vorhegt.  In  ge- 
wissen Formen  von  hysterischen  imd  neurastlienischen  Psychosen 
indessen,  sowie  in  der  Eeconvalescenz  von  einfachen  Melanchohen 
vermag  die  Massage,  am  besten  in  Verbindung  mit  der  allgemeinen 
Faradisation,  diu-ch  Kräftigung  der  Muskulatur  und  Am-egung  des 
Stoffwechsels  oft  recht  schätzbare  Dienste  zu  leisten.  Ihre  RoUe  in 
der  sogenannten  Mastcuf  wird  weiter  unten  Erwähnung  finden. 

Diätetisclie  Massregeln.  Zwar  von  langsamerer  und  Aveniger 
durchgreifender,  aber  darum  nicht  weniger  werthvoUer  Wirkung,  als 
fhe  aufgeführten  Arzneien  imd  Heilmethoden,  sind  jene  allgemeinen 
diätetischen  Massregeln,  die  keiner  besonderen  therapeutischen  Indi- 
cation  dienen,  sondern  die  Befriedigung  der  täghchen  allgemeinen 
Lebensbedürfnisse  zum  Ziele  haben.  Obenan  steht  die  Sorge  für  eine 
passende  Ernährung.  Jeder  Geisteskranke,  auch  der  anscheinend 
„YoUblütige",  bedarf  einer  regelmässigen,  gut  bemessenen  Zufuhr 
kräftiger  Nahrungsmittel,  durch  welche  nicht  selten  schon  ganz  aUein, 
ohne  jede  weitere  Behandlung,  die  Genesimg  herbeigeführt  wird. 
Durchaus  in  den  Vordergrimd  tritt  diese  Rücksicht,  wo  schwächende 
Ursachen,  Wochenbett,  Blutverluste,  acute  Ki-ankheiten  der  Psychose 


212 


V.  Allgemeine  Therapie. 


vorausgegangen  sind,  und  wo  die  Wage  wie  die  körperliclie  Unter- 
suchung eine  gesunkene  Ernährung,  Blutleere,  Scliwäche,  Abmagerung 
erkennen  lässt.  Namentlich  ist  es  von  Wichtigkeit,  schon  im  An- 
fange der  Erkrankung,  wo  der  Patient,  von  lebhaften  Affecten  beherrscht 
und  ohne  Appetit,  die  Nahrungsaufnahme  vernachlässigt,  auf  ein 
regelmässiges  Einhalten  der  Mahlzeiten  zu  achten  und  jeder  beginnen- 
den Yerdauungsstörung  sogleich  entgegenzuarbeiten. 

Diese  Sorge  erstreckt  sich  oft  in  gleicher  Weise  über  den  ganzen 
Verlauf  der  Exankheit  fort,  wo  der  Melanchohker  dui-ch  seine  Yer- 
stinunung,  der  Aufgeregte  durch  seine  Unruhe  vollständig  daran  ver- 
hindert wird,  an  das  Nahrungsbedürfniss  zu  denken  und  sich  selbst 
um  die  Befriedigung  desselben  zu  kümmern.  Geduldiges,  häufig 
wiederholtes  Anbieten  des  Essens,  wenn  auch  ünmer  nur  kleine 
Mengen  genonunen  werden,  führt  hier  meist  zum  Ziele.  Stets  muss 
die  Kost  leicht  verdaulich  und,  namentiich  in  schwierigeren  Fällen, 
mögUchst  nahrhaft  sein,  um  dm-ch  die  Qualität  die  Unmöglichkeit 
einer  quantitativ  reichhcheren  Zufuhr  auszugleichen.  Die  so  über- 
aus häufige  Obstipation  bekämpft  man  nm-  dm-ch  ganz  milde  Mittel, 
namentiich  durch  Klystiere  (Glycerin,  Oel),  Eingiessungen,  nach  Um- 
ständen durch  Massage  und  Faradisation  des  Bauches.  Unterstützt 
werden  diese  Massnahmen  durch  Eegelung  der  gesammten  Lebens- 
weise, Bewegung  in  frischer  Luft,  körperliche,  keine  geistige  An- 
strengimg  erfordernde  Beschäftigung,  vorzügüch  Gartenai'beit  u.  dergi. 

Eine  eigenartige  Ausbildung  hat  die  Sorge  füi-  die  Köi-perernähi-ung 
in  der  von  Weir  Mitchell  und  Playfair*)  eingeführten  „Mastcur" 
(feeding-cure)  erhalten.  Das  Princip  dieser  Cur  besteht  in  einer  mög- 
lichsten Beschleunigung  des  Stoffumsatzes  dm-ch  üben-eichHche  Er- 
nährung bei  gleichzeitiger  lebhafter  Muskelarbeit  ohne  active  An- 
strengung. Den  in  Bettruhe  gehaltenen  Patienten  werden  in  sehr 
kurzen  Zwischenräumen  grosse  Mengen  nahrhafter,  leicht  verdaulicher 
Esswaaren  (Milch,  Fleisch,  kräftige  Suppen)  zugefühi-t,  während  dm-ch 
systematische,  ausgiebige  Massage  und  faradische  Reizung  die  gesanmite 
Körpermuskulatiu-  bearbeitet  wird.  Dazu  kommt  als  wichtigster  Punkt 
des  Programms  die  vöUige  Entfernung  des  Kranken  aus  den  ge- 
wohnten Verhältnissen  imd  die  bedingungslose  Unterordnung  imter 

*)  "Weir  Mitchell,  fat  and  blood,  3.  Aufl.  1884;  Playfair,  Die  systematische 
Behandlung  der  Nervosität  und  Hysterie,  deutsch  von  Tischler.  1883:  Burkart, 
Volkmanns  Klinische  Vorträge,  245. 


Diätetische  Massregelii. 


213 


(lie  ärztliche  Autorität.  Zweifellos  spielt  dieses  psychische  Moment 
bei  der  ganzen  Cur  eine  äusserst  bedeutsame  Rolle.  Die  Erfolge 
sind  in  geeigneten  Fällen  staunenswerthe ;  man  darf  solche  aber  nur 
auf  dem  Gebiete  der  eigen  fliehen  Hysterie,  und  zwar  dort  erwarten, 
wo  keine  tiefgreifende  psychische  Störung,  sondern  wo  wesenthch 
dauernde  gxosse  "Willensschwäche  (Lähmungen)  besteht  und  die  Er- 
nähi'ung  tief  gesunken  ist.  Es  erscheint  aber  wol  möghch,  dass  der 
Grundsatz  der  Ueberemährung  in  geeigneter  Anpassung  auch  für 
einzelne  Formen  von  Psychosen,  namenüich  die  Erschöpfungszustände, 
mit  Vortheil  in  Anwendung  gezogen  werden  kann;  so  manche  Er- 
fahrimgen  sprechen  dafür. 

Ganz  besondere  Berücksichtigung  erfordert  die  diätetische  Be- 
handlung der  frisch  Erkrankten.  Hier  handelt  es  sich  vor  Allem 
um  Beruhigung.  Das  beste  Mittel  zur  Erreichung  dieses  Zweckes 
ist  die  Bettlagerung,  die  bisweüen  schwierig,  unter  einigermassen 
günstigen  Yerhältnissen  (ausreichendes,  gut  geschultes  Personal)  aber 
doch  meistens  dm-chführbar  ist.  Bei  einiger  Geduld  kann  man  dm-ch 
cüese  harmlose  Massregel,  welche  die  Unterschiede  in  der  Behandlung 
psychisch  und  körperhch  Kranker  mehr  und  mehr  verwischt,  ganz 
ausserordenthche  Erfolge  erzielen.  Alle  frisch  Erkrankten  gehören 
zunächst  und  unter  Umständen  für  längere  Zeit  ins  Bett,  was  den 
Genuss  frischer  Luft  durch  stundenweises  Auf  stehen '  oder  Ruhen  im 
Freien  nicht  ausschhesst.  Ferner  wird,  man  jene  anaemischen  und 
schwächhchen  Kranken,  die  durch  ängstiiches  Herumlaufen  ihre 
Kräfte  zu  erschöpfen  drohen,  die  Nahrungsverweigerer,  endlich  die 
motorisch  Erregten  so  lange  wie  irgend  möghch  im  Bett  zu  erhalten 
suchen,  natürlich  sämmtiich  unter  dauernder  Ueberwachung.  Ohne 
jeden  Zweifel  verlaufen  die  Aufregungszustände  aller  Art  weit  milder 
im  Bette,  als  ausserhalb  desselben.  In  schwierigeren  FäUen  sinnloser 
Unruhe,  namentlich  im  Collapsdelirium ,  in  epileptischen  und 
paralytischen  Dämmerzuständen,  erweisen  sich  die  Betten  mit  hohen 
gepolsterten  Seitenwänden  als  ungemein  zweckmässig. 

AUein  es  giebt  immerhin,  namentlich  in  mangelhaft  eingerichteten 
imd  überfüllten  Anstalten,  Kranke,  bei  denen  die  Bettbehandlung 
sich  nicht  durchführen  lässt,  und  die  wegen  sehr  starker  motorischer 
Unruhe  oder  rücksichtsloser  Gewaltthätigkeit  auch  nicht  wol  in  der 
Gesellschaft  Anderer  gelassen  werden  können,  ohne  sich  und  ihre 
Umgebung  schweren  Gefahren  auszusetzen. 


214 


V.  Allgemeine  Therapie. 


In  solchen  Fällen  greift  man  zu  dem  Nothbehelf  der  Isolirung 
im  geschlossenen  Zimmer,  womöglich  nur  unter  steter  Ueber- 
wachung  Ton  aussen.  Hie  und  da  bedarf  man  auch  wol  einmal 
eines  Polsterzimmers,  doch  hat  diese  Einrichtung  im  Ganzen  den 
an  sie  geknüpften  Erwartungen  nicht  entsprochen,  namentlich  wegen 
der  bei  unreinen  Kranken  unmöglichen  Fernhaltung  des  Gestankes. 
Die  Isolirung  ist  unter  allen  Umständen  ein  Uebel,  welches  mau, 
namentlich  Nachts,  im  Interesse  des  Schutzes  ruhebedürftiger  Kranker 
vor  ihren  lärmenden  Nachbarn  nicht  immer  wird  umgehen  können, 
dessen  Dauer  aber  so  kurz  wie  nur  irgend  möglich  bemessen 
werden  soll. 

Längere  Isolirung  wirkt  fast  immer  sehr  schädlich  und  be- 
günstigt die  Verblödung  der  Kranken  sowie  das  Einwurzeln  von 
üblen  Angewohnheiten,  namentlich  Unreinlichkeit,  Onanie,  Zerreissen 
und  Gewaltthätigkeit.  Mit  unermüdlicher  Geduld  müssen  daher  in 
jedem  Falle  immer  und  immer  wieder  Versuche  gemacht  werden, 
der  Isolirung  baldigst  ein  Ende  zu  bereiten.  Sie  ist  es  in  erster 
Linie,  welche  die  „Anstaltsartefacte"  erzeugt,  jene  Kranken,  welche 
wegen  ihrer  Verwilderung  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin 
den  Schrecken  der  Anstalten  bilden.  Ich  glaube,  diese  Züge  bei 
periodisch  Kranken  in  neuen  Anfällen  noch  nach  Jahren  als  die 
Andenken  an  frühere  dauernde  Isolirung  erkannt  zu  haben. 

In  dem  Heilapparat  der  älteren  Anstalten  spielte  zur  ünschädlich- 
machung  der  Kranken  und  als  symptomatische  Behandlungsmethode 
der  Aufregung  eine  grosse  Rolle  die  mechanische  Beschränkung 
durch  die  Zwangsjacke,  Zwangsstühle,  Zwangsbetten  u.  s.  f.,  Alles 
Vorrichtungen,  welche  dazu  dienten,  den  Kranken  an  dem  freien 
Gebrauche  seiner  Glieder  zu  hindern  und  ihn  in  einer  bestimmten 
Lage  festzulialten.  Es  ist  namentlich  das  Verdienst  des  Engländers 
Conolly*),  anf  die  ünzweckmässigkeit,  ja  Gefährlichkeit  dieser 
Zwangsmassregeln  mit  aller  Energie  hingewiesen  zu  haben.  Sie 
steigern  die  Unruhe  und  Aufregung  des  Kranken,  der  sich  abmüht, 
sich  frei  zu  machen;  sie  erbittern  ihn  gegen  seine  Aerzte  und  Pfleger, 
die  meist  erst  nach  hartem  Kampfe  die  verhasste  Beschränkung 
durchzuführen  vermögen,  und  sie  verderben  das  Pflegepersonal, 
welches  im  Vertrauen  auf  die  brutale  Gewalt  kein  Interesse  daran 


*)  Die  Behandlung  der  Irren  ohne  mechanischenZwang.dtsch.  von  Brosins.  1860. 


Psychische  Behandhing. 


215 


hat,  selbst  engere  rühlmig  mit  den  Ki-anken  zu  gewinnen  und  die- 
selben nicht  sowol  durch  die  Furcht,  als  vielmehr  durch  die  kleinen 
KunstgTiffe  des  hülfsbereiten  "Wohlwollens  beherrschen  zu  lernen. 
Aus  diesem  Grunde  spielt  das  „Restraint",  die  mechanische  Be- 
schränkung, zwar  in  schlecht  eingerichteten  Krankenhäusern  und  in 
privaten  Verhältnissen,  zumal  bei  der  weit  verbreiteten  überti-iebenen 
Angst  vor  Geisteskranken,  leider  noch  eine  gewisse  RoUe;  das 
mustergiltige  Anstaltsleben  kennt  sie  so  gut  wie  gar  nicht  mehr. 
Nur  dort,  wo  die  peinliche  Durchführung  des  No-restraint-Systems 
ein  grösseres  Uebel  bedeuten  würde,  als  die  Beschränkung  selbst, 
wo  z.  B.  das  Leben  des  Kranken  in  Gefahr  scliwebt,  wie  bei  schweren 
chirurgisclien  Erkrankungen,  unter  Umständen  auch  beim  schwierigen 
Transporte  sein-  gefährlicher  und  aufgeregter  Kranker,  kann  die 
menschliche  und  ärztliciie  Berechtigung  der  Zwangsmittel  nicht 
zweifelhaft  sein. 

In  der  Regel  wird  man  mit  dem  einfachen  Festbinden  durch 
Bettüclier,  Handtücher  und  dergl.  auskommen,  unter  Umständen  auch 
mit  dem  Anlegen  eines  oder  zweier  fester,  durch  Schrauben  verschliess- 
barer  Handschuhe.  Bei  wirklich  grosser  Gefahr  wird  man  endlich 
nicht  zögern,  zur  Anwendung  der  Zwangsjacke  zu  greifen,  doch  kann 
ich  z.  B.  mittheüen,  dass  ich  in  den  letzten  6  Jahren  keinen  Fall 
mehr  erlebt  habe,  ia  welchem  diese  Massregel  nothwendig  geworden 
wäre.  Die  Zwangsjacke  ist  eine  vorn  geschlossene,  hinten  offene 
J acke  von  starkem  Segeltuche  mit  langen  Aermeln  ohne  Oeffinungen, 
mit  Hülfe  deren  die  Arme  über  der  Brust  gekreuzt  festgehalten 
werden  können.  Bei  sehr  fester  Anlegung  und  langem  Liegen  der- 
selben entstehen  leicht  Hautabschürfungen  und  Druckbrand  an  den 
gefährdeten  Stellen;  sie  muss  daher  öfters  gelockert  und  womöglich 
täglich  einige  Stunden  abgelegt  werden.  Kein  mechanisch  be- 
schränkter Kranker  darf  ohne  beständige  Aufsicht  ge- 
lassen werden;  es  kommt  vor,  dass  derselbe  sich  selbst  befreit 
oder  gar  erdrosselt. 

C.  Psychisclie  Behandlung. 

Besonders  der  Kampf  um  die  Anwendbarkeit  der  mechanischen 
Beschränkung  ist  es  gewesen,  der  die  Ausbildung  einer  systematischen 
psychischen  Behandlung  der  Geisteskranken  angebahnt  hat. 
Je  weniger  Arzt  und  Pflegepersonal  gegenüber  den  Aufi-egungs- 


216 


V.  Allgemeine  Therapie. 


zuständen  ihre  Zuflucht  zur  nackten  Gewalt  nehmen  konnten,  desto 
mehr  mussten  sie  darauf  bedacht  sein,  sich  durch  das  Mittel  der 
psychischen  Einwirkung  die  Macht  über  ihre  Pflegebefohlenen  zu 
Yorschaffön.  Die  Aufgaben  dieser  Richtung  der  Therapie  sind  es, 
einerseits  die  Krankheitserscheinungen  zurückzudrängen,  anderer- 
seits die  gesunden  Yorstellungen  und  Gefühle  zu  kräftigen  und 
ihnen  schliesslich  zum  Siege  über  die  krankhaften  Störungen  zu 
verhelfen.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  sich  für  die  Lösung  dieser 
Aufgaben  bei  der  Mannigfaltigkeit  der  Persönlichkeiten,  welche  den 
Angriffspunkt  des  irren  ärztlichen  Handelns  büden,  ins  Einzelne  ge- 
hende Vorschriften  nicht  geben  lassen,  sondern  dass  jenes  Ziel  in 
jedem  Falle  wieder  auf  anderem  Wege  erreicht  werden  muss,  dessen 
Auffindung  und  geschickte  Yerfolgung  jeweils  der  Eiasicht  und 
Erfahrung  des  Arztes  überlassen  bleibt. 

Mit  Eecht  wird  daher  wegen  dieser  grossen  persönlichen  Yer- 
antwortlichkeit  vom  Psychiater  noch  eine  Summe  besonderer  geistiger 
Eigenschaften  gefordert:  „wohlwollender  Sinn,  grosse  Geduld,  Selbst- 
beherrschung, eine  besondere  Freiheit  von  allen  Yorurtheilen,  ein 
aus  einer  reicheren  Weltkenntniss  geschöpftes  Yerständniss  der 
Menschen,  Gewandtheit  der  Conversation  und  eine  besondere  Neigung 
zu  seinem  Beruf,  die  ihn  allein  über  dessen  vielfache  Mühen  und 
Anstrengungen  hinwegsetzt."*)  So  ausgerüstet ^  wird  er  im  Stande 
sein,  dem  Kranken  nicht  nur  ein  Arzt,  sondern  zugleich  ein 
Erzieher  und  Freund  zu  werden,  nicht  nur  den  körperlichen 
Grundlagen  der  Geistesstörung  seine  Aufmerksamkeit  zuzuwenden, 
sondern  durch  die  Macht  seiner  Persönlichkeit  verständnissvoll  auch 
die  krankhaften  psychischen  Erscheinungen  selbst  zu  be- 
kämpfen. "Wirkt  schon  bei  körperlichen  Erkrankungen  der  Arzt 
häufig  genug  ebenso  sehr  durch  seine  persönlichen  Eigenschaften, 
■wie  durch  die  Arznei,  so  erweitert  sich  hier  das  Feld  der  psychischen 
Behandlung  selbstverständlich  in  ganz  ausserordentlichem  Masse. 

Der  oberste  Grundsatz  in  der  psychischen  Behandlung  der  Geistes- 
kranken ist  Off  enheit  und  unbedingte  Wahrheitsliebe.  Gerade 
hier  wird  von  Laien  und  Aerzten  immer  wieder  schwer  gefehlt.  Man 
scheut  sich  in  ganz  unsinniger  und  ungerechtfertigter  Weise,  einem 
Geisteskranken  zu  sagen,  dass  man  ihn  für  krank  hält,  während  diese 


*)  Griesinger,  Pathol.  u.  Therapie  der  psych.  Ki-anklieiton,  4.  Aull.,  p.  533. 


Psychische  Behaudlimg. 


217 


Erkenntniss  doch  die  erste  Grundlage  für  die  ganze  Behandlung 
und  nicht  selten  füi-  den  Leidenden  selbst  geradezu  eine  Erlösung 
bedeutet.  Freilich  giebt  es  viele  Kranke,  die  sich  selbst  für  völlig 
gesund  halten,  aber  auch  hier  hat  das  unselige  Versteclrspiel, 
welches  so  häufig  mit  ihnen  getrieben  wird,  schlechterdings  keinen 
Nutzen,  da  die  Kranken  ja  doch  durch  die  Art,  wie  man  sie  be- 
handelt, zu  der  Erkenntniss  kommen  müssen,  dass  man  bei  ihnen 
eine  geistige  Störung  vermuthet.  Es  muss  unter  allen  Umständen 
für  verwerflich  erklärt  werden,  einen  Geisteskranken,  in  welcher 
Absicht  immer,  zu  täuschen,  um  ihn  zu  irgendwelchen  noth- 
wendigen  Massregeln  zu  bewegen  (Einnehmen  von  Arzneien,  Ver- 
bringung in  die  Anstalt),  zu  denen  man  seine  Zustimmung  nicht 
erreichen  zu  können  glaubt.  Weit  besser  ist  es,  ihm  ruhig  und 
freundlich,  aber  fest  zu  erklären,  was  mau  von  ihm  will  und  zu 
welchem  Zwecke.  Man  wird  dabei  fast  immer  sein  Ziel  schliesslich 
erreichen.  Im  äussersten  Nothfalle  greife  man  lieber  zur  Gewalt, 
der  sich  besonnene  Kranke  regelmässig  fügen,  wenn  sie  keinen 
andern  Ausweg  sehen.  Sie  werden  ein  derartiges  Yorgehen  stets 
leichter  verzeihen,  als  die  List,  deren  unvermeidliche  Aufdeckung 
sehr  gewöhnlich  ein  unausrottbares  Misstrauen  im  Gefolge  hat. 

Den  Wahnideen  der  Kranken  gegenüber  wird  sich  der  Arzt  stets 
einfach  ablehnend  verhalten.  Er  wird  ihnen  weder  durch  scheinbares 
Zustimmen  neue  Nahrung  geben,  noch  sie  in  langen  Auseinander- 
setzungen ausführhch  bekämpfen,  noch  viel  weniger  aber  etwa  sie 
ins  Lächerliche  ziehen  und  dadurch  die  Kranken  reizen.  Ich  brauche 
auch  kaum  hinzuzufügen,  dass  der  Grundsatz  unbedingter  Offenheit 
durchaus  nicht  dahin  führen  darf,  ohne  zwingenden  Anlass  jeder 
krankhaften  Aeusserung  systematisch  zu  widersprechen,  die  der  Kranke 
etwa  fallen  lässt.  Yielfach,  namentlich  bei  schwachsinnigen  (paraly- 
tischen) oder  sehr  gereizten  Kj-anken  wird  man  sich  auf  die  gelegent- 
liche Peststellung  der  Krankhaftigkeit  des  Zustandes  beschränken,  die 
geäusserten  Wahnideen  übergehen,  unbeachtet  lassen  und  nur  den 
krankhaften  Handlungen  entgegentreten,  soweit  sie  eine  Schädigung 
des  eigenen  oder  des  Wohles  der  Mitpatienten  in  sich  schliessen. 

Bei  allen  acuten  und  subacuten  Formen  der  Geistesstörung 
ist  die  Aufgabe  der  psychischen  Therapie  wesentlich  eine  neg- 
ative, abwartende.  Ueberall  handelt  es  sich  hier  um  krankhafte 
Erregimgszustände  des  Gehirns,  die  vor  allen  Dingen  Euhe  und 


218 


V.  Allgemeine  Therapie. 


immer  wieder  Ruhe  fordern.    Der  Arzt  liat  daher  in  erster  Linie 
für  die  möglichste  Feruhaltung  aller  äusseren  und  inneren  Reize 
zu  sorgen.    Dahin  gehören  namentlich  der  Verkehr  mit  den  nächsten 
Angehörigen,  die  lebhaften  Gefühlsbeziehungen,  welche   aus  dei- 
täglichen  Umgebung,  dem  Berufe  der  Kranken,  aus  langen  Unter- 
redungen, Vorhaltungen,  ja  oft  auch  aus  wohlgemeinten  Trostworten 
entspringen.    Völlig  unmöglich  ist  es,  woran  man  zunächst  denken 
könnte,  den  krankhaften  Gefühlen  und  Vorstellungen  auf  demselben 
Wege  beizukommen,  auf  dem  man  die  Verstimmungen  und  Irr- 
thümer  der  Gesunden  bekämpft.    Der  Deprimirte,  den  man  auf 
Bällen  und  Concerten,  auf  Reisen  oder  in  lustiger  Gesellschaft  auf- 
zuheitern versucht,  wird  nur  desto  schmerzlicher  und  peinvoller  von 
allen  äusseren  Eindrücken  berührt;  die  Bemühungen,  aufsteigende 
Wahnideen  dialektisch  zu  widerlegen,  bleiben  ohnmächtig  gegenüber 
der  Gewalt  der  inneren  Vorgänge,  aus  denen  jene  letzteren  sich 
immer  von  Neuem  erzeugen.    Versetzung  des  Kranken  in  eine 
fremde,  ihm  gleichgültige  und  darum  reizlose,  ruhige  Umgebung, 
in  der  man  ihm  Verständniss  ohne  Neugier,  Wohlwollen  »hne  Auf- 
dringlichkeit entgegenbringt,  ist  daher  das  erste  Erforderniss  für  die 
Besserung  seines  Zustandes. 

Auch  im  weiteren  Verlaufe  ist  ein  entscheidender  Einfluss  der 
psychischen  Behandlung  auf  den  Verlauf  der  Kjankheit  meist  nicht 
erkennbar.  Dennoch  steht  es  fest,  dass  freundlicher,  verständiger 
Zuspruch  das  Herz  des  Aengstlichen  und  Niedergeschlagenen  er- 
leichtern, geduldiges  gleichmässiges  Entgegenkommen  den  Gereizten 
und  Erregten  beruhigen  kann,  wenn  auch  immer  nur  vorübergehend, 
ohne  Nachhaltigkeit.  Vielleicht  sind  aber  diese  fortgesetzten  Be- 
mühungen nach  Ausgleichung  der  psychischen  SchwaiTkungen  doch 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  geeignet,  den  natürlichen  Heilungs- 
vorgang zu  unterstütze]!.  Wir  dürfen  das  wenigstens  schliessen 
aus  der  Erfahrung,  dass  verkehrte  psychische  Behandlung,  wie  sie 
bisweilen  durch  Angehörige,  schlechtes  Personal  oder  andere  Kranke 
geübt  wird,  ohne  jeden  Zweifel  die  Krankheitszustände  nachhaltig 
verschlimmern  kann. 

Erst  mit  dem  Beginne  einer  deutUchen  Beruhigung  des  Kranken 
erfährt  die  Aufgabe  der  psychischen  Behandlung  eine  gewisse 
Aenderung.  So  lange  die  Aufmerksamkeit  desselben  zwangsweise 
durch  die  Störung  selbst  in  Anspruch  genommen  wird  und  nur  für 


Psychische  Behiindhing. 


219 


krankhafte  Gefühle  und  Vorstellungen  im  Bewusstsein  Raum  ge- 
geben ist,  pflegt  er  für  die  Vorgänge  der  Aussenwelt  meist  Avenig 
Sinn  zu  haben.  Trotzdem  er,  der  früher  vielleicht  keine  Stunde 
müssig  sein  konnte,  nun  Wochen  und  Monate  lang  die  Hände  in 
den  Schoss  legt,  oder  sich  in  zwecklosem  Bewegungsdrange  er- 
schöpft, empfindet  er  doch  keine  Langeweile,  da  ihm  mit  der  Fähig- 
keit auch  der  Antrieb  zu  nützlicher  Thätigkeit  verloren  gegangen 
ist.  Jeder  Versuch,  ihn  in  diesem  Zustande  wieder  den  gesunden 
Vorstellungen  und  Bestrebungen  zugänglich  zu  machen,  bleibt  in 
der  Regel  ergebnisslos  und  kann  sogar  durch  die  Erregung,  in  die 
er  den  Kranken  versetzt,  geradezu  schädlich  wirken.  Allmählich  in- 
dessen tauchen  auch  die  früheren,  gesunden  Gefühle  und  Ideen- 
kreise wieder  hervor,  und  es  gilt  daher,  ihnen  das  Interesse  des 
Kranken  mehr  und  mehr  zuzuwenden.  Ganz  die  gleichen  Aufgaben 
erwachsen  der  psychischen  Behandlung  schon  von  vorn  herein  bei 
den  chronisch  sich  entwickelnden  Geistesstörungen.  Allerdings  ist 
es  auch  hier  häufig  nöthig,  die  Kranken  erst  ein  wenig  zur  Ruhe 
kommen  zu  lassen,  da  nicht  selten  allerlei  Kämpfe  und  Beunruhig- 
ungen der  Entdeckung  der  Psychose  voraufgegangen  sind,  aber 
doch  wird  es  hier  immer  in  erster  Linie  darauf  ankommen,  die 
Gedanken  des  Kranken  aus  ihren  abnormen  Bahnen  abzulenken 
und  sie  für  eine  gesunde  Thätigkeit  wiederzugewinnen.  Je  nach 
der  Persönlichkeit  des  Kranken  gestalten  sich  dabei  die  Hülfsmittel 
und  die  Richtung  der  therapeutischen  Bestrebungen  natürlich  äusserst 
verschieden. 

Vor  Allem  handelt  es  sich  um  die  Auswahl  einer  passenden, 
wol  anregenden,  aber  nicht  anstrengenden  Beschäftigung,  da  sie 
am  meisten  geeignet  ist,  die  Gedanken  des  Kj-anken  von  den  Zu- 
ständen des  eigenen  Innern  abzuziehen  und  ihm  das  Interesse  für 
die  Aussenwelt,  für  die  gewohnte  Thätigkeit  wiederzugewinnen. 
Unterhaltende  Leetüre,  die  Lösung  leichter  geistiger  Aufgaben,  Spiele 
aller  Art,  Musikübungen,  andererseits  körperliche  Arbeit,  die  sich 
den  früheren  Beschäftigungen  möglichst  anpasst.  Handwerkerei, 
Garten-  und  Feldarbeit,  Leibesübungen,  bei  Weibern  Nähen,  Waschen, 
Kochen  u.  dgl.  in  mannigfachster  Abwechselung,  dienen  in  gleicher 
Weise  der  Erfüllung  des  Behandlungszweckes.  Damit  können  sich 
weiterhin  Zerstreuungen,  Besuche,  Spaziergänge,  kleine  Festlich- 
keiten in  vortheilhafter  Weise  verbinden. 


220 


V.  Allgeiiieme  Therapie. 


Weit  weniger  Erfolg  kann  man  sich  von  dem  Versuche  ver- 
sprechen, durch  directe  psychische  Einwirkung  das  Zurück- 
treten der  krankhaften  Störungen  zu  beschleunigen  und  die  gesun- 
den Yorgänge  zu  unterstützen.  Durch  logische  Ueberredungskünste 
wird  man  dabei  kaum  mehr  erreichen,  als  durch  das  Leuret'sche 
„Intimidations-System",  welches  jede  krankhafte  Aeusserung  durch 
die  Douche  zu  unterdrücken  und  so  die  Psychose  zu  heilen  suchte. 
Wo  die  Fähigkeit  einer  gesunden  Kritik  durch  die  Krankheit  dau- 
ernd oder  vorübergehend  aufgehoben  ist,  wird  natürlich  selbst  die 
Verweisung  auf  den  Augenschein  machtlos,  da  sie  ja  eben  die  Kritik 
anruft.  Aus  diesem  Grunde  beruhen  denn  auch  die  in  der  Jugend 
der  Psychiatrie  bei  Hypochondern  bisweilen  vorgenommenen  Schein- 
operationen, um  ihnen  Thiere  u.  dergl.  aus  dem  Leibe  zu  holen, 
durchaus  auf  einer  naiven  Verkennung  des  Wesens  der  Geistes- 
störung. 

Allein  es  giebt  imnierhin  Kranke,  denen  es  ein  Bedürfniss  und 
eine  Beruhigung  ist,  sich  immer  und  immer  wieder  vom  Arzte  die 
pathologische  Natur  ihrer  Vorstellungen  und  Gefühle  versichern  zu 
lassen.  Da  gilt  es  denn,  diesen  schwachen  Gemüthern  den  be- 
gonnenen Kampf  mit  der  Krankheit  zu  erleichtern,  die  Energielosen 
durch  die  Aussicht  auf  kleine  Belohnungen  zur  Arbeit  anzuregen 
und  durch  beruhigende  Massregeln  den  Aufgeregten  die  Selbst- 
beherrschung zu  erleichtern.  Geduld,  liebevolles  Eingehen  auf  die 
einzelne  Persönlichkeit,  Nachgiebigkeit  ohne  Schwäche  auf  der  einen, 
gleichmässige  Festigkeit  ohne  Starrheit  auf  der  anderen  Seite  geben 
hier  die  leitenden  Gesichtspunkte  für  die  ärzthche  Thätigkeit  ab. 

Ein  überaus  verführerischer  Ausblick  schien  sich  in  neuester 
Zeit  der  psychischen  Therapie  des  Irreseins  durch  die  staunen- 
erregenden Thatsachen  der  suggestiven  Beeinflussung  in  der  Hyp- 
nose*) eröffnen  zu  wollen.  Wenn  es  auf  dem  angedeuteten  Wege 
gelingt,  über  die  Wahrnehmungen,  die  Gedanken,  den  Willen  eines 
Menschen  nicht  nur  für  den  Augenblick,  sondern  auch  für-  längere 
Zeit  und  sogar  ohne  sein  Wissen  eine  fast  unumschränkte  Herr- 
schaft zu  erlangen,  so  muss  ein  solches  Verfahren  gerade  für  den 

*)  Bernheim,  Die  Suggestiou  und  ihre  Heilwirtmig,  deutsch  von  Trend. 
1888;  Hü  ekel,  Die  Eolle  der  Suggestion  bei  gewissen  Erscheinungen  der  Hysterie 
und  des  Hypnotismus.  1888;  Wetterstrand,  Der  Hypnotismus  und  seine  An- 
wendung in  der  praktischen  Medicin.  1891. 


Ps.ychischo  Behandlung-. 


221 


psychischen  Arzt,  dem  die  Beseitigung  krankhafter  Erscheinungen 
auf  allen  jenen  Gebieten  anheimfällt,  von  kaum  hoch  genug  zu 
schätzendem  Werthe  sein.  Leider  hat  die  praktische  Erfalming 
chese  Erwartung  bisher  nur  in  geringem  Masse  gerechtfertigt.  So 
leicht  es  gewöhnhch  gehngt,  psychisch  gesunde  Menschen  dem  Ein- 
flüsse der  Hypnose  zn  unterwerfen  und  sie  dabei  von  allem  mög- 
lichem Schmerz  und  Unbehagen  zu  befreien,  so  wenig  zugänglich  er- 
weisen sich  zumeist  Geisteskranke  gegen  jenes  Heilmittel.  Die  Macht 
der  Suggestion  ist  hier,  wahrscheinlich  wegen  der  häufigen  Auf- 
merksamkeitsstörungen und  lebhaften  Autosuggestionen,  offenbar 
eine  weit  geringere,  als  imter  normalen  Verhältnissen.  Aus  diesem 
Grunde  fällt  es  nicht  nur  im  Allgemeinen  schwerer.  Geisteskranke' 
zu  hypnotisiren,  sondern  der  Einfluss  des  Arztes  wü'd  auch  fast  nie- 
mals ein  so  wirksamer  und  namentlich  nachhaltiger.  So  ist  es  z.  B. 
nicht  möghch,  in  der  Hypnose  etwa  fixirte  Wahnideen  auszureden, 
die  wir  ja  gewissermassen  als  dauernde  Autosuggestionen  auffassen 
können.  Dagegen  scheinen  Sinnestäuschungen,  Appetit-  und  Schlaf- 
störungen immerhin  der  hypnotischen  Therapie  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  zugänghch  zu  sein.  Ebenso  lassen  sich  beim  Alko- 
hoüsmus  und  in  der  Morphiumabstinenz  so  manche  Beschwerden 
überraschend  leicht  beseitigen;  ausserdem  jedoch  wird  in  dem  Kampfe 
gegen  die  eingewurzelte  Neigimg  durch  das  Gebot  des  einschläfernden 
Arztes  ein  unsichtbarer,  aber  um  so  mächtigerer  Bundesgenosse  ge- 
wonnen. 

Am  nächsten  hegt  es  natürlich,  die  Suggestion  bei  jenen 
Formen  des  Irreseins  in  Anwendung  zu  bringen,  bei  welchen  er- 
fahrungsgemäss  psychische  Wirkungen  ohnedies  eine  herrschende  EoUe 
im  Krankheitsbilde  spielen,  bei  den  hysterischen  und  neurasthenischen 
Psychosen.  Ohne  Zweifel  ist  es  hier  möglich,  unter  Umständen  auf 
diese  Weise  überraschende  Erfolge  zu  erzielen,  wie  schon  die  Parade- 
fälle der  „Heümagnetiseure"  lehren;  im  Ganzen  aber  scheinen  doch 
vorzugsweise  diejenigen  Formen  jener  Nem^osen  Yortheü  von  der 
hypnotischen  Behandlung  zu  ziehen,  bei  denen  die  eigenthch  psycho- 
pathischen Erscheinungen  gegenüber  den  nervösen  Beschwerden  im 
Hmtergi-unde  stehen.  Zudem  sind  gerade  hier  hindernde  Auto- 
suggestionen sehr  häufig,  und  es  besteht  immerhin  die  Gefahr-  der 
Entwickelung  autohypnotischer  Zustände,  wenn  dieselbe  auch  durch 
gi-osses  Geschick  des  Arztes  und  geeignete  Handhabung  der  Methode 


222 


V.  Allgemeine  Therapie. 


meiner  Ueberzeiigimg  nach  völlig  vermieden  werden  kann.  Der 
Anwendung  der  Suggestion  in  der  Behandlimg  der  conträren  Sexual- 
empfindung werden  wir  späterhin  noch  zu  gedenken  haben. 

Wenn  nach  diesen  Erwägungen  der  Wirkungsbereich  der  Sug- 
gestionstherapie bei  Geisteskranken  heute  auch  ein  weit  beschränk- 
terer genannt  werden  muss,  als  zunächst  erwartet  werden  konnte, 
so  liegt  in  dem  bisher  Erreichten  doch  die  dringende  Mahnung  für 
den  Irrenarzt,  sich  mit  der  Anwendimg  dieses  Heilverfahrens  auf 
das  Eingehendste  vertraut  zu  machen,  sei  es  auch  nur,  um  nicht 
durch  unsachgemässes  Yorgehen  Schaden  anzurichten.  Die  zweck- 
mässigste  und  anscheinend  ungefährlichste  der  bisher  bekannten 
Methoden  des  Hypnotismus  ist  ohne  Zweifel  diejenige  der  Verbal- 
suggestion, wie  sie  von  Bernheim  und  seinen  Schülern  geübt  wird. 
Von  einer  eingehenderen  Beschreibung  derselben  muss  hier  einst- 
weilen unter  Hinweis  auf  die  angeführten  Werke  abgesehen  werden, 
nicht  nur,  weil  der  Gegenstand  selbst  noch  zu  neu  und  unfertig 
ist,  sondern  namentlich  deswegen,  weil  das  ganze  Verfahren  nicht 
unbedeutende  Anforderungen  an  die  persönliche  Gewandtheit  und 
Geistesgegenwart  des  Arztes  stellt  und  deshalb  im  Einzelnen  nur 
durch  die  Anschauung  erlernt  werden  kann. 

D.  Behandlung  einzelner  Symptome. 

Ein  Kückblick  auf  die  ganze  Eeihe  der  therapeutischen  Hülfs- 
mittel  so  verschiedener  Art,  die  dem  Irrenarzte  zu  Gebote  stehen, 
lässt  leicht  erkennen,  dass  die  Kichtung  seiner  Behandlung  im 
Wesentlichen  eine  symptomatische  ist,  wie  das  ja  bei  der  im- 
genügenden  Ausbildung  unserer  ätiologischen  Kenntnisse  und  den 
Schwierigkeiten,  die  Ursachen,  selbst  wo  wii-  sie  kennen,  zu  be- 
seitigen, kaum  anders  erwartet  werden  darf.  Nur  in  den  wenigen 
EäUen,  in  denen  als  ursächliche  Momente  Fieber,  örtiiche  oder  all- 
gemeine Krankheiten,  Vergiftimgen,  Neuralgien,  Magen-  und  Darm- 
katarrhe, Nierenleiden,  Genitalaäectionen,  Syphilis  u.  s.  w.  gegeben 
sind,  kann  unter  Umständen  von  einer  wirklich  causalen  Behandlung 
die  Kede  sein,  auf  deren  Einzelheiten  Avir  hier  natüi-lich  nicht  ein- 
zugehen haben.  Dagegen  ist  es  von  Wichtigkeit,  noch  die  Therapie 
einzelner,  bei  verschiedenen  Formen  des  Irreseins  wiederkehrender 
Symptome  einer  kurzen  Besprechung  zu  unterziehen,  weil  derselben 
häufig  eine  ganz  ausserordentiiche  praktische  Bedeutung  zukommt. 


EeliaiKÜung'  finzeluor  Syiiiiitonie. 


223 


Zunächst  habeu  Avir  dabei  der  psychischen  Erregung  zu 
gedenken,  deren  nachdrückliche  Behandlung  namentlich  dann  noth- 
wendig  wird,  wenn  der  Affect  eine  Erschöpfung  des  Kranken  her- 
beizuführen droht.  Vor  Allem  wd  man  hier  versuchen,  die 
dauernde  Bettruhe  unter  fortgesetzter  üeberwachung  durchzuführen, 
vielleicht  unter  Beihülfe  verlängerter  lauer  Bäder  mit  oder  ohne 
Eisbeutel  auf  dem  Kopfe,  hydropathischer  Eimvickelungen  oder  auch 
medicamentöser  Mittel.  Handelt  es  sich  um  Angstzustände,  so 
passt  vor  Allem  das  Opium  und  Morphium,  besonders  wo  Paraes- 
thesien,  Neuralgien  und  dergl.  bestehen.  Bromkalium  eignet  sich 
mehr  für  „nervöse"  Eeizbarkeit  und  Schlaflosigkeit  (namentüch  bei 
Neurasthenie  und  leichten  Melancholien).  Bei  sehr  heruntergekom- 
menen Personen  sieht  man  womöglich  von  einer  Arzneiverordnung 
•überhaupt  ab;  höchstens  greift  man  zum  Urethan  oder  noch  besser 
zum  Alkohol.  Ist  die  Erregung  hauptsächlich  die  Folge  von  äusseren 
psychischen  Einwirkungen,  so  hilft  oft  schon  die  Versetzung  in  eine 
andere  Umgebung,  schlimmstenfalls  eine  vorübergehende  Isoliruag; 
in  leichteren  Fällen  kommt  man  vielleicht  mit  der  einfachen  Ab- 
lenkung der  Aufmerksamkeit,  ja  unter  Umständen  mit  einem  scherz- 
haften Worte,  der  Gewährung  einer  kleinen  Vergünstigung  über 
drohende  Ausbrüche  hinweg.  Sehr  wichtig  ist  es  für  Arzt  und 
Pflegepersonal,  derartige  Kranke  genau  zu  kennen  imd  ihnen  je 
nach  ihrer  Eigenart  bald  mit  Ernst  und  Energie,  bald  mit  Sanft- 
muth  und  Nachgiebigkeit  gegenüberzutreten.  Versagen  alle  anderen 
Mittel  und  muss  dennoch  dui'chaus  Ruhe  erzielt  werden,  so  kann 
man-  zu  einem  der  früher  besprochenen  Schlafmittel,  zum  Hyoscin 
oder  Duboisin  seine  Zuflucht  nehmen. 

Für  die  Behandlung  der  Schlaflosigkeit  wird  man  regel- 
mässig zunächst  mit  einfach  diätetischen  Massregeln  auszukommen 
suchen.  Bei  chronischen  Erkrankungen  und  kräftiger  Constitution 
ist  ausgiebige  körperliche  Bewegung  im  Freien  (Holz-  und  Garten- 
arbeit), Gymnastik,  Massage  am  Platze,  während  bei  frischen  und 
leicht  erregbaren  Kranken  stärkere  körperliche  Anstrengungen  nicht 
selten  gerade  ungünstig  auf  den  Schlaf  wirken.  Hier  wüd  man 
verlängerte  laue  Bäder  mit  gleichzeitiger  Abkühlung  des  Kopfes, 
feuchte  Eiupackungen,  Galvanisation  des  Kopfes,  in  geeigneten  Fällen 
vielleicht  hypnotische  Beeinflussung  ins  Feld  führen  können.  Mit- 
unter ist  auch  schon  durch  Einführung  einer  Nachmittagsruhe,  Sorge 


224 


V.  Allf^emeine  Therapie. 


für  leiclit  verdauliches,  frühzeitiges  Abendessen,  Vermeidung  des 
Lesens  am  Abend,  Beseitigung  von  Thee  und  Kaffee,  abendliclie 
Darmentleerung,  rechtzeitiges  Schlafengehen,  ausgiebiges  Lüften  des 
Sclilafzimmers  und  dergl.  viel  zu  erreichen.  Muss  man  zu  Arzneien 
greifen,  so  versuche  man  zuerst  den  Alkohol,  dann  die  Bromsalze 
in  mittleren  Dosen;  nur  im  Nothfalle  soll  zu  den  Schlafmitteln,  resp. 
bei  grosser  Angst  oder  lebhaften  Schmerzen  zu  den  Narkoticis  über- 
gegangen werden,  da  es,  besonders  in  chronischen  Zuständen,  oft 
recht  schwierig  ist,  die  längere  Zeit  mit  solchen  Mitteln  behandelten 
Kranken  wieder  an  den  natürlichen  Schlaf  zu  gewöhnen. 

Sehr  sorgfältige  therapeutische  Beachtung  erheischt  die  Neigung 
zum  Selbstmorde,  die  so  häufig  mit  Angstzuständen,  besonders  bei 
gleichzeitiger  Bewusstseinstrübung,  aber  auch  mit  ganz  einfachen 
Melancholien  ohne  auffallendere  Störung  der  Besonnenheit  sich  ver- 
knüpft. Diese  Fälle  sind  es,  welche  die  höchsten  Anforderungen  an 
die  Wachsamkeit  und  Umsicht  des  Anstaltspersonales  stellen.  Die 
Gelegenheiten,  welche  dem  bisweilen  mit  voller  Berechnimg  han- 
delnden Kranken  zur  Ausführung  seines  selbstmörderischen  Planes 
dienen  können,  sind  so  überaus  zahlreich  und  mannigfaltig,  dass  nur 
eine  gereifte  und  mit  allen  Möglichkeiten  vertraute  Erfahrung  die 
Aussicht  hat,  mit  Erfolg  dem  krankhaften  Streben  entgegenzuarbeiten. 
Jeder  Nagel,  jede  Glasscherbe,  jedes  Stück  Blech  kann  zum  tödt- 
lichen  Werkzeuge  in  der  Hand  des  verzweifelten  Kranken  werden; 
jeder  unbewachte  Augenblick  kann  eine  Sti^angulation  oder  die 
schwersten  Verstümmelungen,  Herausreissen  der  Augen,  der  Zunge, 
der  Hoden  zu  Stande  kommen  lassen,  ja  ich  habe  das  Abbeissen 
der  Zunge  und  ferner  Bruch  der  Halswirbelsäule  in  Folge  eines 
mächtigen  Stesses  mit  dem  Kopfe  gegen  die  Wand  m  Gegenwart 
des  Pflegepersonales  erlebt.  Glücklicherweise  süid  derartige  Vorkomiu- 
nisse  nicht  häufig,  ja  es  scheint,  dass  durch  die  Anstalt  90  "/o  der 
sonst  wahrscheinhchen  Selbstmorde,  und  sogar  noch  mehr,  verhütet 
werden,  aber  es  ist  wünschensAverth,  sich  der  Unglücksfälle  zu  er- 
innern, damit  sie  auch  nicht  häufiger  werden. 

Der  Neigung  zum  Zerstören  begegnet  man,  wo  eine  Ab- 
lenkung durch  angemessene  Beschäftigung  nicht  möghch  ist,  einfach 
durch  möglichst  widerstandsfähige  Ausführung  aller  beweghchen  und 
unbeweghchen  Gegenstände,  welche  dem  Kranken  zugänghch  sind. 
Die  Technik  hat  in  dieser  Richtung  viele  zweckmässige  Einrichtungen 


Beliaudlung  einzelaer  Symijtome. 


225 


geschaffen  (Fensterscheiben  aus  ganz  dickem  Glase,  feststehende,  un- 
zerstörbare Möbel,  Geschirre  aus  Leder,  Hartguninii,  Pappe  u.  dgl), 
die  hier  nicht  einzeln  besprochen  werden  können.  Freilich  lehrt  die 
Erfahrung,  dass  es  bei  alten  Anstaltsbewohnern  einen  einigermassen 
zureichenden  Schutz  gegen  das  Zerstören  nicht  giebt;  jeder  ab- 
gebrochene Löffelstiel,  jedes  aufgelesene  Drahtstückchen,  ja  jeder  im 
Munde  oder  in  anderen  Verstecken  aus  dem  Garten  eingeschleppte 
Kieselstein  wird  in  ihren  Händen  zum  vielseitigen  Werkzeuge,  mit 
Hülfe  dessen  binnen  unglaublich  kurzer  Zeit  Löcher  in  die  cemen- 
tirten  Wände  gegraben,  die  festesten  Schrauben  gelockert,  dicke 
Scheiben  zerspHttert  und  tiefe  Rinnen  in  die  Balken  des  Fussbodens 
gemeisselt  werden.  Hier  hüft  nur  die  Vorbeugung,  welche  durch 
rechtzeitige,  dauernde  Ueberwachung  und  Bettruhe  jede  längere 
Isolirung  vermeidet  und  die  Ausbildung  derartiger  Zerstörungs- 
künstler  nach  MögLichkeit  verhindert.  Gegen  das  Zerreissen  schützt 
einigermassen,  aber  nicht  vollständig,  die  Anwendung  von  Anzügen, 
Decken  und  Matratzen  aus  starkem  Segeltuch;  die  Entkleidung 
wird  durch  schrauben-  oder  schlossartige  Verschlüsse  der  Kleidungs- 
stücke und  Schuhe  verhindert,  welche  nur  mit  besonderen  Schlüsseln 
geöflöiet  werden  können.  Bei  sehr  starker  Zerstörungssucht  und 
grosser  Körperkraft  giebt  es  in  vereinzelten  Fällen  vorübergehend 
kein  anderes  Auskunftsmittel,  als  den  Ejranken  entkleidet  mit  einer 
reichlichen  Menge  Stroh,  Seegras  u.  dergl.  in  einem  warmen  Isolir- 
zimmer frei  schalten  zu  lassen;  bei  weiblichen  Patienten  wird  man 
selbstverständlich  nur  im  äussersten  NothfaUe  zu  dieser  Massregel 
greifen. 

Eine  höchst  lästige  Begleiterscheinung  der  psychischen  Erregung 
ist  bisweilen  die  IJnreinlichkeit  und  namentlich  das  Herum- 
schmieren  mit  den  Ausleerungen,  weü  daraus  grosse  hygienische 
Missstände  hervorgehen.  Wo  es  ü-gend  angeht,  wird  man  natürlich 
auch  hier  die  dauernde  Ueberwachung  durchzuführen  suchen,  welche 
es  ermöglicht,  den  Kranken  recht  häufig  zur  Befriedigung  seiner 
Bedürfnisse  anzuhalten,  andererseits  aber  sofort  einzugreifen,  sobald 
trotzdem  eine  Verunreinigung  geschehen  ist.  Weiterhin  sind  reich- 
liches Baden  und  sorgfältigste  Reinigung  der  Zimmer  mit  desinfi- 
cirenden  Mitteln  die  hauptsächlich  zu  erfüllenden  Aufgaben.  Ein 
aufmerksames  Wartpersonal  kann  hier  sehr  viel  leisten.  In  schwie- 
rigen Fällen  lässt  sich  durch  passende  Auswahl  der  Diät  (möglichst 

Kraepolin,  Psychiatrie.    4.  Anfl.  15 


226 


V.  Allgemeine  Therapie. 


wenig  Koth  gebende  Nahrungsmittel,  besonders  keine  Pflanzenkost) 
und  regelmässige  entleerende  Kly  stiere  noch  etwas  ausrichten. 

Besondere  Mühe  hat  man  sich  vielfach  gegeben,  die  Mastur- 
bation zu  bekcämpfen.  Oft  verschwindet  dieselbe  mit  der  Abnahme 
der  psychischen  Erreg-ung  von  selbst;  in  anderen  chronischen  Fällen 
bleibt  meist  jede  Behandlung  erfolglos.  Nicht  ohne  Werth  ist  die 
Anwendung  des  Bromkalium,  weil  es  die  Reflexerregbarkeit  herab- 
setzt; wichtiger  bleibt  indessen  die  diätetische  Behandlung,  Sorge 
für  ruhigen  Schlaf,  Yermeidung  müssiger  Bettruhe,  Regelung  der 
Darmentleerung,  ausgiebige  Bewegung  im  Freien  bis  zur  Ermüdung, 
ferner  kalte  Waschungen,  besonders  Sitzbäder,  nach  Umständen  Gal- 
vanisation des  Rückenmarks  und  endlich  eine  aufmerksame,  ge- 
duldige Pädagogik. 

Zum  Schlüsse  haben  wir  noch  eines  praktisch  äusserst  wich- 
tigen Symptomes  zu  gedenken,  dessen  Behandlung  nicht  selten  recht 
grosse  Schwierigkeiten  verursacht,  der  Nahrungsverweigerung 
(Sitophobie).  In  erster  Linie  wird  man  hier  nach  körperlichen  Ur- 
sachen zu  suchen  haben,  namentlich  Magen-  oder  Mundkatarrhen 
oder  Darmträgheit,  die  man  durch  geeignete  Massregeln,  Auswahl 
der  Speisen,  Ausspülen  des  Magens,  Mundes  oder  Darmes,  unter 
Umständen  auch  durch  Arzneimittel  zu  bekämpfen  hat.  Nicht  viel 
Erfolg  habe  ich  von  dem  anscheinend  auch  nicht  ganz  ungefähr- 
lichen Orexin  gesehen ,  welches  zur  Anregung  des  Appetites  em- 
pfohlen worden  ist. 

Am  häufigsten  hat  die  Nahrungsverweigerung  ihren  Grund  in 
mannigfachen  Wahnideen,  Vergütungsfurcht,  Glauben,  nicht  bezahlen 
zu  können,  das  Essen  nicht  werth  zu  sein,  Wunsch  zu  verhungern 
u.  s.  f.  Der  beste  Bundesgenosse  ist  hier  immer  der  Hunger,  der 
bisweilen  nach  einigen  Tagen  der  Nahrungsverweigerung  sein  Recht 
so  stark  geltend  macht,  dass  der  Kranke  dann  mit  wahrer  Gier  über 
die  vorgesetzten  Speisen  herfällt.  Derselbe  wirkt  am  verführerischsten, 
wenn  man  sich  um  den  Kranken  scheinbar  gar  nicht  kümmert,  ihn 
mit  dem  Essen  allein  lässt  und  von  seiner  Nahrungsverweigerung 
möglichst  wenig  Notiz  nimmt.  Yieles  Zureden  oder  gai'  Versuche, 
die  Nahrung  einzugeben,  pflegen  bisweilen  den  passiven  Widerstand 
rasch  sehr  erheblich  zu  verstärken.  In  anderen  Fällen  ist  es  mehr 
eine  gewisse  Energielosigkeit,  die  den  Kranken  hindert,  die  wahn- 
haften Gegenvorstellungen  zu  überwinden;  er  isst,  sobald  man  ihm 


Behandlung  einzelner  Symptome. 


227 


den  Löffel  an  den  Mund  führt.  Anwendung  von  Gewalt  dabei  ist 
hier,  wie  dort,  regelmässig  vom  Uebel.  Bisweilen  wechselt  anch 
der  Zustand  sehr  rasch,  und  derselbe  Kranke,  der  jetzt  anf  keine 
Weise  zum  Essen  zu  bringen  war,  nimmt  vielleicht  nach  einer 
Viertelstunde  freiwillig  seine  N"ahrung  zu  sich,  um  kurze  Zeit  dar- 
auf wieder  allen  Yersuchungen  eigensinnig  zu  widerstehen.  TJn- 
ermüdliche  Geduld  und  genaue  Ausnutzung  aller  kleinen  Vortheile 
(z.  B.  Anregimg  der  Nachahmung  und  des  Appetits  durch  Mitessen), 
sowie  möglichst  sorgfcältige  Auswahl  und  Abwechselung  der  Speisen 
helfen  meist  über  die  aufgezählten  Schwierigkeiten  hinweg. 

Allein  es  giebt  Fälle,  in  denen  alle  Bemühungen  des  Arztes 
nach  dieser  Kichtung  hin  fehlschlagen  und  in  denen  schliesslich 
um  der  drohenden  Gefahr  der  Erschöpfung  und  des  Hungertodes  zu' 
begegnen,  zur  künstlichen,  zwangsmässigen  Einbringung  der 
Nahrung,  geschritten  werden  muss.  Der  Zeitpunkt,  an  welchem 
man  zu  chesem  Auskimftsmittel  greift,  wird  am  besten  durch  die 
Körperwage  bestimmt,  weil  sie  den  zuverlässigsten  Anhaltspunkt  für 
che  Beurtheikmg  des  Ernährungsstandes  liefert.  Am  schliiumsten 
sind  diejenigen  Fälle,  in  denen  die  Kranken  von  langer  Hand  an- 
fangen, immer  weniger  und  weniger  zu  essen,  um  allmählich  ganz 
aufzuhören;  hier  ist  rasches  Einschreiten  dringend  geboten,  weü 
sonst  leicht  ein  unaufhaltsamer  Collaps  erfolgt.  Je  nach  dem  Zu- 
stande des  Patienten  wird  man  spätestens  2—3  Tage  nach  Beginn 
der  völligen  Abstinenz,  bisweilen  auch  schon  noch  früher,  mit  der 
künstlichen  Fütterung  vorzugehen  haben.  Bei  plötzlich  auftretender 
Nahrungsverweigerung  und  bei  kräftigem  Körper  kann  man  ruhig 
6—8  Tage  zuwarten,  wo  häufig  der  grimmige  Hunger,  der  aller- 
dings bei  längerem  Fasten  schliesslich  ausbleibt,  derselben  ohnedies 
ein  Ende  macht.  Ist  die  Nahrungsverweigerung  keine  vollständige, 
geniesst  der  Kranke  wenigstens  noch  Wasser,  so  hat  man  unter 
steter  Berücksichtigung  seines  Ernährungszustandes  selbst  10—12 
Tage  ohne  Gefahr  Zeit,  bevor  Zwangsmassregeln  nöthig  sind. 

Die  Methode  der  künstlichen  Fütterung  selbst  besteht  in  der 
Einführung  einer  Sonde  in  den  Magen,  durch  Avelche  mittels  eines 
einfachen  Trichters  lauwarme,  passend  zusammengesetzte,  nährende 
Flüssigkeiten  in  denselben  befördert  werden.  Die  Einführung  ge- 
schieht durch  den  Mund  oder  durch  die  Nase.  Das  erstere  Ver- 
fahren zwingt  bei  starkem  Widerstande  des  Kranken  zu  gewaltsamer 

15* 


228. 


V.  Allgemeine  Therapie. 


Eröffnung  und  Otfenhaltung  der  Zahnreihe  durch  keilartige  Insü'u- 
raente  (Heist er'sche  Mundsperre),  die  sogar  zu  Verletzungen  führen 
kann;  letzteres  Vorgehen  macht  den  Arzt  vom  Widerstande  des 
Ki-anken  wesentlich  unabhängig,  misslingt  aber  leichter.  Bei  jeder 
Fütterung  muss  der  Kranke  durch  sichere  Hände  zuverlässig  fest- 
gehalten werden,  um  unvermuthete  störende  Bewegungen  zu  ver- 
hindern; die  Einführung  der  aus  weichem,  biegsamem  Stoffe  be- 
stehenden Sonde  (Jacques  Patent  oder  dickwandiger  Gummischlauch) 
geschieht  langsam  und  ohne  die  mindeste  Gewalt.  In  der  Eegel 
gleitet  dieselbe  dabei  mit  Hülfe  einer  reflectorisch  ausgelösten  Schliick- 
bewegung  glatt  in  die  Speiseröhre  hinein;  bei  sehr  widerstrebenden 
Eianken  kann  es  indessen  vorkommen,  dass  sie  von  ihrer  Bahn 
nach  vorn  zu  abgelenkt  wird  und  sich  im  Mvmde  zusammenknäuelt. 
Hier  muss  man  geduldig'  wiederholt  von  Neuem  versuchen,  zum 
Ziele  zu  kommen;  im  Nothfalle  bleibt  dann  immer  noch  der  Weg 
durcli  den  Mund  unter  der  sicheren  Führung  des  Fingers. 

Yon  grosser  Wichtigkeit  ist  es,  sich  davon  zu  überzeugen,  dass 
die  Sonde  den  richtigen  Weg  genommen  hat  und  nicht  in  den 
Kehlkopf  gelaugt  ist.  Bei  gelähmten  und  sehr  unempfindlichen 
Kranken  können  nämlich  die  sonst  das  Eindringen  eines  Fremd- 
körpers in  die  Luftwege  begleitenden  Erscheinungen  der  höchsten 
Athemnoth  und  der  stürmischen  .Reflexbewegungen  gänzlich  fehleu; 
die  Sonde  gleitet  ohne  Störung  bis  an  die  Gabelung  der  Trachea, 
wo  sie  auf  Widerstand  stösst.  Die  Athmung  geschieht  dann  durch 
das  Lumen  der  Sonde,  doch  können  bei  Luftansammlung  im  Magen 
auch  Exspirationsgeräusche  entstehen,  wenn  das  Rohr  glückUch  in 
diesen  letzteren  gelangt  ist.  Das  unfehlbare  Mittel,  sich  über  die 
Lage  der  Sonde  zu  vergewissern,  ist  die  Auscultation  des  Ma- 
gens beim  Einblasen  von  Luft. 

Als  Nahrungsflüssigkeit  wählt  man  zweckmässig  Milch  oder 
Fleischbrühe  mit  gequirlten  rohen  Eiern,  Zucker  und  Butter,  nach 
Umständen  Zusätze  von  Wein,  Cacao,  Fleischpepton ,  Fleischsaft 
und  dergl.;  auch  Arzneien  können  natürlich  auf  diese  Weise  mit- 
eingeführt werden.  Das  Zurückziehen  der  Sonde  geschieht  anfangs 
langsam,  in  der  Gegend  des  Kehlkopfeinganges  schnell;  zugleich 
wird  die  obere  Oeffnung  des  Rohres  verschlossen  gehalten,  damit 
nicht  unten  anhängende  Tropfen  bei  dieser  Gelegenheit  in  die  Luft- 
röhre gelangen. 


Behandlung  einzelner  Symptome. 


229 


Die  künstliche  Ernährung-  wird  täglich  Avenigstens  zwei  Mal 
Torgenommen,  am  besten  Mittags  und  Abends;  jedesmal  führt  man 
anfänglich  vielleicht  etwas  weniger,  später  aber  ungefähr  einen  Liter 
Flüssigkeit  ein,  der  man  einen  möglichst  hohen  Nährwerth  zu  geben 
bemüht  sein  muss.  Es  gelingt  auf  diese  "Weise,  nahrungverweigernde 
Kranke  "Wochen,  Monate,  selbst  Jahre  lang  am  Leben  zu  erhalten, 
wenn  auch  natürlich  damit  nur  ein  unvollkommener  Nothbehelf  für 
die  freiwillige  Nahrungsaufnahme  gewonnen  ist.  Man  wird  daher 
nebenbei  immer  fortfahren,  auf  alle  "Weise  die  Beseitigung  der  Sito- 
phobie  anzustreben. 

Eine  sehr  unangenehme  Begleiterscheinung  der  Fütterung  ist 
das  bisweilen  auftretende  Erbrechen.  Schleunige  Entfernung  der 
Sonde  ist  hier  wegen  der  Gefahr  des  Erstickens  durch  die  herauf- 
gewürgte Nährflüssigkeit  durchaus  nothwendig.  Durch  häufigere 
"Wiederholung  des  Verfahrens,  im  Nothfalle  durch  Abstumpfung  der 
Eachenempfindlichkeit  mit  Hülfe  von  Narkoticis  {Bromkalium,  Be- 
pinseln mit  Cocain-  oder  Morphiumlösung),  Yoranschicken  von  Eis- 
wasser und  Cognac,  kann  man  diese  Schwierigkeit  meist  über- 
winden. Man  begegnet  indessen,  allerdings  glücklicherweise  selten, 
sitophobischen  Kranken,  die  willkürlich  erbrechen  können  und  so 
jede  Fütterung  unmöglich  machen.  Da  bei  ihnen  begreiflicher  "Weise 
auch  die  Ernährung  durch  Klystiere,  an  die  man  etwa  denken 
könnte,  trotz  aller  Schutzmittel  (hohes  Einführen  der  Sonde,  "Watte- 
tampons) ungenügend  bleibt,  so  wird  die  Behandlung  solchen  Kranken 
gegenüber  bisher  thatsächlich  machtlos:  sie  verhungern. 

La  neuester  Zeit  ist  die  Eeihe  unserer  Kampfmittel  gegen  die 
Nahrungsverweigerung  noch  dui'ch  die  Einführung  der  subcutanen 
Kochsalzinfusion  bereichert  worden.*)  Zimächst  ist  natürlich  dieses 
aus  der  chirurgischen  Klinik  herübergenommene  Verfahren  ge- 
eignet, bei  erschöpften  Kranken  den  drohenden  Kräfteverfall  auf- 
zuhalten. Es  erscheint  darum  überall  dort  angebracht,  wo  die  Zu- 
fuhr anregender  Nahrungs-  und  Arzneimittel  aus  körperlichen 
Gründen  (schwere  Mund-  oder  Magenleiden)  unmöglich  ist  oder 
eine  sehr  rasche  und  ergiebige  Füllung  des  Gefässsystems  noth- 
wendig erscheint.  "Weiterhin  aber  hat  sich  herausgestellt,  dass  im 
Gefolge  der  Kochsalziofusion  mit  der  regelmässigen  Besserung  des 

*)  Ilberg,  Ällgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  XLVIII,  p.  620. 


230 


V.  Allgemeine  Therapie. 


Allgemeinbefindens  ein  erhöhtes  Hunger-  und  Dui'Stgefühl  auf- 
zutreten pflegt,  Avelches  die  Kranken  zu  freiwilliger  Nahrungs- 
aufnahme veranlasst,  namentlich  dann,  wenn  die  Verweigerung 
nicht  dui'ch  klar  verarbeitete  Wahnideen,  sondern  nur  durch  Ver- 
wirrtheit und  Unruhe  bedingt  war.  Die  Methode  ist  die  gewöhn- 
liche; 5—700  gr  0,750/oiger,  auf  37— 39o  C.  erwärmter,  sterilisirter 
Kochsalzlösung  lässt  man  unter  geringem  Druck  mittels  Hohlnadel 
oder  Troikart  in  die  subcutanen  Lymphräume  einfüessen.  Meist 
sind  zwei  Einstiche  (Brust,  Kücken,  Oberschenkel)  erforderlich;  die 
Geschwulst  wird  durch  vorsichtiges  Massiren  vertheilt.  Das  Ver- 
fahren kann  mehrfach ,  vdederholt  werden. 

E.  Die  Irrenanstalt. 

Die  Gesammtheit  aller  körperlichen  und  psyclüschen  Heilmittel 
fijidet  sich  zu  einheitlichem  Zusammenwirken  vereinigt  in  dem  Or- 
ganismus der  Irrenanstalt.  Die  Irrenanstalt  in  ihrer  heutigen 
Einrichtung  ist  eine  Errungenschaft  unseres  Zeitalters.*)  In  früheren 
Jahrhunderten  Hess  man  harmlose  lu-anke  einfach  herumlaufen  und 
begnügte  sich  damit,  nur  die  gefährlichen  Irren  in  Gewahrsam  zu 
nehmen;  sie  wurden  dann  in  Höstern,  häufiger  in  Gefängnissen 
und  Zuchthäusern,  zusammen  mit  allem  möglichen  Gesindel  unter- 
gebracht, oder  aber  auch  in  eigenen,  menagerieartigen  „Narren- 
thiü-men"  eingesperrt,  welche  meist  in  der  Stadtmauer  lagen  und  an 
gewissen  Tagen  vom  Publicum  zur  Belustigung  besucht  wm-den. 
So  mancher  Kranker  endlich  fiel  wol  auch  den  Hexenprocessen 
zum  Opfer  und  wurde  auf  die  grausamste  Weise  zu  Tode  gemartert 
oder  verbrannt.**) 

Leider  besserte  die  Ueberwindung  dieses  finsteren  Aberglaubens 
mehr  als  ein  Jahrhundert  lang  in  dem  Loose  der  unglücklichen  Geistes- 
kranken nur  wenig.  Da  man  die  psychischen  Störungen  im  Allgemeinen 
für  unheilbar  hielt,  so  waren  die  Irren  nichts,  als  eine  Last,  deren 
man  sich  auf  möghchst  einfache  Weise  zu  entledigen  suchte.  So 
wurden  sie  denn  in  schmutzigen,  licht-  und  luftlosen  Verliessen 
zusammengepfercht,  an  Ketten  geschlossen,  hungernd  und  ohne 


*)  Kirchhoff,  Grundriss  einer  GescMchte  der  deutschen  Irrenpflege.  1890. 
**)  Snell,  Hexeaprocesse  und  Geistesstörung.  1891. 


Die  Irrenanstalt. 


231 


Kleidung  der  Willkiir  und  der  Peitsche  roher  "Wärter  (vielfach  ent- 
lassene Verbrecher!)  schutzlos  preisgegeben,  bis  der  Tod,  barm- 
herziger als  die  Mitwelt,  sie  von  ihren  Leiden  erlöste.  Selbst  ]nach- 
deni  gegen  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  in  England  die  erste 
eigentliche  Irrenanstalt  zur  Behandlung  von  Geisteskranken  ein- 
gerichtet worden  war,  fand  dieses  Beispiel  nur  langsame  Nach- 
ahmung. JSToch  um  die  "Wende  des  Jahrhunderts,  als  Pinel  in 
Paris  das  Schicksal  der  verwahrlosten  Greisteskranken  ?zu  lindern 
bemüht  war,  herrschten  fast  überall,  auf  dem  Continent  wie  in  Eng- 
land, in  den  JSTarrenhäusern  die  entsetzlichsten  Zustände.  Ja,  noch 
1817  sah  sich  Hayner,  der  ehrwürdige  Vorkämpfer  für  die  humane 
Behandlung  der  Irren  in  Deutschland,  veranlasst,  auf  das  Feier- 
lichste gegen  die  Ketten,  die  Zwangsstühle,  die  körperlichen  Züchtig- 
ungen öffentlich  zu  protestiren.*) 

Nach  und  nach  jedoch  kam  die  Erkenntniss  von  der  Noth- 
wendigkeit  einer  völligen  Neugestaltung  der  Irrenfürsorge  auf  ärzt- 
licher Grundlage  mit  immer  wachsender  Gewalt  zum  Durchbruch, 
und  es  trat  daher  in  den  ersten  Decennien  dieses  Jahrhunderts  in 
den  meisten  civilisii^ten  Ländern  an  SteUe  der  einfachen  Auf- 
bewahrung die  Errichtung  wirklicher  Heilanstalten,  welche  endlich 
auch  den  unglücklichen  Irren  die  Wohlthaten  einer  ärztlichen, 
auf  die  Beseitigung  ihres  Leidens  gerichteten  [Behandlung 
zu  vermitteln  bestimmt  waren. 

Auch  jetzt  aber  noch  krankte  die  praktische  Irrenfürsorge  an 
der  UnvoUkommenheit  der  wissenschaftlichen  Erkenntniss  von  dem 
"Wesen  der  Geistesstörungen.  Hauptsächlich  der  Einfluss  gewisser 
speculativ- psychologischer  Auffassungen  des  Irreseins  führte  zur 
Ausbildung  eines  Behandlungssystems,  in  welchem  eine  Keihe  aus- 
gesuchter Marterwerkzeuge,  der  Sack,  die  Drehschaukel,  das  Tret- 
rad, die  Douchen  u.  s.  w.  die  Hauptrolle  spielten.  Die  Kranken 
wurden  in  der  verschiedensten  Weise  gemisshandelt  und  gequält, 
aber  nicht  mehr  aus  Kohheit,  sondern  in  der  wohlgemeintesten  Ab- 
sicht ärztlicher  Beeinflussung. 

Glücklicherweise  ist  diese  Verirrung  verhältnissmässig  rasch 
überwunden  worden,  und  die  Behandlungswerkzeuge  wanderten 


*)  AiifForderung  an  Eegierungen,  Obrigkeiten  und  Vorsteher  der  In-enliäuser 
AbsteUung  einiger  schweren  Gebrechen  in  der  Behandlung  der  Irren.  1817. 


232 


V.  Allgemeine  Therapie. 


bald  in  die  Eumpelkammern ;  dagegen  erschien  die  Anwendung  ein- 
facher mechanischer  Beschränkung  zum  Schutze  gegen  erregte 
Kranke  oder  auch  zu  ihrer  psychischen  Beeinflussung  noch  Jahr- 
zehnte hindurch  als  selbstverständliche  Massregel.  Lange  und  schwere 
Kämpfe  hat  es  gekostet,  bis  allmählich  Conolly's  kühne  Neuerung 
mit  ihren  weitreichenden  Folgen  für  die  gesammte  Gestaltung  der 
Irrenanstalten  überall  als  selbstverständliche  Forderung  betrachtet 
wurde. 

"Wir  dürfen  es  aber  mit  Stolz  aussprechen,  dass  die  Widerstände 
gegen  den  Fortschritt  weit  weniger  bei  den  Irrenärzten  gelegen 
haben,  als  in  den  äusseren  Verhältnissen,  in  der  Yerständnisslosig- 
keit  und  Gleichgültigkeit  der  Massen,  iu  dem  Mangel  an  verfüg- 
baren HiHfsmitteln.  Jahrhunderte  lang  haben  Regierungen  und  Volk 
dem  Elende  der  Geisteskranken  theilnahmlos  zugesehen,  und  erst, 
seitdem  es  Irrenärzte  giebt,  ist  endlich  die  Bewegung  in  Fluss  ge- 
kommen, welche  uns  auf  die  heutige  Höhe  geführt  hat.  Dieselben 
Irrenärzte,  die  man  jetzt  in  merkwürdig  anachronistischer  Anwand- 
lung gewissermassen  als  die  geborenen  Feinde  der  Ejranken  und 
Gesunden  zu  brandmarken  beliebt,  sind  es  gewesen,  welche  in  müh- 
seliger, aufopferungsreicher  Berufsarbeit  ihren  Pflegebefohlenen  die 
Ketten  gelöst  haben,  in  welche  sie  Eohheit  und  Unkenntniss  so 
lange  geschmiedet  hatte. 

Die  heutige  Irrenanstalt  ist  ein  Krankenhaus,  wie  jedes  andere, 
mit  dem  einzigen,  durch  den  Zustand  ihrer, Bewohner  geforderten 
Unterschiede,  dass  Eintritt,  Behandlungsart  und  Austritt  nicht  vom 
Belieben  des  Kranken,  sondern  unter  gewissen  Einschränkungen  vom 
ürtheile  des  sachverständigen  Arztes  abhängen.  Jede  Einrichtung 
der  Anstalt  dient  daher  in  erster  Linie  dem  Heilzwecke,  dessen  Er- 
reichung mit  allen  durch  Wissenschaft  und  Erfahrung  gelieferten 
Hülfsmitteln  erstrebt  wird.  Diese  Aufgabe  sucht  die  Anstalt  zu 
lösen,  indem  sie  zunächst  den  Kranken  mit  einem  Schlage  der 
Einwirkung  jener  täglichen  Eeize  entzieht,  wie  sie  nur  all- 
zu oft  in  seinem  Berufsleben,  in  der  Sorge  für  die  Existenz,  in  der 
verfehlten  und  verständnisslosen  Behandlung  Seitens  der  An- 
gehörigen und  Freunde,  ja  in  dem  Spotte  und  den  Neckereien  einer 
rohen  Umgebung  auf  ihn  einstürmen.  Er  findet  sich  wieder  in  einem 
geordneten,  vom  Geiste  der  Menschenliebe  und  des  Wohlwollens 
durchdrungenen  Hauswesen,  in  dem  ihn  theilnehmendes  Verständuiss 


Die  Irrenanstalt. 


233 


für  seinen  Znstand,  liebevolle  Filrsorge  für  seine  Bedürfnisse  und 
Yor  allen  Dingen  Kuhe  erwartet.  Sehr  häufig  ist  daher  auch  eine 
sofortige  Beruhigung  der  rasche  Erfolg  seiner  Versetzung  in  die 
Anstalt. 

Leider  verhindern  anch  heute  die  immer  noch  im  Publicum 
und  selbst  bei  Aerzten  bestehenden  Yorurtheile  gegen  die  Anstalt 
vielfach  die  rechtzeitige  Durchführung  dieser  segensreichen  Mass- 
regel. Es  erscheint  kaum  glaublich,  wenn  trotz  der  jetzigen  Ent- 
wickelung  unseres  Irrenwesens  in  weiten  Kreisen  die  ebenso  un- 
sinnige wie  verhängnissvolJe  Yorstellung  fortlebt,  dass  ein  Kranker 
erst  „reif"  für  die  Irrenanstalt  werden  müsse,  dass  sein  Zustand  sich 
bei  vorzeitiger  Aufnahme  verschlechtern,  dass  ihn  die  Erkemitniss 
in  der  Anstalt  zu  sein,  das  Zusammensein  mit  anderen  Kranken 
rasend  machen  werde.  Damit  verbindet  sich  dann  weiter  die  aller 
Erfahrung  Hohn  sprechende  Meinung,  dass  ein  Gesunder,  der  etwa 
versehentlich  in  eine  Anstalt  eingesperrt  werde,  mm  in  Folge  der 
schrecklichen  Eindrücke  sehr  bald  in  Geisteskrankheit  verfallen 
müsse  u.  s.  f.  Yen  Paranoikern  ohne  Ki-ankheitseinsicht  hören  wir 
diese  Ueberlegungen  aUe  Tage  vorbringen;  sie  sind  nur  der  Wider- 
hall jener  verderblichen  Bestrebungen,  welche  das  glücklicherweise 
schwindende  Missti-auen  gegen  die  Irrenanstalten  durch  kritiklose 
Schauergeschichten  von  Neuem  aufzuregen  suchen.  Indem  sie  da- 
hin drängen,  die  Aufnahme  in  die  Anstalten  durch  weitläufige  Förm- 
lichkeiten, ja  durch  Anstrengung  eines  eigenen  „Irrenprocesses"  mit 
Instanzenzug  nach  Möglichkeit  zu  erschweren,  betrügen  sie  Tausende 
hülfsbedürftiger  Kranker  um  die  Wohlthat  rechtzeitiger  Behandlung, 
ja  um  die  Möglichkeit  der  Genesung.  Denn  das  hat  die  Erfahrung 
auf  das  Unzweifelhafteste  erwiesen,  dass  die  Prognose  der  Geistes- 
störungen sich  um  so  günstiger  gestaltet,  je  früher  die  Yerbringung 
in  eine  geeignete  Anstalt  stattfindet. 

Nur  bei  ganz  leichten  Formen  psychischer  Yerstimmung,  bei  harm- 
losen Yerrückten,  chronischen  Schwächezuständen  und  dergl.,  und  wenn 
die  häuslichen  Yerhältnisse  eine  sehr  guteUeberwachung  und  Pflege  ge- 
statten, ist  es  gerathen,  von  der  Anstaltsbehandlung  abzusehen.  In  allen 
schwereren,  namentlich  acuten  Erkrankungen  jedoch,  und  ganz  unbe- 
dingt dann,  wenn  in  der  Umgebung  des  Kranken  selbst  Schädlichkeiten 
gelegen  sind,  oder  wenn  sich  Selbstmordideen,  Nahrungsverweigerung, 
stärkere  Aufregung,  Unreinlichkeit,  Neig-ung  zu  Gewaltthätigkeiten 


234 


V.  Allgemeine  Therapie. 


einstellen,  ist  die  schleuaigste  Versetzung  aus  der  Familie  in  die 
Irrenanstalt  geboten.  Grewarnt  muss  namentlich  werden  vor  den 
vielfachen  unverständigen  Versuchen,  die  herannahende  Psychose 
durch  „Zerstreuungen",  anstrengende  Reisen,  Entziehungs-  und  Kalt- 
wassercuren  abschneiden  zu  wollen,  bevor  man  sich  zu  dem  einzig 
richtigen,  lange  verworfenen  Scbritte  der  Verbringung  in  das  Asyl 
entschliesst.  Die  beste  Zeit  zum  erfolgreichen  ärztlichen  Handeln 
ist  dadurch  verloren  gegangen,  die  krankhafte  Reizbarkeit  zu  immer 
grösserer  Höhe  und  vielleicht  zur  völligen,  unheilbaren  Erschöpfung 
gesteigert  worden,  sodass  der  Kranke  nach  allen  den  missglückten 
Versuchen  schliesslich  schon  als  geistige  Ruine  in  die  Hände  des 
Irrenarztes  gelangt.  Trotzdem  der  Schwerpunkt  der  Behandlung 
Geisteskranker  in  der  Irrenanstalt  gelegen  ist,  bleibt  es  daher  eine 
überaus  wichtige  Aufgabe  des  Hausarztes,  rechtzeitig  die  Entwickel- 
ung  der  Störung  zu  erkennen  und  ohne  viel  Zeitverlust  mit  nutz- 
losem und  häufig  schädlichem  Herumprobiren  die  Versetzung  des 
Kranken  in  die  für  ihn  geeignete  Umgebung  zu  veranlassen.  Von 
besonderem  Werthe  wird  es  dabei  sein,  wenn  er  durch  eine  sach- 
verständige Krankengeschichte  dem  Anstaltsarzte  Aufschlüsse  über 
den  Beginn  und  bisherigen  Verlauf  des  Leidens  zu  geben  vermag, 
da  ja  die  Aussagen  des  Kranken  und  selbst  der  Angehörigen  über 
diesen  Punkt  nicht  selten  recht  wenig  zuverlässig  sind. 

lieber  die  Förmlichkeiten,  unter  denen  die  Verbringung  des 
Kranken  in  die  Anstalt  zu  geschehen  hat,  bestehen  in  den  einzelnen 
Ländern  verschiedenartige  Bestimmungen.  Regelmässig  wird  dabei 
die  Einwilligung  der  nächsten  Angehörigen  oder  die  Einweisung 
durch  eine  Behörde  verlangt,  ausserdem  ein  oder  mehrere  äi'ztliche 
oder  amtsärztliche  Zeugnisse  über  das  Vorhandensein  einer  Geistes- 
störung und  die  Nothwencügkeit  der  Anstaltsbehandlung.  Vielfach 
besteht  dabei  der  Grundsatz,  dass  in  Nothfällen  die  Aufnahme  des 
Kra.nkeu  durch  das  Fehlen  eines  oder  des  anderen  schriftlichen 
Nachweises  nicht  verzögert  werden  soll,  sondern  der  Anstaltsarzt 
nach  Befinden  das  Recht  hat,  den  Kranken  provisorisch,  gegen 
Nachlieferung  der  Papiere,  aufzunehmen.  Im  Grossen  und  Ganzen 
geht  das  Bestreben  aller  Einsichtigen  dahin,  die  Aufnahmeförmlich- 
keiten  in  allen  unzweifelhaften  FäUen  geistiger  Störung  nach  Mög- 
lichkeit zu  erleichtern.  Ich  habe  sogar  Gelegenheit  gehabt,  6  Jahre 
hindurch  alle  meine  Kranken  oliue  irgendwelche  Papiere  aufzu- 


Die  Irrenanstalt. 


235 


nehmen,  und  ich  habe  keine  nennenswerthen  Unzuti-äglichkeiten 
dai-aus  erwachsen  sehen.  Freilich  ist  die  Verantwortlichkeit  für  den 
L-renai-zt  selbst  unter  diesen  Umständen  eine  viel  grössere,  als 
wenn  er  sich  überall  auf  gesetzliche  Vorschriften  berufea  kann,  aber 
er  ist  als  Sachverständigster  auch  am  meisten  dazu  befähigt,  sie  zu 
tragen,  und  die  Ki-anken  befinden  sich  dabei  ohne  Zweifel  am 
wohlsten.  Trotzdem  ist  natürlich  in  allen  schwierigeren  Fällen  die 
vorherige  Erledigung  aller  Förmlichkeiten  gerade  dem  Anstaltsarzte 
dringend  erwünscht,  damit  wenigstens  ein  Theil  der  Last  auf  fremden 
SchLÜtern  ruht,  die  ihm  aus  dem  unerquicklichen  und  undankbaren 
Festhalten  widerstrebender,  besonnener  Kranker  in  der  Anstalt 
regelmässig  zu  erwachsen  pflegt. 

Für  die  Behandlung  des  weiteren  Verlaufes  der  psychischen 
Störung  besitzt  die  Anstalt  alle  Hülfsmittel,  welche  irgendwie  auf 
eine  günstige  Entwicklung  desselben  hinzuwirken  im  Stande  sind. 
Dahin  gehört  ausser  den  in  ihrem  Fache  besonders  ausgebildeten 
Aerzten  ein  wohlgeschultes,  auf  den  Umgang  mit  Geisteskranken 
eingeübtes,  gut  disciplinii-tes  Pflegepersonal,  eine  grössere  Zahl 
verschieden  ausgestatteter  Abtheilungen  für  die  einzelnen  Gruppen 
der  Kranken  (Unruhige,  Halbruhige,  Ruhige,  Gebrechliche,  Ueber- 
wachungsbedüi-ftige  u.  s.  f.),  sowie  die  allgemeinen  Einrichtungen 
sonstiger  Krankenhäuser. 

Im  Uebrigen  drängt  die  Verschiedenartigkeit  der  Aufgaben, 
welche  die  Irrenanstalt  je  nach  der  Eigenart  ihrer  Bewohner  zu  er- 
füllen hat,  mit  Nothwendigkeit  auf  eine  Arbeitstheilung  hin,  auf  eine 
verschiedene  Gestaltung  der  Anstalten  nach  ihren  besonderen  Zwecken. 
Freilich  ist  die  früher  meist  aufrecht  erhaltene  Trennung,  derselben 
in  Heil-  und  Pflegeanstalten  als  unzweckmässig  und  undurchführbar 
fast  überall  verlassen  worden.  Anstatt  dessen  beginnt  sick  immer 
mehr  die  Scheidung  zwischen  kleineren,  leicht  erreichbaren,  für  acute 
Fälle,  vorläufige  Unterbringung  und  eventuell  auch  den  Unterricht 
geeigneten  Stadtasylen  und  den  grösseren,  auf  längere  Pflege  oder 
dauernde  Versorgung  eingerichteten,  mehr  isolirt  gelegenen  Irren- 
anstalten herauszustellen.  Den  Stadtasylen  fällt  dabei  die  Aufgabe 
zu,  aus  dem  ganzen  fortwährend  zufliessenden  Ejt-ankenmateriale  die 
für  die  Anstalten  passenden  Fälle  auszuwählen  und  sie  denselben 
zu  überweisen. 

Den  wichtigsten  Theil  jedes  Stadtasyls  bildet  die  "Wachab- 


236 


V.  Allgemeine  Therapie. 


theilung,  in  welcher  alle  Kranken  untergebracht  werden,  die  aus 
irgend  einem  Grunde  (Selbstmordneigung,  Nahrungsverweigerung, 
TJnreinlichkeit,  körperliche  Erkrankung)  Tag  und  Nacht  der  unaus- 
gesetzten Beobachtung  bedürfen.    Hierher  werden  auch  die  frisch 
eintretenden,  sowie  jene  unruhigen  Kranken  versetzt,  bei  denen  die 
Bettbehandlung  durchführbar  ist.    Bei  der  Yerschiedenartigkeit  dieser 
Elemente  besteht  die  Wachabtheilung  am  zweckmässigsten  aus  einer 
Keihe  grösserer  und  kleinerer,  in  freier  "Verbindung  stehender  und 
leicht  übersehbarer  Säle.    Dazu  gehören  weiter  noch  1  oder  2  von 
der  Abtheilung  aus  überblickbare  Isolirziramer  für  besonders  schwierige 
Kranke.    Die  Wachabtheilung  hat  in  einem  Stadtasyle  nach  meiner 
Erfahrung  etwa  ein  Drittel  bis  die  Hälfte  aller  Kranken  aufzunehmen. 
Unter  dieser  Yoraussetzung  kann  die  Abtheilung  für  Unruhige  sehr 
klein,  die  Zahl  der  Isolirzimmer  recht  gering  sein,  und  die  ganze 
Anstalt  nähert  sich  dann  in  allen  wesentlichen  Zügen  einem  beliebigen 
anderen  Krankenhause.    Dem  gegenüber  tritt  in  den  grossen  In-en- 
anstalten  die  Sorge  für  die  Beschäftigung  und  Unterhaltung  der  zu- 
meist ruhigen  und  arbeitsfähigen  Kranken  in  den  Yordergrund.  Frei- 
lich wird  auch  hier  eine  Wachabtheilung  nothwendig,  aber  sie 
kann  verhältnissmässig  viel  kleiner  sein.    Dafür  nehmen  die  Abtheü- 
ungen  den  Charakter  grosser  gemeinschaftlicher  Wohnhäuser  an:  wh- 
finden  Spiel-  und  Gesellschaftsräume,  Bibliothek,  Werkstätten  aller 
Art,  grosse  Gärten,  Yiehwirthschaft,  Ländereien. 

Einen  überaus  bedeutsamen  Fortschritt  hat  die  Ausbildung  der 
grossen  Anstalten  in  der  neueren  Zeit  erfahren  durch  die  Entwickelung 
der  sog.  Colonien,  in  welchen  man,  soweit  wie  irgend  möglich,  die 
Kranken  zu  einer  freien  Beschäftigung  mit  ländlichen  Arbeiten  heran- 
zuziehen sucht.  In  diesem  besten  und  verhältnissmässig  billigsten  Yer- 
pflegurgssysteme  dürfte  die  ganze  Frage  der  Irrenfürsorge  auf  lange 
Zeit  hinaus  ihre  endgültige  Lösung  gefunden  haben.  Den  ersten  von 
Köppe  in  grösserem  Massstabe  durchgeführten,  überraschend 
günstig  ausgefallenen  und  bereits  vielfach  nachgealimten  Yersuch 
einer  derartigen  Anstalt  repräsentirt  das  Kittergut  Alt-Scherbitz 
in  der  Provinz  Sachsen,  welches  gänzlich  durch  geisteskranke  Ai'beiter 
bewirthschaftet  wird.  Selbstverständlich  ist  hier  zur  Behandlung  der 
frischen  Fälle  und  der  vorübergehenden  Aufregungszustände  noch 
eine  kleinere  Centraianstalt  mit  den  für  diese  Zwecke  geeigneten 
Einrichtungen  nothwendig.    Werthvoll  vor  Allem  ist  das  coloniale 


Die  Irreuaustalt. 


237 


System  für  die  Unterbringung  jener  zahlreichen  psychischen  Inva- 
liden, denen  die  Krankheit  die  Möglichkeit  einer  selbständigen 
Lebensführung  genommen  hat.  Sie  können  durch  die  stete  Anregung, 
welche  die  Arbeit  giebt,  lange  Jahre  hindurch  in  einem  Zustande 
leidlichen  Wohlseins  erhalten  werden,  während  sie  ohne  dieselbe 
yielleicht  rettungslos  einer  raschen  Verblödung  anheimgefallen  wären. 
Ich  selbst  habe  Gelegenheit  gehabt,  Kranke,  welche  Jahre  lang  in 
einer  grossen  geschlossenen  Anstalt  gelebt  hatten,  unter  dem  Ein- 
flüsse der  relatiyen  Freiheit  und  selbständigeren  Beschäftigung  in 
der  Colonie  auf  geradezu  überraschende  Weise  geistig  aufleben 
zu  sehen. 

Auch  noch  nach  einer  anderen  Eichtang  hin  haben  die  humanen 
Bestrebungen  der  letzten  Decennien  die  praktische  Lösung  der 
Irrenfrage  wesentlich  gefördert.  Indem  man  ausging  von  dem 
Muster  der  belgischen  Ortschaft  Gheel,  deren  Bewohner  sich  Jseit 
alter  Zeit  aus  ursprünglich  religiösem  Anlasse  (Cultus  der  heiligen 
Dymphna)  mit  der  privaten  Pflege  Geisteskranker  beschäftigen,  hat 
man  auch  in  Deutschland  (Ilten  bei  Hannover)  den  glücklichen 
Versuch  gemacht,  eine  _familiare  Verpflegung  von  Irren  unter 
ärztlicher  Aufsicht  in  ausgedehnterem  Masse  einzurichten.  Freilich 
wird  sich  nicht  jede  Bevölkerung,  und  vor  Allem  wird  sich  immer 
nur  ein  kleiner  Bruchtheil  von  Kranken  für  diese  an  sich  bestechendste 
Form  der  Fürsorge  eignen.  Ohne  Zweifel  aber  ist  die  familiäre 
Verpflegung  als  ein  werthvoUes  und  in  vieler  Beziehung  unersetzliches 
Glied  in  der  ganzen  Kette  von  Einrichtungen  anzusehen,  welche 
das  schwere  Schicksal  unserer  Kranken  zu  erleichtern  berufen  sind. 

Die  Aufgabe  des  Irrenarztes  schliesst  ab  mit  der  Entlassung 
des  Kranken  aus  der  Anstalt.  In  der  Eegel  soll  dieselbe  nur 
nach  erfolgter  Genesung  geschehen,  aber  es  giebt  nicht  so  gar  selten 
Fälle,  in  denen  der  langsame  Gang  der  Eeconvalescenz  und  ein  sehr 
lebhaftes,  allerdings  noch  krankhaftes  Heimweh  oder  das  Drängen 
der  Angehörigen  zu  einer  etwas  vorzeitigen  Entlassung  zwingen, 
wenn  man  nicht  die  Gefahr  einer  Verschlechterung  oder  gar  eines 
unvermutheten  Selbstmordes  auf  sich  nehmen  will.  Bei  ^^Torsichtiger 
Auswahl  der  Kranken  und  unter  günstigen  häuslichen  Verhältnissen 
pflegt  sich  dann  die  weitere  Heilung  meist  ungestört  zu  vollziehen. 
Bisweilen  jedoch  kommen  baldige  Eückfälle  vor,  besonders  wenn 
des  Genesenden  zu  Hause  wieder  Noth  und  Sorge,  lieblose,  rohe  Be- 


238 


V.  Allgemeine  Therapie. 


handlung  oder  die  Gelegenheit  zu  Ausschweifungen  wartet.  Gerade 
für  ihn  ist  aber  Schonung,  Vermeidung  jeder  Ueberanstreng- 
ung  und  eine  nur  ganz  allmähliche  Einführung  in  die  alltägliche 
Berufslast  dringendnothwendig.  "Wohlhabendere  schieben  daher  zweck- 
mässig zw'ischen  die  Eeconvalescenz  und  den  vollen  Eintritt  in  ihre 
früheren  Pflichten  einen  kurzen  Badeaufenthalt,  Besuch  in  befreundeter 
Familie  u.  dergl.  ein. 

Jede  Entlassung  aus  der  Irrenanstalt  ist  zunächst  eine  ver- 
suchsweise und  wird  erst  nach  einigen  Monaten  eine  endgültige, 
um  die  Eückversetzung  im  Falle  einer  Terschlimmerung  zu  er- 
leichtern. Auch  ungeheilte  und  sogar  unheilbare  Kjanke  werden 
aus  der  Anstaltsbehandlung  entlassen,  wenn  sie  keine  Angriffs- 
punkte für  die  Behandlung  mehr  darbieten  und  sich  für  die  Fami- 
lienpflege eignen  oder  sich  psychische  Selbständigkeit  genug  bewahrt 
haben,  um  in  günstigen  äusseren  Yerhältnissen  kürzere  oder  längere 
Zeit  ohne  besondere  ärztliche  Aufsicht  leben  zu  können.  Es  giebt 
sogar  gewisse  Gruppen  von  Kranken,  denen  an  sich  der  Anstalts- 
aufenthalt geradezu  schadet,  wenn  auch  andererseits  mit  Rücksicht 
auf  die  Umgebung  ihre  Einschliessung  unumgänglich  erscheint 
Namentlich  in  solchen  Fällen  wird  jede  Wendung  zum  Bessern, 
soweit  das  ohne  Gefahr  geschehen  kann,  dazu  ausgenutzt  werden, 
dem  Kranken  die  Wohlthaten  des  Lebens  in  der  Freiheit  für  län- 
gere oder  kürzere  Zeit  wieder  zugänglich  zu  machen. 


Die  specielle  Pathologie  und  Therapie  des  Irreseins. 


Die  Eintheiliiiig  der  Seelenstöriiugen.*) 

Die  nächste  Aufgabe  einer  speciellen  Pathologie  der  Geistes- 
störungen bildet  die  Begriffsbestimmung  und  Umgrenzung 
einzelner  Erankheitsformen.  Zur  Lösung  dieser  Aufgabe 
müssten  uns  einerseits  die  Anomalien  in  dem  Ablaufe  der  physiolo- 
gischen Vorgänge  unserer  nervösen  Centraiorgane,  andererseits  die 
mit  ihnen  zusammenhängenden  psychischen  Functionsstörungen  ge- 
nau bekannt  sein.  Nur  dann  offenbar  wären  wir  im  Stande,  aus  den 
psychischen  Symptomen  auf  die  pathologischen  körperlichen  Grund- 
lagen derselben,  sowie  weiterhin  auf  die  Ursachen  des  ganzen  Krank- 
heitsprocesses  zurückzuschliessen  und  umgekehrt.  Leider  sind  Avir 
von  einer  derartigen  tieferen  Einsicht  in  die  Mechanik  der  Geistes- 
krankheiten heute  nur  allzuweit  noch  entfernt.  Wir  können  uns 
aber  auch  nicht  verhehlen,  dass  gerade  die  Annäherung  an  jenes 
uns  zunächst  vorschwebende  Ziel  uns  höchst  wahrscheinlich  immer 
eindringlicher  die  Unmöglichkeit  einer  wirklich  durchgreifenden  Ein- 
theilung  der  Seelenstörungen  darthun  wird. 

Ueberau,  wo  wir  den  "Versuch  wagen,  Lebensvorgänge  ohne 
Eest  und  ohne  Zwischenstufen  in  ein  Schema  einzuordnen,  machen  wir 
die  Erfahrung,  dass  sich  die  anfangs  schai-f  erscheinenden  Grenzen 
bei  genauerer  Erkenntniss  des  Gegenstandes  immer  mehr  verwischen, 
dass  von  jedem  Beobachtungstypus  zahllose,  unmerklich  variirende 

*)  Kahlbaum,  Die  Gruppirung  der  psychischen  Krankheiten.  1863;  VoIIc- 
manns  klinische  Vorträge,  12ü;  Ocbbecke,  Vergleichende  Uebersicht  der  Classi- 
ficationen der  Psychosen,  Diss.  1886. 


240 


Die  Eintheilung  der  Seelenstörungen. 


Mittelglieder  zu  den  beaachbarten  Typen  hinüberführen.  Der  Un- 
möglichkeit einer  durchgreifenden  Scheidung  zwischen  normalen  und 
pathologischen  Zuständen  haben  wir  früher  schon  gedacht;  ebenso 
werden  wir  mit  Bestimmtheit  erwarten  müssen,  zwischen  den  einzelnen 
schulmässigen  „Krankheitsformen"  alle  möglichen  Uebergänge  im 
Leben  anzutreffen.  Sehen  wir  doch  auch  in  der  inneren  Medicin 
selbst  die  bestcharakterisirten  genera  morbi,  die  acuten  Infections- 
krankheiten,  sich  durch  die  grossen  Gruppen  der  „nicht  ausgesproche- 
nen", „abortiven"  u.  s.  w.  Fälle  allmählich  in  anders  benannte 
„Krankheitsspecies"  hinein  verlieren!  Eine  besonders  grosse  Aus- 
dehnung wird  das  Gebiet  der  Zwischenformen  bei  den  Geistesstör- 
ungen durch  den  Umstand  gewinnen  müssen,  dass  die  einzelnen 
Theile  des  Gehirns  nicht  functionell  gleichwerthig  sind.  Nicht  nur 
die  Art  und  Stärke  der  krankhaften  Veränderungen,  sondern  auch 
ihr  besonderer  Sitz  wird  daher  vermuthlich  eine  unübersehbare 
Folge  feinerer  Nüancen  in  der  Gestaltung  des  psychischen  Zustandes 
zu  erzeugen  im  Stande  sein. 

Wenn  wir  somit  von  einer  systematischen  Eintheilung  der 
Seelenstörungen,  etwa  im  Sinne  Linnes,  für  alle  Zeiten,  und  von 
einer  Aufstellung  wissenschaftlich  fest  begründeter  Typen  für  jetzt 
noch  absehen  müssen,  so  fordert  doch  das  praktische  Bedüriniss 
schon  heute  wenigstens  eine  ungefähre  Gruppii-ung  des  empirisch 
gewonnenen  Materiales,  die  um  so  bleibenderen  Werth  besitzen  wird, 
je  weniger  sie  sich  durch  verfrühte  Speculationen  in  der  nüchternen 
Verarbeitung  der  Thatsachen  beeinflussen  lässt. 

Die  sicherste  Grundlage  für  eine  derartige  Eintheilimg  der 
Irreseinsformen  scheint,  namentlich  im  Hinblicke  auf  die  Erfahr- 
ungen der  inneren  Medicin,  zunächst  die  pathologische  Anatomie 
zu  versprechen.  Leider  indessen  Hegt  die  Aussicht  auf  die  Fest- 
stellung verwerthbarer  Leichenbefunde  für  die  grosse  Mehrzahl  der 
Geistesstörungen  wegen  ihrer  anscheinend  „functionellen"  Natur  noch 
•in  weiter  Ferne.  Selbst  dort  aber,  wo  wir  schon  heute  gröbere  Ver- 
änderungen im  Gehirne  nachzuweisen  vermögen,  fehlt  uns  doch 
durchaus  noch  das  genauere  Verständniss  für  den  Zusammenhang 
der  anatomischen  Thatsachen  mit  den  klinischen  Erscheinungen,  so 
dass  wir  es  höchstens  in  ganz  exti-emen  Fällen  (Miss-  oder  Hemmungs- 
bildungen, ausgedehnte  Zerstörungen,  hochgradige  Atrophie)  wagen 
■dürften,  am  Sectionstische  einigermassen  zuversichtUclie  Vermutli- 


Anatomische,  ätiologische,  symptomatische  Eintheilangen. 


nDgen  über  den  psychischeu  Zustand  während  des  Lebens  auszu- 
sprechen. An  der  Unzulänglichkeit  des  Beobachtungsmaterials,  wie 
-an  der  Schwierigkeit  seiner  functionellen  Verwerthung  sind  daher 
auch  die  bisherigen  Versuche  einer  pathologisch-anatomischen  Ein- 
theilung  der  Geistesstörungen  sämmtlich  gescheitert. 

Kaum  weniger  schwerwiegende  Einwände  lassen  sich  gegen  den 
Versuch  einer  ätiologischen  Eintheilung  der  Psychosen  vorbringen, 
die  noch  in  neuester  Zeit  mit  Nachdruck  als  die  allein  werthvolle 
hingestellt  worden  ist.  Allerdings  kennen  wir  schon  heute  einige 
Ursachen,  deren  Einfluss  sich  in  gewissen  charakteristischen  Idinischen 
Merkmalen  geltend  macht  und  somit  umgekehrt  aus  diesen  erschlossen 
werden  kann.  Dahin  gehören  namentlich  die  verschiedenen  Formen 
von  Vergiftung  und  einzelne  körperliche  Erkrankungen,  ferner  wahr- 
scheinlich die  Erschöpfung,  vielleicht  manche  heftige  Gemüths- 
erschütterungen  und  endlich  die  schwereren  Formen  der  erblichen 
Entartung,  deren  Wesen  und  Wirkungsweise  unserem  Verständnisse 
freüich  noch  sehr  fern  liegt.  Dem  gegenüber  sind  die  Ursachen  des 
Irreseins  in  der  erdrückenden  Mehrzahl  der  Fälle  für  uns  vollständig 
dunkel,  wie  jede  ehrliche  Würdigung  der  täglichen  Erfahrung  ohne 
Weiteres  wird  eingestehen  müssen.  Das  liegt  nicht  allein  an  äusseren 
Zufälligkeiten,  an  der  Schwierigkeit,  gute  Anamnesen  zu  erhalten, 
sondern  ist  wol  in  der  Natur  der  Geistesstörungen  selbst  begründet 
Am  häufigsten  haben  wir  es  hier  mit  constitutionellen  Erkrankungen 
zu  thun,  deren  wesentliche  Ursachen  in  den  wechselnden  inneren 
Zuständen  des  Organismus  gelegen  sind,  und  auch  sonst  spielt  die 
Eigenart  des  Einzehien  für  die  Gestaltung  der  Eeaction  auf  äussere 
Schädlichkeiten  in  diesem  Gebiete  vielfach  eine  völlig  entscheidende 
KoUe.  Gerade  die  Erforschung  und  Zergliederung  geistiger  und 
körperlicher  Individualitäten  ist  indessen  leider  bisher  nicht  über  die 
allerersten  Anfänge  hinausgekommen.  Endlich  wird  zu  berück- 
sichtigen sein,  dass  die  Ursachen  der  Geistesstörungen  selten  einzeln, 
sondern  meist  in  Verbindung  mit  einander  wirken,  so  dass  sich  auch 
aus  diesem  Grunde  der  causale  Zusammenhang  der  gegebenen 
Erscheinungen  fast  niemals  mit  jener  Klarheit  durchschauen  lässt,  wie 
etwa  bei  dem  Verlaufe  einer  Infectionskrankheit. 

Bei  Weitem  am  häufigsten  ist  der  Weg  einer  symptomatischen 
Emtheilung  der  Geistesstörungen  eingeschlagen  worden,  weil  die 
Erscheinungen  des  Ii-reseins  dem  Beobachter  am  unmittelbarsten 

KraepoUn,  Psychiatrie    4.  Aufl.  lö 


242 


Die  EintheiluDg  der  Seelenstörungen. 


in  die  Augen  fallen.  Auch  diese  Methode  stösst  sehr  bald  auf 
Schwierigkeiten,  sobald  es  gilt,  das  "Wesentliche  vom  Zufälligen  und 
Nebensächlichen  zu  unterscheiden.  Sie  führt  mit  einer  gewissen 
Nothwendigkeit  zur  üeb  er  Schätzung  des  einzelnen  Symptoms,  zu  der 
Neigung,  alle  Krankheitsfälle  zu  einer  Form  zusammenzufassen,  denen 
eine  bestimmte  auffallendere  Störung  gemeinsam  ist.  Die  Geschichte 
der  Psychiatrie  bis  auf  die  Gegenwart  herab  ist  yoII  von  derartigen 
Yerirrungen.  Heute  freilich  sollte  allein  das  Beispiel  der  Dementia 
paralytica  lehren,  dass  es  pathognomonische  Symptome  auf  dem  Ge- 
biete des  Irreseins  schlechterdings  nicht  giebt,  sondern  dass  nur  das 
Gesammtbild  eines  Krankheitsfalles  in  seiner  Entwickelung 
von  Anfang  bis  zum  Ende  die  Berechtigung  zur  Yereinigung  mit 
anderen  gleichartigen  Beobachtungen  gewähren  kann.  Dieselben  Einzel- 
erscheinungen können  sich,  wie  die  Erfahrung  zeigt,  unter  gewissen 
Umständen  in  sonst  völlig  auseinander  gehenden  Fällen  einstellen, 
wie  etwa  Fieber,  Husten,  Brustschmerzen  u.  s.  f.  bei  den  ver- 
schiedenartigsten Lungenerkrankungen.  Dazu  kommt,  dass  uns  bei 
der  Unvollkommenheit  unserer  Forschungsmittel  die  vielleicht  durch- 
aus verschiedene  Entstehungsweise  und  Bedeutung  für  identisch  ge- 
haltener Erscheinungen  gänzlich  verborgen  bleiben  kann.  Man  denke 
nur  an  die  Yerwirrung,  welche  etwa  ein  Zusammenwerfen  aller  körper- 
lichen Erkrankungen  mit  Albuminurie  zur  Folge  haben  würde! 

Besässen  wir  auf  einem  der  drei  Gebiete,  der  pathologischen 
Anatomie,  der  Aetiologie  oder  der  Symptomatologie  des  Irreseins 
eine  durchaus  erschöpfende  Kenntniss  aller  Einzelheiten,  so  würde 
sich  nicht  nur  von  jedem  derselben  her  eine  einheitliche  und  durch- 
greifende Eintheilung  der  Psychosen  aufiinden  lassen,  sondern  jede 
dieser  drei  Classificationen  würde  auch  —  diese  Forderung 
ist  das  Fundament  unserer  wissenschaftlichen  Forschung  überhaupt 
—  mit  d  en  beiden  anderen  wesentlich  zusammenfallen. 
Die  aus  den  gleichen  Ursachen  hervorgegangenen  Krankheitsfälle 
würden  stets  auch  dieselben  Erscheinungen  und  denselben  Sections- 
befund  darbieten  müssen.  Aus  dieser  Grundanschauung  ergiebt 
sich,  dass  die  klinische  Gruppirung  der  psychischen  Störungen  sich 
auf  alle  drei  Kriterien  der  Classification,  denen  man  noch  die  aus 
dem  Yerlaufe,  der  Prognose,  ja  der  Therapie  gewonnenen  Erfahr- 
ungen hinzufügen  muss,  gleichzeitig  zu  stützen  haben  wird.  Je 
mehr  sich  dabei  die  aus  der  verschiedenartigen  Betrachtung  ge- 


Anatomische,  ätiologische,  symptomatische  Eintheilunfen. 


243 


wonnenen  Pormen  mit  einander  decken,  desto  grösser  ist  die  Sicher- 
heit, dass  diese  letzteren  wirklich  eigenartige  Krankheitszustände 
darstellen. 

"Wenn  wir  in  diesem  Sinne  auch  heute  schon  thatsächlich  eine 
ganze  Eeihe  von  Psychosen  kennen,  die  mindestens  ebensogut 
charakterisirt  sind,  wie  die  Mehrzahl  der  körperlichen  „Krankheiten" 
so  setzen  doch  grosse  Gebiete  des  Irreseins  den  classificatorischen 
Bestrebungen  derartige  Schwierigkeiten  entgegen,  dass  man  nicht 
selten  eine  befriedigende  Eintheilung  der  Seelenstörungen  als  eine 
vielleicht  überhaupt  unlösbare  Aufgabe  betrachtet  hat.  Ich  kann 
diese  Anschauung  nur  insoweit  theilen,  als  sie  die  oben  erwähnten 
principiellen  Hindernisse  einer  Einzwängung  von  Lebensvorgängen 
in  scharf  abgegrenzte  Kategorien  im  Auge  hat.  Dagegen  scheint 
mir  der  soeben  angedeutete  "Weg  durchaus  gangbar.  Jedem  Irren- 
arzte ist  es  bekannt,  dass  uns  bisweilen  Fälle  begegnen,  welche  in 
jeder  Beziehung,  nach  Entstehungsart,  aUen  Einzelheiten  der  Krank- 
heitserscheinungen und  weiterem  Verlaufe  eine  geradezu  verblüffende 
Ueberein Stimmung  mit  einander  darbieten.  Derartige  Beobachtungen 
werden  den  natürlichen  Ausgangspunkt  unserer  Eintheilungsbestreb- 
ungen  zu  bilden  haben.  Durch  strenge  Ausscheidung  aller  nicht 
ganz  dem  ersten  Typus  entsprechenden  Eälle  werden  wir  zunächst 
zur  Aufstellung  zahlreicher  kleinerer,  wenig  von  einander  abweichen- 
der Gruppen  geführt,  deren  nähere  und  fernere  Verwandtschaft  sich 
beim  Ueberblick  über  ein  grosses  Material  unschwer  wird  erkennen 
lassen.  Die  gewissenhafte  Zersplitterung  der  Formen  in  ihre  kleinsten 
und  anscheinend  unbedeutendsten  Varianten,  wie  wir  sie  etwa  heute 
in  der  Lehre  von  der  Muskelati'ophie  wiederfinden,  ist  somit  die 
unerlässliche  Vorstufe  für  die  Gevsdnnung  wirklich  einheitlicher,  der 
Natur  entsprechender  Krankheitsbilder. 

Bis  zur  Erreichung  dieses  Zieles  bedarf  es  noch  lange  fortgesetzter, 
sorgfältiger  Einzelbeobachtung.  Niemand  vsdrd  daher  die  lediglich 
provisorische  Bedeutung  aller  heute  möglichen  Systeme  verkennen 
wollen,  aber  man  darf  dennoch  hoffen,  dass  die  weitere  Entwickelung 
der  klinischen,  alle  Eigen thümlichkeiten  unseres  Gegenstandes 
gleichmässig  verwerthenden  Betrachtungsweise  uns  in  nicht  allzu 
langer  Zeit  zu  einer  Gruppirung  der  Psychosen  führen  wird,  welche 
sich  den  analogen  Leistungen  im  Bereiche  der  übrigen  Medicin  völlig 
gleichberechtigt  an  die  Seite  zu  stellen  vermag. 

16* 


244 


Die  Eiatlieiluag  der  Seelenstörangen. 


Die  von  mir  im  Folgenden  gewählte  Reihenfolge  und  AbgrenzuBg 
der  Seelenstörungen  lehnt  sich  in  ihren  Grundgedanken  an  die  von 
Schule  und  v.  Krafft-Ebing  aufgestellten  Systeme  an;  sie  ver- 
zichtet indessen  auf  die  Durchführung  einer  eigentHchen  Disposition 
und  soll  nur  m  grossen  Umrissen  die  innere  Verwandtschaft  der 
wichtigsten  Symptomencomplexe  andeuten,  welche  uns  die  klinische 
Erfahrung  heute  kennen  lehrt.    Wenn  man  will,  kann  man  sich  das 
ganze  Gebiet  etwa  in  vier  Hauptabschnitte  zerlegt  denken,  welche  der 
Reihe  nach  die  Krankheitsgruppen  I— V,  YI— IX,  X— XII  und  Xm 
umfassen  würden.    Von  diesen  Abschnitten  würde  der  erste  die  in 
der  Regel  durch  äussere  Ursachen  ausgelösten,  heilbaren,  acuten  und 
subacuten  Krankheitsprocesse  von  typischem  Verlaufe  umfassen,  wäh- 
rend wir  es  im  zweiten  mit  Constitution  eUen,  wesentlich  aus  innern 
Ursachen  hervorwachsenden,  unheilbaren  Zustandsveränderungen  von 
chronischem,  stationärem  oder  periodischem  Verlaufe  zu  thun  haben. 
Im  dritten  Abschnitte  begegnen  wir  den  mit  schwereren  Störungen 
der  Hirnernährung  und  selbst  tieferen  organischen  Veränderungen 
einhergehenden,  meist  durch  äussere  Schädigungen  erworbenen  Er- 
krankungen mit  chronischem,  gewöhnlich  progressivem  Verlaufe,  und 
die  letzte  Kategorie  endlich  wird  durch  die  angeborenen,  stationären 
und  unheilbaren  krankhaften  Zustände  gebildet.    Eventuell  könnte 
man  auch  die  im  ersten  und  dritten  Abschnitte  aufgeführten  Stör- 
ungen ds  „accidentelle"  (acute  typische  und  chronische  progressive) 
Psychosen  den  constiüitioneUen  und  angeborenen  Anomalien  des 
zweiten  und  vierten  Abschnittes  gegenüberstehen.    Natürhch  ist  da- 
bei nicht  an  scharfe  Abgrenzungen  zwischen  den  angeborenen  und 
erworbenen  oder  zwischen  den  aus  innern  und  den  aus  äussern  Ur- 
sachen hervorgehenden  Erkrankungen  zu  denken,  da  uns  die  Erfahr- 
ung in  beiden  Richtimgen  vollkommen  continuirliche  Uebergänge 
aufweist.   Ich  habe  daher  im  ersten  Abschnitte  die  einzehien  Krank- 
heitsgruppen nach  der  ätiologischen  Bedeutiuig  geordnet,  welche  bei 
ihnen  nach  memer  Auffassung  etwa  den  innern  Ursachen,  der 
psychopathischen  Praedisposition,  zukommt.  Während  bei  den  Deliiien 
und  den  acuten  Erschöpfungszuständen  die  äusseren  Ursachen  der 
Erkrankung  durchaus  dominiren,  tritt  ihr  Einfluss  bei  der  Melancholie 
und  Manie  etwas,  beim  Wahnsinn  noch  mehr  zui-ück.    Der  Wahn- 
sinn bildet  ätiologisch,  symptomatisch  und  prognostisch  den  Ueber- 
gang  zu  den  constitutionellen  Psychosen  des  zweiten  Abschnittes, 


Anatomische,  ätiologische,  symptomatische  Eintheihingen. 


245 


wie  diese  letzteren  iiiis  hinwiederum  ganz  allmählich  aus  dem  Ge- 
biete der  im  Laufe  des  individuellen  Lebens  erworbenen  in  den  Be- 
reich der  nicht  nur  als  Disposition,  sondern  in  Form  ausgebildeter 
krankhafter  Zustände  angeborenen  Seelenstörungen  hinüberleiten. 

Am  Schlüsse  dieser  Ausführungen  darf  ich  nicht  unterlassen, 
nachdrückhch  darauf  hinzuweisen,  dass  so  manche  der  im  Folgenden 
abgegrenzten  Krankheitsbilder  nur  Yersuche  sind,  einen  gewissen 
Theil  des  Beobachtungsmaterials  wenigstens  vorläufig  in  der  Form 
des  klinischen  Lehrstoffes  darzustellen.  Ueber  ihre  wahre  Bedeutung 
und  über  ihr  gegenseitiges  Yerhältniss  wird  erst  die  dringend  noth- 
wendige  monographische  Durcharbeitung  des  ganzen  Gebietes  allmäh- 
lich Klarheit  bringen.  Es  ist  femer  unbestreitbar,  dass  es  uns  heute 
trotz  redlichsten  Bemühens  noch  in  einer  recht  erheblichen  Zahl  von 
Fällen  schlechterdings  nicht  gelingt,  sie  in  den  Rahmen  einer  der 
bekannten  Formen  des  „Systems"  einzuordnen.  Ja,  nach  manchen 
Richtungen  hat  die  Anzahl  derartigerBeobachtungen  sogar  zugenommen, 
und  an  die  SteUe  zuversichtlichen  "Wissens  ist  vielfach  Unsicherheit 
und  Zweifel  getreten.  Für  den  Schüler  hat  diese  Thatsache  gewiss 
etwas  Beunruhigendes;  dem  Forscher  bedeutet  sie  nichts,  als  den 
Bruch  mit  der  herkömmlichen  Terschwommenheit  unserer  Diagnosen 
zu.  Gunsten  einer  schärferen  Begriffsbestimmung  und  eines  tiefer- 
dringenden Verständnisses  der  klinischen  Erfahrungen. 


I.  Die  Delirien. 

Als  Delirien  bezeichnen  wir  eine  Gruppe  rasch  verlaufender 
psychischer  Störungen,  welche  mit  träum  artiger  Trübung  des 
Bewusstseins  und  mehr  oder  weniger  ausgesprochenen  Eeiz- 
erscheinungen  (massenhaften  Sinnestäuschungen,  Aufregungs- 
zuständen)  einhergehen.  Die  Entstehungsursachen  des  DeHriums 
haben,  wie  es  scheint,  das  Gemeinsame,  dass  sie  eine  acute  und 
intensive  Eeizwirkung  auf  die  centrale  Nervenmasse  ausüben. 
Die  besondere  Art  dieser  Einwirkung  und  damit  die  Färbung  des 
Krankheitsbildes  kann  sich  natürlich  je  nach  der  Eigenthümlichkeit 
des  ursächlichen  Reizes  ausserordentlich  verschieden  gestalten; 
unter  praktischem  Gesichtspunkte  indessen  lassen  sich  wesentlich 
zwei  Hauptformen  des  Deliriums  von  einander  abtrennen:  das 
Eieberdelirium  und  das  Intoxikationsdelirium. 

A.  Das  Fieberdelirium. 

Den  Fieberdelirien  hat  man  wegen  ihrer  kurzen  Dauer  und 
ihres  „symptomatischen"  Charakters  häufig  die  Zugehörigkeit  zu  den 
Geisteskrankheiten  überhaupt  streitig  gemacht;  eine  fortschreitende 
Erfahrung  hat  uns  indessen  noch  weit  kürzer  dauernde  Psychosen 
keunen  gelehrt  und  uns  zu  einer  wesentlich  symptomatischen  Auf- 
fassung jeglichen  Irreseins  geführt.  Das  Krankheitsbild,  welches  die 
Fieberdelirien  darbieten,  ist  kein  gleichförmiges;  vielmehr  können 
wir  mit  Liebermeister*)  mehrere  Grade  der  Störung  unter- 
scheiden, welche  augenscheinlich  der  Intensität  des  krankhaften  Vor- 
ganges im  Gehirn  parallel  gehen  und  uns  von  den  Erscheinungen 


*)  Liebermeister,  Deutsches  Ai-chiv  füi-  klin.  Medicin  I,  p.  543. 


Fieberdelirium. 


247 


der  Reizung  allmählich  in  diejenigen  der  Lähmung  und  völligen 
Vernichtung  der  psychischen  Functionen  hinüberführen. 

Der  erste  G-rad  des  febrilen  Deliriums  kennzeichnet  sich  durch 
allgemeines  Unbehagen,  Eingenommenheit  des  Kopfes,  Empfindlich- 
keit gegen  stärkere  Sinneseindrücke,  Reizbarkeit,  Unlust  zu  geistiger 
Arbeit,  leichte  Unruhe  und  Störung  des  Schlafes  mit  lebhaften, 
ängstlichen  Träumen.    Im  zweiten  Grade  greift  die  Bewusstseins- 
störung  tiefer;    die  Wahrnehmung  wird    durch   illusionäre  und 
hallucinatorische,  rasch  sich  mehrende  Sinnestänschungen  verfälscht; 
die  Vorstellungen  gewinnen  eine  grosse  Lebendigkeit;  der  Verlauf 
derselben  entzieht  sich  in  buntem,  traumartigem  Zusammenhange 
dem  bewussten  Einflüsse  der  Kranken.    Sie  glauben  sich  von  fabel- 
haften Gestalten  bedroht  und  ringen  in  verzweifeltem  Kampfe  mit 
imaginären  Gegnern;  sie  sehen  aus  den  Arabesken  der  Tapete  sich 
grinsende  Fratzen  oder  Engelsköpfe  bilden,  die  sich  loslösen  und 
im  Zimmer  herumfliegen;  sie  fühlen,  wie  ihnen  der  Kopf  abgenommen 
wird,  wie  Jemand  an  ihrer  Bettdecke  zupft.    Federleicht,  schwebend 
werden  sie  über  bunte,  fabelhafte  Gegenden,  durch  prächtig  ge- 
schmückte  Räume   getragen;    Glockenläuten   ertönt    und  wirres 
Schreien,  ein  pathetisches  Verdammungsnrtheil-  oder  liebliche  Musik. 
In  alle  diese  zusammenhangslosen  Phantasien  hinein  mischen  sich 
dann  einzelne  wirkliche  "Wahrnehmungen,  die  auch  wol  für  Augen- 
blicke den  Kranken  zur  Besonnenheit  zurückrufen;   alsbald  aber 
versinkt  er  wieder  in  die  Fluth  der  massenhaft  hereindringenden 
Täuschungen.    Zugleich  wächst  die  Unruhe;  lebhafte  expansive  oder 
depressive  Gefühle  tauchen  auf  und  entwickeln  sich  zu  Affecten, 
bis  dann  auf  der  Höhe  des  dritten  Grades  das  Krankheitsbild 
einer  starken  Bewusstseinstrübung  mit  völliger  Unbesinnlichkeit, 
verworrener  Ideenjagd,  heftigen,  oft  wechselnden  Affecten  und 
mächtigem,  selbst  furibundem  Bewegungsdrange  zur  Ausbildung  ge- 
langt ist.  Allerdings  gesellen  sich  nun  schon  häufig  einzelne  Lähmungs- 
symptome diesen  psychischen  Reizungserscheinungen  hinzu  (vorüber- 
gehende soporöse  Zustände,  Schwäche  und  Unsicherheit  der  Be- 
wegungen) und  deuten  bereits  den  Ueb  ergang  in  den  völligen 
Verfall  des  psychischen  Lebens  an.    Im  vierten  Grade  schwächt 
sich  die  Erregung  zum  Flockenlesen  und  unsicheren  Herumtasten 
ab.   Der  Kranke  murmelt  einzelne  zusammenhangslose  Worte  oder 
Sätze  vor  sich  hin  (blande,  mussitirende  Delirien)  und  versinkt 


248 


,  I.  Die  Delirien. 


schliesslich  in  einen  Znstand  dauernder  Betäubung  (Koma,  Lethargie), 
ans  dem  er  gar  nicht  oder  doch  nur  durch  sehr  kräftige  Reize  vor- 
übergehend erweckt  werden  kann  (Koma  vigil). 

Die  besondere  Art  der  fieberhaften  Erkrankung  scheint  die  Ge- 
staltung der  Delirien  im  Ganzen  wenig  zu  beeinflussen.  Nur  die 
Schnelligkeit,  mit  welcher  sich  das  Fieber  entwickelt,  die  Stärke 
und  Dauer  desselben,  sowie  der  Zustand  der  lebenswichtigen  Organe 
ist  massgebend.  Bei  Yariola,  Scharlach,  Erysipel,  bisweilen  auch 
beim  Gelenkrhenraatismus,  dürften  rasch  ausbrechende  verwirrte 
Aufregungszustände  überwiegen,  während  in  der  Pneumonie  und 
im  Typhus  mehr  die  deliriöse  Benommenheit  und  leichter  Sopor 
beobachtet  werden. 

Als  die  pathologische  Grundlage  der  Fieberdelirien  können 
einmal  das  Fieber  selbst  (Temperatursteigerung,  Beschleunigung  des 
Stofiwechsels) ,  sodann  Circulationsstörungen  (active,  später  venöse 
Hyperaemie,  namentlich  bei  Beeinträchtigung  der  Herzaction)  und 
endlich  die  "Wirkung  infectiöser  Krankheitsgifte  angesehen  werden. 
Vielleicht  sind  sogar  diese  letzteren  die  eigentlich  massgebenden 
Ursachen,  so  dass  wir  die  Fieberdelirien  nur  als  eine  besondere 
Form  der  Intoxikationsdelirien  anzusehen  hätten.  Nicht  selten 
kommt  jedoch  auch  dem  Alkoholismus  eine  wesentliche  ätiologische 
Bedeutung  zu,  vor  Allem  bei  der  Pneumonie.  Im  Uebrigen  spielt 
die  Praedisposition  bei  der  eingreifenden  Natur  der  ursächlichen 
Momente  eine  verhältnissmässig  geringe  Rolle,  doch  ist  es  eine  sehr 
bekannte  Erfahrung,  dass  jüngere  Lebensalter,  Frauen  und  neu- 
ropathische  Individuen  schon  bei  niedrigeren  Fiebergraden  leichter  zu 
Delirien  geneigt  sind. 

Die  Prognose  dieser  Störungen  wird  durch  den  Umstand  ge- 
trübt, dass  dieselben  vorzugsweise  schwerere  Erkrankungsfälle  zu 
begleiten  pflegen;  nach  meiner  Statistik  starben  Sbß^jo  der  Patienten, 
doch  haben  dabei  nur  sehr  ausgeprägte  Formen  der  Delirien  Ver- 
werthung  gefunden.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle 
(70,6o/o)  übersteigt  die  Dauer  der  Alienation  eine  Woche  nicht; 
fast  regelmässig  schwindet  die  Störung  mit  dem  Abfalle  des  Fiebers. 
Nicht  allzu  selten  indessen  bleiben  einzelne  der  auf  der  Höhe  der 
Erkrankung  entstandenen  krankhaften  Ideen  noch  einige  Zeit  un- 
corrigirt.  Der  im  Delirium  gesammelte  Reichtbum,  die  prächtigen 
Equipagen,  über  welche  der  Kranke  verfügte,  das  über  ihn  ge- 


Fieberdelirium. 


249 


sprochene  Todesurtheil,  die  Unthat,  die  er  begangen  hat,  beglüclren 
und  quälen  ihn  noch  so  lange,  bis  allmählich  die  getiäibte  Besonnen- 
heit sich  vollständig  wieder  tlärt.  In  einzelnen  Pällen  nimmt  die 
Psychose  einen  noch  chronischeren,  sich  über  einige  Wochen  oder 
Monate  hinziehenden  Yerlauf  mit  Uebergang  in  ganz  andersartige, 
selbständig  entwickelte  Krankheitsbilder  (Amentia,  acute  Demenz, 
hallucinatorischer  Wahnsinn).  Wahrscheinlich  handelt  es  sich  dabei 
entweder  um  prädisponirte  Individuen,  bei  denen  das  Keber  mehr 
den  äusseren  Anstoss  zur  psychischen  Erkrankung  gegeben  hat, 
oder  aber  um  tiefere,  sich  nur  langsam  ausgleichende  Ernährungs- 
störungen. In  vereinzelten  EäUen  ist  eine  Eückbildung  dieser 
letzteren  überhaupt  nicht  mehr  möglich;  hier  geht  das  Delirium 
direct  in  unheilbare  Schwächezustände  über,  namentlich  nach  Typhus 
und  Tariola. 

Die  Behandlung  der  Eieberdelirien  ist  im  Allgemeinen  die- 
jenige des  Grundleidens.  Ausserdem  kann  man  sich  des  Eisbeutels 
auf  den  Kopf  zur  Bekämpfung  der  Hirnhyperaemie  bedienen.  Einen 
sehr  entschiedenen  Einfluss  auf  die  Milderung  der  Eieberdelirien 
üben  ferner  die  Anwendung  kühler  Bäder,  sowie  kalte  Ein- 
wickelungen  und  Abreibungen  aus,  die  man  bei  gleichzeitiger  Herz- 
schwäche zweckmässig  mit  der  Darreichung  von  Alkohol  verbindet. 
Wenig  oder  gar  nichts  leisten  die  eigentlichen  Fiebermittel,  die  ja 
zum  Theil  selbst  Delirien  zu  erzeugen  im  Stande  sind.  In  sympto- 
matischer Beziehung  ist  ausser  den  durch  die  körperliche  Erkrankung 
selbst  erforderten  therapeutischen  Massnahmen  auf  sorgfältige  Heb  er- 
wachung deUriöser  Kranker  Bedacht  zu  nehmen,  da  dieselben 
unter  allen  Umständen  sich  und  Andern  gefährhch  werden  (Gewalt- 
acte  begehen,  entfliehen,  aus  dem  Fenster  springen)  können.  Furi- 
bunde  Delirien  pflegen  in  Krankenhäusern  mit  der  Zwangsjacke 
behandelt  zu  werden;  in  der  Irrenanstalt  gehngt  es  unter  dem 
Beistande  eines  ruhigen  und  gewandten  Personals  regelmässig,  ohne 
jenes  ultimum  refugium  mit  der  einfachen  Bettbehandlung,  im 
äussersten  NothfaUe  mit  Polsterbett  oder  Polsterzimmer  diu'chzu- 
kommen.  Die  Anwendung  von  Schlafmitteln  oder  Narkoticis  dürfte 
sich  meist  eher  schädlich,  als  nützhch  erweisen.  Nach  dem  Fieber- 
abfalle ist  planraässige  Wiederherstellung  des  gesunkenen  Kräfte- 
zustandes  die  wesentiiche  Aufgabe  der  Behandlung. 


250 


I.  Die  Delirien. 


B.  Das  Intoxikationsdelirium. 

So  gering  im  AJlgemeinen  wegen  der  relativen  Seltenheit  ihres 
Yorkommens  die  praktische  Bedeutung  der  Intoxikationsdelirien  sich 
gestaltet,  so  gross  ist  doch  das  wissenschaftliche  Interesse,  welches 
sie  in  Anspruch  nehmen  dürfen,  weil  gerade  bei  ihnen  die  ursäch- 
liche Abhängigkeit  ganz  bestimmter  psychischer  Störungen  von  ein- 
deutigen chemischen  Einwirkungen  auf  die  nervösen  Centraiorgane 
klar  vor  Augen  hegen  sollte.  Freilich  ist  diese  Forderung  erst  für 
ganz  wenige  Formen  dieser  Delirien  zureichend  erfüllt;  vielfach 
kennen  wir  noch  nicht  einmal  die  chemische  Natur  des  Giftes  selber, 
in  anderen  Fällen  doch  nicht  die  Art  seiner  Wirkung  auf  die 
Nervensubstanz. 

Yor  Allem  gilt  dies  für  jene  Intoxikationen,  welche  unmittel- 
bar oder  mittelbar  durch  Mikroorganismen  verursacht  werden, 
für  die  Infectionskrankheiten.  Wie  bereits  früher  angedeutet,  kommen 
hier  Delirien  zur  Beobachtung,  welche  bei  dem  Mangel  ander- 
weitiger Causalmomente  (Fieber,  Organerkranknngen)  wesentlich  auf 
die  Yergiftung  durch  das  infectiöse  Ferment  zurückgeführt  werden 
müssen.  Dahin  gehören  namentiich  die  Delirien  der  Lyssa,  dann 
die  im  ersten  Beginne  der  Erkrankung  auftretenden  „Initialdelirien" 
des  Typhus  und  der  Yariola,  ferner  jene  Formen  der  Inter- 
mittens  larvata,  bei  denen  an  Stelle  der  typischen  Fieberanfälle 
deliriöse,  bisweilen  ganz  afebrile  Aufregungszustände  sich  einstellen. 
Gemeinsam  ist  allen  diesen  Störungen  der  Symptomencomplex  tiefer 
Bewusstseinstrübung  mit  schreckhaften,  verworrenen  Sinnestäusch- 
ungen, intensiven  Angstzuständen  und  der  Neigung  zu  grässUchen 
Gewaltacten,  Mord  und  Selbstmord.  Wenn  in  diesen  Fällen  die 
toxische  Natur  der  psychischen  Störung  wol  als  zweifellos  ange- 
sehen werden  kann,  so  erinnern  die  Delirien  bei  schwerer  Sepsis 
mit  ihrer  Unbesinnlichkeit  und  ihrem  mussitirenden  Charakter  häufig 
mehr  an  gewisse  Fieberdelirien,  auch  wenn  die  Temperatur  nahezu 
oder  ganz  normal  ist.  Ob  wir  es  hier  mit  toxischen  Wirkungen 
oder  einfach  mit  den  Folgezuständen  der  Herzschwäche  zu  thun 
haben,  mag  dahingestellt  bleiben;  vielleicht  ist  nicht  die  Art,  sondern 
der  Grad  der  Ernährungsstörung  die  Ursache,  dass  liier  die  Lähmungs- 
erscheinungen gegenüber  den  Reizsymptomen  in  den  Yordergrund 


Intoxikationsdelirium. 


251 


treten.  Endlich  giebt  es  im  Yerlaufe  der  Blatternerkrankung 
zwischen  dem  Eruptions-  und  dem  Eiterungsfieber  eigenthümliche 
psychopathische  Zustände^  bei  denen  ebenfalls  an  eine  toxische  Ent- 
stehungsweise  gedacht  werden  kann.  Es  handelt  sich  um  das  plötz- 
liche Aufti-eten  sein-  deutlicher  Gehörs-  und  Gesichtstäuschungen 
bei  Kranken,  die  nicht  verwirrt, sondern  völlig  besonnen  und  nur  durch 
die  Trugwahrnehmungen  beunruhigt  sind.  Diese  Zustände  erinnern 
anscheinend  sehr  an  gewisse  Formen  des  acuten  intoxikatorischen 
"Wahnsinns  bei  Alkohol-  und  Cocainmissbrauch,  so  dass  ich  im 
Gegensatze  zu  einer  früher  von  mir  geäusserten  Anschauung  ge- 
neigt bin,  sie  auf  eine  Vergiftung  durch  pathologische  StofEwechsel- 
producte  zurückzuführen.  Auch  Emminghaus  hat  die  von  ihm  im 
Harn  Pockenkranker  gefundenen  Fettsäuren  mit  jenen  eigenthüm- 
lichen,  rasch  günstig  verlaufenden  Zuständen  in  ursächliche  Be- 
ziehung gebracht. 

Zu  den  psychischen  Alterationen  gesellen  sich  die  körperlichen 
Anzeichen  der  einzelnen  Erkrankungen,  die  Reflexkrämpfe  der 
Lyssa,  die  Hinfälligkeit  und  die  Kopfschmerzen  des  Typhus,  das 
Prodromalexanthem  der  Variola,  die  Milzschwellung  der  Intermittens, 
endlich  leichte  oder  ausgesprochenere  Temperatursteigerung,  sowie 
fast  völliger  Mangel  des  Schlafes  und  Appetites.  Bei  der  Lyssa 
schieben  sich  dazwischen  nicht  selten  kürzere  Zeiten  völliger  Be- 
sonnenheit ein,  in  denen  der  Kranke  seine  Umgebung  selber  vor 
sich  warnt.  Ebenso  bieten  die  Initialdelirien,  welche  zunächst  in 
der  Nacht  aufzutreten  pflegen,  während  des  Tages  meist  Remissionen 
dar,  aber  der  Kranke  befindet  sich  auch  dann  in  einem  Zustande 
dumpfer  Benommenheit,,  die  ihn  keine  rechte  Klarheit  über  seine 
Lage  gewinnen  lässt. 

Die  Dauer  der  Störung  beträgt  in  der  Regel  nur  einige  Tage, 
selten  mehr  als  eine  "Woche.  Beim  "Wechselfieber  ■  pflegen  sich  die 
eine  Reihe  von  Stunden  dauernden  Anfälle  in  intermittirendem 
Typus  mehrmals  zu  wiederholen.  Die  Prognose  gestaltet  sich  sehr 
verschieden.  Die  Delirien  der  Lyssa  endigen  regelmässig  im  tödt- 
lichen  Collaps.  Beim  Typhus  kann  die  Störung  interessanter  "Weise 
mit  dem  stärkeren  Ansteigen  des  Fiebers  gänzlich  verschwinden, 
wie  ich  zweimal  beobachtete,  oder  aber  sie  geht  direct  in  febrile 
Delirien  über.  In  jedem  Falle  ist  hier  die  Gefahr  eines  tödtlichen 
Ausganges  der  Erkrankung  eine  ganz  ungewöhnlich  grosse;  wenig 


252 


I.  Die  Delirien. 


mehr,  als  ein  Drittel  der  Kranken  bleiben  am  Leben  und  gelangen 
zur  G-enesung.  Dem  gegenüber  ist  die  Prognose  der  Intermittens- 
delirien,  abgesehen  von  der  Selbstmordgefahr,  eine  durchaus  günstige. 

Die  Erkennung  dieser  Psychosen  hat,  namentiich  beim  Initial- 
deUrium,  bisweilen  Schwierigkeiten.  Nicht  allzuselten  kommt  es 
vor,  dass  dasselbe  für  eine  beginnende  AngstmelanchoUe  oder  für 
einen  epileptischen  Dämmerzustand  gehalten  wird,  mit  dem  es  in 
der  That  sehr  grosse  Aehnlichkeit  besitzt.  Der  weitere  Verlauf 
wird  hier  natürlich  immer  Aufklärung  bringen.  So  habe  ich  es 
bisher  dreimal  erlebt,  dass  mir  Kranke  mit  beginnendem  Typhus 
(einmal  exanthematischem)  als  geistesgestört  zugeführt  wurden. 
Jedesmal  gelang  es,  aus  dem  eigenthünüichen  Symptomenbilde 
mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  die  Diagnose  eines  Initialdeliriums 
zu  stellen.  Die  Inter mitten sdelirien  können  ebenfalls  mit  epilep- 
tischen Aequivalenten  verwechselt  werden;  die  Beachtung  der 
Malariaintoxikation,  eventuell  die  typische  Wiederkehr  der  Anfälle 
kann  davor  schützen. 

Die  Behandlung  der  Delirien  fällt  auch  hier  mit  derjenigen 
der  zu  Grunde  liegenden  Erkrankungen  zusammen;  speciell  ver- 
dient erwähnt  zu  werden,  dass  die  Intermittenspsychose  dem 
therapeutischen  Einflüsse  des  Chinin  sich  zugänglich  zu  erweisen 
pflegt.  Genaue  TJeberwachung  ist  begreiflicherweise  überall  dringend 
geboten. 

Eine  grosse,  aber  bisher  wenig  gewürdigte  und  studirte  Mannig- 
faltigkeit der  psychischen  Symptome  bieten  jene  Delirien  dar,  welche 
durch  die  Intoxikation  mit  nicht  organisirten  Giften  hervor- 
gerufen werden.  Im  Allgemeinen  pflegen  hier  ausgeprägtere  Ti'ug- 
wahrnehmungen  auf  den  verschiedensten  Sinnesgebieten,  ti^aumhafte, 
bunt  wechselnde  Phantasien,  vielfach  mit  lebhaften  Lustgefühlen 
und  ekstatischen  Zuständen,  meist  ohne  stärkere  motorische  En-eg- 
ung,  die  Grundzüge  des  Xrankheitsbildes  zu  liefern.  Beim  Chloro- 
formdelirium tritt  namentlich  die  eigenthümliche  Unbesinnlichkeit 
in  den  Vordergrund,  bei  der  Santonin Vergiftung  GesichtshaUu- 
cinationen  und  das  „Gelbsehen'',  unter  der  Einwirkung  des  Atropin 
die  Gesichts-  und  Gehörstäuschungen.  Das  Haschischdelirium  da- 
gegen scheint  ganz  besonders  gewisse  Alterationen  des  Muskel-  und 
Tastsinnes  zu  erzeugen,  wie  sie. sich  in  den  illusionären  Veränder- 
ungen der  äusseren  und  der  Dimensionen  des  eigenen  Körpers 


Intoxikationadelirium. 


253 


psychologisch  widerspiegeln.  Ausserdem  entrückt  der  Opium-  und 
der  Haschischrausch  das  Individuum  seiner  realen  Umgebung, 
gaukelt  ihm  angenehme,  phantastische  Bilder  und  Erlebnisse  vor  und 
versetzt  dasselbe  in  heitere,  selbstzufriedene  Stimmung. 

Die  Stickstoff oxydulnarkose  scheint  demselben,  abgesehen 
von  der  viel  kürzeren  Dauer,  hinsichtlich  der  Färbung  des  Deliriums 
ähnüch  zu  sein;  sie  hat  eine  gewisse  praktische  "Wichtigkeit  erlangt 
wegen  der  bei  ihr  beobachteten  Häufigkeit  und  Deutlichkeit 
sexueller  Hallucinationen,  welche  schon  mehrfach  zu  falscher 
Anschuldigung  der  narkotisirenden  Zahnärzte  geführt  hat.  Aufweine 
eingehendere  Schilderung  aUer  dieser  und  so  vieler  ähnhcher  deli- 
riöser  Zustände,  sowie  ihrer  körperlichen  Begleiterscheinungen  kann 
hier  natürlich  nicht  eingegangen  werden;  es  muss  vielmeln?  in  dieser 
Hinsicht  auf  die  Lehrbücher  der  Toxikologie  verwiesen  werden. 
Nur  einzelne  besonders  wichtige  Formen  werden  später  bei  Be- 
sprechung der  chronischen  Intoxikationen  nähere  Berücksichtigung 
finden. 

Die  Dauer  solcher  Intoxikationsdelirien  ist  regelmässig  eine 
kurze,  selten  einige  Stunden  oder  höchstens  Tage  überschreitende; 
die  Prognose  richtet  sich  ganz  nach  der  Schwere  der  Vergiftung 
überhaupt.  Die  Diagnose  wird  zumeist  aus  den  begleitenden 
Umständen,  wie  aus  den  somatischen  Symptomen  gestellt  werden 
können;  die  Behandlung  ist  eine  einfach  causale  nach  den  von 
der  Toxikologie  vorgeschriebenen  Grundsätzen. 


II.  Die  acuten  Erschöpfungszustände. 


Unter  dem  Namen  der  acuten  Erschöpfungszustände  möchte  ich 
diejenigen  psychischen  Störungen  zusammenfassen,  welche  sich  durch 
einen  rasch  eintretenden,  mehr  oder  weniger  hochgradigen  Verfall 
der  psychischen  Functionen  auszeichnen.  Bisweilen  sind  die- 
selben, wenigstens  vorübergehend,  von  psychischen  und  cerebralen 
Eeizungserscheinungen  begleitet.  Da  sie  sich  ausnahmslos  unter 
Yerhältnissen  entwickeln,  welche  eine  durchgreifende,  acute  Beein- 
trächtigung der  Hirnernährung  mit  sich  bringen,  so  sind  wir  be- 
rechtigt, mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  eine  Erschöpfung  des 
centralen  Nervensystems  als  die  pathologische  Grundlage  der  hier 
in  Betracht  kommenden  Psychosen  anzusehen,  um  so  mehr,  als  das 
klinische  Bild  und  der  Yerlauf  dieser  letzteren  mit  jener  Auffassung 
in  bestem  Einklänge  steht.  Je  nach  der  Art,  wie  sich  die  psychi- 
schen Eeizungs-  und  Lähmungserscheinungen  mit  einander  ver- 
binden, können  wir  eine  Anzahl  verschiedener  Krankheitsbilder  von 
einander  abgrenzen,  von  denen  die  ersten  beiden,  das  Collaps- 
delirium  und  die  acute  Yerwirrtheit  (Amentia),  eine  nahe  Ver- 
wandtschaft zu  den  früher  besprochenen  deliriösen  Zuständen  auf- 
weisen, während  in  der  letzten  Form,  dem  acuten  Schwachsinn, 
die  Sitiiation  ausschliesslich  durch  die  Erscheinungen  einer  hoch- 
gradigen Herabsetzung  der  psychischen  Leistungsfähigkeit  beherrscht 
wird. 

A.  Das  Collapsdelirium. 

Das  Collapsdelirium  ist  ein  äusserst  stürmisch  sich  entwickeln- 
der Zustand  hochgradiger  Verwirrtheit  mit  traumhaften 
Sinnestäuschungen,   Ideenflucht,    Stimmungswechsel  und 


CoUapsdolirium. 


255 


lebhafter  motorischer  Erregung.  Die  Krankheit  beginnt  in 
der  Eegel  ziemlich  plötzlich;  bisweilen  macht  sich  Schlaflosigkeit 
und  leichte  Unruhe  schon  kurze  Zeit  vorher  bemerkbar.  Die 
Patienten  yerlieren  rasch  die  Orientirung  in  ihrer  Umgebung,  die 
ihnen  verändert  und  unheimlich  vorkommt.  Das  Bewusstsein  trübt 
sich;  es  stellen  sich  allerlei  phantastische  Illusionen,  fast  immer  auch 
Hallucinationen  ein.  Die  Tapeten  schneiden  Tratzen,  ein  Crucifix 
nickt  mit  dem  Kopfe,  Engel  fliegen  zum  Fenster  herein,  die  Nach- 
barn rufen  draussen,  das  Armensünderglöckchen  läutet.  Ihre  Reden 
verwirren  sich ;  sie  werden  ideenflüchtig  und  beginnen  in  unsinnigen 
Alliterationen,  Aufzählungen,  selbst  in  Yersen  zu  sprechen  oder  zu 
singen.  Regelmässig  bestehen  zusammenhangslose,  wechselnde  Wahn- 
ideen, bald  mehr  expansiven,  bald  mehr  depressiven  Inhalts.  Sie 
haben  den  "Welterlöser  geboren,  soUen  deswegen  ertränkt  werden, 
aber  eine  Heilige  kann  nicht  untergehen.  Der  böse  Feind  steUt 
ihnen  nach,  hat  sie  vergiftet,  in  drei  Theile  zerschnitten;  die  Mächte 
der  Finsterniss  sind  überwunden.  Die  Umgebung  wird  vollständig 
verkannt;  das  Krankenzimmer  ist  die  Hölle,  der  Arzt  Christus  oder 
irgend  ein  Bekannter. 

Die  Stimmung  ist  vorwiegend  heiter,  bisweilen  etwas  erotisch, 
doch  schieben  sich  leicht  vorübergehend  ängstliche  oder  zornige  Äff ect- 
schwankungen  ein.  Stets  ist  lebhafte  motorische  Erregung  vor- 
handen. Die  Kranken  bleiben  nicht  im  Bett,  drängen  hinaus,  auch 
zum  Fenster,  kriechen  zu  ihren  Mitpatienten  hinein,  entkleiden  sich, 
zerreissen,  schmieren.  Sie  schwatzen  lebhaft,  bald  laut  und  pathetisch, 
bald  geheimnissvoll  flüsternd,  gestikuliren ,  klatschen  in  die  Hände. 
Meist  ist  es  unmöglich,  von  ihnen  eine  besonnene  Antwort  zu  erhalten; 
nur  hie  und  da  geben  sie  einmal  auf  eine  einfache  Frage  flüchtige 
Auskunft  oder  folgen  sie  einer  Aufforderung.  Yielfach  stösst  man 
beim  Baden,  Entkleiden  und  sonstigen  nothwendigen  Massregeln  auf 
ein  sinnloses,  ganz  inconsequentes  Widerstt-eben.  Zuweilen  scheint 
ein  dumpfes  Krankheitsgefühl  zu  bestehen.  Der  Schlaf  ist  auf  der 
Höhe  der  Krankheit  völlig  aufgehoben;  höchstens  kommt  es  einmal 
zu  einem  ganz  kurzen,  rasch  durch  die  Unruhe  wieder  unterbrochenen 
Schlummer.  Die  Nahrungsaufnahme  ist  sehr  uni-egelmässig. 
Die  Kranken  stossen  zeitweise  Alles  zurück,  spucken  aus,  während 
sie  kurz  nachher  das  Dargebotene  gierig  hinunterschlingen  oder  es 
sich  wenigstens  einlöffeln  lassen. 


256 


II.  Die  acuten  Erschöi)fungszustäiide. 


In  schweren  Fällen  wird  das  ganze  Ki-ankheitsbild  sehr  bald 
ausschliesslich  durch  den  rücksichtslosesten  Beweguugsdrang  be- 
herrscht. Die  psychische  Thätigkeit  scheint  sich  völlig  in  ein  Chaos 
verworrener  Impulse  aufzulösen.  Die  spärlichen  Zeichen  einer  Auf- 
fassung äusserer  Reize,  die  Andeutungen  von  Sinnestäuschungen 
schAvinden,  die  spracliüchen  Aeusserungen  zerfallen  in  eine  Folge 
einzelner  sinnloser  Laute.  Dabei  besteht  eine  elementare  Unruhe, 
die  sich  in  einfachen,  zuweilen  ganz  stereotypen  Bewegungeui 
in  unablässigem  Trommeln,  Wälzen,  Zappehi,  Wischen,  Schnauben 
u.  dgl.  entladet.] 

Der  Ernährungszustand  ist  im  Collapsdelirium  stets  ein  sehr 
schlechter.  Die  Kranken  sind  kühl,  blass,  oft  erschreckend  abgemagert 
und  schwach,  obgleich  sie  das  in  ihrer  Unruhe  nicht  zu  empfinden 
scheinen.  Das  Körpergewicht  sinkt  rapide.  Der  Puls  ist  klein,  häufig 
sehr  verlangsamt.  An  der  Haut  finden  sich  nicht  selten  Abschüi-f  ungen, 
blaue  Flecke  u.  dergl.  in  Folge  der  Rücksichtslosigkeit,  mit  der  die 
Kranken  ihre  Glieder  bewegen. 

Die^erste,  ausgezeichnete  Beschreibung  des  CoUapsdeliriums  hat 
1866 ^Hermann  Weber  gegeben,  der  dasselbe  im  Anschlüsse  an  den 
TemperaturabfaU  nach  acuten  Krankheiten  beobachtete.  Die  weitere 
klinische  Erfahrung  hat,  wie  ich  glaube,  gelehrt,  dass  der  gleiche 
Symptomencomplex  überall  da  zu  Stande  kommen  kann,  wo  auf 
irgend  eine  Weise  tief  eingreifende  äussere  Schädlichkeiten  eme  plötz- 
liche Erschöpfung  herbeiführen. 

Es|  scheiut  sich  dabei  um  eine  ganz  acute  GrleichgCAvichts- 
schwankung  in  unserem  Centrainervensystem  zu  handehi,  welche  mit 
Steigerung  der  centralen  motorischen  Erregbarkeit,  Abstumpfung  gegen 
äussere  Eindrücke  und  sensorischen  Eigenerregungen  einhergeht,  Er- 
scheinungen, deren  erste  Andeutungen  sich  auf  experimentellem  Wege 
schon  bei  der  physiologischen  Erschöpfung  nachweisen  lassen.  Ausser 
den  acuten  Krankheiten,  von  denen  namentlich  die  Pneumonie,  die 
acuten  Exantheme  und  die  Influenza  zu  nennen  siad,  kommen  als 
Ursachen  vor  Allem  das  Puerperium  in  Betracht,  Blutverluste,  fort- 
gesetzte ISTachtwachen,  vielleicht  auch  heftige  gemüthHche  Erregungen. 
Diese  letzteren  scheinen  besonders  als  auslösende  Ursachen  bei  einer 
schon  vorbereiteten  geringen  psychischen  Widerstandsfähigkeit  von 
Bedeutung  zu  sein.  Nicht  selten  sieht  man  z.  B.  in  der  ersten  Woclie 
■des  Puerperiums  oder  gar  noch  später  die  Störung  an  einen  Schreck. 


CoUapsdelirium. 


257 


einen  Streit  sich  anschliessen.  Die  Prädispositiou  spielt  hier  schon 
eine  etwas  grössere  Eolle,  als  etwa  bei  den  Tergiftangsdelirien,  so- 
wol  die  ererbte,  wie  namentlich  auch  die  durch  cln-onische  Leiden, 
schlechte  Ernährung,  Kummer  und  widrige  Lebensschicksale  erwor- 
bene. Einmal  konnte  icli  die  Entwickelung  des  Collapsdeliriums  in 
der  Anstalt  bei  einer  bis  dahin  nur  leicht  melancholisch  verstimmten 
Erau  direct  verfolgen,  als  sie  eine  schwere  Liüuenza  mit  nach- 
folgender Sprach-  und  Schlucklähmung  durchmachte;  bei  einem 
periodisch  maniakalischen  Kranken  beobachtete  ich  ein  typisches 
CoUapsdelirium  während  der  Eeconvalescenz  von  einem  schweren 
Erysipel. 

Die  Dauer  des  Collapsdeliriums  beträgt  iu  der  Eegel  nur  einige 
Tage,  bisweilen  nur  Stunden,  selten  mehr,  als  ein  bis  zwei  "Wochen. 
Die  Besonnenheit  tritt  fast  immer  plötzlich  wieder  hervor,  oft  nach 
einem  längeren  Schlafe.  Die  Täuschungen  sind  verschwunden;  die 
Kranken  beginnen  sich  zu  orientken,  erkennen  die  Umgebung,  haben 
Krankheitseinsicht,  nehmen  Nahrung  zu  sich.  Die  Erinnerung 
an  die  überstandene  Psychose  ist  meist  eiue  gan^  unklare;  seltener 
sind  die  Patienten  im  Stande,  einzelne  deliriöse  Erlebnisse  zusammen- 
hängend zu  erzählen.  Die  motorischen  Eeizerscheinungen  verlieren 
sich  in  der  Regel  langsam.  Eine  leichte  Ideenflucht,  grosse  Labilität 
der  meist  gehobenen  Stimmung,  querulirendes,  missvergnügtes  Wesen, 
Neigung  zu  vielem  Sprechen  und  eine  gewisse  Unruhe  können  noch 
wochenlang  die  Wiederkehr  der  Besonnenheit  überdauern.  Meist 
tritt  übrigens  allmählich  sehr  deutlich  das  Grefühl  grosser  körperlicher 
Hinfälligkeit  und  Schwäche  hervor,  welches  dem  Kranken  die  Bett- 
ruhe sehr  erwünscht  scheinen  lässt.  Der  Appetit  wird  gewöhnlich 
enorm,  und  das  Körpergewicht  steigt  fast  ebenso  schnell,  wie  es 
gesunken  war,  zeitweise  täglich  1 — 2  Pfund,  im  G-anzen  nicht  selten 
um  20,  30,  ja  40  Pfund  innerhalb  weniger  Wochen. 

In  schwereren  Fällen  führt  der  Zustand  deHriöser  Yerworrenheit 
direct  in  ein  kürzeres  oder  längeres  Stadium  acuten  Schwachsiuns 
über.  Die  Erregung  verliert  sich,  aber  die  Kranken  werden  nicht 
klar,  sondern  stumpf,  theilnahmlos,  unfähig  zu  den  einfachsten  psych- 
ischen Aufgaben.  Bisweilen  dauert  diese  Schwäche  nur  einige  Tage 
oder  Wochen,  bisweilen  aber  auch  Monate.  Hier  kann  sich  dann 
eine  sehr  langsame  Reconvalescenz  oder  seltener  sogar  der  Ausgang 
in  dauernden  Blödsinn  herausstellen.  Der  anfänglichen  Erregbarkeits- 

Kraepelin,  Psychiatrie.   4.  Aufl.  17 


258 


II.  Die  acuten  Erschöpfungszustände. 


Steigerung  folgt  also  die  mehr  oder  weniger  tiefgreifende  fnnctionelle 
Lahmung. 

Abgesehen  von  der  letztgenannten  Yerlaufsart,  die  man  a  po- 
tiori  wol  mit  mehr  Recht  dem  Krankheitsbilde  der  acuten  Demenz 
zurechnet,  ist  der  Ausgang  des  Collapsdehriums  regelmässig  ein 
günstiger,  wenn  es  gelingt,  die  Ki-anten  am  Leben  zu  erhalten.  Die 
Gefahr  eines  körperlichen  Zusammenbruches  ist  allerdings  wegen 
des  elenden  Zustandes  der  Kranken  oft  eine  recht  gi-osse,  nament- 
lich wenn  etwa  das  ursächliche  Leiden  noch  besondere  Compli- 
cationen  nach  sich  zieht.  Dennoch  hat  man  bei  dem  schnellen  Ver- 
laufe der  Psychose  selbst  in  anscheiuend  ganz  verzweifelten  Fällen  bis- 
weilen die  Genugthuung,  plötzliche,  überraschende,  günstige  Wen- 
dungen zu  sehen.  So  konnte  ich  vor  nicht  sehr  langer  Zeit  einen 
jungen  Menschen  geheilt  entlassen,  der  wenige  Wochen  früher 
während  eines  Collapsdeliriums  nach  Gelenkrheumatismus,  Endokar- 
ditis und  Chorea  mit  Eiweiss  im  Harn,  mächtigem  Decubitus,  einer 
Temperatur-  von  33,8  <»  und  im  Zustande  schwerster  therapeutischer 
Morphiumvergiftung  fast  moribund  in  die  Klinik  aufgenommen 
wurde. 

Die  Diagnose  des  Collapsdehiiums  ist  namentlich  füi"  die  Be- 
handlung von  Wichtigkeit.  Sie  stützt  sich  in  erster  Linie  auf  die 
ätiologischen  Yerhältnisse,  den  Ernährungszustand  und  die  plötzliche 
Entstehung  der  Psychose,  kann  aber  auch  aus  dem  psychischen 
Yerhalten  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  abgeleitet  werden.  Die 
Yerwin-theit  und  Desorientirtheit  der  Kranken,  sowie  ihre  Sinnes- 
täuschungen lassen  in  erster  Linie  Yerwechselimgen  mit  epileptischen 
Dämmerzuständen  oder  dem  Delirium  ü-emens  möglich  erscheinen. 
Yon  beiden  Formen  unterscheidet  sich  das  Collapsdeliriimi  deutlich 
durch  die  charakteristische  Ideenflucht  und  den  elementaren,  nicht, 
wie  dort,  durch  Yorstellungen  oder  Angstaffecte  motivirten  Bewe- 
gungsdrang. Dagegen  begegnen  w  episodisch  in  der  Dementia  pa- 
ralytica  deliriösen  Aufregungszuständen,  die  nur  unter  Berück- 
sichtigung des  ganzen  bisherigen  Ki-ankheitsverlaufes  oder  der 
■freilich  oft  unsicheren,  eigenartig  paralytischen  S}Tnptome  (geistige 
Schwäche,  absurde  Grössen-  oder  Kleinlieitsideen,  nervöse  Störungen) 
vom  Collapsdelirium  zu  unterscheiden  sind.  Der  Nachweis  länger 
zurückgehender  Prodromalerscheinungen  und  das  Fehlen  einer 
eingreifenden  äusseren  Schädlichkeit  sprechen  für  Paralyse.  Yiel- 


Collapsdeliriuui. 


259 


leicht  handelt  es  sicli  hier  einfach  imi  die  Entwickelimg  eines  dem 
Collapsdelirium  ganz  analogen  Vorganges  aus  inneren  Ursachen  in 
dem  invaliden  Hii-n  des  Paralytikers. 

Der  weitere  Yerlaiif  entscheidet  natürlich  die  Frage  früher  oder 
später,  wenn  nicht  der  Tod  die  Beobachtung  abschneidet.  Es  ist 
daher  erklärlich,  dass  man  bisweilen  die  schwereren  Formen  des 
Collapsdeliriums  mit  gewissen  tödtlich  verlaufenden  Fällen  des  para- 
lytischen Deliriums  als  besondere  Kranklieit  unter  dem  Namen  des 
„Delirium  acutum"  zusammengefasst  hat,  der  sogar  bestimmte  ana- 
tomische Veränderungen  (Hirnhyperaenüe,  Oedem,  AusAvanderung  von 
weissen  und  selbst  rothen  Blutkörperchen  in  die  Lymphräume  des 
Hirns)  zu  Grunde  liegen  sollen.  Ich  habe  mich  von  der  selbstän- 
digen Berechtigung  dieser  Krankheitsform  bisher  nicht  überzeugen 
können.  Gegenüber  der  nahe  verwandten  Amentia  endlich  kommt 
hauptsächlich  die  acutere  Ent\vickelung,  die  Heftigkeit  der  gesanunten 
körperlichen  und  psychischen  Krankheitserscheinungen,  das  Fehlen 
deutlicher  Eemissionen,  wie  der  rasche  Verlauf  des  Collapsdeliriums 
iü  Beti-acht 

Die  Beh  andlung  dieser  Psychose  hat  ungemein  wichtige  und 
zugleich  dankbare  Aufgaben  zu  erfüllen;  es  giebt  keine  Geistes- 
störung, bei  welcher  das  Können  des  Arztes  so  entscheidend  in  das 
Schicksal  des  Kranken  einzugreifen  vermag.  Selbstverständlich  ge- 
hören derartige  Patienten  so  schnell  wie  mögKch  auf  die  "Wach- 
abtheilung einer  Irrenanstalt.  Hier  siud  hauptsächlich  zwei  Indi- 
cationen  zu  erfüllen;  es  güt,  die  Kräfte  des  Kranken  zu  erhalten 
und  womöglich  zu  heben,  andererseits  ihn  vor  Verletzungen  und 
Schädigungen  durch  die  eigene  Unruhe  oder  durch  seine  Umgebung 
zu  schützen.  Das  Letztere  geschieht  durch  dauernde  Specialüber- 
wachung im  Bett,  die  meist  ohne  erhebHche  Schwierigkeit  durch- 
führbar ist,  in  ganz  besonderen  Fällen  unter  Benutzung  eines 
Polsterzimmers.  Das  erstere  Ziel  wird  angestrebt  durch  Sorge  füi- 
Schlaf  und  Ernährimg.  Sehr  werthvoU  sind  hier  verlängerte  warme 
Bäder,  cüe  ich  bei  einzelnen  Kjanken  fast  den  ganzen  Tag  hin- 
durch fortgesetzt  habe.  Meist  tiitt  sehr  bald  eine  gewisse  Beruhigung 
ein;  die  Kranken  bleiben  dann  gern  im  Bad  und  fangen  häujBg  an, 
reichlich  Nahrung  zu  sich  zu  nehmen.  EinAvickelungen  sind  hie  und 
da  nützlich,  meist  aber  bei  den  widersti'ebenden  Kranken  nur  eine 
besondere  Form  des  mechanischen  Zwanges  und  wegen  der  Be- 

17* 


260 


II.  Die  acuten  Erschöpfungszustände. 


hinderung  der  Athmimg  unter  Umständen  uiclit  uiibedenMich.  Die 
Anwendung-  von  Sclilafmitteln  möclite  ich  ganz  allgemein  wider- 
ratiien,  da  ihre  Gefahren  hier  zu  ihrem  Nutzen  in  keinem  Yer- 
hältnisse  stehen.  Nur  der  Alkohol  in  ki'äftigeren  Dosen  ist  sehr  am 
Platze;  er  bringt  Ruhe,  oft  raschen  Sclilaf  und  wird  ausgezeiclinet 
vertragen.  Bei  sehr  grosser  Schwäche  habe  ich  auch  starken  Kaffee 
und  Campher  vorübergehend  angewendet. 

Die  Nahrungsaufnahme  erfordert  sehr  sorgfältige  Berücksichtigung. 
Häufiges  Anbieten,  Auswahl  nahrhafter  Speisen,  besonders  flüssiger 
oder  breiiger  (Milch,  Cognac  mit  Ei  und  Zucker,  Fleischbrühe  mit 
zerhacktem  Fleisch),  kann  hier  viel  leisten.  Ln  Nothfalle  muss  zur 
Ernährung  durch  die  Sonde  gegriffen  werden,  bei  der  man  den  Alkohol 
nicht  vergesse.  Nicht  selten  schlafen  die  Kranken  nach  einer  solchen 
Fütterung  sofort  ein.  "Wo  die  Sonde  aus  irgend  einem  Grunde  (Magen- 
blutung, Erbrechen)  nicht  vertragen  wird  oder  wo  die  hochgradige 
Erschöpfung  sehr  rasches,  energisches  Eingreifen  erfordert,  zögere  man 
nicht,  zur  Kochsalzinfusion  zu  schreiten.  Rasche  Aufhellung  des 
Bewusstseins  und  spontane  Aufnahme  von  Nahrung  ist  die  gewöhn- 
liche, freilich  zunächst  nur  vorübergehende  Wirkung,  die  nach  Be- 
darf dui'ch  Wiederholung  der  Massregel  erneuert  werden  kann  und 
ohne  Zweifel  geeignet  ist,  die  Erhaltung  des  Lebens  und  damit  die 
Wiederherstellung  der  Gesundheit  in  hervon-agendem  Masse  zu 
unterstützen.  Sobald  die  volle  Besonnenheit  zurückgekehrt  ist,  hat 
die  Behandlung  niu-  die  Aufgabe,  von  dem  noch  sehr  empfindlichen 
Reconvalescenten  alle  äusseren  Schädlichkeiten,  namentlich  gemüth- 
liche  Erregungen,  fernzuhalten,  bis  das  frühere  körperliche  und 
psychische  Gleichgewicht  vollkonnnen  erreicht  ist.  Massgebend  für 
die  Beurtheüung  der  Genesung  ist  dabei  in  erster  Linie  die  Wieder- 
erlangung des  normalen  gleichmässigen  Körpergewichts. 

B.  Die  acute  Verwirrtlieit  (Ameutia).*) 

Unter  dem  Namen  der  Verwirrtheit  (Amentia)  hat  M'eynert 
einen  Sjmptomencomplex  beschrieben,  der  hauptsächlich  dui'ch  das 
Auftreten  einer  leichteren  oder  tieferen  Bewusstseinstrübimg  mit 

*),Meynert,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  1881;  Klinische  Vorlesungen  über  Psy- 
chiatrie, p.  33s8.;  Mayser,  AUgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  JJJI,  1;  Wille, 
Archiv  f.  Psychiatrie,  XIX,  2. 


Acute  Verwirrtheit. 


261 


mannichfachen  Eeizerscheinimgen  auf  sensoriscliem  imcl  motorischem 
Gebiete  gekerLnzeicbnet  ist.  In  Folge  einer  wesentlich  sjnnptomati- 
scben  Auffassiuig  des  Krankheitsbildes  finden  sich  in  demselben  eine 
Eeihe  Ton  Zuständen  vereinigt,  die  meiner  Ueberzeugung  nach  dm-ch- 
aus  von  einander  tmterschieden  werden  sollten,  ausser  dem  soeben 
beschriebenen  Collapsdeliriran  z.  B.  gewisse  epileptische  imd  perio- 
cüsche  Geistesstörungen.  Es  scheint  mir  daher  zweckmässiger,  die 
Bezeichnung  der  Amentia  mu-  für  den  eigentlichen  Kern  der  Mey- 
nertscben  Beobachtungen  festzuhalten,  für  diejenigen  Fälle,  bei  welchen 
sich  in  Folge  einer  greifbaren  äusseren  Schädlichkeit  acut 
ein  Zustand  traumhafter  Yerworrenheit  und  illusionärer 
oder  hallucinatorischer  Yerfälschung  der  Wahrnehmung 
entwickelt,  der  bei  günstigem  Yerlaufe  filihestens  nach  2 — 3  Mo- 
naten zur  Genesimg  führt.  In  gewissem  Sinne  können  wir  diese 
Krankheitsgruppe  geradezu  als  ein  proti-ahirtes  CoUapsdelirium  be- 
zeichnen. 

Den  Beginn  der  Ki-ankheit  bilden  gewöhnlich  Sclilaflosigkeit  und 
innere  Um-uhe.  Die  Kranken  fühlen  sich  beängstigt,  aufgeregt,  haben 
Todesahnungen,  können  ihre  Gedanken  nicht  mehr  recht  sammebi 
und  klagen  über  Benonunenheit  und  Yerwirrtheit  im  Kopfe.  Im 
Laufe  weniger  Tage  steigert  sich  die  Störung  rasch  bis  zu  völliger 
Unfähigkeit,  sich  in  der  Umgebung  und  in  den  Ereignissen  zm-echt- 
zufinden.  Alles  erscheint  phantastisch  verändert;  die  Personen  wer- 
den verkannt;  vereinzelte  oder  zahlreichere  Hallucinationen  stellen 
sich  auf  verschiedenen  Sinnesgebieten  ein,  um  ebenso,  wie  die  ver- 
fälschten wirklichen  Eindrücke,  zu  tramnhaft  verworrenen,  wider- 
spruchsvollen Wahnideen  verarbeitet  zu  werden.  Die  Kranken  sehen 
Gesichter  in  der  Luft,  den  ewigen  Juden,  den  Teufel  im  Ofen,  flie- 
gende Yögel,  wilde  Thiere  unter  dem  Bett,  zwei  Gehängte  am  Fenster; 
sie  hören  Yorwürfe,  Drohungen,  Yerheissungen.  Man  ruft  sie;  es 
wird  ein  Lied  gesungen,  „als  ob  es  keinen  Gott  mehr  gäbe".  Alles  ist 
todt  zu  Hause;  die  Gralsritter  sind  verbrannt,  der  Stanunbaum  henim- 
gedreht,  die  Himmelsleiter  zerbrochen;  eine  Schlacht  ist  gesclilagen 
durch  ihre  Schuld;  das  Gottesgericht  wird  abgehalten.  Es  giebt  An- 
fechtungen in  der  Luft  mit  Spiegeln  und  Magnetismus,  Yerschwör- 
imgen,  Schlangen  und  Geister;  der  Teufel  kommt  in  dreierlei  Gestalt. 
Sie  fürchten  todtgeschossen,  gesotten  und  gebraten,  im  Keller  hin- 
gerichtet zu  werden,  da  sie  „der  schrecklichste  aller  Drachen"  sind; 


262 


II.  Die  acuten  Erschöpfungszustände. 


der  TodteiiAvagen  fährt  scbon  di'aussen.  In  eiiizebien  Fällen  über- 
wiegen Grrössenideen:  die  Kranken  sind  Prinzen,  verkehren  geschlecht- 
lich mit  Königinnen,  verfügen  über  zahllose  Sclilösser,  unerniessliclie 
Keichthünier,  producii-en  die  herrlichsten  Kunstwerke,  sind  imsterb- 
Uch,  „der  stärkste  der  Hellenen".  Die  Auffassung  der  wirklichen 
Umgebimg  ist  stets  eine  sehr  unvollkommene.  Die  Kranken  wissen 
nicht,  wo  sie  sich  befinden,  verkennen  die  Personen,  meist  ohne  jede 
Kücksiclit  auf  die  Aehnlichkeit,  halten  aber  an  den  einmal  gemachten 
falschen  Bezeichnungen  oft  längere  Zeit  hindurch  fest. 

Dabei  ist  die  Aufmerksamkeit  der  Kranken  aui  die  Umgebung 
gelichtet;  sie  bemerken,  was  um  sie  herum  vorgeht,  beachten  oft  ein- 
zelne Namen  oder  Eigenthümlichkeiten  ihi-er  Mitpatienten  in  über- 
raschender Weise.  Sehr  häufig  gelingt  es  gerade  hier,  durch  vor- 
gehaltene Gegenstände,  G-eberden  u.  s.  w.  den  Gredankengang  der 
lii'anken  in  bestinmite  Eichtung  zu  lenken.  Um  so  auffallender  ist 
aber  hie  und  da  die  Unfähigkeit,  auch  nur  die  einfachsten  Vorgänge 
harmlos  aufzufassen  und  deren  Bedeutung  zu  verstehen.  In  solchen 
FäUen  erscheint  Alles  falsch,  verwechselt,  verdreht.  Der  Kranke  wii-d 
mit  falschen  Thermometern  gemessen;  es  sind  „falsche  Zeitungen", 
die  man  ihm  giebt;  es  ist  „immer  Alles  anders";  er  ist  an  einen 
„ganz  verkehrten  Ort"  gerathen;  er  „gehört  gar  nicht  hierher",  „ist 
gar  nicht  der  Kichtige"  und  weiss  nicht,  „was  das  AUes  bedeuten 
soU".  Die  aUtäghchsten  Dinge  gewinnen  auf  diese  Weise  für  ihn 
den  Anschein  des  Käthselhaften,  Unverständlichen  und  Unheimlichen. 
Es  werden  immer  so  die  Thüi-en  auf-  und  zugemacht;  da  wii'd  ein 
Packet  auf  den  Tisch  gelegt,  und  dann  nickt  Einer  nüt  dem  Kopfe; 
bald  heisst  es  so,  bald  heisst  es  so;  da  sind  mit  einem  Mal  so  viele 
Frauen;  warmn  stellen  die  sich  AUe  so?  Dabei  äussert  sich  gewöhn- 
lich ein  deutliches  Gefühl  dieser  Unfähigkeit,  zu  verstehen;  der  Ki-anke 
klagt,  dass  er  nicht  recht  denken  könne,  dass  man  ihn  „ganz  ii-re" 
mache,  wünscht  sich  lebhaft  fort,  damit  er  endlich  aus  dieser  Ver- 
wkrung  herauskomme. 

Diese  letzteren  Fälle,  in  denen  die  eigentlichen  Siimestäusclnmgen 
gänzhch  hinter  der  schweren  Auffassungsstörung  zui'ückti'eten,  sind 
es,  die  ich  früher  als  „asthenische  Yerwirrtlieit"  der  hallucinatorischen 
Form  gegenübergestellt  habe.  Die  weitere  Erfahrung  hat  mir  in- 
dessen gezeigt,  dass  Andeutiingen  der  gescliilderten  Störimg  auch  bei 
lebhaften  Hallucinationen  häufig  beobachtet  werden,  imd  dass  die 


Acute  Verwirrtheit. 


263 


beiden  Krankheitsbilder  einander  ätiologisch  und  klinisch  nahe  genug 
stehen,  um  praktisch  unter  gemeinsamer  Bezeichnung  zusanimenge- 
fasst  Averden  zu  können. 

Die  Stimmung  ist  in  der  Amentia  eine  sehr  versclüedene.  Bis- 
weilen überwiegt  dauernd  die  freudige  Gehobenheit,  häufiger  eine 
gewisse  Depression.  Fast  immer  findet  sich  ein  deutlicher  Wechsel 
des  Zustandes;  km-ze  Episoden  unmotivirter  Heiterkeit  mit  sexueller 
Erregung  oder  vorübergehende  zornige  Gereiztheit  ent^vickeln  sich 
auf  eiuer  Grimdlage  leichten  ängstlichen  Unbehagens.  Zeitweise  treten 
auch  Anzeichen  von  Apathie  'oder  von  heftigen  imieren  Spannungs- 
zuständen  mit  explosiven  Ausbrüchen,  Schreien,  "Weiaen,  Schimpfen 
hervor. 

Im  Benehmen  der  Kranken  ist  meist  ein  leichter  Bewegimgs- 
drang,  TJm-uhe,  Umherlaufen,  Fortdrängen,  Gewaltthätigkeiten,  leb- 
haftes Gesticuliren,  ideenflüchtiges  Schwatzen  unverkennbar.  Bei 
anderen  Kranken  überwiegen  motorische  Hemmungen  oder  Lähm- 
ungen. Sie  versuchen  vergebens,  zu  sprechen,  klammern  sich  sinnlos 
an  ihre  Umgebung  an,  widerstreben  den  einfachsten  Massregeln,  oder 
sie  stehen  theilnahmlos,  vor  sich  hiajammernd  auf  demselben  Flecke, 
lassen  sich  herumschieben  und  zeigen  wächserne  Biegsamkeit  oder 
gar  Nachahmungsautomatie.  Eegelmässig  begegnet  man  auch  hier 
einem  vielfachen  Wechsel  des  Verhaltens;  innerhalb  ganz  kurzer 
Zeiten  kann  sich  das  äussere  Büd  vollständig  verändern. 

Der  Schlaf  der  Ejanken  ist  stets  sehr  gestört;  nicht  selten  pflegt 
sich  geradein  der  Nacht  grössere  Umaihe  einzustellen.  Die  Nahrungs- 
aufnahme ist  von  Anfang  an  gering,  zum  Theü  wegen  Appetitmangels, 
theüs  auch  wegen  ängstlichen  Misstrauens  der  Kranken.  Das  Körper- 
gewicht sinkt  daher  beträchthch;  gleichwol  bleibt  der  Ernähi-ungs- 
zustand  meist  ein  besserer,  als  im  Collapsdelirium.  Die  Eeflexe  sind 
häufig  erhöht,  der  Puls  verlangsamt,  die  Temperaturen  niedrig  nor- 
mal; hie  und  da  besteht  Unreinliclikeit. 

Die  volle  Höhe  der  Erkrankimg  Avird  gewöhnlich  schon  inner- 
halb der  ersten  zwei  Wochen  erreicht.  Der  weitere  Yerlauf  ist  regel- 
mässig ein  eigenthümhch  schwankender.  Die  sturmischen  Erschein- 
ungen lassen  im  Ganzen  allmähüich  nach;  die  Kranken  werden  etwas 
zusammenhängender  in  Gedanken  und  Keden,  um  vorübergehend 
doch  wieder  völlig  desorientirt  und  sehr  imruhig  zu  sein.  Nicht 
selten« kommt  es  auch  zu  kurzen,  ganz  tiefen  Nachlässen  der  Eä'ank- 


264 


n.  Die  acuten  Erschöpfungszustände. 


heit,  in  denen  für  Stunden  imd  selbst  Tage  vollständige  Klarheit, 
Einsicht  und  Schwinden  der  Täuschungen  beobachtet  wird!  Treten 
solche  Besserungen  plötzlich  und  unTermittelt  ein,  so  sind  sie  selten 
von  Bestand.  Yielmehr  pflegt  sich  die  wirkliche  Eeconvalescenz  fast 
immer  unter  ganz  allmählichem  Nachlassen  aller  Ki-ankheitserschein- 
ungen  zu  entwickeln.  Dabei  verschwindet  zuerst  die  VerwiiTtheit, 
dann  die  Sinnestäuschungen,  weit  später  erst  die  motorische  Erregung 
oder  die  psychische  Depression.  So  konmit  es,  dass  der  IJebergang 
in  die  Genesung  sich  in  sehr  verschiedener  "Weise  vollziehen  kann. 
In  den  leichtesten,  weitaus  häufigsten  Eällen  wird  der  Einüitt  völliger 
Besonnenheit  noch  kürzere  Zeit,  einige  "Wochen  etwa,  überdauert  von 
einer  einfachen,  leicht  manischen  oder  depressiven  Verstimmung,  die 
sich  je  nachdem  in  Geschäftigkeit,  vielem  Sprechen,  gehobenem  Selbst- 
gefühl oder  in  Misstrauen,  Kleinmüthigkeit,  Aengstlichkeit,  vielfach 
auch  in  grosser  Eeizbarkeit  äussert.  Die  Gesammtdauer  der  Exank- 
heit  pflegt  hier  3 — 4  Monate  nicht  zu  überschreiten. 

Bei  schwererer  Störung  werden  die  Kranken  zwar  auch  nach 
einigen  Monaten  klar,  aber  einzelne  HaUucinationen  dauern  noch 
längere  Zeit  hindm-ch  fort,  ohne  indessen  irgendwie  wahnhaft  ver- 
arbeitet zu  werden.  Die  Kranken  hören  Zurufe,  vernehmen  im 
Zwitschern  der  Yögel,  in  entferntem  Pfeifen  gelegentlich  eine  Auf- 
forderung oder  Drohung.  Ganz  vorübergehend  taucht  auch  wol  ein- 
mal eine  absurde  Grössen-  oder  Yerfolgungsidee  auf,  um  sehr  bald 
wieder  vergessen  zu  werden.  Dabei  besteht  ein  eigenthümlich  quera- 
lii'endes,  reizbares,  unzufriedenes  "Wesen.  Die  Anstalt  ist  ein  Ge- 
fängniss,  [in  dem  sich  die  Kranken  widerrechtlich  zurückgehalten 
glauben.  Sie  sind  gar  nicht  krank,  auch  nicht  ki'ank  gewesen,  nm- 
etwas  aufgeregt  über  die  schlechte  Behandlung  und  das  miserable 
Essen.  Alles  ist  nicht  gut  genug  für  sie;  man  soll  sie  nur-  nach 
Hause  lassen;  sie  seien  lange  genug  da.  Ganz  allmählich  verlieren 
sich  auch  diese  Krankheitserscheinungen.  Die  Täuschungen  und 
"Wahnideen  verschwinden  ganz;  die  Kranken  werden  fi-eimdlicher, 
zugänglicher  imd  etwas  einsichtiger,  aber  in  ihrer  geringen  gemüth- 
lichen  "Widerstandsfähigkeit  und  einem  gewissen  Mangel  an.  klai-em 
Verständnisse  ihrer  Krankheit  erkennt  man  deutlich,  dass  eine  dauernde 
psychische  Schwäche  zurückgeblieben  ist.  Bis  zm-  Ausbildimg  eines 
einigermassen  stationären  Zustandes  können  hier  viele  Monate,  selbst 
Jahr  und  Tag  vergehen. 


Acute  VerwiiTÜieit. 


265 


Eine  letzte  Verlaiifsart  endlich  beobachten  wir  in  einzelnen 
weiteren  Fällen.  Anch  hier  verliert  sich  die  Aufregung  nach  und 
nach,  aber  die  Ki'anken  werden  stumpf,  theilnahnilos,  gleichgültig;  es 
entwickelt  sich  ein  kürzer  oder  länger  dauerndes  Stadium  psychischer 
Lähmung',  meist  mit  Andeutungen  von  Sinnestäuschimgen.  Dasselbe 
fühi't  dann  nach  einer  Eeihe  von  Monaten  zu  einem  ganz  allmäh- 
lichen Erwachen  und  voller  Genesung,  oder  es  geht  dii'ect  in  un- 
heilbai'en  Schwachsinn  leichteren  oder  schwereren  Grades  über.  Der 
Abschluss  des  Ki-ankheitsprocesses  wird  bei  allen  diesen  Verlaufs- 
arten dm-ch  das  Ansteigen  des  Körpergewichtes  angezeigt,  welches 
im  ersten  EaUe  sehr  rasch,  bei  den  letzterwähnten  Ausgängen  der 
Kranklieit  dagegen  langsam  und  mit  vielfachen  Schwankungen  zu  er- 
folgen pflegt. 

Der  Ausgang  in  Tod  ist  bei  der  Amentia  nicht  häufig;  doch 
kann  bei  sehr  hochgradiger  Erregung  im  Beginne  oder  unter  be- 
sondere ungünstigen  somatischen  Verhältnissen  (Herzfehler,  Sepsis) 
ein  CoUaps  erfolgen;  ausserdem  bleibt  natürlich  die  Selbstmordgefahr 
immerhin  zu  beachten. 

Unter  den  Ursachen  der  Amentia  sind  vor  AUem  erschöpfende 
Einflüsse  zu  nennen,  namentlich  acute  Ki-ankheiten,  Lactafion,  "Wochen- 
bett, Blutverlust,  auch  schwere  körperliche  Ueberansti-engung,  Nacht- 
wachen. Im  Ganzen  hat  es  den  Anschein,  als  ob  hier  gegenüber 
dem  CollapsdeUrium  die  langsamer  einwirkenden,  den  Boden  erst  all- 
mählich vorbereitenden  Krankheitsm-sachen  überwiegen,  wie  gerade 
das  Säugegeschäft  oder  unter  den  acuten  Krankheiten  Typhus  und 
Gelenkrheumatismus.  Dementsprechend  spielt  auch  die  hereditäre 
Veranlagung  hier  eine  gxössere  Rolle,  als  dort.  Die  letzte  Gelegen- 
heitsiu-sache  zum  Ausbmche  der  Störung  giebt  nicht  selten  eine  hef- 
tige Gemüthsbewegung  (König  Lear).  "Wenn  somit  das  CoUapsdelirium 
als  die  rasche  Gleichgewichtsschwankung  eines  bis  dahin  gesunden 
Nei-vensystems  unter  dem  Einflüsse  plötzlicher  übermächtiger  Schäd- 
lichkeiten erscheint,  [so  haben  wir  es  hier  vielleicht  mit  dem  Aus- 
brache einer  schon  länger  vorbereiteten  Katasti'ophe  zu  thun.  Li  dem 
nicht  mehr  ganz  rüstigen  Centraiorgane  genügt  schliesslich  ein  ver- 
hältnissmässig  geringer  Anstoss,  um  die  Störung  herbeizuführen. 
Daraus  würde  sich  einmal  das  weniger  stüiTnische  Auftreten  der 
Krankheit,  die  geringere  Gefahr  derselben,  andererseits  der  lang- 
samere, weniger  elastische  Ausgleich  und  der  gelegentliche  Ausgang 


266 


II.  Die  acuten  Erscliöpfungßzustände. 


in  dauernde  Scliwächezustände  erklären.  Ich  sah  in  einem  Falle  von 
Eeconvalescenz  nach  Lactationsmelancholie  im  immittelbaren  An- 
schlüsse an  eine  schwere  gemüthüche  Erschütter  ang  sich  eiae  Amentia 
mit  späterer  Genesung  entwickeln;  andererseits  beobachtete  ich  [bei 
einer  schwer  hereditär  belasteten  Dame,  die  25  Jahre  früher  schon 
einmal  erkranlt  war,  eine  Amentia  in  Folge  eines  freudigen,  aller- 
dings mit  sehr  viel  Um-uhe  und  Aufr-egung  verbundenen  Anlasses. 
Im  ersten  Falle  dürfte  die  erworbene,  im  zweiten  die  angeborene 
Disposition  das  Eintreten  der  Grleichgewichtsstörung  ermöglicht  und  zu- 
gleich die  rasche  üeberwindung  der  irmnerhin  geringfrigigen  äusseren 
Schädigung  erschwert  haben. 

Die  Diagnose  der  Amentia  in  Jder  hier  gegebenen  Umgrenzung 
wird  unter  Berücksichtigung  der  ätiologischen  Verhältnisse,  des  acuten 
Beginnes  und  der  charakteristischen  Symptome,  Yerwirrtheit  mit  illu- 
sionären oder  haUucinatorischen  Täuschungen,  wechselnde  Stimmung, 
motorische  Erregung  mit  Ideenflucht  oder  Andeutungen  der  Hemm- 
ung und  Lähmung,  meist  jkeine  erlieblichen  Schwierigkeiten  .bieten. 
Gegenüber  dem  Collapsdelirimn  ist  der  langsamere,  häufig  remitti- 
rende  Yerlauf,  gegenüber  dem  acuten  haUucinatorischen  "Wahnsinn 
die  völlige  Desorientii'theit  und  Zusammenhangslosigkeit,  in  manchen 
Fällen  auch  die  phantastische  Reichhaltigkeit  der  Täuschungen  zu  be- 
rücksichtigen. [Gewisse  periodische  Psychosen  gleichen  symptomatisch 
der  Amentia  so  sehr,  dass  ich  ohne  Berücksichtigimg  der  Anarmiese 
und  Aetiologie  im  Einzelfalle  'die  Differentialdiagnose  bisher  'nicht 
mit  voUer  Sicherheit  zu  stellen  vermöchte. 

Die  Behandlung  der  Amentia  kann  erfolgreich  nm-  in  der  An- 
stalt dm:chgeführt  werden.  Sie  hat  in  der  Hauptsache  dieselben  Auf- 
gaben, wie  diejenige  des  CoUapsdeliriums.  Beruhigung  wii-d  in  erster 
Linie  durch  Bettiagerung,  weiterMn  durch  verlängerte  Bäder  erreicht; 
auch  der  Alkohol  thut  oft  sehr  gute  Dienste.  GelegentUche  Gaben 
von  Hypnoticis  (Brom,  Trional,  Paraldehyd)  sind  hier  bei  grosser,  im- 
besiegbarer  Unruhe  eher  einmal  gestattet.  Die  Ernähi-ung  erfordert 
sorgfältige  Berücksichtigung.  |  Bei  di-ohender  Erschöpfrmg  zögere  man 
nicht,  zur  Sonde  zu  greifen,  um  eine  reichliche  Nahrimgszufulu-  zu 
erreichen.  Wenn  der  Magen  gut  ist,  empfiehlt  es  sich  geradezu,  eine 
gewisse  Ueberernähriing  anzustreben,  die  nicht  selten  Beruhigung 
bringt.  Wegen  der  grossen  Neigung  zu  Rückfällen  muss  man  hier 
den  Kranken  in  der  Reconvalescenz  besonders  vorsichtig  vor  Schä- 


1 


Dementia  acuta. 


267 


dig-ungen,  namentlich  zu  frühzeitiger  Entlassung  hüten.  Jedenfalls 
ist  ausser  völliger,  dauernder  Rückkehr  der  Euhe,  Klarheit  und  Ein- 
sicht innner  auch  die  "Wiedererreichung  des  normalen  Köipergewichts 
abzuAvarten,  bei  dem  Drängen  der  Eä-anken  bisweilen  eine  unange- 
nehme, aber  dm-chaus  nothwendige  Geduldsprobe. 

C.  Die  Dementia  acuta. 

Unter  der  Bezeichnung  der  Dementia  acuta,  des  heilbaren 
Schwachsinns,  hat  man,  namentlich  im  Verlaufe  der  letzten  beiden 
Jahi-zehnte,  ein  Ejankheitsbild  abgegi'enzt,  welches  vor  Allem  dm"ch 
die  rasche  Ausbildung  einer  tiefgreifenden  Lähmung  aller 
höheren  psvchischen  Functionen  gekennzeichnet  wird;  daneben 
können  noch  gewisse  elementare  ßeizsjanptome  bestehen.  Je  nach 
der  Ai't  und  Ausdehnung  dieser  letzteren  lassen  sich,  wie  es  scheint, 
zwei  Hauptformen  der  Ki-ankheit  auseinanderhalten,  die  zwar  viel- 
fach in  einander  übergehen^  dennoch  aber  in  der  Art  ihrer  Ent- 
wickelung,  wie  in  prognostischer  Beziehung  gewisse  Uuterschiede 
darbieten  dürften. 

Die  erste  dieser  Formen,  welche  wir  einstweilen  als  die  mani- 
sche Form  der  Dementia  acuta  bezeichnen  wollen,  beginnt  in  der 
Eegel  mit  Schlaflosigkeit,  gi-osser  Eeizbarkeit,  Unruhe;,  zusammen- 
hangslosem, ideenflüchtigem  Eeden_,  Bewegungsdrang,  auch  wol  ein- 
zelnen Sinnestäuschungen.  Die  Ei'anken  können  zunächst  einige  Tage 
lang  das  Bild  eines  Collapsdeliiiums  oder  einer  Amentia  darbieten, 
doch  fällt  bei  genauerer  Beti-achtung  deutlich  die  grosse  Gedanken- 
armuth,  die  tiefe  Yerworrenheit,  die  Wiederkehr  derselben  "Wen- 
dungen und  die  völlige  Unfähigkeit  zui-  Auffassung  der  einfachsten 
Fragen  oder  Eindrücke  auf. 

Der  Bewusstseinszustand  scheint  ein  tief  ti'aumartig  geti'übter 
zu  sein.  Die  Umgebung  wird  weder  erkannt,  noch  verkannt,  so- 
weit sich  das  aus  dem  ganz  unsinnigen  Benehmen  der  Kranken 
scliliessen  lässt.  Bisweilen  scheint  ein  dumpfes  Gefühl  der  eigenen 
Unfähigkeit  vorhanden  zu  sein;  ich  erinnere  mich  an  eine  derartige 
Patientin,  die  stundenlang  in  halb  lustigem,  halb  weinerlichem  Tone 
schrie:  Ich  habe  meinen  Verstand  verloren;  ich  will  meinen  Ver- 
stand wieder  haben!  Ueber  das  Bestehen  irgend  Avelclier . "Wahn- 
ideen lässt  sich  aus  den  völlig  sinnlosen  sprachlichen  Aeusserungen 


268 


II.  Die  acuten  Erschöpfungszustände. 


der  Kranken  gar  nichts  entnehmen.  Die  Stimmung  ist  meist  eine 
gleichnmthige ,  selbst  heitere,  plötzlicher  Umschlag  in  "Weinen  oder 
zornige  Gereiztheit  jedoch  nicht  selten.  Der  Gesichtsausdruck  ist 
blöde,  stumpf,  verständnisslos,  das  Handeln  der  Kranken  ein  durch- 
aus läppisches,  kindisches,  triebartiges,  ohne  erkennbare  psychische 
Motivirung.  Sie  wühlen  ihre  Bettstücke  durcheinander,  ratschen  am 
Boden  herum,  kriechen  unter  die  Betten,  klatschen  in  die  Hände, 
machen  grosse  Sprünge,  masturbiren,  werden  ganz  plötzlich  brutal, 
gewaltthätig,  klammern  sich  an  ihre  Umgebung  an,  leisten  unver- 
muthet  verzweifelten  Widerstand  u.  s.  f.;  dazwischen  besteht  nicht 
selten  zeitweise  deutliche  Katalepsie.  Die  körperliche  Ernährung 
der  Kranken  ist  meist  eine  sehr  schlechte;  die  Nahi'ungsaufnahme 
stösst  wegen  ihrer  Umaihe  vielfach  auf  Schwierigkeiten,  auch  der 
Schlaf  ist  sehr  mangelhaft.  Die  Eeflexerregbarkeit  fand  ich  ge- 
wöhnlich erhöht. 

Im  weiteren  Yerlaufe  der  Krankheit  kann  diese  manische  Er- 
regung bei  schwerem  Darniederliegen  der  gesammten  inteUectueUen 
Functionen  in  allmählich  abnehmender  Stärke  fortbestehen.  Nach 
und  nach  tritt  dann  Beruhigung  ein,  und  nun  erwacht  der  Kranke, 
bisweilen  inuerhalb  weniger  Tage,  wie  aus  einer  schweren  Be- 
täubung, findet  sich  in  seiner  Umgebung  rasch  zurecht,  gewinnt 
volles  Yerständniss  für  seine  Krankheit  und  tritt  damit  in  die  Re- 
convalescenz  ein,  in  welcher  neben  den  Erscheinungen  erhöhter 
psychomotorischer  Erregbarkeit  auch  diejenigen  leichter  Erschöpf- 
barkeit  gewöhnlich  noch  einige  "Wochen  hindurch  deutlich  nach- 
weisbar sind.  Bei  dieser  Yerlaufsart  pflegt  die  Dauer  der  ganzen 
Erkrankung  3 — 4  Monate  nicht  zu  übersteigen;  die  Prognose  ist 
eine  durchaus  günstige. 

In  anderen  Fällen  sieht  man  die  manische  Erregung  schon 
nach  einigen  "Wochen  schwinden,  aber  es  kommt  nun  nicht  sofort 
zur  Genesung,  sondern  der  Eö-anke  geräth  ia  eiaen  Zustand  völliger 
psychischer  Lähmung.  Er  vermag  nichts  zu  verstehen,  sich  nicht 
zu  Orientiren,  hegt  gleichgültig  und  theilnahmlos  im  Bette,  oder 
steht  in  einer  Ecke,  ist  ausser  Stande,  von  selbst  oder  auf  Fragen 
irgend  eia  "Wort  zu  sprechen,  muss  angekleidet,  auf  den  Abtritt  ge- 
führt, gewaschen,  gefüttert  werden,  bleibt  stehen,  wohin  man  üni 
schiebt.  Nach  und  nach  gewinnt  das  Gesicht  einen  vorständniss- 
voUeren  Ausdruck;  man  bemerkt  bei  eindringlicherem  Zureden  Er- 


Dementia  acuta. 


269 


röthen,  leises  Zucken  um  clie  Munchvinkel.  Der  Ki-aiike  beginnt 
einfache  Aufforderungen  zu  befolgen,  und  endlich  erhält  man  auch 
einmal  auf  leichte  Fragen  eine  leise,  zögernde,  aber  zutreffende 
Antwort  Meist  kehi-t  die  Fähigkeit  zu  geordneter  sprachlicher 
Aeusserung  erst  wieder,  nachdem  die  Besonnenheit  und  das  Yer- 
ständniss  des  Kranken  für  seine  Umgebung  in  seinem  geordneten 
Benehmen  schon  längst  Idar  her^^orgetreten  ist.  Die  weitere  Eecon- 
valescenz  pflegt  dann  schnell  und  ohne  Störung  zur  völligen  Ge- 
nesung zu  führen.  Die  Erinnerung  an  die  eigentliche  Krank- 
heitszeit ist  hier,  wie  bei  der  vorigen  Form,  ganz  unklar  oder  völlig 
erloschen.  Das  Körpergewicht  steigt  regelmässig  enorm,  in 
einem  jüngst  ^on  mir  beobachteten  Falle  um  47  Pfund  in  wenigen 
Monaten.j 

Die  Daner  der  Erkrankung  ist  bei  der  zuletzt  geschilderten 
Yerlaufsart  eine  erheblich  längere,  dürfte  6 — 9  Monate,  auch  wol 
noch  mehr  betragen.  Die  Prognose  ist  auch  hier  meist  eine 
günstige,  doch  ist  der  Uebergang  in  bleibenden  Schwachsinn  wol 
nicht  ausgeschlossen. 

Bei  der  zweiten  Hauptform  der  Dementia  acuta,  [die  vielleicht 
als  stuporöse  Form  zu  bezeichnen  wäre,  treten  von  Anfang  an 
die  Erscheinungen  der  psychischen  Hemmung  und  Lähmung  stärker 
in  den  Vordergrund.  Selten  entsteht  die  Ki-ankheit  ganz  plötzlich, 
roit  einem  Schlage;  meist  geht  vielmehr  ein  kurzes,  höchstens  einige 
Wochen  dauerndes  Prodromalstadium  voraus.  Die  Kranken  werden 
schlaflos,  niedergeschlagen,  ängstlich,  klagen  über  Kopfschmerzen, 
Unfähigkeit  zu  denken,  verlieren  den  Appetit  Sehr  bald  geht  die 
Orientirung  verloren;  die  Personen  werden  verkannt,  die  Umgebung 
nicht  mehr  verstanden.  Die  Kranken  äussern  Todesgedanken, 
glauben  sich  in  phantastischen  Situationen,  im  Himmel,  im  Grabe, 
am  Nordpol.  Einzelne  Hallucinationen  treten  auf;  sie  sehen  die 
Mutter  Gottes,  goldene  Engel  fliegen,  hören  ihren  Namen  rufen;  das 
Essen  stinkt. 

Bei  leichteren  Graden  der  nun  rasch  sich  ausbildenden  geistigen 
Lähmung  ist  der  Kranke  mit  grösster  Anstrengung  vielleicht  noch 
im  Stande,  einfache  Nachahmimgen  und  Urtheile  zu  vollziehen,  em- 
pfindet jedoch  deutlich  seine  Unfähigkeit  zu  weiterreichenden  Leist- 
ungen, zusammenhängenden  Aeusserungen  oder  Handlungen.  Nicht 
selten  aber  verliert  er  jeden  Zusammenhang  mit  der  AussenAvelt, 


270 


II.  Die  acuten  Erschöpfungszustände. 


versteht  die  an  ihn  gerichteten  Fragen  und  Aufforderungen  nicht 
mehr,  vermag  schliesslich  vielleicht  die  einfachsten  Eindrücke  nicht 
aufzufassen  oder  zu  verarbeiten,  producirt  auch  selbst  keinerlei 
Wahnideen,  ausser  etwa  einzelnen  gelegentlichen  Faseleien,  dass 
„Alles  verbrannt",  „etwas  heruntergefallen"  sei  u.  dergl.  Eintönige 
Gehörstäuschungen  scheinen  hie  und  da  vorzukommen.  Auch 
hier  besteht  häufig  ein  gewisses  Krankheitsgefühl,  wie  sich  aus 
Aeusserungen  der  Kranken  über  ihre  Verwirrung  und  Geistes- 
zerrüttung entnehmen  lässt.  Die  Stimmung  ist  vorwiegend  gleich- 
gültig und  theilnahmlos ;  die  Vorgänge  in  der  Umgebung  machen 
auf  sie  nicht  den  geringsten  Eindruck.  Bisweilen  aber,  ohne  er- 
kennbaren Anlass,  rollen  ihnen  die  Thränen  über  die  Wangen,  um. 
vielleicht  schon  im  nächsten  Augenblicke  durch  ein  ausdrucksloses 
Lachen  abgelöst  zu  werden.  Oder  aber  die  stumme  Indifferenz 
wird  unvermittelt  durch  eine  bald  vorübergehende  Aufregung  mit 
expansiver  Stimmung  oder  zornig  verwirrtem  Schimpfen,  durch 
einen  plötzlichen  Angstanfall,  ja  durch  einen  planlosen  Selbstmord- 
versuch unterbrochen.  Die  Gesichtszüge  sind  schlaff,  ausdruckslos 
oder  auch  starr,  masken artig. 

Sprachliche  Aeusserungen  fehlen  oft  lange  Zeit  hindurch  ganz; 
man  sieht  wol  einzelne  Anstrengungen  zum  Sprechen,  aber  sie 
bleiben  ohne  Erfolg.  Erst  wenn  man  sich  nach  langem  vergeb- 
lichem Bemühen  fortwendet,  bringt  der  Kranke  vielleicht  ein  ein- 
zelnes, leises,  unverständliches  Wort  hervor.  In  anderen  Fällen 
beobachtet  man  langsame,  flüsternde,  verwirrte  Selbstgespräche.  Viel- 
fach lassen  sich  die  Kranken  schieben  und  lenken  wie  Automaten; 
sie  sitzen  stumm  und  apathisch  da  und  zeigen  ausgeprägte  wächserne 
Biegsamkeit  nebst  den  verwandten  Erscheinungen  der  muskulären 
Suggestibilität  (Starre,  stereotype  Bewegungen).  Oder  aber  sie 
stehen  tage-  und  wochenlang  in  derselben  Ecke,  an  der  Thür, 
leisten  aUen  Eingriffen  unsinnigen,  verzweifelten  Widerstand. 

Auch  bei  diesen  Kranken  liegen  die  körperlichen  Functionen 
regelmässig  schwer  darnieder.  Die  Nahrungsaufnahme  ist  bei  zeit- 
weisem Widerstreben  vielfach  ungenügend,  ebenso  der  Schlaf. 
Freilich  liegen  die  Kranken  Nachts  ruhig  da,  aber  die  genauere 
Beobachtung  lehrt,  dass  sie  trotzdem  wenig  schlafen,  oft  viele 
Stunden  hindurch  die  Augen  offen  haben.  Fast  immer  besteht  voll- 
ständige Unreinlichkeit ,  so  dass  hinsichtKch  dieses  Punktes  sorg- 


Dementia  acuta. 


271 


fältige  Pflege  notliwendig  wii-d.  Die  Hautempfindlichkeit,  auch 
gegen  schmerzhafte  Reize,  erscheint  stark  herabgesetzt.  Die  Kranken 
ertragen  Hitze,  Kälte,  Verletzungen  ohne  nennenswerthe  Reaction. 
Die  Geburt  eines  Kindes  verlief  bei  einer  derartigen  Kranken  so 
schmerzlos,  dass  sie  später  gar  nicht  an  dieselbe  glauben  wollte. 
Auch  in  der  Gleichgültigkeit,  mit  der  unbequeme  und  auf  die  Dauer 
schmerzhafte  Stellungen  der  Glieder  lange  Zeit  hindurch  festgehalten 
werden,  zeigt  sich  die  hochgradige  Unempfindlichkeit  der  Kranken. 
Das  Körpergewicht  sinkt  stets  sehr  beträchtlich;  die  Temperatur 
ist  meist  subnormal,  die  Athmung  oberflächlich,  der  Puls  klein 
und  verlangsamt;  an  den  Extremitäten  zeigen  sich  leicht  Cyanose 
und  Oedeme  als  Anzeichen  der  Kreislaufstörungen.  Die  Menses 
cessiren;  die  Pupillen  sind  weit,  reagiren  träge.  Regelmässig  be- 
steht Obstipation,  die  bisweilen  vorübergehend  durch  ausgiebige 
Diarrhöen  abgelöst  wird. 

Der  weitere  Verlauf  dieser  Fälle  ist  regelmässig  ein  sehr 
schleppender.  Der  stuporöse  Zustand  pflegt  sich  immer  über  eine 
Reihe  von  Monaten,  selbst  über  Jahr  und  Tag  zu  erstrecken.  Das 
Erwachen  geschieht  ganz  allmählich  in  der  schon  oben  geschilderten 
Weise.  Häufig  zeigen  die  Kranken  ihren  Mitpatienten  oder  dem 
"Wartpersonal  gegenüber  schon  die  deutlichen  Anfänge  wieder- 
kehrender geistiger  Regsamkeit,  wenn  sie  dem  Arzte  noch  tief  be- 
nommen erscheinen.  Auch  ein  Wechsel  der  Tage  oder  Tages- 
zeiten (abendliche  Besserung)  in  dieser  Beziehung  ist  bisweilen  er- 
kennbar. Grosse  Ermüdbarkeit,  Yerwirrtwerden  bei  längeren  Unter- 
haltimgen  oder  beim  Brief  schreiben  überdauert  die  Rückkehr  der 
Besonnenheit  noch  längere  Zeit,  häufig  auch  ein  kindisch-klein- 
müthiges  oder  läppisch-barockes  Wesen. 

In  einer  Anzahl  von  Fällen  tritt  unter  starkem  Ansteigen  des 
Körpergewichtes  volle  Genesung  ein,  anscheinend  um  so  leichter,  je 
weniger  tief  die  Benommenheit  war.  Nicht  so  sehr  selten  aber  wird 
die  völlige  Wiederherstellung  der  geistigen  Gesundheit  nicht  erreicht. 
Die  Kranken  gewinnen  wol  die  Orientirung  allmählich  wieder,  aber 
es  stellt  sich  heraus,  dass  trotz  körperlicher  Erholung  die  psychische 
Leistungsfähigkeit  eine  dauernde  Einbusse  erlitten  hat.  Der  Grad  des 
zurückbleibenden  Schwachsinns  ist  ein  sehr  verschiedener.  Bisweilen 
dem  Femerstehenden  kaum  auffallend  und  nur  durch  den  Gegensatz  zu 
früheren  Zeiten  erkennbar,,  kann  er  in  anderen  Fällen  bis  zur  völligen 


272 


II.  Die  acuten  Erschöpfungszustände. 


Verblödung  fortschreiten.  Unfähig,  neue  Eindrücke  zu  assimiliren 
und  den  Erwerb  der  Vergangenheit  festzuhalten,  gemüthsstumpf  und 
willensschwach,  verfallen  die  Kranken  unrettbar  dem  geistigen  Tode. 
Von  körperlichen  Gefahren  droht  gerade  hier  vielfach  die  Ent- 
wickelung  der  Phthise. 

Die  häufigsten  Ursachen  der  acuten  Demenz  sind  schwere  er- 
schöpfende Einflüsse,  das  Puerperium,  acute  körperliche  Krankheiten, 
namentlich  Typhus,  Pocken,  Kopfrose,  anhaltende  körperliche  und 
geistige  Ueberanstrengung,  heftige  plötzliche  Gremüthserschütterungen 
(Schreck).  Die  erbliche  Veranlagung  zu  Geistesstörungen  scheint 
keine  sehr  überwiegende  Rolle  zu  spielen;  dagegen  macht  es  mir 
den  Eindruck,  als  ob  Mitglieder  phthisischer  FamRien  stärker  ge- 
fährdet seien.  Ohne  Zweifel  ist  die  Krankheit  häufiger  im  jugend- 
lichen Alter,  namentlich  während  und  kurz  nach  der  Pubertätszeit; 
ich  sah  mehrere  Fälle  an  übereitrige  Vorbereitung  zu  Schul- 
prüfungen sich  anschliessen.  Auch  der  Schwangerschaft  dürfte  eine 
gewisse  praedisponirende  Bedeutung  zukommen.  Wie  es  scheint, 
entwickelt  sich  die  manische  Form  vorzugsweise  nach  acut  ein- 
wirkenden Schädlichkeiten,  abgesehen  vom  Schreck,  der,  wie  die 
mehr  chronischen  Krankheitsursachen,  häufiger  die  stuporöse  Form 
erzeugen  dürfte. 

Es  ist  demnach  vielleicht  am  richtigsten,  die  Dementia  acuta 
einfach  als  einen  noch  über  die  Amentia  hinausgehenden, 
tiefer  greifenden  und  darum  langsamer  sich  wieder  aus- 
gleichenden Erschöpfungszustand  aufzufassen.  An  SteUe  der 
dort  noch  vielfach  überwiegenden  Reizerscheinungen  tritt  hier  mehr 
und  mehr  auf  dem  ganzen  Gebiete  des  psychischen  Lebens  die  Läh- 
mung. Daraus  würde  sich  ungezwungen  der  Formenreichthum  dieser 
Kjankheitsgruppe  erklären,  da  naturgemäss  die  verschiedenartigsten 
Verbindungen  der  Reiz-  und  Lähmungssymptome  auf  den  einzebien 
psychischen  Gebieten  möglich  sind.  Das  Collapsdeliriuni  und  die 
manisch  gefärbten  Fälle  der  Amentia,  wie  der  acuten  Demenz  zeigen 
uns  neben  den  überall  vorhandenen  motorischen  Reizerscheinungen 
schrittweise  das  Fortschreiten  der  Lähmung  im  Bereiche  der  übrigen 
psychischen  Functionen,  während  bei  den  stuporösen  Formen  auch 
auf  motorischem  Gebiete  von  vorn  herein  die  Lähmung  überwiegt. 
Das  Vorhandensein  der  manischen  Symptome  deutet  daher  auf  eine 
geringere  Intensität  der  Störung  hin,  und  in  der  That  sind  derartige 


Dementia  acuta. 


273 


Fälle  überall  prognostisch  günstiger.  Sie  sind  es  auch,  die  Avir  be- 
sonders bei  der  raschen  Einwirkung  äusserer  Ursachen  auf  rüstige 
Organisationen  entstehen  sehen,  während  die  langwierigen,  un- 
günstigen Erkrankungen  mit  vorwiegender  Lähmung  häufiger  auf 
dem  Boden  einer  erblich  oder  erworben  prädisponirten,  weniger 
widerstandsfähigen  Constitution  zu  erwachsen  scheinen. 

Als  Grundlage  der  acuten  Demenz  haben  wir  bei  der  Aus- 
gleichbarkeit  aller  Symptome  wol  zumeist  functioneUe  Störungen 
anzusehen.  Für  gewisse  Fälle  indessen,  namentlich  für  solche  nach 
Typhus  und  Variola,  lässt  sich  die  Annahme  gröberer  anato- 
mischer Veränderungen  in  der  Hirnrinde  kaum  von  der  Hand 
weisen.  Soviel  die  Untersuchung  bisher  gelehrt  hat,  sind  es  im 
Typhus  degenerative  Vorgänge  in  den  Ganglienzellen,  analog  den- 
jenigen in  anderen  Geweben,  welche  hier  vor  allem  eine  Eolle 
spielen  düi-ften.  Demgemäss  verlaufen  auch  die  Erkrankungen  nach 
Typhus  verhältnissmässig  oft  ungünstig.  Ich  sah  in  einem  der- 
artigen Falle  später  sich  noch  regelrechte  epileptische  Krämpfe  ent- 
wickeln. Emminghaus  hat  es  neuerdings  wahrscheinlich  gemacht, 
dass  auch  sonst  bei  der  acuten  Demenz  leichte  Veränderungen  an 
den  Nervenzellen,  „trübe  Schwellung"  derselben,  zur  Ausbildung 
kommen. 

Die  Unterscheidung  der  acuten  Demenz  von  der  Amentia 
stützt  sich  hauptsächlich  auf  die  schwere  Beeinträchtigung  der  intel- 
lectuellen  Vorgänge.  Da  es  sich  nach  unseren  obigen  Ausführungen 
in  beiden  Erankheitsprocessen  schliesslich  wol  nur  um  graduelle 
Unterschiede  handelt,  so  muss  es,  was  die  Erfahrung  bestätigt,  Ueber- 
gangsformen  geben.  Wichtig  ist  dabei  eigentlich  auch  nicht  die 
Diagnose,  sondern  die  Prognose,  für  deren  Beurtheilung  die  nöthigen 
Anhaltspunkte  bereits  gegeben  vrarden.  Vor  der  Verwechslung  roit 
der  Katatonie  schützt  che  Berücksichtigimg  der  Aetiologie,  des  körper- 
üchen  Zustandes  und  das  Pehlen  des  charakteristischen  Gesammtbildes 
trotz  vorübergehenden  Auftretens  einzelner  Symptome.  Namentlich 
andauernder  Negativismus  und  bizarre  Stereotypie  in  Haltung  und 
Bewegung  spricht  für  jene  Krankheit.  Gegenüber  der  MelanchoHa 
attonita  ist  der  Mangel  eines  einheithchen,  stark  hervortretenden  de- 
pressiven Affectes  zu  berücksichtigen.  Der  Uebergang  der  heilbaren 
in  die  unheilbare  Demenz  wird  durch  starkes  Ansteigen  des  Körper- 
gewichtes ohne  gleichzeitige  psychische  Besserung  angekündigt. 

Kraepolin,  Psychiatrie.    4.  Aull.  18 


274 


II.  Die  acuten  Erschöpfungszustände. 


Die  Behandlung  des  acuten  Schwachsinns  besteht  der  Haupt- 
sache" nach  in  einer  sorgfältigen  körperlichen  Pflege  zur  Er- 
haltung der  Kräfte  und  Beseitigung  der  bestehenden  Erschöpfung. 
Bettruhe,  Bäder,  Sorge  für  Keinlichkeit,  kräftige  Ernährung  (Milch, 
Kefir,  Eier,  Fleisch),  gute  Luft,  warme  Kleidung,  eventuell  auch  die 
Darreichung  medicamentöser  Koborantien  sind  hier  in  erster  Linie 
am  Platze.  Bei  stärkerer  Erregung  passen  namentlich  hydropathische 
Proceduren,  eventuell  der  Alkohol;  vor  dem  häufigeren  Gebrauche 
von  Schlafmitteln  ist  zu  warnen.  Den  Eeconvalescenten  hat  man 
mit  müheloser  Arbeit  zu  beschäftigen  und  auf  lange  Zeit  hinaus 
vor  geistiger  Ueberanstrengung  und  gemüthlichen  Erregungen  zu 
schützen;  gleichzeitig  wird  eine  gut  überwachte,  nie  bis  zur  Er- 
müdung fortgesetzte  körperliche  Gymnastik,  Spaziergänge,  Garten- 
arbeit, Turnen,  eventuell  auch  Massage  und  allgemeine  Faradisation, 
vortreffliche  Dienste  zu  leisten  im  Stande  sein. 


III.  Die  Manie.*) 

Mit  dem  ISTamen  der  Manie  bezeichnen  wir  eia  Kjanldieitsbild 
dessen  wesentliclie  Züge  Ideenfliicht,  rascher  Stimmungs- 
wechsel bei  vorwiegend  expansiver  Verstimmung  und  ein 
elementarer  Bewegungsdrang  darstellen.  Wir  begegTien  zwar 
dieser  ungemein  häufigen  Symptomenverbindung  gelegentlich  neben 
anderen  Erscheinungen  im  Verlaufe  der  verschiedensten  &ankheits- 
processe;  was  die  Manie  auszeichnet,  ist  der  Umstand,  dass  hier 
jene  Störungen  wälnend  der  ganzen  Dauer  der  Psychose  rein  und 
ohne  fremde  Begleitsymptome  die  Situation  beherrschen. 

Die  Entwickelung  der  Psychose  pflegt  bei  allen  schwereren 
und  länger  dauernden  Erki-ankungen  mit  einem  mehr  oder  weniger 
ausgesprochenen  Stadium  depressiver  Verstünmung  zu  beginnen, 
dessen  Dauer  von  einigen  Tagen  bis  zu  mehreren  Wochen  und 
selbst  Monaten  schwanken  kann.  Der  Kranke  wird  still,  in  sich 
gekehrt,  weint  häufig  immotivirt,  klagt  über  Kopfdruck,  Verdauungs- 
störungen, Beängstigung,  äussert  einzehae  vage  hypochondrische  oder 
Versündigimgsideen,  schläft  unruhig,  hat  schlechten  Appetit  und 
kommt  rasch  in  seiner  Ernährung  herimter.  Nach  einigen  Wochen 
scheint  sich,  bisweilen  ziemlich  plötzlich,  eine  Besserung  des  Zu- 
standes  einzustellen.  Die  depressive  Verstimmung  lässt  nach;  die 
Wahnideen  treten  zurück;  der  Kranke  fühlt  sich  befreit  und  er- 
leichtert, wird  lebhafter  und  zugänglicher.  Sehr  bald  indessen,  meist 
schon  nach  wenigen  Tagen,  wird  es  klar,  dass  dieser  Umschmmg 
immer  weiter  über  das  Mass  des  Normalen  hinausgreift.  Der  Kranke 
fängt  an,  viel  zu  erzählen,  verliert  aber  dabei  inmierfort  den  Faden; 
seine  Stimmung  ist  ausserordentlich  gehoben  und  schlägt  bei  kleinen 


*)  Mendel,  Die  Manie,  eine  Monographie.  1881. 

18* 


276 


in.  Die  Manie. 


Anlässen  leicht  in  heftige  Zornausbrüche  xim.  Zugleich  entvnckelt 
sich  eine  wachsende  motorische  Unruhe,  die  sich  in  unaufhörlichem 
Schwatzen,  Singen,  Schreien,  in  lebhaften  Gesticulationen,  Tanzen, 
Herumlaufen,  in  allerlei  unsinnigen  und  zwecklosen  Handlungen, 
nicht  selten  auch  in  rücksichtslos  gewaltsamem  Yorgehen  gegen  seine 
lebende  und  leblose  Umgebung  Luft  macht.  Auf  diese  Weise 
Avird  der  Kranke  sehr  bald  derartig  social  unmöglich,  dass  seine 
schleunigste  Yerbringung  in  einen  sicheren  G-ewahrsam  zu  erfolgen 
pflegt,  häufig  unter  Benutzung  mechanischer  Beschränkung. 

Mit  der  wachsenden  Unruhe  geht  rasch  die  Fähigkeit  zur  Auswahl 
und  Ordnung  der  äusseren  Eindrücke  verloren.  Der  Xranke  fasst 
Einzelheiten  zuaächst  ohne  erkennbare  Störung  auf,  aber  seine  Auf- 
merksamkeit schweift  sofort  auf  andere  Gegenstände  ab,  die  sich  ihm 
zufällig  darbieten.  Er  ist  gänzlich  ausser  Stande,  einem  verwickelten 
Yorgange  zu  folgen,  einen  längeren  Satz  zu  lesen,  sich  auf  irgend  eine 
geistige  Aufgabe  für  einige  Zeit  zu  concentriren.  Darum  bleibt  das 
Bild  seiner  Umgebung  für  ihn  auch  dann  unzusammenhängend  und 
lückenhaft,  wenn  eine  schwerere  Beeinträchtigung  des  "Wahrnehmungs- 
vorganges an  sich  gar  nicht  vorhanden  ist.  Es  muss  indessen  als 
sehr  wahrscheinlich  betrachtet  werden,  dass  die  centrale  Erregbar- 
keit für  äussere  Eindrücke  in  der  Manie  meistens  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  herabgesetzt  ist.  Dafür  spricht  namentlich  die  ganz 
aufPallende  Unempfindlichkeit  der  Kranken  gegen  Hitze  und  Kälte, 
Hunger  und  Durst,  Schmerzen  \md  Yerletzungen.  Sie  setzen  sich 
stundenlang  dem  glühendsten  Sonnenbrande  aus,  entkleiden  sich  bei 
Wintertemperatur,  vergessen  Essen  und  Trinken,  reissen  schonungs- 
los die  Yerbände  von  ihren  Wunden  und  misshandeln  ihre  kranken 
Körperteile  oder  gebrochenen  Glieder,  ohne  auch  nur  ein  Zeichen 
des  Unbehagens  zu  äussern. 

Zeitweise  auf  der  Höhe  der  Erkrankung  kann  es  direct  zur  Aus- 
bildung einer  Bewusstseinstrübung  mit  undeutlicher  und  vers- 
chwommener Auffassung  der  äusseren  Eindrücke  kommen,  welche  dem 
Auftreten  illusionärer  Yerfälschimgen  der  Wahi-nehmung  Yorschub 
leistet.  Namentlich  Personenverkennungen  sind  dann  nicht  selten; 
die  Aerzte  oder  Mitpatienten  werden  mit  den  Namen  von  Angehörigen 
oder  Nachbarn  begrüsst.  Ausgeprägtere  Sinnestäuschungen  gehören 
nicht  zum  Krankheitsbilde  der  Manie.  Nui-  ganz  vorübergehend 
scheinen  einzelne  Trugwahrnelunungen   mehr  unbestimmter  Art 


Psychische  Symptome. 


277 


Torziikommeu;  an  der  "Wand  ist  ein  Todtenkopf  erscliienen,  der 
Teufel  hat  zum  Fenster  hereingesehen  u.  Aehnl. 

Sehr  auffallend  sind  regelmässig  die  Störungen  des  Yorstellungs- 
verlauf  es.  Die  Kranken  vermögen  nicht,  einen  bestimmten  Gedanken- 
gang systematisch  zu  verfolgen,  sondern  sie  schweifen  immerfort  ab, 
springen  von  einer  Vorstellungsreihe  auf  eine  ganz  andere  über, 
um  auch  diese  sofort  wieder  fallen  zu  lassen.  Eine  beliebige  Frage 
wird  zunächst  vielleicht  ganz  richtig  beantwortet,  aber  es  knüpfen 
sich  daran  eine  Menge  von  Nebenbemerkungen,  die  nur  in  sehr 
lockerem  oder  bald  in  gar  keinem  Zusammenhange  mit  dem  Aus- 
gangspunkte mehr  stehen.  In  Folge  dieser  fortwährenden  Ein- 
schiebsel und  Zwischenfälle  sind  die  Kranken  ganz  ausser  Stande,  etwa 
allein  irgend  ein  verwickelteres  Erlebniss  zu  erzählen,  wenn  man  sie 
nicht  durch  consequente  Unterbrechungen  und  Zwischenfragen  immer 
von  Neuem  auf  den  angefangenen  Weg  zurückführt.  Der  Yorstellungs- 
verlauf  wird  somit  nicht  mehr,  wie  beim  Gesunden,  durch  eine  Ge- 
sammtvorstellung  beherrscht,  welche  zur  Zeit  nur  eine  bestimmte 
Eichtung  der  Gedankenverknüpfung  zulässt  und  alle  nebensächlichen 
und  zufälligen  Associationen  hemmt.  Mcht  die  von  dem  ganzen 
Zusammenhange  geforderten,  sondern  die  durch  allgemeine  Denk- 
gewohnheiten begünstigten  Vorstellungen  gewinnen  daher  in  jedem 
Augenblicke  die  Oberhand.  Zunächst  kommt  es  dabei  zum  Ab- 
schweifen von  einem  Gegenstande  auf  andere  ähnliche  oder  ge- 
wohnheitsmässig  damit  verbundene,  ohne  Kücksicht  auf  das  Ziel  des 
ursprüngüchen  Gedankenganges.  Weiterhin  beginnen  sich  dann 
jene  zahlreichen  stereotypen  Vorstellungsverbindungen  hier  aufzu- 
drängen, die  in  unseren  sprachlichen  Aeussenmgen  eine  so  grosse 
Eolle  spielen,  die  Wortzusammensetzungen,  Eeimniscenzen,  Citate, 
stehenden  Eedensarten.  EncUich  aber,  und  zwar  um  so  mehr,  je 
stärker  die  Störung,  drängen  sich  die  reinen  Klangassociationen  in 
den  Vordergrund,  bei  denen  jede  Spur  einer  inneren  Beziehung  der 
Vorstellungen  verschwunden  ist,  die  Wortanklänge,  Eeime,  Allite- 
rationen. Natürlich  geht  unter  diesen  Umständen  die  Ordnimg  und 
der  Zusammenhang  des  Denkens  vollständig  verloren;  es  entsteht 
jenes  Symptom,  Avelches  wir  als  ideenflüchtige  Verwirrtheit 
bezeichnen. 

Mcht  selten  werden  bei  maniakalischen  Kranken  äussere  Ein- 
drücke, namentlich  solche  aufdringlicher  Art,  in  das  ideenflüchtige 


278 


III.  Die  Manie. 


Peroriren  hineinverflochten  und  können  dann  den  Anstoss  zu  einer 
neuen  Wendung  des  zerfahrenen  Gedankenganges  geben.  Man 
hat  darin  bisweilen  das  Anzeichen  einer  gesteigerten  Empfänglich- 
keit für  äussere  Wahrnehmungen  erblickt.  In  Wirklichkeit  zeigt 
sich  indessen,  dass  die  Kranken  keineswegs  genau  beobachten, 
sich  vielmehr  um  die  Vorgänge  in  ihrer  Umgebung  oft  sehr  wenig 
kümmern.  Aber  Avenn  sie  etwas  bemerken,  so  geschieht  das  nicht 
ohne  Eeaction;  sie  fassen  ihre  Wahrnehmung  sogleich  in.  Worte 
und  sprechen  sie  aus,  weil  die  Auslösimg  von  Bewegungsvorgängen 
bei  ihnen  erleichtert  ist. 

Die  Stimmung  zeigt  ia  der  Manie  meist  den  expansiven  Cha- 
rakter, allein  sie  ist  durchaus  keiae  gleichmässige,  sondern  es  findet 
sich  regelmässig  ein  häufiger  und  rascher  Wechsel  der  Affecte,  ia 
dem  allerdings  die  Lustgefühle  meist  immer  wieder  die  Oberhand 
zu  gewinnen  und  so  dem  ganzen  Ki'ankheitsbilde  seine  eigenthüm- 
liche  Färbung  zu  verleihen  pflegen.  Mitten  m  den  Paroxysmus  der 
ausgelassensten  Heiterkeit  schiebt  sich  plötzlich  jäh  und  unvermittelt 
eiue  vorübergehende  traurige  Yerstimmung  mit  heftigem  Weinen  und 
Jammern,  die  [ebenso  rasch,  wie  sie  hereinbrach,  A\deder  in  den 
früheren  Zustand  übergeht.    Oder  aber  es  kommt  zu  episodischen 
lebhaften  Ausbrüchen  von  zorniger  Gereiztheit  mit  der  Neigung  zu 
Angriffen  auf  die  Umgebung,  'die  das  ganze  Ki-ankheitsbüd  so  sehr 
beherrschen  können,  dass  man  bisweilen  eine  eigene  Perm  der  Zorn- 
tobsucht  (Mania  furiosa)   aufgesteUt  hat.    Diese  Erfahrungen 
sprechen  mit  Sicherheit  dafür,  dass  der  Manie  nicht  sowol  ein  be- 
stimmter Affect,  als  vielmehr  die  gemüthliche  Erregbarkeit  über- 
haupt, die  Leichtigkeit  und  Easchheit  eigenthünilich  ist,  mit  der 
die  verschiedensten  Affecte  anwachsen  und  wieder  verschwinden. 
Yielfach  ist  der  Wechsel  derselben  durch  äussere  Anlässe,  die  Be- 
handlung des  Kranken  Seitens  der  Umgebimg,  zufällig  auftauchende 
Vorstellungen,  bisweilen  vielleicht  auch  durch  den  Contrast  bedingt 
In  engstem  Zusammenhange  mit  'der  Lebhaftigkeit  der  gemüth- 
Hchen  Keactionen  scheint  das  interessante  Symptom  der  manischen 
motorischen  Erregung,  des  Bewegungsdranges  zu  stehen.  Derselbe 
ist  nicht  durch  bestimmte  Vorstellungen  oder  Affecte  begründet, 
sondern  muss  ohne  Zweifel  als  Ausdruck  einer  elementaren  Störung, 
einer  hochgradigen  Erleichterung  der  centralen  Auslösung  von  Be- 
wegungen angesehen  werden.    Dafür  spricht  der  Umstand,  dass  der 


Psychische  Symptome. 


279 


Bewegirngsclraiig  ein  ganz  allgemeiner  ist.  Es  sind  nicht  einzelne 
zielbewusste  Handlungen,  welche  der  Kranke  ausführt;  die  moto- 
rischen Aeusserungen  lassen  überhaupt  keine  bestinmite-  Richtung 
erkennen,  sondern  der  ganze  muskuläre  Apparat  arbeitet  dauernd 
unter  einem  gewissen  Hochdruck,  wobei  in  buntem  Wechsel  bald 
dieses,  bald  jenes  Gebiet  stärker  in  Thätigkeit  versetzt  wird.  Der 
Kjranke  ist  in  steter  Unruhe,  kann  nicht  lange  still  sitzen  oder  liegen, 
geht  herum,  springt,  läuft,  tanzt.  Er  gesticulirt  lebhaft,  klatscht  in 
die  Hände,  schneidet  Grimmassen,  schmiert  und  wischt  am  Boden, 
an  den  "Wänden  und  Fenstern  herum,  poltert  und  trommelt  an  der 
Thür,  entkleidet  sich,  zerschlitzt  seinen  Anzug  in  schmale  Streifen, 
um  sie  hundertfältig  verknotet  und  verschlungen  zu  phantastischen 
Drapinmgen  zu  benutzen.  Ebenso  werden  von  dem  Kranken  auch 
andere  irgend  erreichbare  Gegenstände  gern  in  ihre  Bestandtheile  zer- 
legt, um  aus  ihnen  neue  Gebilde  verschiedener  Art  zusammenzusetzen, 
wie  es  ihm  just  die  productive  Phantasie  des  Augen,blicks  ein- 
giebt.  Was  ihm  in  die  Hände  fällt,  Steine,  Holzstückchen,  Glas- 
scherben, Nägel  sammelt  er  auf,  um  mit  ihrer  Hülfe  Wände, 
Möbel,  Fenster  zu  zerkratzen  und  kreuz  imd  quer  mit  Malereien 
oder  Schriftzeichen  zu  bedecken.  Nicht  selten  dienen  ihm  dabei 
in  Ennangelung  anderer  Materialien  auch  die  eigenen  Secrete 
und  Excremente.  Die  sexuelle  En-egung  macht  sich  in  unfläthigen 
Reden  und  in  schamlosem  Onaniren,  beim  weiblichen  Geschlechte 
auch  im  Auflösen  der  Haare,  Salben  mit  Speichel,  häufigem  Aus- 
spucken, Schimpfen  in  obscönen  Ausdrücken,  namentlich  geschlecht- 
lichen Yerdächtigungen  des  Wartpersonals  Luft. 

Trotz  der  hochgradigsten  motorischen  Erregning,  die  bisweüen 
Wochen,  ja  viele  Monate  lang  mit  geringen  Unterbrechungen  in 
vollster  Intensität  fortdauert,  fehlt  dem  Kranken  das  Ermüdungs- 
gefühl vollständig.  Er  ist  nicht  matt  und  abgespannt;  der  Verbraucli 
der  Muskelsubstanz  erzeugt  keine  Unlustempfindung,  zum  Theü  wegen 
der  früher  besprochenen  Abstumpfung  seiner  Empfindlichkeit,  nament- 
lich aber  wegen  der  Leichtigkeit,  mit  welcher  die  centrale  Auslösimg 
seiner  Bewegungen  von  Statten  geht.  Bei  ihm  genügt  schon  der 
leiseste  Impuls,  den  Anstoss  zu  ausgiebigen  motorischen  Reactionen  zu 
geben,  während  der  Gesunde  zur  Erzielung  des  gleichen  Erfolges  eines 
unvergleichlich  gi"össeren  Aufwandes  von  centi'aler  Arbeitsleistung  be- 
dürfen würde.   Danmi  muss  auch  eine  Simulation  dieses  Zustandes 


280 


in.  Die  Manie. 


nothwendig  nach  sehr  kurzer  Zeit  an  der  ünmögliclikeit  scheitern, 
das  lähmende  Ermüdungsgefühl  durch  die  blosse  Willensanstrengung 
zu  überwinden.  Mit  der  gesteigerten  centralen  motorischen  Erreg- 
barkeit hiiiigt  endlich  auch  die  explosionsartige  Heftigkeit  und  Kück- 
sichtslosigkeit  der  Bewegungen-  zusammen,  welche  zu  der  verbreiteten 
imrichtigen  Anschammg  geführt  hat,  dass  die  Ki-anken  über  ausser- 
gewöhnliche  Körperkräfte  yerfügen. 

In  den  sprachlichen  Aeusserimgen  des  Kranken  macht?sich  die 
Ideenflucht  und  der  Bewegungsdrang  gleichzeitig  geltend.  Er  kann 
nicht  lange  still  schweigen,  perorirt  mit '^erhobener  Stimme,  siagt, 
johlt,  pfeift,  reiht  zusammenhangslose  Sätze,  Worte,  Silben  aneinander, 
vom  pathetisch-Declamatorischen  ganz  unvermittelt  ins  humoristisch- 
Gremüthliche,  Drohende,  Weinerliche  verfallend  oder  plötzlich  in  aus- 
gelassenem Lachen  endigend.  [Die  eigenthümliche  Abgebrochenheit 
und  Zerfahrenheit  dieser  ideenflüchtigen  Aeusserungen  in  Yerbindung 
mit  dem  deutlichen  Eededrange  können  den  Anschein  erwecken,  als 
ob  der  Yorstellungsverlauf  in  der  Manie  ein  beschleunigter  sei. 
Man  nimmt  gewöhnlich  an,  dass  jene  Zusamanenhangslosigkeit  wesent- 
lich durch  das  Ausfallen  ganzer  Gedankenreihen  bedingt  sei 
welche  schneller  auf  einander  folgen,  als  die  Sprachorgane  sie  aus- 
drücken können.  Genauere  Untersuchungen  haben  mir  gezeigt,  dass 
diese  Ansicht  zum  mindesten  nicht  beweisbar,  wahrscheinlich  sogar 
falsch  ist. 

Es  gelingt  nämlich  ohne  Schwierigkeit,  auch  beim  gesunden 
Menschen  deutliche  Erscheinungen  von  Ideenflucht  zu  erzeugen,  z.  B. 
durch  kleine  Alkoholgaben  oder  noch  stärker  durch  hochgradige  Ermü- 
dung. Hier  lässt  sich  zeigen,  dass  keineswegs  unausgesprochene  associa- 
tive  Bindeglieder  zwischen  den  ganz  sinnlos  aneinander  geknüpften 
Vorstellimgen  bestehen,  und  dass  der  Associationsvorgang  thatsächlich 
sehr  beträchtlich  verlangsamt  ist.  Erleichtert  und  beschleunigt  ist  da- 
gegen in  beiden|Fällen  die  Umsetzung  centraler  Erregungszustände 
in  Sprachbewegungen. ^Es  scheint  daher,  dass  Ideenflucht  dann  zu 
Stande  konnnen  kann,  wenn  der  geistige  Inhalt  unserer  Gedanken 
zurücktritt  gegenüber  jenen  motorischen  Elementen,  welche  aus  den 
sprachlichen  Benennungen  entspringen.  So  wenigstens  würde  sich 
auch  das  Fehlen  einer  inhaltlichen  Einheit*  der  Gedankeni-eihen  er- 
klären, während  der  äussere,  lautliehe  Zusammenhang  oft  so  sehr  in 
den  Vordergrund  tritt.  Der  Ideenflüchtige  schwatzt  nach  dieser  Auf- 


Verlauf. 


281 


fassimg-  imsinnig,  weil  die  Verbindung  der  Vorstellungen  nach  ihren 
inneren  Beziehungen  bei  ihm  erschwert  ist,  Aveil  seine  Associationen 
wesentlich  dui'ch  die  motorischen  SprachvorsteUungen  beeinfLusst 
werden,  und  weil  der  erste  beste  in  ihm  aufsteigende  Impuls  ihm 
sogleich  zum  "Worte  wird.  Thatsäcliüch  lehrt  auch  die  Beobachtung 
maniakalischer  ICranker,  dass  sie  keineswegs  ideenreich,  sondern  nur 
wortreich  sind  und  sich  häufig  ganz  stereotyp  wiederholen.  Sie 
schwatzen  zwar  viel,  laut,  erregt  imd  selbstbewusst,  aber  der  Inhalt  ihrer 
Reden  ist  sein-  dürftig  und  spricht  entschieden  nicht  für  eine  erhöhte 
Productivität.  Auch  die  gelegentlichen  "Witze  solcher  Kranker  sind  fast 
immer  einfache  Wortspiele,  wie  sie  eben  durch  die  Neigung  zu  Klang- 
associationen  hervorgerufen  werden.  Ebensowenig  haben  euphorische 
Aeusserungen  der  Kranken  über  ihi-e  erhöhte  geistige  Leistungsfähig- 
keit irgendwelche  Beweiskraft;  wir  wissen,  dass  sich  die  (gleiche 
Selbsttäuschung,  wahrscheinlich  wegen  der  erleichterten  Auslösung 
von  SprachvorsteUungen,  im  Alkoholrausche  entwickelt,  obgleich  sich 
hier  die  objective  Verlangsamung  der  Gredankenarbeit  deutlich  aus- 
messen lässt. 

Der  Schlaf  ist  in  der  Manie  stets  sehr  erheblich  gestört.  Bei 
grösserer  Intensität  der  Erregung  besteht  sogar  oft  völlige,  höchstens 
auf  eine  oder  wenige  Stimden  unterbrochene  Schlaflosigkeit, '  die  zu- 
weilen Wochen,  selbst  Monate  lang  fortdauert.  Der  Appetit  ist  ge- 
steigert, bisweilen  sehr  bedeutend,  aber  die  stete  Um-uhe  lässt  den 
Kranken  oft  nicht  zur  regelmässigen  Nahnmgsaufnahme  kommen. 
Die  Ernährung  pflegt  im  Lauf e  der  Erkrankung  schnell  zu  sinken; 
das  Körpergewicht  zeigt  immer  eine  beträchtliche  Abnahme.  Die 
Temperatur  ist  normal  oder  hochnormal,  besonders  bei  anhaltender 
Muskelerregung,  der  Puls  etwas  beschleunigt.  Im  Harn  fand  Mendel 
eiae  auffallende  Abnahme  des  Phosphorsäuregehaltes. 

Der  Verlauf  der  Manie  ist  ein  so  verscliiedener,  dass  es  schwer 
fällt,  an  die  Einheitlichkeit  des  bisher  geltenden  Krankheitsbildes  zu 
glauben.  Ich  möchte  mich  indessen  hier  darauf  beschi-änken, 
leichtere  und  schwerere  Fonnen  auseinanderzuhalten.  Die  ersteren 
entwickeln  sich  rasch,  nach  sehr  kurzem  oder  ohne  jedes  Vor- 
läuferstadium. Wähi-end  die  Krankheitserscheinungen  einige  Wochen 
oder  Monate  in  massiger  Stärke  fortdauern,  bleiben  die  Kranken 
orientirt  über  ihre  Umgebung  und  sind  jederzeit  zu  fixii-en.  Ge- 
legentliche Grössenideen  oder  Personenverkennungen  werden  höch- 


282 


in.  Die  Manie. 


stens  in  der  Art  übemiüthiger  Scherze  vorgebracht.  Immer  zeigt  der 
Zustand  grosse  Schwankungen,  vorübergehende  heftigere  Erregungs- 
ansbrüche oder  auch  ganz  plötzliche  Nachlässe,  die  jedoch  niemals 
von  Dauer  sind.  Die  endgültige  Beruhigung  stellt  sich  stets  ganz 
allmählich  ein,  indem  die  Kemissionen  tiefer  und  länger  ausfallen. 
Der  Eintritt  in  die  volle  Genesung  vollzieht  sich  durch  ein  Stadium 
leicht  manischer  Verstimmung  hindurch,  in  welchem  namentlich  die 
gemüthliche  Keizbarkeit  und  das  gehobene  Selbstgefühl  noch  wochen- 
lang deutlich  zu  sein  pflegen,  nachdem  die  Ideenflucht  und  der 
eigentliche  Bewegungsdrang  völlig  geschminden  [sind.  Diese  Fälle 
bilden  in  der  Praxis  bei  Weitem  die  Mehrzahl;  sie  fühi-en  sänunt- 
lich  zur  Heilung  und  haben  der  Manie  den  Kuf  der  prognostisch 
günstigsten  Psychose  verschafft. 

Die  schwere  Form  der  Manie  beginnt  regelmässig  mit  einer 
ausgesprochenen,  länger  dauernden  Ipsychischen  Depression,  aus 
welcher  der  Umschlag  in  der  früher  geschilderten  "Weise  erfolgt 
Die  Krankheitserscheinungen  sind  äusserst  stürnüsche,  Desorientirt- 
heit,  Personenverkennung,  hochgradige  ideenflüchtige  YerwiiTtheit, 
triebartige  motorische  Erregung,  fast  völlige  Schlaflosigkeit,  rapides 
Sinken  der  Ernährung. 

Mit  geringen  Schwankungen  können  diese  Symptome  'in  un- 
verminderter Heftigkeit  8—10  Monate,  selbst  über  ein  Jahr  andauern, 
so  dass  es  kaum  begreiflich  erscheint,  wie  der  Organismus  eine  so 
gewaltige  Erschütterung  erträgt.  Endlich  macht  sich  ganz  langsam 
eine  Abnahme  der  Erscheinungen  ^ geltend,  immer  mit  vielfachen 
plötzlichen  Rückfällen.  Die  Kranken  werden  klarer  über  ihre  Um- 
gebung, zugänglicher,  aufmerksamer,  gerathen  aber  sehr  leicht  wieder 
in  die  frühere  Ideenflucht  hinein.  Regelmässig  tritt  nun  eine  deut- 
liche psychische  Schwäche  hervor,  Urtheilslosigkeit,  Gleichgültigkeit, 
Energielosigkeit.  Mit  ;den  letzten  Andeutimgen  der  überstandenen 
Krankheit,  der  Zusanmienhangslosigkeit,  der  Euphorie,  dem  unver- 
mittelten Stimmungswechsel,  der  Geschwätzigkeit  und  der  Unruhe 
setzen  sich  jene  Erscheinungen  der  Schwäche  zu  einem  eigenthüm- 
nchen  Krankheitsbüde  zusammen,  Avelches  man  mit  dem  Namen  der 
„Moria"  bezeichnet  hat.  Wo  dagegen  die  manischen  Symptome  sich 
rascher  verlieren,  pflegt  der  Zustand  grosse  Aehnlichkeit  mit  dem- 
jenigen der  leichteren  Grade  acuter  Demenz  darzubieten.  Die  Kranken 
sind  äusserst  leicht  ermüdbar,  unfähig  zu  jeder  geistigen  oder  körper- 


Ausgänge. 


283 


liehen  Ansti-engimg,  meist  deprimirt,  besorgt  wegen  ihrer  Zukunft^ 
einsilbig,  schwerfällig,  unentschlossen. 

Im  Aveiteren  Verlaufe  können  sich  diese  Anzeichen  der  Er- 
schöpfung unter  beü'ächtlichem  Steigen  des  Körpergewichtes  nach  und 
nach  wieder  verlieren,  so  dass  nach  etwa  einjähriger  Dauer  der  Krank- 
heit der  normale  Gleichgewichtszustand  wieder  erreicht  ist.  Pi-eilich 
bleibt  nicht  selten  eine  geringe  Abnahme  der  geistigen  Leistimgsfähig- 
keit und  namentlich  der  gemütlilichen  "Widerstandsfähigkeit  (Reiz- 
barkeit, Bestimmbarkeit)  dauernd  zurück.  Sehl-  häufig  indessen  wird 
bei  dieser  Form  der  Ausgang  in  relative  oder  volle  Genesung  über- 
haupt nicht  erreicht.  Das  Bild  der  Moria  bleibt  hier  stationär,  ein 
Zeichen  dafür,  dass  der  Organismus  nicht  mehi'  im  Stande  ist,  die 
manischen  Störungen  wieder  auszugleichen.  Dabei  gewinnt  dasselbe 
immer  deutlicher  die  Züge  des  unheilbaren  Schwächezustandes,  der 
geistigen  Invalidität.  Die  IdeenQncht  wii-d  zum  verworrenen  Gefasel, 
die  Affecte  werden  oberflächlich  mit  schwachsinnig  euphorischer  Fär- 
bung, der  Bewegungsdrang  ermässigt  sich  zu  läppischem  Grimmas- 
siren. So  kann  es  durch  Jahre  und  Jahrzehnte  gleichmässig 
fortbestehen;  meist  aber  lässt  sich  ein  allniähliches  Yerblassen  der 
manischen  Andeutungen  und  eine  langsame  Zunahme  des  geistigen 
Verfalles  beobachten. 

Der  Ausgang  in  Tod  ist  bei  der  Manie  nicht  sehr  häufig.  Der- 
selbe kann  dui'ch  verschiedenartige  iutercurrente  Erki-ankimgen, 
durch  einfache  Erschöpfung  (Collaps),  durch  Verletzungen  und  durch 
FettemboHen  der  Lungen  in  Folge  von  ausgedehnten  Zerquetschungen 
oder  Vereiterungen  des  UnterhautzeUgewebes  herbeigeführt  werden. 
Sehr  fetti'eiche  Individuen  mit  ungenügender  Leistimgsfähigkeit  des- 
Herzmuskels sind  in  der  schweren  Form  der  Manie  entschieden  ge- 
fährdet. 

Die  pathologische  Anatomie  der  Manie  hat  bisher  keinerlei 
gesicherte  und  constante  Befunde  aufzuweisen.  Auf  die  häufig  be- 
richtete Hyperaemie  des  Hirns  imd  seiner  Häute  ist  wegen  der  be- 
kannten FelilerqueUen,  welche  der  Beurtheüung  von  Blutfüllungen 
an  der  Leiche  anhaften,  kein  zu  grosses  Gewicht  zu  legen.  Die 
Theorie  der  Manie  entbehrt  daher  fiir  jetzt  wenigstens  leider  gänz- 
lich der  somatischen  Gnmdlage.  Aus  dem  Ki-ankheitsbilde  selber 
lässt  sich  nur  schHessen,  dass  die  centrale  motorische  Erregbarkeit 
beträchtlich  erhöht  ist,  während  die  sensorische  und  intellectueUe 


284 


III.  Die  Manie. 


Leistungsfähigkeit  in  höherem  oder  geringerem  Grade  herabgesetzt 
erscheint.  Das  wäre  ein  ähnliches  Yerhalten,  wie  im  ersten  Stadium 
eines  leichten  Alkoholrausches.  In  der  That  werden  die  Kranken 
von  Xlnkundigen  zunächst  nicht  selten  für  angetrunken  gehalten. 
Allerdings  ist  die  motorische  Erregung  stets  eine  relativ  'sehr  viel 
stärkere,  als  in  der  Alkoholwirkung. 

Die  Manie  hat  das  eigenthümliche  Schicksal  gehabt,  früher  für 
eine  der  häufigsten,  jetzt  aber  für  eine  der  seltensten  psycliischen 
Erkrankungen  gehalten  zu  werden.  Der  Grund  dafür  liegt  natürlich  in 
einer  verschieden  weiten  Abgrenzung  des  Krankheitsbildes.  Ur- 
sprünglich umfasste  dasselbe  noch  das  Collapsdelirium,  einen  grossen 
Theil  der  Amentia,  die  manische  Eorm  des  acuten  Schwachsinnes,  ja 
auch  wol  manche  Aufregungszustände  der  Paralytiker,  deren  recht- 
zeitige Erkennung  oft  schwierig  ist.  Nach  sorgfältiger  Ausscheidung 
aller  dieser  ihrem  "Wesen  nach  sicher  andersartigen  Krankheitsformen 
schrumpft  das  Gebiet  der  Manie  erheblich  zusammen.  Aber  auch  jetzt 
noch  lehrt  uns  die  fortschreitende  klinische  Erfahrung,  dass  viele  an- 
scheinend klassische  Fälle  von  Manie  nur  die  Einleitung  oder  einen 
Abschnitt  des  periodischen  oder  circulären  Irreseins  bilden.  Nament- 
lich die  sehr  rasch  und  günstig  verlaufenden  Erkrankungen  sind  in 
dieser  Beziehung  verdächtig.  Ich  möchte  sagen,  dass  man  bei  einer 
reinen  Manie  jenseits  der  dreissiger  Jahre  fast  immer  von  einem 
früheren  ähnlichen  Anfall  zu  Ende  des  zweiten  oder  zu  Anfang  des 
dritten  Decenniums  hören  wird,  auch  wenn  es  sich  nicht  um  eine  perio- 
dische oder  circuläre  Psychose  im  engeren  Sinne  handelt.  Wer  über- 
haupt manisch  erkrankt,  thut  dies  fast  immer  im  jugendlichen  Lebens- 
alter; sehr  häufig,  wenn  auch  nicht  regelmässig,  ^äederholt  sich  dann 
die  Ki-ankheit  noch  das  eine  oder  andere  Mal.  Man  könnte  daher 
nicht  ohne  eine  gewisse  Berechtigung  die  paradoxe  Behauptung  auf- 
stellen, dass  die  Manie  ihrem  Wesen  nach  eine  periodische  Er- 
krankung ist,  und  dass  die  seltenen,  ganz  isolirten  Anfälle  in  ähn- 
lichem Sinne  als  rudimentär  betiachtet  werden  müssten,  wie  wir 
etwa  das  Delirium  transitorium  als  die  einmalige  explosive  Aeusser- 
ung  einer  epileptischen  Constitution  betrachten  können.  Dafür  würde 
■der  -Umstand  sprechen,  dass  {bei  solchen  Ki-aiiken  nicht  selten  das 
gelegentliche  Vorkormnen  ganz  leichter,  rasch  verlaufender  manischer 
Aufregungszustände  berichtet  wird,  deren  ki-ankhafte  Natur  erst  durch 
den  Einti-itt  des  schwereren  Anfalls  klar  wird. 


Diagnose. 


285 


Mit  dieser  Auffassimg  würde  weiterhin  die  Beobachtung  in  einer 
gewissen  Uebereinstimmung  stehen,  dass  die  Ursachen  der  Manie 
wesentlich  constitutionelle  zu  sein  scheinen.  Zwar  werden  eine 
Keihe  von  Einflüssen,  unter  denen  acute  Erkrankungen,  das  Puer- 
perium, lebhafte  Affecte  und  Excesse  besonders  zu  nennen  sind,  für 
den  Ausbruch  der  Krankheit  im  einzelnen  Falle  verantwortlich  ge- 
macht, aber  sehr  häufig  ist  ein  äusserer  Anlass  überhaupt  nicht 
nachweisbar.  Die  erbliche  oder  erworbene  Praedisposition  dürfte 
hier  schon  die  Hauptrolle  spielen,  {während  jene  Schädlichkeiten 
mehr  als  auslösende  Ursachen  zu  betrachten  sind.  Dafür  spricht 
einerseits  die  Thatsache,  dass  bei  Schwachsinnigen  vorübergehende 
manische  En-egamgszustände  ungemein  häufig  sind.  Sodann  aber  ist 
auch  die  Eegelmässigkeit  beachtensAverth,  mit  welcher  der  erste  oder 
nach  Umständen  einzige  Anfall  von  Manie  sich  gerade  zwischen  dem 
18.  und  25.  Lebensjahre  einzustellen  pflegt.  Dieses  Alter  ist  es,  in 
welchem  nach  Ausweis  der  Criminalpsychologie  schon  beim  gesunden 
Menschen  die  Neigung  zu  rücksichtslosen,  unbesonnenen  Gewaltthätig- 
keiten  und  selbstgefälliger  Grrosssprecherei  am  stärksten  entwickelt  ist. 

Die  schweren  Formen  der  Manie  zeigen  eine  entschiedene  Yer- 
wandtschaft  mit  der  Amentia,  so  dass  man  geneigt  sein  könnte,  auch 
von  dieser  Seite  her  das  Grebiet  der  Krankheit  einzuschi'änken.  Die 
Yerschiedenheit  der  ätiologischen  Yerhältnisse  indessen,  das  aus- 
geprägte Yorstadium  der  Manie,  das  gänzliche  Zurücktreten  der 
HaUucinationen  bei  starker  Ausbildung  der  besonderen  manischen 
Symptome,  die  lange,  unveränderte  Fortdauer  des  gleichen  Zustandes, 
die  ungünstigere  Prognose,  die  Yerschiedenheit  der  Endstadien  sind 
Anhaltspunkte,  welche  einstweilen  praktisch  und  theoretisch  die  Ab- 
trennung der  beiden  Krankheitsbilder  von  einander  gestatten.  Die 
paralytischen  Aufregungszustände  zeigen  oft  den  manischen  Sym- 
ptomencomplex  in  vorzüglicher  Ausbildung;  in  diagnostischer  Be- 
ziehung kommt  das  lange  Yorbereitungsstadium  der  Paralytiker,  der 
Nachweis  nervöser  Symptome,  insbesondere  von  Sprach-  oder  Pupülen- 
störungen,  das  Auftieten  absurder  Grössenideen,  endlich  auch  etwas 
das  Lebensalter  und  das  Geschlecht  der  Kranken  in  Betracht.  Das 
Auftreten  manischer  Erscheinungen  bei  einem  Manne  zwischen  30 
und  50  Jahren  muss  immer  den  starken  Yerdacht  der  Paralyse  er- 
wecken, wenn  nicht  etwa  vor  längeren  Jahren  ein  ähnlicher  Anfall 
vorausgegangen  ist. 


286 


III.  Die  Manie. 


Die  Behandlung  der  Manie  hat  vor  Allem  die  Abhaltung 
•äusserer  Eeize,  dann  aber  die  Herabsetzung  der  psycliischen  Erreg- 
barkeit ins  Auge  zu  fassen.  Zu  diesem  Zwecke  ist  die  Ueberfiihi-ung 
des  ohnedies  sehr  störenden  Kranken  in  die  Anstalt  dringend  ge- 
boten. Oft  genügt  schon  diese  Massregel,  um  alsbald  einen  Nach- 
lass  der  Krankheitserscheinungen  herbeizuführen.  In  der  Anstalt 
ist  vor  Allem  ein  Yersuch  mit  der  Bettlagerung  unter  dauernder 
TJeberwachung  zu  machen,  deren  Durcbführung  besonders  bei  sehr- 
.schwachen  und  blutleeren  Kranken  dringend  angezeigt  ist  (eventuell 
Bettstellen  mit  hohen,  gepolsterten  Seitenwänden  oder  niediiges 
Lager  auf  dem  init  Matratzen  bedeckten  Boden).  Kräftige,  sehr 
A\äder  streb  ende  und  gewaltthätige  Kranke  wird  man  nicht  immer  im 
Bett  halten  können ;  man  gebe  ihnen  viel  Eaum  und  bringe  sie  so 
lange  wie  möglich  ins  Freie,  in  den  Garten;  Isolirungen  sollten  nur 
ganz  vorübergehend,  im  äussersten  ISTothfalle  und  zum  Schutze 
anderer  Kranker  vorgenommen  und  stets  baldigst  durch  andere 
Massregeln  ersetzt  Averden.  Namentlich  sind  verlängerte  laue 
oder  warme  Bäder  zu  empfehlen,  die  man  passend  mit  kalter 
Berieselung  oder  Eisumschlägen  auf  den  Kopf  verbindet.  "Wo 
Hirnanaemie  und  die  Grefahr  eiaes  Collapses  besteht,  zieht  man 
Stimulanti  en,  namentlich  Alkoholica  (Grog,  Glühwein,  Champagner), 
auch  Campher,  Moschus,  Aether,  letztere  allerdings  mit  meist  nur 
ganz  momentanem  Erfolge,  in  Anwendung;  gleichzeitige  Herz- 
schwäche indicir-t  vorsichtige  Gaben  von  Digitalis.  Gegen  die  sexuelle 
Erregung  wird  Bromkalium  empfohlen.  Bei  andauernder  hoch- 
gradiger Schlaflosigkeit  wird  man  die  Hypnotica,  eventuell  das 
Hyoscin,  nicht  immer  umgehen  können.  Füi-  die  Behandlung  sehr- 
schleppend  verlaufender  Manien  ist  neuerdings  von  Jelly  das  Opium 
empfohlen  worden. 

Yen  der  grössten  "Wichtigkeit  ist  natürlich  auch  hier  Avieder 
die  Sorge  für  eine  ausreichende  Ernährung  und  für  die  hygie- 
nischen Bedürfnisse.  Auf  der  Höhe  der  Erregimg  gestattet  die 
Terwirrtheit  oft  den  Kranken  keine  regelmässige  Aufnahme  copiöser 
Mahlzeiten,  doch  gelingt  es  mit  Geduld  und  immer  wiederholtem 
Anbieten,  AbAvarten  des  günstigen  Augenblickes,  stets  zum  Ziele  zu 
kommen;  besonders  ist  auch  auf  die  genügende  Zufuhi"  von  Flüssig- 
keiten zu  achten.  Gute  Erwärmung  der  Zimmer  Avird  Avegen  der 
Neigung  zur  Entkleidung  nothwendig.    Gegen  die  "CJnreinlichkeit 


Behandlung. 


287 


schützt  nm-  eine  sorgfältige  Beaufsichtigung,  die  einerseits  dem 
Kranken  recht  oft  Grelegenheit  zur-  Befiiedigung  seiner  Bedüi'fnisse 
verschafft,  andererseits  aber  jede  geschehene  Verunreinigung  sofort 
beseitigt.  Yernachlässigning  dieser  Eegeln  erzeugt,  namentlich  bei 
länger  dauernder  IsoHrung,  leicht  die  höchst  unangenehme  und  oft 
schwer  zu  beseitigende  Unsitte  des  Schnüerens. 

Die  Bekämpfung  der  Erschöpfungszustände  folgt  den  schon 
fi-üher  ausführlich  mitgetheilten  Kegeln.  In  der  Eeconvalescenz 
ist  es  hauptsächlich  wieder  die  Beschaffung  einer  passenden  Be- 
schäftigung, welche  zui-  Ablenkung  der  noch  bestehenden  psychischen 
Erregimg,  wie  zur  Am-egiing  der  neu  erwachenden  gesunden  Inter- 
essen dient.  Vermeidung  von  Excessen  und  gemüthlichen  Erschüt- 
terungen ist  von  besonderer  Wichtigkeit,  da  diese  Momente  die 
häufigsten  Gelegenheitsm-sachen  von  Rückfällen  darstellen. 

Die  psychische  Behandlung  des  Tobsüchtigen  hat  vor  Allem 
auf  die  Eeizbarkeit  desselben  Rücksicht  zu  nehmen.  Ruhige  Ereund- 
lichkeit,  im  geeigneten  Momente  mehr  scherzhaftes  Eingehen  auf 
die  heitere  Stimmung  desselben,  vorsichtiges,  geduldiges  Laviren 
erleichtern  den  Verkehr  imgemein  und  machen  oft  den  in  un- 
geschickten Händen  recht  gefährlichen  und  vnderspenstigen  Eä-anken 
lenksam  und  gutmüthig.  In  der  Reconvalescenz  ist  es  häufig  sehi- 
schwer,  eine  vorzeitige  Entlassung  des  noch,  immer  erregten,  sich 
gesund  fühlenden  Kranken  zu  verhüten,  besonders  wenn  auch  die 
Angehörigen  desselben  keine  klare  Einsicht  in  den  krankhaften  Zu- 
stand besitzen.  Sind  die  häuslichen  Verhältnisse  günstig,  so  kann 
hier  eher  ein  Entlassungsversuch  gewagt  werden,  als  bei  den  selbst- 
mordsüchtigen Melancholikern;  im  andern  Falle  muss  man  hoffen, 
das  unbeiri'te  Hinausschieben  dieses  Termins  nach  erfolgter  völliger 
Genesung  Seitens  des  Ki-anken  selbst  gebilligt  zu  sehen. 


IV.  Die  Melancliolie .*) 


Den  gemeinsamen  Grundzug  derjenigen  psychischen  Erkrank- 
ungen, welche  wir  unter  der  Bezeichnung  der  Melancholie  zu- 
sammenfassen, bildet  die  Beherrschung  des  Stimmungshintergrundes 
durch  einen  depressiven  Affect,  aus  welchem  ganz  einfache  Ver- 
sündigungs-,  bisweilen  auch  Verfolgungsideen  ohne  ausgeprägtere 
Sinnestäuschungen  hervorwachsen.  Die  besondere  Färbung  und 
Ausbildung  jenes  Affectes  gestattet  die  Unterscheidung  mehrerer 
verschiedener  Formen,  von  denen  die  Melancholia  simplex,  die 
Melancholia  activa  und  die  Melancholia  attonita  am  besten 
charakterisirt  erscheinen. 


A.  Melancholia  simplex. 

Die  einfachsten  Formen  der  Melancholie  sind  gekennzeichnet 
durch  die  allmähliche  Entwickelung  einer  unmotivirten 
traurigen  Verstimmung  mit  vagen  Beängstigungen  und 
Selbstvorwürfen  bei  völliger  Besonnenheit  und  [ausge- 
prägtem Krankheitsgefühl.  Die  Psychose  beginnt  vielfach  mit 
unbestimmten  körperlichen  Beschwerden,  Kopfschmerzen,  Schlaf- 
losigkeit, Appetitiosigkeit,  Mattigkeit,  Herzklopfen,  Ohi-ensausen. 
Trübe  Gedanken  steigen  auf,  Sorgen,  Befürchtungen,  Zweifel,  Selbst- 
quälereien.  Die  Kranken  fühlen  sich  'elend,  niedergeschlagen,  un- 
lustig, gerathen  leicht  ins  "Weinen,  haben  keine  rechte  Freude  melu-, 
verlieren  das  Interesse  an  ihrer  Thätigkeit,  vernachlässigen  ihre  Ob- 
liegenheiten und  vermögen  nur  mit  grösster  Mühe  vorübergehend 


*)  V.  Krafft-Ebing,  Die  Melancholie.   1874;    ;Voisin,  de  [la  melan- 
colie.  1881. 


Melautiholia  simplex. 


289 


die  Neigung  zu  düsteren  Grübeleien  znrtickzudr.ängen.  Freilich 
schieben  sich  regeknässig  dazwischen  einzelne  freiere  Tage  oder 
Stunden  ein,  in  denen  die  Depression  nachlässt  und  die  gesunden 
Kegungen  wieder  die  Oberhand  gewinnen,  aber  diese  Kemissionen 
werden  allmählich  seltener  und  weniger  tief.  Wenn  es  daher  im 
Anfange  noch  den  Eindruck  machen  konnte,  als  ob  die  Verstimmung 
durch  irgendwelche*  Gelegenheitsursachen  erzeugt  werde,  so  stellt 
sich  nach  und  nach  ihre  krankhafte  Entstehungsweise  aus  inneren 
Zuständen  immer  klarer  heraus.  „Die  Angst  war  grösser,  als  die 
Noth",  sagte  mir  eine  Kranke,  bei  welcher  sich  der  melancholische 
Affect  zunächst  anscheinend  an  Geldsorgen  angeknüpft  hatte.  Der 
Kranke  fühlt,  dass  sich  eine  tiefgreifende  Veränderung  in  seinem 
Seelenleben  vollzieht,  über  deren  Natur  er  sich  vergeblich  Eechen- 
schaft  zu  geben  sucht.  Das  Körpergewicht  nimmt  während  dieser 
Zeit  rasch  ab. 

Ihre  volle  Ausbildung  erreicht  die  Psychose  ganz  allmählich, 
nach  einer  längeren  Eeihe  von  "Wochen,  häufig  erst  nach  2  bis 
3  Monaten.  Der  Kranke  bleibt  dabei  vollkommen  klar,  geordnet, 
orientiert  über  seine  Umgebung.  Mehr  und  mehr  aber  gewonnen 
die  „schweren  Gedanken"  Macht  über  ihn,  deren  Mittelpunkt  regel- 
mässig das  eigene  Ich  bildet.  In  erster  Linie  pflegt  sich  auf  diese 
Weise  eine  peinliche  Selbstkritik  zu  entwickeln.  An.  die  ein- 
zelnen Handlungen  und  Aeusserungen  des  Kranken  knüpft  sich 
der  quälende  Zweifel,  ob  es  auch  richtig  war,  so  zu  thun  oder  zu 
sprechen,  ob  er  nicht  dieses  habe  unterlassen,  jenes  anders 
machen  sollen.  Alles  „reut  ihn"  sofort;  die  gleichgültigsten  Ke dens- 
arten scheinen  ihm  nachträglich  eine  erschreckende  Tragweite  zu 
gewinnen,  da  er  in  ihnen  überall  die  klaren  Zeichen  seiner 
Thorheit,  ja  seiner  Schlechtigkeit  und  Verworfenheit  wieder- 
findet. 

Bis  zu  einem  gewissen  Grade  erinnert  diese  Erscheinung  an 
die  auch  dem  normalen  depressiven  Affecte  eigenthümüche  Neigung 
zu  selbstquälerischen  Grübeleien,  aber  die  Massenhaftigkeit,  mit 
welcher  hier  die  „Schuldgedanken"  das  Thun  und  Treiben  des 
Kranken  fortwährend  begleiten,  sowie  die  Spitzfindigkeit  ihrer  Be- 
gründung lässt  die  pathologische  Natur  der  Störung  deutlich  genug 
erkennen.  Der  Kranke  ist  verzweifelt  darüber,  dass  er  immerfort 
wieder  neue  Fehler  begeht,  AEes  verkehrt  macht,  so  dumm  daher- 

Kraepelin,  Psychiatria.    4.  Anfl.  19 


290 


IV.  Die  Melancholie. 


redet,  alle  Leute  beleidigt  und  kränkt.  Auch  seine  Vergangenheit 
erscheint  ihm  in  der  gleichen  Beleuchtung.  Mit  tiefer  Beschämung 
erkennt  er,  dass  sein  ganzes  Leben  eine  einzige  Kette  von  Yer- 
kehrtheiten  und  PflichtFergessenheiten  gewesen  ist.  Er  ist  ein 
Scheusal,  mit  Bosheit  angefüllt,  hat  eimnal  einen  Bettler  unfreund- 
lich abgewiesen,  bei  einer  Erkrankung  nicht  rechtzeitig  den  Arzt 
gerufen,  den  Tod  eines  Angehörigen  dui'ch  mangelhafte  Pflege  ver- 
schuldet, unrichtige  Aussagen  gemacht.  Jemanden  beim  Kauf  über- 
vortheilt,  im  Amte  nicht  seine  volle  Kraft  eingesetzt.  Im  Beginne 
der  Krankheit  hat  er  gelogen,  übertrieben,  seinen  Zustand  schlechter 
hingestellt,  als  er  war,  sich  verstellt,  den  Arzt  und  seine  Angehörigen 
hintergangen,  sich  nicht  genug  „zusammengenommen";  sonst  wäre 
Alles  ganz  anders  gekommen.  Häufig  spielen  die  Selbstanklagen 
in  das  religiöse  Gebiet  hinüber.  Der  Kranke  kann  nicht  mehr  so 
beten  wie  früher,  hat  den  Glauben  verloren,  nicht  mit  der  nöthigen 
Energie  gegen  Zweifel  angekämpft,  die  Kirche  nicht  fleissig  besucht, 
nicht  genug  Lichter  geopfert. 

Die  ünsinnigkeit  und  Grundlosigkeit  dieser  immer  neu  auf- 
tauchenden Selbstbeschuldigungen  liegt  meistens  klar  am  Tage; 
seltener  bedarf  es  einer  genaueren  Nachfrage,  um  die  besondere 
melancholische  Auffassung  der  Sachlage  zu  erkennen.  In  ganz  ver- 
einzelten Fällen  endlich  liegen  auch  wirkliche  ernstere  Verschuld- 
ungen zu  Grunde,  mit  denen  sich  der  Kranke  in  gesunden  Tagen 
längst  abgefunden  hatte,  die  aber  nun  von  Neuem  drohend  in  seiner 
Erinnerung  auftauchen,  wie  die  Geister  der  Ermordeten  in  der 
bangen  Stunde  der  Entscheidung  vor  König  Richard  HI. 

Die  tiefe  Ueberzeugung  von  der  eigenen  Schlechtigkeit  macht 
es  dem  Kranken  selbstverständlich,  dass  er  für  Andere  ein  Gegen- 
stand des  Absehens  und  der  Verachtung  ist.  Jedermann  muss  ilm 
verdammen,  und  er  merkt  auch  bald,  dass  man  ihn  anders  be- 
handelt, als  früher,  dass  die  Freundlichkeit,  mit  der  man  ihm  ent- 
gegenkommt, eine  erzwungene,  unnatürliche,  oder  dass  sie  durch 
das  grossherzige,  aber  schlecht  verdiente  Mitleid  mit  seinem  Elend 
motivirt  ist.  Es  ist  ihm  peinlich,  auf  die  Strasse,  unter  Menschen 
zu  gehen,  weü  er  Niemandem  mein-  unter  die  Augen  treten  kann 
und  überall  stummen,  wenn  auch  maskirten  Vorwürfen  begegnet. 
Seine  Gegemvart  schon  ist  eine  Beleidigung  für  die  Umgebung. 
Er  ist  zu  viel  da,  gehört  nicht  daher,  sollte  fort,  ist  Allen  ein  Dom 


Melaneliolia  simplex. 


291 


im  Auge.  Die  Anderen  uiissbilligen  seine  Anwesenheit,  kömien  ilm 
gar  nicht  mehi'  unter  sich  dulden. 

An  das  bisher  gezeichnete  Bild  des  Yersündigungswahns,  der 
in  stärkerer  oder  schwächerer  Ausprägung  ungemein  charakteristisch 
für  die  einfache  Melancholie  ist,  schliessen  sich  nicht  selten  noch 
andere  depressive  Vorstellungskreise  an,  die  nach  verschiedenen 
Eichtungen  hin  entwickelt  sein  können.  Entweder  handelt  es  sich 
lun  die  Befürchtung  schwerer  Strafen,  die  sich  gemssermassen  als 
Folgerung  aus  dem  Schuldbemisstsein  ergiebt.  Der  Kranke  ist  so 
stindhaft  und  verworfen,  dass  ihni  Gott  nicht  mehr  verzeihen  kann; 
er  wird  verdammt  werden,  in  die  HöUe  kommen.  Da  er  seine  An- 
gehörigen ins  Unglück  gebracht  hat,  wird  man  ihn  vor  Gericht 
stellen,  ihm  den  Process  machen,  üm  einkerkern,  hinrichten.  Die 
Leute  stehen  schon  draussen,  die  Anklageschrift  ist  schon  ge- 
schrieben; er  ist  ganz  verlassen,  bittet  um  gnädige  Strafe ;  wie  wird's 
ihm  ergehen!  Preilich  hat  er  es  nicht  anders  verdient,  ist  das  Essen 
nicht  Werth,  das  man  ihm  reicht,  wül  gerne  büssen  für  seine 
Schlechtigkeit.  Mcht  selten  schildert  er  daher  seine  Fehler  in  recht 
lebhaften  Farben  oder  bekennt  selbst  Dinge,  die  er  gar  nicht  be- 
gangen hat,  um  die  Bestrafung  zu  erreichen,  welche  ihm  die  Euhe 
seines  Gewissens  wiedergeben  soll. 

In  anderen  FäUen  tragen  die  depressiven  Ideen  mehr  hypo- 
chondrischen Inhalt.  Der  Kranke  ist  das  elendeste,  unglücklichste 
Menschenkind  auf  der  ganzen  Welt;  so,  wie  er,  hat  noch  nie  ein 
"Wesen  gelitten.  Alles  ist  aus  und  vorbei  durch  seine  eigene  Schuld; 
er  ist  jetzt  so  tief  hineingerathen,  dass  eine  Genesung  gar  nicht 
mehr  mögüch  ist.  Jede  Hoffnung  ist  verloren;  er  muss  „verrückt" 
werden,  sein  Lebelang  in  der  Anstalt  bleiben,  sterben.  In  Folge 
von  alten  „Jugendsünden",  Onaniren,  überstandener  Syphilis  ist  das 
ganze  Nervensystem  zerrüttet,  die  Lunge  angegriffen,  der  Magen 
vollständig  in  Unordnung.  Endlich  erstrecken  sich  einzelne  Be- 
fürchtungen auch  wol  auf  die  äusseren  Yerhältnisse  des  Kranken. 
Er  kann  nicht  mehr  zahlen,  wird  sein  ganzes  Vermögen  verlieren, 
aus  dem  Amte  gejagt  werden,  muss  betteln  gehen. 

Alle  diese  Vorstellungen  werden  von  dem  Kranken  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  logisch  verarbeitet.  Er  bringt  sie  mit  einander 
in  Beziehung,  zieht  Schlüsse  aus  ihnen,  entwickelt  sie  zusammen- 
hängend, ohne  Verwirrtheit  und  ohne  grobe  Widersprüche.  Nicht 

19* 


292 


IV.  Die  Melancholie. 


selten  Termag  er  auch  zeitweise  einzelne  Ideen  zu  corrigiren,  ihre 
Krankhaftigkeit  zu  erkennen,  aber  wenn  es  so  „über  ihn  kommt", 
ist  das  besonnene  Urtheü  rasch  wieder  verloren.  Der  eigentliche 
Versündigungswahn  pflegt  während  der  ganzen  Dauer  der  Psychose 
fortzubestehen ;  eine  wirklich  klare  Krankheitseinsicht  ihm  gegenüber 
ist  höchstens  ganz  vorübergehend  eiamal  vorhanden. 

In  formaler  Beziehung  lässt  sich  ausnahmslos  eiae  Verlang- 
samung und  Erschwerung  des  Deniens  nachweisen,  die  auch  von 
dem  Kranken  selbst  peinlich  empfunden  und  beklagt  wird.  Es 
scheint  sich  dabei  nicht  um  eine  einfache  Lähmung,  sondern  um 
eine  Hemmung  zu  handeln.    Nicht  die  Energie  der  psychischen 
Vorgänge  ist  abnorm  gering,  sondern  die  Widerstände  sind  abnorm 
gross.    Diesen  Schluss  wenigstens  muss  man  wol  aus  dem  Um- 
stände ziehen,  dass  keine  Bewusstseinstrübung  besteht,  sondern  die 
einzelnen  Vorstellungen  mit  voUer  Klarheit  und  Schärfe  hervor- 
treten.   Vielfach  klagen  die  Kranken  geradezu  darüber,  dass  ihnen 
so  viel  einfällt  und  sie  sich  an  alle  möglichen  Dinge  erinnern 
müssen,  die  ihnen  längst  vollständig  entfallen  waren.  Dabei  besteht 
aber  allerdings  eine  grosse  Einförmigkeit  des  VorsteUungsinhaltes. 
Dieselben  Ideenkreise  kehren  immer  von  Neuem  wieder,  so  oft  sie 
auch  unterdrückt  werden;  der  Kranke  kann  gar  nichts  Anderes 
mehr  denken.    Es  ist  ungemein  schwer  und  vielfach  sogar  voll- 
ständig unmöglich,  sein  Interesse  für  irgend  etwas  Anderes,  ausser- 
halb seiner  eigenen  Seelenzustände  Gelegenes  zu  erwecken;  er  kehrt 
immer  sofort  wieder  zu  jenen  traurigen  Gredanken  zurück,  die  üm 
.vollständig  in  Anspruch  nehmen.    Ganz  ähnlich  pflegen  ja  auch 
im  normalen  Schmerze   alle  anderen  Eegungen  sofort  zu  ver- 
stummen. 

Gerade  diese  letztgenannten  Erscheinungen  zeigen  deutlich,  wie 
wesentlich  die  KoUe  ist,  welche  der  Stimmungsanomalie  im  Bä-ank- 
heitsbilde  der  Melancholie  zugeschrieben  werden  muss.  Sie  ist  es 
auch,  über  welche  die  Patienten  vor  allem  klagen.  „Berg  und  Thal 
liegen  auf  mir,"  sagte  mir  eine  Bäuerin,  die  später  dui-ch  Selbst- 
mord endete.  Es  entwickelt  sich  bei  den  Kranken  das  Gefühl  eines 
schweren  Druckes,  einer  inneren  Beklemmung,  die  ihnen  jede 
Freudigkeit  und  jeden  Lebensmuth  raubt.  Meist  wird  derselbe  in 
die  Gegend  des  Herzens  oder  des  Praecordiums  verlegt,  seltener  in 
den  Kopf.    Der  Kranke  merkt,  wie  unter  diesem  unwiderstehlichen 


Melancholia  simplex. 


293 


Drucke  sein  Inneres  gleichsam  erstarrt.  Die  "Wahrnehmungen  imd 
Gedanken  bleiben  klar,  aber  dieselben  finden  keinen  Widerhall  mehr 
in  seinem  Herzen.  Er  kann  sich  nicht  mehr  freuen  und  nicht  mehr 
grämen,  sondern  alle  gemüthlichen  Regungen  gehen  auf  in  dem 
einen  dumpfen  Gefühle  trostlosester  Verödung;  was  ihm  früher  die 
höchste  Befriedigung  gewährte,  materielle  oder  ideelle  Genüsse,  die 
Arbeit,  der  Beruf,  vermag  ihn  jetzt  nicht  mehr  zu  fesseln.  Selbst 
die  Zimeigung  zu  den  Freunden,  zu  den  Eltern,  zu  Weib  und  Kind 
macht  einer  resignirten  Gleichgültigkeit  Platz;  er  steht  ihnen  Allen 
theilnahmlos,  ohne  innere  Beziehung,  wie  ein.  Fremder,  nicht  zu 
ihnen  Gehöriger  gegenüber.- 

Diese  Abnahme  der  gemüthlichen  Erregbarkeit  wird  von  dem 
Kranken  regelmässig  als  ein  überaus  peiuvoUer  Zustand  empfunden. 
Sie  ist  es  namentlich,  welche  ihm  den  eigenen  Charakter  verab- 
scheuungs würdig,  das  Dasein  freudlos  und  nicht  lebenswerth,  die 
Freuden  desselben  abgeschmackt  und  trügerisch,  die  Vergangenheit 
inhaltsleer,  die  Gegenwart  unerträglich,  die  Zukunft  finster  und 
trostlos  erscheinen  lässt. 

Die  Seelenqual,  welche  ihm  das  Bewusstseiu  der  ümeren  Leere 
und  Verarmung  bereitet,  steht  dabei  in  eigenthümlichem  Gegensatze 
zu  der  verzweiflungsvollen  Klage,  dass  er  nicht  mehr  im  Stande  sei, 
Freude  oder  Leid  zu  empfinden.  Li  Wirklichkeit  ist  aber  auch  die 
gemüthliche  Umwandlung,  welche  sich  mit  dem  Kranken  vollzogen 
hat,  durchaus  nicht  als  eine  einfache  Abstumpfung  aufzufassen,  wie 
sie  ihm  selber  erscheint  Allerdings  hat  sich  der  Kreis  seiner 
Literessen  diu'ch  die  Krankheit  auf  die  ibm  persönlich  nächst- 
liegenden Beziehungen  eingeengt,  aber  auf  diesem  Gebiete  zeigt 
der  Patient  sogar  geradezu  eine  entscliiedeneTJeberempfindHchkeit. 
Sehr  gewöhnlich  kann  man  die  Beobachtung  machen,  wie  jede  Ver- 
änderung in  seiner  unmittelbaren  Umgebung,  ganz  besonders  der 
tägliche  Verkehr  mit  seinen  Lieben  für  ihn  die  Quelle  lebhafter 
Unlustgefühle,  andauernder  Beunruhigung  wird ;  ja  selbst  angenehme, 
heitere  Eindrücke,  und  bisweüen  diese  am  meisten,  erzeugen  häufig 
eine  wesentliche  Verstäi-kung  des  psychischen  Schmerzes.  So  sah 
ich  einen  jungen  Melancholiker  beim  Anhören  fröhlicher  Musik  in 
bitterliches  Weinen  ausbrechen. 

Dass  die  vermeintliche  Gemüthsstumpfheit  der  Kranken  nicht 
als  eine  Lähmungserscheinimg,  sondern  nur  als  Zeichen  einer 


294 


IV.  Die  Melancholie. 


psychischen  Hemmung  aiifgefasst  werden  muss,  wird  weiterhin 
wahrscheinlich  gemacht  durch  das  gelegentliche  Auftreten  sehr 
heftiger  Äff  ectschwankungen.  Häufig  klagen  die  Kranken  dauernd 
über  ein  Grefühl  innerer  Unruhe,  das  sie  nicht  los  werden  können 
und  meistens  als  „Heimweh",  Sehnsucht  nach  den  Angehörigen,  dem 
Geschäft,  Scheu  vor  der  fremden  Umgebung  deuten.  Dazwischen 
aber  schieben  sich  in  die  resignirte  Traurigkeit  nicht  selten 
ganz  unvermittelt  lautes  Jammern,  Thränenausbrüche,  stürmische 
Angstanfälle  ein,  in  denen  die  Kranken  vorübergehend  sogar  die 
Orientirung  verlieren  können.  "Wie  es  scheint,  wird  hier  gleichsam 
durch  das  Uebermass  der  schmerzlichen  Spannung  die  psychische 
Hemmung  gewaltsam  durchbrochen  und  so  ein  Umsatz  der  Unlust- 
erregung in  Ausbrüche  leidenschaftlicher  Bewegung  herbeigeführt. 

Zumeist  freilich  pflegt  auch  das  Handeln  des  Kranken  in 
gleicher  Weise  wie  der  Vorstellungsverlauf  regelmässig  den  Charakter 
der  Grebundenheit  und  Unfreiheit  zu  tragen.  Ein  estnischer 
Bauer  sagte  mir,  er  komme  sich  vor  wie  ein  Ead  am  Wagen,  das 
willenlos  mitlaufen  müsse.  Der  Kranke  ist  schlaff,  energielos  und 
ausser  Stande,  sich  aufzuraffen;  die  innere  Unlust  hat  in  ihm  Muth 
und  Freudigkeit  zu  thatkräftigem  Schaffen  unterdrückt.  Ruhelos 
wandert  er  herum,  ohne  irgend  etwas  fertig  zu  bringen,  oder  er 
sitzt  vielleicht  Stunden  und  Tage  lang  in  dumpfem  Hinbrüten  da, 
die  Hände  in  den  Schoss  gelegt.  Die  nothwendigsten  Greschäfte 
und  Pflichten  werden  von  ihm  verabsäumt,  weil  er  nicht  Initiative 
genug  besitzt,  um  die  psychische  Hemmung  zu  überwinden;  jede 
Nöthigung  zu  activer  Anstrengung  wird  eine  Quelle  intensivsten 
Unbehagens.  Freilich  vermögen  besondere  Anlässe,  eine  interessante 
Unterhaltung,  anregende  Gresellschaft,  die  Yersetzung  in  neue 
Verhältnisse,  in  leichteren  Fällen  vielleicht  vorübergehend  den 
Kranken  aus  seiner  Verstimmung  „herauszureissen" ;  die  Folge 
solcher  gewaltsamer  Anregungen  ist  aber  fast  unausbleiblich  ein  um 
so  stärkerer  Rückschlag  in  das  Gefühl  der  eigenen  Nutzlosigkeit 
und  Unfähigkeit.  So  gelingt  es  dem  Kranken  vielleicht  noch,  mit 
dem  Aufgebote  seiner  ganzen  psychischen  Kräfte  die  zwingendsten 
Berufsarbeiten  zu  verrichten,  aber  er  beginnt,  wenigstens  das  Neben- 
sächliche zu  vernachlässigen.  Die  Sorge  für  sein  Aeusseres,  für 
Kleidung  und  Toilette,  tritt  gänzlich  zui-ück,  ein  Umstand,  der 
namentlich  bei  weiblichen  Patienten  sehr  auffällt.  Unordentüche 


Melancholia  simplex. 


295 


Frisiu-en,  abgerissene  Knöpfe,  unbeachtet  gebliebene  Flecken  und 
Defecte  an  der  Kleidung  zeigen  den  Verlust  des  Interesses  für  diese 
sonst  vielleicht  sehr  gepflegten  Aeusserlichkeiten  und  den  Mangel 
an  Energie  zui'  Beseitigung  der  Nachlässigkeiten  oft  in  recht  cha- 
rakteristischer Weise. 

Auch  im  Gesichtsausdrucke  der  Kranken  pflegt  sich  die 
ti-auiige  Verstinunung  deuthch  auszuprägen.  Die  Mundwinkel  hängen 
herab,  die  Nasolabi alfalten  sind  schärfer  markirt,  die  Augenachsen 
gesenkt  und  starr  parallel  gerichtet;  auf  der  Stirn  zeigen  sich  Längs- 
und bei  ängstlicher  Färbung  des  Affectes  gleichzeitig  auch  Quer- 
falten. In  der  Körperhaltung  documentirt  sich  die  Abwesenheit  der 
elastischen  Spannung,  das  schlaffe  Bedürfniss  nach  möglichster  Kuhe 
und  stabilem  Gleichgewichte;  der  Kopf  ist  gesenkt,  der  Kücken  ge- 
beugt und  der  ganze  Körper  nach  dem  Gesetze  der  Schwere  in  sich 
zusammengesunken.  Die  Sprache  ist  gewöhnlich  leise  und  zögernd; 
alle  Beweg-ungen  und  Keactionen  geschehen  meist  langsam  und  ohne 
Kraft.  Bisweilen  bildet  sich  die  lähmende  Energielosigkeit  zu  einer 
förmhchen  „Bettsucht"  aus;  die  Kranken  bleiben  unthätig  und 
schlaflos  halbe  und  ganze  Tage  im  Bette  liegen,  ohne  sich  zum 
Aufstehen  oder  zu  irgend  einer  selbständigen  Handlung  entschHessen 
zu  können. 

Begreiflicherweise  leidet  unter  dieser  "Wülenlosigkeit  sehr  bald 
auch  die  leibliche  Pflege,  vor  AUem  die  Befriedigung  des  Nahiirngs- 
bedürfnisses.  Ganz  ähnlich,  wie  der  natürliche  Trieb  des  Hungers 
und  das  Interesse  an  der  Behaglichkeit  durch  die  normalen  de- 
pressiven Affecte  unterdrückt  werden,  so  hört  auch  der  Kraute 
unter  dem  Drucke  seiuer  Yerstünmung  auf,  sich  lun  das  regelmässige 
Einhalten  der  Mahlzeiten  zu  kümmern;  es  erscheint  ihm  abgeschmackt 
und  widerwärtig,  sich  mit  der  kleinlichen  Sorge  für  sein  körperliches 
Wohl  zu  beschäftigen,  wo  seine  ganze  Aufmerksamkeit  durch  den 
grossen  psychischen  Schmerz  in  Spannung  erhalten  wird.  Häufig 
ist  es  nur  die  Macht  der  Gewohnheit  oder  ein  gewisses  mechanisches 
Pfhchtgefühl,  welches  den  Kranken  in  den  regelmässigen  Balmen 
seiner  Lebensweise  beharren  lässt. 

Zu  tiefergreifenden  Stönmgen  führt  die  Yernachlässigung  der 
körperlichen  Bedürfnisse  dann,  wenn  sie  nicht  durch  den  einfachen 
Mangel  an  Interesse,  sondern  durch  die  bestimmte  Absicht  des 
Kranken  motivirt  ist,  sich,  selber  zu  schädigen.   Die  Selbstkasteiung 


296 


rV.  Die  Melancholie. 


stellt  hier  eine  Ai-t  Busse  dar,  die  der  Kranke  sich  zur  Sühne  für 
seine  Schlechtigkeiten  auferlegt.  Er  ist  zu  schlecht,  zu  gottlos,  um 
an  der  Kost  der  Andern  theilnehmen,  Kleider  tragen,  sich  in  ein 
Bett  legen,  an  der  schönen  Natur  freuen  zu  dürfen;  man  soll  ihm 
Gefangenenkost  vorsetzen,  ihn  auf  der  Diele  schlafen  lassen,  in  ein 
Correctionshaus  schicken,  als  Yerbrecher  behandeln.  Diese  und  ähn- 
liche Ideenkreise  sind  es  auch  in  der  Eegel,  aus  welchen  das  mit 
Recht  am  meisten  gefiirchtete  Symptom  der  Melancholie  sich  iieraus- 
entwickelt,  die  Neigung  zum  Selbstmorde. 

Der  quälende  Gedanke,  ein  unnützes  und  moralisch  verworfenes 
Geschöpf  zu  sein,  das  Gefühl  der  inneren  Yerödung  und  Verarmung, 
der  Blick  in  eine  vermeintlich  finstere  und  trostlose  Zukunft,  die 
Unerti-äglichkeit  des  gegeuAvärtigen  Zustandes  regen  in  dem  Kranken 
den  Wunsch  der  Yernichtung  des  Daseins  an.  Wenn  er  nur  weg 
von  der  Welt,  üie  geboren,  als  kleines  Kind  gestorben  wäre!  Alle 
würden  dann  von  ihm  befreit  sein  und  er  selber  Ruhe  haben.  So 
kommt  es,  dass  die  Hartnäckigkeit,  mit  welcher  die  Kranken  an  der 
Ausführimg  ihres  Selbstmordplanes  festhalten,  in  eigenthümlichen 
Contrast  zu  ihrer  sonstigen  Energielosigkeit  tritt.  Diese  Erscheinung 
wird  einigermassen  erklärlich,  wenn  man  bedenkt,  dass  die  Unfähig- 
keit zu  thatkräftigem  Handeln  hier  nicht  aus  dem  Mangel  an  Motiven, 
sondern  aus  der  Unterdrückung  der  gesunden  Motive  durch 
die  hemmenden  Unlustgefühle  hervorgeht.  Jene  Sti-ebungen 
dagegen,  die  in  diesen  Unlustgefühlen  selbst  ihre  Wurzeln  haben, 
können  daher  leicht  eine  dauernde  und  unwiderstehliche  Macht  über 
den  WiUen  des  Kranken  gewinnen;  sie  spornen  Intelligenz  und 
Energie  zu  den  äussersten  Anstrengungen  an,  um  die  Erfüllung 
ihres  Planes  um  jeden  Preis  zu  erzwingen.  Je  besonnener  und 
relativ  freier  der  Kranke  ist,  desto  grösser  natürlich  die  Gefahi-,  dass 
es  ihm  gelingt,  seinen  Zweck  zu  erreichen.  Das  Raffinement,  mit 
welchem  er  trotz  sorgfältigster  Ueberwachimg  die  imscheinbarste  Ge- 
legenheit auszunutzen  weiss,  die  Fähigkeit  zur  Dissimulation  der 
krankhaften  Verstimmung,  um  sein  einziges  Dichten  und  Trachten 
besser  zur  Ausführung  bringen  zu  können,  ist  bisweilen  staunens- 
werth. 

Jeder  Melancholiker  ist  daher  als  ein  äusserst  gefährlicher 
Kranker  zu  betrachten,  um  so  gefährliclier,  wenn  ihn  seine  Intelli- 
genz zur  Verstellimg  und  List  befälügt.  Er  kann  sich  in  der  Bade- 


Melaacholia  simplex. 


297 


wanne  erü-änken,  an  der  Thürklinke,  an  irgend  einer  vorspringenden 
Ecke  im  Abtritte,  ja  selbst  im  Bette  (auch  ia  der  Zwangsjacke!) 
Stranguliren,  Nadeln,  Nägel,  Glasscherben  verschlucken,  sich  die 
Treppe  hinunterstürzen,  den  Schädel  mit  einem  schweren  Gegen- 
stande zertrümmern,  sich  aushungern  u.  s.  f.  Beachtenswerth  er- 
scheint es,  dass  die  Kranken  in  ihrer  Aufi-egung  trotz  voUer  Be- 
sonnenheit fast  ganz  unempfindlich  gegen  körperlichen  Schmerz  zu 
sein  pflegen,  ein  Umstand,  der  ihnen  die  Ausführung  ihres  Yor- 
habens  wesentlich  erleichtert.  Eine  Patientin  meiner  Beobachtung 
fi-eute  sich  nach  Durchschneidung  der  Pulsadern  mit  einer  Glas- 
scherbe über  „das  schöne  rothe  Blut",  ohne  eine  Spur  von  Schmerz 
zu  fühlen;  ein  anderer  Kranker  schlug  mit  dem  Halse  so  oft  auf 
die  Schneide  eines  am  Boden  aufgestellten  Stemmeisens,  bis  das- 
selbe durch  die  ganzen  Weichtheile  in  den  Wirbelkörper  eindi-ang. 

Parallel  mit  diesen  krankhaften  Veränderungen  der  höheren 
psychischen  Fimctionen,  die  iu  verschiedenen  Abstufungen  und  Spiel- 
arten den  gemeinsamen  Grundzug  der  depressiven  Yerstimmung  er- 
kennen lassen,  gehen  eine  Eeihe  von  elementaren  nervösen 
Störungen,  welche  auf  eine  allgemeinere  Beeinträchtigung  der 
Centi-alorgane  hindeuten.   Der  Schlaf  des  Melancholikers  ist  regel- 
mässig schlecht,  kiu-z,  unruhig,  von  lebhaften,  unangenehmen  und 
quälenden  Träumen  begleitet.   Trotzdem,  oder  vielmehr-  gerade  des- 
halb besteht  ein  dauerndes  Gefühl  der  Abspannung,  Müdigkeit  und 
Schwere  in  allen  Gliedern,  eine  dumpfe  Benommenheit  im  Kopfe, 
che  sich  bisweilen  zu  wii-klichen  schmerzhaften  Sensationen,  Druck 
auf  der  Scheitelhöhe,  Spannung  im  Hinterkopfe  u.  dergi.  steigert. 
Seltener  kommen  greifbare  nei-vöse  Affectionen,  Anaesthesien  u.  dergl. 
zur  Beobachtung;  nur  aus  psychischen  Gründen  erscheint  die  peri- 
phere Empfindlichkeit  bisweilen  allgemein  herabgesetzt  oder  ge- 
steigert.   Sehr  gewöhnlich  wd  über  unangenehme  Empfind-, 
ungen  in  der  Herzgegend  geklagt,  Spannung,  Druck,  „Unruhe", 
„Beängstigimg",  „Vibriren"  am  Herzen,  die  bisAveüen  anfallsweise 
namentlich  Nachts,  stärker  hervortieten.  Der  Muskeltonus  erscheint 
herabgesetzt;  gleichzeitig  besteht  das  Gefühl  allgemeiner  körperlicher 
Schwäche  und  Hinfälligkeit.  Die  Ernährung  nimmt  nach  Ausweis 
der  Körpergewichtscui-ve  stets,  auch  dort,  wo  kehre  Nahi-ungsver- 
weigerung  besteht,  im  Beginne  der  Erkrankung  rasch  ab,  um  erst 
mit  dem  Einti-itte  der  Eeconvalescenz  sich  wieder  zu  heben.  Der 


298 


IV.  Die  Melancholie. 


Appetit  ist  sehr  gering  oder  ganz  aufgehoben,  die  Yerdauung  träge; 
sehr  häufig  findet  man  äusserst  hartnäckige  Stuhlverstopfung. 
Starker  Belag  der  Zunge  und  foetor  ex  ore  pflegen  diese  Störungen 
anzuzeigen.    Die  Wärmeproduction,  wie  die  Wärmeabgabe  ist 
vermindert,  die  Temperatur  häufig  dauernd  unter  der  Norm,  viel- 
fache Unregelmässigkeiten  in  ihrer  Yertheilung  auf  die  peripheren 
Körperpartien  darbietend.  Auch  die  Organe  des  Kreislaufs  zeigen 
eine  entschiedene  Herabsetzung  ihrer  Energie.  Der  Puls  ist  klem, 
bisweilen  sehr  verlangsamt  (bis  auf  40  Schläge!);  die  Extremitäten 
sind  häufig  cyanotisch,  kühl  (besonders  die  Füsse),  ja  es  können 
sogar  Oedeme  auftreten,  cüe  nur  in  der  Circulationshemmung  ihre 
Ursache  haben  und  bei  der  Genesung  rasch  wieder  verschräden. 
Seltener  werden  auch  an  der  Haut  die  Erscheinungen  ungenügender 
Ernährung,  Trockenlieit,  Sprödigkeit,  kleienartige  Abschuppimg  u.  s.  w. 
beobachtet. 

Der  Verlauf  der  Melanchoüe  ist  regehnässig  ein  typischer, 
langsames  Ansteigen  und  nach  längerer  Dauer  ein  noch  langsameres 
Schwinden  der  Krankheitssymptome.  Während  der  ganzen  Zeit  aber 
pflegt  der  Zustand  fast  immer  mehr  oder  weniger  regelmässige 
Schwankungen  zum  Bessern  und  zum  Schlechtem  darzubieten, 
über  deren  Bestand  man  sich  weder  sanguinischen  Hoffnungen  noch 
schwarzseherischen  Befüi-chtungen  hingeben  darf.  Sehr  häufig  findet 
sich  ein  Nachlass  der  Krankheitserscheinungen  gegen  Abend,  wäh- 
rend am  Morgen  die  Verstimmung  in  verstärktem  Masse  wieder- 
kehrt. Auch  ein  periodischer  Wechsel  zwischen  schfimmeren  und 
besseren  Zeiten  oder  Tagen  wird  bisweilen  beobachtet,  ohne  dass 
sich  eine  äussere  Ursache  dafür  auffinden  liesse. 

Das  allmähliche  Schwinden  der  lö-ankheit  nach  vielfachen 
Kemissionen  und  Yerschlimmerungen  ist  durchaus  die  Eegel;  plötz- 
lichen, im  Verlaufe  weniger  Tage  eintretenden  „Heüungen"  ist  nie- 
mals zu  trauen;  sie  bedeuten  gewöhnlich  das  Umschlagen  der  de- 
pressiven in  eine  heitere  Verstimmung.  Einen  sehr  guten  Anhalts- 
pünkt  fiii-  die  prognostische  Beurtiieüimg  der  Veränderungen  im 
psychischen  Krankheitsbilde  giebt  das  Verhalten  des  Körper- 
gewichtes an  die  Hand.  Stetiges  Ansteigen  desselben  deutet  mit 
Entschiedenheit  auf  die  bevorstehende  Keconvalescenz  hin,  wenn 
nicht  etwa  die  Zeichen  einer  beginnenden  Verblödung  (Abnahme 
des  Affectes  ohne  Correctur  der  Wahnideen,  Urtiieilsschwäche)  sich 


Melancliolia  simplex. 


299 


geltend  machen.    Im  günstigen  Falle  bessern  sich  nach  und  nach 
Schlaf  und  Verdauung;  die  Nachlässe  der  Depression  werden  an- 
haltender und  ausgiebiger,  Avenn  auch  noch  einzelne  schlechte  Tage 
(im  Anschlüsse  an  eine  unniliige  Nacht,  Verdauungsstörung,  psychische 
Aufi-egung)  dazwischen  vorkommen.  Nicht  selten  entwickelt  sich  in 
dieser  Zeit  eine  ausserordentliche  Eeizbarkeit,  die  von  den  Patienten 
selbst  als  ki-ankhaft  empfunden  oder  auch  wol  im  Sinne  des  Ver- 
sündigningswahnes  als  moralische  Verschlechtenmg  aufgefasst  wird. 
An  Stelle  der  früheren  Angst  und  Verzagtheit  tritt  eine  missmuthige, 
unzufriedene  Stimmung.  Man  kann  ihnen  nichts  mehr  recht  machen; 
Alles  quält  sie,  regt  sie  auf;  sie  können  es  nicht  mehr  aushalten  und 
drängen  stark  nach  Hause,  wo  sie  „besser  ihre  Ordnung  haben". 
Als  ein  Zeicheii  von  besonders  guter  Vorbedeutung  ist  die  Bückkehr 
des  Interesses  füi-  die  gewohnten  Beschäftigungen  zu  betrachten. 
Sobald  der  Kranke  wieder  beginnt,  zu  arbeiten,  zu  lesen,  sich  zu 
unterhalten,  pflegt  die  Beizbarkeit  bald  zu  schwinden;  er  wird  ein- 
sichtig, geduldig,  dankbar  und  gehorsam.  GleichwoLbesteht  immer  noch 
für  einige  Zeit  eine  leichtere  Ermüdbarkeit  sowie  eine  vermehrte 
Empfindlichkeit  gegen  äussere  Schädlichkeiten,  besonders  Affecte, 
Ueberanstirengungen,  Excesse,  welche  vorübergehende  Verschlimmer- 
ungen nach  sich  ziehen  können,  bis  sieh  im  Laufe  der  "Wochen  und 
Monate  auch  diese  Störung  vollkommen  ausgleicht. 

Eine  besondere  Verlaufsart  der  Melancholie  kommt  bisweilen, 
namentiich  bei  Weibem,  dadurch  zu  Stande,  dass  sich  einzehae 
hysterische  Symptome-in  das  Krankheitsbild  einmischen.  So  sah  ich 
mehrmals  ganz  ausgeprägte,  rasch  vorübergehende  Dämmerzustände 
mit  tiefer  Bewusstseinstrübung  und  traumhaften  Sinnestäuschungen 
als  Episoden  während  einer  typischen  einfachen  Melancholie  auf- 
treten. Bei  anderen  Kranken  tragen  die  Angstanfälle  eine  hysterische 
Färbung  mit  krampfartigen  Zwangsbewegungen  und  grosser  psychischer 
Beeinflussbarkeit.  Das  Vorhandensein  localer  nervöser  Störungen 
imd  ähnlicher  Stigmata  dürfte  auf  solche  CompHcationen  hinweisen.- 
Die  Prognose  der  einfachen  Melancholie  ist  im  Allgemeinen 
eine  günstige;  selbst  jahrelange  Dauer  derselben  schliesst  die  Hoff- 
nung auf  Genesung  nicht  aus.  In  ungeheüten  Fällen  kommt  es  all- 
mählich zur  Entwickekmg  einer  mehr  oder  weniger  hochgi-adigen 
psychischen  Schwäche,  welche  sich  [in  dauernder  Leistiingsunfähig- 
keit,  unvollkommener  Correctiu-  der  melancholischen  Wahnideen 


ßQQ  IV.  Die  Melancholie. 

und  im  Fortbestehen  einer  kleinmüthigen  Verzagtheit,  weinerüchem 
Queraliren  oder  stumpfsinniger  Yersunkenheit  ohne  tieferen  Affect 
kundgiebt.  Eine  ernste  Gefahr  für  den  Ausgang  des  Leidens  wird 
vor  AUem  durch  die  Möglichkeit  eines  Selbstinordes  ;oder  'der  Er- 
schöpfung in  Folge  von  anhaltender  Schlaflosigkeit  und  Nahrungs- 
verweigerung gebildet.  Hochgradige,  länger  dauernde  Apathie  be- 
günstigt auch  erfahi'ungsgemäss  die  Entwickelung  der  Phthise. 

Die  Dauer  der  Krankheit  ersti-eckt  sich  regelmässig  über  eine 
längere  Eeihe  von  Monaten,  selbst  über  Jahre;  durchschnittüch  kann 
man  auf  eine  Gesammtdauer  von  8/4— 1  Jahr  rechnen.  Genauere 
Yoraussagungen  über  den  Zeitpunkt  der  Wiederherstellung  zu  machen, 
ist  hier  stets  misslich,  da  sich  bisweilen  die  Eeconvalescenz  selbst 
in  ganz  leichten  Fällen  unerwartet  lange  hinauszieht. 

Unter  den  Ursachen  der  einfachen  Melanchoüe  ist  in  erster 
Linie  das  Klimakterium  zu  nennen.   Die  grosse  Mehrzahl  der  wirk- 
lich typischen  Erkrankungen  betrifft .  Frauen  zwischen  45  und 
55  Jahren.  Yereinzelt  befällt  die  Psychose  auch  Männer  m  gleichem 
oder  etwas  höherem  Alter.   Bei  jugendücheren  Kranken  wird  man 
meist  einzelne  hysterische  Züge  finden;  das  weibHche  Geschlecht 
überwiegt  auch  hier  bedeutend.    Im  Ganzen  scheint  somit  die  ein- 
fache Melancholie  auf  dem  Boden  einer  angeborenen  oder  erworbenen 
Praedisposition  zu  erwachsen  und  vor  Allem  durch  jene  bisher  noch 
nicht  scharf  definirbaren  körperlichen  Wandlungen  begünstigt  zu 
werden  welche  das  Aufhören  der  Geschlechtsfunctionen  beim  Weibe 
begleiten.  YieUeicht  spielen  hier  Blutveränderungen  die  Haupta-olle. 
Dafür  würde  wenigstens  die  Erfahrung  sprechen,  dass  wir  auch 
sonst  bei  Bluterkrankungen,  z.  B.  beim  Myxödem,  bei  der  Krebs- 
kachexie,  besonders  häufig  psychischen  Depressionszustanden  be- 
gegnen.   Unter  den  äusseren  Ursachen  der  Psychose  smd  eben- 
falls nur  solche  Einwirkungen  zu  nennen,  welche  geeignet  sind, 
chronische  Ernährungsstörimgen  herbeizuführen,  lange  fortgesetzte 
Lactation  bei  ungenügendem  Kräftezustande,  anhaltende  schwere 
Gemüthsbewegungen,  dauernd  sehr  ungünstige  hygiemsche  Yer- 
hältnissG 

Eine  pathologische  Anatomie  der  MelanchoUe  giebt  es  noch 
nicht  Die  gewöhnliche  Annahme  anaemischer  oder  passiv  hyper- 
aemischer  Zustände  des  Gehii^ns  ist  vielleicht  im  Grossen  und  Ganzen 
zutreffend,  aber  nichtssagend.  Als  die  eigentliche  Grunderschemung 


Melancholia  simplex. 


301 


des  Krankheitsprocesses  pflegt  man  die  depressive  Verstimmung  zu 
beü-achten,  aus  der  sich,  wie  Griesinger  meinte,  durch  eine  Art 
„Erklärungsversuch"  insbesondere  der  Tersündigungswahn  psycho- 
logisch entwickeln  sollte.  Am  richtigsten  ist  es  wol,  den  hier 
beobachteten  Symptomencomplex,  Verstimmung,  Versündigungswahn, 
Energielosigkeit  als  den  Ausdruck  eines  und  desselben  elemen- 
taren Krankheitszustandes  auf  den  einzelnen  Gebieten  unseres 
Seelenlebens  zu  betrachten,  ganz  ähnlich,  wie  wir  früher  auch 
die  drei  Hauptsymptome  der  Manie  als  die  verschiedenen  Seiten 
der  gleichen  einheitlichen  Eunctionsstörung  angesehen  haben. 
Für  diese  Auffassung  spricht  der  Umstand,  dass  wir  jener  Ver- 
bindung von  Ej-ankheitserscheinungen  im  Laufe  der  verschieden- 
artigsten Psychosen  immer  in  derselben  "Weise  wiederbegegnen. 
Ihr  Zusammenhang  muss  also  eiu  sehr  tief  begründeter  sein. 
Auch  der  bei  manchen  Geistesstörungen  beobachtete  plötzliche  Um- 
schlag der  gesammten  manischen  in  die  gesammten  melancho- 
lischen Symptome  und  umgekehrt  scheint  mir  dafür  zu  sprechen, 
dass  die  einzelnen  Elemente  der  beiden  Zustände  nicht  locker 
und  zufällig,  sondern  nothwendig  an  einander  gebunden  sind. 

Aus  diesen  Erörterungen  geht  hervor,  dass  der  einfache  Nach- 
weis der  geschilderten  melancholischen  Krankheitszeichen  durchaus 
noch  nicht  genügt,  um  die  Diagnose  der  Melancholie  zu  begründen. 
Es  giebt  kaum  eine  Krankheitsgruppe,  bei  der  nicht,  wie  der  manische, 
so  auch  der  melancholische  Symptomencomplex  zeitweise  zur  Aus- 
bildung gelangen  könnte ;  namentlich  im  Beginne  subacuter  Psychosen 
findet  er  sich  häufig.  Ein.  grosser  Theil  dieser  rein  symptomatischen 
Zustandsbüder  lässt  sich  durch  den  Nachweis  ander  ^veitiger  Krank- 
heitserscheinungen ausscheiden,  die  der  typischen  Melancholie  fremd 
sind.  Dahin  gehören  namentiich  Sinnestäuschungen,  ausgeprägtere 
"Wahnideen,  dauernde  starke  Benommenheit  und  Desorientirtheit. 
Bei  den  Depressionszuständen  der  Paralytiker  kommen  ausserdem 
noch  die  häufig  sehr  lange  zurückreichenden  Prodromalsymptome, 
besonders  Reizbarkeit,  Vergesslichkeit,  psychische  Schwäche,  sowie 
der  Nachweis  nervöser  Störungen  als  differentialdiagnostische  Zeichen 
in  Betracht.  Sehr  schwierig  kann  sich  die  Unterscheidung  der  ein- 
fachen Melancholie  von  den  periodischen  oder  unter  Umständen 
auch  beginnenden  circulären  Formen  gestalten.  Einen  gewissen 
Anhalt  gewährt  hier  das  Lebensalter.    Eine  anscheinend  typische 


302 


IV.  Die  Melancholie. 


Melancholie  in  jugendlichem  Alter  muss  immer  den  Verdacht  auf 
ein  periodisches  oder  circuläres  Irresein  erwecken.  Andererseits 
kann  sich  dieses  letztere  auch  noch  im  Klimakterium  entwickeln. 
TJeberdies  hat  die  Melancholie,  ähnlich  wie  die  Manie,  an  sich  die 
Neigung,  sich  im  Leben  zu  wiederholen,  so  dass  von  den  einfachen 
zu  den  periodischen  Formen  Uebergänge  bestehen.  Wer  in  den  ersten 
Lebensjahrzehnten  einmal  melancholisch  gewesen  ist,  wird  es  in 
den  klimakterischen  Jahren  und  ein  Decennium  später  leicht  wieder, 
auch  ohne  dass  man  hier  schon  von  einer  eigentlichen  Periodicität 
sprechen  könnte.    Melancholien,  die  auffallend  rasch  und  günstig 
veriaufen,  sind  häufig  der  Beginn  circulärer  Psychosen.    Bei  sehi- 
geringfügiger,  andeutungsweiser  Ausbildung  aller  Erscheinungen  liegt 
die  Wahrscheinlichkeit  periodischer  Wiederkehr  nahe,  häufig  mit 
äusserst  schleppendem  Yeriaufe  des  einzelnen  Anfalls. 

Die  Behandlung  der  einfachen  Melancholie  hat  vor  Allem 
für  die  Entfernung  aller  den  Kranken  schädigenden  Reize 
zu  sorgen.  Dazu  gehören  namentlich  diejenigen  Personen  und 
Dinge,  welche  ihn  gemüthlich  am  meisten  berühren,  die  nächsten 
Anverwandten,  das  eigene  Heim  und  die  Berufsarbeit.  Bei  ganz 
leichter  Erkrankung  kann  unter  Umständen  ein  einfacher  Auf- 
enthaltswechsel, die  Unterbringung  bei  einer  befreundeten,  ver- 
ständnissvoUen  Familie  genügen.  Dringend  zu  warnen  ist  vor 
„Zerstareuungen",  anstrengenden  Reisen,  forcirten  Curen,  lebhafter 
Geselligkeit,  die  ebenso,  wie  pädagogische  und  moralisirende  Mass- 
regeln immer  rasch  verschlimmernd  wirken.  In  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  FäUe  wird  die  Yerbringung  in  die  Anstalt  noth- 
wendig  sein,  ganz  unbedingt  dann,  wenn  irgendwie  Selbstmord- 
jieigung  hervortritt. 

Das  beste  Beruhigungsmittel  ist  die  Bettlagerung,  die  man 
namentlich  bei  schwachen  oder  sehr  gequälten  Kranken  mit  kurzen 
Unterbrechungen  zum  Aufenthalte  im  Freien  lange  Zeit  hindui-ch 
fortsetzen  kann.  Besondere  Aufmerksamkeit  erfordert  ferner  die 
Sorge  für  eine  gute,  kräftige  Ernährung.  Der  Ki-anke  mrd 
regelmässig  zum  Essen  angehalten;  die  Appetitiosigkeit  und  Ver- 
dauungsträgheit  wird  durch  Eingiessungen  oder  milde  Laxantien, 
unter  Umständen  dui-ch  Magenausspülimgen,  sowie  dui'ch  passende 
Auswahl  der  Speisen  bekämpft.  Meist  gelingt  es  besser,  in  häufiger 
Wiederholung  kleinere  Mengen  von  Nahi-ung  zuzuführen,  als  die 


Melancholia  simplex. 


303 


copiöseren  Hauptmalilzeiten  einzuhalten.  Geduld  und  Beachtung  der 
Wünsche  des  Ki-anken  vermag  hier  sehr  viel  zu  erreichen.  Nur  in 
äusserst  seltenen  Fällen  wii'd  man  bei  hartnäckiger  Sitophöbie  etwa 
zur  künstlichen  Ernähi-ung  zu  greifen  haben;  die  besonnenen  Kranken 
geben  den  als  nutzlos  erkannten  Widerstand  meist  bald  auf. 

Ton  gTösster  Wichtigkeit  ist  selbstverständlich  auch  die  Regel- 
ung des  Schlafes.  Bei  der  langen  Dauer  der  Krankheit  ist  von 
der  Anwendung  der  medicamentösen  Mittel  möglichst  abzusehen,  da 
sie  meist  nicht  sehr  lange  hintereinander  fortgegeben  werden  können. 
Höchstens  wird  man  etwa  einen  Versuch  mit  dem  Bromkalium 
machen.  Häufig  thut  der  Alkohol  recht  gute  Dienste,  der  in  kleinen 
Gaben  die  innere  Spannung  mildert,  in  grösseren  direct  Schlaf  er- 
zeugt. Bei  stärker  hervortretenden  Beängstigungen  pflegt  Opium  oder 
Morphium  Erleichterung  zu  gewähren.  In  der  Hauptsache  wird 
man  sich  auf  diätetische  Massregeln  beschränken  müssen,  auf 
abendliche  verlängerte  Bäder  (33—340  C),  Priessnitz'sche  Ein- 
packungen,  mässige  Bewegung  im  Freien  u.  dgl. 

Wo  die  geringsten  Anzeichen  von  Selbstinordneigung^ hervor- 
treten, ist  auch  in  den  anscheinend  mildesten  Formen  der  Er- 
krankung dringend  eine  sorgfältige  Ueberwachung  geboten, 
wie  sie  nur  in  einer  zuverlässigen  Irrenanstalt  (nicht  sogenannten 
„offenen"  Kuranstalt)  durchgeführt  werden  kann.  Tag  und  Nacht 
muss  in  solchen  FäUen  Jemand  in  unmittelbarer  Nähe  des  Kranken 
sein  und  ihn  unausgesetzt  im  Auge  behalten.  Das  Schlafen  eines 
Wärters  im  gleichen  oder  gar  im  Nebenzimmer  ist  in  irgendwie  be- 
denklichen Fällen  durchaus  unzureichend.  Diese  peinliche  Aufmerk- 
samkeit, die  den  Kranken  keinen  Moment,  auch  auf  dem  Abort 
nicht,  ausser  Acht  lässt,  ist  bis  in  die  volle  Reconvalescenz  hinein 
fortzusetzen,  da  oft  unvorhergesehene  Yerschlechterungen  mit  Wieder- 
erwachen der  krankhaften  Triebe  vorkommen,  und  die  Besserung  bis- 
weilen nur  eine  scheinbare  imd  zur  Täuschung  der  Umgebung  simu- 
lirte  ist. 

Die  psychische  Behandlung  muss  eine  ruhige,  gleichmässig 
freundliche  und  geduldige  sein;  die  Durchführung  der  nothwendigen 
ärztUchen  Anordnungen  ist  mit  Festigkeit,  aber  ohne  Starrheit  auf- 
recht zu  erhalten.  Yiele  Gespräche  über  den  psychischen  Zustand 
smd  zu  vermeiden;  ü-östender  Zuspruch  oder  dialektische  Ausein- 
andersetzungen pflegen  wenig  oder  nichts  zu  helfen.  Weit  rationeller 


gQ^  IV.  Die  Melancholie. 

ist  es,  eine  Ablenkung  des  Yorstellungsveiiaufes  auf  ganz  fernliegende 
Gebiete  anzustreben,  was  allerdings  fast  nur  bei  intelügenten  Kranken 
und  in  leichteren  Fällen  mit  einiger  Sicherheit  gelingt.    Auf  der 
Höhe  des  Leidens  verbieten  sich  solche  Yersuche  von  selbst;  in  der 
Keconvalescenz  jedoch  sind  sie  ein  sehr  wichtiges  Hülfsmittel,  das 
Interesse  wieder  in  die  gewohnten  Bahnen  zu  leiten.  Demselben 
Zwecke  dient  anregende,  nicht  ermüdende  Beschäftigung,  Lecture 
u  dergl   sobald  mit  dem  Nachlasse  der  Yerstimmung  eme  freiere 
Hingabe'  an  dieselbe  möglich  wird.  Diese  Entwickelung  pflegt  sich 
ganz  von  selbst  zu  voUziehen;  der  Arzt  hat  nichts  zu  thun,  als 
dieselbe  nach  Kräften  zu  fördern  und  Stömngen  durch  Ueberan- 
strengung,  starke  Gemüthsbewegungen,  körperliche  Schädüchkeiten  zu 
verhüten    Besuche  seitens  der  nächsten  Angehörigen  wii'ken  nament- 
lich auf  der  Höhe  der  Krankheit  nicht  selten  sehr  aufregend,  machen 
dem  Kranken  das  Herz  schwer;  hier  ist  besondere  Vorsicht  geboten. 

Von  Wichtigkeit  ist  es  endlich,  den  Kranken  nicht  zu  früh  aus 
der  Anstaltsbehandlnng  zu  entlassen;  unvorhergesehene  Selbstmorde 
können  die  Folge  davon  sein.    Bisweüen  kehren  die  Ki-^en  auch 
von  selbst  wieder  zurück,  da  sie  merken,  dass  sich  ihr  Zustand  zu 
Hause  sofort  wieder  verschlechtert.  „Mich  hat  gleich  Alles  gereut, 
sagte  mir  ein  solcher  Kranker.    Sehr  häufig  hat  man  freihch  den 
besonnenen,  über  „Heimweh"  klagenden,  stark  drängenden  Kranken 
und  noch  mehr  ihren  Angehörigen  gegenüber  einen  schweren  Stand. 
Erst  wenn  das  ungeduldige  Drängen  verschwindet,  volle  Krankheits- 
einsicht besteht,  die  Ernährung  auf  ihren  früheren  St^d  zurück- 
gekehrt und  der  Schlaf  ungestört  ist,  kann  man  die  Heilung  als 
voUendet  nnd  den  Entiassungstermin  als  gekommen  ansehen;  Aus- 
nahmen sind  nur  bei  sehr  günstigen  Verhältinssen  .^«^^^^^ 
fortschreitender  Keconvalescenz  zulässig.    Jedenfalls  bednrfen  alle 
Entiassenen  noch  längere  Zeit  hindurch  einer  gewissen  Schonmag 
und  Pflege,  sowie  einer  verständigen,  ruhigen  Behandlung  SeitBns 
ihrer  Umgebung. 

B.  Die  Angstmelancliolie. 

Unter  dem  Namen  der  Angstinelancholie  (Melancholia  activa) 
wollen  wir  diejenigen  Formen  der  melancholischen  Verstimmung  zu- 
sammenfassen, bei  denen  der  Affect  der  Angst  das  am  meisten  m 


Melancliolia  activa. 


305 


die  Augeu  springeiide  Symptom  bildet.  Schon  bei  der  eiiifaclien 
Melancholie  finden  sich  zwar  sehr  häufig  Beängstigungen,  welche 
vorübergehend  sogar  recht  heftig  werden  können;  in  den  hier  be- 
sprochenen Fällen  aber  begleitet  eine  starke  ängstliche  Erregung 
von  vorn  herein  dauernd  den  ganzen  Verlauf  der  Psychose. 

Die  Krankheit  beginnt  mit  Schlaflosigkeit,  schweren  ängstlichen 
Träimien  und  psychischer  Depression.  Die  Kranken  hören  auf,  zu 
arbeiten,  ziehen  sich  zui-ück  von  ihrer  Umgebung,  laufen  planlos 
herum,  werden  reizbar  und  ungeduldig.  Es  entwickelt  sich  eme 
wachsende  innere  Unruhe  und  Erregung,  die  sie  2^achts  aus  dem 
Bette  ti-eibt,  sie  an  jeder  geordneten  Thätigkeit  hindert  und  sich 
deuthch  in  ihren  verstörten  Mienen,  ihrem  imsteten  Wesen  und  ge- 
legentlichen Affectausbriichen  kundgiebt.  .Nicht  selten  kommt  es 
schon  in  diesem  Stadium  zu  einem  plötzlichen  energischen  Selbst- 
jnordversuche.  Die  Besonnenheit  kann  dabei  vollständig  erhalten  sein. 
Die  Kranken  wissen,  wo  sie  sich  befinden,  vermögen  auch  über  ihren 
Zustand  Auskunft  zu  geben,  klagen  über  die  schreckliche  Angst, 
halten  sich  aber  nicht  für  ki'ank.  Sie  meinen,  es  werde  irgend  etwas 
Entsetzliches  passiren,  sie  müssten  sterben,  seien  verloren  imd  ver- 
dammt; Alles  gehe  zu  Grunde.  Im  weiteren  Yerlaufe  dpr  Krank- 
heit stellt  sich  gewöhnHch.  unter  dem  Einflüsse  des  Affectes  eine 
leichtere  oder  schwerere  Bewusstseinstrübung  ein.  Der  Kranke 
vermag  nicht  mehr  Mai'  und  unbefangen  aufzufassen;  die  Umgebung 
kommt  ihm  verändert,  unheimlich,  grauenhaft  vor;  es  geschehen 
.schreckliche  Dinge;  man  schaut  ihn  so  eigenthümlich  an,  will  ilnu 
etwas  verbergen,  bedroht  ihn;  Alle  sind  aufgeregt  lun  seinetwillen. 

Ausgeprägtere  Sinnestäuschungen  lassen  sich  dabei  nicht  nach- 
weisen, höchstens  solche  ganz  elementarer  oder  illusionärer  Natim 
Meist  ist  es  wesentlich  die  von  Schreckbildern  erfüllte  Phantasie, 
welche  in  den  Wahrnehmungen  die  Bestätigung  ihrer  Ahnungen  und 
Befürchtungen  aufzufinden  vermeint.  Eine  derartige  Kranke  hörte, 
wie  Jemand  in  dem  Zimmer  unter  ihr  „in  einen  Sarg  stieg";  das 
Licht  auf  dem  Tische  ist  ein  Todtenliclit,  der  rasselnde  Wagen 
draussen  ein  Leichenwagen.  Dem  entsprechend  gewinnen  auch  die 
Befürchtungen  des  Kranken  bisweilen  einen  ganz  phantastischen  Inhalt. 
Man  Avird  ilm  ins  Gefängniss  werfen,  ihm  heimlich  Gift  beibringen,  ihn 
ertränken,  im  Keller  abschlachten,  dahin  fortschleppen,  wo  Niemand 
ist;  er  kann  nicht  sterben,  muss  allein  bleiben  auf  der  Welt. 

Kracpelin,  Psyrhiatiii'.    4.  Aufl. 


306 


IV.  Die  Melancholie. 


In  anderen  Fcällen  sind  die  ängstlichen  Ideen  ganz  inhaltlos 
und  unbestimmt;  der  Kranke  fürchtet  sich  „vor  der  Gerechtigkeit 
Gottes",  „vor  den  Menschen",  „vor  der  Polizei",  oder  aber  er  fürchtet 
sich  schliesslich  vor  allen,  auch  den  harmlosesten  Dingen,  mit  denen 
er  in  Berührung  kommt  (Pantophobie).  Nicht  selten  gesellen  sich 
Yersündigungsideen  hinzu,  können  aber  auch  ganz  fehlen.  Der 
Kranke  ist  faul,  schlecht,  hat  den  Tod  verdient,  die  ganze  Welt  ins 
Unglück  gestürzt,  die  Sünde  wider  den  heiligen  Geist  begangen, 
Deutschland  verrathen. 

Ihren  symptomatischen  Ausdruck  findet  die  Angst  in  den  ver- 
störten, gespannten  Gesichtszügen  der  Kranken,  in  dem  Widerstreben 
gegen  jede  Beeinflussung  und  vor  Allem  in  ihrer  motorischen  Un- 
ruhe. Unfähig,  ein  geordnetes  Gespräch  zu  führen  oder  sich  zu- 
sammenhängend zu  beschäftigen,  können  sie  schliesslich  auch  nicht 
mehr  ruhig  sitzen  oder  liegen,  springen  immer  von  Neuem  wieder 
aid:,  um  rastlos  umherzuwandörn,  drängen  zur  Thüre  Mnaus,  da  sie 
nicht  mehr  da  bleiben  können,  „so  starkes  Heimweh  haben" ;  sie  ringen 
die  Hände,  halten  leise  oder  laute  Selbstgespräche,  seufzen  und 
stöhnen  oder  brechen  in  verzweifeltes  Jammern  aus.  Alle  derartigen 
Kranken  können  aus  naheliegenden  Gründen  ihrer  Umgebung  und 
namentlich  sich  selbst  in  hohem  Grade  gefährlich  werden.  Nicht 
selten  kommt  es  bei  ihnen  zu  den  wol  als  „Raptus  melancholicus" 
bezeichneten,  plötzlichen  intensiven  Steigerungen  des  ängstlichen 
Affectes  mit  ti-aumartiger  Bewusstseinsti'übung  und  verschwonuneneu 
Yorstellungen  schreckhaften  Inhaltes,  in  denen  sie  sich  zu  gi'ässlichen 
Selbstverstümmelungen,  Selbstmord-  und  Mordversuchen  him-eissen 
lassen.  Meist  besteht  dabei  vollständige,  psychisch  bedingte  Analgesie. 

Der  Schlaf  dieser  Kranken  ist  regelmässig  sehr  bedeutend  ge- 
stört. Die  Angst  lässt  ihnen  keine  Ruhe;  sie  können  es  nicht  lange 
im  Bette  aushalten,  sondern  steigen  immer  und  immer  wieder  heraus, 
woUen  fort,  entfliehen,  oder  sie  jammern  und  klagen  ohne  Unter- 
brechung die  ganze  Nacht  hindm-ch,  rufen  laut  um  Hülfe,  wecken 
ihre  Nachbarn,  kriechen  vor  Angst  zu  ihnen  ins  Bett,  verstecken 
sich  unter  dasselbe  und  werden  durch  alle  Yersuche,  sie  zu  be- 
ruhigen und  im  Bette  zu  erhalten,  meist  nur  noch  ängstlicher  und 
aufgeregter.  Aehnliche  Schwierigkeiten  stellen  sich  der  regelmässigen 
Ernährung  entgegen.  Anfangs  fehlt  nur  das  Interesse  für  die 
Nahiimgsaufnahme  und  der  Appetit;  später  aber  gesellt  sich  sehr 


Melancholia  activa. 


307 


häufig-  wirkliche  Sitopliobie  hinzu.  Der  Kranke,  der  vor  Lauter  Angst 
nicht  dazu  konunt,  selbst  zu  essen,  wird  bei  jedem  Versuche,  iJim 
die  Nalirung  einzuführen,  immer  widerstrebender  und  spuckt  Alles 
wieder  aus,  oft  nur  aus  unbestinunten  ängstlichen  Motiven,  bis- 
weilen in  Folge  von  Vergiftungs-  oder  Yersündigungsideen.  Es 
giebt  indessen  auch  Kranke,  die  trotz  aller  Aufregung  gut  essen 
oder  sich  doch  willenlos  füttern  lassen.  Das  Körpergewicht  sink 
rasch;  die  Verdauung  ist  sehr  gestört,  träge,  die  Zunge  dick  be- 
legt; es  besteht  starker  foetor  ex  ore.  Der  Puls  ist  meist  be- 
schleunigt, die  Temperatur  normal,  die  Eespiration  ebenfalls 
beschleunigt,  aber  sehr  oberflächlich. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  ist  stets  ein  langwieriger.  Unter 
vielfachen  Schwankungen  zum  Besseren  und  zmn  Schlechteren  zieht 
sich  die  Psychose  über  viele  Monate,  oft  über  Jahr  und  Tag  Mn. 
In  günstigen  Fällen  werden  die  Nachlässe  der  Angst  allmählich  deut- 
hcher  und  dauernder;  die  Befürchtungen  und  Versündigungsideen 
treten  mehr  zurück,  und  die  Kranken  fangen  nach  und  nach  an, 
Theilnahme  und  Verständniss  für  ihre  Umgebung  zu  zeigen,  sich 
zu  beschäftigen,  an  die  Interessen  ihrer  gesunden  Vergangenheit 
wieder  anzuknüpfen.  Zugleich  bessern  sich  Schlaf  und  Ernährung, 
imd  das  Körpergewicht  steigt.  Gewöhnlich  bleibt  aber  noch  lange 
Zeit  hindurch  eine  gewisse  Verzagtheit  und  Kleinmüthigkeit,  sowie 
eine  grosse  Empfindliclikeit  gegen  gemüthHche  Erregungen  zurück, 
welche  aufmerksame  Beachtung  Seitens  der  Umgebung  verdienen. 
Ich  bin  sogar  nicht  ganz  sicher,  ob  nicht  eine  leichte  Schwäche 
in  dieser  Beziehung  auch  bei  günstigstem  Verlaufe  dauernd 
fortbesteht. 

Am  häufigsten  ist  jedenfalls,  wie  ich  im  Gegensatze  zu  meiuer 
früheren  Auffassung  jetzt  glauben  muss,  der  Ausgang  der  Psychose 
in  geistiges  Siechthum.  Die  Stärke  des  ängstlichen  Affectes  lässt 
freilich  nach  längerer  Dauer  der  Krankheit  immer  nach,  aber  die- 
äusseren  Zeichen  desselben  bleiben  zurück,  Unruhe,  Neigung  zum 
Jammern  und  Klagen,  unsinniges  Widerstreben,  oberflächliche  Er- 
regbarkeit. Dabei  sind  die  Kranken  innerlich  stumpf,  theilnahmlos,. 
gleichgültig  geworden.  Sie  sind  unfähig,  sich  zu  beschäftigen,  zeigen 
kein  Interesse  für  ihre  Umgebimg,  für  ihre  Angehörigen,  fassen  trotz 
voller  Besonnenheit  und  Orientirtheit  nur  mit  Anstrengung  auf,  was 
man  ihnen  sagt.  Volle  Krankheitseinsicht  gewinnen  sie  nicht,  halten 

20* 


308 


IV.  Die  Melancholie. 


auch  wol  au  einzelnen  auf  der  Höhe  der  Psychose  entstandenen 
Wahnideen  dauernd  fest.  Zuweilen  ent\vicke]t  sich  auch  hier  ein 
Zustand  äusserster  Gereiztheit  und  Unzufi-iedenheit,  der  Jahre  laut;- 
fortbestehen  kann. 

Die  active  Melancholie  in  der  hier  beschriebenen  Form  ist  ganz 
vorzugsweise  eine  Erki-ankimg  der  höheren  Lebensalter  etwa 
zwischen  dem  50.  und  65.  Jakre;  auch  hier  scheint  mir  das  Aveib- 
liche  Geschlecht  stärker  vertreten  zu  sein,  als  das  männliche.  Die 
ererbte  Praedisposition  dürfte  im  Ganzen  keine  sehr  grosse  Rolle 
spielen,  mehr  der  erworbene  Zustand  des  Gesanmitorganisnms,  nament- 
lich das  vorzeitige  Greisenalter.  Die  öfters  als  Ursachen  beachteten 
GemüthsbcAvegungen  geben  zumeist  wol  niu-  den  letzten  Anstoss  zum 
Ausbruche  der  lange  vorbereiteten  imd  nicht  selten  in  leichten  Yer- 
stiimnungen,  unmotivii'ten  Befürchtungen  sich  bereits  ankündigenden 
Psychose.   Sie  bildet  gewissermassen  den  Uebergang  von  den  klimak- 
terischen zu  den  eigentlich  senilen  Geistesstörungen,  imd  erwächst 
offenbar  wesentlich  aus  den  körperüchen  Rückbildungsvorgängen, 
welche  das  Greisenalter  einleiten;  daher  auch  ihi'e  ungünstige  Pro- 
gnose. Ich  möchte  es  bei  der  typischen  Gestaltimg  dieser  Erkivankimg 
zunächst  dahin  gesteUt  sein  lassen,  ob  die  vereinzelten  symptomatisch 
ähnlichen  FäUe  bei  jugendlicheren  Individuen  überhaupt  mit  hier- 
her gerechnet  werden  dürfen.  Umnögüch  wäre  es  ja  fi-eilich  nicht, 
dass  auch  dort  sich  ausnahmsweise  einmal  ein  ähnlicher,  vielleicht 
nur  vorübergehender  Invaliditätszustand  ausbilden  könnte,  wie  er 
sich  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  erst  im  6.  imd  7. 
Lebensjahrzehnt  entwickelt. 

In  der  Regel  aUerdings  düi-fte  es  sich  bei  jugendticheren  Per- 
sonen um  wesentlich  andersartige  Erkrankimgen  handeln.  Nament- 
lich die  Dementia  paralytica  konunt  hier  in  Betracht,  welche  ganz 
ähnliche  Symptomenbilder  Liefern  kann.  Die  Vorläufer  der  acuten 
Yerschlimnierimg,  namentlich  Gedächfaiissschwäche,  Anfälle,  Sprach- 
störungen imd  andere  nervöse  Erscheinungen,  die  tiefere  Bewusst- 
seinsta-übung,  das  Aufti-eten  ganz  absurder  Wahnideen,  das  Sinnlose, 
Triebartige  der  Angst  mit  gelegentüchem,  ganz  unvermitteltem  Um- 
schlag in  Euphorie  können  neben  der  Berücksichtigimg  des  Lebens- 
alters als  Anhaltspimkte  fiü-  die  Differentialdiagnose  dienen.  Der 
depressive  Wahnsinn  imterscheidet  sich  von  der  activen  Melancholie 
durch  das  starke  Hervortreten  der  phantastischen  Wahnideen  und 


Melancholia  activa. 


309 


Sinnestiiiisoliimgen  bai  gering;ereni  Affecte.  Eine  g;inz  scliarfe  Ab- 
grenzung lässt  sich  ijidessen  hier  ebensowenig  durchführen,  wie 
gegenüber  der  einfachen  Melancholie,  bei  welcher  Andeutungen  von 
Präcordialangst  Avenigstens  episodisch  sehr  häufig  vorhanden  sind. 
Nach  beiden  Eichtungen  giebt  es  Uebergänge. 

Neuerdings  endlich  hat  Alt*)  einen  Symptoinencomplex  be- 
schrieben, der  in  mancher  Beziehung  an  das  Bild  der  Angstmelan- 
cholie erinnert  und  wesentlich  diu'ch  krankhafte  Störmigeu  der 
Magenverdauimg  (Erweiterimg  des  Magens  mit  Anacidität  oder 
Hyperacidität)  bedingt  sein  soll.  Es  handelt  sich  um  das  Aufti-eten 
lebhafter  Angstanfälle,  namentlich  nach  dem  Essen  resp.  nach  Diät- 
fehlern mit  hypochondrischer  Yerstinunmig,  einzelnen  Illusionen, 
Zwangsvorstellungen,  abnormen  Sensationen  an  den  verschiedensten 
Punkten  des  Körpers,  nem-algischen  Beschwerden,  Herzklopfen, 
Tremor  der  Hände  und  Steigerung  der  Reflexe.  Der  Magen  ist 
dabei  empfindlich,  aufgetrieben,  die  Zunge  stark  belegt;  es  besteht 
Eoetor  ex  ore,  Sodbrennen,  Aufstossen,  Stuhlverstopfung.  Alle  diese 
Erscheinimgen  schwinden  ungemein  schnell  bei  rationeller  Behand- 
lung des  Magenleidens  (Ausspülung,  zweckmässige  Diät,  Regelung 
des  Säuregehaltes).  Alt  bezeichnet  die  Psychose  als  „Hypochondria 
gastrica".  Die  Kranken  standen  meist  zAvischen  dem  20.  und  40. 
Lebensjahre. 

Die  Behandlung  der  activen  Melancholie  hat  vor  Allem  die 
Beruhigung  des  Ki-anken  zu  ersti-eben.  Seine  Versetzung  in  die 
Anstalt,  in  eine  ruhige,  ihn  so  w^enig  wie  möglich  beengende  und 
reizende  Umgebung  ist  daher  das  erste  Erforderniss,  jeder  Yersuch 
einer  häuslichen  Behandlimg  schon  wegen  der  Selbstmordgefahr 
dm-chaus  verwerflich  imd  gefährlich.  In  den  meisten  Fällen  Avird 
Bettbehandlung  nothwendig  sein,  deren  Dm'chfühnmg  hier  fi-ei- 
lich  oft  recht  schwierig  ist  und  einen  besonderen  Aufwand  an  Per- 
sonal erfordert.  Gepolsterte  Betten  leisten  bei  der  grossen  Unruhe 
der  Kranken  bisweilen  gute  Dienste;  im  äussersten  Nothfalle  muss 
wol  auch  einmal  zur  vorübergehenden  Isolii'ung  im  gepolsterten 
Zimmer  gegiiffen  werden.  Unter  allen  Umständen  aber  ist  eine 
genaue,  fortdauernde  Ueberwachung .  imerlässlich,  da  die 
Kranken  sich  oft  in  hohem  Grade  gefälnlich  sind,  mit  dem  Kopfe 


*)  Archiv  f.  Psychiatrie  XXIY,  2. 


310 


IV.  Die  Melancholie. 


gegen  die  Wand  rennen,  Scheiben  (aucli  bisweüen  sehr  dicke!)  zer- 
trümmern, mn  sich  mit  den  Scherben  zu  verletzen  u.  s.  f. 

Unter  den  dii-ecten  Beriüiigmigsmitteln  spielen  hier  die  wich- 
tigste Eolle  das  Morphium  und  noch  mehr  das  Opium,  dessen 
systematische  Anwendung  in  rasch  steigender  Dosis  (bis  zu  di-eimal 
täglich  50  oder  selbst  60  Tropfen  der  Tinctiu-)  gerade  bei  Angst- 
zuständen mit  Eecht  weite  Yerbreitung  gefunden  hat.  Es  giebt  in- 
dessen einzelne  Fälle,  in.  denen  nicht  nur  keine  Besserung,  sondern 
geradezu  eine  Steigerung  der  Angst  eintiitt;  darum  ist  Vorsicht  ge- 
boten. Ausserdem  kommen  natiüiicli  zur  Erzielung  von  Sclilaf  alle 
jene  medicamentösen  und  diätetischen  Mittel  in  Betracht,  deren  In- 
dicationen  früher  eingehend  besprochen  worden  sind.  Von  ersteren 
möchte  ich  besonders  die  gelegentliche  Anwendung  des  Alkohols 
empfehlen,  der  Euphorie  und  Beruhigung  zu  schaffen  geeignet  ist 
und  zugleich  meist  gern  genonmien  wird.  Bei  sonstigen  Arzneien, 
mit  denen  man  wegen  iha-es  zweifelliaften  Nutzens  möglichst  sparsam 
sein  sollte,  wird  man  meist  mit  der  subcutanen  oder  allenfalls  der 
Appücation  per  Klysma  weiter  korimien,  als  mit  der  innerlichen 
Darreichung,  da  die  Kranken  dieser  letzteren  vielfach  eiu  grosses 
Misstrauen  (Yergiftungsideen)  entgegenbringen  und  leicht  zur  Nalu-- 
ungsverweigerung  veranlasst  werden.  Ebenso  findet  die  Anwendimg 
der  Bäder,  Einwickelungen  u.  s.  f.  ihre  Grrenze  an  dem  ängstlichen 
Widerstande  der  Kranken.  Anwendimg  von  Gewalt  vermehi-t  nur 
das  üebel,  das  man  bekämpfen  -will. 

In  sehr  vereinzelten  Fällen  kann  die  drohende  Gefahr  einer 
Erschöpfung  bei  andauernder  Sitoj)hobie  Anlass  zur  künstlichen 
Fütterung  werden.  Weiterhiu  ist  aber  die  Sorge  für-  die  hygienischen 
Bedürfnisse  des  Kranken,  namentlich  für  Reinlichkeit,  regeknässige 
Darmentleerung,  gute  Luft,  genügende  Erwärmung  der  Aufenthalts- 
räume  (besonders  bei  der  Neigung,  sich  zu  entkleiden)  von  der 
grössten  Bedeutung. 

C.  Melaucliolia  attonita. 

Das  Ki-ankheitsbild  der  Melanchoüa  attonita  (Stupor)  steht  mit 
demjenigen  der  activen  Melancholie  in  naher  Verwandtschaft;  iu 
beiden  Psychosen  trägt  der  zu  Grimde  liegende  pathologische  Alfecr 
den  Charakter  der  Angst.    Während  aber  derselbe  bei  der  bisher 


Melancliolia  attonita. 


311 


besproclienen  Form  iu  heftigen  psychomotorischen  Eeactionen  sich 
]iach  aussen  entladen  konnte,  führt  er  bei  der  Melancholia  attonita  ziu- 
Entwickelung  eines  hochgradigen  inneren  Spannungszustandes, 
der,  abgesehen  von  episodischen  Aufi-egungen,  niu'  langsam  und  all- 
mählich sich  wieder  zu  lösen  pflegt. 

Der  Beginn  der  Erkrankung  vollzieht  sich  zmneist  in  ganz  ähn- 
licher "Weise  wie  bei  der  activen  Melancholie.  Es  kommt  zunächst 
zur  Ausbildimg  eines  Prodromalstadiums  mit  inneren  Beängstigungen, 
abnormen  Sensationen  im  Kopf,  schweren  Gedanken  imd  Ti'äimien, 
Versündigimgsideen,  imstetem,  verstörtem  Wesen,  Arbeitsunfähigkeit 
imd  den  gewöhnlichen  körperlichen  Begleiterscheinimgen  der  Schlaf- 
und  Appetitlosigkeit.  Nach  einiger  Zeit  scheint  die  anfängliche  IJn- 
ruhe  nachzulassen,  aber  der  Kranke  wird  nicht  freier;  sein  scheuer 
Blick,  seine  starre  Haltung,  die  einsilbigen,  mühsam  hervorgebrachten 
Antworten  zeigen  deutlich,  dass  ihn  die  Angst  immer  mehr  über- 
mannt. Die  Auffassung  der  Aussenwelt  wu-d  dabei  erschwert  und 
getrübt;  der  Kranke  erkennt  zwar  noch  im  Allgemeinen  seiue  Um- 
gebimg, verliert  aber  sehr  bald  das  klare  Verständniss  füi-  die  ein- 
zelnen Vorgänge  imd  für  seine  ganze  Lage:  „es  wird  dunkel  im 
Kopfe".  Ohne  dass  eigentliche  Sinnestäuschimgen  vorhanden  sind, 
erscheint  ihm  doch  die  ümgebimg  unheimlich  und  drohend;  gleich- 
gültige Wahrnehmimgen  haben  eine  besondere  Beziehung  auf  ihn, 
enthalten  Andeutimgen  über  geheime  Fehltritte  oder  bevorstehende 
Sti'afgerichte. 

Eegelmässig  ist  der  Kranke  vollständigvou  Wahnvorstellungen 
schwer  beängstigenden,  grauenvollen  Inlialtes  beherrscht.  Er  ist 
sündhaft,  verloren,  unheilbar,  ansteckend,  ausgetrocknet,  vom  bösen 
Feinde  bezwungen,  der  verworfenste,  schlechteste  Mensch,  aus  der 
Kirche  ausgeschlossen,  in  den  Bann  getiian,  hat  seine  Familie  ent- 
ehrt, seine  Eltern  in's  Grab  getrieben.  Es  ist  überall  hin  berichtet 
worden;  die  Criminalpolizei  kommt,  wird  ihn  vor  den  Richter 
stellen;  heute  geht  es  in  die  Hölle;  Alles  wird  abgeschlachtet.  Da- 
bei ist  der  Vorstellungsverlauf  verlangsamt  oder  gänzlich  ge- 
hemmt, so  dass  der  Kranke  schliesslich  nur  noch  den  dimipfen,  im- 
f'i-ti-äglichen  Druck  der  ihn  ganz  erfüllenden,  namenlosen  Angst 
empfindet.  Die  Glieder  sind  ihm  schwer  wie  Blei;  die  einfachsten 
-Bewegimgen  kosten  ilim  eine  unerhörte  Willensansti-enguug,  nicht 
weü  seine  Energie  gesunken  ist,  wie  in  der  einfachen  Melancholie, 


312 


IV.  Die  Melancholie. 


sondern  weil  die  starre  Hemmimg  des  gesamniten  psycliischen 
Lebens  seinem'  "Wollen  eüi  unüberwindlielies  Hindemiss  entgegen- 
stellt. Darum  erfährt  man  über  die  Vorgänge,  die  sich  in  seinem 
Innern  abspielen,  nur  äusserst  wenig  aus  gelegentlichen,  kiu'z  ab- 
gebrochenen Bemerkungen:  Wie  wird  mir's  gehen;  so  ist's  noch 
Keinem  ergangen;  was  hab'  ich  gethan;  ich  hab'  ein  schönes  Leben 
geführt;  mir  geschieht's  schon  recht;  wann  komme  ich  denn  in's 
Gefängniss? 

Meist  ist  der  Kranke  fast  völlig  stiunm,  giebt  keinerlei  Antwort, 
jammert  höchstens  eimiial  leise  und  karnn  verständlich  vor  sich  hin. 
Mit  gespanntem  Gresichtsausdrucke  steht  oder  liegt  er  stundenlang 
unbeweglich  da;  .nur  eine  gelegentliche  rasche  Bewegung  der  weit 
geöffneten  Augen,  plötzlicher  Wechsel  der  Gesichtsfarbe,  häufig  auch 
starkes  Schwitzen  des  Kopfes  deuten  die  psj^chischen  Vorgänge  a]i. 
die  sich  in  seinem  Innern  abspielen.  Bisweilen  beobachtet  man 
Tag  und  Nacht  fortgesetztes,  triebartiges  Masturbiren.  Alle  Muskeln 
sind  starr  gespannt,  die  spontanen  BoAvegungen  zögernd  imd  ver- 
langsamt; jeder  äusseren  Einwirkung  wird  ein  rasch  sich  steigernder, 
oft  sehr  beti'ächtlicher  passiver  Widerstand  entgegengesetzt.  Hie 
imd  da  wächst  die  namenlose  Angst  so  mächtig  an,  dass  sie  die 
Henmimig  gewaltsam  durchbricht  und  zu  vorübergehenden,  bis- 
weilen äusserst  heftigen  Erregimgsparoxysmen  führt.  Der  Ki-anke 
beginnt  laut  zu  jammern,  monoton  zu  schreien,  unternimmt  un- 
vermuthet  einen  energischen  Selbstmordversuch  oder  stösst  und 
schlägt  plötzUch  brutal  auf  seine  Umgebung  los,  drängt  blind  zur 
Thür,  hinaus. 

Die  Nahrungsaufnahme  bietet  meist  grosse  Schwierigkeit. 
Die  ICranken  dürfen  nicht  essen,  müssen  fasten ;  wenn  sie  essen,  passirt 
ein  Unglück,  sterben  ihre  Geschwister.  Man  muss  daher  gelegentlich  zur 
Sondenfütterung  greifen,  wenn  es  auch  meist  gelingt,  durch  einfaches 
Eingeben  genügend  Nahrung  zuzuführen.  Für  ihre  sonstigen  körper- 
lichen Bedürfnisse  pflegen  die  Kranken  vielfach  noch  selbst  Sorge 
zu  tragen.  Nur  in  sehr  schweren  Fällen  mit  tieferer  Bewusstseins- 
trübung  sind  sie  zeitweise  ausser  Stande,  sich  an-  und  auszukleiden, 
sich  reinlich  zu  halten  und  die  Nahrung  allein  zu  sich  zu  nehmen. 
Der  Schlaf  ist  stets  hochgradig  gestört;  oft  besteht  vollständige  In- 
somnie: die  Kranken  wehren  sich  auf  das  Verzweifeltste  gegen  die 
Bettlagerung,  stehen  im  Hemde  da,  oder  sie  sitzen,  leise  stöhnend. 


Melancholia  attonita. 


313 


Nächte  lang-  aufreelit,  liegen  ruliig  und  iinbeAveglic]),  aber  mit  offenen 
Augen,  ohne  zu  schlafen. 

Das  KörpergeAvicht  und  die  allgemeine  Ernährung  sinkt 
rasch  und  §ehr  bedeutend;  die  Athmung  ist  verlangsamt  und  ober- 
fläclüich,  der  Puls  klein  und  gespannt,  die  Temperatur  subnormal. 
Kegelniässig  treten  als  Zeichen  allgemeiner  Circulationsherab- 
setzung  an  einzelnen  Stellen,  namentlich  an  den  Füssen,  Oedeme 
auf.  Das  Gesicht  erscheint  eigenthümlich  gedunsen,  fahl,  die  Schleim- 
häute cyanotisch,  die  herabhängenden  Hände  kalt,  dick  und  eben- 
falls bläulich  vei-färbt;  die  Menses  cessiren;  es  besteht  hartnäckige 
Verstopfung. 

Der  weitere  Verlauf  der  Krankheit  ist  ein  äusserst  einförmiger. 
Monate  können  vergehen,  ohne  dass  sich  irgend  eine  nennenswerthe 
Veränderung  im  Zustande  des  Kranken  vollzieht.  Die  Prognose 
der  Melancholia  attonita  ist  keine  ganz  ungünstige.  Die  Er- 
krankung muss  zwar  stets  als  eine  recht  ernste  angesehen 
werden,  aber  es  scheint  doch,  dass  etwa  die  Hälfte  der  Fälle, 
vielleicht  noch  etwas  mehr,  schliessUch  in  Genesung  übergeht. 
Freilich  pflegen  sich  die  Zeichen  einer  beginnenden  Besserung 
des  Zustandes  erst  nach  mindestens  halbjähriger  Dauer,  oft  noch 
viel  später  einzustellen. 

Zuerst  wird  der  Gesichtsausdruck  des  Kranken  freier;  die 
Spannung  in  den  mimischen  Muskeln,  wie  in  der  ganzen  Körper- 
haltung und  in  den  Bewegungen  lässt  allmählich  etwas  nach.  Man 
sieht,  wie  sich  beim  Befragen  des  Kranken  die  Lippen  bewegen 
und  dann  leise,  zögernd  einzelne,  meist  zutreffende  Antworten  ge- 
geben werden.  Das  Bewusstsein  klärt  sich,  und  es  erfolgt  ein  lang- 
sames Erwachen,  wie  aus  einem  schweren,  wirren  Traume,  an 
den  nur  eine  ziemlich  unklare  Erinnerung  besteht.  Zugleich 
hebt  sich  das  Körpergewicht;  der  Schlaf  bessert  sich,  und  der 
Kranke  erlangt  nach  und  nach  die  Herrschaft  über  seine  Mus- 
keln, wie  über  seine  psychischen  Vorgänge  Avieder.  Immerhin 
bleiben  Spuren  des  krankhaften  Wesens,  grosse  Zurückhaltung,  ge- 
legentliches unmotivirtes  Widerstreben,  leise,  unfi-eie  Sprache  oft 
noch  bis  spät  in  die  Eeconvalescenz  hinein  bestehen,  auch  wenn 
die  eigentliche  Angst  bereits  geschwunden  und  der  Kranke  sich 
über  seinen  Zustand  und  seine  Situation  längst  klar  geworden  ist. 


314 


IV.  Die  Melancholie. 


Die  ganze  Dauer  der  Erkrankung  kann  sich  auf  1 — 2  Jahre  und 
selbst  noch  länger  erstrecken. 

In  ungünstigen  Fällen  verliert  sich  zwar  allmählich  ebenfalls 
der  intensive  Aflect  und  mit  ihm  die  hochgradige  Spannung;  das 
Bewusstsein  klärt  sich,  und  der  Kranke  gewinnt  im  Allgemeinen 
die  Orientirung  wieder,  allein  es  kömmt  nicht  zu  einer  klaren  Ein- 
sicht in  die  überstandene  Erkrankung.  Der  Patient  ist  theilnahm- 
los  und  blöde,  ideenarm  und  unfähig  zu  psychischen  Leistungen 
geworden.  Das  Interesse  für  seine  früheren  Beziehungen,  für  seine 
Familie,  seinen  Beruf  ist  erloschen;  die  Yorgänge  in  seiner  Um- 
gebung gehen  spurlos  an  ihm  vorüber;  das  Gedächtniss  für  ver- 
gangene Erfahrungen  hat  schwer  gelitten.  Gewöhnlich  lassen  sich 
dabei  im  äusseren  Benehmen  noch  Andeutungen  der  überstandenen 
Psychose  erkennen.  Der  Kranke  ist  still,  giebt  nur  wenige,  lang- 
same Antworten  auf  einfache  Fragen,  steht  oder  sitzt  in  gedrückter 
Haltung  stimdenlang  auf  demselben  Flecke  und  widerstrebt,  Avenn 
etwas  Aussergewöhnliches  mit  ihm  vorgenommen  werden  soU. 
Manche  dieser  Kranken  lernen  es  noch,  sich  wieder  einigemiassen 
zu  beschäftigen,  aber  sie  verrichten  ihre  Arbeit  in  rein  mechanischer 
Weise,  ohne  eigenes  Nachdenken.  Im  Laufe  der  Zeit  pflegt  die  Ver- 
blödung rasch  zuzunehmen,  wenn  ihr  nicht  dui'ch  eine  zweckmässige 
Beschäftigung  entgegengearbeitet  wird. 

Der  Ausgang  in  Tod  kann  entweder  dm-ch  Selbstmord  oder 
durch  Erschöpfung  in  Folge  von  Nahrungsverweigerung,  endlich 
durch  allerlei  Complicationen  erfolgen,  unter  denen  die  Tuberculose 
die  bei  weitem  häufigste  ist.  Als  anatomische  Befunde,  an  den 
nervösen  Centraiorganen  werden  aufgeführt  Anaemie,  venöse  Stauimg, 
Oedeni  der  Pia  und  des  Gehirns,  in  den  JFällen  secundären 
Blödsinns  auch  Eindenatrophie.  Die  Zm-ückfühi'ung  der  Psychose 
auf  einen  anfänglichen  Gefässkrampf  (Avie  beim  Sckreck)  und  spätere 
vasomotorische  Lähmung  mit  ihren  pathologisch-anatomischen  Folge- 
zuständen würde  in  jenen  Befunden  eine  gewisse  Stütze  finden. 

Die  Melancholia  attonita  scheint,  im  Gegensatze  zu  den  bisher 
besprochenen  Formen  der  Melancliolie,  vorzugsweise  jüngere  Per- 
sonen, etwa  zwischen  dem  25.  und  40.  Lebensjahi-e,  zu  befallen. 
Das  mäimüche  Geschlecht  ist  vielleicht  stärker,  sicher  nicht  schwächer 
betheiligt,  als  das  Aveibliche.  Die  erbliche  Veranlagung  düi-fte  eine 
gewisse  Kolle  spielen.  Unter  den  auslösenden  Ursachen  sind  heftige 


Melancholia  attonita. 


315 


(Temüthsbewegungen,  besonders  der  Schreck,  iu  erster  Liuie  zu 
nennen. 

Man  könnte  somit  daran  denken,  dass  die  verschiedenen  Formen 
der  Melancholie  gewissermassen  nnr  in  vergrössertem  Massstabe  nor- 
male Affeetz nstände  wiederholen.  Lässt  sich  die  einfache  Melancholie 
der  reizbaren  Verstimmung  an  die  Seite  stellen,  wie  sie  die  Ermüdung 
des  Nervensystems  zu  begleiten  pflegt,  so  entspricht  die  active 
Melancholie  den  lauten  Ausbrüchen  fassungsloser  Yerzweiflung, 
während  die  Melancholia  attonita  mit  jener  plötzlichen  VerwiiTimg 
und  Hemmung  unseres  Seelenlebens  in  Parallele  zu  setzen  wäre, 
welche  dem  Schreck  und  der  rasch  zu  gewaltiger  Höhe  anwachsen- 
den Angst  eigenthümlich  ist.  Yon  einem  durchgängigen  ätio- 
logischen Zusammenhange  zwischen  bestimmtem  Affect  und  ent- 
sprechender Psychose  ist  dabei  freüich  nicht  die  Eede.  Auch  die 
sonstigen  Unterschiede  in  den  Entstehungsursachen  der  einzelneu 
Formen  deuten  darauf  hin,  dass  hier  noch  ganz  andersartige  Be- 
dinguDgen  eine  wesentliche  EoUe  spielen. 

Die  Diagnose  der  Melancholia  attonita  ist  keine  leichte.  Man 
rechnete  früher  zu  ihrem  Gebiete  eine  Eeihe  von  KrankheitsbUdern, 
welche  wol  richtiger  von  ihr  abgetrennt  werden.  Indessen  besteht 
auch  heute  noch  keine  volle  Einigkeit  über  die  Umgrenzung.  Nach 
meiner  Ansicht  sollte  man  mit  jenem  Namen  nur  diejenigen 
Fälle  bezeichnen,  in  welchen  sich  die  eigenartige  melancholische 
Symptomengruppe  mit  starrer  ängstlicher  Hemmung  acut  oder  sub- 
acut entwickelt,  um  nach  einer  längeren  Eeihe  von  Monaten  zur 
Heilung  oder  zu  dem  oben  beschriebenen  psychischen  Schwäche- 
zustande ohne  weitere  AVahnideen,  ohne  Sinnestäuschungen,  ohne 
Verwirrtheit  zu  führen. 

Yon  diesem  Standpunkte  aus  würden  zunächst  'jene  Beobacht-^ 
ungen  auszuscheiden  und  der  acuten  Demenz  anzureihen  sein,  bei 
denen  es  sich  um  eine  einfache  Hemmung  oder  Lähmung  aller 
psychischen  Yorgänge  handelt.  Aeusserlich  sind  solche  Kranke  den 
hier  beschriebenen  zeitweise  recht  ähnlich,  aber  es  fehlen  gänzlich 
die  charakteristischen  Kleinheitsideen  und  der  starke,  Alles  be- 
herrschende ängstliche  Affect  mit  seinen  Folgen.  Jene  Kranken 
fürchten  sich  nicht,  handeln  nicht  überlegt,'  sind  ganz  inconsequent 
in  ihrem  Widerstreben  und  machen  keine  Selbstmordversuche.  Beim 
Erwachen  aus  der  Krankheit  sind  sie  zwar  sehr  schwerfällig,  aber 


316 


IV.  Die  Melancholie. 


sofort  lenksam,  gleiclimüthiger  Stinunung,  haben  keine  Erinnei-- 
ung  an  die  Höhe  der  Psychose;  sie  werden  gesund  oder  ein- 
fach schwachsinnig,  blöde,  ohne  die  kleinmüthige  Verzagtheit,  welche 
den  ungünstigen  Ausgangszuständen  der  Melancholia  attonita  eigen 
ist.  Zudem  pflegt  dort  das  Lebensalter  ein  etwas  jugendlicheres  zu 
sein;  die  Ursache  bilden  erschöpfende  Einflüsse,  nicht,  wie  hier, 
einmalige  heftige  Geraütliserschütterungen. 

Auch  imYergleiche  mit  der  Katatonie  ist  vor  Allem  auf  den  dauern- 
den, sehr  deutlich  hervorti-etenden  Angstaffect  gegenüber  denr  Stimm- 
ungswechsel oder  der  Stumpfheit  jener  Kranken  hinzuweisen.  Das 
Aufti-eten  vonHaltungs-  und  Bewegungsstereotypen  dort  wird  die  Sach- 
lage sogleich  aufklären.  Die  Katatoniker  sind  ebenfalls  meist  jüngei- 
und  pflegen  ohne  nachweisbaren  äusseren  Anlass  zu  erkranken. 
Die  ängstHch-stuporösen  Formen  des  hallucinatorischen  Wahnsinns 
endlich  lassen  sich  von  der  Melancholia  attonita  zunächst  nur  durch 
den  schwierigen  NachAveis  von  Sinnestäuschungen  oder  ausgebil- 
deteren Yerfolgimgsideen  ohne  Versündigungswahn  abtrennen.  Der 
weitere  Verlauf  wird  aber  auch  hier  regelmässig  die  Diagnose  er- 
möglichen. 

Die  Behandlung  der  Melancholia  attonita  stellt  sehr  hohe 
Anforderungen  an  Pflege  und  Ueberwachimg;  sie  kann  daher  nur 
in  einer  IiTcnanstalt  mit  Erfolg  durchgefülni  werden.  Die  Aufgaben 
derselben  sind  im  Wesentlichen  die  gleichen,  Avie  bei  den  übrigen 
Pormen  der  Melancholie.  Sorge  für  kräftige  Ernäln-ung  und  regel- 
mässige Verdauung,  für  möglichste  Aufrechterhaltimg  der  Kräfte 
(Bettruhe),  für  Reinlichkeit  (warme  Bäder,  Anhalten  zur-  Befiiedigung 
der  Bedürfnisse),  Verhütung  starker  Wärmeverluste  (warme  Kleidimg. 
Decken),  reichliche  Zufidir  von  filscher  Luft  und  sorgfältige  üeber- 
wachung  bei  Tag  und  bei  Nacht  wegen  der  Gefahr  von  Selbstmord 
und  plötzlichen  Gewaltacten  kommen  in  erster  Linie  hier  in  Betracht. 
Dü-ect  zur  Bekämpfung  der  Angst  und  zur  Erzielung  von  Schlaf 
kann  man  an  Opium-  oder  Moi-phiimiinjectionen  denken.  Ich  glaube 
jedöch  in  mehreren  Fällen  eine  erschreckende  Verschlimmerung  des 
Angstzustandes  mit  brutalen  Affectausbrüchen  und  dem  Aufti-eten 
von  Hallucinationen  bei  der  Anwendung  sehr  hoher  Opimngaben  be- 
obachtet zu  haben;  Avenigstens  verloren  sich  alle  diese  Erscheinungen 
mit  der  (natürlich  vorsichtigen)  Abnalime  der  Opiumdosis  sehr  rasch. 
Im  Ganzen  Avird  die  Behandlung  eine  Avesentlich  abAvartende  sein 


Melancliolia  attonita. 


317 


müssen,  da  jede  therapeutische  Yielgeschäftigteit  auf  sehr  grossen 
Widerstand  Seitens  der  Kranken  zu  Stessen  pflegt.  Für  empfelüens- 
Averth  halte  ich  gelegentliche  Yersuche  mit  Alkohol  (Wein,  Grog), 
sowie  laue  Bäder  mit  kühlen  Ueberrieselungen.  In  der  Reconvales- 
cenz  habe  ich  gegen  die  schweren  vasomotorischen  Störimgen  mit 
mideutlichem  Erfolge  die  allgemeine  Faradisation  angewendet. 

Die  psychische  Behandlung  vermeide  auf  der  Höhe  der  Krank- 
heit nach  Möglichkeit  jede  Beunruhigung  des  Patienten,  jedes  un- 
geduldige Eindringen  auf  ilm,  welches  ihn  nur  ängstücher  macht. 
Man  verzichte  lieber  auf  manche  Avünschenswerthe  Massregel,  als 
dass  man  den  Kranken  quält  und  sein  blindes  Missti-auen  steigert. 
AUes  ärztlich  imimigänglich  Nothwendige  soll  mit  möglichster  Euhe 
und  Schonung  diu'chgeführt  Averden.  Wenn  dann  die  ängstliche 
Spannung  sich  zu  lösen  beginnt,  kann  mit  vielem  Erfolge  durch 
liebevolle,  geduldige  Beschäftigung  mit  dem  Kranken  und  diu-ch 
Am-egimg  seiner  gesunden  Yorstellungskreise  die  Keconvalescenz 
gefördert  werden. 


Y.  Der  "Wahnsinn. 


Zwischen  den  bis  hierher  besprochenen  Psychosen  und  jener 
gewissermassen  constitutionellen  Geisteskrankheit,  die  man  als  Ver- 
rücktheit bezeichnet,  liegt  eine  fast  übergrosse  Gruppe  von  psych- 
ischen Störungen,  welche  [sich  durch  das  starke  Hervortreten  zu- 
sanunenliängender  "Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  von  den 
ersteren,  durch  die  begleitenden  Affecte,  die  raschere  Ent- 
wickelung  und  die  günstigere  Prognose  von  dieser  letzteren 
abtrennen.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  fortschreitende  Er- 
fahi'ung,  wie  sie  uns  schon  zur  Ausscheidung  dieser  Gruppe  selber 
heute  zwingt,  im  weiteren  Yerlaufe  die  Auflösung  derselben  in  eine 
Keihe  einzelner  Krankheitsformen  herbeiführen  wird;  einstw^eilen  aber 
sei  es  noch  gestattet,  das  ganze  Zwischengebiet  mit  dem  Sammel- 
namen des  Wahnsinns  zu  bezeichnen.  Freilich  deckt  sich  diese 
Benennung  nicht  mit  der  Bedeutung,  welche  derselben  bisher  viel- 
fach untergelegt  worden  ist.  Will  man  jedoch  nicht  zu  völlig  neuen 
Bezeichnungen  greifen,  so  dürfte  der  Name  Wahnsinn  nach  Schüle's 
Yorgang  weitaus  am  zweckmässigsten  die  hier  geschaffene  Gruppe 
charakterisiren. 

Ton  den  Krankheitsbildern,  aus  denen  sich  nach  meiner  früheren 
Darstellimg  der  Wahnsinn  zusammensetzte,  hat  sich  im  Laufe  der 
Zeit  der  hallucinatorische  Wahnsinn  als  der  eigentliche  Kern 
des  Ganzen  erwiesen.  Bei  dem  ausserordentlichen  Formem-eichthum. 
den  die  zahh-eichen  hierher  gehörigen  Fälle  darbieten,  erschien  es 
zweckmässig,  die  einzelnen  klinischen  Verlaufsarten  des  halluciua- 
torischen  Wahnsinns  in  kleinere  Untergruppen  einzuordnen,  denen 
ich  vor  der  Hand  die  Bezeichnungen  der  einfachen,  der  ängst- 
lich-stuporösen,  der  labilen  und  der  progressiven  Formen  bei- 
gelegt habe.   Der  depressive  Wahnsinn  steht  diesen  Kjrankheits- 


Einfache  Formen. 


319 


bildorn  selbständiger  gegenüber:  in  einem  ätiologischen  System 
der  Zukunft  würde  er  wahrscheinlich  den  Uebergang  von  der  klimak- 
terischen Melancholie  zum  senilen  Schwachsinn  bilden.  Der  früher 
unterschiedene  expansive  Wahnsinn  deckt  sich  theilweise  mit  den 
oben  erwähnten  labilen  Formen  des  hallucinatorischen  "Wahnsinns, 
mm  Theil  mit  geAvissen  periodischen  Erki-ankungen.  Den  viel  um- 
stiittenen  „katatonischen"  "Wahnsinn  endlich  habe  ich,  neueren  Er- 
faln-ungen  entsprechend,  hier  gänzlich  ausgeschieden  und  in  nähere 
Verbindung  mit  den  psychischen  Entartungsprocessen  gebracht. 

A.  Hallucinatorisclier  Wahnsinn. 

a.  Einfaclie  Formen.  Als  einfachen  hallucinatorischen  Wahn- 
sinn möchte  ich  diejenigen  Eälle  bezeichnen,  in  denen  bei  völliger 
oder  nahezu  völliger  Klarheit  des  Bewusstseins  Gehörs- 
täuschungen, seltener  zugleich  einfache  Gesichtstäuschungen  auf- 
treten, um  die  Grundlage  eines  rasch  entstehenden  tind 
sich  wesentlich  im  Bereiche  des  Möglichen  haltenden  Ver- 
fo.lgungswahns  abzugeben.  Der  Beginn  der  Erki-ankung  ist  fast 
immer  ein  plötzlicher;  nur-  in  den  langsamer  verlaufenden  Eormen 
geht  derselben  ein  kurzes  Vorläuferstadiiun  voran,  mit  unmotivirter 
Verstimmung,  Eeizbarkeit,  Erschwerung  des  Denkens,  Kopfschmerzen, 
Schlaflosigkeit.  Der  Ejante  hört,  häufig  zuerst  des  Nachts,  allerlei 
unbestimmte  Geräusche,  Eauschen,  Glockenläuten,  Schiessen,  dann 
einzelne  Aeusserungen  oder  auch  ganze  Gespräche,  die  sich  mit  seiner 
Person  beschäftigen.  Von  der  Strasse  her,  vom  Gang  di-aussen,  aus 
dem  Nebenzimmer  tönen  die  Stimmen,  bisweilen  flüsternd,  bisweilen 
mit  vollkommener  sinnlicher  Deutlichkeit.  Hie  imd  da  Averden  sie 
niu'  mit  einem  Ohre  wahrgenommen.  Meist  sind  es  die  Stimmen  be- 
kannter Personen;  seltener  wii-d  ihnen  überirdischer,  göttlicher  oder 
teuflischer  Ursprung  zugeschrieben. 

Der  Inhalt  dieser  Täuschimgen  ist  für  den  Kranken  meist 
Avenig  angenehm.  Er  hört  Vorwürfe  und  Drohungen;  er  sei 
ein  Lump,  ein  Taugenichts,  habe  über  Kaiser  und  Krone  geschimpft, 
eine  goldene  "ühr  gestohlen,  wichtige  Papiere  zen^issen;  es  ist  ein 
Preis  auf  ihn  gesetzt;  man  wird  ihn  durchprügeln,  mit  Steinen 
werfen,  erschiessen.  Die  Stimmen  beziehen  sich  dabei  auf  alle  mög- 
lichen Erlebnisse  aus  der  Vergangenheit,  hecheln  in  Spottliedern  imd 
Knittelversen  sein  fi-üheres  Leben  durch,  oder  begleiten  mit  höhnischen, 


320 


V.  Der  Wahnsinn. 


neckenden  Bemerkungen  seine  Handlungen,  macheu  sich  über  seine 
IQeidung  lustig,  lachen  über  seine  Angst,  registriren  seine  Be- 
wegungen. Häufig  setzen  sicli  auf  diese  "Weise  lange,  eingehende 
Unterhaltungen  zusammen,  Berathungen  über  die  zweckmässigste 
Art,  dem  lü-anken  zu  Leibe  zu  -gehen,  Wecliselreden  zwischen  Yer- 
folgern  und  Vertheidigern,  ganze  Gericlitsverhandlungen.  Ein  der- 
artiger Kranker  meiner  Beobaclitimg  hörte  mit"  allen  Einzel- 
heiten, wie  einer  seiner  Freimde  sich  dm-ch  eine  geheime  Thür 
in  das  Schlafzimmer  seiner  Frau  schlich,  sich  dort  mit  ihr  übei- 
den  betrogenen  Ehemann  Aveidlich  amüsirte  und  schliesslich 
seine  jugendliche  Tochter  vergeAvaltigte.  Ein  Anderer  hörte  im  Gast- 
hause den  "Wirth  mit  Fi-au  und  Tochter  sti-eiten,  ob  man  ihn  er- 
schiessen  solle  oder  nicht;  unterdessen  begehrten  Yerwandte  miten 
Einlass,  imd  auf  der  Strasse  schrie  J  emand :  „Das  ist  ja  ein  Bordell  !•• 
In  diesen  Fällen  spielt  sich  Alles  so  natüi-lich  ab,  dass  der  Ki-anke 
aucli  keinen  Augenblick  an  der  Wii'kliclikeit  des  Ton  ihm  vermeint- 
lich durclüebten  Abenteuers  zweifelt.  Fast  iuuner  Avenden  sich  die 
Stiumien  nicht  geradezu  an  ihn,  sondern  er  ist  gOAvissermassen  nur' 
unfreiAAdlliger  Zuhörer;  seltener  AA^erden  üuu  eiuzelne  Schimpfworte 
direct  zugerufen  oder  Befehle  ertheüt.  Ausser  den  Gehörs- 
täuschungen  bestehen  in  einzelnen  Fällen  ganz  vorübergehend 
solche  des  Gesichts,  meist  ziemlich  unbestimmten  Inhalts.  Der  Ki'anke 
sieht  Alles  blau,  Funken  vor  den  Augen,  mimnt  drohende  Gestalten, 
Schatten  Avahr,  die  auf  ihn  zukonunen,  ihn  berühi-en.  Fliegen 
schwirren  in  der  Luft;  Ungeziefer  kriecht  auf  dem  Bett  herum. 

In  Verbindung  mit  den  Halluciuationen  entAAickelt  sich  regel- 
mässig bei  dem  Kranken  die  Ueberzeugung,  dass  er  Gegenstand 
der  allgemeinen  Aufmerksamkeit  ist,  dass  alle  "Welt  über  üui 
spricht,  ihn  beobachtet  und  bedroht.  Offenbar  hat  man  seineu 
ganzen  Lebensschicksalen  nachgespüi't,  Mittel  und  "Wege  gefun- 
den, ihn  auf  das  Genaueste  zu  überwachen,  jede  seiner  Be- 
Avegungen,  ja  jeden  Gedanken  sofort  zu  bemerken.  Es  müssen 
besondere  "Vorrichtungen  bestehen,  die  das  ermöglichen,  geheime 
Löcher  in  den  "Wänden,  elektrische  Signalapparate,  Spiegel  u.  dergl. 
Die  Feinde  stehen  draussen  und  lauern  ihm  auf,  versammeln 
sich  in  einem  nahe  gelegenen  Hause,  schiessen  zum  Fenster  herein. 
In  Folge  dessen  wird  er  misstrauisch  gegen  seine  Umgebung,  die 
alle  seine  Wahrnehmungen  einfach  in  Abrede  stellt,  hinter  seinem 


Einfache  FomeD. 


321 


Rücken  aber,  wie  er  durch  die  Stimmen  erfährt,  gegen  iJni  coni- 
plottii't.  Gelegentlich  werden  nun  auch  AvirMiche  Eindrücke  im 
Sinne  der  Verfolgungsideen  gedeutet.  Ein  älterer  Student,  dem  noch 
das  Abiturientenexamen  fehlte,  sah  in  harmlosen  Gesten  Vorüber- 
gehender den  Hinweis  auf  seinen  Schnurrbart  und  seine  Glatze  und 
damit  den  stummen  Vorwurf  seines  Versäumnisses. 

Das  Bewusstsein  ist  dabei  meist  YoUkommen  ungeü-übt. 
Höchstens  besteht  eine  ganz  geringe,  erst  bei  genauerer  Beobachtung 
auffallende  Benommenheit.  Der  Eranke  ist  besonnen,  über  seine 
Umgebung  orientirt,  denkt  im  Ganzen  folgerichtig,  und  vermag  über 
seine  Krankheitserscheinungen  zusammenhängende  Auskunft  zu  geben, 
ist  freilich  meist  sehr  zurückhaltend.  Eine  klare  Krankheitseinsicht 
ist  nicht  vorhanden;  vielfach  beti-achtet  er  die  Zumuthung  einer 
Geistesstörung  geradezu  als  einen  besonders  heimtiickischen  Schach- 
zug seiner  Verfolger,  die  ihn  nunmehr  auch  noch  „närrisch"  machen 
wollen.  Gleichwol  hat  der  Kranke  oft  ein  deutliches  Gefühl  für  die 
Veränderung,  die  sich  mit  ihm  vollzogen  hat  und  giebt  daher  bis- 
weilen auf  che  plötzliche  Frage,  wie  lange  er  schon  krank  sei,  zu- 
nächst unbefangen  die  richtige  Antwort,  auch  wenn  er  sich  vorher  für 
völlig  gesund  erklärt  hat.  Hie  und  da  scheinen  übrigens  vorübergehend 
doch  gewisse  Zweifel  an  der  Wirklichkeit  der  Täuschungen  aufzu- 
tauchen, so  dass  die  Möglichkeit  der  Krankheit  zugegeben  wird, 
allein  es  bleibt  dabei  gewöhnlich  unsicher,  ob  die  sehr  misstrauischen 
Kranken  nicht  einfach  dissimuliren. 

Die  Stimmung  der  Kranken  lässt  meist  eine  gewisse  resignirte 
Apathie  erkennen,  die  nur  zeitweise  ängstlicher  Unsicherheit  weicht 
Im  Beginne  kommt  vorübergehend  auch  wol  lebhaftere  ängstliche 
Erregung  vor.  Die  Kranken  sind  ruhig,  radt  sich  selbst  beschäftigt, 
kümmern  sich  wenig  um  die  Vorgänge  in  ihrer  Umgebung,  geben 
einsilbige,  ausweichende,  aber  zutreffende  Antworten,  erzählen 
nichts  aus  eigenem  Antriebe.  Zeitweise  begehen  sie  absonderliche 
Handlungen,  die  sich  später  aus  ihren  Wahnideen  erklären.  Ein 
derartiger  Kranker  sprang  stundenlang  im  Zimmer  umher,  um 
seinen  Feinden  kein  sicheres  Ziel  zu  bieten,  imd  brachte  dabei 
mit  seinem  Taschenmesser  ein  knackendes  Geräusch  hervor,  damit 
man  glauben  solle,  er  besitze  einen  Revolver.  Andere  verkrieclien 
sich  unter  die  Betten,  legen  sich  an  der  Fensterwand  auf  den 
Boden,  um  nicht  getroffen  zu  werden,  machen  Selbstmordversuche 

Kraepelin,  Psychiatrie.  4.  Anfl.  21 


322 


V.  Der  Walinsinn. 


oder  verschaffen  sich  Waffen,  um  im  Nothfall  ihi-  Leben  so  theuer 
wie  möglich  zu  verkaufen.  Der  Schlaf  der  Kranken  ist  regelmässig 
erheblich  gestört,  weniger  der  Appetit,  der  nur  bisweilen  durch 
Vergiftungsideen  beeinträchtigt  wird.  Das  Körpergewicht  pflegt 
zu  sinken. 

Nach  ihrem  Verlaufe  lassen  sich  im  Allgemeinen  acute  und 
sub acute  Formen  der  Psychose  auseinanderhalten,  die  mir  jedoch 
ohne  scharfe  Grenzen  in  einander  überzugehen  scheinen.  Die  ersteren 
haben  häufig  nur  eine  Dauer  von  wenigen  Tagen  bis  zu  2  oder  3 
"Wochen.  Die  Genesung  tritt  plötzlich  ein;  meist  nach  einem  tiefen 
Schlafe  fällt  es  dem  Kranken  wie  Schuppen  von  den  Augen,  dass 
er  das  Opfer  von  Sinnestäuschungen  geworden  ist.  In  den  sub  acuten 
PäUen  kann  sich  die  KranMieit  über  eine  längere  Keihe  von  Monaten 
hinziehen,  meist  mit  vielfachen  Nachlässen  und  Verschlimmerungen, 
Die^Täuschungen  verlieren  sich  hier  ganz  allmählich,  treten  oft  vor- 
übergehend noch  wieder  auf,  auch  wenn  vorher  schon  volle  Krank- 
heitseinsicht bestand.  Nach  Ilbergs  Untersuchungen  ist  ein  pro- 
trahirter  Verlauf  namentlich  in|den  Fällen  zu  erwarten,  in  denen 
ausser  den  Gehörshallucinationen  ["noch  Täuschungen  auf  anderen 
Sinnesgebieten  vorkommen;  auch  das  gelegentliche  Auftreten  ver- 
einzelter Grössenideen  neben  dem  Verfolgungswahn  deutet  auf  eine 
längere  Krankheitsdauer  hin.  Die  Erinnerung  an  die  Krankheitszeit 
ist  regelmässig  eine  durchaus  klare  und  erstreckt  sich  auf  alle  Eiozel- 
heiten. 

Die  Prognose  der  hier  besprochenen  Formen  muss  im  Allge- 
meinen als  eine  sehr  günstige  bezeichnet  werden.  In  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  Fälle  erfolgt  vollständige  Genesung.  Nur 
selten  kommt  es  zur  Entwickelung  eines  psychischen  Schwächezu- 
standes mit  unvollkommener  Correctur  der  Wahnideen  und  gelegent- 
lichem Wiederauftauchen  der  Täuschungen,  namentlich  im  Anschlüsse 
an  gemüthliche  Erregungen.  Niemals  aber  wird  'die  systema- 
tische Fortbildung  des  Verfolgungswahns,  mit  anderen  Worten  der 
Uebergang  der  Psychose  in  wirkliche  Paranoia  beobachtet.  Alle  ent- 
gegenstehenden Angaben  glaube  ich  einstweilen  für  diagnostische 
Trugschlüsse  halten  zu  müssen. 

Unter  den  Ursachen  des  einfachen  hallucinatorischen  Wahnsimis 
spielt  der  Alkohohnissbrauch  eine  hervorragende  Kolle,  dessen  Spuren 


Einfache  Formen, 


323 


sich  bisweilen  durch  leichten  Tremor  der  Hände  verrathen.  Nament- 
lich gehäufte  Excesse  scheinen  dabei  in  Betracht  zu  konunen,  denen 
die  Ki-ankheit  nach  einem  Zwischenstadium  von  wenigen  Tagen  zu 
folgen  pflegt.  Andererseits  sind  mir  eine  Anzahl,  besonders  subacut 
verlaufener  Fälle  bekannt,  in  denen  dem  Ausbruche  der  Erkrankung 
länger  dauernde  Gemüthsbewegungen  deprimirender  Art  voraufge- 
gangen waren,  auch  ohne  nennenswerthen  ALkoholmissbrauch.  In 
welcher  pathologischen  Yeränderung  der  gemeinsame  Angriffspunkt 
dieser  beiden  Gruppen  von  Ursachen  liegt,  vermag  ich  nicht  zu 
übersehen.  Es  will  mir  indessen  scheinen,  als  wenn  die  Fälle  mit 
ganz  reinen  Gehörstäuschungen  häufiger  ohne  ausgesprochene  alko- 
holische Grundlage  beobachtet  werden.  Die  überwiegende  Mehrzahl 
meiner  fast  sämmtlich  männlichen  Eranken  stand  zwischen  dem 
25.  und  40.  Lebensjahre. 

Die  Diagnose  der  Störung  stützt  sich  auf  die  ganz  acute  Ent- 
wickelung,  den  günstigen  Verlauf,  die  völlige  Besonnenheit  der 
Kranken  und  den  eigen thümlichen  Charakter  der  Hallucinationen, 
welche  sich  meist  nicht  direct  an  den  Patienten  wenden,  sondern 
von  ihm  nur  als  gewissermassen  unfreiwilligem  Zuhörer  aufgefasst 
werden.  Es  ist  indessen  zu  beachten,  dass  der  ganze  Sjmptomen- 
complex  hier  und  da  auch  im  Verlaufe  einer  Dementia  paralytica 
beobachtet  wird.  Bei  verdächtigem  Lebensalter  wird  man  daher 
immer  mit  dieser  Möglichkeit  zu  rechnen  haben  und  die  länger 
dauernden  Prodromalerscheinungen,  die  Anzeichen  der  psychischen 
Schwäche,  wie  die  etwa  nachweisbaren  nervösen  Störungen  sorgfältig 
berücksichtigen  müssen.  Die  Behandlung  ist  eine  wesentlich  ab- 
wartende, doch  kann  der  Gebrauch  eines  Schlafmittels  vielleicht  2air 
rascheren  Genesung  mit  beitragen. 

Nahe  verwandt  mit  der  hier  beschriebenen  Erkrankung  sind 
jene  ätiologisch  besonders  interessanten  Formen  des  haUucinatorischen 
Wahnsinns,  die  wir  so  häufig  in  der  Einzelhaft  sich  entwickeln 
sehen.  Nach  einigen  unbestimmten  Vorboten,  weinerlicher,  depri- 
mirter  oder  gereizter  Stimmung,  innerer  Unruhe,  Ohrensausen,  Schlaf- 
losigkeit, stellen  sich  hier  plötzlich  in  der  Nacht  Hallucinationen  des 
Gehörs,  seltener  des  Gesichts  oder  der  übrigen  Sinne  ein.  Der  In- 
halt der  Täuschungen  ist  ein  neckender,  höhnender,  oder  feindselig, 
beunruhigend,  seltener  erfreulich  und  beglückend.  Der  Kranke  wird 
verspottet,  kritisirt,  lächerlich  gemacht;  er  hört,  dass  er  nunmehr 

21* 


324 


V.  Der  Walinsinn. 


verloren  sei,  dass  in  feierlicher  Gerichtssitzung  sein  Verdammungs- 
urtheil  ausgesprochen  wird.  Er  wird  beschimpft  und  geschmäht, 
schrecklicher  Verbrechen  angeklagt  und  mit  furchtbaren  Strafen  be- 
droht, oder  gar  aufgefordert,  selbst  ohne  Zögern  die  verdiente  Todes- 
strafe an  sich  zu  vollziehen.  Auch  seine  Familie  wird  mit  zur 
Kechenschaft  gezogen,  gefoltert,  sein  Bruder  im  DueH  für  ihn  ge- 
tödtet;  man  belauscht  ihn,  fängt  jedes  "Wort  auf  und  weiss  sogar 
aus  seinen  geheimsten  Gedanken  neue  Anklagepunkte  gegen  ihn  zu 
schmieden.  Das  ganze  Haus  ist  mit  Gensdarmen  umstellt,  die  jedes 
Entrinnen  unmöglich  machen;  auf  dem  Hofe  hört  er  schon  mit 
dumpfen  Schlägen  das  Schaffet  zimmern  und  die  Menge  schreien, 
welche  sich  auf  die  Hinrichtung  eines  solchen  Scheusals  freut  Oder 
aber  es  ist  die  Begnadigung  vom  Könige  gekommen,  der  gleich  selbst 
eintrejffen  wird,  um  ihn  zu  befreien;  Gott  verkündet  ihm,  dass  er 
erhöht,  dass  ihm  seine  Sünde  vergeben  werden  soll.  Hie  und  da 
sieht  der  Kranke  auch  schreckliche  Gestalten,  die  das  Zimmer  er- 
füllen und  auf  ihn-  eindringen;  häufiger  sind  Blitze,  bläuliche  Nebel, 
ein  fahler  Lichtschein,  Schlangen,  Todtenköpfe,  ein  leuchtendes,  rasch 
wieder  verschwindendes  Bild. 

Auf  Grund  dieser  oft  auch  bei  Tage  andauernden  Täuschungen, 
denen  sich  bisweilen  noch  unangenehme  Gerüche,  Geschmacksem- 
pfindungen, abnorme  Sensationen  hinzugeseUen,  entwickelt  sich  sehr 
rasch  bei  dem  Kranken  eine  wahnhafte  Auffassung  seiner  Lage. 
Obgleich  sein  Bewusstsein  wenig  getrübt  und  er  im  Stande  ist,  zu- 
sammenhängende Auskunft  zu  geben,  vermag  er  "Wahrheit  und 
Täuschung  nicht  von  einander  zu  trennen  und  verliert  die  Orien- 
tirung  in  seiner  wirklichen  Umgebung.  Versündigungs-  und  Yer- 
folgungsideen  schliessen  sich  an  die  hallucinatorischen  Wahrnehm- 
ungen an,  und  alle  Auseinandersetzungen  über  die  krankhafte  Natur 
dieser  letzteren  werden  durch  die  uncontrolirbaren  Stimmen,  welche 
dem  Kjanken  den  Arzt  mit  im  Complot  zeigen  und  seine  Worte 
Lügen  strafen,  sofort  paralysirt.  Die  Stimmung  ist  meist  ängstlich 
erregt,  mit  heftigen  Exacerbationen,  oder  gereizt,  selten  gehoben.  Der 
Kranke  ist  finster,  zurückhaltend,  remonstrii-t  gegen  die  Stimmen, 
oder  spricht  nur  leise,  flüsternd,  um  von  den  Lauschern  nicht  gehört 
zu  werden.  Plötzliche  unsinnige  Handlungen,  Fluchtvereuche,  Ge- 
waltthätigkeiten,  namentlich  aber  impulsive  Selbstmordversuche 
kommen  häufig  vor.  Bisweilen  bestehen  Andeutungen  von  Katalepsie. 


Einfache  Formen. 


325: 


Schlaf  und  Nahrungsaufnahme  sind  sehr  gestört;  das  Körper- 
gewicht sinkt  rasch. 

Der  weitere  Verlauf  der  Krankiieit  scheint  sehr  wesentlich 
durch  den  Umstand  bestimmt  zu  werden,  ob  die  Einzelhaft  fort- 
dauert oder  nicht.  Im  letzteren  Falle  ist  die  Prognose  eine  günstige. 
Alle  Störungen  können  binnen  wenigen  Tagen  vollständig  schwinden, 
indem  der  Kranke  wie  aus  einem  Traume  erAvacht.  Seltener  zieht 
sich  die  Psychose  noch  über  längere  Zeit,  Wochen  oder  selbst  Monate 
hin.  Die  Genesung  kündigt  sich  dann  dadurch  an,  dass  der  Kranke 
nicht  mehr  so  auf  die  Täuschungen  achtet,  zugänglicher  wird,  sich 
zu  beschäftigen  beginnt  und  alhnählich  Krankheitseinsicht  erlangt. 
Portdauer  der  Einzelhaft  begünstigt  die  Entwickelung  secuudärer 
Schwächezustände  mit  unvollständigem  Schwinden  der  Wahnideen, 
episodischem  Wiederanftauchen  der  Sinnestäuschungen  und  apathi- 
scher oder  erregbarer  Stimmung. 

Die  Entstehungsbedingungen  des  hallucinatorischen  Ge- 
fangenenwahnsinns liegen  in  jenen  deprimirenden  Gemüthsbewegungen, 
denen  Sträflinge  und  üntersuchungsgefangene  in  so  hohem  Masse 
ausgesetzt  sind.  Das  Auftreten  von  Sinnestäuschungen  wird  zudem 
durch  die  Monotonie  der  Einsamkeit,  die  Einschränkang  der  äusseren 
sinnlichen  Anregungen  entschieden  begünstigt;  daher  auch  die  be- 
sonderen Gefahren  des  Dunkelarrestes.  Endlich  aber  spielt  die 
psychopathische  Anlage  hier  zweifellos  eine  sehr  bedeutsame  Rolle. 
Wir  hätten  es  Somit  in  der  Aetiologie  beider  Formen  des  einfachen 
hallucinatorischen  Wahnsinns  mit  der  Einwirkung  dauernder  depri- 
mirender  Affecte  auf  Personen  mit  geringer  moralischer  Widerstands- 
kraft zu  thun.  Im  einen  FaUe  wäre  diese  Schwäche  häufiger  durch 
den  notorisch  in  dieser  Richtung  wirkenden  Alkoholeinfluss,  im 
letzteren  besonders  durch  die  angeborene  Praedisposition  verursacht. 
Aus  dieser  lieber  ei  nstimmung  der  Entstehungsbedingungen  würde 
sich  die  nahe  klinische  Verwandtschaft  der  Formen,  wie  mir  scheint, 
befriedigend  erklären.  Die  grössere  Reichhaltigkeit  der  Täuschungen 
im  Gefangenenwahnsinn  würde  dann  vielleicht  auf  die  besonderen 
Verhältnisse  der  Einzelhaft  zurückgeführt  werden  dürfen.:^™ 

In  diagnostischer  Beziehung  ist  darauf  hinzuweisen,  dass  einer- 
seits bei  den  so  häufig  in  Gefängnissen  vertretenen  Epileptikern 
episodisch  hallucinatorisch  begründete  Verfolgungsideen  auftreten 
können,  die  sich  von  der  hier  besprochenen  Form  durch  das  plötzliche 


326 


V.  Der  Wahnsinn. 


Entstehen  und  Versch-winden,  die  kurze  Dauer  und  die  Unabhängig- 
keit von  der  Art  der  Inhaftirung  unterscheiden.  Andererseits  kann 
sich  im  Gefängnisse  auch  wahre  Paranoia  entwickeln,  oder  sie  kann, 
nachdem  sie  vorher  unerkannt  bestanden  hat,  in  der  Einzelhaft  erst 
klar  hervortreten.  Hier  wird  die  Diagnose  aus  der  chronischen  Ent- 
stehungsweise, der  logischen  Durcharbeitung  und  Systematisirung 
der  Wahnideen,  dem  Fehlen  primärer  Stimmungsanomalien  und  dem 
stationären  Yerlaufe  des  Krankheitsprocesses  abzuleiten  sein.  End- 
lich ist  noch  auf  das  gelegentliche  Yorkommen  der  Amentia,  nament- 
lich bei  Untersuchungsgefangenen  im  Anschlüsse  an  heftige  Gemüths- 
erschütterungen,  hinzuweisen.  Die  schwere  Bewusstseinstrübung  und 
Verworrenheit  dieser  Kranken,  sowie  der  stürmische  Beginn  und 
Yerlauf  der  Psychose  ermöglichen  hier  die  Unterscheidung. 

Die  Behandlung  des  Gefangenenwahnsinns  erfordert  vor  Allem 
die  rasche  Befreiung  des  Kranken  aus  der  Einzelhaft.  Prophylaktisch 
sollte  bei  stark  prädisponirten  Personen  überhaupt  von  vom  herein 
nur  die  gemeinsame  Haft  in  Anwendung  gezogen  werden.  Im 
Uebrigen  ist  ein  mehr  exspectatives  Yerfahren,  sorgfältige  Ueber- 
wachung,  gute  Ernährung,  Bewegung  im  Freien,  verlängerte  Bäder 
am  Platze. 

b.  Aengstlicli-stuporöse  Formen.  Zu  einer  zweiten  Gruppe  des 
hallucinatorischen  Wahnsinns  möchte  ich  diejenigen  Fälle  zu- 
sammenfassen, in  denen  die  Angst  derartig  den  Krankheitsverlauf  be- 
herrscht, dass  sich  neben  ausgeprägtem  Yerfolgungswahn  mit  Sinnes- 
täuschungen andauernde  Erregung  und  zeitweise  auch  ängstliche 
Spannungszustände  entwickeln.  Der  Ausbruch  der  Psychose  voll- 
zieht sich  in  der  Kegel  ganz  plötzlich,  nachdem  höchstens  einige  un- 
bestimmte Prodromalerscheinungen  vorangegangen  sind,  Schlaflosig- 
keit, leichte  Unruhe,  Yerstimmung,  Misstrauen.  Die  Kranken  werden 
ängstlich,  lebhaft  erregt,  klagen  über  Schwere  und  Schmerzen  im 
Kopf  und  äussern  wahnhafte  Befürchtungen,  sie  seien  verloren, 
haben  die  Gnade  Gottes  verwirkt;  es  sei  etwas  Schreckliches  passirt; 
man  habe  ihnen  Gift  gegeben,  sie  beraubt,  verrathen,  ihre  Eander 
vertauscht.  Sehr  häufig  kommt  es  schon  jetzt,  in  den  ersten  Tagen 
der  Ejcankheit,  zu  einem  energischen  Selbstmordversuche.  Einer 
meiner  Kranken  machte  in  blinder  Angst  einen  schweren  Angriff 
auf  seinen  Yater. 

Bei  genauerer  Beobachtung  stellt  sich  heraus,  dass  die  Kranken 


Aengstlich-stuporöse  Formen. 


327 


an  massenhaften  Sinnestäuschungen  leiden.  Sie  erkennen 
zwar  ihre  Umgebung,  aber  Alles  kommt  ihnen  verändert,  ver- 
wechselt, unheimlich  vor.  Sie  sehen  schwarze  Einge,  Funken  vor 
den  Augen,  fliegende  Engel,  den  Teufel  mit  leuchtenden  Augen, 
drohende  Männergestalten.  Yielfach  handelt  es  sich  dabei  wol  um 
illusionäre  Vorgänge;  eine  meiner  Kranken  erkannte  auf  einem 
schneebedeckten  und  dann  umgepflügten  Felde  die  Leichen  aller 
jener  Menschen,  die  sie  ins  Unglück  gebracht  habe.  Die  Speisen 
schmecken  bitter,  nach  Gift;  sie  haben  so  einen  eigenen  Geruch;  im 
Körper  fühlen  die  Kranken  elektrische  Beeinflussungen.  Durchaus 
im  Vordergrunde  des  Krankheitsbildes  aber  stehen  die  Gehörstäusch- 
imgen.  Die  Kranken  hören  Stimmen  von  der  Decke,  aus  dem 
Himmel,  aus  der  Tiefe,  vom  Keller  her.  Gott  spricht  zu  ihnen,  be- 
droht sie  mit  furchtbaren  Strafen;  alle  ihre  Gedanken  werden  aus- 
gesprochen und  Jedermann  bekannt  gemacht;  Verfolger  rufen  draussen: 
"Wir  haben  ihn!  Ganz  besonders  aber  hören  die  Kranken,  wie  ihre 
Angehörigen  schrecklichen  Martern  und  Misshandlungen  unterzogen 
werden.  Der  Vater  ist  oben  eingesperrt  und  muss  verhungern;  die 
Verwandten  werden  gemordet,  müssen  für  die  Sünden  der  Kranken 
büssen;  die  Kinder  schreien  und  jammern,  rufen  um  Hülfe,  werden 
in  ein  Fass  mit  Nägeln  gesteckt,  gespiesst,  lebendig  verbrannt. 

In  Verbindung  mit  diesen  hallucinatorischen  Wahrnehmungen 
entwickeln  sich  bei  den  Kranken  zahlreiche  Wahnideen,  namentlich 
im  Sinne  der  Verfolgung.  Es  wird  Allen  schlecht  gehen;  man  will 
sie  umbringen,  vergiften,  zerstückeln,  ihnen  die  Zehen  abhacken,  sie 
den  Hunden  vorwerfen.  Bisweilen  gesellen  sich  auch  Versündigungs- 
ideen hinzu.  Die  Sünden  werden  ihnen  nicht  vergeben,  weil  sie  in 
die  Anstalt  gekommen  sind;  sie  haben  ihre  Eltern  verrathen,  das 
Abendmahl  mit  niedrigen  Gedanken  im  Herzen  genommen.  Gerade 
in  diesen  letzteren  Fällen  pflegt  die  Neigung  zum  Allegorisiren  der 
äusseren  Eindrücke  deutlich  hervorzutreten.  Eine  derartige  Kranke 
meinte  von  den  Schnüren  eines  Induction  sapparates,  das  seien  die 
Schlangen,  die  sich  um  ihr  Herz  geschlungen  hätten;  ein  anderer 
Patient  sah  in  einer  leeren  Bierflasche  den  stummen,  freilich  unbe- 
gründeten Vorwurf,  dass  er  ein  heimlicher  Trinker  sei,  und  zerschlug 
dieselbe  auf  dem  Kopfe  seiner  Frau. 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  während  der  grössten  Zeit 
der  Psychose  nicht  schwerer  getrübt.    Sie  können  über  ihre  Perso- 


328 


V.  Der  WaLnsinu. 


nalien,  Yorleben,  sowie  über  ihre  Zustände  meist  zusammenhängend 
Auskunft  geben,  wobei  sie  freilich  durch  ihren  Affect  bisweilen  sehr 
abgelenkt  oder  gehemmt  werden.  In  der  Regel  wissen  sie  genau, 
wo  sie  sich  befinden,  wie  sehr  auch  die  Auffassung  ihrer  Lage  durch 
"Wahnideen  beeinflusst  wird.  So  bezeichnete  eine  Kranke  die  An- 
stalt als  das  Fegefeuer,  ihre  Mitpatienten  als  arme  Seelen,  während 
sie  sich  gleichzeitig  Yorwiirfe  darüber  machte,  dass  sie  nicht  hätte 
in  die  Irrenanstalt  gehen  sollen,  da  sie  ja  gar  nicht  geisteskrank  sei. 
Während  der  ersten  stürmischen  Periode  der  Krankheit  können  in- 
dessen die  Ki-anken  wol  zeitweise  auch  völlig  die  Orientirung  ver- 
lieren; namentlich  Personenverkennungen  sind  dann  nicht  selten. 
Krankheitseinsicht  ist  nicht  vorhanden,  vielfach  auch  nicht  einmal 
deutliches  Krankheitsgefühl. 

Auf  affectivem  Gebiete  tritt  von  vorn  herein  eine  lebhafte 
ängstliche  Erregung  in  den  Yordergrund.  Die  Kranken  sind  un- 
ruhig, bleiben  nicht  im  Bett,  drängen  hinaus,  widerstreben,  jammern 
Tag  und  Nacht  über  die  schrecklichen  Stimmen  und  das  Unglück, 
welches  über  sie  und  ihre  Angehörigen  hereingebrochen  ist.  Hie 
und  da  reagiren  sie  auf  die  Hallucinationen  auch  mit  Ausbrüchen 
zorniger  Gereiztheit  und  wüthendem  Schimpfen  gegen  die  vermeint- 
lichen Yerfolger,  oder  aber  sie  liegen  in  tiefer  Zerknirschung  tage- 
und  wochenlang  verzweiflungsvoll  auf  den  Knieen  und  beten.  Zu 
irgend  einer  Beschäftigung  sind  sie  nicht  fähig.  Sie  werden  viel  zu 
sehr  von  ihren  Wahnideen  in  Anspruch  genommen,  die  sich  bis- 
weilen geradezu  an  den  Yersuch  einer  Arbeit  anknüpfen.  So  meinte 
eine  meiner  Kranken,  dass  sie  beim  Häkeln  mit  jeder  Masche  eine 
Seele  vom  Himmel  herunter  häkele.  Meist  wandern  sie  ruhelos 
herum,  bestürmen  den  Arzt  mit  Klagen  und  Bitten,  oder  sie  stehen 
mit  cyanotisch  geschwollenen  Füssen  lauschend  an  der  Thür,  klam- 
mern sich  in  stummer  Angst  an  die  Yorübergebenden  an,  machen 
gelegentlich  rücksichtslose  Selbstmordversuche,  selbst  unter  den  Augen 
des  Personals.    Bisweilen  beobachtet  man  triebartiges  Masturbiren. 

Schlaf  und  Ernährung  sind  stets  sehr  gestört;  häufig  besteht 
energische,  aber  inconsequente  Nahrungsverweigerung;  das  Körper- 
gewicht sinkt  rasch  und  erheblich. 

Nach  den  ersten  Wochen  oder  Monaten  pflegt  die  anfängliche 
Erregung  aUmählich  etwas  nachzulassen,  aber  die  Krankheit  nimmt 
dennoch  regelmässig  einen  ungemein  schleppenden  Yerlauf.  In 


Aengstlich-stuporöse  Formen. 


329 


manchen  Fcällen  dauert  das  weinerliche,  ängstliche  Wesen  trotz  der 
Abnahme  tieferen  Affectes  viele  Monate  hindurch  mit  geringen 
Schwankungen  unverändert  fort.  Sehr  häufig  indessen  kommt  es  zu 
kürzerem  oder  länger  dauerndem  Versinken  in  stuporöse  Zu- 
stände mit  ängstlicher  Spannung.  Die  Kranken  werden  still,  un- 
zugänglich, geben  gar  keine  oder  nur  kurze,  mühsame,  abgerissene 
Antworten,  lassen  aber  in  ihren  starren  Gesichtszügen,  in  ihrem 
rasch  wachsenden  Widerstande  gegen  jede  äussere  Einwirkung,  in 
der  Nahrungsverweigerung,  der  Schlaflosigkeit  und  gelegentlichen 
episodischen  Erregungen  deutlich  das  Fortbestehen  des  ängstlichen 
Affectes  erkennen. 

Eine  entscheidende  Besserung  der  Psychose  pflegt  sich  kaum 
früher,  als  nach  Jahresfrist,  oft  erst  sehr  viel  später  einzustellen. 
Die  Kranken  werden  allmählich  freier,  gehen  mehr  aus  sich  heraus, 
beginnen  wieder  Interesse  an  ihrer  Umgebung  und  Neigung  zur 
Beschäftigung  zu  zeigen.    Sie  halluciniren  zwar  noch  fort,  halten 
auch  an  ihren  Wahnideen  fest,  sind  aber  den  Auseinandersetzungen 
des  Arztes  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zugänglich  und  gewinnen 
bisweilen  ein  ganz  gutes  Verständniss  für  ihre  Mitpatiehten,  deren 
Eigenthümlichkeiten  sie  vielleicht  sogar  mit  einem  gewissen  Humor 
auffassen,  um  aber  sehr  leicht  wieder  in  den  ängstlichen,  klagenden 
Ton  zu  verfallen.    „Ich  darf  nicht  lachen,"  sagte  mir  eine  solche 
Kranke,  „mein  Herz  ist  ja  traurig!"    Unter  langsamer,  aber  sehr 
bedeutender  Zunahme  des  Körpergewichtes,  Besserung  des  Schlafes 
und  Appetites  treten  die  krankhaften  psychischen  Erscheinungen 
nach  und  nach  immer  mehr  zurück.    Die  Stimmung  wird  ruhiger 
und  gleichmässiger,  die  Sinnestäuschungen  verschwinden,  und  auch 
die  Wahnideen  verlieren  sich;  es  kommt  sogar  zu  einer  gewissen 
Krankheitseinsicht.    Freilich  scheint  es  sich  dabei  nicht  eigentlich 
um  eine  klare,  kritische  Correctur  der  Krankheitserscheinungen,  son- 
dern mehr  um  ein  Yerblassen  und  Yergessen  derselben  zu  handeln. 
Das  Ueberstehen  einer  geistigen  Störung  wird  wol  im  Allgemeinen 
zugegeben,  aber  im  Einzelnen  kommt  es  nicht  überall  zu  einer  un- 
umwundenen und  durchgreifenden  Abscheidung  der  krankhaften 
Züge,  trotzdem  die  Erinnerung  an  die  durchlebte  Zeit  ziemlich  gut 
zu  sein  pflegt. 

In  der  That  ist  der  Ausgang  derjenigen  Fälle,  welche  der  vor- 
stehenden Schilderung  zu  Grunde  liegen,  überall  ein  eigenthüm- 


330 


V.  Der  Wahnsinn. 


lieber  geistiger  Schwächezustand  gewesen;  die  Möglichkeit,  dass  auch 
einmal  eine  vollständige  Genesung  zu  Stande  kommen  könne,  soll 
damit  nicht  ausgeschlossen  werden.    Die  von  mir  beobachteteiL  j 
Kranken  waren  nach  ein-  bis  zweijähriger  Dauer  der  Psychose  für 
die  oberflächliche  Betrachtung  gesund.    Bei  genauerer  Prüfung 
stellte  sich  indessen  heraus,  dass  die  Gehörstäuschungen  nicht  voll- 
ständig verschwunden  waren,  sondern  gelegentlich  mit  oder  ohne 
äusseren  Anlass  ganz  vorübergehend  wieder  auftraten.  Yon  fixirten 
Wahnideen,  geschweige  denn  von  einem  „System",  war  gar  keine 
Rede;' sobald  aber  die  Täuschungen  sich  zeigten,  tauchten  auch  ein- 
zelne der  alten  Wahnvorstellungen  wieder  auf.  Die  Kranken  wurden 
für  einige  Stunden,  eine  Nacht  erregt,  ängstlich  oder  gereizt,  warfen 
einmal  ihr  Essen  in's  Zimmer,  schimpften  zum  Penster  hinaus, 
weinten  unmotivirt,  beruhigten  sich  aber  stets  sehr  rasch,  führten 
ihr  sonderbares  Benehmen  auf  die  „Stimmen"  und  auf  ihre  alte 
Krankheit  zurück,  um  dann  Monate  und  selbst  Jahr  und  Tag  in 
bescheidenem  Wirkungskreise  ein  fast  vollkommen  normales  Yer- 
halten  zu  zeigen.    Ein  gewisser  Mangel  an  Drtheil,  Stumpfheit  des 
Interesses  bei  gemüthlicher  Erregbarkeit,  Unfreiheit  und  Unselbst- 
ständigkeit  im  Handeln  war  dabei  allerdings  stets  unverkennbar. 

Es  erscheint  daher  selbstverständlich,  dass  bei  diesen  Kranken 
nicht  selten  spätere  Recidive  vorkommen,  die  sich  indessen  durch 
die  deutliche  psychische  Schwäche,  die  geringere  Intensität  der  Er- 
scheinungen und  den  rascheren  Yerlauf  sehr  wesentlich  von  der 
ersten  Erkrankung  unterscheiden.  In  einem  derartigen  Palle  wurden 
in  ganz  verschiedenen  Zwischenräumen  drei  solcher  Rückfälle  beob- 
achtet, davon  zwei  im  Anschluss  an  Todesfälle  naher  Verwandter; 
die  Rückkehr  in  den  relativ  normalen  Zustand  erfolgte  jedesmal 
nach  wenigen  Monaten,  während  die  erste  Erkrankung  etwa  ein 

Jahr  gedauert  hatte. 

Ob  die  hier  von  mir  geschilderte  Gruppe  von  Beobachtungen 
eine  eigene  und  einheitliche  Krankheitsform  darstellt,  muss 
die  Zukunft  lehren.  Möglich  wäre  es,  dass  die  Fälle  mit  stark  her- 
vortretenden Versündigungsideen  sich  noch  von  denjenigen  ab- 
grenzen lassen,  bei  denen  ausschliesslich  Verfolgungswahn  besteht. 
Bei  jenen  ersteren  schien  mir  die  Ausbildung  des  Krankheitsbildes 
phantastischer  und  die  ängstliche  Erregung  grösser  zu  sein,  während 
hier  die  stuporösen  Zustände  häufiger  waren.    In  diagnostischer 


ProgresBive  Formen. 


331 


Beziehung  ist  gegenüber  der  Amentia  auf  die  grössere  Besonnen- 
heit der  Kranken,  den  inneren  Zusammenhang  ihrer  Wahnideen, 
das  Fehlen  manischer  Symptome,  die  verschiedenartige  Aetiologie, 
den  weit  schleppenderen  Verlauf,  den  ungünstigen  Ausgang  in 
einen  ganz  bestimmt  charakterisirten  Schwächezustand  hinzuweisen. 
Yor  der  Verwechselung  mit  Paranoia  schützen  die  allgemeinen 
körperlichen  und  psychischen  Anzeichen  der  acuten  Psychose,  vor 
derjenigen  mit  Melancholie  die  ausgebildeten  Verfolgungsideen  und 
Sinnestäuschungen. 

Ueber  die  Ursachen  der  Elrankheit  vermag  ich  keine  völlig 
befriedigenden  Angaben  zu  machen.  Jedenfalls  spielt  die  psycho- 
pathische Praedisposition  eine  entschiedene  Polle.  Mehrfach  handelte 
es  sich  um  schon  ursprünglich  schwach  und  haltlos  veranlagte  Ge- 
schöpfe, namentlich  Mädchen.  Ausserdem  scheinen  auch  hier  dau- 
ernde depressive  Aifecte  und  chronisch  schwächende  Einwirkungen 
für  die  Entwickelung  der  Psychose  von  Bedeutung  zu  sein.  Die 
Mehrzahl  meiner  Kranken  stand  zwischen  dem  20.  und  40.  Lebensjahre. 

Die  Behandlung  der  Psychose  kann,  wenigstens  für  die  Zeit 
stärkerer  Aufregung,  nur  in  der  Anstalt  durchgeführt  werden.  Auch 
hier  versagen  zunächst  oft  alle  Beruhigungsmittel,  von  denen  vor 
Allem  die  Bettruhe,  ferner  verlängerte  Bäder,  Einpackungen,  endlich 
das  Opium,  Morphium,  der  Alkohol  oder  auch  gelegentliche  Hyp- 
notica  nothwendig  werden  können;  natürlich  ist  genaue  TJeber- 
wachung  unerlässlich.  Im  Uebrigen  handelt  es  sich  wesentlich  um 
die  Fernhaltung  von  Schädlichkeiten,  unter  denen  die  Besuche  der 
nächsten  Angehörigen  besonders  zu  beachten  sind,  dann  aber  um 
die  Sorge  für  zweckmässige  und  ausreichende  Ernährung.  Bei  ein- 
tretender Beruhigung  ist  eine  vorsichtige  geistige  Diätetik,  Ablenkung 
durch  Unterhaltung,  Beschäftigung,  Spaziergänge  u.  s.  f.,  am  Platze, 
Hat  der  körperliche  Zustand  völlig  die  Norm  erreicht,  so  dass  der 
Krankheitspro cess  abgeschlossen  erscheint,  so  wird  unter  günstigen 
äusseren  Umständen  die  dauernde  Kückkehr  in  die  häuslichen  Ver- 
hältnisse meist  ohne  Schwierigkeiten  durchführbar  sein. 

c.  Progressive  Formen.  In  dieser  Gruppe  möchte  ich  eine 
Eeihe  von  Beobachtungen  zusammenfassen,  bei  welchen  sich  sub- 
acut  zusammenhangslose  Verfolgungs-  und  später  auch 
Grössenideen  mit  lebhaften  Sinnestäuschungen  und  Affecten 
entwickeln,  um  zumeist  in  einen  Zustand  geistiger  Schwäche  und 


332 


V.  Der  Wahnsinn. 


Verworrenheit  hinüberzuführen.  Im  Beginne  der  Psychose  sind  die 
Kranken  traurig,  ängstlich,  verstört,  zurückhaltend  und  können  zu- 
nächst für  Melancholiker  gehalten  werden,  bis  sich  herausstellt,  dass 
sie  auf  das  Lebhafteste  halluciniren.  Sie  hören,  dass  die  Todes- 
stunde da  sei;  nur  eine  halbe  Stunde  ist  Aufschub,  dann  werden 
sie  aufgehängt,  auf  100  Jahre  in  die  Leichenkammer  gelegt  Die 
nächsten  Angehörigen  sollen  gefoltert  werden ;  Alle  werden  ermordet, 
sind  schon  gestorben;  die  Familie  ist  entehrt,  die  Frau  ist  untreu. 
Sie  werden  belauscht;  10000  Pariser  Telephonstimmen  sind  im  Bett; 
sie  sind  mannstoll,  Gottes  nicht  werth,  vom  ersten  Athemzuge  an 
sündig,  haben  den  Menschen  nicht  gegeben,  was  ihnen  gebührt. 
In  den  Speisen  ist  Gift,  Samen  im  Kaffee;  ihnen  wird  Leichengift 
eingespritzt.  In  den  Mustern  der  Tapeten  zeigen  sich  Fratzen;  die 
Bilder  irgend  eines  Buches  beziehen  sich  auf  ihr  Schicksal,  sollen 
sie  an  ihre  Yerbrechen  mahnen.  Die  ganze  Umgebung  erscheint 
verändert;  die  Personen  wechseln  ihre  Gesichter;  draussen  ist  Krieg; 
es  wird  eingebrochen;  irgendwo  ist  ein  Dieb  versteckt. 

Trotz  dieser  mannigfachen  Täuschungen  und  Wahnideen  sind 
die  Kranken  ziemlich  klar,  über  ihren  Aufenthaltsort  orientirt  und 
im  Stande,  zusammenhängend  zu  erzählen.  Sie  besitzen  keine  oder 
doch  nur  ganz  unvollkommene  Krankheitseinsicht.  Gerade  die  Selbst- 
verständlichkeit, mit  der  sie  bei  äusserer  Besonnenheit  die  absur- 
desten Wahnvorstellungen  festhalten,  ist  bisweilen  sehr-  auffallend. 

Die  Stimmung  ist  ängsthch,  misstrauisch;  bald  überwiegt  die 
unzugängliche,  stumme  Yerzweiflung,  bald  mehr  die  Erregung  und 
Unruhe  mit  lautem  Jammern  und  Klagen.  Selbstmordversuche  sind 
nicht  selten.  Die  Nahrungsaufnahme  ist  sehr  um-egelmässig,  der 
Schlaf  hochgradig  gestört;  das  Körpergewicht  sinkt  rasch. 

Nach  einigen  Monaten  ändert  sich  das  ganze  Krankheitsbild 
ziemlich  plötzlich.  Die  Depression  tritt  gänzlich  zurück;  die  Kranken 
werden  lebhaft,  heiter,  selbstbewusst  und  beginnen  massenhafte 
Grössenideen  zu  äussern.  Es  geschehen  Wunder;  sie  sind  gestorben 
und  wieder  auferstanden,  viermal  heilig  geboren,  haben  die  Kraft, 
alle  Menschen  zu  erlösen.  Der  Kaiser  ist  im  Hause;  die  Personen 
der  Umgebung  sind  Berühmtheiten  und  hohe  Herrschaften.  Die 
Kranke  ist  mit  dem  Arzte  verheiratet,  schwanger,  hat  durch  ein 
Wunder  ein  Kind  geboren.  Alles  hat  eine  besondere  Bedeutuag; 
auch  vergangene  Ereignisse  wiesen  bereits  auf  die  Zukunft  hin;  die 


Pi-ogi-essive  Formen. 


333 


Bäder  sind  Wunderbäder  von  100°  Wärme;  Gottes  Gestalt  sitzt 
unter  dem  Fussboden.  Daneben  bestehen  die  Verfolgungsideen  fort. 
Der  Kranke  muss  um  sein  Leben  kämpfen ;  diese  Nacht  ist  die  letzte ; 
Alle  sind  Betrüger,  gemeine  Menschen.  Politik  und  Religion  stehen 
auf  dem  Spiele;  im  Ofen  ist  ein  Mensch  eingemauert.  Man  macht 
ihm  Bilder  vor;  das  Essen  verwandelt  sich  in  Menschenköpfe;  es 
werden  sexuelle  Angriffe  ausgeführt.  Die  Menschen  verdoppeln  und 
vei"vierfachen  sich;  ein  Anderer  hat  seinen  Kopf  auf. 

Die  ausserordentliche  Zusammenhangslosigkeit  und  Zerfahren- 
heit dieser  Wahnideen  lässt  meist  schon  jetzt  einen  gewissen  Grad 
geistiger  Schwäche  erkennen.  Die  Kranken  sind  nicht  mehr  im 
Stande,  eine  geordnete  Unterhaltung  zu  führen,  sondern  gerathen 
nach  kurzer  Zeit  in  ein  halb  verworrenes,  halb  ideenflüchtiges  De- 
lirium, aus  dem  sich  die  geschilderten  Wahnideen  nur  bruchstück- 
weise herauserkennen  lassen.  Dabei  besteht  ein  sehr  gehobenes 
Selbstgefühl,  welches  sich  meist  in  gezierter  Ausdrucks-  und  Sprech- 
weise, gespreizten,  theatralischen  Geberden,  in  der  Neigung  znm  Po- 
siren, zu  abenteuerlichem  Aufputze  der  Kleidung  kund  giebt.  Die 
Kranken  sind  reizbar,  oft  unvermuthet  brutal,  gewaltthätig,  vielleicht 
im  Zusammenhange  mit  den  Sinnestäuschungen.  Zeitweise  beob- 
achtet man  plötzliche,  rasch  vorübergehende  Angstanfälle  oder  sexuelle 
Erregung  mit  obscönem  Reden  und  rücksichtslosem  Masturbiren.  In 
der  Regel  besteht  auch  längere  Zeit  hindurch  ein  deutlicher  Be- 
wegungsdrang. Die  Kranken  halten  grosse  Reden,  verfassen  bogen- 
lange,  verworrene  Schriftstücke,  bekritzeln  die  Wände,  fangen  alle 
möglichen  Dinge  an,  ohne  irgend  etwas  zu  Ende  zu  bringen,  drängen 
hinaus,  gehen  im  Sturmschritt  spazieren.  Der  körperliche  Zustand 
pflegt  sich  langsam  zu  heben. 

Wie  es  scheint,  ist  in  einzelnen  Fällen  hier  noch  eine  Besserung, 
ein  Zurücktreten  der  Sinnestäuschungen,  Wahnideen  und  der  Er- 
regung, sowie  das  Gewinnen  einer  gewissen  Krankheitseinsicht 
möglich.  Wahrscheinlich  dürfte  es  sich  dabei  jedoch  um  Heilungen 
„mit  Defect"  handeln.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  dagegen  kommt 
es  unter  Andauer  der  Sinnestäuschungen  zu  einem  rasch  fort- 
schreitenden psychischen  Yerfall.  Schon  nach  Yerlauf  von  ein  bis 
zwei  Jahren,  bisweilen  noch  früher,  sind  die  Kranken  meist  voll- 
kommen schwachsinnig  und  verworren.  Sie  haben  zwar  noch  eine 
ungefähre  Kenntniss  von  ihrer  Umgebung,  produciren  aber  auf  An- 


334 


V.  Der  Wahnsinn. 


reden  sofort  ein  ganz  unsinniges,  zusammenhangsloses  Gefasel.  Die 
Erregung  verliert  sich  nach  und  nach;  höchstens  bleibt  die  Neigung- 
zum  Zerreissen,  zu  affectirtem  oder  possenhaftem  Sprechen  und  Be- 
nehmen noch  längere  Zeit  zurück.  Dieser  Zustand  kann  viele  Jahn^ 
hindurch  stationär  bleiben,  so  dass  sogar  noch  das  Heranziehen  zu 
ganz  einfachen  Beschäftigungen  möglich  ist. 

Offenbar  handelt  es  sich  bei  dieser  Psychose  um  einen  schweren, 
tiefgreifenden  Krankheitsprocess.  Hereditäre  Veranlagung  findet  sich 
fast  regelmässig  und  kündigt  sich  in  mannigfachen  abnormen 
Charakterzügen,  auffallender  Pedanterie,  exaltirtem  Wesen,  ein- 
-seitiger  künstlerischer  Begabung  u.  dergl.  an.  Nicht  selten  sind 
schon  früher  flüchtigere  Störungen  des  psychischen  Gleichgewichts 
voraufgegangen.  Eine  meiner  Kranken  hatte  6  Jahre  vorher  einen 
Anfall  ängstlich-stuporösen  hallucinatorischen  "Wahnsinns  durch- 
gemacht, war  genesen,  nur  etwas  misstrauisch  und  reizbar  geblieben. 
Die  neue  Erkrankung  zeigte  den  oben  geschilderten,  halb  depressiven, 
halb  expansiven  Verlauf  und  führte  zu  dauernder  Verworrenheit. 
Die  Mehrzahl  meiner  Kranken  stand  zwischen  dem  30.  und  40. 
Lebensjahre. 

Die  Diagnose  der  Psychose  kann  in  den  ersten  Monaten  zwei- 
felhaft sein.  Die  schwere  psychische  Depression  mit  massenhaften 
Hallucinationen  und  Wahnideen  erinnert  an  die  im  vorigen  Ab- 
schnitte besprochenen  ängstüch-stuporösen  Formen,  aber  die  Kranken 
sind  weniger  benommen,  gehen  mehr  aus  sich  heraus.  Mit  dem 
Wechsel  des  Krankheitsbildes  kann  die  Möglichkeit  eines  circulären 
Irreseins  erwogen  werden.  Abgesehen  von  dem  Lebensalter,  spricht 
dagegen  die  immer  deutlicher  werdende  Zerfahrenheit  und  Verworren- 
heit des  Vorstellungsverlaufes,  die  hier  nicht  als  Theilerscheinung 
psycho-motorischer  Erregung,  sondern  als  das  Zeichen  eines  fort- 
schreitenden geistigen  Verfalles  zu  betrachten  ist. 

Die  Behandlung  kann  nur  eine  exspectative  sein.  Die 
Kranken  bedürfen  meist  dauernd  des  Anstaltsaufenthaltes,  Anfangs 
wegen  der  Selbstmordgefahr,  später  wegen  der  häufigen  Erregungs- 
zustände. 

d.  Labile  Formen.  In  dieser  letzten  Gruppe  finden  sich  alle 
diejenigen  Beobachtungen  vereinigt,  welche  neben  den  allge- 
meinen Symptomen  des  hallucinatorischen  Wahnsinns  einen 
sehr  eigenthümlichen,  unregelmässigen  Wechsel  zwischen 


Labile  Formen. 


335 


depressiver  und  manischer  Verstimmung  darbieten.  Zunächst 
möchte  ich  dabei  derjenigen  Fälle  gedenken,  bei  denen  die  psychische 
Depression  vorherrscht,  während  sich  manische  Erregungszustände 
ganz  plötzlich  und  unvermittelt  als  kürzer  oder  länger  dauernde 
Episoden  einschieben. 

Den  Beginn  der  Erkrankung  bildet  regelmässig  eine  traurig- 
ängstliche  Verstimmung  mit  Sinnestäuschungen  und  Verfolgungs-  bis- 
weilen auch  Versündigungsideen.  Die  Kranken  sind  niedergeschlagen, 
schlaflos,  beunruhigt,  glauben  sich  von  ihrer  Umgebung  verachtet 
und  verspottet.  Sie  hören  einzelne  beschimpfende  oder  drohende 
Aeusserungen,  die  von  der  Strasse  herauf  oder  aus  dem  Nachbar- 
hause herübertönen:  „da  hinten  steht  sie,"  „hergelaufenes  Kellner- 
innenmensch," „so  eine  Tochter  möchte  ich  nicht  haben,"  „er  wird 
castrirt,"  „heute  Nacht  muss  die  Lisbeth  sterben";  es  wird  vom  Er- 
stechen gesprochen.  Bisweilen  ist  der  Inhalt  der  Stimmen  ein  ganz 
gleichgültiger,  sogar  unverständlicher,  oder  sie  begleiten  alle  Hand- 
lungen des  Kranken,  kritisiren,  mischen  sich  in  die  Gedanken  hinein. 
Sie  werden  dann  im  Körper  localisirt:  Das  Herz  und  die  Lungen 
sprechen;  der  Magen  macht  laute  Bemerkungen.  In  der  Nacht 
kommt  Jemand  ins  Zimmer;  es  sind  weisse  Gestalten,  Männer  mit 
Zipfelhauben  da;  an  der  Tasse  klebt  Blut;  überall  ist  ein  furcht- 
barer Geruch;  das  Fleisch  stinkt  wie  die  Pest;  im  Essen  ist  Gift; 
der  Köqier  wird  elektrisii-t,  syphilitisch  gemacht,  der  Oeffentlichkeit 
preisgegeben. 

Der  Kranke  bemerkt,  dass  er  unter  polizeilicher  Ueberwachung 
steht;  man  verfolgt  ihn  wie  einen  Hasen,  hält  ihn  für  einen  Dieb. 
Alles  erscheint  verändert;  fremde  Menschen  kommen  ihm  bekannt 
vor;  man  sieht  ihn  „so  schwarz"  an.  In  der  Zeitung  steht  schon, 
was  man  mit  ihm  vorhat;  wenn  er  Fleisch  essen  soU,  so  bedeutet 
das,  es  werde  ihm  schlecht  gehen;  man  wird  ihn  in  ein  Zuchthaus, 
in  ein  Bordell  schleppen.  Trotz  dieser  weitgehenden  Verfälschung 
ihrer  Auffassung  sind  die  Kranken  höchstens  ganz  vorübergehend 
etwas  verwirrt,  bleiben  über  ihre  Umgebung  vollkommen  orientirt 
und  erscheinen  auf  den  ersten  Blick  wol  leicht  benommen,  aber 
ganz  geordnet.  Krankheitsgefühl  ist  häufig  vorhanden,  aber  kein 
klares  Verständniss  für  die  einzelnen  Krankheitserscheinungen.  Die 
Stimmung  wechselt;  regelmässig  aber  konunt  es  zeitweise  zu  leb- 
haften Angstzuständen  mit  starker  Selbstmordneigung.    Meist  sind 


336 


VI.  Der  Wahnsinn. 


die  Kranken  gegenüber  ihrer  Umgebung  sehr  misstrauisch  und 
zurückhaltend,  benehmen  sich  im  Ganzen  correct,  wenn  auch  etwas 
sonderbar  abweisend. 

Schon  im  Beginn  der  Psychose  fällt  es  auf,  dass  sich  zmschen 
die  vorwiegend  depressiven  "Wahnvorstellungen  ganz  unvermittelt 
einzelne  Grössenideen  einmischen.  Der  Kranke  glaubt  die  Auf- 
merksamkeit hochgestellter  Damen  auf  sich  gezogen  zu  haben;  Heiraths- 
gedanken  tauchen  auf;  er  hat  den  deutschen  Kaiser  gesehen;  es  ist 
ein  Yermögen  für  ihn  deponirt  worden.  Im  weiteren  Y  erlaufe  ver- 
wandelt sich  plötzlich  die  ängstliche  Yerstimmung  iu  maniakalische 
Heiterkeit  mit  Ideenflucht  und  Bewegungsdrang,  in  welche  sich  hie 
und  da  Andeutungen  ekstatischer  Yerzückung  mit  Katalepsie  ein- 
schieben können.  Die  Kranken  werden  ausgelassen,  lustig,  lachen, 
geben  schnippische,  bisweilen  affectirt  grobe  oder  ganz  unverständ- 
liche, beziehungslose  Antworten,  sprechen  viel,  singen  Gassenhauer, 
zeigen  erotische  und  sexuelle  Erregung,  wollen  einen  Prinzen 
heirathen,  beginnen  zu  masturbiren.  Auch  die  Stimmen  nehmen  an 
diesem  Umschwung  theü,  fordern  die  Kranken  auf,  recht  zu  schreien, 
sagen  ihnen  vor,  was  sie  thun  sollen.  Solche  Paroxysmen  dauern 
in  der  Eegel  nur  wenige  Tage  oder  selbst  nur  Stunden,  können  sich 
aber  mehrfach  wiederholen.  In  den  Zwischenzeiten  sind  die  Kranken 
wieder  leicht  ängstlich  benommen,  deprimirt;  nur  hie  und  da  deutet 
sich  durch  ein  Lächeln,  eine  humoristische  Bemerkung  oder  un- 
motivirte  Gereiztheit  die  Gleichgewichtsstörung  auf  dem  Gebiete  der 
Stimmung  an.  In  körperlicher  Beziehung  bestehen  auch  hier  die 
Erscheinungen  der  acuten  Psychose,  schlechter  Schlaf,  Abnahme  des 
Appetites  und  Sinken  des  Körpergemchts. 

Nach  einer  Eeihe  von  Monaten  und  vielfachen  Schwankungen 
des  Zustandes  pflegen  unter  fortschreitender  Besserung  der  all- 
gemeinen Ernährung  ganz  allmählich  auch  die  psychischen  Krank- 
heitssymptome zu  schwinden.  Die  Stimmen  verlieren  ihre  Macht 
über  den  Kranken;  er  hört  ihnen  halb  ärgerlich,  halb  belustigt  zu, 
bis  sie  sich  endlich  vollständig  verlieren.  Die  Wahnideen  treten 
zurück,  die  Stimmung  wird  gleichmässig,  und  der  Kranke  gewinnt 
eine  klare  Einsicht  in  die  überstandene  Störung.  In  der  Regel 
läuft  der  ganze  Krankheitsprocess  in  6—8  Monaten  ab,  kann  sich 
aber  auch  über  ein  Jahr  hin  erstrecken.  Die  Prognose  scheint 
eiae  durchaus  günstige  zu  sein. 


Labilo  Formen. 


337 


Mit  dieser  Form  scheint  mir  eine  zweite  Gruppe  von  Fällen 
nahe  verwandt  zu  sein,  bei  welcher  die  manischen  Symptome  vor- 
wiegend das  Krankheitsbild  beherrschen,  während  ängstliche  und 
depressive  Verstimmungen  nur  vorübergehend  stärker  hervortreten. 
Die  Psychose  beginnt  regelmässig  ganz  acut.  Die  Ki-anken  werden 
schlaflos,  aufgeregt,  unruhig,  bald  ängstlich,  bald  auffallend  lustig, 
laufen  von  Hause  fort  und  äussern  plötzHch  allerlei  phantastische 
Verfolgungs-  und  Grössenideen.  Zugleich  stellen  sich  massenhafte 
Hallucinationen  ein.  Der  Schutzengel,  die  Jungfrau  Maria  spricht; 
Gottes  Stimme  ertönt  und  ertheilt  Befehle,  der  Kranke  soll  den 
Hund  tödten,  der  Kirche  eine  Schenkung  machen,  eine  Aufgabe  lösen 
fürs  Vaterland.  Auch  die  Nachbarn  hört  er  über  sich  sprechen; 
sein  ganzer  Lebenslauf  wird  erzählt;  neckende  Bemerkungen  werden 
über  ihn  gemacht,  er  sei  „jungfernstichig",  man  vigilire  auf  ihn, 
50  Mädchen  erwarten  ihn. 

Die  Stimmen  kommen  zum  Theil  aus  der  Ferne  oder  von  oben, 
aus  den  Wänden,  sitzen  aber  auch  in  den  einzelnen  Körpertheilen, 
als  Kopfstimme,  Magenstimme;  selbst  die  Zehen  sprechen.  Aeussere 
Geräusche  werden  zu  Worten;  das  Knarren  der  Dielen,  das  Pfeifen 
der  Locomotiven,  die  Fussstapfen  der  Menschen  enthalten  abgerissene 
Aussprüche,  Aufforderungen,  Scherze,  Verhöhnungen.  Vor  den  Augen 
erscheinen  Phantasien;  der  Kranke  sieht  Alles  blau  oder  grün,  sieht 
Flammen,  Leute,  die  ihn  erschlagen  wollen,  einen  Sarg  und  ein  Grab, 
den  Heiland,  die  Gräfinnen  von  Beifort  und  Neapel,  König  Ludwig  und 
Moltke.  Dabei  riecht  es  so  kurios,  nach  Pech,  Anis,  Fleisch,  Collo- 
dium;  die  Speisen  schmecken  nach  Gift.  Weisser  und  gelber  Dunst 
geht  aus  dem  Munde;  die  Zunge  ist  gefühllos,  der  Körper  wird  elektri- 
sirt,  che  Geschlechtstheile  geschliffen;  fremdes  saures  Blut  circulirt 
in  der  rechten  Kopfhälfte,  schäumt  und  kocht  darin,  das  Glied  wird 
durch  Elektricität  steif  gemacht. 

An  diese  mannigfaltigen  krankhaften  Wahrnehmungen  scbliessen 
sich  ebenso  bunte  und  unsinnige  Wahnideen  an.  Der  Kranke  "glaubt 
sich  verfolgt,  wird  von  seinen  Feinden  angegriffen,  muss  alle  Sinne 
durchmachen,  den  Kunstsinn,  Freisinn,  Irrsinn,  Stumpfsinn;  überall 
sind  geheime  Vorrichtungen,  um  ihn  zu  beeinflussen;  man  hat  ihn 
„presshefig"  gemacht.  Er  besitzt  Gottes  Stimme,  ist  reich,  Papst  und 
Kaiser,  hat  Frankreich  und  Eussland  geschlagen,  wird  vom  Gross- 
herzog zur  Audienz  befohlen,  ist  im  Himmel  gewesen.  Sehr  be- 

KraepoUn,  Psychiatrio.    4.  Aull.  22 


338 


V.  Der  Wahnsinn. 


merkenswerth  ist  dabei  die  Neigung,  beliebigen  Wahrnehmungen  eine 
symbolische  Bedeutung  beizulegen.  Auf  einem  alten  Zettel  ent- 
deckt er  das  Zeichen  von  Oesterreich  und  Deutschland;  die  Buch- 
staben seines  Namens  weisen  auf  königliche  Abstammung  hin;  die 
Schwalben'  fliegen  genau  nach  den  "Winken  seiner  Hand;  weisse 
Schürzen  „haben  am  Ende  was  zu  bedeuten." 

Alle  diese  Wahnideen  stehen  nur  in  lockerem  Zusammenhange 
unter  einander  und  werden  yielfach  auch  nur  kurze  Zeit  festgehalten, 
um  bald  wieder  von  anderen,  völlig  widersprechenden  Vorstellungen 
abgelöst  zu  werden.  Freilich  kehren  einzelne  Grundzüge  häufig 
wieder  und  werden  auch  mit  einem  gewissen  Ernste  gegen  Ein- 
wände vertheidigt;  im  Ganzen  jedoch  scheint  es  sich  mehr  um 
plötzliche  Einfälle  zu  handeln,  die  sich  dem  Kranken  aufdrängen, 
ohne  eine  tiefere  Wurzel  in  der  Gesammtrichtung  seines  Denkens 
zu  haben.  Am  meisten  sprechen  für  diese  Auffassung  die  regel- 
mässig vorhandenen  Andeutungen  von  Ideenflucht. 

Man  bemerkt  deutlich,  dass  die  Kranken  nicht  im  Stande  sind, 
einen  bestimmten  Gedanken  ganz  systematisch  zu  verfolgen,  sondern 
sehr  bald  den  Zusammenhang  verlieren,  abschweifen,  zufällige  Wahr- 
nehmungen hineinüechten  und  plötzlich  in  oft  ganz  überraschender 
Weise  mit  einigen  sinnlosen  Kedensarten  schliessen.  Namentlich  in 
Briefen  oder  Zeichnungen  ist  diese  Störung  meist  sehr  auffallend. 
Ein  derartiger  Kranker  antwortete  mir  auf  meine  Bitte,  einen 
unverständlichen  Satz  näher  zu  erklären:  „Eechts  Stern,  rechts 
Bouquet,  links  Peitsche,  links  parallel,  das  ist  —  jetzt  können  wir's 

schlafen  lassen." 

Diese  Erscheinung  ist  um  so  bemerkenswerther,  als  die  Kranken 
dabei  vollständig  besonnen,  orientirt  und  geordnet  erscheinen.  Sie 
geben  richtige  Auskunft  über  ihre  Verhältnisse,  sind  klar  über  ihre 
Umgebung  und  vermögen  lange  Gespräche  zu  führen.  Bisweilen 
besteht  auch  ein  entschiedenes  Krankheitsgefühl,  wenigstens  beant- 
worten sie  die  Frage  nach  dem  Beginne  der  Krankheit  fast  immer 
ganz  prompt.  Von  einer  Einsicht  in  die  krankhafte  Natur  der  ein- 
zelnen Erscheinungen  ist  dagegen  keine  Rede;  sie  glauben  für  den 
Augenblick  ganz  fest  an  die  Wirklichkeit  der  Verfolgungen  und 
Verheissungen,  allerdings  ohne  dieselben  geistig  weiter  zu  verarbeiten 
oder  daraus  Folgerungen  für  ihr  Handeln  zu  ziehen. 

Die  Stimmung  der  Kranken  ist  im  Beginne  meist  ängstlich 


Labile  Formen. 


339 


und  niedergeschlagen.  Einer  meiner  Kranken  nahm  deshalb  die 
Sterbesacramente.  Späterhin  ist  ein  vielfacher  Wechsel  zu  beobachten. 
Meist  sind  die  I£i-anken  eigenthümlich  lustig,  zu  humoristischen  Be- 
merkungen geneigt,  bisweilen  hochfahrend,  gereizt;  dazwischen  hinein 
schieben  sich  aber  auch  nicht  selten  heftige  Angstanfälle.  Auch 
unter  ihrer  heiteren  Stimmung  verbirgt  sich  zuweilen  eine  deutliche 
Aengstlichkeit.  In  dem  Benehmen  der  Kranken  macht  sich  vor  Allem 
eine  gewisse  Unruhe  geltend.  Sie  sprechen  schnell,  wenn  auch  nicht 
gerade  viel,  machen  plötzliche,  ganz  unmotivirte  Bemerkungen,  bis- 
weilen in  theatralischer  Betonung,  gehen  viel  herum,  gesticuliren  in 
auffallender  Weise,  beschreiben  Zettel  mit  zusammenhangslosen 
Zeichen  oder  Sätzen.  Nicht  selten  kommt  es  zu  absonderlichen 
Handlungen  in  Folge  der  Sinnestäuschungen  und  Wahnideen.  -Einer 
meiner  Kranken  entfernte  den  Blumenschmuck  von  dem  Grabe 
seiner  Frau,  weil  sie  es  ihm  befohlen  hatte,  forderte  seine  Schwieger- 
mutter zum  Coitus  auf,  „um  sie  zu  prüfen";  ein  Anderer  urinirte 
durch  das  Gitter  zum  Fenster  hinaus,  um  die  Elektricität  abzuleiten. 
Noch  ein  Anderer  hielt  den  Harn  zurück,  dass  die  Blase  sich  bis 
zum  Nabel  ausdehnte,  weil  ihm  plötzlich  der  Gedanke  gekommen 
war,  er  müsse  das  thun.  Hie  und  da  beobachtet  man  Andeutungen 
von  Katalepsie. 

In  somatischer  Beziehung  sind  die  Klagen  über  Schwindel 
und  Kopfschmerzen  bemerkenswerth.  Der  Schlaf  ist  sehr  unruhig, 
die  Nahrungsaufnahme  ziemlich  regelmässig.  Das  Körper- 
gewicht sinkt. 

Der  Yerlauf  der  Psychose  ist  meist  ein  subacuter.  Trotz 
zeitweiser  Besserungen  mit  mehr  oder  weniger  vollständiger  Krank- 
heitseinsicht und  gelegentlicher,  vorübergehender  Angstzustände  er- 
hält sich  der  maniakahsche  Grimdzug  in  wechselnder  Intensität 
mindestens  durch  einige  Monate  hindurch.  Unter  stetigem  Ansteigen 
des  Körpergewichtes  treten  die  Täuschungen  ganz  allmählich  ziulick; 
der  Kranke  „achtet  nicht  mehr  so  darauf."  Das  Benehmen  wird  ge- 
ordneter, die  Stimmung  gleichmässiger,  und  es  kommt  nun  bisweilen 
innerhalb  weniger  Tage  zu  einer  vollständigen  Correctiu-  der  Wahn- 
ideen. Die  Dauer  des  ganzen  Krankheitsprocesses  dürfte  meist  etwa 
5— 6  Monate  betragen;  es  giebt  aber  auch  viel  langsamer  verlaufende 
Fäüe.  Die  Prognose  scheint  fast  immer  eine  günstige  zu  sein. 
Ich  kannte  einen  wahrscheinlich  hierher  gehörigen  Kranken,  der 

22* 


340 


V.  Der  Wahnsinn. 


nach  öjähriger  Dauer  der  Psychose  soweit  wieder  hergesteUt  wurde, 
dass  er  selbständig  seine  Gärtnerei  weiter  betreiben  konnte. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  wichtigste  Ur- 
sache auch  der  im  Yorstehenden  geschilderten  Krankheitsbilder  in 
der  psychopathischen  Praedisposition  gesucht  werden  muss.  Tliat- 
sächhch  findet  sich  auch  regelmässig  mehr  oder  weniger  schwere 
hereditäre  Belastung.  Die  Psychose  entsteht  vorzugsweise  in  der 
Zeit  zwischen  dem  20.  und  30.  Lebensjahre;  chronisch  schwächende 
körperliche  Ursachen  scheinen  eine  gewisse  EoUe  zu  spielen.  Ich 
halte  es  wegen  der  klinischen  Yerwandtschaft  des  Krankheitsbildes 
mit  gewissen  Formen  des  periodischen  Irreseins  für  sehr  möghch, 
dass  es  auch  hier  sich  eigentlich  um  periodische  Erkrankungen 
handelt,  doch  bin  ich  noch  nicht  im  Stande,  diese  Auffassung  sicher 
zu  beweisen. 

Die  Behandlung  ist  eine  wesentlich  exspectative.  Im  An- 
fange ist  Bettrulie  und  dauernde  Ueberwachung  geboten,  späterhin 
Ablenkung,  Leetüre,  Unterhaltungen,  leichte  Beschäftigung.  Vorsicht 
ist  bei  der  Beurtheilung  der  sehr  häufigen  Eemissionen  am  Platze,  weil 
durch  verfrühte  Entlassung  Schaden  gestiftet  werden  kann.  Nur 
nach  völliger  Eückkehr  des  Körpergewichtes  zur  Norm  schwindet 
die  Gefahr  des  KückfaUes.  Unter  dieser  Yoraussetzung  kann  hier 
bisweilen  sogar  dann  an  die  Entlassung  gedacht  werden,  wenn  das 
volle,  unumwundene  Yerständniss  für  die  Krankheit  noch  nicht  in 
befriedigendem  Masse  erreicht  ist. 

B.  Der  depressive  Wahnsinn.*) 

Das  Krankheitsbild  des  depressiven  Wahnsinns  ist  gekennzeichnet 
durch  die  subacute  Entwickelung  phantastischer,  meist  mit 
vereinzelten  Sinnestäuschungen  einhergehender  Wahnideen 
bei  gleichzeitiger  depressiver  Verstimmung.  Das  erste 
Stadium  der  Erkrankung  erstreckt  sich  meist  über  einige  Wochen, 
bisweilen  selbst  über  Monate,  hin.  Die  Kranken  werden  reizbar, 
verstimmt,  ängstlich,  empfindlich  gegen  Geräusche,  äussern  allerlei 
grundlose  Befürchtungen  und  klagen  über  Druck  im  Kopfe,  Unruhe 
am  Herzen,  abnorme  Empfindungen  im  Körper.  Der  Schlaf  wird 
schlecht,  vielfach  durch  ängstliche  Träume  oder  selbst  durch  nächt- 


')  Peon,  De  la  melancolie  avec  delire.  1874. 


Depressiver  Walnisinn. 


341 


liehe,  imbestimmte  Sinnestäuschungen  (Geräusche  oder  Lichtschein 
im  Sclilafzimmer,  Klopfen  am  Fenster)  gestört;  der  Appetit  verliert 
sich;  die  Yerdauung  wird  träge;  das  Körpergewicht  nimmt  ab. 

Nach  und  nach  gewinnen  die  anfangs  nur  andeutungsweise  auf- 
tretenden Wahnideen  einen  bestimmteren  Inhalt,  der  sich  sehr 
gewöhnlich  zunächst  auf  den  eigenen  Zustand  bezieht.  Der  Kranke 
fühlt,  dass  ihn  ein  schweres  Leiden  überfällt,  von  dem  er  nie  wieder 
genesen  kann.  Seine  Eingeweide  sind  nicht  mehr  in  Ordnung;  der 
Magen  verdaut  nicht  mehr;  das  Blut  stockt;  die  Glieder  verti-ocknen ; 
der  Kopf  ist  ganz  dumm  geworden. 

Weiterhin  kommt  es  regelmässig  zur  Entwickelung  von  Ver- 
sündignngs-  und  Verfolgungsideen.  Der  Kranke  ist  an  allem  Un- 
glück Schuld,  hat  schreckliche  Verbrechen  begangen,  gelogen  und 
beti-ogen,  die  Anstalt  verrathen,  Alle  geschlachtet,  durch  seine  un- 
sinnigen Eeden  die  ganze  Welt  zu  Grunde  gerichtet  und  wegen 
seiner  ScheussHchkeiten  tausendfach  den  Tod  verdient.  Städte  und 
Länder  sind  um  seinetwillen  verwüstet  worden;  jedesmal,  wenn  er 
sich  im  Bett;e  umdreht,  wird  ein  Mensch  hingerichtet.  In  der  Nacht 
schläfert  man  ihn  ein,  bringt  ihn  fort,  lässt  ihn  toUe  Streiche  be- 
gehen, für  die  man  ihn  später  verantwortlich  machen  wird,  ohne 
dass  er  etwas  davon  weiss.  Er  ist  nicht  werth,  dass  man  mit  ihm 
spricht,  ihn  auch  nur  ansieht;  man  soU  ihn  doch  nur  erschiessen,  in 
ein  finsteres  Loch  werfen,  lebendig  begraben,  ihm  die  Zunge  heraus- 
reissen,  den  Kopf  abschlagen. 

Jedenfalls  wird  nun  das  schreckliche  Sü-afgericht  alsbald  über 
ihn  hereinbrechen.  Er  ist  bereits  völlig  verarmt  und  mittellos,  kann 
das  Essen,  das  Bett  nicht  mehr  bezahlen,  darf  sich  höchstens  vom 
AbfaU  nähren  und  auf  der  Diele  schlafen.  Es  wird  ein  entsetzliches 
ünglück  geschehen;  AUes  wird  untergehen  um  seinetwillen.  Die 
Pohzei  wird  kommen,  um  ihn  zur  Verantwortimg  zu  ziehen;  er 
wird  dann  den  grässhchsten  Martern  unterzogen,  mit  Blausäure 
oder  Arsenik  vergiftet,  an  eine  Leiche  festgebunden,  im  Abgrunde 
wilden  Thieren  vorgeworfen,  auf  eiuer  Kuhhaut  zur  Bichtstätte  ge- 
schleppt werden.  In  einzehien  EäUen  nehmen  die  WahnvorsteUungen 
einen  „nihilistischen"  Charakter  an.  Die  Welt  existnt  nicht  mehr; 
es  ist  Alles  gefälscht  und  nur  Schein;  aUe  Menschen  sind  todt, 
verbrannt,  verhungert,  weü  es  nichts  mehr  zu  essen  giebt,  weü  der 
Kranke  in  seinen  ungeheuren  Magen  Alles  hineingeschlungen  hat 


342 


V.  Der  Wahnsinn. 


Niemand  isst  oder  schläft  mehr;  er  selbst  lebt  auch  nicht  mehr,  ist 
nur  noch  ein  Automat,  ganz  klein,  winzig  zusammengeschrumpft, 
unsichtbar. 

Einen  merkwürdigen  Gegensatz  zu  solchen  verzweiflungsvollen 
Erzählungen  bilden  nicht  selten  unvermittelt  dazwischen  sich  ein- 
schiebende Grrössenideen.  Die  Kranken  erzählen  mit  geheimniss- 
voller Miene,  dass  man  sie  für  die  Jungfrau  Maria  halte,  die  nun 
bald  mit  CMstus  niederkommen  werde,  dass  man  immer  glaube,  sie 
könnten  "Wunder  thun,  Gold  machen  und  alle  Krankheiten  heilen; 
sie  sollen  in  einem  „silbernen  Kessel"  gesotten  werden;  der  Kaiser 
soll  kommen  und  sie  ansehen. 

Eegelmässig  werden  nun  auch  die  "Wahrnehmungen  des 
Kranken  in  der  durchgreifendsten  "Weise  verfälscht.  Die  Anstalt,  in 
die  man  ihn  geführt  hat,  ist  gar  keine  Irrenanstalt,  sondern  ein  Ge- 
fängniss,  in  dem  nur  zu  seiner  Schonung  die  Eiction  der  ärztlichen 
Behandlung  aufrecht  erhalten  wird.  Er  befindet  sich  überhaupt  gar 
nicht  in  der  Stadt,  die  man  ihm  genannt  hat,  sondern  ganz  wo 
anders,  ohne  dass  es  ihm  freilich  klar  ist,  was  man  eigentlich  mit 
ihm  angefangen  hat.  Man  spielt  nur  Comödie  mit  ihm,  sucht  ihn 
zu  täuschen;  die  Angehörigen,  die  er  ins  schreckhchste  Unglück 
gebracht  hat,  verstellen  sich,  weü  sie  dazu  gezwungen  werden.  Die 
Gegenstände  seiner  Umgebung  kommen  ihm  zwar  vielfach  bekannt 
vor,  als  seien  dieselben  sein  Eigenthum  und  zu  bestimmten,  räthsel- 
haften  Zwecken  dorthin  gestellt,  allein  es  hat  Alles  einen  ganz  un- 
gewöhnlichen und  erschreckenden  Anstrich.  Auf  der  Strasse  be- 
gegnen ihm  auffallend  viel  Kranke,  die  ihn  mit  bezeichnendem 
Blicke  ansehen;  die  Häuser  machen  den  Eindruck  von  Festungen, 
die  Zimmer  denjenigen  von  Yerliessen;  die  Bäume  im  Walde,  die 
Felsen  erscheinen  unnatürlich,  als  wenn  sie  künstlich  gemacht  und 
eigens  für  ihn  dort  aufgebaut  wären.  Die  Personen,  die  ihn  be- 
suchen, sind  nicht  die  richtigen,  werden  ihm  vom  Arzte  nur  vor- 
gemacht, ja  selbst  die  Sonne,  der  Mond,  das  "Wetter  sind  ganz  an- 
ders, als  früher,  und  kommen  ihm  vor  wie  Blendwerk,  dazu  bestimmt, 
ihn  noch  mehr  zu  verwirren. 

Ganz  besonders  imheimlich  ist  dem  Kranken  das  Thun  und 
Treiben  der  Menschen,  in  denen  er  häufig  allerlei  Celebritäten,  den 
Schah  von  Persien,  die  Königin  von  England,  oder  entfernte  Be- 
kannte zu  erkennen  glaubt,  die  sich  um  seinetwillen  zusammen- 


Depressiver  Wahnsinn. 


343 


gefunden  haben.  Er  begi-eift  nicht,  was  dieselben  sich  Alles  zu. 
schaffen  machen,  und  hat  die  misstraiüsche  Neigung,  überall  Bezieh- 
ungen zur  eigenen  Person  zu  erblicken.  Die  Auswahl  der  Speisen 
beim  Mittagessen,  die  Art  und  Reihenfolge,  in  welcher  der  Tisch  ge- 
deckt wird,  die  Worte,  welche  zu  ihm  gesprochen  werden,  haben 
einen  versteckten  Sinn,  den  zu  enträthseln  er  mit  Erfolg  bemüht  ist. 
Eia  abgenutztes  Sti-eichholz  am  Boden  des  Zimmers  soll  ihm  sagen, 
dass  er  ebenfalls  verbraucht  sei  und  den  Kopf  verlieren  müsste;  die 
Krautsuppe  bei  Tisch  soll  ihn  an  den  Scharfrichter  „Krauts"  erinnern, 
der  ihn  alsbald  hinrichten  wird.  Die  mit  einem  bezeichnenden  BUcke 
gemachte  Bemerkung,  dass  Zahnschmerzen  glücklicherweise  einmal 
aufhören,  kündigt  ihm  zu  seiuem  Schi-ecken  an,  dass  er  niemals  auf- 
hören, sondern  unsterblich  sein  wird.  Jede  Person  auf  der  Strasse, 
die  ihn  anbhckt,  ist  ihm  ein  verkleideter  Polizeispion;  auf  Schritt 
und  Tritt  glaubt  er  sich  beobachtet  und  wagt  sich  daher  nur  mit 
Zittern  und  Zagen  aus  seinem  Zimmer  heraus. 

Die  grosse  Mehrzahl  dieser  Ideen  entsteht  auf  dem  "Wege  ein- 
facher wahnhafter  Erfindung.  Die  Kranken  machen  auch  meist 
keinen  Versuch,  dieselben  irgendwie  zu  begründen;  sie  wissen,  dass 
es  so  ist;  es  ist  ihnen  eben  so  gewesen,  als  ob  dies  oder  jenes  ge- 
schehen werde.  Freüich  lässt  sich  fast  immer  das  Bestehen  ein- 
zelner Sinnestäuschungen  nachweisen,  aber  dieselben  spielen  bei  der 
eigentlichen  Wahnbildung  eine  verhältnissmässig  geringe  Rolle.  Viel- 
fach handelt  es  sich  auch  wol  um  Illusionen.  Namentlich  das  Essen 
kommt  dem  Kranken  sehr  sonderbar  vor;  es  ist  fade  von  Geschmack, 
oder  es  brennt  wie  Feuer  auf  der  Zunge.  Oft  stinkt  es  wie  die 
Pest,  und  der  Kranke  bemerkt  nun  bei  genauerem  Zusehen,  dass  es 
total  verdorben,  mit  Schimmel  bedeckt  ist,  sich  bewegt,  oder  dass 
demselben  die  abscheulichsten  Ingredienzien,  Würmer,  Grünspan,  Blut, 
Menschenfleisch,  Sperma,  ganz  kleine  abgeschnittene  Köpfe  mit  grin- 
senden Fratzen  beigemischt  sind.  Die  kleinen  Knötchen  seiner  Bett- 
leinwand erscheinen  ihm  wie  zahlloses  Ungeziefer;  am  Fenster  er- 
blickt er  Todtengesichter,  die  Skelette  seiner  Angehörigen,  an  den 
Bäumen  aufgehängte  Leichen,  oder  er  sieht  Schlangen  auf  dem 
Boden  kriechen,  Katzen,  kleine  Männer  im  Zimmer  herumlaufen, 
glaubt  bis  an  die  Kniee  im  Blute  zu  waten.  Seltener  sind  Gehörs- 
täuschungen, die  als  gelegentliche,  abgerissene  Bemerkungen  vor- 
zukommen pflegen,  in  denen  die  Umgebung  ihi-em  Aerger  über  den 


344 


V.  Der  WiihnRinn. 


Kranken  und  ihrer  Schadenfreude  Luft  macht  oder  ihm  hinter  seinem 
Rücken  neue  schreckliche  Ereignisse  ankündigt. 

Trotz  aller  dieser  tiefgreifenden  Störungen  der  Wahrnehmung 
und  Intelligenz  ist  ein  gewisser  Grad  Yon  Besonnenheit  bei  den 
Kranken  fast  immer  noch  erhalten,  Sie  geben  zutreffende  Auskunft 
über  ihre  persönlichen  Verhältnisse  und  sind  nicht  selten  im  Stande, 
ziemlich  zusammenhängend  zu  erzählen,  sowie  neue  Eindrücke, 
freilich  in  krankhafter  "Weise,  weiter  zu  verarbeiten.  Bisweilen  be- 
steht sogar  ein  dumpfes  Bewusstsein  von  der  Natur  der  Störung; 
die  Kranken  klagen,  dass  man  sie  durch  das  Essen,  die  Arzneien 
ganz  verwfrrt  gemacht,  hypnotisirt  habe,  dass  sie  immerfort  Unsinn 
reden,  bald  dies,  bald  jenes  Yerbrechen  bekennen  müssten,  verrückt 
geworden  seien.  In  anderen  FäUen  fehlt  den  Kranken  die  Fähigkeit 
vollkommen,  selbst  die  absurdesten  Widersprüche  zu  erkennen  und 
zu  corrigiren;  sie  behaupten,  dass  sie  nichts  mehr  gemessen  könntea, 
während  sie  mit  vollen  Backen  kauen,  und  sie  bitten  in  einem 
Augenblicke,  dass  man  sie  durch  Gift  aus  der  Welt  schaffen  möge, 
während  sie  im  nächsten  erklären,  dass  sie  überhaupt  nicht  sterben 
könnten,  was  immer  man  auch  mit  ihnen  anfange. 

Die  Stimmung  der  Kranken  zeigt  manche  Yerschiedenheiten. 
Zumeist  sind  sie  scheu,  bekümmert,  ängstlich,  zurückhaltend  und 
geben  oft  nur  wenige  Andeutungen  über  die  Wahnideen,  welche  sie 
so  sehr  beschäftigen;  nur  vorübergehend  schieben  sich  heftigere 
Affectausbrüche  mit  Weinen  und  lautem  Klagen  ein.  Sehr  auffallend 
ist  ein  eigenthümlich  humoristischer  Zug,  dem  man  bei  längerer 
Krankheitsdauer  nicht  selten  begegnet.  Die  Kranken  sind  ärgerlich 
und  verzweifelt,  lachen  dabei  über  sich  selbst,  ihre  Dummheit,  Yor- 
kommnisse  in  ihrer  Umgebung,  machen  einzelne  witzige  Bemerkungen 
und  jammern  zugleich  wieder  darüber,  dass  sie  lachen,  da  ihnen 
nichts  weniger  als  froh  zu  Muthe  sei.  Auf  der  andern  Seite  giebt 
es  eine  ganze  Anzahl  von  Fällen,  die  man  vielleicht  als  agitirte 
Form  jener  ersteren  gegenüberstellen  könnte,  in  denen  bei  stärkerer 
Bewusstseinstrübung  die  intensivste  ängstliche  Aufregung  den  ganzen 
Kran kheits verlauf  begleitet.  Die  Kranken  sind  ausser  sich  vor  Furcht, 
zittern  am  ganzen  Körper,  flehen  um  Gnade,  stöhnen  und  jainmern, 
Anfangs  leise,  dann  immer  lauter,  stundenlang  dieselben  stereotypen 
Wendungen  wiederholend,  bis  sie  schliesslich  nur  noch  unarticulirte, 
heisere  Laute  auszustossen  vermögen.    Sie  ringen  die  Hände,  gesti- 


Depressiver  "Wahnsinn. 


345 


culii-en  mit  den  Armen  und  dem  Kopfe,  zupfen  sich  Nase,  Pinger, 
Lippen,  Ohrläppchen  blutig,  schlagen  sich  mit  der  Faust  vor  die 
Stirn,  zerraufen  sich  die  Haare,  zerschlitzen  ihre  Kleider,  wälzen 
sich  am  Boden,  drängen  mit  blindem  Ungestüm  fort,  legen  sich 
nicht  ins  Bett  und  setzen  allen  äusseren  Einwirkungen,  allen  Be- 
schwichtigungsversuchen den  verzweifeltsten  Widerstand  entgegen. 
Hier  sowol,  wie  bei  den  ruhigeren  Kranken,  sind  energische  Selbst- 
mord- und  Selbstverstümmelungsversuche  nicht  selten. 

Die  Nahrungsaufnahme  bereitet  gewöhnlich  grosse  Schwierig- 
keiten, da  die  Kranken  ihren  Abscheu  vor  dem  „entsetzlichen  Essen" 
kaum  zu  überwinden  vermögen  und  das  Dargereichte  hartnäckig 
zui-ückweisen,  selbst  wieder  ausspucken.  Der  Schlaf  ist  stets  sehr 
vermindert,  von  phantastischen,  ängstlichen  Träumen  begleitet;  aus 
ilun  erwachen  die  Kranken  nicht  erquickt,  sondern  mit  schwerem 
Kopfe,  gequälter  und  verwirrter,  als  vorher,  bis  im  Laufe  des  Tages, 
namentiich  gegen  Abend,  sich  grössere  Beruhigung  einstellt.  Die 
allgemeine  Ernährung  pflegt  langsam,  bei  grösserer  Unruhe  und 
Nahrungsverweigerung  sehr  rasch  zu  sinken. 

Der  Verlauf  des  depressiven  Wahnsinns  ist  in  der  Eegel  ein 
protrahirter.  Zwar  können  die  ausgeprägten  Wahnideen  und  die 
Sinnestäuschungen  bisweilen  schon  nach  einer  Eeihe  von  Monaten 
allmählich  zurücktreten,  allein  die  weitere  Eeconvalescenz  pflegt 
auch  dann  sich  erst  nach  vielfachen  Schwankungen  und  Zwischen- 
fällen zu  vollziehen,  so  dass  die  Dauer  der  Erkrankung  nur  sehr 
selten  weniger  als  ein  Jahr  betragen  dürfte.  Bisweilen  führt  die 
weitere  Entwickelung  der  Psychose  zu  einem  eigenthümlichen 
Stadium  grosser  psychischer  Reizbarkeit  mit  Neigung  zu  Zornaus- 
brüchen, rechthaberischem,  eigensinnigem  Wesen  und  vagen  Beein- 
trächtigungsideen bei  vollkommen  erhaltener  Besonnenheit.  Der 
Kranke  ist  unleidlich,  launenhaft,  leicht  beleidigt,  glaubt  sich  nicht 
genügend  beachtet  und  respectirt  von  seiner  Umgebung,  empfindet 
dabei  aber  vielleicht  selbst  seinen  Zustand  als  eine  moralische  Yer- 
schlechterung. 

Die  Prognose  des  depressiven  Wahnsinns  muss  immer  als  eine 
zweifelhafte  bezeichnet  werden.  Eine  nicht  unbedeutende  Zahl  von 
Kranken  wird  man  imheilbaren  Schwächeformen  anheimfaUen  sehen; 
einzelne  gehen  ausserdem  durch  Selbstmord  oder  chronische  Er- 
schöpfung zu  Grunde.   Bei  ungünstigem  Verlaufe  schwinden  zwar 


346 


V.  Der  Wahnsinn. 


die  Sinnestäuschungen,  aber  die  auf  der  Höhe  der  Krankheit  ent- 
standenen Wahnideen  und  die  kleinmüthige,  ängstliche  Stimmung 
verlieren  sich  nicht  ganz  und  treten  namentlich  bei  geringfügigen 
Anlässen  (Gemüthsbewegungen)  leicht  wieder  hervor.  In  anderen  Fällen 
kehrt  die  äusserliche  Besonnenheit  zurück,  aber  es  kommt  doch 
keine  ganz  klare  Krankheitseinsicht  zu  Stande.  Die  Kranken  meinen, 
dass  viele  ihrer  Ideen  durch  das  Benehmen  der  Umgebung  motivirt 
gewesen  seien,  dass  sich  erst  durch  das  Verbringen  in  die  Anstalt 
ihr  Zustand  so  sehr  verschlechtert  habe.  Gerade  hier  bleibt  häufig 
die  schon  geschilderte  hochgradige  Keizbarkeit  und  Unzufriedenheit 
als  Ueberbleibsel  der  Krankheit  dauernd  zurück. 

Der  depressive  "Wahnsinn  ist  offenbar  den  melancholischen  Zu- 
ständen nahe  verwandt;  er  pflegt  sich  auch  unter  ähnlichen  Yer- 
hältnissen  zu  entwickeln,  wie  jene  letzteren,  doch  scheint  die  Prä- 
disposition hier  eine  erheblich  grössere  ätiologische  Rolle  zu  spielen. 
Auffallend  häufig  sind  bereits  in  früheren  Jahren  psychische  Er- 
krankungen vorhergegangen.  Am  wichtigsten  aber  für  die  Würdigung 
der  Erkrankung  ist  wol  der  Umstand,  dass  sie  in  klassischer  Aus- 
bildung fast  ausschliesslich  zwischen  dem  40.  und  60.  Lebensjahre, 
namentlich  im  Anfange  der  50  er  Jahre,  und  zwar  überwiegend  beim 
weiblichen  Geschlechte  vorkommt.  Wir  haben  in  ihr  neben  der 
Melancholie  die  typische  Psychose  des  Klimakteriums  vor  uns. 
Es  erscheint  daher  gerechtfertigt,  die  Krankheit  als  die  Eeactionsform 
eines  nicht  mehr  ganz  „rüstigen"  Gehirns  und  als  den  Uebergang 
von  der  Melancholie  zu  den  senilen  Depressionszuständen  aufzufassen. 
Von  der  ersteren  unterscheidet  sie  sich  durch  die  überaus  phan- 
tastische Entwickelung  der  intellectuellen  Störungen,  von  jenen 
letzteren  durch  die  Intensität  der  Affecte,  den  grösseren  Ideenreich- 
thum und  das  geringere  Hervortreten  der  psychischen  Schwäche. 
Gegenüber  den  ängstlich-stuporösen  Pormen  des  hallucinatorischen 
Wahnsinns  ist  auf  die  geringere  Rolle  der  Sinnestäuschungen,  nament- 
lich der  Gehörshallucinationen,  den  phantastischen  Inhalt  der  Wahn- 
ideen, das  Lebensalter  und  den  wesentlich  andern  Ausgang  der 
Krankheit  hinzuweisen.  Mit  der  Verrücktheit  endlich  ist  dieselbe 
wegen  des  subacuten  Beginnes  und  Verlaufes,  der  lebhaften  Affecte, 
der  günstigeren  Prognose,  sowie  des  widerspruchsvollen  und  zer- 
fahrenen Inhaltes  der  Wahnideen  nicht  zu  verwechseln. 

Die  Behandlung  des  depressiven  Wahnsinns  ist  im  Wesent- 


Depressiver  Wahnsinn.  347 

V 

liehen  eine  exspectative,  doch  bedürfen  die  Kranken  noth wendig 
der  Anstaltspflege,  der  Entfernung  aus  den  häuslichen  Verhältnissen. 
Für  die  erste  Zeit  wird  man  namentlich  für  möglichste  geistige 
und  körperliche  Kuhe  zu  sorgen  haben,  die  man  am  besten 
durch  die  Bettbehandlung  erzielt.  Besondere  Aufmerksamkeit  er- 
fordert die  zweckmässige  Ernährung  und  weiterhin  der  Schutz  der 
Kranken  vor  Selbstmordversuchen,  der  eine  unausgesetzte,  gewissen- 
hafte Ueberwachung  absolut  nothwendig  macht.  Die  Schlaflosigkeit 
wird  nach  den  oft  besprochenen  Grundsätzen  namentlich  durch 
hydropathische  Massregeln  bekämpft;  bei  stärker  hervortretender 
Angst  ist  die  vorsichtige  Durchführung  einer  methodischen  Opium- 
oder Morphiumcur  zu  versuchen.  Die  Verdauung  bedarf  fast  immer 
der  Eegelung  durch  Ausspülungen  oder  leichte  Laxantien.  Alle 
gemüthlichen  Aufregungen,  lange  Gespräche,  namentlich  aber  Be- 
suche der  Angehörigen  sind  in  den  ersten  Monaten  der  Erkrankung 
durchaus  fernzuhalten,  da  sie  regelmässig  aufregend  und  schädlich 
wirken.  In  der  Eeconvalescenz  ist  die  Beschaffung  einer  leichten, 
nicht  angreifenden,  aber  anziehenden  Beschäftigung  von  besonderer 
"Wichtigkeit.  Ernstlich  gewarnt  werden  muss  vor  zu  frühzeitiger 
Entlassung  der  Kranken,  die  oft  durch  das  stürmische,  fast  unerträg- 
liche Drängen  derselben  nahe  gelegt  wird.  Erst  dann,  wenn  dieses 
durchaus  krankhafte  Symptom,  welches  oft  die  Geduld  des  Arztes 
auf  eine  harte  Probe  stellt,  wieder  zurückgetreten  ist,  kann  der 
Versuch  der  Eückkehr  in  die  häuslichen  Verhältnisse  gemacht  werden; 
auch  dann  jedoch  bedarf  der  Eeconvalescent  noch  auf  längere  Zeit 
hinaus  der  Euhe  und  Schonung. 


YI.  Die  periodischen  G-eistesstörnngen.*) 


Als  periodische  Geistesstörungen  bezeichnen  wir  diejenigen 
Psychosen,  welche  sich  ohne  äusseren  Anlass  mehrfach  im 
Leben  wiederholen.  Dieselben  sind  daher  einmal  abzutrennen 
von  den  einfachen  Eückf allen,  welche  bei  Eeconvalescenten  eine 
mehr  oder  weniger  weitgehende  Erneuerung  der  soeben  rerschwinden- 
den  Krankheitserscheinungen  herbeiführen,  andererseits  aber  auch  Yon 
denjenigen  vielfach  recidiviren  den 'Formen  des  Irreseins,  welche  durch 
immer  wiederkehrende  Grelegenheitsursachen  häufiger  frisch  erzeugt 
werden,  wie  etwa  die  alkoholischen  Delirien.  Nicht  selten  sieht 
man  die  periodischen  Geistesstörungen  in  ziemlich  regelmässigen 
Zeiträumen  sich  wieder  einstellen,  ja  es  giebt  Formen,  deren  ein- 
zelne Anfälle  man  mit  der  grössten  Sicherheit  jeweüs  vorherzusagen 
vermag.  Hier  ist  offenbar  die  Krankheit  lediglich  durch  periodische 
Umwälzungen  im  Innern  des  Organismus  bedingt,  die  sich  mit  der 
gleichen  Pünktlichkeit  vollziehen,  wie  der  Eintritt  des  Schlafes,  der 
Menstruation,  des  epileptischen  AnfaUs. 

Die  einzelnen  Ausbrüche  der  Psychose  sind  hier  nicht  selbst- 
ständige Erkrankungen,  sondern  nur  die  äusseren  Zeichen  eines 
dauernden  Krankheitszustandes,  der  aus  sich  selbst  heraus  aUmählich 
den  Anfall  vorbereitet.  Auch  in  den  anscheiuend  normalen  Zwischen- 
zeiten sind  die  Kranken  keineswegs  wirklich  gesund,  was  sich  häufig 
genug  geradezu  in  dem  Fortbestehen  einzelner  krankhafter  Eigen- 
thümüchkeiten  kundgiebt.  Auf  der  anderen  Seite  aber  kommt  es 
auch  häufig  vor,  dass  die  Zwischenzeiten  zwischen  den  einzelnen 
Ausbrüchen  der  Störung  vollständig  unregelmässige  sind.  Der 
Grund  dafür  Hegt  bisweilen  darin,  dass  die  geringere  Widerstands- 


*)  Kirn,  Die  periodischen  Psychosen.  1878. 


Deliriöse  Fomen. 


349 


fähigkeit  dos  Organismus  in  gewissen  Lebensaltern  gerade  dann  die 
Entwickelung  einer  Gleichgewichtsscliwankung  ermöglicht,  welche  zu 
andern  Zeiten  nicht  zu  Stande  kommen  kann.  "Wir  sehen  dann,  dass 
etwa  zwischen  dem  15.  und  25.,  sowie  später  zwischen  dem  45.  und 
55.  Jahre  die  Anfälle  sich  häufen,  während  sie  in  der  Zwischenzeit 
seltener  sind.  Oder  aber  es  spielen  doch  gewisse  äussere  Schädlich- 
keiten, die  nur  hie  und  da  gerade  einwirken  (Wochenbett),  im  ein- 
zelnen Falle  wenigstens  eine  auslösende  Eolle. 

Die  letzterwähnte  Möglichkeit  zeigt  uns  den  Uebergang  der 
periodischen  zu  den  einfachen  Psychosen.  Je  grösser  die  Bedeutung 
wii-d,  welche  der  äusseren  Ursache  für  den  Ausbruch  der  Störung 
zidsommt,  desto  mehr  nähern  wir  uns  diesen  letzteren  und  umgekehrt. 
Es  erscheint  fraglich,  an  welchem  Punkte  wir  hier  die  Grenze  setzen 
sollen.  Streng  genommen,  sollten  nur  die  FäUe  mit  ganz  regel- 
mässigen Intervallen  zu  den  periodischen  Formen  gerechnet  werden. 
Allein  die  Erfahrimg  lehrt,  dass  zwischen  ihnen  und  den  weniger 
typisch  wiederkehrenden  Psychosen  eine  durchgängige  und  sehr 
nahe  klinische  Verwandtschaft  besteht.  Ja,  ich  habe  schon  früher 
ausgeführt,  dass  die  meisten  wesentüch  auf  affectiver  Grundlage  ver- 
laufenden Geistesstörungen,  die  Manie,  die  Melancholie  und  gewisse 
Formen  des  Wahnsinns,  eine  entschiedene  Neigung  zu  mehrfacher 
Wiederholung  deutlich  erkennen  lassen.  Gerade  diese  Krankheits- 
büder  sind  es  denn  auch,  aus  denen  sich  die  einzelnen  Anfälle  des 
periodischen  Irreseins  bei  Weitem  am  häufigsten  zusammenzusetzen 
pflegen.  Ausserdem  kommen  hie  vuid  da  noch  Syniptomencomplexe 
zur  Beobachtung,  vne  sie  sonst  dem  an  anderer  Stelle  zu  besprechen- 
den epileptischen  Irresein  mit  seiner  ausgeprägten  Periodicität 
eigenthümlich  sind.  Soweit  es  heute  möglich  ist,  die  grosse  Mannich- 
faltigkeit  der  einzelnen  Krankheitsfälle  in  bestimmte  Gruppen  ein- 
zuordnen, werde  ich  demnach  im  Folgenden  deliriöse,  manische, 
circuläre  und  depressive  Formen  des  periodischen  Irreseins 
auseinanderhalten. 


A.  Deliriöse  Formen. 

Bei  den  deliiiösen  Formen  handelt  es  sich  um  periodische, 
rasch  verlaufende  Anfälle  tiefer  Bewusstseinstrübung  mit 
Sinnestäuschungen,  phantastischen  Wahnideen  und  meist 


350  ^I-  Die  periodischen  Geistesstörungen. 

auch  Erregungszuständen.  Der  Anfall  beginnt  gewöhnlich  ganz 
plötzlich;  nur  Schlaflosigkeit,  Unruhe  oder  ängstliche  Yerstimmung 
kann  sich  schon  1 — 2  Tage  vorher  bemerkbar  machen.  Die  Kranken 
werden  rasch  verwirrt,  verkennen  ihre  Umgebung  und  verlieren  voll- 
ständig die  zeitliche  und  örtliche  Orientirung.  Sofort  treten  massen- 
hafte Sinnestäuschungen  auf.  Es  brennt;  Yögel  fliegen  in  der  Luft 
herum;  Geister  werfen  ihnen  Schlangen  ins  Gesicht;  an  den  Wänden 
huschen  Schatten.  Sie  hören  Glockenläuten,  Schiessen,  Wasser- 
rauschen; die  Stimme  Gottes  kündigt  ihnen  das  jüngste  Gericht,  die 
Erlösung  von  allen  Sünden  an.  Der  Kaffee  riecht  nach  Todten,  die 
Hände  wie  verwest;  das  Essen  schmeckt  wie  Ziegen-  oder  Menschen- 
fleisch, das  Wasser  nach  Schwefel.  Der  Kopf  ist  ganz  taumelig,  voll 
Fieberhitze;  die  Kranken  glauben  gehoben,  in  Abgründe  geworfen 
zu  werden;  Alles  stürzt  um  sie  her  zusammen.  Zugleich  entwickeln 
sich  zerfahrene,  traumhafte  Wahnideen.  Ein  schreckliches  Unglück 
bricht  herein;  der  Kranke  soll  vergiftet,  geköpft  werden,  ist  ganz 
allein  auf  der  Welt.  Alles  ist  vernichtet,  die  Angehörigen  sind 
sämmüich  gestorben.  Er  hat  das  grosse  Loos  gewonnen,  ist  zum 
Kaiser  ausgerufen,  der  verheissene  Held,  der  die  Welt  erlösen  soll. 
Das  1000jährige  Eeich  ist  angebrochen;  die  grosse  Schlacht  mit  dem 
Antichristen  wird  geschlagen. 

Die  Stimmung  ist  während  dieses  Deliriums  sehr  wechselnd, 
bald  ängstlich  verzweifelt,  bald  ausgelassen  heiter  oder  verzückt, 
bald  theilnabmlos  und  gleichgültig.  Im  Anfange  sind  die  Kranken 
meist  sehr  erregt,  schwatzen,  schreien,  tanzen  herum,  entkleiden  sich, 
zerstören,  lassen  unter  sich  gehen,  schmieren  und  werden  oft  ohne 
äusseren  Anlass  in  rücksichtsloser  Weise  gewaltthätig  gegen  ihre 
Umgebung  oder  gegen  sich  selbst.  Sie  sind  gar  nicht  zu  fixiren, 
geben  keinerlei  Auskunft;  in  ihren  völlig  sinnlosen  Eeden  zeigt  sich 
hochgradige  Ideenflucht.  Zeitweise  werden  sie  plötzHch  ruhig,  sind 
aber  dabei  nicht  klar,  sondern  benommen,  unbesinnlich,  verworren, 
bis  ebenso  rasch  die  Erregung  wieder  beginnt.  Während  der  ersten 
Zeit  pflegt  fast  völlige  Schlaflosigkeit  zu  bestehen.  Die  Nahnmg 
vdrd  häufig  verweigert;  die  Ernährung  sinkt  sehr  schnell.  Der  Kopf 
erscheint  nicht  selten  stark  geröthet;  die  Keflexe  sind  lebhaft;  bis- 
weilen beobachtet  man  deutiiches  Zittern  am  ganzen  Körper  ohne 
alkoholische  Grundlage. 

Das  acute  Stadium  des  Anfalls  ist  gewöhnlich  nui'  von  kurzer 


Deliriöse  Formen. 


351 


Daner.  Nach  einigen  Tagen,  spätestens  nach  3  — 4  "Wochen,  pflegt  ziem- 
lich  rasch  Bernhigung  einzuü-eten.  In  einzelnen  Fällen  verlieren  sich 
sämmtüche  Krankheitserscheinungen  von  einem  Tage  zum  andern; 
meist  jedoch  vollzieht  sich  dieser  Nachlass  mehr  allmähhch.  Einzelne 
Täuschungen,  Eeste  der  Wahnideen ,  und  namenthch  der  Stimmungs- 
anomalien bleiben  noch  kurze  Zeit  zurück,  nachdem  die  Aufregung 
und  Verwirrtheit  bereits  geschwunden  sind.  Die  Kranken  sind  zu- 
nächst noch  misstrauisch,  einsichtslos,  unzufrieden,  reizbar,  auch  wol 
leicht  ideenflüchtig,  namenthch  in  Schriftstücken,  redselig  oder  un- 
zugänglich, drängen  fort,  bis  dann  im  Laufe  einiger  Wochen  nach 
und  nach  auch  die  letzten  Krankheitszeichen  zurücktreten.  Die  Er- 
innerung an  die  deliriöse  Zeit  ist  meist  eine  ziemHoh  unklare;  bis- 
weilen besteht  sogar  fast  völlige  Amnesie. 

Der  erste  Anfall  des  periodischen  Deliriums  pflegt  sich  entweder 
lun  das  20.  Lebensjahr  herum  oder  erst  im  Laufe  des  5.  Decenniums 
einzustellen.  Die  Zwischenzeiten  betragen  gewöhnlich  etwa  2  Jahre, 
bisweilen  auch  weit  mehr;  wie  es  scheint,  können  sich  dieselben  bei 
häufiger  Wiederkehr  allmählich  verkürzen.  Die  einzelnen  Anfälle 
gleichen  einander  meist  sehr,  doch  kann  es  vorkommen,  dass  einmal 
die  ängstliche,  ein  anderes  Mal  die  heitere  Verstimmung  mehr  über- 
wiegt. Die  Dauer  der  Erkrankungen  wechselt  in  so  fern  etwas,  als 
hie  und  da  unentwickelte  Anfälle  vorkommen,  in  denen  die  nur 
angedeuteten  Krankheitserscheinungen  sich  sehr  rasch  wieder  ver- 
lieren; andererseits  kann  sich  auch  gelegentlich  die  Reconvalescenz 
durch  das  Auftreten  von  Recidiven  besonders  in  die  Länge  ziehen. 
In  den  Zwischenzeiten  zwischen  den  Anfällen  ist,  namentlich  bei 
rascherer  Wiederkehr  dieser  letzteren,  ein  gewisser  Grad  von  geistiger 
Schwäche,  Einsichtslosigkeit,  Beschränktheit,  Stumpfheit  und  Willen- 
losigkeit  nicht  zu  verkennen.  Vielfach  ist  dieselbe  schon  von  vorn 
herein  vorhanden,  doch  scheint  sie  bei  längerem  Bestände  des  Leidens 
entschieden  zuzunehmen. 

Die  Ursachen  der  Erkrankung  liegen  ohne  Zweifel  wesentlich 
in  krankhafter  Veranlagung.  Regelmässig  findet  sich  hereditäre  Be- 
lastung, die  sich  gewöhnlich  auch  in  angeborenem  Schwachsinn  oder 
in  auffallenden  Eigen thümlichkeiten  der  geistigen  oder  körperlichen 
Entwickelung  klinisch  zu  erkennen  giebt.  Die  einzelnen  Anfälle 
entstehen  meist  ohne  jeden  äusseren  Anlass;  hie  und  da  jedoch 
scheinen  sie  auch  durch  heftige  gemüthliche  Erregungen,  Schreck, 


352 


VI.  Die  periodischen  Geistesstörungen. 


Aerger  und  dergl.  ausgelöst  zu  werden.  Die  Prognose  des  ein- 
zelnen Anfalles  ist  günstig. 

Die  Diagnose  des  periodischen  Deliriums  wird  sich  in  der 
Eegel  leicht  stellen  lassen,  wenn  bereits  einer  oder  mehrere  Anfälle 
vorangegangen  sind.  Unter  solchen  Umständen  kann  nur  die  Ab- 
grenzung von  einer  epileptischen  Geistesstörung  in  Frage  kommen. 
Abgesehen  von  dem  vollständigen  Fehlen  aller  sonstigen  epilep- 
tischen Krankheitszeichen  ist  namentlich  auf  die  Ideenflucht  und 
den  elementaren  Bewegungsdrang  hinzuweisen,  welche  dem  hier  be- 
sprochenen Delirium  gegenüber  jenen  Psychosen  eigenthümlich 
sind.  Der  einmalige  Anfall  kann  in  hohem  Masse  einem  Collaps- 
delirium  gleichen,  doch  dürfte  der  gute  Ernährungszustand  und  das 
Fehlen  einer  genügenden  äusseren  Ursache  schon  hier  meistens  den 
Verdacht  einer  periodischen  Geistesstörung  begründen.  Gegenüber 
der  Amentia  ist  ausserdem  auf  den  durchschnittlich  weit  rascheren 
Yerlauf  der  Störung  hinzuweisen. 

Die  Behandlung  des  Leidens  ist  eine  wesentlich  symptoma- 
tische; sie  hat  alle  die  Aufgaben  zu  erfüllen,  welche  überhaupt  bei 
stürmisch  verlaufenden  Geistesstörungen  erwachsen,  genaue  Ueber- 
wachung  der  Kranken,  Sorge  für  ausreichende  Ernährung  und  Schlaf, 
Versuche,  möglichst  rasch  durch  diätetische  oder  medicamentöse 
Einwirkungen  Beruhigung  herbeizuführen.  AUes  Einzelne  ist  bei 
Gelegenheit  des  CoUapsdeliriums  eingehend  besprochen  worden.  Ein 
Mittel,  die  Wiederkehr  der  Anfälle  zu  verhindern,  kennen  wir  bis- 
her noch  nicht;  möglicherweise  könnte  das  Bromkalium  in  grossen 
Dosen  hier  nützen,  wenn  es  gelänge,  schon  bei  den  ersten  leisen 
Anzeichen  des  herannahenden  Anfalles  einzugreifen. 

B.  Manische  Formen. 

In  einer  zweiten  Gruppe  fassen  wir  alle  diejenigen  Beobacht- 
ungen zusammen,  welche  in  sämmtlichen  Anfällen  den  ma- 
nischen Symptomencomplex,  Ideenflucht,  Stimmungs- 
wechsel und  Bewegungsdrang,  darbieten.  Je  nach  den  beson- 
deren klinischen  Eigenthümlichkeiten  lassen  sich  hier  wieder  eine 
Reihe  von  Untergruppen  auseinanderhalten.  Am  wichtigsten  scheint 
mir  dabei  die  Abtrennung  der  Fälle  mit  kurzen  von  denen  mit 
langen  Zwischenzeiten  zwischen  den  einzelnen  Aufregungszu- 
ständen  zu  sein, 


Manische  Formen.  353 

Bei  der  ersten  dieser  Formen  dauern  die  Anfälle  nicht 
länger,  als  höchstens  3 — 4  Wochen,  bisweilen  nur  wenige 
Tage;  ebenso  pflegen  die  Intervalle  die  Dauer  einiger  Wochen 
nicht  erheblich  zu  übersteigen.  Das  eigentliche  Krankheitsbild  ist 
fast  immer  das  einer  echten,  ganz  acut  sich  entwickelnden  und 
rasch  verlaufenden  Manie.  Nachdem  höchstens  leichte  Andeutungen 
des  beginnenden  Anfalles,  unmotivirtes  Lächeln,  Blitzen  der  Augen, 
Herumwandern,  voraufgegangen  sind,  werden  die  Ki-anken  von 
einem  Tage  zum  andern,  oft  mitten  in  der  Nacht,  unruhig,  aufgeregt, 
verwirrt,  stark  ideenflüchtig,  sind  in  gehobener  Stimmung,  reizbar 
imd  zeigen  einen  lebhaften  motorischen  Drang.  Sie  tanzen  und 
singen,  fangen  an,  zu  zerreissen  und  zu  schmieren,  ihre  Umgebung 
zu  necken,  sind  oft  sexuell  stark  erregt,  essen  in  ihrer  Unruhe 
wenig  und  schlafen  fast  gar  nicht.  Das  Körpergewicht  nimmt 
dabei  regelmässig  rasch  ab,  bisweilen  um  5—8  Pfund  in  24  Stunden 
(Fürstner). 

Der  Eintritt  der  Beruhigung  vollzieht  sich  in  der  Eegel  ebenso 
schnell,  wie  derjenige  der  Erregung,  wenn  man  auch  meist  schon 
gegen  das  Ende  des  Anfalles  eine  leichte  Abnahme  der  Ideenflucht 
und  der  Unruhe  bemerken  kann.  Mehrfach  schien  mir  die  anfäng- 
lich heitere  und  übermüthige  Stimmung  späterhin  mehr  reizbar  und 
unwirrsch  zu  werden.  Der  Kranke  ist  nun  mit  einem  Male  geordnet 
imd  oft  sogar  auffallend  still,  aber  er  gewinnt  in  der  Eegel  keine 
vollständige,  klare  Einsicht  in  die  krankhafte  Natur  seines  Zustandes, 
wenn  er  sich  auch  vieler  Einzelheiten  desselben  noch  gut.  erinnert. 
Vielmehr  sucht  er  die  überstandene  Aufregung  als  etwas  ganz  Harm- 
loses, oder  als  durch  die  Umgebung,  die  Zurückhaltung  in  der 
Anstalt  und  dergl.  motivirt  hinzustellen.  Eine  gewisse  körperliche 
Erholung  pflegt  sich  dann  rasch  zu  vollziehen,  doch  bleibt  das 
Körpergewicht  auch  während  des  nun  folgenden  Intervalles  häufig 
niedriger,  als  in  früheren,  gesunden  Zeiten. 

Als  die  wichtigsten  Ursachen  der  hier  geschilderten  Er- 
krankung sind  ausser  der  psychopathischen  Prädisposition  namentlich 
Kopfverletzungen  anzuführen.  Beim  weiblichen  Geschlechte,  welches 
in  auffallender  Weise  überwiegt,  pflegt  sich  die  Erregung  häufig  an  die 
Menstrualperioden  zu  knüpfen,  in  der  Weise,  dass  mit  dem  Eintritte 
der  Menses  oder  kurz  vorher  auch  der  Tobsuchtsanfall  beginnt,  um 
dann  etwa  1—2  Wochen  anzudauern,  bis  er  einer  gewöhnlich  etwas 

Kraepelin,  Psychiatrie.  4.  Aufl.  23 


354  VI.  Die  periodischen  Geistesstörungen. 

♦ 

längeren  freien  Zwischenzeit  weicht  (menstruelles  Irresein).  Im 
Ganzen  scheint  die  Krankheit  vorzugsweise  jugendlichere  Personen 
bis  etwa  zum  30.  Lebensjahre  zu  befallen;  sie  kann  indessen  dann 
in  immer  wiederholtem  Wechsel  zwischen  Anfall  und  Intervall  Jalire 
und  selbst  Jahrzehnte  andauern.  Zuweilen  kann  sich,  wie  es  scheint, 
auch  einmal  ein  etwas  länger  dauernder  Anfall  mit  ganz  leichter 
manischer  Erregung  in  die  Eeihe  der  rasch  verlaufenden  Tobsuchts- 
paroxysmen  einschieben.  Bei  sehr  langer  Dauer  der  Krankheit  bleibt 
der  regelmässige  Typus  derselben  meist  nicht  unverändert;  vielmehr 
haben  die  Anfälle  die  Neigung,  sich  im  Laufe  der  Zeit  immer  mehr 
auszudehnen,  und  es  kommt  auf  diese  Weise  allmählich  nicht  selten 
zu  einem  Zustande  dauernder  ideenflüchtiger  Yerwirrtheit  und  Auf- 
regung, der  nur  hie  und  da  in  unregelmässigen,  selteneren  Zwischen- 
räumen durch  plötzlich  eintretende  und  ebenso  plötzlich  wieder  ab- 
schneidende ruhigere  Zeiten  unterbrochen  wird. 

Das  gesammte  psychische  Leben  der  Kranken  pflegt  bei  diesem 
Verlaufe  sehr  empfindlich  zu  leiden.  Die  Intelligenz  und  das  Ge- 
dächtniss  nimmt  stark  ab,  wenn  die  Kranken  auch  bisweilen  in  den 
Intervallen  noch  durch  einzelne  Eeminiscenzen  aus  gesunden  Tagen 
überraschen.  Das  Urtheil  über  die  Umgebung  und  namentlich 
über  den  eigenen  Zustand  ist  stets  äusserst  unklar;  die  Kranken 
halten  sich  schon  am  ersten  Tage  der  eingetretenen  Beruhigung  für 
völlig  gesund  und  drängen  auf  Entlassung.  Ebenso  hat  die  gemüth- 
liche  Sphäre  ausnahmslos  sehr  gelitten.  Ist  auch  oft  die  äussere 
Form  ihrer  Gefühlsbeziehungen,  annähernd  wenigstens,  die  frühere 
geblieben,  so  vermag  sie  doch  den  tieferblickenden  Beobachter  nicht 
über  die  innere  Leere  und  Theilnahmlosigkeit  dieser  schwachsinnig 
gewordenen  Kranken  hinwegzutäuschen. 

Die  Prognose  dieser  Form  der  periodischen  Manie  ist  keine 
durchaus  ungünstige;  eine  Anzahl  von  Fällen  gelangt  spontan  oder 
unter  dem  Einflüsse  der  Behandlung  zur  Heilung.  Freilich  ^^ard 
eine  vollständige  Wiederherstellung  der  Gesundheit  immer  nur  nach 
kürzerer  Dauer  der  Krankheit  wahrscheinlich  sein;  wo  die  Psychose 
schon  erheblich  länger,  als  etwa,  ein  Jahr  bestanden  hat,  muss  die 
Aussicht  auf  Genesung  als  eine  recht  zweifelhafte  bezeichnet  werden. 
Auch  im  günstigsten  Falle  wird  es  sich  dann  wol  immer  um  eine 
Heilung  mit  Defect,  um  das  Zurückbleiben  eines  gewissen  Grades 
von  Schwachsinn  handebi.    Die  Diagnose  der  Erkrankung  bietet 


Manische  Formen. 


355 


nicht  die  geringsten  Schwierigkeiten.  Höchstens  wäre  es  im  Beginne 
möglich,  dieselbe  mit  gewissen  epileptischen  Geistesstörungen  zu 
venvechseln,  doch  wird  das  specifisch  manische  Krankheitsbild,  vor 
Allem  aber  zweifellos  die  weitere  Beobachtung,  die  rasche  Wieder- 
kehr der  Tobsuchtsanfälle,  eine  richtige  Auffassung  der  Psychose 
immer  sichern. 

Die  Behandlung  hat  einerseits  die  Aufgabe,  den  Kranken 
während  der  Anfälle  zu  überwachen,  sowie  für  Schlaf  und  genügende 
Ernährung  zu  sorgen,  andererseits  aber  womöglich  den  Ausbruch 
des  Paroxysmus  überhaupt  zu  verhindern.  Die  zu  diesem  Zwecke 
empfohlene  Bettlagerung  des  Kranken  vermag  wol,  wo  sie  durch- 
führbar ist,  die  Erscheinungen  des  Anfalls  etwas  zu  mildern,  nicht 
aber  denselben  wirklich  zu  coupiren.  Dagegen  kann  ich  aus  eigener 
Erfahrung  die  von  Kehn  eingeführte  systematische  Darreichung 
des  Bromkalium  in  sehr  grossen  Dosen  dringend  empfehlen. 
Man  giebt  12 — 15  gr.  pro  die,  womöglich  schon  einige  Tage  vor 
dem  erwarteten  Ausbruche  des  Paroxysmus  begümend.  Es  gelingt 
auf  diese  Weise  bisweilen  mit  ganz  überraschender  Zuverlässigkeit, 
das  Auftreten  der  Erregung  zu  verhindern.  Nachdem  die  besonders 
gefährlichen  Tage  vorübergegangen  sind,  geht  man  ganz  allmählich 
mit  der  Dosirung  des  Mittels  herunter,  um  bei  der  Annäherung  an 
den  nächsten  zu  erwartenden  Anfall  von  Neuem  zu  der  angeführten 
grossen  Gabe  anzusteigen  u.  s.  f.  In  einzelnen,  namentlich  den  sehr 
lange  dauernden  Eällen  mit  verwischtem  Typus  bleibt  diese  Medi- 
cation  ohne  Erfolg;  in  anderen  bricht  wenigstens  nach  dem  Herunter- 
gehen mit  der  Dosis  die  Aufregung  hervor,  um  allerdings  auch  dann 
durch  hohe  Dosen  wieder  sofort  coupirt  zu  werden.  Hier  ist  wegen 
der  Gefahr  des  Bromismus  Yorsicht  geboten,  doch  habe  ich  selbst  in 
einem  ganz  desolaten  Falle  durch  die  immer  wieder  aufgenommene 
Brombehandlung  nach  und  nach  die  Häufigkeit  und  Dauer  der 
freien  Intervalle  noch  bedeutend  zunehmen  sehen.  Endüch  aber 
giebt  es  frische  EäHe,  bei  denen  man  durch  die  systematische  Be- 
kämpfung der  Paroxysmen  einen  dauernden,  unzweifelhaften  Heil- 
erfolg erzielt;  selbst  die  Erscheinungen  einer  mässigen  Brom  Ver- 
giftung sollten  hier  von  der  Verfolgung  des  Curplans  nicht  abschrecken, 
da  trotz  derselben  die  psychische  Genesung  sich  herauszustellen 
pflegt.  Jedenfalls  hüte  man  sich,  die  Medication  plötzlich  abzu- 
brechen. 

23* 


356 


VI.  Dio  periodischen  Geistesstörungen. 


Die  zweite  Untergruppe  der  periodisch-manischen  Psychosen  ist 
durch  die  beträchtlich  längere  Dauer  der  freien  Zwischen- 
zeiten gekennzeichnet,  welche  hier  im  Anfange  zum  mindesten  ein 
Jahr,  vielfach  sogar  eine  ganze  Anzahl  von  Jahren  zu  be- 
tragen pflegen.    Die  Minische  Färbung  des  Aufregungszustandes 
trägt  in  einer  ersten  Keihe  von  Fällen  vollständig  die  Züge  der 
einfachen  Manie,  mit  dem  einzigen  Unterschiede  vielleicht,  dass 
die  Psychose  in  rascherem  Tempo  sich  zu  ihrer  Höhe  entwickelt. 
Nach  einem  mehr  oder  weniger  ausgesprochenen,  bisweilen  immer- 
hin einige  "Wochen  dauernden  depressiven  Yorstadium  schlägt  der 
Zustand  des  Kranken  plötzlich  um.   Er  wird  verwirrt,  ideenflüchtig, 
schlaflos;  die  Stimmung  wd  ausgelassen,  heiter,  bisweilen  auch 
überaus  reizbar,  zu  heftigen  Zornausbrüchen  geneigt,  und  es  stellt 
sich  lebhafter  Bewegungsdrang  ein,  Schwatzen,  Singen,  Pfeifen,  Tanzen, 
Zerreissen,  Schmieren,  sinnloses  Schimpfen  und  Gewaltthätigkeiten. 
Dieser  Zustand  höchster  Erregung  dauert  bisweüen  nur  sehr  kurze 
Zeit  an.    Schon  nach  wenigen  Tagen  kann  ziemlich  plötzhche  Be- 
ruhigung eintreten.  Meist  bleiben  allerdings  dann  noch  für  eine  oder 
mehrere  Wochen  leichte  Unruhe,  gehobene,  reizbare  Stimmung  und 
eine  eigenthümliche  Einsichtslosigkeit,  Klagen  über  miserable  Behand- 
lung, Unzufriedenheit,  Drängen  nach  sofortiger  Entlassung  zurück. 
In  diesem  Zustande  können  sehr  geringfügige  Anlässe  zu  schweren 
Eückf allen  führen,  bis  dann  unter  rasch  fortschreitender  körperlicher 
Erholung  aUmähhch  völlige  Beruhigung  imd  damit  auch  die  Ki-ank- 
heitseinsicht  zu  Stande  kommt.    In  der  Mehrzahl  der  Fälle  indessen 
pflegt  der  Anfall  erheblich  länger  zu  dauern.    Unter  vielfachen 
Schwankungen  zum  Besseren  und  zum  Schlechteren  ersü-eckt  sich 
die  Erregung  über  3 — 6  Monate,  nicht  selten  auch  noch  länger,  um 
dann  ganz  allmählich  abzunehmen. 

Eine  zweite  Eeihe  von  Beobachtungen  ist  dadui'ch  ausgezeichnet, 
dass  sich  statt  einer  eigentlichen  Tobsucht  regelmässig  nur  ein  ganz 
leichter  Erregungszustand  mit  völliger  Erhaltung  der  Be- 
sonnenheit entwickelt.  Der  im  gewöhnlichen  Leben  oft  sehr  wort- 
karge, zurückgezogen  lebende,  selbst  menschenscheue  Kranke  beginnt 
mit  einem  Male  „aufzuthauen".  Er  wrd  gesprächig,  entwickelt  eine 
auffallende,  überstürzte  Geschäftigkeit,  vernachlässigt  aber  dabei  seine 
eigenthche  Berufsarbeit;  er  fängt  an,  sich  auffallend  zu  kleiden, 
Gesellschaft,  bisweilen  recht  unpassende,  aufzusuchen,  kleinere  und 


Manischü  Formen. 


357 


grössere  Excesse  zn  begehen,  ungewöhnlich  viel  Geld  zu  verthun,  sich 
auf  Reisen  zu  begeben.  Ein  derartiger  Kranker  erbot  sich  plötzhch 
der  Pohzei,  einen  lange  gesuchten  pohtischen  Yerbrecher  sofort  zur 
Stelle  zu  schaffen,  verheb  dabei  dem  Beamten  in  scherzhafter  Weise 
eine  Phantasieuniform,  lud  durch  die  Zeitung  „die  ganze  Haute  volee" 
zum  Ballfest  in  einem  Aussichtspavillon  ein.  Die  Bemühungen 
seiner  Angehörigen,  ihn  zu  beruhigen,  erweisen  sich  nicht  nur  als 
erfolglos,  sondern  sie  reizen  den  Kranken  geradezu  und  führen  leicht 
zu  heftigen  Zornausbrüchen  und  selbst  Gewaltthaten.  Er  fühlt  sich 
in  seiner  Unternehmimgslust  von  seiner  Umgebung  nicht  verstanden 
imd  wird  misstrauisch ,  tyrannisch  und  gereizt  gegen  dieselbe;  er 
wird  es  um  so  mehr,  wenn  er  auf  deren  Veranlassung  in  eine  An- 
stalt gebracht  wird,  nachdem  er  sich  überall  compromittirt,  sowie  in 
unangenehme  Skandal-  und  Processgeschichten  hineinverwickelt  hat. 

Die  Empfänglichkeit  des  Kranken  ist  in  der  Eegel  gesteigert; 
er  fasst  äussere  Eindrücke  rasch  und  vollständig  auf,  ja  er  zeigt 
sogar  bisweilen  eine  geschärfte  Beobachtungsgabe,  welche  ihn  die 
Eigenthümlichkeiten  und  namentHch  die  Unvollkommenheiten  nnd 
Schwächen  seiner  Umgebung  mit  einer  gewissen  sarkastischen  oder 
humoristischen  Gewandtheit  herausfinden  lässt.  Die  Besonnenheit 
ist  vollständig  erhalten,  die  Erinnerung  durchaus  lückenlos,  aber 
in  hohem  Grade  durch  die  Stimmung  und  den  besonderen  Stand- 
punkt des  Kranken  beeinflusst,  so  dass  sie  nur  ein  stark  subjectiv 
gefärbtes  Bild  der  jüngsten  Ereignisse  zu  hefern  pflegt.  Der  Ge- 
dankengang ist  im  Allgemeinen  geordnet  und  zusammenhängend, 
doch  lassen  sich,  namentlich  bei  längeren  Auseinandersetzungen,  die 
Andeutungen  einer  leichten  Ideenflucht  niemals  verkennen.  Eine 
Krankheitseinsicht  besteht  durchaus  gar  nicht;  vielmehr  hält  sich 
der  Kranke  für  vollkommen  gesund,  ja  für  gesünder,  als  jemals. 
Alle  seine  extravaganten  Handlungen  versteht  er  als  völlig  harmlose 
oder  sogar  fein  durchdachte  und  wol  motivirte'  darzustellen;  um 
einen  Entschuldigungs-  oder  Erklärungsgrund  ist  er  niemals  in  der 
geringsten  Yerlegenheit.  Die  Beschränkimg  seiner  persönlichen 
Freiheit  betrachtet  er  als  einen  schlechten  Witz  oder  als  eine  un- 
verzeihliche Ki-änkimg,  die  er  auf  Intriguen  seiner  Angehörigen  oder 
sonst  ihm  feindlich  gesinnter  Individuen  zurückführt,  und  zu  deren 
Beseitigung  und  Sühne  er  gesetzliche  MassregeLn  zu  ergreifen  droht. 

Die  Stimmung  des  Kranken  ist  bald  mehr  gutmüthig,,  humo- 


358 


VI.  Die  periodischen  Geistesstörungen. 


ristisch,  bald  gereizt,  zu  Zornausbrüchen  geneigt,  wo  er  sich  in 
seiner  freien  Bewegung  behindert  fühlt.  Dem  Arzte  begegnet  er 
mit  lustiger  Selbstii'onie  oder  auch  grob  und  patzig,  da  er  keinen 
Arzt  braucht  imd  sich  selber  curiren  kann.  Das  Selbstgefühl  ist 
ein  sehr  gehobenes;  er  spricht  von  seiner  Persönlichkeit,  seinen 
Leistungen  und  Yerdiensten  mit  einer  gewissen  Emphase,  blickt  auf 
seine  Umgebung  mit  vornehmer  Geringschätzung  herab  und  lässt  sich 
auch  wol  zu  allerlei  handgreiflichen,  phantasievollen  Renommistereien 
hinreissen,  von  denen  es  oft  nicht  ganz  klar  ist,  wie  weit  er  ihnen 
im  Augenblicke  selber  Glauben  schenkt. 

Im  Handeln  des  Kranken  pflegt  sich  die  innere  Unruhe  am 
deuthchsten  kund  zu  geben.  Trotz  äusserlicher  Besonnenheit  begeht 
er  eine  Menge  von  planlosen  Thorheiten  und  Kindereien.  Er  nimmt 
auffallende  Veränderungen  an  seiner  Kleidung  vor,  reisst  die  Knöpfe 
ab,  die  Taschen  heraus,  kehrt  den  Rock  um,  steckt  die  Hosen  in 
die  Strümpfe,  knüpft  die  Hemdzipfel  zusammen,  verfertigt  sich  Ringe 
aus  Garnresten;  er  sucht  im  Garten,  wie  im  Zimmer,  aus  allen 
Ecken,  wie  aus  dem  Bereiche  seiner  Mitpatienten  eine  Unmenge  von 
Gegenständen  zusammen,  die  in  seiner  Tasche  ein  buntes  Sammel- 
surium bilden,  Brotreste,  Cigarrenstümpfe,  Steine,  trockene  Blätter, 
Fäden,  Papierfetzen,  Glasscherben,  Nägel,  Eisenstückchen  und  dergl. 
mehr.  Für  alle  diese  Dinge  hat  er  Verwendung.  Der  Tabak  und 
die  Blätter  werden  in  Papier  gewickelt  geraucht;  das  Papier  wird 
zum  Schreiben,  die  Nägel  zum  Pfeifenstopfen,  die  Scherben  zum 
Bleistiftspitzen  benutzt;  das  Uebrige  dient  als  Tauschmittel,  um  von 
den  Mitpatienten  kleine  Vortheile  zu  erlangen.  Bisweilen  wird  aucli 
allerlei  in  die  Nase  oder  die  Ohren  gesteckt,  das  Ohrläppchen  mit 
Streichhölzern  oder  Drahtstückchen  durchbohrt,  Cigarrenasche  und 
Staub  als  Schnupftabak  verwendet,  das  Barthaar  theilweise  mit  der 
Cigarre  versengt.  Seine  Mitpatienten  pflegt  der  Kranke  zu  tyranni- 
siren,  ihnen  fortzunehmen,  was  ihm  gefällt,  ihnen  Befehle  zu  er- 
theilen  und  häufig  genug  auch  mit  Schimpfworten  oder  Thätlich- 
keiten  entgegen  zu  treten.  In  der  Nacht  schläft  der  Kranke  sehr 
wenig,  vertreibt  sich  dabei  die  Zeit  nicht  selten  mit  lautem  Singen 
oder  künstlicher  Verarbeitung  seines  Bettmaterials,  namentlich  des 
Strohes  aus  dem  Strohsacke.  Der  Appetit  ist  in  der  Regel  vor- 
trefflich; trotzdem  pflegt  das  Körpergewicht  erheblich  zu  sinken. 

In  der  geschilderten  "Weise  kann  das  klinische  Bild  mit  ge- 


Manische  Formen. 


359 


ringen  Schwankungen  längere  Zeit  unverändert  bleiben.  Nur  selten 
kommt  es  ganz  vorübergehend  für  Avenige  Tage  zu  einer  hoch- 
gradigen Steigerung  der  Aufregung  mit  ideenflüchtiger  Verwirrtheit. 
Zumeist  erhält  sich  die  Besonnenheit  während  des  ganzen,  sich 
mindestens  über  3—6  Monate,  oft  auch  weit  länger  erstreckenden 
Ejrankheitsverlaufes. 

Es  muss  endlich  darauf  hingewiesen  werden,  dass  es  noch  eine 
Reihe  von  Beobachtungen  giebt,  in  denen  das  Bild  der  maniaka- 
lischen  Erregung  durch  das  Auftreten  ausgeprägter  Wahn- 
ideen und  Sinnestäuschungen  complicirt  wird.  Der  Anfall 
beginnt  in  der  Eegel  mit  Schlaflosigkeit,  Unruhe,  denen  sich  häufig 
noch  Kopfschmerzen,  Ohrensausen  und  ähnliche  Symptome  hinzu- 
gesellen.  Es  kommt  nun  meist  zu  einer  rasch  sich  steigernden 
manischen  Erregung,  in  welcher  die  Kranken  häufig,  aber  nicht 
immer,  die  Orientirung  über  ihre  Lage  verlieren.  Sie  sehen 
Schlangen  und  Leichen,  den  Teufel,  die  Franzosen,  arme  Seelen. 
Die  Personen  ihrer  Umgebung  sind  ganz  verändert,  werden  für 
historische  Grössen,  Ludwig  XTV.,  Caesar,  Elisabeth  gehalten.  Sie 
hören  verworrenes  Getöse,  werden  verhöhnt  und  verspottet;  es  wird 
ihnen  befohlen,  dass  sie  nicht  essen  sollen;  Gott  bestimmt  sie  zu 
etwas  Höherem.  In  der  Nacht  werden  giftige  Dünste  in's  Zimmer 
geleitet,  sexuelle  Attentate  auf  sie  ausgeführt;  sie  fühlen  elek- 
trische Schläge;  die  Speisen  schmecken  nach  Gift.  Ihre  Ge- 
danken werden  ihnen  eingegeben;  sie  sind  verhext,  verzaubert, 
werden  durch  Mittel  aufgeregt,  sind  allen  möglichen  Verfolgungen 
ausgesetzt;  man  quält  sie.  Sie  haben  übernatürliche  Kräfte,  sind 
eine  Art  Erlöser,  adelig,  Husarenofficier ;  es  ist  Krieg  draussen; 
Alles  geht  durcheinander. 

Die  Stimmung  ist  dabei  vorwiegend  heiter,  expansiv,  reizbar, 
namenthch  im  Beginne,  doch  kommt  es  gelegentlich  auch  zu 
Angstanfällen  und  namentlich  zu  leicht  stuporösen  Zuständen.  Die 
Kranken  werden  dann  still,  unzugänglich,  imwirrsch,  liegen  tagelang 
stumm  da,  vielfach  mit  geschlossenen  Augen,  werden  ganz  unver- 
muthet  einmal  brutal,  gewaltthätig,  schleudern  das  Essen  von  sich, 
verunreinigen  sich,  entkleiden  sich  plötzlich. 

Nach  einigen'  Monaten  werden  die  Kranken  rasch  klar,  sind 
aber  noch  "Wochen  oder  selbst  Monate  lang  in  reizbarer,  unver- 
träglicher Stimmung,  lärmend,  anspruchsvoll,  einsichtslos;  häufig 


360 


VI.  Die  periodischen  Geistesstönmgen. 


kommt  es  zu  kleinen  Kückf allen  in  schwerere  tobsüchtige  Erregung. 
Die  volle  Beruhigung  pflegt  erst  nach  4 — 5  monatlicher  Krankheits- 
clauer,  bisweilen  noch  später  zu  erfolgen.  Die  Erinnerung  an  die 
Zeit  der  "Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  ist  eine  ziemlich  ver- 
worrene; „es  war  wie  ein  Traum." 

Yielleicht  stehen  zu  dieser  letztgeschilderten  Form  die  merk- 
würdigen Fälle  in  einer  gewissen  Yerwandtschaft,  welche  uns  im 
Yerlaufe  einer  periodischen  Manie  das  Auftreten  küi'zer  oder  länger 
dauernder  Anfälle  von  Stupor  zeigen.  Die  Kranken,  die  im  Uebrigen 
typisch  maniakalische  Erkrankungen,  wol  auch  mit  einzelnen  Grössen- 
ideen  und  zeitweisem  Verlust  der  Besonnenheit,  darbieten,  werden 
mitten  aus  anscheinender  Gesundheit  heraus  ganz  plötzlich  stumm, 
ausgeprägt  kataleptisch ,  verweigern  die  Nahrung,  sind  aber  dabei 
vollständig  klar  und  zeigen  in  gelegentlichem  Lächeln,  einzelnen 
impulsiven  Handlungen,  abgerissenen  humoristischen  Bemerkungen 
die  expansive  Färbung  ihrer  Stimmung.  Nach  Tagen,  Wochen  oder 
selbst  Monaten  verschwindet  der  Zustand  fast  ebenso  rasch,  wie  er 
gekonunen  war.  Die  Kranken  haben  ganz  genaue  Erinnerung  an 
die  verflossene  Zeit,  vermögen  aber  ihr  absonderliches  Benehmen 
durchaus  nicht  zu  motiviren.  „Ich  wollte  keinen  "Willen  haben,"  sagte 
mir  ein  derartiger  Kranker.  Er  hatte,  die  Nahrung  verweigert,  um 
leichter  zu  werden  und  dadurch  die  Gesundheit  zu  erlangen,  fühlte 
sich  aber  dui'ch  den  Hunger  veranlasst,  grosse  Mengen  Müch  durcb 
die  Nase  einzuschlürfen  und  an  einer  Semmel  leidenschaftlich  zu 
riechen.  Bei  diesen  absonderlichen  Yeranstaltungen  lächelte  er  selbst, 
sprach  aber  kein  "Wort  und  Hess  sich  nicht  davon  abbringen. 

Die  wesentliche  Ursache  der  im  Yorstehenden  beschriebenen 
Krankheitsformen  ist  überall  in  der  psychopathischen  Praedis- 
position  zu  suchen,  welche  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  durch  erb- 
liche Belastung,  bisweilen  vielleicht  auch  durch  Kopfverletzungen 
erzeugt  wird.  Gewöhnlich  treten  gewisse,  nach  dieser  Richtung  hin 
beachtenswerthe  psychische  Eigenthümlichkeiten,  Schwachsinn,  leichte 
Erregbarkeit,  excentrisches  oder  misanthropisches  "Wesen,  geringe 
"Widerstandsfähigkeit  gegen  Alkohol,  auch  während  der  freien  Inter- 
valle zwischen  den  Anfällen  deutlich  genug  hervor.  Der  erste  Anfall 
der  Krankheit  erfolgt  am  häufigsten  zwischen  dem  20.  und  30.  Lebens- 
jahre; bisweilen  sind  früher,  bis  ins  Pubertätsalter  zurück,  schon 
schwächer  ausgebildete  Erregungszustände .  voraufgegangen.   In  ein- 


Manische  Formen. 


361 


zelnen  Fällen  werden  auch  zwischen  den  eigentlichen  Anfällen  un- 
regelniässige  Andeutungen  unmotivirter  trauriger  Yerstimraungen, 
Ai-beitsunlust  und  Lebensüberdi-uss  beobachtet.  Diese  Erscheinung 
deutet  ebenso  wie  die  gelegentlichen  depressiven  Einleitungsstadien 
auf  die  nahe  Verwandtschaft  dieser  Erkrankungen  mit  dem  circu- 
läi-en  Ii-resein  hin.  Von  äusseren  Anlässen  sind  die  einzelnen  An- 
fälle meist  völlig  unabhängig;  nur  hie  und  da  scheinen  sie  sich  ein- 
mal an  eine  heftige  Gemüthsbewegung,  ein  körperliches  Unwohlsein 
oder  dergl.  anzuschliessen.  Die  Kranken  selbst  fühlen  das  Heran- 
nahen der  Psychose  bisweilen  schon  Tage  oder  gar  Wochen  vorher, 
ohne  sich  darüber  klare  Rechenschaft  zu  geben.  Eine  meiner 
Patientinnen  machte  häufig  einige  Zeit  vor  dem  Ausbruche  des  An- 
falls einen  sonst  ganz  unmotivirten  Besuch  in  der  Anstalt,  bei  dem 
sie  noch  keine  Spur  von  Krankheitssymptomen  zeigte.  Andere  haben 
noch  Zeit,  vor  dem  Beginne  der  Erregung  ihr  Haus  zu  bestellen  und 
sich  dann  freiwillig  in  die  Behandlung  zu  begeben;  ein  derartiger 
Kranker  sprang  einmal  mitten  in  der  Nacht  über  die  hohe  Mauer 
in  die  Anstalt  herein,  nachdem  er  schon  mehrere  Stunden  weit  ge- 
laufen wai\ 

Die  einzelnen  Anfälle  pflegen  sich  bei  demselben  Kranken  ziem- 
lich genau  zu  gleichen,  bisweilen  bis  in  die  kleinsten  Züge  hüiein;  es 
giebt  aber  auch  vielfache  Ausnahmen  von  dieser  Regel.  Namentlich 
kommt  es  öfters  vor,  dass  sich  in  eine  Reihe  von  Anfällen  ohne 
Trübung  der  Besonnenheit  einmal  ein  typischer  Tobsuchtsparoxysmus 
hineinschiebt.  Die  Dauer  der  Anfälle  zeigt  nicht  selten  die  Neig-ung, 
mit  häufigerer  Wiederkehr  allmählich  zuzunehmen,  wenn  auch  trotz 
langen  Bestandes  der  Krankheit  gelegentlich  ein  Anfall  unerwartet 
rasch  verlaufen  kann.  Die  Zwischenzeiten  pflegen  sich  nach  und 
nach  zu  verkürzen.  Ich  sah  bei  einer  Kranken  im  Laufe  von  18  An- 
fällen die  Dauer  dieser  letzteren  von  3—4  auf  6 — 7  Monate  wachsen, 
während  die  Intervalle  von  1  Jahre  auf  5—6  Monate  abnahmen. 

Die  Prognose  dieser  Formen  ist  daher  im  Allgemeinen  eine 
trübe.  Die  Krankheit  kehrt  immer  wieder  und  lässt  namentlich  bei 
stürmischer  verlaufenden  Anfällen  eine  allmählich  wachsende  geistige 
Schwäche  zurück.  In  besonders  ungünstigen  Fällen  kann  es  früher 
oder  später  zur  Entwickelung  eines  bleibenden  Zustandes  leichter 
maniakalischer  En-egung  mit  kindischem  Sammel triebe  kommen. 
Auf  der  andern  Seite  giebt  es  Fälle  genug,  in  denen  die  Anfälle  so 


362 


VI.  Die  periodischen  Geistesstörungen, 


leicht  und  durch  so  lange  Zwischenzeiten  von  einander  getrennt 
sind,  dass  es  zu  keiner  bemerkbaren  dauernden  Schädigung  des 
Seelenlebens  kommt.  Hie  und  da  lässt  auch,  wie  es  scheint,  in 
vorgerücktem  Alter  die  Intensität  und  die  Zahl  der  Anfälle  von 
selber  nach. 

Die  Diagnose  der  hier  besprochenen  Krankheitsformen  ist 
stets  mit  grösster  'Wahrscheinlichkeit  zu  stellen,  sobald  man  es  nicht 
mehr  mit  dem  ersten  Anfalle  zu  thun  hat.  Höchstens  kann  die 
Unterscheidung  von  paralytischen  Aufregungszuständen  in  Frage 
kommen,  mit  denen  das  Krankheitsbild  bisweilen  sehr  grosse  Aehn- 
lichkeit  darbietet.  Zumeist  wird  hier  der  frühe  Beginn  der  Psycliose 
zur  richtigen  Erkenn tniss  führen.  Recht  selten  sind  die  Fälle,  in 
denen  der  erste  Anfall  so  spät  eintritt,  dass  wir  das  Lebensalter  nicht 
gegen  die  Diagnose  der  Paralyse  verwerthen  können.  Dann  wird 
die  Uebereinstimmung  der  beobachteten  Anfälle  untereinander,  das 
Fehlen  einer  höhergradigen  geistigen  Schwäche,  der  Gedächtnissstörung 
und  der  nervösen  Symptome,  auch  das  relativ  normale  Verhalten 
des  Kranken  im  Intervalle  für  das  Yorhandensein  einer  periodischen 
Psychose  sprechen.  Ein  manischer  Anfall  in  jugendlichem  Alter 
muss  stets  den  Verdacht  auf  ein  periodisches  Leiden  erwecken,  um 
so  mehr,  wenn  er  ohne  genügenden  Anlass  auftiitt,  und  wenn  die 
Besonnenheit  dabei  wenig  getrübt  ist.  Andererseits  scheinen  auch 
die  mit  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  einhergehenden  manischen 
Aufregungszustände,  wie  ich  sie  früher  unter  den  labilen  Formen  des 
Wahnsinns  beschrieben  habe,  häufig,  vielleicht  sogar  regelmässig  den 
periodischen  Erkrankungen  anzugehören. 

Die  Behandlung  lehnt  sich  in  allen  Punkten  dm'chaus  an  die- 
jenige der  einfachen  maniakalischen  Erkrankungen  an.  Ein  Mittel, 
die  Anfälle  selbst  zu  coupiren,  kennen  wir  bisher  nicht;  auch  das 
Bromkalium  scheint  nach  dieser  Eichtimg  hin  ohnmächtig  zu  sein, 
obgleich  es  die  Intensität  der  Aufregung  nicht  selten  bedeutend  herab- 
setzt. Gleichwol  ist  es  zweifellos,  dass  ein  ruhiges  Leben  in  ge- 
ordneten Verhältnissen,  namentlich  der  Schutz  vor  Alkoholmissbrauch, 
sowie  die  jedesmalige  rasche  Verbringung  in  die  Anstalt  nicht  nur 
die  Stärke,  sondern  auch  die  Häufigkeit  der  Krankheitsanfälle  in 
günstigem  Sinne  zu  beeinflussen  im  Stande  ist. 


Circuläre  Formen. 


363 


C.  Circnläre  Formen.*) 

Die  grosse  Gruppe  der  circuläi-en  Formen  umfasst  alle  die- 
jenigen Fälle,  in  denen  die  einzelnen  Anfälle  des  periodischen  Irre- 
seins nicht  einander  gleichartig  sind,  sondern  bald  eine  manische, 
bald  eine  depressive  Färbung  darbieten.  Die  Hinischen  Eigen- 
thümlichkeiten,  welche  diese  beiden  entgegengesetzten  Arten  von 
Anfällen  zeigen,  können  dabei  im  Einzelnen  ausserordentlich  ver- 
schieden sein,  so  dass  hier  eine  sehr  grosse  Mannichfaltigkeit  von 
Krankheitsbildern  entsteht. 

Für  die  depressiven  Zustände  ist  am  meisten  charakteristisch 
eine  einfache  psychische  Hemmung  ohne  Sinnestäuschungen 
und  ohne  ausgeprägte  Wahnideen.  Der  Kranke  ist  still,  ein- 
silbig, menschenscheu,  missmuthig;  seine  Vergangenheit  wie  seine 
Zukimft  erscheint  ihm  in  gleichmässig  trübem  Lichte ;  er  fühlt  sich 
namenlos  unglücklich,  ohne  doch  sagen  zu  können,  warum.  Sein 
Leben  ist  verpfuscht;  er  passt  nicht  für  seinen  Beruf,  will  um- 
satteln. Nichts  vermag  sein  Interesse  dauernd  anzuregen,  nichts 
macht  ihm  Freude;  er  ist  gleichgültig  geworden  gegenüber  seinen 
Angehörigen  und  Demjenigen,  was  ihm  früher  das  Liebste  war. 
Ueberau  sieht  er  nur  die  Schattenseiten  und  Schwierigkeiten;  die 
Menschen  um  ihn  herum  sind  nicht  so  gut  und  uneigennützig, 
wie  er  gedacht  hat;  eine  Enttäuschung  und  Ernüchterung  folgt 
der  andern.  An  aUen  Ecken  und  Enden  kostet  es  Geld,  mehr  wie 
er  bezahlen  kann.  Sein  wirthschaftlicher  Ruin  ist  unausbleiblich; 
er  fängt  daher  an,  zu  sparen  und  zu  knausern,  sich  und  Andern 
nichts  mehr  zu  gönnen,  trägt  seine  schiechtesten  Kleider,  isst  sich 
nicht  mehr  satt.  Mit  einer  gewissen  dumpfen  Resignation,  die 
jeden  Trost  und  jeden  Lichtblick  ausschliesst,  schleppt  sich  der 
Kranke  mühsam  von  einem  Tage  zum  andern  hin.  Er  fühlt,  dass 
seine  frühere  Leistungsfähigkeit  geschwunden  ist,  dass  ihm  jede 
kleine  Anstrengung  unsäglich  schwer  wird,  und  dass  er  auch  den 
gewöhnlichsten  Anforderungen  nicht  mehr  zu  genügen  vermag. 

Ganz  besonders  auffallend  ist  der  vollständige  Mangel  an  Energie. 
Der  Kranke  sitzt  oft  tagelang,  stumpf  vor  sich  hinbrütend,  die  Hände 
in  den  Schoss  gelegt,  verzweifelnd  da,  unfähig,  sich  zu  irgend  einer 


*)  Emmerich,  Schmidt's  Jahrbücher  CXC,  2;  Pick,  Circuläres  Irresein, 
Eulenbargs  Kealencyclopädie,  2.  Auflage. 


364 


YI.  Die  i)eriodischen  Geistesstörungen. 


Handlung  omporzuraffen.  Selbst  die  alltägliclisten  Yerrichtungen, 
das  Aufstehen,  Ankleiden,  Waschen,  kosten  ihm  eine  unerhörte  An- 
strengung. Beim  Spazierengehen  bleibt  er  in  der  Hausthüre  oder  an 
der  nächsten  Ecke  stehen,  unschlüssig,  wohin  er  sich  wenden  soll.  Ge- 
rade wegen  dieser  schweren  Willensstörung  kommt  es  nur  selten  zum 
Aufti-eten  von  Selbstmordideen,  noch  seltener  zum  wirklichen  Tentamen 
suicidii.  In  einzelnen  Fällen  kann  die  Hemmung  bis  zur  völligen 
reactionslosen  Aufhebung  aller  "Willen säusserungen  fortschreiten. 

Zumeist  besteht  in  diesem  Stadium  der  Psychose  ein  sehr 
ausgeprägtes  Krankheitsgefühl,  ja  nicht  selten  sogar  eine  gewisse 
Krankheitseinsicht,  insofern  die  Patienten  ihr  Bedauern  über  früher 
vorgekommene  Ungehörigkeiten  und  die  Besorgniss  aussprechen,  dass 
sie  sich  im  exaltirten  Stadium  auf's  Neue  compromittiren  möchten. 
Vielfach  wird  indessen  die  Wiederkehr  der  Verstimmung  auf  äussere 
Zufälligkeiten,  unangenehme  Erfahrungen,  Aenderungen  in  den 
Verhältnissen  u.  dergl.  zurückgeführt.  Für  den  unbefangenen  Be- 
obachter ist  es  dabei  deutlich,  dass  die  psychische  Wirkung  jener 
Einflüsse  überhaupt  erst  durch  die  krankhaft  pessimistische  Ver- 
änderung der  gemüthlichen  Eeactionsweise  zu  Stande  gekommen  Avar. 

Meist  klagen  die  Kranken  auch  über  allerlei  körperliche  Be- 
schwerden, Druck  und  Benommenheit  im  Kopfe,  Ohrensausen, 
Beklemmungsgefühle,  Herzklopfen.  Der  Appetit  ist  in  der  Kegel 
sehr  herabgesetzt,  die  Zunge  belegt,  der  Stuhlgang  angehalten;  die 
Kranken  essen  nur  mit  WiderAvillen  und  auf  vieles  Zureden.  Der 
Schlaf  ist  stets  empfindlich  beeintr'ächtigt;  die  Kranken  liegen 
stundenlang,  von  peinigenden  Vorstellungen  gequält,  schlaflos  im 
Bette,  um  nach  wirren,  ängstlichen  Träumen  am  andern  Morgen  mit 
wüstem  Kopfe,  abgeschlagen  und  ermattet  zu  erwachen.  Sie  stehen 
meist  sehr  spät  auf,  bleiben  auch  wol  Tage  oder  Wochen  lang  ganz 
liegen.  Der  Gesichtsausdruck  und  die  Körperhaltung  ist 
schlaff  und  matt,  die  Augen  glanzlos;  die  Haut  ist  fahl,  runzelig, 
welk;  das  Körpergewicht  pflegt  zu  sinken. 

Wenn  bei  der  soeben  beschriebenen  Form  die  einfache  Hemuuiug 
der  gesammten  psychischen  Functionen  ohne  einen  selbständigen, 
bestimmten  Affect  den  Hintergrund  des  Kraukheitsbildes  zu  liefern 
scheint,  so  nähert  sich  die  Depression  in  einer  zweiten  Keihe  von 
Fällen  mehr  dem  Verhalten  der  typischen  Melancholie,  bis- 
weilen auch  mit  ängstlicher  Fäi'bimg.  Die  Kranken  werden  tramüg, 


Circuläre  Formen. 


365 


YGrstimmt,  schlaflos,  fühlen  sich  innerlich  beunruhigt  und  hören 
auf,  zu  arbeiten.  Es  entwickelt  sich  rasch  bei  ihnen  ein  Ver- 
sündig'ungs-  und  Kleinheitswahn,  seltener  einzelne  Yerfolgungsideen. 
Sie  sind  unnütz  auf  der  "Welt,  ganz  verAvorfen  und  schlecht,  haben 
nicht  Alles  gebeichtet,  können  nicht  mehr  beten,  haben  Alle  un- 
glücklich gemacht,  sind  Schuld  am  Krieg.  Das  Vermögen  reicht 
nicht  mehr;  sie  kommen  nicht  durch,  sind  unheilbar  krank,  un- 
glücklich für's  ganze  Leben,  werden  eingesperrt,  von  den  Gensdarmen 
abgeholt,  lieber  ihre  Umgebung  sind  sie  dabei  orientirt,  haben 
auch  nicht  selten  ein  ausgeprägtes  Krankheitsgefühl.  Die  Stimmung 
ist  bald  resignirt,  niedergeschlagen,  hoffnungslos,  bald  mehr  ängstlich 
und  weinerlich,  mit  gelegentlichen  heftigeren  Affectausbrüchen.  In 
ihrem  Benehmen  sind  die  Kranken  still,  theilnahmlos,  selbst  stuporös, 
mit  Andeutungen  von  Katalepsie,  oder  unstät  und  aufgeregt  mit 
Selbstmordneigung,  die  fi'eilich  nicht  sehr  energisch  zu  sein  pflegt.' 
Die  köi-perlichen  Begleiterscheinungen  dieser  Zustände  sind  die 
gleichen,  wie  bei  melancholischen  Erkrankungen. 

"Wir  haben  endlich  noch  eines  dritten  Formenkreises  zu  gedenken, 
innerhalb  dessen  sich  die  depressive  Phase  des  circulären  Irreseins 
abspielen  kann.  Derselbe  ist  gekennzeichnet  durch  das  Auftreten 
einer  tieferen  Bewusstseinstrübung  und  die  Ausbildung 
phantastischer  Sinnestäuschungen  und  Wahnideen.  Nach 
kurzdauernden  Prodromaler  scheinungen,  Kopfschmerzen,  Schlaflosig- 
keit, Unfäliigkeit  zu  denken,  Eeizbarkeit,  beginnen  die  Kranken 
]5lötzlich,  zu  halluciniren,  und  versinken  rasch  in  einen  traumartig 
stuporösen  Zustand.  Ihre  Umgebung  verändert  sich  in  der  aben- 
teuerlichsten "Weise:  das  Zinnner  dehnt  sich  aus  ins  Unendliche, 
wird  zum  Himmel,  in  welchem  sie  Gott  auf  dem  Throne  sitzen  sehen, 
oder  zum  engen  Grabe,  in  dem  sie  ersticken,  während  draussen 
Todtengebete  gemurmelt  werden.  Die  ganze  "Welt  verbrennt  unid 
erstarrt  dann  wieder  zu  Eis;  der  Kranke  ist  der  letzte  Mensch,  der 
ewige  Jude,  allein  in  der  Verwüstung,  in  Sibirien.  Draussen  wird  das 
Schaffet  aufgeschlagen;  eine  zahlreiche  Gesellschaft  beobachtet  und 
verspottet  ihn;  der  Ofen  macht  bissige  Bemerkungen.  Man  lässt 
ihn  nackt  auf  der  Strasse  herumlaufen,  stellt  ihn  als  siamesischen 
Zwilling  öffentlich  aus,  fordert  ihn  auf,  sich  aufzuhängen,  um  seine 
Schande  zu  begraben.  Die  Gesichter  um  ihn  herum  verzerren  sich; 
die  Personen  haben  eine  mystische  Bedeutung,  sind  historische 


366 


VI.  Die  periodischen  Geistesstöningen. 


Grössen,  Gottheiten.  Der  Kranke  selbst  ist  anderen  Geschlechtes 
geworden,  geschwollen  wie  ein  Fass;  er  ist  von  hoher  Abkunft,  der 
Welterlöser,  ein  Schlachtross.  Während  dieser  bunten,  wechselnden, 
zusammenhangslosen  Delirien,  die  von  massenhaften  hallucinatorischen 
und  illusionären  Täuschungen  aller  Süine  begleitet  werden,  sind 
die  Kranken  äusserlich  meist  stark  gehemmt,  ausser  Stande,  ein 
Wort  zu  sprechen  oder  selbst  für  ihre  Bedürfnisse  zu  sorgen.  Ohne 
lebhafteren  Affect  zu  verrathen,  liegen  sie  stumm,  unzugänglich, 
theilnahmlos  im  Bett;  nur  der  gespannte,  scheue  Gesichtsausdruck 
und  das  Widersti-eben  gegenüber  äusseren  Eiawü-kungen,  bisweüen 
auch  einzelne  Zwangsstellungen  oder  -bewegungen,  sowie  unver- 
muthete  impulsive  Handlungen  (Selbstmordversuche),  deuten  auf  die 
Vorgänge  in  ihrem  Innern  hin.  Sie  schlafen  wenig,  essen  unregel- 
mässig, sind  nicht  selten  unrein  und  kommen  in  ihrer  Ernährung 
rasch  herunter. 

Kaum  weniger  mannichf altig,  als  das  Büd  der  depressiven 
Phase  kann  sich  dasjenige  der  expansiven  Anfälle  gestalten.  In 
einer  ersten  Gruppe  von  Beobachtungen  entwickelt  sich  der  Sym- 
ptomencomplex  einer  typischen  Manie,  Ideenflucht,  heitere,  aber 
leicht  wechselnde  Stimmung  und  flotter  Bewegungsdrang  bei  er- 
haltener Orientirung.  Hie  und  da  steigert  sich  die  Erregung  zu 
tieferer  Verworrenheit,  namentlich  im  Beginne  eines  Anfalls 
oder  ganz  episodisch,  seltener  während  längerer  Zeiträume.  Im 
letzteren  Falle  wird  auch  das  gelegentliche  Auftreten  von  Sinnes- 
täuschungen und  zusammenhangslosen  Wahnvorstellungen, 
Grössenideen  sowol  wie-  Verfolgungsideen,  beobachtet.  Eine  weitere 
Gruppe  von  Kranken  bietet  eigenthümliche,  manisch-stuporöse 
Zustände  dar.  Die  Kranken  sind  gewöhnlich  ganz  unzugänglich, 
mit  sich  selbst  beschäftigt,  kümmern  sich  nicht  um  ihre  ümgebimg, 
geben  keine  Antwort,  sprechen  höchstens  leise  vor  sich  hin,  lächeln 
unmotivirt,  nesteln  an  ihren  Kleidern  oder  Bettstücken  herum, 
drapiren  sich  in  phantastischer  Weise,  Alles  ohne  Zeichen  von 
äusserer  Um-uhe  oder  Affect.  Nicht  selten  lässt  sich  Katalepsie 
nachweisen.  Zeitweise  werden  sie  lebhafter,  schimpfen,  springen  aus 
dem  Bett,  werfen  ihr  Essen  ins  Zimmer,  entkleiden  sich  plötzlich, 
zerreissen  ein  Kleidungsstück  oder  misshandeln  ohne  äussere  Ver- 
anlassung einen  Mitpatienten,  um  sofort  wieder  in  ihre  fi'ühere 
ünzugänglichkeit  zurückauversioken.    Höchst  wahrscheinlich  be- 


Circuläre  Formen. 


367 


stehen  hier  Siimestäuschungen  und  "Wahnideen,  wenn  auch  die  Ki-anlten 
selbst  später  meist  wenig  Auskunft  über  diese  Zeiten  zu  geben  ver- 
mögen. Die  manische  Färbung  solcher  Zustände  wird  durch  die 
gelegentlich  hervorti'etende  heitere,  humoristische  Stimmung,  das  voll- 
ständige Fehlen  der  Angst,  sowie  durch  den  Gegensatz  gegenüber 
den  zugehörigen  depressiven  Stadien  sehr  deutlich.  Nicht  selten 
bildet  dieser  manische  Stupor  gewissermassen  den  letzten  Ausläufer 
der  langsam  sich  ausgleichenden  tobsüchtigen  Erregung. 

Als  die  eigentlich  charakteristische  Gestaltung  der  manischen 
Phase  des  circulären  Irreseins  ist  endlich  die  Ausbildung  eines 
ganz  leichten  Exaltationszustandes  mit  völliger  Erhaltung 
der  Besonnenheit  zu  betrachten.  Mit  den  ähnlichen  Ki-ankheits- 
bildern  der  periodischen  Manie  werden  diese  Formen  wol  als  „Hypo- 
manie",  „Mania  sine  delirio",  „Mania  mitis"  zusammengefasst  oder 
als  „Manie"  im  engeren  Sinne  der  mit  stärkerer  Erregung  und  Yer- 
wirrtheit  einhergehenden  „Tobsucht"  gegenübergestellt.  Es  scheint  in- 
dessen, dass  die  Störung  im  circulären  Irresein  meist  noch  leichter 
zu  verlaufen  pflegt,  als  bei  der  periodischen  Manie.  Schüle  spricht 
daher  von  einer  „Mania  mitissima".  Auch  manche  Formen  der 
„folie  raisonnante"  gehören  hierher. 

Die  Auffassung  äusserer  Eindrücke  und  der  Verlauf 
der  Yorstellungen  geht  mit  einer  gewissen  Leichtigkeit  vor  sich; 
das  Interesse  des  Kranken  wächst  nach  den  verschiedensten  Kichtungen 
hin;  er  erscheint  vielfach  aufgeweckter,  scharfsinniger,  leistungs- 
fähiger, als  früher.  Namentlich  ist  es  die  Gewandtheit  in  der  Er- 
fassung entfernter  Aehnlichkeiten,  die  nicht  selten  dem  Hörer  im- 
ponirt,  weil  sie  den  Krauten  zu  witzigen  Wendungen  und  Pointen, 
Wortspielen,  überraschenden,  wenn  auch  bei  genauerer  Betrachtung 
meist  wenig  stichhaltigen  Vergleichen  und  ähnlichen,  auf  gesteigerter 
Beobachtungs-  und  Combinationsgabe  beruhenden  Leistungen  der 
Phantasie  befähigt.  AUes,  was  er  angreift,  wird  ihm  leicht;  er  kennt 
keine  Ermüdung  mehr  und  zeigt  eine  ihn  selbst  übeiTaschende 
körperliche  und  geistige  Eegsamkeit. 

Stets  ist  jedoch  schon  bei  den  leichtesten  Graden  der  Störung 
der  Mangel  an  innerer  Einheit  des  Vorstellungsverlaufes, 
die  Unfähigkeit  zur  consequenten  Verfolgung  einer  bestimmten  Ge- 
..dankenreihe,  zur  luhigen,  logischen  Durcharbeitung  und  Ordnung 
gegebener  Ideen,  die  Unbeständigkeit  des  Interesses,  das  jähe,  un- 


368 


YI.  Die  periodißclien  Geistesstömtigen. 


vemiittelte  Abspringen  von  einem  Gegenstande  zum  andern  ausser- 
ordentlich charakteristisch.  Allerdings  Avissen  die  Kranken  nicht 
selten  mit  einiger  Ansü-engimg  diese  Erscheinungen  vorübergehend 
zu  verwischen  und  die  Herrschaft  über  ilu'en  zügellos  gewordenen 
Vorstellungsverlauf  noch  für  einige  Zeit  wiederzugewinnen;  in  Schrift- 
stücken und  namentlich  in  den  oft  eifi'ig  betriebenen  Eeimereien 
pflegt  dann  doch  eine  leichte  Ideenflucht  regebnässig  deutlich  hervoi-- 
zutreten. 

Die  Stimmung  des  Kranken  ist  vorwiegend  eine  gehobene, 
heitere,  diu-ch  das  Gefühl  der  erhöhten  Leistungsfähigkeit  beeinflusstc. 
Er  fühlt  sich  glücklich  und  froh,  nicht  selten  in  etwas  überschAväng- 
Hcher  "Weise,  sieht  sich  von  lieben,  edlen  Menschen  umgeben,  findet 
voUe  Befriedig-ung  in  den  Genüssen  der  Freundschaft,  der  Kunst, 
der  Humanität.  Bisweilen  entwickelt  sich  ein  ausgeprägt  humor- 
istischer Zug,  die  Neigung,  allen  Dingen  und  Ereignissen  die  scherz- 
hafte Seite  abzugewinnen,  Spitznamen  zu  erfinden,  sich  selbst  und 
Andere  harmlos  zu  verspotten.  Meist  ü-eten  jedoch  gerade  die  Bedüi-f- 
nisse  und  Wünsche  der  eigenen  Person  gänzHch  in  den  Yordergi-und. 
Auf  der  andern  Seite  besteht  regelmässig  eine  gTOSse  gemüthliche 
Eeizbarkeit.  Der  Kranke  wird  rücksichtslos  und  selbst  brutal,  wo  er 
mit  seinen  Wünschen  und  Neigungen  auf  Widerstand  stösst;  gering- 
fügige äussere  Anlässe  können  heftige  Zornesausbrüche  mit  ki-äftigem 
Schimpfen  und  Neigung  zu  Gewaltthätigkeiten  herbeiführen.  Der 
innere  Halt  des  Kranken  ist  verloren  gegangen;  er  lässt  sich  gänz- 
lich diu-ch  momentane  Eindrücke  und  Affecte  beherrschen,  die  sofort 
eine  unwiderstehliche  Macht  über  seinen  directionslosen  Willen  er- 
langen. Seine  Handlungen  ü^agen  daher  vielfach  das  Gepräge  des 
Tiiebartigen,  Unüberlegten  und  —  wegen  der  geringen  Störung  der 
Intelligenz  —  des  Umnoralischen. 

Was  vor  Allem  auffällt,  ist  seine  erhöhte  Geschäftigkeit.  Der 
Kranke  fühlt  das  Bedüiiniss,  aus  sich  herauszugehen,  mit  seiner 
Umgebung  in  lebhafteren  Yerkehr  zu  ü-eten,  eine  Rolle  zu  spielen. 
Es  duldet  ihn  nicht  lange  im  Bett;  in  aller  Er  übe,  um  4  Uhr  be- 
reits, steht  er  auf,  kramt  herum,  arbeitet,  macht  Morgenspaziergänge. 
Er  beginnt  Gesellschaften,  Vergnügungen  zu  besuchen,  viele  und 
lange  Briefe  zu  sclueiben,  ein  Tagebuch  zu  fühi-en,  Gedichte  von 
zweifelhaftem  Werthe  zu  verfassen,  sich  um  alle  möglichen  Dinge 
und  Verhältnisse  zu  kümmern,  die  ihm  früher  gänzlich  fern  lagen 


Circiiliiro  Formen. 


369 


Er  knüpft  zahlreiclie  Yerbindungen  an,  zahlt  plötzlich  ohne  NöthJgung 
sämmtliche  Geschäftsschiüden,  sümit  das  Geld  mit  vollen  Händen 
aus,  baut  Luftschlösser  und  stürzt  sich  mit  raschem  Enthusiasmus 
in  unberechenbare,  seine  Ki-äfte  weit  übersteigende  Unternehmungen. 
In  Folge  eines  plötzlichen  Einfalles  unternimmt  er  weite,  planlose 
Kelsen,  sammelt  alle  möglichen  unnützen  Dinge  bei  sich  an,  macht 
eine  Menge  zweckloser  Einkäufe  und  Tauschgeschäfte,  auch  ohne 
einen  Pfennig  in  der  Tasche,  weil  jedes  neue  Object  seine  Begierde 
reizt.  Selbst  der  gelegentliche  Diebstahl  und  die  Uebervortheilung 
wird  in  dieser  ki'ankhaften  Lust  am  Besitze  bisweilen  nicht  gescheut, 
um  irgend  einen  erwünschten  Gegenstand  zu  erlangen. 

Im  äusseren  Benehmen  des  Kranken  macht  sich  gewöhnlich 
erhöhtes  Selbstgefühl,  die  Sucht  hervorzutreten,  daun  aber  Um-uhe  und 
Unstetigkeit  bemerkbar.  Mit  theati-alischem,  gespreiztem  Gebahren 
verbinden  sich  sehr  lebhafte  und  exaltirte  AusdiaicksbeAveg-ungen. 
Die  Eleidung  ist  auffallend,  vielleicht  stutzerhaft,  aber  gleichzeitig 
nachlässig,  salopp.  Die  Schrift  zeigt  gi'osse,  prätentiöse  Züge,  viele  Aus- 
rufimgs-  und  Fragezeichen,  Unterstreichungen  neben  mannichfachen 
Unsauberkeiten  und  Flüchtigkeiten  in  der  äusseren  Form.  Der 
Kranke  führt  überall  das  Wort,  drängt  sich  bei  jeder  Gelegenheit 
in  den  Vordergrund,  declamirt  öffentlich,  arrangirt  Feste,  sucht  Aller 
Augen  auf  sich  zu  lenken,  zu  imponiren;  er  spricht  viel  und  gern, 
laut,  mit  besonderer  Betonung,  in  gesuchten  Ausdrücken,  von  sich 
selbst  oft  in  der  dritten  Person,  um  sich  ein  gewisses  Relief  zu 
geben,  renommirt  in  stark  übertriebener  Weise  mit  seinen  vornehmen 
Bekanntschaften,  seinen  Leistungen  und  Fähigkeiten,  ohne  es  mit 
der  Wahrheit  sehr  genau  zu  nehmen.  Dabei  lässt  er  sich  häufig 
sehr  ungenirt  gehen,  macht  grobe  Verstösse  gegen  Anstand  und 
Sitte,  erzählt  obscöne  Witze  in  Damengesellschaft,  nimmt  sich  mit 
lustiger  Bonhommie  unpassende  Vertraulichkeiten  gegen  Fremde  oder 
höher  stehende  Personen  heraus,  schhesst  mit  dem  ersten  Besten 
Freundschaft  und  Dutzbrüderschaft  und  geräth  in  die  mannichfaltigsten 
Conflicte  mit  seiner  Umgebung  und  der  öffentlichen  Ordnung,  in- 
dem er  seinen  augenblickhchen  Launen  und  Eingebungen  folgt,  die 
ihn  zu  allerlei  muthwilligen,  unüberlegten  und  ungehörigen  Hand- 
limgen  treiben. 

In  seinem  Thatendrange  beginnt  der  vorher  vielleicht  streng 
soüde  Kranke  daher  auch,  sich  allen  möglichen  Excessen  hinzugeben, 

Krae polin,  I'sychiatrio.    4.  Aufl.  24 


370 


VI.  Die  periodischen  Geistesstörungen. 


sich  häufig  zu  betrinken,  unsinnig  zu  spielen,  die  Nächte  auszu- 
bleiben, sich  in  Bordellen  und  zweifelhaften  Localen  herumzutreiben, 
übermässig  zu  rauchen  und  zu  schnupfen,  stark  gewürzte  Speisen 
zu  essen  u.  s.  f.  Bei  Frauen  äussert  sich  die  Erregung  häufig  in 
lebhaften  sexuellen  Gelüsten,  die  sich  in  auffallender  Toilette,  un- 
genirtem  Benehmen,  zweideutigen  Vertraulichkeiten,  in  der  Neigung, 
Bälle  zu  besuchen,  zu  coquettiren,  Liebesverhältnisse  anzuknüpfen, 
schlüpfrige  Romane  zu  lesen,  besonders  kundzugeben  pflegen.  Nicht 
selten  wird  diese  Charakterveränderung  von  der  Umgebung  zunächst 
nicht  als  krankhaft,  sondern  als  sittlicher  Fehler  aufgefasst,  den  man 
durch  freundschaftliche  Auseinandersetzungen  und  sociale  Mass- 
regelungen vergebens  zu  corrigiren  sucht.  Eine  meiner  Kranken 
erliess  in  diesem  Zustande  regelmässig  Heirathsannoncen,  die  schliess- 
lich den  Erfolg  hatten,  dass  sie  thatsächlich  mit  einem  wenig  ver- 
trauenswürdigen Individuum  die  Ehe  einging. 

Trotz  all  dieses  unsinnigen  Benehmens  und  der  unverkennbaren 
Erregung  zeigt  der  Kranke  regelmässig  eine  ganz  auffallende 
Besonnenheit.  Freilich  fehlt  es  ihm  vollständig  an  einer  Einsicht 
in  seine  Krankheit;  im  Gegentheü  fühlt  er  sich  gesünder,  als  jemals, 
und  lässt  sich  selbst  durch  den  Hinweis  auf  frühere  Anfälle,  die  er 
während  des  depressiven  Stadiums  vielleicht  ganz  richtig  beurtheilte, 
keinen  Augenblick  von  der  pathologischen  Natur  seiner  heiteren 
Stimmung  überzeugen.  Dieses  Verhalten  erinnert  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  an  die  Erfahrungen,  welche  man  so  häufig  über  die 
Selbsttäuschungen  Betrunkener  zu  machen  Gelegenheit  hat.  Seine 
Handlimgen  weiss  der  Kranke  vielfach  mit  ausserordentlicher  Spitz- 
findigkeit zu  motiviren. 

Die  Mannichfaltigkeit  dieses  Krankheitsbildes  im  Einzelnen  ist 
trotz  aller  typischen  Züge  eine  sehr  grosse.  Je  leichter  der  eigent- 
lich pathologische  Vorgang  den  Menschen  berührt,  desto  mehr  muss 
ja  seine  persönliche  Eigenart  in  der  Gestaltung  der  Symptome  mit 
zur  Geltung  kommen.  Namentlich  in  der  Art  und  Heftigkeit  der 
gemüthlichen  ßeactionen  machen  sich  die  Verschiedenheiten  bemerk- 
bar. "Während  manche  Kranke  in  dieser  Zeit  ungemein  liebenswürdig, 
gutmüthig,  lenlfsam,  umgänglich  sind  und  höchstens  dm-ch  ihre  Ruhe- 
losigkeit für  die  Umgebimg  störend  werden,  gehören  Andere  wegen 
ihrer  Reizbarkeit,  ihrer  Herrschsucht  und  ihres  rücksichtslosen  Thaten- 
dranges  mit  zu  den  schwierigsten  und  unangenehmsten  Patienten. 


Circulfire  Formen. 


371 


Gerade  die  eigenthüraliche " Mischung  von  Besonnenheit  mit  echt 
tobsüchtigem  Handeln,  vielfach  auch  die  gTOsse  Anstaltserfahrung 
macht  sie  überaus  erfinderisch  in  Mitteln,  ihre  zahlreichen  Gelüste 
zu  befriedigen,  die  Umgebung  zu  hintergehen,  sich  allerlei  Vortheile 
zu  verschaffen,  fremdes  Eigenthum  in  ihren  Besitz  zu  bringen.  Ihre 
Mitkranken  pflegen  sie  bald  vollständig  zu  beherrschen,  sie  auszu- 
beuten, dem  Arzte  in  technischen  Ausdrücken  über  sie  zu  berichten, 
sie  zu  bevormunden  und  zu  terrorisiren. 

Die  körperlichen  Erscheinungen  der  manischen  Phase  sind  je 
nach  der  besonderen  Gestaltung  derselben  etwas  verschieden.  Bei 
den  Formen  mit  stärkerer  Erregung  ist  der  Schlaf  stets  sehr  gestört, 
weniger  die  Nahrungsaufnahme.  Das  Körpergewicht  sinkt  regel- 
mässig recht  bedeutend.  Bisweilen  beobachtet  man  Kopfcongestionen, 
geröthetes  Gesicht,  injicirte  Conjunctiven,  starkes  Schwitzen  am  Kopfe, 
Kälte  der  Extremitäten.  Einige  Male  sah  ich  in  Folge  des  anhalten- 
den Schreiens  hochgradige  Ausdehnung  und  Schlängelung  der  ober- 
flächlichen Venen  am  Halse.  In  den  hypomanischen  Formen  ist  von 
besonderem  Interesse  der  durchgängige  Gegensatz  auch  des  körper- 
lichen Verhaltens  gegenüber  demjenigen  in  der  depressiven  Phase. 
Der  Appetit  ist  gesteigert,  der  Schlaf  fest  und  ungestört,  aber  von 
kurzer  Dauer;  das  Körpergewicht  steigt.  Die  Haut  gewinnt  frische 
Farbe  und  Spaimung,  die  Bewegungen  werden  elastisch  und  kräftig, 
das  spärlich  gewordene  Haar  wächst  nach,  bisweilen  mit  verjüngtem 
Pigment. 

Die  Zusammensetzung  der  einzelnen  Krankheit  aus  den  im  Vor- 
stehenden geschilderten  entgegengesetzten  Zuständen  kann  sich  in 
ausserordentlich  verschiedener  Weise  vollziehen.  Vor  Allem  haben 
wir  continuirliche  und  discontinuirliche  Yerlaufsarten  zu 
unterscheiden.  Bei  den  ersteren  dauert  das  Irresein  ohne  eigentliche 
freie  Zwischenzeiten  vom  ersten  Anfall  bis  zum  Ende  der  Krankheit 
oder  des  Lebens  ununterbrochen  fort,  während  im  letzteren  Falle 
zwischen  den  einzelnen  Ausbrüchen  des  Leidens  längere  Zeiträume 
mehr  oder  weniger  vollständiger  geistiger  Gesundheit  sich  einschieben. 
Diese  letzteren,  übrigens  sehr  zahlreichen  Formen  bilden  den  üeber- 
gang  zu  den  früher  besprochenen  periodischen  Erkrankungen,  von 
denen  sie  sich  nur  durch  die  verschiedenartige  Färbung  der  einzelnen 
Anfälle  abgrenzen. 

Die  continuirlichen  Formen  zeigen  uns  den  immer  wiederholten 

24* 


372 


VI.  Die  periodischen  Gcistesstöningen. 


regelmässigen  "Wechsel  von  Depression  'und  Erregung.  Der  Ueber- 
gang  der  beiden  Phasen  in  einander  vollzieht  sich  bisweilen  ganz 
plötzlich  und  dann  regelmässig  in  der  Nacht.  Der  deprimirte  Kranke 
v?acht  zur  gegebenen  Zeit  vrider  sonstige  Gewohnheit  sehr  früh  auf 
und  ist  nun  manisch;  der  Erregte  fühlt  sich  eines  Morgens  müde, 
abgeschlagen,  gehemmt.  Häufiger  sieht  man  den  Wechsel  der  Zu- 
stände sich  schon  von  langer  Hand  vorbereiten.  Der  Gesichtsausdruck 
und  die  Haltung  des  bis  dahin  deprimirten  Kranken  wird  allmählich 
freier,  sein  Auge  lebhafter;  der  Appetit  und  die  Ernährung  hebt 
sich.  Seine  Haut  gewinnt  die  frühere  Spannung,  seine  Bewegungen 
ihre  Elasticität  wieder.  Nach  und  nach  wird  er  zugänglicher,  zeigt 
mehr  Interesse  für  seine  Umgebung,  beginnt  sich  andauernder  zu 
beschäftigen,  fühlt  sich  frischer  und  wohler,  äussert  die  Sehnsucht 
nach  Freiheit  und  Beruf sthätigkeit,  „nach  Frühling  und  "Waldesgrün," 
fasst  seine  Entlassung  ins  Auge  und  macht  oft  längere  Zeit  hindurch 
den  Eindruck  eines  Keconvalescenten. 

Indessen  deutet  sich  die  krankhafte  Natur  der  anscheinenden 
Besserung  oft  schon  jetzt  an.  Einzelne  Handlungen  tragen  vielleicht 
bereits  einen  manischen  Anstrich,  während  im  Ganzen  noch  die 
Zeichen  der  Hemmung  überwiegen.  Ich  behandle  eine  Kranke,  die 
nach  schwerer  Depression  trotz  völliger  Besonnenheit  kaum  im 
Stande  ist,  ein  "Wort  hervorzubringen,  dabei  körperlich  aufblüht, 
häufig  lächelt  und  zum  allgemeinen  Erstaunen  kürzlich  blitzschnell 
eine  Ohrfeige  austheilte.  Mehr  und  mehr  gewinnt  dann  die  expan- 
sive Erregung  die  Oberhand.  „Charfreitag  ist  heute,  aber  bei  mir 
ist  schon  Ostern  geworden,"  schrieb  eine  Kranke  in  ihr  Tagebuch. 

In  ähnlicher  Weise  spielt  sich  die  entgegengesetzte  Wandlung 
ab.  Das  Körpergewicht,  welches  sich  auch  bei  typisch  manischer 
Phase  in  der  letzten  Zeit  gehoben  hatte,  beginnt  langsam  wieder  zu 
sinken.  Nun  lässt  die  Vielgeschäftigkeit  allmählich  nach;  die  grossen 
Pläne  treten  in  den  Hintergrund;  der  Kranke  „hat  keinen  solchen 
Muth  mehr";  die  Stimmung  wird  ruhiger,  ernster,  trüber.  Hie  und  da 
tauchen  einzelne  Eeflexionen  über  getäuschte  Hoffnungen,  verfehlte 
Anläufe,  schwere  Lebenserfahrungen  auf;  die  Bewegungen  werden 
langsamer,  schlaffer,  energieloser,  der  Gesichtsausdruck  matt,  abgespannt, 
der  Blick  müde,  und  nun  treten  auch  alle  die  übrigen  Erscheinungen 
der  früheren  Depressionszustände  eine  nach  der  andern  wieder  hervor. 
Der  typische  Verlauf  dieser  allmähligen  Uebergänge  ist  oft  in 


Circiiläre  Formen. 


373 


hohem  Grade  fi-appirend.  Bis  in  dio  kleinsten  Einzelheiten  der 
Lebensführung,  in  alle  Neigungen  und  Abneigungen  hinein,  pflegt 
sich  dieser  schlagende  Gegensatz  der  Zustände  zu  erstrecken,  so  dass 
man  glauben  möchte,  zwei  vollständig  verschiedenartige  Menschen 
vor  sich  zu  haben.  Trotzdem  müssen  die  physiologischen  Grund- 
lagen der  beiden  Phasen  sehr  nahe  mit  einander  verwandt  sein. 
Dafür  sprechen  nicht  nur  die  Fälle  mit  plötzlichem  Umschlag  des 
Kj-ankheitsbildes ,  sondern  die  weitere  Thatsache,  dass  auch  bei  all- 
mählichem Eintritte  der  Wandlung  nicht  selten  sich  ganz  vereinzelte 
manische  Tage  mitten  in  die  Zeit  der  Depression  einschieben  können 
und  unigekehrt.  Die  Kranken  gehen  verstimmt  und  gehemmt  zu 
Bett,  wachen  plötzlich  auf  und  fühlen,  als  ob  ein  Schleier  von  ihrem 
Hirn  weggezogen  wäre,  verbringen  den  Tag  in  manischer  Schafl'ens- 
freudigkeit,  um  am  nächsten  Morgen  zerschlagen,  mit  schwerem 
Kopfe  das  ganze  Elend  ihres  Zustandes  wieder  in  sich  vorzufinden. 
Oder,  wie  ich  es  kürzlich  erlebte,  der  hypomanische  Kranke  unter- 
nimmt ganz  unvermuthet  einen  schweren  Selbstmordversuch. 

Den  Beginn  der  ganzen  Krankheit  scheint  bei  Weitem  am 
häufigsten  die  Depression  zu  bilden;  er  fällt  fast  regelmässig  in  das 
Entwickelungsalter  oder  wenig  später.  Nicht  immer  ist  jedoch  der 
continuirliche  Verlauf  von  vorn  herein  ausgesprochen.  Es  giebt 
zahlreiche  Eälle,  in  denen  wir  zunächst  einzelne  Perioden  unmotivirter 
Verstimmung  oder  extravaganter  Ausgelassenheit  beobachten,  die 
als  einfache  „Launen"  „erwachende  Lebenslust",  u.  dergl.  gelten  oder 
mit  irgend  welchen  Zufälligkeiten  in  Beziehung  gesetzt  werden« 
Ohne  Zweifel  bleibt  es  häufig  bei  solchen  Andeutungen.  Sie  bilden 
die  Uebergänge  zu  jenen  normalen  Schwankungen  des  gemüthlichen 
Gleichgewichtes,  die  so  oft  bei  nervösen  Menschen  schon  eine  ge- 
wisse Regelmässigkeit  der  Aufeinanderfolge,  eine  auffallende  Un- 
motivirtheit  und  Unabhängigkeit  von  äusseren  Anlässen  erkennen 
lassen.  In  anderen  Fällen  wird  die  krankhafte  Natur-  der  Zustände 
allmählich  deutlicher,  imd  sie  beginnen  sich  in  bestimmtem  Wechsel  an 
einander  zu  schliessen.  Das  geschieht  meistens  im  Verlaufe  des  dritten 
Lebensjahrzehnts,  bisweilen  auch  erst  im  fünften,  nachdem  bis  dahin 
nur  einzelne  sporadische  Anfälle  meist  depressiver,  seltener  expansiver 
Art  voraufgegangen  sind.  In  die  Zeit  des  Klimakteriums  fällt  häufig 
auch  überhaupt  der  erste  Anfall  eines  continuirlich  weiterverlaufenden 
cifculären  Irreseins. 


374 


VI.  Die  penodißclion  Geistesstörungen. 


Die  klinische  Form  der  Anfälle  kann  eine  sehr  verschiedene 
sein.  Für  die  manische  Phase  scheint  mir  das  Bild  der  Hypo- 
manie,  für  die  depressive  dasjenige  der  einfachen  Hemmung  zu 
überwiegen,  doch  kommen  hier  auch  nicht  selten  die  hallucinato- 
risch-stuporösen  Zustände  zur  Beobachtung.  Die  verschiedenen 
Anfälle  gleicher  Färbung  pflegen  bei  continuirlichem  Yerlaufe  ein- 
ander sehr  ähnlich  zu  sein;  weit  seltener  tritt  etwa  eine  Manie 
in  einen  Cyclus  hypomanischer  Phasen,  ein  Stupor  in  die  Reihe 
der  melanchohschen  Verstimmungen  ein  u.  s.  f.  Bisweüen  ist  die 
Uebereinstimmung  der  einzelnen  Anfälle  eine  so  weitgehende,  alle 
kleinen  und  kleinsten  Züge  umfassende,  dass  man  mit  einem  ge- 
wissen Rechte  von  einer  „photographischen"  Gleichheit  der  Bilder 
hat  sprechen  können.  Die  Dauer  der  Phasen  bei  demselben  Kranken 
pflegt  im  Allgemeinen  auch  ziemlich  gleich  zu  bleiben,  doch  kommen 
hier,  namentlich  bei  den  einleitenden,  sporadischen  Anfällen,  stärkere 
Abweichungen  vor.  Im  Durchschnitte  beträgt  die  Dauer  eines 
einzelnen,  aus  Depression  und  Exaltation  zusammengesetzten  Anfalles 
etwa  1 — 2  Jahre,  doch  giebt  es  auch  Fälle  von  nur  1 — 2  monat- 
lichem und  andererseits  solche  von  mehrjährigem  Typus.  Die  beiden 
Stadien  pflegen  von  annähernd  gleicher  Länge,  das  melancholische 
jedoch  meist  ein  wenig  ausgedehnter  zu  sein. 

Die  discontinuirlichen  Formen  verlaufen  dauernd  in  ein- 
zelnen, durch  längere  Intervalle  von  einander  abgegrenzten  Anfällen. 
Dabei  knüpfen  sich  entweder  je  eine  depressive  und  expansive  Phase 
■eng  aneinander,  oder  die  ganze  Krankheit  löst  sich  in  eine  Reihe 
ganz  selbständiger,  bald  depressiver,  bald  expansiver  Anfälle  auf. 
Die  Färbung  dieser  Anfälle  kann  dabei  regelmässig  wechseln,  oder 
es  können  sich  in  eine  Reihe  gleichartig  gefärbter  Erkrankungen 
nur  vereinzelte  entgegengesetzte  Anfälle  hineinschieben.  Die  Yer- 
schiedenheit  der  Krankheitsbilder  wird  durch  die  Möglichkeit  aller 
dieser  Yarianten,  die  sich  zudem  bei  dem  gleichen  Individuum  all- 
mählich in  einander  umwandeln  können,  eine  so  grosse,  dass  eine 
eingehendere  Schilderung  weder  möglich  noch  nothwendig  erscheint. 
Das  Gemeinsame  ist  überall  der  Wechsel  periodisch  wiederkehrender 
depressiver  oder  manischer  Krankheitszustände. 

Unter  den  klinischen  Formen  der  einzelnen  Phasen 
scheinen  mir  hier  typisch-manische  und  melancholische  Anfälle  gegen- 
über den  schwächer  ausgeprägten  Krankheitszuständen  zu  überwiegen. 


Circuläre  ]<\irnien. 


375 


Die  Dauer  der  jeAveiügen  Anfälle  ist  hier  zumeist  kürzer,  als  bei  der  » 
vorigen  Gruppe,  durchschnittlich  etwa  8—12  Monate.  Wo  die  ein- 
zelnen Phasen  als  selbständige  Anfälle  auftreten,  pflegen  die  Krank- 
heitserscheinungen häufig  schon  nach  4—6  Monaten  zu  schwinden. 
Das  gegenseitige  Yerhältniss  der  beiden  Phasen  ist  ein  sehr  wech- 
selndes. Bisweilen  erhebt  sich  die  Depression  kaum  über  die  Rolle 
eines  „Vorstadiums"  länger  anhaltender  manischer  Erregung,  während 
in  anderen  Fällen  die  expansive  Phase  nur  als  kurze  Episode  in 
einer  dauernden,  zeitweise  sich  steigernden  depressiven  Yerstim- 
mung  erscheint.  Auch  die  einzelnen  Anfälle  bei  demselben  Indi- 
viduum zeigen  sowol  in  ihrer  Dauer,  wie  in  der  Ausbildung  der 
Ki-ankheitserscheinungen  nicht  selten  grosse  Abweichungen  unter- 
einander. Unvollständige,  wenige  Tage  oder  Wochen  dauernde  An- 
fälle können  neben  solchen  von  vielmonatlichem  Yerlaufe  vor- 
kommen; die  mildeste  Hypomanie  kann  beim  nächsten  Male  durch 
eine  schwere  Tobsucht  ersetzt  werden.  Im  Grossen  und  Ganzen 
fi'eilich  lässt  sich  immerhin  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit 
auf  einen  gleichartigen  Yerlauf  der  einzelnen  Erkrankungen  rechnen. 

Der  Beginn  der  Psychose  fällt  hier  so  gut  wie  ausschliesslich 
in  das  zweite,  höchstens  noch  in.  die  erste  Hälfte  des  dritten  Decen- 
niums.  In  der  weit  überwiegenden  Mehrzahl  der  FäUe  ist  der  erste 
AnfaU  ein  depressiver,  nicht  selten  in  der  Form  eines  leichten 
Stupors;  derselbe  geht  dann  entweder  unmittelbar  in  eine  manische 
Phase  über,  oder  diese  letztere  folgt  einige  Jahre  später  als  selbst- 
ständiger Anfall.  Endlich  können  auch  zunächst  mehrfach  nur 
Depressionszustände  auftreten,  bevor  einmal  der  Umschlag  in  die 
manische  Erregung  oder  ein  besonderer  manischer  Anfall  sich  ein- 
stellt. Die  Zwischenzeiten  zwischen  den  einzelnen  Ausbrüchen  der 
Krankheit  betragen  meist  einige  Jahre;  sie  pflegen  sich  bei  längerer 
Dauer  der  Psychose  allmählich  zu  verkürzen.  Sehr  bemerkenswerth 
ist  die  Thatsache,  dass  die  Anfälle  bisweilen  von  der  Mitte  des  3. 
bis  zum  5.  Decennium  erheblich  seltener  werden  oder  ganz  aus- 
setzen, um  dann  von  Neuem  wiederzukehren.  Bei  rascher  Wieder- 
holung der  Anfälle  erscheinen  die  Kranken  auch  in  den  Zwischen- 
zeiten meist  nicht  vollkommen  normal.  Wenn  auch  keine  deutlichen 
Krankheitszeichen  mehr  nachweisbar  sind,  so  ist  doch  eine  gewisse 
Unfreiheit  und  Unselbständigkeit,  gedrücktes,  menschenscheues 
Wesen,  leichte  Ermüdbarkeit  und  Herabsetzung  der  Arbeitskraft 


VT.  Die  periodischen  Geistesstöninj^en. 


vielfach  unverkennbar.  Hier  liegt  der  Uebergang  zu  den  continuir- 
lich  verlaufenden  Formen;  freilich  kann  der  geschilderte  Zustand 
Jahr  und  Tag  vollkommen  stationär  bleiben. 

Die  Ursachen  des  circulären  Irreseins  sind,  wie  diejenigen 
der  periodischen  Psychosen  überhaupt,  wesentlich  constitutionelle. 
Fast  ausnahmslos  findet  sich  schon  erbliche  psychopathische  Yer- 
anlagung,  die  sich  klinisch  öfters  auch  in  allerlei  Eigenthümlich- 
keiten  des  Charakters  kundgiebt,  namentlich  in  Reizbarkeit,  Launen- 
haftigkeit, Haltlosigkeit.  Nicht  selten  findet  sich  bei  den  Kranken 
eine  vortreffliche  intellectuelle  oder  ästhetische  Begabung.  Das 
weibliche  Geschlecht  mit  seiner  grösseren  gemüthlichen  Erregbar- 
keit ist  anscheinend  für  das  circuläre  Irresein  etwas  stärker  dispo- 
nirt,  als  das  männliche.  Unter  den  gegen  60  selbst  beobachteten 
Fällen,  welche  der  vorstehenden  Schilderung  zu  Grunde  liegen, 
stellt  sich  das  Yerhältniss  der  beiden  Geschlechter  etwa  wie  3:2. 

Gerade  die  Entstehung  der  Erkrankung  aus  dem  Innern  der 
Persönlichkeit  heraus  macht  uns  die  Unabhängigkeit  der  einzelnen 
Anfälle  von  äusseren  Anlässen,  die  so  häufig  ganz  erstaunliche 
Uebereinstimmung  derselben  untereinander,  sowie  die  Yorliebe  der 
Psychose  für  gewisse  Lebensalter  vollkommen  erklärlich.  Das 
Klimakterium  und  in  noch  weit  höherem  Grade  das  Entwickelungs- 
alter  sind  eben  diejenigen  Lebensabschnitte,  in  welchen  sich  auch 
unter  normalen  Verhältnissen  gemüthliche  Gleichgewichtsschwank- 
ungen am  leichtesten  entwickeln.  Je  mehr  sich  die  Psychose  dem 
continuirHchen  Verlaufe  nähert,  desto  selbständiger  wird  sie  gegen- 
über äusserer  Beeinflussung,  desto  typischer  wiederholen  sich  alle 
kleinen  Züge  der  einzelnen  Anfälle. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  circulären  Psy- 
chosen mit  den  manischen  Formen  des  periodischen  Irreseins  in 
allernächster  Verwandtschaft  stehen.  Die  periodische  Manie  mit 
depressivem  Vorstadium  ist  von  gewissen  Arten  der  circulären  Er- 
krankung nur  noch  künstlich  zu  trennen.  Das  ist  erklärlich,  wenn 
wir  bedenken,  dass  expansive  und  depressive  Zustände  hier  überall 
nur  für  die  oberflächliche  Betrachtung  Gegensätze  sind.  Der  häufige 
unvermittelte  Uebergang  beider  in  einander  zeigt,  dass  sie  nur  ver- 
schiedene Seiten  eines  und  desselben  krankhaften  Grundzustandes 
darstellen,  der  ebenso  leicht  die  eine  wie  die  andere  Färbung  an- 
nehmen kann.    Schon  in  der  einfachen  Manie  sehen  wir  ja  häufig 


* 

Circiiläve  Formen. 


377 


genug  diesen  plötzlichen  Umschlag  aus  einer  Stimmung  in  die 
andere.  Die  wesentliche  gemeinsame  Eigenthümlichkeit  der  man- 
ischen und  circulären  Formen  des  periodischen  Irreseins  ist  dem- 
nach das  Auftreten  eines  labilen  Gleichgewichtszustandes  auf  ge- 
müthlichem  und  psychomotorischem  Gebiete,  der  in  unregelmässigeni 
oder  regelmässigem  "Wechsel  bald  eine  Erleichterung,  bald  eine  Er- 
schwerung der  hier  sich  abspielenden  psychischen  Vorgänge  zur 
Folge  haben  kann. 

In  welcher  Weise  sich  dabei  gerade  der  Umschlag  nach  dieser 
oder  nach  jener  Seite  vollzieht,  so  dass  im  einzelnen  Falle  die 
typische  Kegelmässigkeit  des  Yerlaufes  entsteht,  ist  freilich  durchaus 
unklar.  "Wir  können  vorerst  nur  darauf  verweisen,  dass  in  unserem 
Nervensysteme  die  Neigung  zu  periodischem  Ablaufe  der  Hem- 
mungs-  und  Erregungsvorgänge  auf  den  verschiedensten  Gebieten 
wiederkehrt.  Meynert  hat  die  Erklärung  für  den  Wechsel  gegen- 
sätzlicher Zustände  in  periodischen  Störungen  der  vasomotorischen 
Innervation  gesucht.  In  Folge  von  gesteigerter  Reizbarkeit  des  Ge- 
fässcentrums  soll  sich  ein  verstärkter  Contractionszustand  im  ge- 
sammten  Arteriengebiete  mit  gleichzeitiger  Hirnanaemie  als  Ursache 
der  depressiven  "Verstimmung  entwickeln.  Gerade  die  so  entstan- 
dene mangelhafte  Ernährung  des  vasomotorischen  Centrums  soll 
dann  weiterhin  eine  Lähmung  desselben,  Erweiterung  der  Gefässe 
und  Hyperaemie  des  Gehirns  herbeiführen,  als  deren  Ausdruck 
der  Symptomencomplex  des  manischen  Stadiums  betrachtet  wird. 
Zweifellos  ist  es,  dass  Veränderungen  im  Verhalten  der  Pulsbilder 
den  beiden  Phasen  des  Anfalles  parallel  gehen;  dagegen  muss  die 
Frage  nach  deren  Deutung  und  pathogenetischem  Werthe  als  eine 
noch  offene  bezeichnet  werden. 

Die  Prognose  des  circulären  Irreseins  muss  im  Allgemeinen 
als  ungünstig  bezeichnet  werden.  Es  giebt  allerdings  eine  kleine 
Zahl  von  Fällen,  in  denen  anscheinend  völlige  Heilung  eintritt, 
namentlich  bei  jugendlichen  Individuen  und  kurzer  Dauer  der  ein- 
zelnen Anfälle.  In  der  Regel  aber  kehrt  die  Krankheit  immer 
wieder  und  zeigt  dabei  nicht  selten  die  Neigung,  sich  mehr  der 
continuirlichen  Verlaufsart  zu  nähern.  Diese  letztere  Form  dürfte 
die  prognostisch  ungünstigste  sein.  Trotzdem  pflegt  die  Intelligenz 
der  Kranken  auch  bei  langer  Dauer  des  Leidens  nur  wenig  oder 
gar  nicht  zu  leiden,  wenn  die  Anftälle  in  milderen  Formen  verlaufen. 


378 


VI  Die  periodischou  Geistesstörungen. 


Schwere,  langdauernde  Erkrankungen  indessen,  besonders  manische, 
bleiben  nicht  ohne  schädigenden  Einfluss  auf  das  gesammte  Seelen- 
leben. Solche  Kranke  sind  während  der  Remissionen  zwar  besonnen, 
orientirt,  behalten  ein  leidliches  Gedächtniss,  aber  sie  werden  schliess- 
lich daiiernd  zerfahren,  reizbar,  ungemein  schwankend  in  ihrer 
Stimmung,  leicht  von  einem  Extrem  ins  andere  fallend,  oder  stumpf, 
gleichgültig  und  willenlos.  Eegelmässig  handelt  es  sich  dabei  um 
Individuen,  bei  denen  die  Krankheit  in  der  Entwicklungszeit  be- 
gonnen hat,  während  die  klimakterischen  Formen  leichter  zu  ver- 
laufen scheinen.  Bisweilen  soll  im  höheren  Lebensalter  die  Inten- 
sität, Dauer  und  Häufigkeit  der  AnfäUe  abnehmen;  ich  selbst  habe 
das  bisher  nicht  beobachtet. 

Die  Diagnose  einer  circulären  Psychose  bietet  keine  Schwierig- 
keiten, sobald  bereits  ein  längerer  Krankheitsverlauf  vorliegt.  Im 
Beginne  des  Leidens  wird  man  oft  unsicher  sein,  doch  hat  man  ein 
Eecht,  kurzdauernde,  leichte  Depressionszustände  im  Entwickelungs- 
alter  als  äusserst  verdächtig  zu  betrachten,  namentlich,  wenn  sie 
sich  ohne  äusseren  Anlass  entwickeln,  und  noch  mehr,  wenn  ihnen 
eine  Periode  auffallend  gehobener  Stimmung  nachfolgt.  Manische 
Erregungen  in  diesem  Alter  gehören  häufiger  einer  periodischen 
Manie,  als  dem  circulären  Irresein  au.  Im  späteren  Lebensalter 
wird  der  circuläre  Verlauf  des  Leidens  vielfach  aus  der  Gering- 
fügigkeit der  klinischen  Erscheinungen  erschlossen  werden  können, 
doch  gestattet  die  einzelne  Phase  nicht  mit  Sicherheit  die  Ab- 
grenzung von  einer  anderen  periodischen  Psychose..  Die  progres- 
siven Pormen  des  Wahnsinns  können  ein  circuläres  Irresein  vor- 
täuschen. Ausser  dem  höheren  Lebensalter  der  Kranken  kommt 
das  starke  Hervortreten  der  Sinnestäuschungen  und  Wahnideen  und 
namentlich  die  Fortdauer  dieser  Störungen  bei  nur  sehr  mässiger 
manischer  Erregung  in  Betracht.  Hinsichtlich  der  Abgrenzung  von 
der  Paralyse,  die  ebenfalls  gelegentlich  dem  circuläi-en  Irresein 
ähnelt,  gelten  die  schon  bei  der  periodischen  Manie  besprochenen 
Grundsätze.  In  allen  den  letztgenannten  Fällen  wird  übrigens  die 
Beobachtung  des  weiteren  Yerlaufes  ziemlich  bald  volle  Klarheit 
bringen. 

Die  Aufgaben  der  Behandlung  sind  im  Wesentlichen  sym- 
ptomatische und  werden  somit  durch  die  Art  der  einzelnen  Krankheits- 
bilder bestimmt.  Zur  Bekämpfung  der  Anfälle  hat  man  Bromkalium, 


Depressive  Formen. 


379 


Opium  und  Morphium  in  systematischer  Anwendung  empfohlen,  doch 
thut  man  gut,  nicht  allzu  sanguinische  Hoffnungen  an  den  Gebrauch 
dieser  Mittel  zu  knüpfen.  Dick  sah  bei  Durchführung  der  Bettruhe 
während  der  Depression  das  expansive  Stadium  weniger  stürmisch 
sich  gestalten.  Dass  schon  der  Anstaltsaufenthalt  wegen  des  Schutzes 
und  der  Pflege,  die  er  gewährt,  ebenfalls  sehr  viel  zum  milderen 
Verlaufe  der  Erkrankung  beitragen  kann,  hatte  ich  wiederholt  deut- 
lich zu  erfahren  Gelegenheit. 

D.  Depressive  Formen. 

Die  letzte  grosse  Gruppe  der  periodischen  Psychosen  ist  ge- 
kennzeichnet durch  die  häufigere  Wiederkehr  mehr  oder 
weniger  typisch  ausgebildeter  Depressionszustände.  Auch 
hier  empfiehlt  es  sich,  an  der  Hand  der  klinischen  Erfahrung  der 
Uebersichtlichkeit  halber  mehrere  eigenartig  entwickelte  Krankheits- 
bilder auseinander  zu  halten. 

Zunächst  begegnen  uns  Beobachtungen,  bei  denen  die  einzelnen 
Anfälle  in  allen  Stücken  leichten,  einfachen  melancholischen 
Erkrankungen  entsprechen.  Die  Kranken  werden  verstimmt, 
niedergeschlagen,  fühlen  sich  beunruhigt,  unfähig  zu  arbeiten,  ver- 
lieren den  Appetit  und  können  nicht  mehr-  schlafen.  Selbstvorwürfe 
und  Yersündigungsideen,  meist  sehr  unbestimmten  Inhaltes,  treten 
auf.  Der  Kranke  hätte  sein  Leben  anders  einrichten,  nicht  in  die 
Anstalt  kommen,  sich  mehr  zusammennehmen  sollen.  Er  ist  schwer 
krank,  schlimmer  daran,  als  alle  Anderen,  kann  nie  wieder  gesund 
werden;  es  ist  vorbei  mit  ihm  für  immer.  Am  Leben,  an  der  Ar- 
beit, an  der  Familie  hat  er  keine  Freude  mehr;  es  wäre  besser  für 
ihn  und  seine  Umgebung,  wenn  er  fort  wäre  von  der  Welt.  Trotz- 
dem kommt  es  verhältnissmässig  selten  zu  energischeren  Selbstmord- 
versuchen, weil  der  Affect  nicht  sehr  heftig  zu  sein  pflegt  und  der 
Kranke  Besonnenheit  und  meist  auch  Selbstbeherrschung  genug  be- 
sitzt, die  sich  ihm  aufdrängenden  krankhaften  Antriebe  zu  bekämpfen. 
Kegelmässig  besteht  ein  ausgeprägtes  Krankheitsgefühl;  der  Kranke 
kommt  daher  nicht  selten  fi-eiwillig  in  die  Anstalt,  wenn  er  nicht 
von  vorn  herein  Alles  für  nutzlos  hält.  An  dieser  Ansicht  vermag 
auch  der  Hinweis  auf  frühere,  glücklich  verlaufene  Anfälle  nichts 
zu  ändern;  damals  war  Alles  ganz  anders,  damals  war  nocli  die 
Möglichkeit  einer  Wiederherstellung,  jetzt  nicht  mehr. 


380 


VI.  Die  periodischen  Geistesstörungen. 


In  seinem  Benehmen  ist  der  Kranke  meist  völlig  correct,  ver- 
mag sich  Fremden  gegenüber  sehr  zu  beherrschen,  sich  zu  unter- 
halten, lässt  sich  durch  äussere  Anregungen  vorübergehend  ablenken; 
sobald  er  aber  sich  selbst  überlassen  ist,  findet  er  keine  Ruhe, 
wandert  stundenlang  planlos  herum,  raucht  übermässig,  beschäftigt 
sich  nicht,  und  kann  sich  nicht  dazu  entschliessen,  die  einfachsten 
Angelegenheiten  zu  erledigen.  Der  Schlaf  ist  immer  sehr  mangelhaft, 
der  Appetit  massig,  die  Verdauung  träge;  das  Körpergewicht  sinkt. 

Die  Dauer  dieses  Zustandes  beträgt  in  der  Regel  einige  Monate; 
dann  stellt  sich  eine  langsame  Besserung  ein.  Nicht  selten  kündigt 
sich  diese  Aenderung  des  Krankheitsbildes  durch  die  Umwandlung 
der  früheren  Depression  in  eine  mehr  gereizte,  unzufriedene,  nörgelnde 
Stimmung  an,  die  sich  in  Magen  über  die  Anstalt,  das  Essen,  das 
Personal,  in  kleinen  Scenen  und  einsichtslosem  Fortdrängen  Luft 
schafft.  Nach  einer  durchschnittlichen  Gesammtdauer  von  4  bis 
6  Monaten  kommt  es  schliesslich  unter  vielfachen  Schwankungen  zu 
vollständiger  Heilung.  Freilich  bleibt  auch  an  dem  Genesenen  häufig 
eine  gewisse  Unentschlossenheit  und  "Willenlosigkeit  deutlich  be- 
merkbar. Die  Krankheit  beginnt  meist  im  fünften  Lebensdecennium, 
selten  schon  etwas  früher,  wenn  auch  die  Andeutungen  einer  ge- 
ringen psychischen  "Widerstandsfähigkeit  vielleicht  bereits  in  der 
Jugend  vorhanden  waren.  Die  Zwischenzeiten  zwischen  den  Anfällen 
betragen  gewöhnlich  einige,  bisweilen  selbst  6—8  Jahre;  die  ein- 
zelnen Anfälle  pflegen  einander  sehr  ähnlich  zu  sein. 

Durch  die  Schwere  der  Erscheinungen  hebt  sich  von  dieser 
Form  eine  weitere  ab,  in  welcher  die  periodische  Erkrankung  das 
Bild  eines  depressiven  Wahnsinns  annimmt.  Der  Anfall  ent- 
wickelt sich  meist  ziemlich  rasch.  Es  treten  schwere  Yersündigungs- 
und  Kleinheitsideen  auf.  Der  Kranke  ist  von  Allen  verachtet  und 
verspottet,  unfähig,  nichts  nütze  mehr  auf  der  Welt,  kann  nichts 
mehr  bezahlen,  wird  schimpflich  aus  seiner  Stellung  gejagt.  Sehr 
häufig  gesellen  sich  abenteuerliche  hypochondrische  Vorstellungen 
dazu.  Das  Herz  schlägt  nicht  mehr,  ist  nur  ein  todtes  Stück  Fleisch. 
Magen  und  Darm  sind  verschwunden,  das  Blut  eingetrocknet,  die 
Thränen  versiegt,  der  Leib  verfault,  abgestorben;  überall  zeigen  sich 
die  verheerenden  Folgen  der  Syphihs.  Der  Kranke  möchte  sterben, 
weg  von  der  Welt,  aber  das  ist  unmöglich.  Man  kann  ihn  mit  der 
Axt  vor  den  Kopf  schlagen,  ihm  die  Brust  aufschneiden,  ihn  ins 


Dein-essive  Formen. 


381 


Feuer  werfen  —  er  wird  trotzdem  am  Leben  bleiben.  Bisweilen 
werden  ganz  vereinzelte  Sinnestäuschungen  beobachtet. 

Die  Stimmung  ist  meist  weinerlich,  gedrückt,  seltener  ängst- 
lich erregt.  Vielfach  fällt  ein  gewisses  Missverhältniss  zwischen  dem 
Inhalte  der  Wahnideen  und  der  Geringfügigkeit  des  Affectes  auf. 
Solche  Kranke  pflegen  bei  völliger  Besonnenheit  ihre  ungeheuer- 
lichen Yorstellungen  in  stereotyper  Weise  ziemlich  gleichmüthig  zu 
wiederholen,  ohne  sich  durch  die  handgreiflichsten  Widersprüche 
beirren  zu  lassen,  während  sie  die  Personen  ihrer  Umgebung  bis- 
weilen ganz  scharf  kritisiren,  sich  selbst  über  sie  in  treffenden  Be- 
merkungen lustig  machen.  Andere  dagegen  gehen  sehr  wenig  aus 
sich  heraus,  schliessen  sich  ganz  ab,  sprechen  nur  nothgedrungen 
und  über  gleichgültige  Dinge,  um  erst  in  der  Eeconvalescenz  über 
die  unsinnigen  Ideen  zu  berichten,  von  denen  sie  beherrscht  waren. 
Hier  bestehen  meist  starke  psychische  Hemmungen,  die  sich  zeitweise 
selbst  bis  zu  leichten. Stuporzuständen  steigern  können.  Selbstmord- 
neigung ist  nicht  selten;  auch  hartnäckige  Nahrungsverweigerung 
wird  häufiger  beobachtet,  beides  namentlich  in  den  zuletzt  er- 
wähnten Fällen.  Die  körperlichen  Erscheinungen  sind  die  gewöhn- 
lichen des  depressiven  Wahnsinns. 

Die  Entwickelung  der  Krankheit  pflegt  sich  im  vierten  oder 
fünften  Lebensdecennium  anzubahnen.  Der  einzelne  Anfall  dauert 
etwa  8 — 10  Monate,  bisweilen  auch  länger.  Die  Zwischenzeiten 
betragen  meist  einige  Jahre.  Die  späteren  Anfälle  sind  häufig 
schwerer,  als  die  früheren. 

Wir  haben  endlich  noch  einer  letzten  Gruppe  von  Fällen  zu 
gedenken,  bei  welcher  das  Krankheitsbild  nur  eine  einfache  innere 
Beunruhigung  ohne  die  eigentlichen  melancholischen  Sym- 
ptome darbietet.  Die  Psychose  beginnt  häufig  ziemlich  plötzlich,  etwa 
im  Anschlüsse  an  eine  heftige  Gemüthsbewegung,  einen  Schreck 
einen  Unglücksfall.  Bei  dem  Krauken  steUt  sich  mit  einem  Male 
das  Gefühl  des  Druckes  und  der  Beklemmung  in  der  Herzgegend 
oder  im  Praecordium  ein.  Zusammenschnüren  im  Halse,  dumpfe 
Beengung  im  Kopfe  ohne  eigentlichen  Schmerz.  Er  wird  ti'aurig, 
verstimmt,  kleinmüthig,  hat  an  nichts  mehr  Freude,  fühlt  sich  unfrei 
imd  gebunden,  weil  die  Herzensangst  jede  andere  gemüthliche 
Kegung  in  seinem  Innern  unterdrückt.  Die  Besonnenheit  ist  dabei 
vollständig  erhalten;  der  Kranke  hat  ein  gahz  klares  Yerständniss 


382 


VI.  Die  periodischon  Geistesstörungen. 


für  seinen  Zustand  und  sucht  im  Gefühle  seiner  Hülfsbedürftigkeit 
meist  selbst  den  Arzt  oder  die  Anstalt  auf.  Bs  bestehen  keinerlei 
Versündigungsideen  oder  Selbstvorwürfe.  Zwar  steigen  in  ihm  auch 
„böse  Gedanken"  auf  ,  aber  dieselben  beziehen  sich  nicht  auf  die 
Vergangenheit,  sondern  es  sind  religiöse  Zweifel,  trübe  Befürchtungen 
für  die  Zukunft  und  namentlich  der  zwangsmässig  wiederkehrende 
Antrieb,  dem  trostlosen  Leben  ein  Ende  zu  machen.  Auch  hier  in- 
dessen kommt  es  nur  selten  zu  wirklich  ernsthaften  Selbstmord- 
versuchen. Bisweilen  bitten  die  Kranken  selbst  um  Ueberwachung, 
wenn  sie  sich  nicht  mehr  genügende  Widerstandsfähigkeit  zutrauen. 
Sie  sind  dauernd  ruhig;  nur  hie  und  da  findet  man  sie  am 
ganzen  Leibe  zitternd  und  lebhaft  klagend  über  die  innere  Angst, 
die  sie  nicht  mehr  zu  unterdrücken  vermögen.  Sie  geben  über  ihre 
Zustände  jederzeit  bereitwillig  und  zusammenhängend  Auskunft;  zu 
einer  anhaltenden  Beschäftigung  sind  sie  nicht  fähig,  da  die  Angst 
sie  ganz  in  Anspruch  nimmt.  Energielos  und  verzagt  gehen  sie 
jeder  Anstrengung  oder  Erregung  aus  dem  Wege;  das  Einzige,  was 
sie  suchen,  ist  Euhe. 

Der  Schlaf  dieser  Kranken  ist  meist  recht  gestört;  dagegen 
pflegt  der  Appetit  leidlich  zu  sein,  wenn  sie  auch  „keinen  rechten 
Genuss"  vom  Essen  haben.  Das  Körpergewicht  sinkt  langsam; 
die  Verdauung  ist  träge. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  ist  meist  ein  sehr  schleppender. 
Der  Zustand  zeigt  ganz  unregelmässige  Schwankungen,  bleibt  aber 
innerhalb  gewisser  Grenzen  ausserordentlich  einförmig.  Die  Dauer 
kann  eine  sehr  lange  sein,  sich  selbst  über  eine  Keihe  von  Jahren  er- 
strecken. Der  erste  Anfall  pflegt  auch  hier  in  höherem  Lebensalter 
aufzutreten.  Jedenfalls  erhält  die  Krankheit  erst  im  fünften  Lebens- 
jahrzehnt ihre  volle  Ausbildung;  höchstens  sind  einzelne  rudimentäre 
Anfälle  vorausgeigangen.  Die  Zwischenzeiten  zwischen  den  Anfällen 
betragen  Anfangs  eine  Reihe  von  Jahren,  können  sich  späterhin 
immer  mehr  verkürzen.  Ueberhaupt  hat  die  Krankheit  eine  grosse 
Neigung  zu  einer  Art  Versumpfung,  insofern  die  Eemissionen  nach 
und  nach  unvollständiger  werden  und  schliesslich  eigenthch  ein 
continuirlicher  Verlauf  mit  periodischen  Verschlechterungen  und 
Besserungen  sich  herausbildet. 

Die  periodischen  Depressionszustände  gehen  ohne  scharfe  Grenze 
in  die  einfachen  Krankheitsbilder  über,  denen  sie  entsprechen.  Wir 


Depressive  Formen. 


388 


haben  ja  schon  früher  darauf  hingewiesen,  dass  auch  bei  diesen 
letzteren  ungemein  häufig  die  Neigung  zu  einer  "Wiederkehr  der 
gleichen  Erkrankung  beobachtet  wird.  Die  periodischen,  wie  die 
einfachen  Formen,  nehmen  ihren  Ursprung  besonders  gern  in  dem 
Lebensalter  der  beginnenden  Involution  oder  erleiden  wenigstens 
dann  eine  Yerschlimmerung,  wenn  sie  schon  einige  Zeit  früher  auf- 
getreten sind.  Gleichwol  müssen  sie  als  durchaus  constitutionelle 
Erkrankungen  aufgefasst  werden.  Erbliche  Belastung  spielt  daher 
eine  wichtige  Eolle  in  ihrer  Aetiologie,  besonders  bei  der  letzten 
Gruppe ;  ausserdem  dürfte  aber  auch  die  erworbene  Disposition  viel- 
fach wesentlich  mit  in  Betracht  kommen. 

Die  Erkennung  eines  periodischen  Dej)ressionszustandes  ist 
unter  Umständen  recht  schwierig.  Namentlich  die  zweite  Form 
kann  beim  männlichen  Geschlechte  bisweilen  . erst  dann  sicher  von' 
der  Paralyse  abgegrenzt  werden,  wenn  mit  dem  Zurückfreten  der 
Kjankheitszeichen  keinerlei  Andeutungen  psychischer  Schwäche  oder 
organischer  Erkrankung  sich  nachweisen  lassen.  Bei  späteren  An- 
fällen ist  die  Diagnose  natürlich  leichter.  Die  erste  und  mehr  noch 
die  letzte  mehr  chronisch  verlaufende  Form  kann  mit  einfach  neur- 
asthenischen  Zuständen  verwechselt  werden.  Davor  schützt  der  Mangel 
jeder  ausreichenden  Erkrankungsursache,  die  ausserordentliche  Ein- 
förmigkeit des  Krankheitsbildes  und  die  Unzugänglichkeit  gegenüber 
jenen  therapeutischen  Massnahmen^  welche  bei  der  Neurasthenie  regel- 
mässig rasche  Besserung  bringen.  Mit  gewissen  Formen  der  con- 
stitutionellen  Neurasthenie  ist  die  hier  geschilderte  Erkrankung  nahe 
verwandt;  sie  unterscheidet  sich  von  jenen  nur  durch  das  späte  Auf- 
freten  und  die  Regelmässigkeit  der  Schwankungen  im  Zustande.  Die 
Diagnose  der  Periodicität  kann  sich  hier  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit 
auf  die  Geringfrigigkeit  der  Krankheitserscheinungen  stützen. 

Die  Behandlung  der  periodischen  Depressionszustände  er- 
fordert für  die  zweite  Gruppe  von  Fällen  unter  allen  Umständen, 
für  die  anderen  Formen  wenigstens  dann  unbedingt  die  Verbringung 
des  Kranken  in  die  Anstalt,  wenn  irgendwie  Selbstmordneigung  sich 
bemerkbar  macht.  Im  Uebrigen  gelten  die  gleichen  Grundsätze  wie 
bei  der  Behandlung  der  entsprechenden  einfachen  Psychosen.  Man 
wappne  sich  iiamentlich  bei  der  zuletzt  geschilderten  Form  mit  grosser 
Geduld.  Versuchsweise  Entlassung  ist  hier  weit  eher  einmal  am 
Platze,  als  bei  nicht  periodischen  Formen. 


YII.  Die  YeiTücktlieit  (Paranoia)..*) 

Als  Yerrncktlieit  bezeichnen  wir  die  chronische  Entwickel- 
iing  eines  dauernden  Wahnsystems  bei  vollkommener 
.Erhaltung  der  Besonnenheit.  Die  Störung  liegt  hier  wesent- 
lich auf  dem  Gebiete  der  intellectuellen  Yorgänge,  in  einer  krank- 
haften Auffassung  und  Verarbeitung  der  äusseren  und  inneren  Er- 
fahrung. Sie  führt  mit  Nothwendigkeit  zu  einer  tiefgreifenden  Um- 
wandlung der  gesammten  Lebensanschauung,  zu  einer  „Verrückung" 
des  Ständpunktes,  welchen  der  Kranke  gegenüber  den  Personen  und 
Ereignissen  sßiner  Umgebung  einnimmt. 

Nach  der  früher  von  Griesinger  vertretenen  Anschauung  war 
die  Verrücktheit  stets  das  secundäre  Stadium  einer  voraufgegangenen 
affectiven  Geistesstörung;  erst  die  Untersuchungen  von  Snell, 
Westphal,  Sander  haben  dazu  geführt,  dass  man  eine  „primäre" 
Verrücktheit  als  besondere  llrankheitsform  allgemein  anerkannte, 
indessen  diese  Kategorie  schliesst,  selbst  Avenn  man  die  von  uns 
dem  "Wahnsinn  zugetheilten  Störungen  abrechnet,  noch  eine  grosse 
Anzahl  verschiedener  Krankheitsbilder  in  sich.  Schüle  hat  von 
denselben  nur  eine  einzige  als  „originäre"  Verrücktheit  beibehalten 
und  aUe  übrigen  als  „chronischen  Wahnsinn"  (Paranoia)  beschrieben. 
Mir  scheint  jedoch  jener  chronische  Wahnsinn  mit  der  „originären" 
Verrücktheit  in  innigerer  Verwandtschaft  zu  stehen,  als  mit  den 
Krankheitsbildern,  welche  oben  unter  der  Bezeichnung  Wahnsinn 


*)  Snell,  Allgem.  Zeitsclirift  für  Psychiatrie  XXIT,  p.  .368;  ariesiiiger, 
Archiv  für  Psychiatrie  I,  p.  148;  Sander,  ibid.  p.  387;  Westphal,  Aligeni. 
Zeitschrift  für  Psychiatrie  XXXIV,  p.  252;  Mercklin,  Studien  über  primäre  Ver- 
rücktheit. 1879;  Araadei  e  Tonuini,  Archivio  italiano  per  le  malattie  nervöse, 
1884,  1,  2;  Werner,  Die  Paranoia,  1891. 


Defiuition  der  Ki-anlclieit. 


385 


beschrieben  worden  sind.  Füi-  verfehlt  halte  ich  die  von  West- 
phal  empfohlene  und  noch  vielfach  festgehaltene  Aufstellung  einer 
„acuten"  Verrücktheit,  weil  durch  diese  Ausdehnung  der  Bezeich- 
nung eine  wesentliche  Eigen thümlichkeit  der  Verrücktheit,  der 
chronische,  constitutionelle  Charakter  derselben,  verwischt 
und  so  eine  Anzahl  durchaus  von  einander  abweichender  Krank- 
heitsformen in  dieselbe  classificatorische  Einheit  hineingezwängt 
wii'd. 

Die  genauere  Zeichnung  der  einzelnen  Krankheitsbilder,  welche 
wir  nach  dieser  allgemeinen  Begriffsbestimmung  noch  in  dem  Ge- 
biete der  Verrücktheit  vorfinden,  ist  zur  Zeit  eine  undankbare  Auf- 
gabe, da  einerseits  der  Formenreichthum  und  das  Vorkommen  zahl- 
reicher  Uebergänge,  andererseits  aber  der  Mangel  eines  zuverlässigen 
Eintheilungsprincipes  den  klaren  Ueberblick  über  den  Stoff  und  die 
zutreffende  Gruppirung  der  einzelnen  klinischen  Symptomencomplexe 
ausserordentlich  erschwert.  Dazu  kommt,  dass  bei  dem  ungemein 
chronischen  Verlaufe  der  Psychose  die  Zahl  wissenschaftlich  ver- 
werthbarer  Beobachtungen,  welche  die  ganze  Entwicklung 
derselben  vom  ersten  bis  zum  letzten  Stadium  umfassen,  un- 
verhältnissmässig  gering  ist.  Drei  Gesichtspunkte  sind  es  haupt- 
sächlich, welche  sich  für  die  Gruppirung  der  einzelnen  Krankheits- 
büder  hier  verwerthen  lassen,  einmal  die  Ursachen  und  der  Ver- 
lauf der  Krankheit,  dann  die  Entstehungsweise  der  "Wahn- 
ideen, sowie  endlich  ihr  Inhalt  und  ihre  Färbung.  Um  das 
erste  dieser  Eintheilungsprincipien  allgemein  mit  Erfolg  in  An- 
wendung bringen  zu  können,  fehlt  es  bis  jetzt  noch  durchaus  an 
einer  allseitigen  Kenntniss  der  verschiedenartigen  klinischen  Ent- 
wicklung, wenn  wir  auch  einzelne  durch  ihre  Aetiologie  oder  ihren 
Verlauf  ausgezeichnete  Formen  (originäre  Verrücktheit,  Verfolgungs- 
wahn der  Trinker)  schon  jetzt  unterscheiden  können. 

"Weit  besser  scheint  sich  zunächst  die  Entstehungsweise  der 
Wahnideen  für  die  Gruppirung  der  Krankheitsbilder  zu  eignen. 
Entweder  nämlich  sind  es  Sinnestäuschungen,  aus  denen  dieselben 
hervorgehen;  ferner  kann  es  sich  um  wahnhafte  Combinationen  aus 
wirklichen  "Wahrnehmungen  handeln,  oder  endlich  die  krankhaften 
Ideen  treten  als  rein  phantastische  Erfindungen  (Primordialdelirien) 
ins  Bewusstsein.  Indessen,  so  verschieden  diese  Entstehungsarten 
der  Wahnideen  auf  den  ersten  Bück  zu  sein  scheinen,  so  lehrt 

Kraepelin,  Psychiatrie.   4.  Aufl.  2Ö 


886 


Vn.  Die  Yerriicktheit. 


doch  eine  genauere  Betrachtung,  dass  die  Differenz  in  Wirklichkeit 
eine  verhältnissmässig  geringe  ist.  Abgesehen  davon,  dass  im  ge- 
gebenen Falle  sehr  häufig  die  einzelnen  Erscheinungen  sich  mit  ein- 
ander verbinden,  ist  es  ja  unzweifelhaft,  dass  sie  alle  schliesslich 
ihren  gemeinsamen  Ursprung  aus  der  allgemeinen  Richtung  des 
Denkens  und  Fühlens  nehmen.  Das  Gefühl  der  Verzagtheit,  des 
Misstrauens  gegen  die  Umgebung  geht  ebenso  regelmässig  der  Ent- 
wicklung des  Verfolgungswahnes  auf  hallucinatorischer  oder  combi- 
natorischer  Grundlage  voraus,  wie  das  Bewusstsein  einer  besonderen 
Leistungsfähigkeit  und  Tüchtigkeit  dem  Auftauchen  der  Grössen- 
idee  oder  der  göttlichen  Berufung  zum  auserlesenen  Werkzeuge  des 
Himmels. 

Wenn  demnach  das  Ueberwiegen  des  einen  oder  anderen  Vor- 
ganges höchstens  gewisse  Schlüsse  auf  Verschiedenheiten  des  je- 
weiligen psychischen  Gesammtzustandes  gestattet,  so  ist  die  differente 
Entstehungsart  der  Wahnideen  nur  in  beschränktem  Masse  zur  Ab- 
grenzung verschiedener  Formen  der  Verrücktheit  verwerthbar.  That- 
sächüch  hat  man  daher  bis  jetzt  fast  immer  den  Inhalt  und  die 
Färbung  des  Wahnsystems  in  erster  Linie  als  Eintheilungsgrund 
berücksichtigt.  Freilich  lehrt  die  Erfahrung,  dass  die  buntesten 
Mischungen  anscheinend  ganz  entgegengesetzter  Elemente,  des 
Grössen-  und  Verfolgungswahnes,  expansiver  und  depressiver  Stim- 
mungen thatsächlich  ungemein  häufig  zur  Beobachtung  kommen, 
dass  also  eine  einheitliche  Gruppirang  der  Formen  auch  auf  jenem 
Wege  nicht  möglich  erscheint.  Ich  sehe  mich  zur  Zeit  ausser 
Stande,  diese  Schwierigkeiten  in  befriedigender  Weise  zu  lösen,  und 
werde  daher  im  Grossen  und  Ganzen  der  gebräuchlichen  Eintheilung 
in  depressive  und  expansive  Formen  je  nach  der  am  stärksten  her- 
vorstechenden Stimmung  folgen,  um  mich  bei  der  Definition  der 
einzelnen  Krankheitsbilder  weiterhin  dui'ch  die  übrigen  oben  auf- 
geführten khnischen  Gesichtspunkte  leiten  zu  lassen. 


A.  Depressive  Formen. 

Der  haUuclnatorische  Verfolgungswaliii.  Den  Grundzug  des 
hallueinatorischen  Verfolgungswahns  bildet  die  Entstehung  syste- 
matisirter  Beeinträchtigungsideen  in  Folge  von  andauern- 
den, im  Ganzen  einförmigen  Sinnestäuschungen.  Die  Eutwick- 


Hallucinatorischer  Verfolgungswalin. 


387 


lung  der  Krankheit  beginnt  zumeist  mit  einer  allmählich  sich  ein- 
stellenden reizbaren  Verstimmung,  welche  den  Kranken  argwöhnisch 
und  missti-auiscli  gegen  seine  Umgebung  macht,  imd  ihn  nicht  selten 
dazu  führt,  sich  mehr  oder  weniger  von  den  Menschen  abzuschliessen. 
Widrige  Lebensschicksale,  Enttäuschungen,  sociale  Isolirimg,  der 
Kampf  mit  Noth  und  Entbehrung  sind  es  bisweilen,  welche  dieser 
Charakterveränderung  den  Weg  bahnen,  zum  Theil  auch  umgekehrt 
durch  sie  bedingt  werden.  Nach  diesem  Vorstadium  entwickeln 
sich,  in  der  Regel  ganz  allmählich  und  schleichend,  Gehörstäusch- 
ungen feindseligen  Inhalts.  Zuerst  häufig  in  der  Nacht  oder  Abends, 
dann  aber  auch  bei  Tage,  in  der  monotonen  Abgeschiedenheit  der 
Behausung  oder  auf  der  Strasse,  hört  der  Kranke  einzelne  ab- 
gerissene Schimpfworte,  später  auch  längere  Sätze  und  Eeden, 
welche  mit  einem  Male  den  verschwiegenen  Inhalt  lange  gehegter 
Befürchtungen  zur  schrecklichen  Gewissheit  werden  lassen.  Er  hört, 
dass  man  ihn  schmäht,  mit  Vorwürfen  überhäuft,  anklagt,  bedroht. 
„Der  hat  gestohlen,  seinen  Meister  verschwätzt,  muss  per  Schub  heim, 
wird  hingerichtet;  die  Haussuchung  wird's  erweisen,  da  wird  die 
Frau  schön  gucken;  dir  wird's  gemacht,  du  bist  ein  Lausbub."  Bei 
weiblichen  Kranken  ist  es  namentlich  die  Geschlechtsehre,  gegen 
welche  sich  die  „Verfolgung"  richtet;  „die  hat  vier  Kinder,  ist  ein 
Mensch,  eine  Hure,  schwanger,  angesteckt,  radical  caput  gemacht, 
hat  ihr  Kind  umgebracht." 

Durch  diese  und  ähnliche  Trugwahmehmungen  wird  es  dem 
Kranken  klar,  dass  Etwas  gegen  ihn  im  Werke  ist,  dass  man  ihn 
verleumdet  hat  und  zu  verderben,  womöglich  aus  der  Welt  zu 
schaffen  sucht;  offenbar  haben  sich  die  Personen  seiner  Umgebung, 
zunächst  wol  die  Mitbewohner  des  Hauses,  zu  einem  Complott 
gegen  ihn  verbunden.  Aber  noch  mehr,  auch  weitere  Kreise  müssen 
mit  in  das  feindselige  Geheimniss  hineingezogen  sein,  da  auf  der 
Strasse  und  überall,  wohin  er  sich  begiebt,  einzelne  höhnende 
Aeusserungen  an  sein  Ohr  dringen,  welche  ihn  immer  von  Neuem 
mit  Aufregung  und  banger  Furcht  erfüllen.  In  der  Regel  sind  diese 
Täuschungen  so  deutlich,  dass  der  Kianke  sie  wörtlich  wiedergeben 
kann  und  sie  als  gewöhnliche  Srnneswahmehmungen  betrachtet,  so- 
gar genau  die  Stimmen  zu  erkennen  vermag.  Bisweilen  jedoch  ist 
es  ein  leises  Flüstern  und  Wispern,  „Telephoniren",  dessen  Inhalt 
nur  ganz  im  Allgemeinen  aufgefasst  wird.    Oefters  beobachtet  man 

25* 


388 


VII.  Die  Verrücktheit. 


hallucinatorisches  Mitklingen  der  Gedanken,  besonders  beim  Lesen. 
Die  Stimmen  klappen  dabei  nach,  oder  sie  eilen  auch  wol  voraus: 
„ich  kann  schneller  lesen,  wie  du!" 

Dazu  kommt,  dass  der  Kranke  gewöhnlich  auch  ausser  den  Gehörs- 
täuschungen noch  allerlei  Wahrnehmungen  macht,  die  ihn  in  seinem 
schrecklichen  Yerdachte  bestärken.  Das  Essen  zeigt  bisweilen  einen 
sonderbaren  Geschmack  oder  Geruch  „nach  todten  Menschen";  im 
Kaffee  ist  Urin  oder  Phosphor,  Ricinusöl  in  der  Bouillon.  Er  spürt 
nach  der  Mahlzeit  Bauchweh,  Aufgetriebensein,  Jucken  am  ganzen 
Körper.  Nachts  ist  ein  schwefelartiger  Dampf  im  Zimmer;  die  Bettstelle 
erscheint  heiss,  wie  wenn  elektrisirt  würde;  er  empfindet  Geräusche 
im  Kopf,  wie  von  einem  Uhrwerk,  einem  Mühlrad.  Schmerzen  bei 
der  Menstruation  deuten  auf  Entjungferung  in  Chloroformnarkose 
hin.  Einzelne  Sachen  verschwinden  auf  geheimnissvolle  Weise  oder 
finden  sich  verschoben,  an  andere  Stellen  gelegt;  die  Kleider  weisen 
unerklärliche  Löcher,  Flecken,  Abnutzungszeichen  auf;  das  Gesicht 
erscheint  im  Spiegel  verzerrt,  gedunsen,  die  Personen  oder  Gegen- 
stände der  Umgebung  zeitweise  ganz  auffallend  verändert.  Auch 
das  ganze  Benehmen  der  Hausgenossen,  die  spöttischen  Mienen  der 
Yorübergehenden,  ihre  bezeichnenden  Blicke  und  Geberden,  Be- 
merkungen in  Zeitungen  und  Briefen,  bedeutsame  Träume  oder 
sonstige  ganz  gleichgültige  Ereignisse  werden  von  ihm  im  Sinne 
seiner  immer  bestimmtere  Gestalt  gewinnenden  Verfolgungsideen 
verwerthet.  Es  wird  Sympathie  angewendet;  Alles  ist  wie  um- 
gewechselt; es  ist  ein  „nächüich-religiöser,  geheimer,  meuchelmörder- 
ischer Staatsbürgerkrieg." 

Vergebens  versucht  der  Kranke,  diesen  heimtückischen  An- 
feindungen, in  welche  nachgerade  eine  ganze  „Clique"  oder  „Partei" 
verwickelt  zu  sein  scheint,  zu  entfliehen.  Er  zieht  in  eine  andere 
Wohnung,  oder  er  begiebt  sich  auf  Reisen.  Erleichtert  athmet  er 
auf,  denn  in  den  ersten  Tagen  wenigstens  scheinen  die  Verfolger 
seine  Spür  verloren  zu  haben  und  ihn  in  Ruhe  zu  lassen.  Allein 
schon  nach  kurzer  Zeit  macht  er  die  niederschmetternde  Erfahi-ung, 
dass  es  ihnen  doch  gelungen  ist,  ihn  zu  erreichen,  da  das  alte  Spiel 
der  Hallucinationen  von  Neuem  beginnt  Abermals  wechselt  er 
seine  Wohnung  oder  seinen  Aufenthaltsort,  aber  immer  in  derselben 
Weise  wiederholt  sich  der  Vorgang,  so  dass  der  Kranke  endlich 
verzweifelnd  erkennt,  dass  ein  Entrinnen  Angesichts  dieser  schreck- 


Hallucinatorischer  Verfolgungswahn. 


389 


liehen  Yerschwörung  gegen  seine  Euhe,  seine  Ehre,  sein  Leben 

nicht  möglich  ist. 

Bisweilen  ergiebt  sich  nun  der  Kranke  mit  bitterer  Kesignation 
in  sein  Schicksal,  indem  er  nur  in  lauten,  erregten  Gegem-eden  die 
ihm  zugerufenen  schändlichen  Verleumdungen  und  Angriffe  zu  ent- 
kräften oder  sich  auf  andere  Weise  denselben  zu  entziehen  sucht. 
Ich  kannte  einen  Ingenieur,  der  theils  durch  ein  originelles,  mit 
den  einfachsten  Mitteln  hergestelltes  Glockenwerk,  theils  durch  un- 
unterbrochenes lautes  Pfeifen  seine  Hallucinationen  zu  übertönen 
wusste.  Yielfach  führt  jedoch  die  immerwährende  Qual  der  höhnen- 
den und  neckenden  „Stimmen"  den  Kranken  nach  vergeblichen 
Fluchtyersuchen  zu  energischerer  Reaction.  Zunächst  yielleicht 
wendet  er  sich  an  diejenigen,  welche  er  für  seine  Verfolger  hält, 
um  sie  wegen  ihres  feindseligen  Verhaltens  zur  Rede  zu  stellen. 
So  kann  es  kommen,  dass  er  Personen  seiner  Umgebung,  oft  aber 
auch  völlig  Unbekannte,  von  denen  er  sich  beleidigt  glaubt,  zu  deren 
grösstem  Erstaunen  darüber  befragt  und  mit  Vorwürfen  überhäuft. 
Die  freundlichen  Versicherungen,  ebenso  wie  die  groben  Abfertigungen, 
welche  ihm  sein  befremdliches  Benehmen  einträgt,  haben  nur  den 
Erfolg,  ihn  noch  mehr  zu  erbittern,  da  sie  ihn  in  jedem  Falle  auf's 
Neue  von  der  Bosheit  und  Niedertracht  seiner  Feinde  überzeugen. 

Ein  weiterer  Schritt,  den  er  zu  seinem  Schutze  unternimmt,  ist 
die  Anrufung  der  Behörden.  Da  derselbe  auch  bei  dringlicher 
Wiederholung  natürlich  fruchtlos  bleibt,  so  erkennt  er  nur  zu  deut- 
Uch,  dass  auch  diese  mit  seinen  Verfolgern  unter  einer  Decke  stecken. 
Es  bleibt  ihm  schliesslich  kein  anderes  Mittel  übrig,  als  die  Selbst- 
hülfe, und  oft  genng  sucht  sich  der  auf's  höchste  gequälte  und  ge- 
ängstigte Kranke,  zunächst  vieUeicht  nur  durch  Annoncen  oder  Flug- 
blätter, bald  aber  auch  durch  wörtliche  und  thätiiche  Beleidigungen, 
ja  selbst  durch  lebensgefährliche  Angriffe  auf  seine  Pöiniger,  die 
Genugthuung  zu  verschaffen,  welche  ihn  für  die  Zukimft  retten  und 
schützen  soll,  oder  aber  er  nimmt  seine  Zuflucht  zu  dem  letzten 
Mittel  des  Verzweifelnden,  zum  Selbstmorde. 

Wenn  nicht  schon  lange  vorher,  so  erfolgt  nun  mit  Sicherheit 
seine  Verbringung  in  die  Anstalt,  welche  ihm  wiederum  einen  Be- 
weis für  den  erbitterten  Hass  und  die  Machtfülle  seiner  Feinde  an 
die  Hand  giebt.  In  der  neuen  Umgebung,  in  welche  er  versetzt 
wird,  treten  ebenso,  wie  bei  jedem  Anlass,  der  seine  Aufmerksamkeit 


390 


Vn.  Die  Verrücktheit. 


in  Anspruch  nimmt,  bei  der  Arbeit,  beim  Spiel,  im  Gespräche,  die 
Sinnestäuschungen  zunächst  in  den  Hintergrund;  bald  aber,  gewöhn- 
lich nach  einigen  Tagen,  merkt  er,  dass  es  auch  hier  nicht  recht 
geheuer  ist.  Natürlich  zieht  der  Kranke  aus  dieser  "Wahrnehmung 
den  Schluss,  dass  die  Verfolger  sich  nun  ebenfalls  in  der  Anstalt 
einquartirt  haben.  Er  hört  sie  über  sich,  im  Keller,  in  einer  anderen 
Abtheilung  („Deckenläufer",  „Hinterwändner")  das  alte  Treiben  wieder 
aufnehmen,  oder  er  hört,  wie  sie  sich  nunmehr  seiner  Angehörigen 
bemächtigt  haben,  sie  nicht  zu  ihm  lassen  oder  sie  in  der  gräss- 
lichsten  Weise  martern,  so  dass  ihr  Schreien  und  Jammern  zu  ihm 
herüberschallt.  Jeder  Yersuch,  ihn  Yon  der  Irrthümlichkeit  seiner 
Ideen  zu  überzeugen,  indem  man  ihn  dorthin  führt,  wo  er  seine 
Verfolger  vermuthet,  bleibt  gänzlich  erfolglos,  da  er  direct  oder  in- 
direct  den  Stimmen  entnimmt,  dass  man  für  seinen  Besuch  zeit- 
weilig alles  Verdächtige  bei  Seite  geräumt  habe.  Anf  diese  Weise 
befestigt  sich  in  ihm  ein  tiefes,  erbittertes  Misstrauen  gegen  seine 
Mitpatienten,  von  denen  er  sich  gelegentlich  beschimpft  glaubt,  wie 
namentlich  gegen  die  Aerzte,  die  ihn  an  der  Nase  herumführen  und 
sich  in  feiger  Weise  haben  bestechen  lassen,  um  ihn  mundtodt  oder 
gar  wirklich  geisteskrank  zu  machen. 

Während  der  ganzen  Entwickelung  dieses  Wahnsystems  bleibt 
der  Kranke  andauernd  vollkommen  klar,  besonnen,  geordnet.  Er 
vermag  in  zusammenhängender  Weise  seine  krankhaften  Ideen  dar- 
zulegen, zu  begründen.  Einwände  zu  bekämpfen.  Wirkliche  Krank- 
heitseinsicht dagegen  fehlt  ganz,  auch  wenn  er  selbst  seine  Täusch- 
ungen als  „Stimmen"  bezeichnet  und  auf  starkes  Drängen  einmal 
ausweichend  zugiebt,  dass  er  möglicher  Weise  krank  sein  könne. 
Die  Stimmung  pflegt  vielfache  Schwankungen  darzubieten.  Während 
der  Kranke  sich  im  Allgemeinen  ruhig  verhält  und  sich  auch  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  zu  beschäftigen  vermag,'  wird  er  zeitweise 
gereizt,  erregt,  spricht  oder  schimpft  laut  vor  sich  hin  oder  macht 
sogar  plötzliche,  äusserlich  nicht  motivirte  Angriffe  auf  einzelne 
Personen  seiner  Umgebung.  An  diesen  gelegentlichen,  meist  mit 
Häufung  der  Täuschungen  einhergehenden  Ausbrüchen,  sowie  dem 
eigenthümlich  lauschenden  Gesichtsausdruck  kann  man  bisweilen 
solche  chronische  Hallucinanten  erkennen,  ohne  sonst  etwas  von 
ihnen  erfahren  zu  haben. 

Im  weiteren  Verlaufe  bleibt  der  Zustand  der  Kranken  meist 


Hallucinatorischer  Verfolgungswahn.  391 


lange  Zeit  hindm-ch  unverändert,  doch  beobachtet  man,  besonders  in 
der  ersten  Periode  der  Krankheit,  nicht  selten  zeitweises  Schwinden 
oder  doch  Nachlassen  der  Täuschungen.  Dagegen  variiren  diese 
letzteren  meist  dauernd  das  gleiche  Thema,  wenn  auch  die  KoUe 
der  Verfolger  allmählich  auf  andere  Personen  übergehen  kann.  Im 
Laufe  der  Jahre  wird  der  Inhalt  der  Stimmen  gewöhnlich  ein  ab- 
surderer; namentlich  kommt  es  nicht  selten  zu  verzwickten,  symboli- 
sirenden  Wortneubildungen.  Die  Verfolgungen  werden  als  Abkreu- 
zungen,  Synkopen,  Sympathie  u.  dergl.  bezeichnet.  Nunmehr  gesellen 
sich  häufig  auch  einzelne  Grössenideen  zu  dem  bis  dahin  herrschen- 
den Verfolgungswahn  hinzu,  die  theilweise  wenigstens  auch  in  den 
Sinnestäuschungen  ihren  Ausdruck  finden.  Gegenüber  den  Verfolgern 
treten  Beschützer  auf;  der  Kaiser  interessirt  sich  für  den  Kranken 
und  sucht  die  Machinationen  der  Gegner  zu  paralysiren,  hat  den 
Befehl  zur  Befreiung  und  Entlassung  gegeben,  eine  grosse  Summe 
für  ihn  deponirt.  Die  Stimmen  sind  vom  Grossherzog  angestellt, 
um  ihn  gesund  zu  machen. 

Gleichzeitig  pflegt  auch  die  Stärke  der  gemüthlichen  Eeaction 
gegen  die  Täuschungen  allmählich  nachzulassen.  Ermüdet  von  dem 
ungleichen  Kampfe  werden  die  Kranken  stumpfer,  gleichgültiger 
und  können  es  lernen,  sich  nicht  mehr  sonderlich  um  die  quälenden 
Hallucinationen  zu  bekünmiern,  ohne  jedoch  eine  klare  Einsicht  in 
die  Krankhaftigkeit  derselben  zu  gewinnen.  Nur  hie  und  da  ver- 
räth  dann  noch  eine  vorübergehende  Aengstlichkeit  oder  ein  Schimpf- 
paroxysmus,  dass  die  Täuschungen  ihre  Macht  noch  nicht  vollständig 
verloren  haben.  Freilich  bedeutet  dieser  endlich  gefundene  Modus 
vivendi  gegenüber  den  Krankheitserscheinungen  nichts  weniger,  als 
eine  Genesung;  die  Urtheilslosigkeit  und  Interesselosigkeit  des  Kranken 
auch  auf  den  sonstigen  Gebieten  seines  geistigen  Lebens  zeigt  deut- 
lich, dass  wir  es  einfach  mit  einem  Zustande  dauernder  Invalidität 
zu  thun  haben. 

Die  hier  geschilderte  Form  des  einfachen  hallucinatorischen 
Verfolgungswahns  pflegt  sich  ganz  überwiegend  häufig  in  späterem 
Lebensalter,  im  Laufe  der  40  er  Jahre  zu  entwickeln.  Nicht  selten 
beobachtet  man  dieselbe  bei  Strafgefangenen;  auch  die  „Psychose 
der  Schwerhörigen"  dürfte  zumeist  dieser  Krankheitsform  angehören. 
Die  erbliche  Veranlagung  spielt  eine  wesentliche  Rolle. 

Der  phantastische  Verfolgungswalm.  Unter  dieser  gemeinsamen 


392 


VII.  Die  Verrücktheit. 


Bezeichnung  möchte  ich  der  Uebersichtlichkeit  halber  eine  Eeihe 
von  Krankheitsbildern  zusammenfassen,  in  denen  neben  mehr  oder 
weniger  zahlreichen  Sinnestäuschungen  die  phantastische  Verarbeitung 
derselben  und  namentlich  auch  die  freie  Erfindung  stärker  hervor- 
tritt. Schon  beim  hallucinatorischen  Verfolgungswahn,  namentlich 
den  in  früherem  Lebensalter  auftretenden  Erkrankungen,  ist  die  Mit- 
mrkung  der  Phantasie  vielfach  recht  deutlich.  Immerhin  aber  pflegt 
sich  der  Wahn  dort  noch  im  Bereiche  des  an  sich  Möglichen  zu  halten, 
während  es  hier  regelmässig  zur  Entwickelung  ganz  abenteuerlicher 
und  unsinniger  Wahnsysteme  kommt.  Namentlich  die  Vorstellung 
der  körperlichen  Beeinflussung  ist  allen  diesen  Formen  ge- 
meinsam. 

Zunächst  kommt  eine  Gruppe  von  Fällen  in  Betracht,  in  denen 
es  sich  vorzugsweise  um  das  Auftreten  von  Vergiftungs-  und 
Verwechselungsideen  handelt.  Die  Kranken  fühlen  sich  von 
ihrer  Umgebung  zurückgesetzt,  chicanirt,  feindselig  behandelt;  sie 
merken  es  „an  Allem".  Man  thut  ihnen  dies  und  jenes  zum  Spott, 
stellt  verfängliche  Fragen  an  sie;  in  den  Zeitungen  werden  sie 
„herumgeschmiert",  in  Pasquillen  carikirt;  Theaterstücke  enthalten 
Verhöhnungen  ihrer  Person;  die  Eeden  Vorübergehender  sind  auf 
sie  gemünzt.  Die  Kinder  auf  der  Strasse  pfeifen  und  singen  ihnen 
zum  Schabernack;  die  Nachbarn  foppen  sie  mit  Geberden  und  An- 
spielungen. Irgend  ein  Mensch  trägt  seine  grosse  Nase,  sein  rothes 
Gesicht  nur  zur  Schau,  um  sie  zu  ärgern;  ein  zufälliger  Passant 
scheint  ihnen  einen  lebensgefährlichen  Angriff  zu  planen.  In  diese 
Verfolgungsideen,  welche  sich  zunächst  an  wirkliche,  aber  krankhaft 
gedeutete  Wahrnehmungen  anknüpfen,  werden  fernerhin  auch  die 
Empfindungen  des  eigenen  Körpers  hineingezogen.  Schmerzen  im 
Eücken  und  in  den  Beinen,  Schwere  im  Körper,  Eeissen  und 
Ziehen  im  Leibe  deutet  darauf  hin,  dass  die  Gesundheit  durch  künst- 
lich angewandte  Mittel  geschädigt  ist;  im  natürlichen  Körper  geht 
so  etwas  nicht  vor.  Ein  gelegentliches  Bauchgiimmen  oder  eine 
vorübergehende  Eingenommenheit  des  Kopfes  macht  es  dem  Kranken 
klar,  dass  man  ihm  Gift  in  die  Speisen  gegeben  hat,  um  ihm  auf 
diese  Weise  seine  Eingeweide  zu  ruiniren  und  sein  Gedächtniss 
zu  schwächen;  ein  leichter  Hustenanfall  lässt  ilin  bereits  das  Auf- 
treten des  Miserere  in  Folge  jenes  Vergiftungsversuches  befürchten. 
In  der  Nacht  werden  ihm  „Bilder"  vorgemacht,  um  ihn  zu  ärgern; 


Phantastischer  Verfolgungswahn. 


393 


er  beklagt  sich  bitter,  dass  man  ihn  gänzlich  ruinirt  und  ihn  von 
Tag  zu  Tag  systematisch  dümmer  zu  machen  sucht. 

Auch  auf  die  Gegenstände  seiner  Umgebung  erstreckt  sich  die 
Verfolgung.  Er  merkt,  dass  man  dieselben  in  seiner  Abwesenheit 
vertauscht,  ruinirt,  beschmutzt  und  stiehlt,  um  ihn  zu  düpiren  und 
immer  mehr  zu  verwirren.  Die  Gesichter,  die  Stimmen  bekannter 
Pei-sonen  verändern  sich;  auch  das  eigene  Antlitz  erscheint  plötzlich 
im  Spiegel  anders,  als  früher.  Man  verwechselt  die  Bilder  und 
Möbel,  bringt  immerfort  andere  Menschen  herbei,  um  ihn  zu  reizen 
und  zu  ärgern.  Alle  stecken  unter  einer  Decke  und  kennen  genau 
den  Schwindel,  den  man  mit  ihm  treibt,  so  unbefangen  sie  sich  auch 
stellen.  Die  Fragen,  die  man  an  ihn  richtet,  sind  daher  der  reine 
Hohn,  und  er  pflegt  sie  daher  auch  einfach  mit  dem  misstrauischen 
Hinweise  darauf  zu  beantworten,  dass  man  ja  ohnedies  schon  Alles 
besser  wisse,  als  er,  und  ihn  daher  mit  weiteren  Belästigungen  ver- 
schonen möge.  Die  ganze  Umgebung  erscheint  ihm  als  eine  organi- 
sirte  Eäuberbande,  welche  systematisch  darauf  ausgeht,  ihn  zur  Ver- 
zweiflung zu  treiben.  Er  geräth  dadurch  meist  in  eine  äusserst 
erbitterte  Stimmung,  welche  leicht  zu  allerlei  krankhaften  Keactionen 
führt,  zu  hartnäckiger  Nahrungsverweigerung  in  Folge  von  Ver- 
giftungsideen, oder  weil  der  Stuhlgang  nicht  mehr  kommt  wie  früher, 
zu  gewaltthätigen  Angriffen  auf  bekannte  oder  unbekannte  Personen, 
zu  auffallenden  öffentlichen  Attentaten,  um  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  eigene  Nothlage  zu  lenken,  endlich  auch  za.  energischen  Selbst- 
mordversuchen. 

Meist  gerathen  die  Kranken  auf  diese  Weise  in  die  Irrenan- 
stalten, wo  sich  regelmässig  ein  gewisser  Grad  geistiger  Schwäche, 
ürtheilslosigkeit,  Zerfahrenheit,  Gemüthsstumpfheit  und  bomirter 
Eigensinn  nachweisen  lässt.  Im  Laufe  der  Jahre  nimmt  diese 
Schwäche  deutlich  zu.  Die  Kranken  bleiben  zwar  völlig  klar  und 
orientirt,  aber  ihre  Wahnideen  werden  nach  und  nach  confuser 
und  zusammenhangsloser;  einzelne  Grössenideen  mischen  sich  hinein, 
und  ihre  geistige  Leistungsfähigkeit  schwindet,  während  sie  als 
mechanische  Arbeiter  vielleicht  noch  leidlich  verwerthbar  sind. 

Als  eine  Unterart  dieses  hypochondrisch  gefärbten  Verfolgungs- 
wahns dürfen  wir  vielleicht  den  sexuellen  Verfolgungswahn  be- 
trachten. Derselbe  wird  fast  ausschliesslich  beim  weiblichen  Ge- 
schlechte beobachtet  und  knüpft  sich  häufig  an  fehlgeschlagene 


394 


VII.  Uie  Verrücktheit. 


sexuelle  Hoffnungen  an.  Die  Enttäuschung  über  ein  zerschlagenes 
Liebesverhältniss  oder  einen  missglückten  Heirathsplan  führt  zu- 
Ucächst  zu  einem  meist  länger  dauernden  Stadium  depressiver  Stimmung 
und  quälender  Grübeleien  über  das  Geschehene.  Ganz  allmählich 
glaubt  nun  die  Kranke,  einzelne  Anzeichen  dafür  zu  gewinnen,  dass 
ihr  ehemaliger  Geliebter  noch  irgend  welche  Beziehungen  mit  ihr 
anzuknüpfen  oder  sich  an  ihr  zu  rächen  sucht.  Anfangs  ist  es  viel- 
leicht eine  hingeworfene  Bemerkung  ihrer  Umgebung,  ein  auffallen- 
des Erlebniss  auf  der  Strasse,  eine  Annonce  in  der  Zeitung,  welche 
sie  stutzig  macht;  bald  aber  erhält  sie  den  unzweifelhaften  Beweis 
für  die  Eichtigkeit  der  vag  aufgetauchten  Vennuthung  in  allerlei 
Chicanen,  denen  sie  auf  Anlass  des  „Kerls"  ausgesetzt  vsdrd,  nament- 
lich aber  in  eigenthümlichen  nächtlichen  Wahrnehmungen.  Zwischen 
Schlaf  und  Wachen  wird  sie  in  einen  Zustand  von  Betäubung  ver- 
setzt, in  dem  sie  sich  nicht  rühren  und  nicht  die  Augen  öffnen 
kann;  sie  wird  auf  den  Boden  gesetzt,  ihr  Kopf  auf  die  Seite  ge- 
legt und  sie  fühlt  nun  deutlich,  wie  der  Coitus  mit  ihr  vollzogen  wird, 
hört  auch  wol  allerlei  „schändliche  Dinge"  reden.  Sobald  sie  sich 
aus  ihrer  Erstarrung  frei  machen  kann,  ist  Alles  vorüber  und  der 
Yerfolger  bereits  durch  das  geöffnete  Fenster  entflohen.  Aehnliche 
Scenen  wiederholen  sich  häufig,  später  auch  bei  Tage,  bei  vollem 
Wachen,  so  dass  die  Kranke  sich  fortwährend  sexuellen  Attentaten 
durch  iliren  unsichtbaren  „Kerl"  ausgesetzt  glaubt,  eine  Idee,  die 
natürlich  schon  von  einer  weit  gediehenen  Kritiklosigkeit  zeugt.  An 
sie  schliesst  sich  die  Vorstellung  an,  schwanger  zu  sein,  die  häufig 
durch  nächtliche,  traumhafte  Entbindungen  weiter  genährt  und  phan- 
tastisch ausgeschmückt  wird.  Bei  Männern  werden  die  geschlecht- 
lichen Angriffe  durch  nackte  Frauenzimmer  vollzogen,  welche  sich 
des  Nachts  auf  sie  legen  und  ihnen  „die  Natur"  abziehen. 

In  der  Regel  sind  die  Kranken  über  die  sexuellen  Belästigungen, 
die  sich  bisweilen  im  Zusammenhange  mit  den  Menses  häufen,  sehr 
erbittert.  Sie  werden  plötzlich  unmotivirt  zornig  und  gereizt,  zer- 
trümmern den  ersten  besten  Gegenstand,  laufen  davon,  schlagen  die 
Thüre  zu,  brechen  in  lautes  Schimpfen  aus,  ohne  ihrer  Umgebung 
den  peinlichen  Grund  ihrer  Erregung  einzugestehen,  so  dass  ihr  Be- 
nehmen oft  lange  Zeit  räthselhaft  und  unverständlich  bleibt,  bis  ihnen 
einmal  im  Affect  eine  Andeutung  über  ihren  Wahn  entschlüpft.  Im 
Uebrigen  sind  sie  ganz  besonnen,  aber  meist  sehr  zurückhaltend; 


Phantastischer  Verfolgungswahn. 


395 


erst  im  weiteren  Verlaufe  pflegt  die  /nnehmende  Zerfahrenheit  sich 
in  immer  unsinnigerer  Gestaltung  des  Wahnsystems  zu  documentiren. 
Die  Kranke  fühlt  Sprechen  in  ihren  Genitalien,  merkt,  dass  ihr  die 
Gedanken  gemacht  werden.  Nicht  selten  nimmt  der  Wahn  all- 
mählich eine  expansive  Gestaltung  an.  Die  Begattung  ist  eine  „gött- 
lich-geistliche"; die  Kranke  hat  eine  hohe  Mission,  wird  Himmels- 
königin, ist  mit  dem  Erlöser  oder  dem  Weltkaiser  schwanger. 

Endlich  lässt  sich  an  dieser  Stelle  wol  am  besten  der  Eifer- 
suchtswahn einfügen,  den  wir  namentlich  bei  Frauen  im  Klimak- 
terium, bisweilen  auch  schon  im  4.  Decennium  sich  entwickeln  sehen. 
Nachdem  allerlei  Verstimmungen,  unmotivirte  Befürchtungen,  reiz- 
bares, misstrauisches  Wesen  einige  Zeit  voraufgegangen  sind,  merken 
die  Kranken,  dass  sich  das  Verhältoiss  zu  ihrem  Manne  geändert 
hat,  dass  derselbe  sie  vernachlässigt  und  offenbar  anderen  sexuellen 
Neigungen  nachgeht.    Ein  auffallender  Blick  der  Nachbarin,  eine 
verfängliche  Bemerkung  des  Mannes  bestärkt  sie  in  ihrer  Auffassung; 
die  absolute  Gewissheit  aber  erhält  sie  dadurch,  dass  sie  hört  und 
fühlt,  wie  sich  Nachts  andere  Weiber  zu  ihrem  Manne  in's  Bett  legen. 
Wenn  auch  die  sofort  ausgeführte  Controle  ein  negatives  Eesultat 
ergiebt,  so  steht  ihre  Ueberzeugung  nichtsdestoweniger  fest,  und  sie 
ist  entrüstet  über  die  Schamlosigkeit,  mit  welcher  der  Gatte  die 
eheliche  Treue  in  ihrer  Gegenwart  bricht.    Alle  möglichen  Wahr- 
nehmungen liefern  ihrem  inuner  sensibler  und  immer  kritikloser 
werdenden  Misstrauen  neue  Bestätigungen.  Die  Empfindungen  ihres 
eigenen  Körpers  zeigen  ihr  an,  sobald  der  Mann  sich  mit  Anderen 
vergeht;  der  Geistiiche  auf  der  Kanzel  bricht  den  Stab  über  sein 
unsittliches  Benehmen;  jeder  Bnef  enthält  die  heimliche  Aufforderung 
zu  einem  Rendez-vous.  Natürlich  entwickelt  sich  im  Anschlüsse  an 
diesen  Wahn  eine  gereizte,  feindselige  Stimmung;  die  Frauen  ver- 
folgen ihre  Männer  auf  Schritt;  und  Tritt  mit  häufig  ganz  absurden 
Beschuldigungen,  zu  denen  sich  nicht  selten  noch  directe  Vergiftimgs- 
ideen  gesellen.    Die  Entwickelung  dieser  Form  ist  in  der  Regel 
eine  ziemlich  rasche.    Im  weiteren  Verlaufe  nimmt  die  psychische 
Schwäche  allmählich  zu,  aber  die  Ausbildung  des  Wahnsystems 
bleibt  meist  dürftig. 

Ein  ganz  ähnliches  Krankheitsbild  wird  auch  bei  Männern,  vor- 
zugsweise auf  originär  schwachsinniger  Grundlage,  beobachtet.  Sie 
glauben  im  Dunkeln  ihrer  Frau  am  Arme  eines  Andern  zu  begegnen. 


396 


VII.  Die  Verrücktheit. 


sind  empört  über  deren  Eaffinement,  wenn  sie  dieselbe  bei  ihrer 
Eückkehr  zu  Hause  antreffen,  überhäufen  sie  mit  Schmähungen  und 
schreiten  sogar  bisweilen  zu  Gewaltthaten.  Ein  derartiger  Kranker 
meiner  Beobachtung  übersandte  seiner  Frau  zum  Geburtstage  eine 
dick  mit  Grünspan  überstreute  Torte  und  eine  in  derselben  "Weise 
ungeniessbar  gemachte  Flasche  Eothwein,  um  sie  zu  vergiften.  Das 
Gefühl  der  eigenen  Unsicherheit  und  Unfähigkeit  mag  hier  avoI  den 
Ausgangspunkt  des  sexuellen  Misstrauens  abgeben.  Dem  typischen 
„Eifersuchtswahne"  der  Trinker  werden  wir  später  bei  der  Betrachtung 
des  Alkoholismus  begegnen. 

Eine  weit  mannichfaltigere  Entwickelung,  als  in  allen  bisher  be- 
sprochenen Formen,  erfährt  das  Wahnsjstem  im  sogenannten  phy- 
sikalischen Verfolgungswahn.  Büer  werden  in  ganz  kritikloser 
Weise  die  unsinnigsten  Annahmen  gemacht,  um  die  überaus  ver- 
schiedenartigen Täuschungen  auf  eine  einheitliche  feindsehge  Ursache 
zurückzuführen;  die  Störung  der  Intelligenz  greift  daher  offenbar 
viel  tiefer. 

Die  Entwickelung  der  Erkrankung  pflegt  sich  zunächst  in  ähn- 
licher Weise  zu  vollziehen,  wie  bei  den  andern  Formen.  Der  Kranke 
bemerkt,  dass  er  zurückgesetzt,  feindselig  überwacht,  in  der  Presse 
angegriffen,  von  der  Bühne  oder  von  der  Kanzel  herab  verhöhnt 
wird;  er  hört  einzelne  Schimpf  werte,  „Schuft",  „Heuchler",  „Zuchthaus- 
pack", auf  der  Strasse,  verdächtiges  Lispeln  und  Flüstern  in  seiner 
Wohnung,  und  schliesst  aus  diesen  und  zahlreichen  ähnlichen  Wahr- 
nehmungen auf  das  Bestehen  einer  geheimen  Partei,  die  ihn  aus  po- 
litischen, religiösen,  persönlichen  Gründen  zu  vernichten  sucht.  Nach 
diesem  Einleitungsstadium  macht  der  Kranke  eines  Tages  die  Ent- 
deckung, dass  seine  Verfolger  ihn  direct  körperlich  zu  beeinflussen 
vermögen,  indem  er  in  einem  lebhaften  Affectzustande  mit  Häufung 
der  Stimmen  allerlei  abnorme  Sensationen  in  seinem  Körper  eben- 
falls auf  die  Einwirkung  seiner  Feinde  zurückführt.  Es  wird  ihm 
nun  klar,  dass  diese  Letzteren  über  Hülfsmittel  verfügen,  dui'ch  die 
sie  aus  der  Ferne  die  mannichfaltigsten  Veränderungen  und  Störungen 
in  seinem  Körper  herbeiführen  („Telepathie").  Gewöhnlich  malt  ihm 
seine  lebhaft  erregte  Phantasie  die  näheren  Details  dieser  Einwirkungen 
auf  das  Genaueste  aus.  Häufig  sind  es  magnetische  und  elekti-ische 
Batterien,  mit  welchen  die  Verfolger  operiren,  Lichtmascliinen,  grosse 
Hohlspiegel  u.  dergl.,  von  denen  die  Ki-anken  nach  längerer  Bekannt- 


Phantastischer  Verfolgungswahn. 


397 


Schaft  mit  ihren  Feinden  bisweilen  ausführliche  Zeichnungen  ent- 
werfen.*) Oder  aber  es  handelt  sich  um  Zaubersprüche,  Sympathie, 
Hypnotismus,  je  nach  dem  Bildungsgrade  des  Kranken.  Einer  meiner 
Ki'tmken  fühlte  sich  „in  öffentlicher  hypnotischer  Haft",  trotz  an- 
scheinender Freiheit  im  erweiterten  Käfig,  da  die  ,-,Hypnotisten" 
ihn  diu-ch  die  hypnotische  Augenkraft  vollständig  in  ihrer  Gewalt  hatten. 

So  verschiedenartig  die  Instrumente,  so  verschiedenartig  sind 
auch  die  Sensationen,  über  welche  die  Kranken  sich  zu  beklagen 
haben.  Die  Haut  wird  ihnen  mit  zahllosen  Kugeln,  Nähnadeln  be- 
schossen, mit  feinem  Giftregen  besprüht;  an  den  verschiedensten 
Stellen  des  Körpers  werden  brennende,  stechende,  bohrende  Schmerzen 
erzeugt.  Im  Ohr  sitzt  ein  Magnet;  die  einzelnen  Glieder  werden 
gegen  den  Wülen  des  Kranken  in  Bewegung  gesetzt;  namentlich 
die  Zunge  wii-d  gezogen,  um  Dinge  zu  reden,  die  ihm  verhasst 
sind;  es  wird  ihm  ein  Käderwerk  in  die  Brust  gesetzt,  mittels  dessen 
er  von  den  Verfolgern  wie  eine  Gliederpuppe  dirigirt  wird.  Seine 
Eingeweide  werden  ihm  ruinirt  und  durcheinander  geworfen,  Schmutz 
in  sein  Essen,  in  sein  Blut  hineingeschüttet,  „Schweinemord"  auf 
ihn  verübt,  der  Darm  „aufgewickelt  und  in  Platten  abgelagert", 
„Seichzauber  getrieben",  der  Stuhlgang  verhindert,  der  Athem  ver- 
setzt, der  Koth  in's  Hirn  gepumpt,  das  Geschlecht  „wagerecht  her- 
ausgezogen und  senkrecht  wieder  hineingesteckt",  der  Samen  ab- 
geti-ieben,  die  Zähne  ausgeschlagen.  Meist  werden  diese  verschieden- 
artigen Empfindungen  mit  eigenen  Namen  belegt  und  ganz  genau 
beschrieben,  das  Fingerzucken,  Fleischschwellen,  Blutstillen  und  Blut- 
fliessenlassen,  Ereignissmachen,  Bombenbersten,  Hummerknacken  u.s.f. 

Ein  besonders  raffinirtes  Manöver  der  ebenfalls  oft  phantastisch 
benannten  Verfolger  besteht  in  dem  „Abziehen"  der  Gedanken.  Die 
Kranken  merken,  dass  ihi-e  Gedanken  durch  feindliche  Machinationen 
beliebig  gelenkt  (suggerirt)  werden  können.  Beim  Versuche,  zu 
arbeiten,  werden  sie  plötzlich  „desanimirt"  und  müssen  dann  auf- 
hören, oder  es  kommen  ihnen  gute  Gedanken,  die  aber  offenbar  nicht 
ihre  eigenen,  sondern  eingegeben  sind.  Sie  wissen  schliesslich  gar 
nicht  mehr,  ob  sie  aus  sich  heraus  denken  oder  „suggestirt"  werden. 
Bisweilen  werden  die  Gedanken  sogar  laut  (Doppeldenken)  und  da- 
her der  ganzen  Welt  bekannt.   Ihre  Seele  ist  „offen";  Jedermann 


*)  Haslam,  Erklärungen  der  Tollheit,  übersetzt  v.  Wollny.  1889. 


398 


VII.  Die  Verrücktheit. 


kann  nach  Belieben  in  derselben  lesen.  Dieses  Gefühl  einer  er- 
zwungenen, ohnmächtigen  Abhängigkeit  von  fremden  Einflüssen 
verstiickt  den  Kranken  in  ein  unentwirrbares,  wahnhaftes  Netz  der 
bizarrsten  Yorstellungen. 

In  manchen  Fällen  werden  die  Beeinflussungen  nicht  direct 
wahrgenommen,  sondern  nur  das  durch  sie  herbeigeführte  Resultat. 
Die  Feinde  kommen  hier  in  der  Nacht,  während  der  Kranke  schläft, 
und  ti'eiben  nun  die  scheussHchsten  Dinge  mit  ihm,  päderastiren  ihn, 
stecken  ihm  Sperma  und  Koth  in  den  Mund,  vertauschen  seine 
Knochen.  Leider  erwacht  er  dabei  nicht,  sondern  merkt  erst  am 
andern  Morgen,  dass  man  ihn  mit  ekelhaften  Dingen  angefüllt,  ihm 
das  Gehirn  ausgeräumt,  den  Hirnschaum  abgeschöpft,  die  Glieder 
verrenkt  und  verdorrt  hat.  Die  Mannigfaltigkeit  und  die  Absur- 
dität dieser  Klagen  ist  eine  ganz  ausserordentliche.  "Wie  man  sieht, 
wird  eben  der  eigentliche  Inhalt  derselben  wesentlich  durch  die 
Phantasie  geliefert,  während  die  vagen  und  unbestimmten  körper- 
lichen Empfindungen  offenbar  nicht  mehr  als  den  äusseren  Anstoss 
zu  diesen  kritiklosen  Combinationen  zu  geben  vermögen.  Nicht 
selten  werden  in  analoger  Weise  von  den  Kranken  auch  einzelne 
Grösse nideen  erzeugt,  wenn  auch  die  unangenehmen  Yorstellungs- 
kreise  immer  im  Yordergrunde  stehen.  Abgesehen  von  gesteigertem, 
kindisch-eitlem  Selbstbewusstsein,  süffisantem,  hochmüthigem  Wesen, 
spielen  hohe  Yerwandtschaften,  Ki-onprätendentschaft,  vermeintliche 
Erbansprüche,  geheimnissvoller  sexueller  Eapport  mit  einer  Prinzessin, 
religiüse  Mission  und  ähnliche  Wahngebilde  eine  gewisse  Rolle,  ■  doch 
können  Grössenideen  auch  vollkommen  fehlen. 

Eine  ganz  eigenartige  Ausbildung  gewinnt  der  physikalische 
Yerfolgungswahn  in  jenem  culturhistorisch  interessanten  Krankheits- 
bilde, welches  man  als  „Besessenheitswahn"  bezeichnet.  Hier 
werden  die  Feinde,  welche  den  Kranken  quälen,  dii-ect  in  den 
eigenen  Körper  hineinverlegt.  Der  oder  die  Yerfolger  sitzen  nun 
in  den  Ohren  und  betäuben  den  Kranken  durch  ihi'  gräuliches 
Schreien  und  Fluchen,  häufiger  aber  im  Unterleib,  steigen  bis  in 
den  Kopf  hinauf,  schnüren  dem  Kranken  die  Kehle  zu,  verdicken 
ihm  sein  Blut,  klappen  ihm  seinen  Schädel  auf,  zwingen  ihn  zu 
den  sonderbarsten  Handlungen  und  reden  ihm  aus  dem  Bauche 
herauf  gotteslästerliche  Dinge  vor.  Hier  kann  es  vorkommen,  dass 
sich  dem  Feinde  im  eigenen  Leibe  eine  andere,  freundlich  gesinnte 


Phantastischer  Verfolgungswahn. 


399 


Macht  hinzugesellt,  welche  jenen  in  eine  Kürperhälfte  hineindrängt 
und  lange,  erbitterte  Kämpfe  und  Zwiegespräche  mit  -ihm  führt. 
Während  die  Yerfolger  bei  den  früher  geschilderten  Formen  zu- 
meist als  eine  geheimnissvolle  Kette  von  Nihilisten,  Freimaurern, 
Socialdemola-aten  gedacht  wurden,  so  pflegen  in  diesen  letzteren 
Fällen  mehr  religiöse  Yorstellungen  ziu-  Erklärung  herbeigezogen 
zu  werden.  Es  ist  eine  abgeschiedene  Seele,  der  Teufel,  ein  böser 
Geist,  der  von  dem  Leibe  des  Kranken  Besitz  genommen  hat,  und 
dem  unter  Umständen  das  gute  Princip,  der  liebe  Gott  oder  einer  der 
Erzengel,  siegreich  entgegentritt.  Diese  eigenthümliche  Yerdoppelung 
der  Persönlichkeit  erinnert  uns  an  jene  Träume,  in  denen  wir  ausge- 
dehnte Disputationen  durchführen  und  oft  über  die  schlagenden 
Argumente  unseres  Gegners  im  höchsten  Grade  überrascht  sind. 

Natüi-lich  bleiben  alle  diese  Wahnvorstellungen  nicht  ohne  tief- 
greifenden Einfluss  auf  die  Stimmung  und  das  Handeln  der 
Kranken.  Sie  sind  empört  und  entrüstet  über  die  fortwährenden 
telepathischen  Beeinflussungen,  denen  sie  ausgesetzt  sind,  und 
machen  ihrer  Erbitterung  je  nach  Gemüthsart  und  Bildungsgrad  ia 
Zeitungsannoncen,  Flugblättern,  Eingaben  an  Behörden,  Broschüren*) 
Luft,  in  denen  sie  den  ganzen  niederträchtigen  Schwindel  aufdecken, 
oder  sie  gi-eifen  zur  Selbsthülfe,  zu  gewaltthätigem  Vorgehen  gegen 
ihre  vermeintlichen  Peioiger.  Einer  meiner  Kranken,  der  sich  von 
mir  beeinflusst  glaubte,  suchte  mich  von  Zeit  zu  Zeit  auf,  machte 
mir  Yorstellungen  über  meine  Schlechtigkeit  und  forderte  mich 
dringend  auf,  ihn  „loszulassen". 

Nicht  selten  kommt  es  auch,  namentlich  in  der  ersten  Zeit  der 
Erkrankung,  zu  heftigen,  meist  ängstlichen  Aufregungszuständen  und 
selbst  zu  energischen  Selbstmordversuchen.  Da  den  Kranken  bei 
der  Allmacht  ihrer  Gegner  das  Entrinnen  aus  deren  Machtsphäre  un- 
möglich ist,  so  verfallen  sie  nicht  selten  darauf,  durch  allerlei  selbst 
ersonnene  Mittel  sich  wenigstens  einigermassen  Euhe  vor  denselben 
zu  verschajBfen.  Namentlich  sind  es  eigenthümliche  körperliche 
Manipulationen,  Geberden,  Abwehrbewegungen,  bestimmte,  oft  sehr 
verzwickte  Stellungen,  die  längere  Zeit  hindurch  eingehalten  werden 
müssen,  ferner  das  ,4nnere  Sprechen",  die  unablässige  Wiederholung 

*)  Wollny,  lieber  Telepathie,  1888;  Sammlung  von  Actenstücken ,  1888; 
Teffer,  Ueher  die  Thatsache  des  psycho-sextialen  Contactes  oder  die  actio  in 
Distans,  1891. 


400 


Vn.  Die  Ven-üektheit. 


gewisser  Worte,  oder  besondere  Vorrichtungen  an  der  Bettstelle 
(Drähte,  phallusartige  Amulete),  mit  HiÜfe  deren  sie  sich  vor  den 
feindseligen  Beeinflussungen  schützen.  Mitunter  werden  auch  Miss- 
handlungen, ja  Yerstümmelungen  des  eigenen  Körpers  zum  gleichen 
Zwecke  unternommen. 

Der  physikalische  Yerfolgungswahn  entwickelt  sich  regelmässig 
auf  'psychopathisch  stark  prädisponirtem  Boden,  am  häuf- 
igsten schon  in  früherem  Lebensalter  (20er  Jahre);  ich  sah  zwei 
Geschwister  unabhängig  von  einander  ganz  die  nämlichen  unsinnigen 
Ideen  produciren. 

Der  Yerlauf  der  Ki-ankheit  ist  regelmässig  ein  fortschreitender. 
Die  Besonnenheit  bleibt  freilich  vollständig  erhalten;  die  Kranken 
sind  dauernd  im  Stande,  zusammenhängend  und  folgerichtig  ihre 
"Wahnideen  darzulegen,  allein  ihr  ganzes  psychisches  Leben  wird 
doch  viel  stärker  in  Mitleidenschaft  gezogen,  als  bei  dem  ein- 
fachen hallucinatorischen  Yerfolgungswahn.  Die  Aufmerksamkeit  ist 
in  hohem  Masse  durch  die  abnormen  Sensationen  in  Anspruch  ge- 
nommen; das  Wahnsystem  gewinnt  eine  weit  umfassendere,  die 
gesunden  Yorstellungskreise  in  den  Hintergrund  drängende  Ent- 
wickelung,  und  die  Arbeitsfähigkeit  der  Kranken  wird  stets  schwer 
beeinträchtigt.  Gleich wol  giebt  es  auch  hier  einzelne  Fälle,  in  denen 
der  Zustand  viele  Jahre  nahezu  stationär  zu  bleiben  scheint. 

Die  liypocliondrisclie  Verrücktheit.  Ln  Anschlüsse  an  die  zu- 
letzt geschilderten  Formen  haben  wir  noch  eines  nicht  gerade  sehr 
häufigen  Krankheitsbildes  zu  gedenken,  welches  dadurch  eine  eigen- 
artige Stellung  einnimmt,  dass  eine  Keihe  von  wahnhaften,  höchst 
peinlichen  Yeränderungen  und  Vorgängen  im  Körper  nicht,  wie 
beim  physikalischen  Verfolgungswahn,  auf  äussere  Einwirkungen 
zurückbezogen,  sondern  als  der  Ausdi'uck  eines  schweren,  unheil- 
baren Leidens  angesehen  werden. 

Ihren  Ausgangspunkt  nimmt  die  Psychose  nicht  selten  von 
wirklich  vorhandenen,  objectiv  begründeten  Beschwerden,  Magen- 
darmkatarrhen, Uterinleiden,  nervösen  Affectionen,  namentiich  auch, 
wie  es  scheint,  von  masturbatorischen  Excessen.  Dazu  pflegen 
sich  meist  allerlei  abnorme  Empfindungen  im  Körper  zu  gesellen, 
welche  in  Verbindung  mit  den  objectiven  Krankheitssymptomen,  oft 
auch  für  sich  allein,  von  dem  Kranken  zu  höchst  phantastischen 
Vorstellungen  über  die  Art  und  Ausdehnung  der  pathologischen 


Hypochondrische  Verrücktheit. 


401 


Zustände  verarbeitet  werden.  Es  besteht  Blutstockung,  Störung  im 
inneren  Gefässgang;  es  hat  keinen  vollständigen  Lauf  mehr;  Alles 
ist  todt,  kein  inneres  Leben  mehr  da,  Wackeln  und  Zittern  im 
ganzen  Körper.  Die  Haut  ist  lose;  unter  derselben  sitzen  schmerzhafte 
Geschwüre;  im  Eückenmark  fühlt  der  Kranke  Rollen  und  Schneiden; 
der  Kopf  ist  ihm  hohl  oder  als  wenn  Stroh  darin  wäre;  im  Leibe 
brennt,  sticht,  ch-ückt,  fliesst  und  zuckt  es;  die  Glieder,  die  Geni- 
talien sterben  ihm  ab;  sein  Athem  stinkt  wie  die  Pest. 

Bei  zunehmender  Kritiklosigkeit  gewinnt  auch  die  Natur  der 
Krankheit  gi'otteskere  Formen.  Die  anfangs  nur  zur  Beschreibung  der 
Symptome  gebrauchten  Vergleiche  gelten  dem  Kranken  später  als 
Ausdruck  der  wirklichen  Yerhältnisse.  In  seinen  Adern  befindet  sich 
Gift,  Feuer,  Mistjauche  statt  des  Blutes;  das  Herz  ist  ihm  in  einen 
Stein  verwandelt,  die  Speiseröhre,  der  Mastdarm  abgerissen  oder 
verschlossen;  im  Leibe  sitzen  lebendige  Thiere,  Spinnen,  Kröten, 
Schlangen  uüd  verzehren  seine  Eingeweide.  Mit  der  Ausbildung 
cüeser  krankhaften  Ideenkreise  treten  alle  anderen  Vorstellungen 
und  Gefühle  mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund.  Seine  früheren 
natürlichen  Interessen,  sein  Beruf,  seine  Famüie  verlieren  ihren 
Reiz  für  den  Kjranken,  der  sich  schliesslich  nur  noch  mit  dem  Ge- 
danken an  seine  Leiden  beschäftigt  und  dasselbe  Thema  in  uner- 
schöpflichen Wiederholungen  stets  von  Neuem  bearbeitet.  Jeden 
Zweifel  an  seiner  körperlichen  Erkrankung  weist  er,  wo  ihm  jede 
neue  Wahrnehmung  neue  Beweise  zu  bringen  scheint,  mit  Entrüstung 
zurück,  ja  es  gewährt  ihm  eine  gewisse  märtyrerhafte  Genugthuung, 
durch  eingehende  Schilderung  seiner  ihn  so  lebhaft  und  ausschliess- 
hch  beschäftigenden  Leiden  das  Interesse  und  das  Mitleid  Anderer 
zu  erwecken. 

Die  Stimmung  des  Hypochonders  ist  gewöhnlich  eine  depres- 
sive, verzweifelte  und  reizbare;  es  kann  zu  heftigen  Angstanfällen 
mit  lautem  Stöhnen,  Herumwälzen  im  Bett,  krampfartigen  Ver- 
drehungen der  Glieder  kommen.  In  anderen  Fällen  begegnet  man 
einer  im  Hinblick  auf  den  erschrecklichen  Inhalt  der  Klagen  ganz 
auffallenden  Affectlosigkeit.  Die  Arbeitsfähigkeit  der  Kranken  wird 
meist  schwer  beeinträchtigt.  Abgesehen  von  ihrer  Gleichgültigkeit 
gegen  jede  Beschäftigung  hindert  sie  das  Bewusstsein  ihrer  Schwäche 
und  Unfähigkeit.  Sie  unternehmen  daher  nicht  selten  zahllose 
Kuren,  laufen  zu  den  verschiedensten  Aerzten,  fallen  allen  möglichen 

Kraepolin,  Psychiatrie.   4.  Aufl.  26 


402 


Vn.  Die  Verrücktheit. 


Quacksalbern  in  die  Hände,  suchen  sich  durch  innerliche  und  äusser- 
liche  Anwendung  der  ekelhaftesten  Dinge,  unter  denen  ihr  eigener 
Urin  eine  gewisse  Eolle  spielt,  wiederherzustellen.  Nicht  selten  ver- 
langen sie  eingreifende  Operationen,  um  irgend  einen  Fremdkörper, 
ein  Thier  oder  dergl.  aus  ihrem  Leibe  zu  entfernen.  Es  ist  indessen 
bei  der  wesenüich  phantastischen  Entstehungsweise  des  Wahnes 
leicht  erklärlich,  dass  alle  hie,  und  da  immer  noch  unternommenen 
Scheinoperationen  gänzhch  erfolglos  bleiben  müssen. 

Wie  weit  das  im  Yorstehenden  kurz  angedeutete  Krankheitsbild 
wirklich  in  das  Gebiet  der  Paranoia  hineingehört,  vermag  ich  nicht 
zu  sagen.  Jedenfalls  weicht  es  von  den  übrigen  Formen  in  vieler 
Beziehung  ab.  Eine  ganze  Anzahl  der  Fälle  entwickelt  sich  erst  in 
höherem  Lebensalter,  im  6.  und  7.  Decennium,  und  steht  offenbar  in 
naher  Beziehung  zu  den  übrigen  so  häufig  hypochondrisch  gefärbten 
Psychosen  des  Seniums.  Eine  zweite  Gruppe  von  Fällen  dagegen 
beginnt  schon  sehr  früh  auf  hereditär  schwachsinniger  Grundlage, 
namenthch  bei  Masturbanten.  Für  diese  letzteren,  zweifellos  degene- 
rativen Psychosen  dürfte  die  Zugehörigkeit  zu  dem  grossen  Formen- 
kreise der  Paranoia  noch  am  meisten  "Wahrscheinhchkeit  für  sich 
haben. 

^  Der  eombiiiatorisclie  Verfolgungswalm.  Gewissermassen  auf 
einer  höheren  Stufe  der  InteUigenz,  als  die  bisher  betrachteten  Formen, 
spielt  sich  der  combinatorische  Yerfolgungswahn  ab.  Die  Wahn- 
bildung geschieht  hier  wesentlich  durch  krankhafte  Schlüsse  aus 
wirküchen  Wahrnehmungen.  Die  Beeinträchtigung  wird  nicht  am 
eigenen  Körper  empfunden,  sondern  sie  macht  sich  nur  im  Bereiche 
der  socialen  Beziehungen  der  Ejranken  geltend. 

Die  Entwickelung  der  Psychose  scheint  sich  immer  sehr  langsam 
und  vorzugsweise  bei  solchen  Individuen  zu  vollziehen,  welche  schon 
von  Hause  aus  reizbar  und  verschlossen  sind.  Den  oft  über  Jalire 
sich  erstreckenden  Beginn  büden  leichte  Yerstimmungen,  allerlei 
vage,  zum  Theil  körperliche  Beschwerden  und  Befürchtungen,  Miss- 
trauen, hypochondrische  Ideen.  Der  Kranke  ist  unzufrieden  mit 
seiner  Lage;  er  fühlt  sich  zurückgesetzt,  glaubt  sich  vielleicht  schon 
von  seinen  Eltern  und  Geschwistern  nicht  mit  der  rechten  Liebe 
behandelt,  sondern  vielfach  verkannt,  und  geräth  auf  diese  Weise  aU- 
mähüch  in  einen  gewissen,  zunächst  noch  wenig  markirten  Gegen- 
satz zu  seiner  gesammten  Umgebung.    Nach  und  nach  befestigen 


Combinatorischer  Verfolgungswahn. 


403 


sich  jene  Ideen  in  ihm;  sie  beschäftigen  ihn  häufiger  und  beginnen 
endlich  auch  seine  Wahrnehmungen  zu  beeinflussen.  Er  macht  die 
Bemerkung,  dass  man  ihm  bei  dieser  oder  jener  Gelegenheit  nicht 
mehr  so  freundlich  entgegenkommt,  wie  früher,  dass  man  zurück- 
haltender gegen  ihn  ist,  ihm  aus  dem  "Wege  geht  und  trotz  manches, 
■wie  er  meint,  heuchlerischen  Freundschaftsbeweises  nichts  mehr  mit 
ihm  zu  thun  haben  will. 

In  Folge  dessen  steigert  sich  seine  Empfindlichkeit  und  sein 
Misstrauen;  er  beginnt,  in  einer  harmlosen  Bemerkung,  einer  zu- 
fälligen Geberde,  einem  aufgefangenen  Bhcke  Beleidigungen  und 
Yersteckte  Andeutungen  einer  feindseligen  Gesinnung  zu  argwöhnen. 
Aus  den  Gesprächen  der  Tischgesellschaft  entnimmt  er,  dass  ein 
geheimes  Einverständniss  besteht;  die  gleichen  Eedewendungen  werden 
mit  auffallender  Absichtlichkeit  bei  ganz  bestimmten  Gelegenheiten 
zu  Tode  gehetzt.  Man  pfeift  in  bemerkenswerther  Weise  gewisse 
Lieder,  um  damit  auf  kleine  Erlebnisse  in  seiner  Yergangenheit  hin- 
zuweisen, ihm  Winke  für  sein  Handeln  zu  geben.  In  Theaterstücken, 
Zeitungsartikeln  finden  sich  besondere  Beziehungen  auf  sein  Thun 
und  Treiben;  der  Geistliche  auf  der  Kanzel,  ein  Wahlredner  macht  „in 
der  Bildersprache"  nicht  misszuverstehende  Anspielungen  über  seine 
Person.  Er  begegnet  plötzlich  immerfort  denselben  Menschen,  die 
ihn  anscheinend  beobachten,  ihm  wie  zufäUig  folgen;  man  fixirt  ihn, 
sieht  ihn  von  der  Seite  an;  man  räuspert  sich,  hustet  um  seinetwillen, 
spuckt  vor  ihn  hin  oder  weicht  ihm  aus ;  in  öffenthchen  Localen  rückt 
man  von  ihm  fort  oder  steht  auf,  sobald  er  erscheint,  wirft  ihm  ver- 
stohlene Bücke  zu  und  kritisirt  ihn.  Die  Droschkenkutscher,  Eisen- 
bahnschaffner, Arbeiter  unterhalten  sich  über  ihn.  Deberall  ist  die 
Aufmerksamkeit  auf  ihn  gerichtet;  seine  Kleidung  wird  trotz  ihrer 
TJngewöhnlichkeit  von  zahlreichen  Unbekannten  nachgeahmt.  Einzehie 
Bemerkungen,  die  er  hat  fallen  lassen,  werden  sofort  zur  öffenthchen 
Parole.  Einer  meiner  Kranken  hatte  Gelb  als  die  Farbe  des  Yerstandes 
bezeichnet;  am  nächsten  Tage  trug  alle  Welt  gelbe  Bosen,  um  ihm,  da  die 
Eose  das  Symbol  des  Schweigens  ist,  anzudeuten,  dass  er  klug  sein  und 
schweigen  solle,  —  „Wer  will  all  das  aufzählen,  was  hier  zu  mir  spricht!" 

Alle  diese  Erfahrungen  sind  an  sich  ganz  gleichgültigen  Inhalts; 
sie  erscheinen  „Jedem  nicht  Eingeweihten  ganz  natürüch",  als  Zufällig- 
keiten, aber  der  Kranke  merkt  nur  zu  deutlich,  dass  Alles  mit  dem  aus- 
gesuchtesten Raffinement  „gemacht"  wird,  dass  es  sich  um  die  „künst- 

26* 


404 


VII.  Die  Verrücktheit. 


liehe  Erzeugung  von  Zufällen"  handelt,  hinter  der  sich  ein  abgekarteter 
Handel,  irgend  ein  niederträchtiger  Anschlag  verbirgt.  Allerdings  wird 
das  ganze  Spiel  äusserst  geschickt  in  Scene  gesetzt,  um  ihn  zu  düpiren 
und  ihm  jede  Möghchkeit  einer  wirksamen  Vertheidigung  gegen  aUe 
die  versteckten  Gemeinheiten,  gegen  das  ganze  Spionir-  und  Be- 
obachtungssystem zu  benehmen.  So  oft  er  Jemanden  direct  zur  Eede 
stellt  und  zu  erkennen  giebt,  dass  er  Alles  durchschaut,  thut  man  ganz 
unschuldig  und  erfindet  allerlei  Ausflüchte;  man  steuert  nicht  direct, 
sondern  auf  Umwegen  dem  Ziele  zu,  indem  man  anscheiaend  ge- 
wisse Parallelzwecke  verfolgt,  während  die  wirklichen  Zwecke  nur 
ia  verschleierten  Andeutungen  berührt  werden.  Man  kommt  ihm 
freundhch  entgegen,  um  seine  Wachsamkeit  zu  täuschen,  macht  ihm 
allerlei  Vorspiegelungen  mit  geheimen  Hintergedanken,  deren  wahren 
Sinn  der  Kranke  sofort  erkennt.  Ein  junger  Jurist,  der  als  Sohn 
seiner  Mutter  ohne  Weiteres  deren  feindsehge  Absichten  durch  Intuition 
zu  verstehen  glaubte,  betrachtete  die  telegraphische  Nachricht  von 
deren  Tode  als  eine  „kindische  Mystification"  und  war  nicht  zu  einer 
Eegelung  der  Erbangelegenheiten  zu  bewegen,  da  er  überzeugt  war, 
dass  die  Mutter  noch  lebe  und  sich  nm-  zum  Zwecke  ihrer  Wieder- 
verheirathung  von  ihm  lossagen  wolle. 

Wie  schon  aus  dem  Inhalte  der  Wahnideen  hervorgeht,  ent- 
springen dieselben  durchweg  aus  der  vorurtheilsvollen  Deutung 
wirklicher  Wahrnehmungen.  Nur  hie  und  da  kommt  einmal  eine 
Gehörstäuschung  vor,  meist  ein  einzelnes  Wort  oder  ein  kurzer 
Satz:  „der  säuft";  „da  kommt  der  stinkige  Prophet".  Allerdings 
haben  die  Kranken  öfters  gehört,  dass  an  einem  Nebentische  über 
ihre  intimsten  Yerhältnisse  gesprochen  wurde,  dass  man  einander 
allerlei  schmähliche  Dinge  über  sie  erzählte,  aber  es  scheint  sich  dabei 
doch  fast  immer  um  die  phantasievolle  Deutung  einzelner  Mienen, 
Geberden  oder  zufäUig  aufgefangener  Aeusserungen  zu  handeln. 
In  der  Eegel  geben  daher  die  Kranken  selbst  zu,  dass  sie  selten 
oder  nie  den  objectiven  Beweis  für  die  Kichtigkeit  ihrer  Auffassimg 
erbringen  könnten.  Man  geht  eben  so  schlau  vor,  dass  sich  die 
Erkenntniss  des  inneren  Zusammenhanges  aller  der  scheinbaren 
Zufälligkeiten  nur  vom  Standpunkte  jener  subjectiven  TJeberzeugung 
aus  gewinnen  lässt,  „die  einmal  unerschütterlich  bestand  und  be- 
stehen wird",  wie  ein  Kranker  sagte.  Der  Kranke  fühlt  daher  auch 
bisweilen,  dass  ein  Uneingeweihter  seinen  Gedankengängen  nicht 


Combinatorischer  Verfolgungswahn. 


405 


überall  folgen  kann,  und  fürchtet  dann,  dass  seine  Verfolger  sich 
diese  Sachlage  zu  Nutze  machen  möchten,  um  ihn  für  einen  mit 
Yerfolgungswahnsinn  Behafteten  zu  erklären. 

Durch  die  fortgesetzte  vorurtheilsvolle  Verarbeitung  seiner  Er- 
fahrungen wird  dem  Kranken  klar,  dass  eine  weitverbreitete  Ver- 
schwörung gegen  ihn  im  Werke  ist.  Es  werden  Verleumdungen 
über  ihn  ausgestreut,  er  habe  sich  durch  Ausschweifungen  ein 
Nervenleiden  zugezogen,  sei  der  Paederastie  ergeben.  Man  hat 
seine  Photographie  in  Bordells  gesandt,  imi  ihn  dort  als  Stammgast 
hinzustellen;  es  wurden  gefälschte  Eechnungen  veröffentlicht,  als 
ob  er  täglich  enorme  Mengen  Alkohol  trinke.  Man  will  ihn  aus 
dem  Wege  räumen,  mit  Gewalt  unterdrücken,  wahnsinnig  machen, 
zu  geschlechtlichen  Perversitäten,  zur  Onanie  verführen.  Diesen 
Zweck  verfolgt,  wie  er  annimmt,  eine  mit  erstaunlichen  Mitteln 
arbeitende  Organisation,  der  nicht  nur-  alle  möglichen  Privatpersonen 
aller  Stände,  sondern  auch  Beamte,  Gerichte,  Zeitungsschreiber, 
Geistliche,  Schriftsteller  als  geheime  Agenten  angehören.  .Die  Trieb- 
feder derselben  sind  entweder  einzelne,  bestimmte  Personen,  oder 
es  handelt  sich  um  einen  allgemeinen  Bund  der  Freimaurer,  So- 
cialisten,  welcher,  durch  furchtbare  Eide  zusammengehalten,  aus 
besonderen  Gründen  den  Kranken  in  seine  Gewalt  zu  bringen 
trachtet. 

Mit  diesen  Vorstellungen  verknüpfen  sich  nicht  selten  gewisse 
Grössenideen.  Schon  die  Ungeheuerlichkeit  des  ganzen  Apparates, 
den  der  Kranke  gegen  sich  in  Scene  gesetzt  wähnt,  deutet  auf  eine 
sehr  bedeutende  üeberschätzung  der  eigenen  Persönlichkeit,  des 
vermeintlichen  Mittelpunktes  derartiger  Kraftanstrengungen  hin. 
Meist  halten  sich  indessen  diese  Ideen  in  den  Grenzen  einer  ge- 
wissen selbstgefälligen  Eitelkeit.  Der  Kranke  betrachtet  sich  als 
besonders  talentvoll,  genial,  als  bedeutenden  Dichter,  Musiker,  Ge- 
lehrten, legt  grossen  Werth  auf  sein  Aeusseres,  hält  etwas  auf  sich, 
glaubt  sich  berufen,  eine  hervorragende  Stellung  in  der  Welt  ein- 
zunehmen. ISTui'  selten  begegnet  man  hier  Grössenideen  von  phan- 
tastischerer Gestaltung. 

Die  Stimmung  des  Kranken  steht  mit  seinen  Wahnvorstel- 
lungen in  innigstem  Zusammenhange.  Er  empfindet  die  vermeint- 
lichen Verfolgungen  als  eine  Art  „geistiger  Folter",  fühlt  sich 
dauernd  beunruhigt  und  gequält,  wird  argwöhnisch,  menschenscheu, 


406 


Vn.  Die  Verrücktheit. 


gereizt.  Da  er  überall  Geheimbündelei  vermuthet,  zieht  er  sich 
zurück,  führt  gelegentlich  Scenen  mit  seinen  Freunden  und  Ver- 
wandten herbei,  die  diesen  gänzlich  unverständlich  bleiben.  Er 
schreibt  ohne  erkennbaren  Grund  beleidigende  Briefe,  lässt  Annoncen 
zur  Entkräftung  der  gegen  ihn  vorgebrachten  versteckten  Anschuld- 
igungen einrücken,  ruft  die  Hülfe  der  Behörden  an,  vrechselt  plötz- 
lich seine  Stellungen  oder  sucht  sich  durch  Reisen  den  fortwäh- 
renden Ajizapfungen  zu  entziehen. 

Dieses  letztere  Mittel  hilft  nicht  selten  für  einige  Zeit.  Allein  sehr 
bald  bemerkt  er,  dass  man  ihm  wie  einer  bereits  signalisirten  Per- 
sönlichkeit begegnet  und  über  ihn  und  sein  gesammtes  Vorleben  voll- 
ständig orientirt  ist.  In  allerlei  Andeutungen  spinnen  sich  geheime 
Fäden  aus  seiner  früheren  in  die  jetzige  Umgebung  hinein.  Man 
spionirt  ihm  überall  nach;  einzelne  Personen,  die  er  trotz  vermeint- 
licher Verkleidung,  falscher  Bärte,  gefärbter  Haare  überall  wieder- 
erkennt, folgen  ihm  auf  Schritt  und  Tritt,  überwachen  ihn  beständig,  so 
dass  seine  Lage  „oft  schlimmer  ist,  als  die  eines  steckbrieflich  Ver- 
folgten". Seine  Vorstellungen  von  der  Ausdehnung  und  den  Macht- 
mitteln der  ihn  verfolgenden  Bande  wachsen  dabei  in's  Dngeheuerliche. 
Zugleich  wird  seine  Lebensführung,  wie  sein  äusseres  Benehmen, 
immer  unsteter  und  zerfahrener.  Die  Fähigkeit  zu  andauernder 
sachUcher  Beschäftigung,  zur  regelmässigen  Erfüllung  bestimmter 
Berufspflichten  wird  durch  die  fortwährende  gemüthliche  Beun- 
ruhigung empfindlich  beeinträchtigt,  auch  wenn  die  Intelligenz  an 
sich  anscheinend  völlig  normal  ist. 

Den  letzten  Anlass  zur  Verbringung  des  Ejranken  in  die 
Anstalt  bildet  auch  hier  gewöhnlich  irgend  eine  Reaction  des- 
selben auf  die  vermeintlichen,  gegen  ihn  gerichteten  Angriffe.  Er 
hat  etwa  eine  Verleumdungsklage  eingereicht,  Drohungen  aus- 
gestossen,  oder  ist  sogar  in  seiner  Erregung  einmal  gewaltthätig  ge- 
worden. Die  Aufnahme  in  die  Anstalt  ist  für  ihn  ein  neuer  raffi- 
nirter  Schachzug  seiner  Gegner,  die  ihm  schon  längst  angedeutet 
haben,  dass  er  mit  Wahnsinn  endigen  müsse.  Zunächst  fügt  er 
sich,  da  er  sicher  ist,  dass  man  seine  geistige  Gesundheit  bald  er- 
kennen werde.  In  allen  seinen  Aeusserungen  hält  er  sich  sehr  zu- 
rück, weicht  eindringücheren  Fragen  aus  und  verbirgt  oft  lauge  Zeit 
das  Nest  seiner  Wahnideen  hinter  einem  äusserlich  correcten  Be- 
nehmen, bis  ihm  -ein  besonderer  Anlass,  ein  Affect  dieselben  her- 


Querulaateuwahn. 


407 


auslockt.  Allmählich  wird  ihm  jedoch  klar,  dass  sich  das  versteckte 
Verfolgungssystem  auch  in  der  Anstalt  fortsetzt.  Die  Aerzte  sind 
gedungen,  ihn  unschädlich  und  womöglich  wirklich  geisteskrank  zu 
machen,  da  man  ihm  auf  andere  Weise  nicht  beizukoramen  yer- 
mochte.  Seine  Mitpatienten  sind  gar  nicht  krank,  sondern  be- 
stochene Simulanten,  welche  ihn  durch  ihr  Yerhalten,  ihre  un- 
sinnigen Streiche  „prüfen"  sollen;  hinter  einzelnen  derselben  ver- 
muthet  er  PoHzeiagenten  oder  irgendwelche  hervorragende  Persön- 
Kchkeiten  im  Incognito.  Er  dringt  daher  sehr  energisch  aui  seine 
Entlassung,  schreibt  Briefe  über  Briefe,  um  dieselbe  zu  erwirken, 
verfasst  Beschwerden  wegen  widerrechtlicher  Freiheitsberaubung, 
macht  Fluchtversuche  und  führt  nicht  selten  den  erbitterten  Kampf 
um  seine  Menschenrechte  mit  grossem  Geschicke  und  äusserster 
Hartnäckigkeit. 

Der  combinatorische  Terfolgungswahn  pflegt  sich  meist  im 
Laufe  des  dritten,  seltener  des  vierten  Lebensjahrzehntes  zu  ent- 
wickeln. Meist  handelt  es  sich  um  hereditär  krankhaft  veranlagte, 
nicht  selten  bis  zu  einem  gewissen  Grade  künstlerisch  begabte 
Personen. 

Der  weitere  Verlauf  der  Krankheit  ist  im  Allgemeinen  ein 
überaus  langsamer,  lässt  aber  in  längeren  Zeiträumen  doch  regel- 
mässig eine  allmähliche  Verschlechterung  erkennen.  Die  Kranken 
bleiben  andauernd,  mit  kurzen  Unterbrechungen  zorniger  Erbitterung, 
ruhig,  besonnen,  geordnet  und  fähig,  sich  zu  beschäftigen,  ja  sie 
sind  sogar  häufig  genug  im  Stande,  auf  irgend  einem  künstlerischen 
oder  wissenschaftlichen  Gebiete  noch  eine  gewisse  productive  Kraft 
zu  entfalten,  allein  sie  sind  von  Anfang  an  vollkommen  ohne  jede 
Krankheitseinsicht,  und  sie  werden  im  Laufe  der  Zeit  diu-ch 
das  Bestreben  einer  einheitlichen  Verarbeitung  ihrer  wahnhaften 
"Wahrnehmungen  zu  immer  abenteuerlicheren  Erklärungsversuchen, 
zu  einer  immer  phantastischeren  Weltauffassung  gedrängt. 

Der  Querulantenwahn.  Der  bisher  besprochenen  Gestaltung  des 
combinatorischen  Verfolgungswahnes  steht  als  durchaus  eigenartige 
Entwicklungsform  der  Querulantenwahn  gegenüber.  Der  Beginn 
der  Erkrankung  fällt  meist  in  das  vierte  Decennium  oder  etwas 
später.  Den  Grundzug  im  Krankheitsbilde  liefert  hier  die  Idee  der 
rechtlichen  Benachtheiligung  und  der  fanatische  Drang,  gegen 
das  vermeintlich  erlittene  Unrecht  bis  auf  das  Aeusserste  anzu- 


408 


Vn.  Die  Verrücktheit. 


kämpfen.  Allein  es  ist  keine  Sinnestäuschung,  kein  Primordial- 
delirium,  welches  dem  Kranken  eine  imaginäre  Beeinträchtigung 
etwa  nur  Tortäuschte,  wie  bei  den  übrigen  Formen  des  Verfolgungs- 
wahns, sondern  der  Wahn  knüpft  sich  regelmässig  an  irgend  einen 
wirklichen  Nachtheil  an,  den  der  Kranke,  meistens  in  einem  Rechts- 
streite und  mit  vollem  Rechte,  erlitten  hat.  Nur  fehlt  ihm  die  Fähig- 
keit zu  objectiver  "Würdigung  der  Sachlage  und  derjenige  Ueber- 
blick  über  den  Lauf  der  Dinge,  der  ihn  sich  bei  der  getroffenen 
Entscheidung  beruhigen  lassen  würde.  Ein  krankhaft  entwickeltes 
Selbstgefühl,  welches  ihm  jedes  Yerständniss  für  die  Berechtigung 
fremder  Interessen  unmöglich  macht  und  ihn  in  eine  extrem  egocen- 
trische  Weltanschauung  hineindrängt,  befestigt  in  ihm  die  Ansicht, 
dass  ihm  bitteres  Unrecht  geschehen  sei,  und  dass  er  auf  jeden  Fall 
die  Angelegenheit  weiter  verfolgen  müsse.  Blind  gegen  besseren 
Rath,  setzt  er  weitere  Rechtsmittel  in  Bewegung,  schreibt  unzählige 
Briefe  und  Eingaben,  strotzend  von  Beleidigungen  seiner  Gegner 
und  der  Gerichte,  appellirt  von  einer  Instanz  an  die  andere,  mit 
immer  wachsender  Leidenschaftlichkeit  und  Hartnäckigkeit  sein  ver- 
meintliches „Recht"  suchend,  mag  auch  alles  Andere  darüber  zu 
Grunde  gehen.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  dieser  leitende  Gedanke, 
um  jeden  Preis  die  Anerkennung  der  eigenen  rechtlichen  Interessen 
zu  erzwingen,  an  sich  ein  durchaus  gesunder  genannt  werden  muss; 
das  krankhafte  Element  liegt  nur  in  dem  mangelnden  Yerständ- 
nisse  für  das  objectiv  Rechte,  in  der  naiven  Identificirung  der 
persönlichen  Interessen  mit  dem  öffentlichen,  allgemeinen  Wohle. 
„Er  sucht  das  Recht,  kann  es  aber  nicht  finden",  sagte  ein  Zeuge 
im  Entmündigungsverfahren  von  einem  Querulanten. 

Die  sittliche  Idee  der  fremden  Gleichberechtigung,  das  Gefühl 
für  die  Unverletzlichkeit  auch  der  Rechtsinteressen  des  Gegners  ist 
hier  gänzlich  unentwickelt  geblieben  oder  wieder  verloren  gegangen. 
Der  Kranke  hält  die  unsittlichsten  Mittel  für  erlaubt,  sobald  sie  ihm 
zur  Schädigung  seines  Feindes  dienen,  während  selbst  die  mildesten 
Formen  des  rechtlichen  Zwanges  in  ihrer  Anwendung  auf  ihn  selbst 
als  brutale  Angriffe  und  Yergewaltigungen  aufgefasst  werden.  Auf 
diese  Weise  verwickelt  sich  der  Kranke  in  einen  endlosen  Conflict 
mit  den  Behörden  und  Gerichten,  die  er  bald  nur  noch  als  eine 
Bande  von  Spitzbuben  und  Räubern  betrachtet;  er  widersetzt  sich 
allen  Anordnungen  derselben  mit  äusserstem  Eigensinn  und  gi-eift 


Queriilantenwahn . 


409 


schliesslich  zu  offener  Gewalt,  um  sich  selbst  das  ihm  vorenthaltene 
Eecht  zu  yerschaffen.  Seine  Häusüchkeit,  sein  Geschäft,  sein  Yer- 
mögen,  Alles  wird  dem  kraakhaften  Drange  geopfert.  Nicht  selten 
gewinnt  der  Ki-aake  im  Verlaufe  seiner  Angelegenheit  eine  ausser- 
ordentliche formale  Kenntniss  der  Eechtsbestimmungen,  die  er  ebenso, 
wie  seine  Acten,  bisweilen  wörthch  auswendig  lernt,  allerdings  nicht, 
ohne  dieselben  in  seinem  eigenen,  subjectiven  Sinne  auszulegen. 
Jede  Unterredung  mit  einem  Querulanten  pflegt  sehr  bald  auf  seine 
Beeinträchtigungsideen  zu  führen,  welche,  je  länger  desto  mehr,  sein 
ganzes  wirkliches  Interesse  in  Anspruch  nehmen.  Ton  jedem,  noch 
so  entlegenen  Punkte  aus  führt  sein  Gedankengang  immer  wieder  auf 
dieses  Centi-um  zurück.  Er  überschüttet  dann  den  Hörer  mit  Be- 
hauptungen über  die  Schlechtigkeit  seiner  Gegner,  die  sich  bei  ge- 
nauerer Prüfung  zum  Theil  als  ganz  aus  der  Luft  gegriffen,  zum  Theil 
als  arg  entstellte  Klatschgeschichten  erweisen.  Eür  die  Eichtigkeit 
jeder  seiner  Aussagen  beruft  er  sich  sogleich  auf  eine  Menge  nam- 
haft gemachter  Zeugen,  welche  indessen  meist  gar  keine  oder  nur 
ganz  unbestimmte  Angaben  zu  machen  wissen  und  dann  von  dem 
Kranken  der  Parteüichkeit,  Bestechhchkeit  oder  des  Meineids  be- 
zichtigt werden,  weil  sie  nicht  recht  ausgesagt  haben.  "Widersprach 
pflegt  den  Kranken  sehr  zu  reizen  und  führt  nicht  selten  zu  heftigen 
Zornausbrüchen. 

Mit  der  wachsenden  Leidenschaft  nimmt  auch  die  Lust  am 
Processiren  selbst  zu,  so  dass  die  Kranken  schhesslich  schon  aus  ge- 
ringfügigem oder  ganz  ohne  Anlass  sich  aus  einem  Kechtsstreite  in 
den  anderen  stürzen,  dass  ihnen  nicht  der  Sieg,  sondern  der  Kampf 
selber  Beweggi-und  zum  Kampfe  wird.  Sie  ergreifen  mit  Freuden  jede 
Gelegenlieit,  auch  für  Andere  Briefe,  Eingaben,  Proteste,  Streitschriften 
zu  schreiben,  und  gerathen  auf  diese  "Weise  bisweilen  geradezu  in  die 
Laufbahn  der  "Winteladvokaten  hinein.  Solche  Zustände,  die  mannig- 
fache Berührungspunkte  mit  den  normalen  Charakteranlagen  der  Eecht- 
haberei,  der  Streitsucht  aufweisen  und  in  der  That  ohne  scharfe 
Grenzen  stetig  in  die  Breite  der  gesunden  Individuahtäten  über- 
gehen, werden  vom  Publikum  und  auch  von  den  Aerzten  fast  immer 
falsch  beurtheilt,  weil  die  inteUectuellen  Störungen  in  der  Eegel 
wenig  hervortreten  und  durch  ein  oft  gut  erhaltenes  Gedächtniss, 
wie  durch  eine  gewisse  rabulistische  Gewandtheit  verdeckt  werden. 
Die  Entstellungen  und  Yerdrehungen  des  Thatbestandes,  die  der 


410  Die  Verrücktheit. 

Kranke  vom  StandpurLkte  seiner  krankhaften  Auffassung  optima  fide 
vorbringt,  werden  leicht  für  absichtliche,  raffln irte  Täuschungen  ge- 
halten und  als  Beweis  für  die  sittliche  Yerkommenheit  und  Unver- 
schämtheit desselben  angesehen. 

Erst  sehr  spät,  oft  nach  mehr  als  einem  Jahrzehnte,  pflegt  die 
pathologische  Natur  der  Störung  richtig  erkannt  zu  werden,  nachdem 
der  Kranke  finanziell  und  social  zu  Grunde  gegangen,  ungezählte 
Male  verurtheilt,  gemassregelt  und  zum  Schrecken  der  Behörden  ge- 
worden ist.  Der  Schwachsiim  ist  nun  in  den  stereotj^en,  zusammen- 
hangslosen Schmähungen  und  grottesken  Anschuldigungen  meist  nicht 
mehr  zu  verkennen.  In  der  Anstalt  sind  die  sonst  so  erregbaren 
Kranken  regelmässig,  gutmüthig  und  lenksam,  wenn  man  sie  nicht 
durch  "Widerspruch  und  Berühren  des  Aviinden  Punktes  gefiissent- 
Hch  reizt.  Eine  weitere  Ausbildung  pflegt  das  "Wahnsystem,  im  Gegen- 
satze zu  den  früher  besprochenen  Formen,  meist  nicht  mehr  zu 
erfahren;  allerdings  ist  ein  Zurücktreten  desselben,  abgesehen  vielleicht 
von  der  sehr  allmählich  zunehmenden  Stumpfheit  der  Kranken,  eben- 
sowenig zu  erwarten. 

B.  Expansive  Formen. 

Der  hallucmatorisclie  Grössenwalin.  Unter  diesem  Namen  sei 
es  gestattet,  zunächst  eine  Anzahl  von  Krankheitsbildern  zusammen- 
zufassen, in  deren  Entwickelung  hallucinatorische  Wahi-nehmungen, 
namentiich  auf  dem  Gebiete  des  Gehörs  und  Gesichts,  eine  hervor- 
ragendere KoUe  zu  spielen  scheinen.  In  einer  ersten  Gruppe  von 
Fällen  bleibt  dabei  die  Ausbildung  des  Wahnsystems  eine  ähnlich 
dürftige,  wie  beim  einfachen  hallucinatorischen  Yerfolgiings^vahn. 
Gewöhnlich  entwickelt  sich  die  Psychose  langsam  und  schleichend, 
so  dass  sie  meistens  schon  weit  ausgebildet  ist,  wenn  sie  entdeckt 
wird.  Der  Kranke  hört,  zunächst  vielleicht  bei  einer  besonderen 
Gelegenheit  oder  im  Aifecte,  später  häufiger,  einzelne  Zurufe,  die 
sich  auf  sein  Handeln  beziehen,  die  Aufforderung,  an  einen  be- 
stimmten Ort  zu  ziehen,  zu  heirathen,  zu  fasten  oder  dergl.  Anfangs 
wird  er  durch  diese  Stimmen,  welche  in  der  Kegel  keinen  direct 
sinnlichen,  sondern  einen  übernatürlichen  Charakter  besitzen,  be- 
um-uhigt  und  erschreckt;  allmählich  aber  Avird  es  ihm  klar,  dass  die- 
selben nichts  anderes  sind,  als  göttliche  Eingebungen,  auch  wenn 


Hallucinatorischer  G-rössenwahn. 


411 


sie  von  ihm  bekannten  Persönlichkeiten  herzustammen  scheinen.  So 
kommt  es,  dass  er  nach  Kräften  den  an  ihn  gerichteten  Befehlen  in 
Wirklichkeit  nachzukommen  sucht. 

Nach  imd  nach  gewinnt  der  Verkehr  des  Kranken  mit  dem  lieben 
Gott  eine  immer  grössere  Ausdehnung.  Die  Stimmen  begleiten  bis- 
weilen das  Denken  und  Thun  des  Kranken  immerwährend  mit  beifälliger 
oder  missfälliger  Kritik;  sie  regeln  den  ganzen  Tageslauf  bis  in's 
Einzelne  und  veranlassen  den  Kranken  häufig  genug  zu  unsinnigen 
und  auffallenden  Handlungen,  namentlich  zu  zwecklosen  Eeisen. 
Ein  derartiger  Kranker  wurde  vom  Geist  Gottes  aufgefordert,  in  ein 
behebiges  Haus  hineinzugehen  und  mit  der  Mütze  auf  dem  Kopfe 
die  erste  beste  ihm  begegnende  Frauensperson  zu  heirathen;  ein 
Anderer  schimpfte  auf  Anordnung  der  Flüsterstimmen  alle  ver- 
schleierten Damen,  denen  er  begegnete,  so  dass  er  mehrfach  des- 
wegen mit  der  PoHzei  in  Confhct  gerieth.  In  einzelnen  Fällen  kann 
es  sogar  auf  Grund  hallucinatorischer  Befelile  zu  plötzlichen  Gewalt- 
acten,  Zerstörungen,  Selbstverstümmelungen  kommen.  Häufig  ge- 
sellen sich  zu  den  Stimmen  noch  andersartige  Trugwahrnehmungen 
hinzu,  welche  in  ähnlicher  Weise  gedeutet  zu  werden  pflegen. 
Wunderbare  Durchleuchtungs-  und  Durchströmungsgefühle  lassen  den 
Kranken  erkennen,  dass  der  Geist  Gottes  von  seinem  Leibe  Besitz 
genommen  hat;  eine  Yision  von  Sternen  und  Lichtpunkten  deutet 
aiif  künftigen  Sieg  und  Ruhm;  herrliche  Gerüche,  angenehme  Ge- 
scljmacksempfindungen  dienen  dazu,  ihm  das  Erdendasein  zu  ver- 
süssen. Ja,  nicht  selten  bemächtigen  sich  die  göttlichen  Einflüsse 
auch  der  Muskeln  des  Kranken.  Die  Zimge  wird  ihm  gezogen,  dass 
er  sprechen  muss,  was  ihm  der  Geist  eingiebt;  ohne,  oder  sogar  gegen 
seinen  Willen  muss  er  grässliche  Schreie  ausstossen;  sein  Arm  wird 
ihm  geführt,  wenn  er  schreibt  oder  den  Kampf  in  heiliger  Sache 
aufnimmt.  Auch  in  der  äusseren  Natur  begegnen  ihm  allerlei 
wunderbare  Erlebnisse.  Wenn  er  betet,  so  strömt  fi-uchtbarer  Eegen 
herab,  oder  der  umwölkte  Himmel  klärt  sich  plötzKch  auf,  sobald 
er  auf  die  Strasse  tritt. 

AUe  diese  Wahrnehmungen  mit  den  an  sie  sich  knüpfenden 
TJeberlegungen  lassen  dem  Kranken  keine  Zweifel  darüber,  dass  er 
ein  Auserwählter  des  Himmels,  ein  Prophet,  Braut  Chiisti  ist.  Er 
ist  das  unwürdige  Werkzeug,  durch  welches  sich  Gottes  Wille  offen- 
bart.  Neben  diesen  Grössenideen  bestehen  aber  häufig  auch  allerlei 


412 


VII.  Die  Verrücktheit. 


depressive  Yorstellungen.  Der  Kranke  baut  sich  aus  seiner 
früheren  Sündhaftigkeit  gleichsam  ein  Piedestal  für  seine  jetzige 
Grösse;  er  hat  viel  Schlechtes  gethan,  oft  gefrevelt  und  muss  dafür 
in  allerlei  Selbstkasteiung  (Fasten,  Beten,  Knieen)  Busse  thun, 
um  sich  der  hohen  Gnade  würdig  zu  erweisen.  Oder  aber  es 
schieben  sich  hypochondrische  Elemente  ein,  Klagen  über  abnorme 
Sensationen  im  Kopfe,  über  nächtliche  Samenverluste  und  Arbeitsr 
Unfähigkeit. 

Die  Stimmung  des  Kranken  ist  dabei  in  der  Eegel  eine  ge- 
hobene, zeitweise  sogar  lebhaft  erregte,  wenn  sich  auch  häufig  genug 
in  Folge  von  „Anfechtungen"  rasch  vorübergehende  Zomausbrüche 
oder  sogar  länger  dauernde  depressive  Verstimmungen  geltend  machen. 
Die  Besonnenheit  und  das  Gedächtniss  des  Kranken  sind  voll- 
kommen erhalten;  in  der  ersten  Zeit  der  Psychose  besteht  sogar 
bisweilen  erue  Art  Krankheitsbewusstsein,  allerdings  gewölmlich  mit 
hypochondrischer  Färbung.  Ein  gewisser  Grad  geistiger  Schwäche 
ist  regelmässig  vorhanden.  ,  Der  Yerlauf  der  Krankheit  pflegt  ein 
sehr  langsamer  zu  sein;  der  Zustand  des  Kranken  bleibt  viele  Jahre 
hindurch  fast  stationär. 

Eine  ungleich  mannigfaltigere  Entwickelung  hat  eine  zweite 
Gruppe  von  Beobachtimgen  aufzuweisen,  in  welcher  neben  den  Sinnes- 
täuschungen die  phantastische  Erfindung  eine  grössere  Eolle 
spielt.  Fast  immer  beginnen  diese  Erkrankungen  mit  depressiven 
"Wahnideen.  Der  Kranke  fühlt  sich  unglücklich,  verstimmt,  m^cht 
sich  allerlei  Yorwürfe,  dass  er  durch  Selbstbefleckung  Körper  und  Geist 
für  immer  ruinirt,  fremdes  Eigenthum  unrechtmässig  für  sich  be- 
halten habe,  hängt  viel  religiösen  Grübeleien  nach,  betet  fleissig, 
singt  Kirchenlieder  und  trägt  sich  mit  Todesgedanken,  um  grosses 
Unglück  zu  verhüten.  Oder  aber  er  merkt,  dass  seine  Umgebung 
ihm  feindhch  gesinnt  ist.  Man  hustet  auffälhg  hinter  seinem  Rücken, 
streckt  ihm  die  Zunge  heraus,  chicanirt  und  verspottet  ihn,  ist  ihm 
aufsässig;  die  Frau  ist  untreu,  will  ihn  vergiften.  Nunmehr  stellen 
sich  einzelne  Gehörstäuschungen  ein,  Telephonstimmen,  Signale  aus 
der  Luft  durch  den  Sprachschalter.  Alle  sprechen  über  ihn ;  er  soll 
zum  Scharfrichter  geführt  werden,  den  Tod  durch  eine  Lokomotive 
finden;  das  Gift  ist  schon  im  Glas,  er  hat's  schon;  „wenn  er  wüsste, 
dass  ich  da  wäre,"  ruft  eine  fremde  Mannesstimme.  Schrnndelan- 
fälle  treten  auf,  Begattungsempfindungeu,  Durchzuckung  im  Körper, 


Hallacinatorischer  Grössenwahn. 


413 


Schlaffheit  der  Glieder;  das  Hirn  dreht  sich  wie  in  Wickeln.  Gleich- 
zeitig steigen  massenhafte  „vermuthende  Gedanken",  Ahnungen,  Ein- 
gebungen auf.  Der  Kranke  muss  sein  ganzes  früheres  Leben  durch- 
denken, „in  vier  Stunden  19  Jahre  durch  sein  Gehirn  durch- 
schlagen"; er  müsste  ein  Buch  schreiben,  wenn  er  Alles  aufzeichnen 
wollte,  was  ihm  in  den  Kopf  kommt. 

Schon  während  der  ersten  depressiven  Periode  lässt  sich  deut- 
lich der  eigentlich  expansive  Charakter  des  Krankheitsprocesses  er- 
kennen. Die  Stimmung  des  Kranke»  ist  zwar  zeitweise  nieder- 
geschlagen oder  gereizt,  ja  es  kann  sogar  zu  einem  plötzlichen 
brüsken  Selbstmordversuche  oder  ähnlichen  Gewaltacten  kommen. 
Allein  es  tritt  doch  von  vorn  herein  ein  eigenthümlich  ekstatisch- 
schwärmerischer  Zug  oder  ein  stark  gehobenes  Selbstgefühl  in  auf- 
fallenden Gegensatz  zu  dem  selbstquälerischen  oder  feindseligen  In- 
halte der  Wahnideen.  Der  Kranke  hat  „bewunderungswürdig  gelitten", 
durch  sein  Leiden  die  Sünden  der  Welt  gesühnt.  Dem  entsprechend 
gehen  auch  schon  früh  Wahrnehmungen  expansiver  Art  neben  jenen 
ersteren  einher,  um  im  weiteren  Yerlaufe  der  Krankheit  mehr  und 
mehr  das  IJebergewicht  zu  erlangen. 

Manchmal  sind  es  einfach  lebhafte,  phantastische  Träume,  die 
der  Kranke  zu  seinen  wirklichen  Erlebnissen  in  Beziehung  setzt. 
In  diesen  „nächtlichen  geistigen  Verschleuderungen"  führt  ihn  die 
Gewalt  Gottes  in  fremde  Länder,  bringt  ihn  in  Yerkehr,  auch  sexu- 
ellen, mit  hohen  Personen,  und  giebt  ihm  durch  mannigfache  Dar- 
stellungen aussichtsreiche  Yerheissungen  für  die  Zukunft.  Häufiger 
jedoch  kommt  es  zu  einzelnen,  mit  klarem  Bewusstsein  aufgefassten 
visionären  Scenen.  Der  Kranke  erwacht  in  der  Nacht  mit  un- 
beschreiblichen Wonnegefühlen;  seine  Augen  werden  von  dem 
Lichte  geblendet,  welches  sein  Schlafzimmer  erfüllt.  Er  sieht  Gott 
in  Gestalt  eines  Sterns,  eine  herrliche  Gestalt  in  köstlichem  Ge- 
wände, die  Mutter  Gottes,  Engel  mit  goldenen  Flügeln,  welche 
eine  Königskrone  tragen,  das  Christkind,  welches  ihn  ah  der  Hand 
führt,  ihm  die  Weltkugel  überreicht,  den  Kaiser  mit  einer  strahlen- 
den Sonne.  Dabei  hört  er  eine  Stimme,  die  in  mehr  oder  weniger 
klaren  Ausdrücken  ihm  seine  hohe  Mission  verkündet:  „Das  ist 
mein  lieber  Sohn,  an  dem  ich  Wohlgefallen  habe",  „dir  sind  deine 
Sünden  vergeben",  „du  musst  bekennen"  und  dergl.  Oder  es  ent- 
steht ein  Getöse;  die  Schwerter  klingen,  die  Hähne  krähen,  als  ob 


414 


Vn.  Die  Verrücktheit. 


Krieg  und  Kampf  wäre.  Bisweilen  wiederholen  sich  solche  Erleb- 
nisse mehrmals  in  längeren  Zwischenräumen. 

Seltener  treten  auch  bei  Tage  einzelne  illusionäre  Wahr- 
nehmungen auf,  an  welche  sich  wahnhafte  Deutungen  anschliessen. 
Der  Kranke  sieht  in  einer  Lichtflamme  das  Schwert,  das  ihm  Gott 
gegeben,  einen  Spiess  und  einen  Galgen,  schimmernde  Seidenraupen 
an  der  Wand;  auf  dem  Zifferblatt  der  Uhr  heben  sich  zwei  Ziffern 
bedeutungsvoll  ab;  ein  ungewöhnlich  heller,  früher  nie  bemerkter 
Stern  leuchtet  plötzlich  durch  die  "Wolken. 

Dazu  gesellen  sich  sehr  häufig  eigenthtimliche  Wahrnehmungen 
nicht  sinnlicher  Natur,  die  als  „Gewissensstimmen,"  als  „innere  Stimmen, 
die  nicht  mit  Worten  sprechen",  bezeichnet  werden.  Sie  sind  es,  welche 
dem  Kranken  das  tiefere  Yerständniss  für  alle  seine  wunderbaren 
Erlebnisse  eröffnen.  Durch  sie  erfährt  er,  dass  er  besonders  von  Gott 
begnadet,  Christus  oder  Braut  Christi,  ein  gewaltiger  Menschengeist  ist. 
Grosses  vollbringen,  alle  Kämpfe  siegreich  überstehen,  die  Bürger- 
krone für  das  Land  erringen  werde.  Gerade  diese  Offenbarungen 
pflegen  für  ibn  eine  besonders  grosse  überzeugende  Kraft  zu  haben. 
„Ich  habe  unzählich  viele  und  gar  keine  Beweise,"  sagte  mir  eine 
derartige  Kranke.  Ausserdem  werden  indessen  auch  wirkliche  Wahr- 
nehmungen einfach  von  dem  Kranken  im  Sinne  seiner  Ideen  ver- 
arbeitet. Zunächst  weiss  er  freilich  vielfach  noch  nicht,  was  Alles 
bedeuten  soll,  ist  aber  sicher,  dass  ihm  später  Alles  klar  werden 
wird.  Ein  Besuch  aus  der  Hauptstadt  hängt  mit  seiner  Berufung 
auf  den  Thron  zusammen;  der  Geistliche  auf  der  Kanzel  legt  seine 
Sachen  aus;  in  den  Büchern  weist  Alles  auf  ihn  hia.  Eine  Kranke 
strickte  sich  ihr  zukiinftiges  Leben  „als  ein  schönes,  frommes  Leben 
am  Strickstrumpf  ab". 

Mit  den  inneren  Stimmen  verbindet  sich  regelmässig  die  Vor- 
Btellung  der  Beeinflussung  durch  eine  höhere  Macht.  Der  Kranke 
fühlt  sich  ganz  in  Gottes  Hand;  sein  Körper  ist  wie  eine  Maschine, 
die  man -sprechen  lässt,  wenn  man  auf  den  Knopf  drückt  Seine 
Gedanken  werden  ihm  gemacht,  aus  dem  Kopfe  gezogen,  werden  laut, 
so  dass  auch  Andere  sie  hören.  Mit  der  Entwickelung  der  Grössen- 
ideen  tritt  der  Yerfolgungswahn  allmählich  mehr  in  den  Hinter- 
grund, doch  pflegen  sich  einzelne  Züge  desselben  noch  längere  Zeit 
zu>  erhalten.^  pie  Beeinträchtigungen  und  Demüthigungen  werden 
nun  vom  Kranken  gewissermassen  als  Prüfungen  aufgefasst,  als 


Hallucinatoi'iecher  Grösseuwahn. 


415 


Yorbereitnug  für  seinen  künftigen  hohen  Beruf.  Er  wird  es  ab- 
warten, wird  schon  das  Ziel  erreichen,  wegen  dessen  man  ihn  Jahre 
lang  gepeinigt  hat;  weil  er  stark  im  Glauben  gewesen  ist,  hat  er  die 
Trübsal  überstanden,  um  erhöht  zu  werden.  Hie  und  da  kommt 
es  noch  zu  „Anfechtungen"  durch  den  bösen  Feind,  der  sexuelle 
Angriffe,  „Gedankensammeln",  Hohlheit  im  Unterleibe  bewirkt,  doch 
folgt  solchen  Anfällen  in  der  Eegel  eine  um  so  freudigere  und 
stolzere  Erhebung  zu  himmlischen  oder  weltlichen  Wüi'den. 

Im  Zusammenhange  mit  der  Eichtun gsänderung  des  Wahns 
wird  die  Stimmung  der  Kranken  allmählich  eine  immer  gehobenere, 
bald  im  Sinne  eines  selbstgefälligen  Hochmuths,  bald  in  dem  einer 
verzückten  Schwärmerei.  Meist  besteht  erhöhte  sexuelle  Erregbarkeit, 
die  sich  in  geschlechtlichen  Verdächtigungen,  erotischen  Träumen, 
Masturbation  und  sinnlicher  Ausmalung  der  religiösen  Beziehungen 
zum  ,,Seelenbräutigam"  oder  der  „Seelenbraut"  auszudrücken  pflegt. 
Eine  gewisse  Steigerung  der  gemüthlichen  Reizbarkeit  führt  zu  ge- 
legentlichen explosiven  Handlimgen.  Den-  Anlass  dazu  giebt  ent- 
weder eine  plötzhch  auftauchende  Wahnvorstellung,  eine  Mitkranke 
sei  die  Person,  mit  welcher  der  Mann  früher  Unzucht  getrieben 
habe,  irgend  eine  unangenehme  Sensation,  die  als  Vergiftungszeichen, 
als  geschlechtlicher  Angriff  gedeutet  wird,  oder  auch  ein  ganz  unklarer 
Antrieb  durch  die  innere  Stimme,  als  müsse  es  so  geschehen.  In 
Haltung  und  Benehmen  prägt  sich  das  gehobene  Selbstgefühl  deutlich 
aus,  in  der  überlegenen  Miene,  dem  befriedigten  Gesichtsausdruck, 
der  gewählten,  oft  auch  geschraubten  Sprache,  den  affectirten  Be- 
wegungen. Die  Schriftzüge  werden  nicht  selten  gross  und  prätensiös, 
wunderlich  verschnörkelt,  während  der  Inhalt  der  Aufzeichnungen 
durch  Wortverdrehungen,  Neubildungen,  weit  her  geholtes  Symboli- 
siren  bis  zur  völligen  Unverständlichkeit  krankhaft  verändert  wird. 

Die  Arbeitsfähigkeit  der  Kranken  leidet  durch  die  Entwickelung 
des  Wahns.  nam.entlich  in  der  ersten  Zeit,  meist  beti-ächtlich.  Obgleich 
sie  vöUig  besonnen  sind,  werden  sie  doch  durch  ihre  krankhaften 
Ideen  und  Stimmungen  derart  beeinflusst,  dass  eine  stetige,  geregelte 
Thätigkeit  häufig  unmöglich  wird.  Sie  wechseln  in  Folge  der  Be- 
einträchtigungsideen häufig  ihre  Stellungen,  laufen  im  Anschlüsse  an 
eine  Vision  plötzlich  davon,  lassen  Alles  liegen,  weil  sie  nicht  mehr 
nöthig  haben,  zu  arbeiten,  sondern  nur  noch  ihrer  hohen  Mission 
leben  müssen.   Auch  sonst  kommt  es  vielfach  zu  auffallenden  und 


416 


VII.  Die  Verrücktheit. 


selbst  gefährlichen  Handlungen,  Skandalscenen  in  der  Kirche,  öffent- 
lichen Predigten,  Angriffen  auf  Geistliche,  geschlechtlichen  Aus- 
schweifungen, weil  die  Kranken  in  einem  beliebigen  Manne  den  er- 
sehnten Bräutigam  erblicken,  zu  unsinnigem  Fasten  und  schweren 
Selbstquälereien  oder  gar  Selbstverstümmelungen  auf  Grund  verrückt 
ausgelegter  Bibelstellen. 

Im  weiteren  Verlaufe  ist  regelmässig  die  allmähliche  Ent- 
wickelung  einer  psychischen  Schwäche  zu  constatiren.  Die  Grössen- 
ideen  der  Kranken  werden  zusammenhangsloser  und  zerfahi-ener: 
sie  knüpfen  sich  nicht  mehr  an  wirkliche  Wahrnehmungen  und  Erleb- 
nisse an,  sondern  entspringen  frei  und  unvermittelt  der  phantastischen 
Erfindung.  Dabei  bleibt  jedoch  die  Orientirimg,  das  Yerständniss 
für  die  wirklichen  Vorgänge  in  der  Umgebung  und  ein  gewisses 
Mass  geistiger  Eegsamkeit  dauernd  erhalten,  so  dass  die  Kranken  sich 
ohne  Schwierigkeit  mit  mehr  mechanischer  Thätigkeit,  Handwerkerei, 
Abschreiben,  Zeichnen,  Lesen,  weiblichen  Handarbeiten  beschäftigen, 
nach  einzelnen  Eichtungen  durch  Ausdauer  und  Geschick  sogar 
Hervorragendes  leisten  können  und  auf  diese  Weise  nicht  selten 
recht  nützliche  Glieder  im  Anstaltsorganismus  werden. 

Der  combinatorisclie  Grössenwalm.  Wir  haben  nun  endlich  noch 
derjenigen  Fälle  zu  gedenken,  in  deren  Entwickelung  die  Simies- 
täuschungen  vollständig  zurücktreten  gegenüber  der  wahnhaften 
D  eutung  wirklicher  Wahrnehmungen  und  weiterinn  auch  gegenüber  der 
freien  phantastischen  Erfindung.  Gerade  diese  Formen  scheinen 
häufiger  schon  in  sehr  frühem  Lebensalter,  zu  Ende  des  zweiten  oder 
in  der  ersten  Hälfte  des  dritten  Jahrzehnts  eiazusetzen,  ähnlich  wie 
der  combinatorische  Verfolgungswahn.  Mit  voller  Sicherheit  lässt 
sich  allerdings  der  Beginn  des  Krankheitsprocesses  selten  ermittehi, 
nicht  nur  wegen  der  überaus  schleichenden  Entwickelung,  sondern 
namentlich  auch  deshalb,  weil  die  Kranken  die  Neigimg  haben,  nach- 
träglich noch  weit  zurückliegende,  wirkliche  oder  erfundene  Erlebnisse 
mit  ihrem  Wahne  in  Beziehung  zu  bringen. 

In  der  ersten  Zeit  der  Krankheit  scheint  meist  eine  gewisse 
psychische  Depression  vorhanden  zu  sein.  Der  Kranke  fühlt  sich 
unglücklich,  unbefriedigt,  nicht  an  der  richtigen  Stelle  im  Leben.  Die 
natürlichen  Interessen  seines  Alters  lassen  ihn  gleichgültig;  er  kann 
nicht  mitthun  wie  seine  Kameraden,  ist  aus  ganz  anderem  Holze  ge- 
schnitzt, als  sie.    Er  merkt,  dass  man  kein  Verständniss  für  seine 


Combinatorischer  Grössenwahn. 


417 


Eigenart  hat,  ihn  zurücksetzt,  ihn  anders  behandelt,  als  seine  Ge- 
schAvister.  Es  entwickelt  sich  ein  geheimer,  allmählich  wachsender 
Gegensatz  zwischen  ihm  und  seiner  Umgebung;  er  steht  seinen 
Eltern,  seinen  nächsten  Angehörigen  als  ein  Fremder,  als  Mensch 
aus  einer  anderen  Welt  gegenüber;  sein  Verhältniss  zu  ihnen  ist  ein 
kaltes,  äusserliches,  unnatürliches.  Er  zieht  sich  daher  von  ihnen 
zurück,  begegnet  ihnen  schroff,  abweisend,  sucht  die  Einsamkeit 
auf,  um  imgestört  seinen  Gedanken  nachhängen  zu  können,  beschäftigt 
sich  mit  unpassender  und  unverstandener  Leetüre.  Dabei  besteht  in 
seinem  Innern  eine  tiefe  Sehnsucht  nach  etwas  Grossem  und  Hohem, 
ein  geheimes  Drängen  nach  kühner  Bethätigimg,  die  stille  Hoffiiung 
auf  ein  unfassbares  Glück,  die  sich  in  dem  Aufbau  und  der  detaillirten 
Ausmalung  unwü'klicher  Situationen,  phantastischer  Luftschlösser  be- 
friedigt, in  denen  die  eigene  Person  die  Heldem-olle  spielt.  Mehr 
und  mehr  befestigt  sich  in  ihm  die  Ueberzeug-ung,  zu  etwas  „Be- 
sonderem" geboren,  „nicht  wie  der  grosse  Haufe  gebacken"  zu  sein. 
Er  glaubt  an  seine  „Bestimmung",  an  eine  Mission,  die  er  zu  er- 
füllen hat.  Alle  praktischen  Misserfolge  können  ihn  dabei  nicht 
entmuthigen.  „Um  den  Glauben  mir  zu  nehmen",  schrieb  ein  Kranker, 
„müsste  die  Stimme  meiner  innersten  Seele  ausgerodet,  die  Seele 
selbst  oder  mein  Leben  vernichtet  werden:  per  aspera  ad  astra!" 

Aus  diesen  und  ähnlichen  Gedankengängen  schiesst  endlich,  viel- 
leicht nach  jahrelangem,  unklarem  Grübeln,  in  dem  Kranken  die  sieg- 
reiche Ahnung  hervor,  dass  er  überhaupt  nicht  das  rechte  Kind 
seiner  Eltern,  sondern  von  viel  höherer  und  herrlicherer  Abstammung 
sei.  Den  äusseren  Anlass  zur  Entstehung  dieser  Wahnidee,  welche 
sofort  für  ihn  den  Charakter  unzweifelhafter  Gewissheit  erlangt,  giebt 
oft  eine  ganz  gleichgültige  Begebenheit.  In  einem  Streite  gebraucht 
der  Yater  eihen  heftigen  Ausdruck,  den  er  seinem  wirklichen  Kinde 
gegenüber  niemals  anwenden  würde.  Der  Kranke  merkt,  dass  seine 
Eltern  im  Nebenzimmer  flüstern,  bei  seinem  Eintritte  erblassen,  ihn 
mit  besonderem  Ernste  begrüssen;  es  wird  in  seiner  Gegenwart 
„bedeutungsvoll"  der  Name  einer  hochgestellten  Persönlichkeit  ge- 
nannt; auf  der  Strasse,  im  Theater  blickt  ihn  irgend  eine  vornehme 
Dame  ausserge wohnlich  freundlich  an;  beim  Beschauen  des  Büdes 
eines  Grafen  oder  Pürsten,  der  Büste  Napoleon's  fällt  ihm  plötzlich 
eine  überraschende  Aehnlichkeit  zwischen  sich  imd  Jenem  auf,  oder 
endhch  es  wird  ihm  ein  Brief  in  die  Hände  gespielt,  zwischen  dessen 

Kraepelin,  Psychiatrie.    4.  Aufl.  27 


418 


YII.  Die  Verrücktheit. 


Zeilen  er  das  grosse  Geheininiss  ohne  Mühe  herausliest.  Diese  Ent- 
deckung giebt  nun  alsbald  den  Kernpunkt  ab,  um  den  herum  sich 
in  Staunenswerth  typischer  Entwickelung  eine  Reihe  von  anderen 
Vorstellungskreisen  krystallisiren. 

Indem  der  Kranke  die  Erfahrungen  seiner  Vergangenheit  durch- 
mustert, fällt  es  ihm  wie  Schuppen  von  den  Augen.  Mit  voller 
Klarheit  treten  ihm  eine  Menge  von  Einzelheiten  entgegen,  die  er 
früher  gar  nicht  beachtet  hat,  die  aber  jetzt  plötzlich  eine  hohe  Be- 
deutung für  ihn  gewinnen.  Sein  Gedächtniss  schärft  sich,  wie  er 
meint,  in  erstaunlichem  Masse,  so  dass  sein  ganzes  vergangenes 
Leben  wie  ein  aufgeschlagenes  Buch  vor  ihm  liegt  Nicht  selten 
entwickeln  sich  jetzt  massenhafte  Erinnerungsfälschungen.  5Der 
Kranke  weiss  noch  ganz  genau,  wie  er  als  kleines  Kind  seinen  wirk- 
lichen  Eltern  aus  einem  schönen  Schlosse  geraubt,  in  der  Welt 
herumgeschleppt  und  schliesslich  bei  seinen  falschen  Eltern  unter- 
gebracht wurde.  Vielfache  Aeusserungen  und  Handlungen  dieser 
Letzteren,  der  Zuschnitt  und  die  Farbe  seiner  Kleidung,  die  Be- 
handlung in  der  Schule,  prophetische  Träume,f alle  kleinen  undfgrossen 
Ereignisse  seines  Lebensgauges  haben  von  seiner  frühesten  Jugend 
an  auf  seine  Abstammung,  seinen  zukünftigen  hohen  Beruf  hin- 
gewiesen. Ein  Kranker  behauptete,  schon  früher  sei  Alles  wahr  ge- 
worden, was  er  sich  dachte. 

Reicher  fast  noch,  als  bei  der  rückschauenden  Betrachtung, 
fliesst  die  Quelle  jder  Bestätigungen  durch  gegenwärtige  Wahr- 
nehmungen. Mit  besonderer  Genugthuung  erkennt  der  Kranke,  dass 
auch  von  seiner  näheren  und  ferneren  Umgebung  die  Ueberlegenheit 
seiner  Person  und  seiner  Stellung  mehr  oder  weniger  offen  aner- 
kannt wird.  Man  behandelt  ihn,  wohin  er  kommt,  mit  unverkenn- 
barer Ehrerbietung;  fremde  Personen  ziehen  tief  den  Hut  vor  ihm; 
die  königliche  Familie  sucht  ihm  möglichst  oft  zu  begegnen;  die 
Musik  auf  der  Parade  oder  im  Theater  beginnt  zu  spielen,  sobald 
er  erscheint.  Li  den  Zeitungen,  welche  ihm  vom  KeUner  vorgelegt 
werden,  in  den  Büchern,  die  ihm  der  Buchhändler  zuschickt,  fiadet 
er  mehr  oder  weniger  verblümte  Anspielungen  auf  sein  Schicksal. 
Er  liest  etwas  vom  Antichrist  und  weiss  sofort,  dass  er  gemeint  ist 
und  zu  Christus  verklärt  werden  soll.  Die  Schauspieler  auf  der 
Bühne,  der  Geistliche  auf  der  Kanzel  richten  lange  Sätze  mit  dem 
Hinweise  auf  seine  hohe  Abkunft  direct  an  ihn,  und  die  Vorüber- 


Coinbinatorischer  Grössenwahn. 


419 


gehenden  auf  der  Strasse  begleiten  ihn  mit  beifcälligen  und  beziehungs- 
reichen Bemerkungen.  Past  bei  allen  diesen  "Wahrnehmungen- 
handelt es  sich,  wie  leicht  verständlich,  um  die  ungeheuerlich  kritik- 
lose und  phantastische  Interpretation  wirklicher,  aber  völlig  bedeutungs- 
leerer Eindrücke.  So  schloss  eine  Ea-anke  aus  der  Aeusserung  ihrer 
Mutter,  „sie  sitze  wie  eine  Henne  auf  den  Eiern",  dass  sie  schwanger 
sei,  und  als  von  Auerhahnjagd  gesprochen  wurde,  war  ihr  klar,  dass 
ihr  Bruder  ihretwegen  ein  Pistolenduell  habe. 

Hie  imd  da  spielen  jedoch  auch  vereinzelte  Sinnestäuschungen 
hinein,  namentlich  nächtliche  "Visionen,  das  Sehen  von  Sternen, 
glänzenden  Figuren,  göttlichen  Erscheinungen.  Dabei  ertönt  eine 
Verheissung;  den  Kranken  wird  der  Segen  Esaus  auf  die  linke,  der 
Segen  Jacobs  auf  die  rechte  Schulter  verliehen,  die  Krone  des  Lebens, 
aufs  Haupt  gesetzt. 

Parallel  mit  dem  Ausbau  der  Grössenideen  geht  regelmässig  die- 
Entwickelung  einer  anderen  Yorstellungsreihe,  welche  jedoch  mit 
jenen  ersteren  stets  in  einem  gewissen  inneren  Zusammenhange 
bleibt.  Im  Anschlüsse  an  die  Erkenntniss  des  unnatürlichen  Be- 
nehmens, welches  seine  Pseudo-Eltern  gegen  ihn  an  den  Tag  gelegt 
haben,  bemerkt  der  Kranke  weiterhin,  dass  auch  von  anderer  Seite 
her  ein  feindseliges  Verhalten  beobachtet  wird.  Seine  Torgesetzten, 
Kameraden,  Examinatoren  beleidigen  ihn  in  auffallender  "Weise, 
suchen  ihn  zu  unterdrücken.  In  den  Speisen,  welche  ihm  vorgesetzt 
werden,  bemerkt  er  gelegentlich  Gift;  feine  Tropfen  spritzen  aus 
der  Luft  auf  ihn  herab,  Schüsse  werden  auf  ihn  abgefeuert;  eine 
plötzliche  Beklemmung  überfällt  ihn,  oder  man  sucht  ihn  durch  allerlei 
Verführungskünste  moralisch  und  physisch  zu  verderben.  "Wie  er 
durch  die  vorurtheilsvoILe  Deutung  aller  möglichen  kleinen  Erfahrungen 
mit  Sicherheit  feststellt,  setzen  seine  Feinde,  die  sich  ihm  unter  den 
mannigfaltigsten  Verkleidungen  nähern,  „auf  Betreiben  der  Mächte 
"Weimar,  Schweden  und  England"  Alles  daran,  lun  ihn,  den  zukünftigen 
Herrscher,  auf  die  eine  oder  die  andere  Weise  zu  Grunde  zu  richten. 
Auch  hier  greifen  nicht  selten  einzelne  HaUucinationen,  namentlich 
des  Gehörs,  aber  auch  auf  anderen  Sinnesgebieten,  in  die  Ausbildung 
des  Wahnsystems  mit  ein. 

Natürlich  triumphirt  der  Kjranke  schliesslich  regelmässig  über 
die  feindlichen  Machinationen,  deren  Ausdehnung  und  Hartnäckig- 
keit ihm  immer  wieder  neue  Beweise  für  die  hohe  Wichtigkeit  der 

27* 


420 


VII.  Die  Verrücktheit. 


eigenen  Person  an  die  Hand  giebt.  Nicht  selten  vermag  er  bei 
solchen  Gelegenheiten  das  directe  Eingreifen  der  Yorsehung  in  sein 
Lebensschicksal  zu  constatiren.  Aus  den  Veränderungen  des  Wetters, 
dem  eigenthümlichen  Blinken  der  Sterne,  aus  dem  Fluge  der  Yögel, 
aus  der  Kleidung  der  Menschen,  die  ihm  begegnen,  dem  Papier- 
fetzen, den  er  auf  der  Landstrasse  findet,  geht  auf  das  Elarste  her- 
vor, dass  Gott  in  ganz  besonderer  Weise  seine  Hand  über  ihm  hält 
und  ihm  Zeichen  für  sein  Handeln  giebt,  die  er  ohne  Weiteres  zu 
deuten  versteht  und  auch  mit  freudiger  Zuversicht  auf  das  Gewissen- 
hafteste befolgt.  In  Folge  aller  dieser  Erfahrungen  entsteht  ein  aus- 
gedehntes Netz  geheimnissvoller  Beziehungen,  dessen  Mittelpunkt  der 
Kranke  bildet.  Er  ist  Thronerbe,  Reformator,  Friedensfürst,  Kaiser 
und  Papst  in  einer  Person,  Messias,  Gottesgebärerin,  erhält  seine 
Gedanken  von  Gott,  wird  zum  auserwählten  Werkzeuge  des  Himmels, 
ja  zum  Centrum  der  Welt. 

Sehr  gewöhnlich  gesellt  sich  zu  diesen  Vorstellungen  noch  eine 
besondere  Gruppe  von  Wahnideen,  die  auch  den  einzigen  Lihalt  des 
combinatorischen  Grössenwahns  bilden  kann  (erotische  Verrücktheit.) 
Der  Kranke  macht  nämlich  die  Bemerkung,  dass  eine  wirklich  oder 
vermeintlich  durch  hervorragende  Stellung  ausgezeichnete  Person 
des  anderen  Geschlechts  ihm  gewogen  ist  und  ilmi  eine  nicht  miss- 
zuverstehende Aufmerksamkeit  schenkt.  Bisweilen  ist  es  ein  auf- 
gefangener Blick,  eine  vermeintliche  Fensterpromenade,  eine  zu- 
fällige Begegnung,  welche  diese  verborgene  Liebe  dem  Kranken  zur 
Gewissheit  werden  lässt;  häufiger  jedoch  erfährt  er  davon  nur  auf 
Umwegen,  durch  verblümte  Anspielungen  seiner  Umgebung,  Zeitungs- 
annoncen, ohne  dass  er  vielleicht  den  Gegenstand  seines  Interesses 
jemals  gesehen  hat. 

Sehr  bald  mehren  sich  die  Zeichen  des  geheimen  Einvei-stäud- 
nisses.  Jedes  zufällige  Erlebuiss,  Toiletten,  Begegmmgen,  Lectüi-e, 
Gespräche  gewinnen  für  den  Kranken  eine  Beziehung  zu  seinem 
eingebildeten  Abenteuer.  Seine  Liebe  ist  öffentliches  Geheimniss  imd 
Gegenstand  des  allgemeinsten  Interesses;  überall  spricht  man  davon, 
allerdings  niemals  mit  klaren  Ausdrücken,  sondern  immer  nur  in 
feinen  Andeutungen,  deren  tiefen  Sinn  er  aber  sehr  gut  versteht.  Natür- 
lich muss  diese  ausserordentliche  Liebe  einstweilen  geheim  gehalten 
werden;  darum  erhält  der  Kranke  alle  Nachrichten  nie  auf  directem 
Wege,  sondern  stets  durch  Vermittelung  Anderer,  durch  die  Zeitung 


Combinatorisclier  Grössemrahn. 


421 


und  in  Fonii  yersteckter  Bemerkungen;  auf  dieselbe  "Weise  weiss 
er  sich  dui-ch  gelegentliches  Fallenlassen  von  Anspielungen  mit  dem 
Gegenstände  seiner  Liebe  in  Verbindung  zu  setzen.  Der  Flug  der 
Tauben,  welche  symbolisch  ihn  und  die  Geliebte  darstellen,  zeigt  ihm, 
dass  man  ihn  verstanden  hat,  dass  er  nach  langen  Kämpfen  endlich 
sein  Ziel  erreichen  wii-d;  irgend  eine  Person,  mit  der  er  in  Be- 
rührung tritt,  erscheint  ihm  als  die  Erkorene,  die  sich  verkleidet  hat, 
um  ihre  Zimeigung  der  Welt  zu  verbergen,  ja,  eine  geheime  Ahnung 
vei-mag  ihn  bei  einer  derartigen  Erkennungsscene  über  die  hand- 
greiflichsten Unähnlichkeiten,  sogar  über  die  Geschlechtsverschieden- 
heit hinwegzusetzen. 

Dieser  eigenthümliche,  völKg  kritiklose  Wahn  kann  sich,  be- 
sonders durch  Vermitttelung  von  verblümten  Zeitungsannoncen  ge- 
nährt, lange  Zeit  hindurch  in  der  geschilderten  Weise  fortspinnen, 
ohne  dass  im  sonstigen  Thun  und  Ti-eiben  des  Kranken,  der  ja  seine 
Angelegenheit  geheim  zu  halten  sucht,  etwas  Yerkehrtes  hervortritt. 
Im  weiteren  Verlaufe  gesellen  sich  nicht  selten  traumhafte  Sinnes- 
täuschungen, das  Gefühl  eines  Kusses  im  Schlafe  u.  dergl.  hinzu. 
Der  ganze  Charakter  der  Liebe  ist  dabei  stets  ein  schwärmerischer, 
romanhafter,  häufig  platonischer,  der  eigentliche  Geschlechtstrieb  bei 
dem  Kranken  oft  wenig  oder  in  abnormer  Weise  (Onanie)  entwickelt. 
Zwischen  die  Zeiten  seligen  „Hängens  und  Bangens"  schieben  sich 
bisweilen  Perioden  tiefer  Zerknirschung  ein,  die  Gefühle  der  Un- 
würdigkeit  gegenüber  dem  mit  allen  möglichen  phantastischen  Vor- 
zügen ausgeschmückten  Ideale,  Enttäuschungen  über  unbegreifliche 
Zurückweisungen,  vage  Versündigungsideen,  ohne  dass  jedoch  dadurch 
der  expansive  Grundcharakter  der  Psychose  dauernd  getrübt  wird. 

Auf  diese  Weise  kann  sich  das  Wahnsystem  in  vieljähriger 
combinatorischer  Thätigkeit  sehr  weit  entwickeln,  ohne  dass  irgend 
eine  Person  in  der  Umgebung  des  Kranken  etwas  von  den  krank- 
haften Vorgängen  in  dessen  Innern  ahnt.  Allerdings  erscheint  seine 
gesammte  Lebensführung  oft  sonderbar  und  unverständlich.  Trotz 
guter  Anlagen  bringt  er  doch  nichts  Kechtes  fertig,  sondern  hat 
überall  Misserfolge,  macht  Ausgaben,  die  weit  über  seine  Verhältnisse 
hinausgehen,  ist  hochfahrend  und  rechthaberisch,  geräth  leicht  in 
Conflicte,  hält  nirgends  lange  aus  und  verlässt  umnotivirt  seine 
Stellungen.  Auch  fällt  wol  hier  und  da  einmal  eine  räthselhafte 
Aeussemng,  eine  unbegreifliche  Handlung  des  Kranken  auf,  bizarre 


422 


VII.  Die  Verrücktheit. 


Lebensgewohnheiten,  ungewöhnliche  Kleidung,  fanatischer  oder 
.schwärmerischer  Cultus  gewisser  einseitiger  religiöser,  künstlerischer 
populär-wissenschaftlicher  Bestrebungen,  allein  man  pflegt  alle  diese 
Dinge  berechtigten  Eigenthümlichkeiten  einer  stark  entwickelten 
Individualität  oder  einfachen  Charakterfehlern  zuzuschreiben,  ohne 
die  tiefere  Bedeutung  derselben  zu  durchschauen. 

Die  Entdeckung  geschieht  zumeist  erst  dann,  wenn  der  Patient 
nach  den  langen  Prüfungs-  und  Yorbereitungsjahren  den  Augenblick 
für  gekommen  erachtet,  die  stül  gereiften  Pläne  zur  Yerwirklichung  zu 
bringen.  Er  lässt  seine  bisherige  Beschäftigung  im  Stich  und  begimit 
sich  seinen  vermeintlichen  hohen  Eltern,  seiner  erlauchten  Braut  zu 
nähern,  anfangs  vielleicht  auf  allerlei  Umwegen,  indem  er  an  ihrem 
Hause  vorübergeht.  Fremden  gegenüber  geheimnissvolle  Andeutungen 
fallen  lässt,  von  denen  er  überzeugt  ist,  dass  sie  richtig  verstanden 
und  an  die  bestimmte  Adresse  befördert  werden.  Er  schreibt  einen 
Brief  und,  da  derselbe  erfolglos  bleibt,  einen  zweiten  und  dritten, 
macht  schliesslich  den  Yersuch,  persönlich  zu  den  in  sein  Wahn- 
sjstem  verflochtenen  Personen  und  Behörden  vorzudringen.  Ein 
derartiger  Ki-anker  (Franzose),  dem  es  in  Baden  klar  geworden  war, 
dass  hier  und  nirgendwo  anders  sein  wahres  Yaterland  liege,  ging 
einfach  auf  die  Polizei  und  verlangte,  man  solle  ihn  zu  seinem  Yater 
führen,  den  er  in  einem  Büde  des  Grossherzogs  sogleich  erkannt 
hatte.  Beij  mehr  religiöser  Färbung  des  Grössenwahns  tiitt  der 
Kranke  öffentlich  als  Apostel  hervor,  sucht  sich  eine  Gemeinde  zu 
gründen,  einen  neuen  Gottesdienst  in  eigenartigen  Formen  einzu- 
führen, predigt  in  "Wort  und  Schrift,  unterbricht  den  Geistlichen 
in  der  Kirche. 

Auch  ^die  Yerfolgungsideen  können  zu  plötzlichen  Conflicteu 
führen.  Ein  Student,  der  sich  für  einen  Napoleoniden  hielt,  brachte 
seiner  Mutter,  seinen  beiden  Schwestern  und  sich  selbst  schwere 
Yerletzungen  bei,  weü  der  sonderbare  Geschmack  der  Suppe  ihm 
einen  Yergiftungsversuch  anzeigte.  Solche  und  ähnliche  Handlimgen 
geben  in  der  Regel  den  Anlass  zur  Yerbringung  in  die  Anstalt. 

Anfangs  über  diese  Massregel  in  hohem  Grade  enttäuscht  und 
entrüstet,  erkennt  der  Kranke  bald  genug,  dass  dieselbe  nichts  ist, 
als  ein  nothwendiges  Glied  in  der  Kette  der  Prüfungen,  -\^'elche  er 
bestehen  muss,  um  [am  Ende  zu  seinem  hohen  Ziele  zu  gelangen. 
Ja,  bei  genauerem  Nachdenken  ergiebt  sich  ihm  klar-,  dass  schon  in 


Combinatorischer  Grössenwahn. 


423 


seiner  Vergangenheit  vielfache  Hinweise  auf  dieses  Fegefeuer  der 
Irrenanstalt  enthalten  waren.  Weit  entfernt  daher  von  Muthlosigkeit 
und  Verzweiflung,  schöpft  der  Kranke  aus  dem  pünktlichen  Ein- 
treffen alles  dessen,  was  das  Schicksal  vorher  mit  ihm  bestimmt 
hatte,  neue  Hoffnung  auf  die  Erreichung  auch  seiner  letzten  und 
höchsten  Ziele.  Eine  besondere  Bestätigung  findet  diese  seine  Auf- 
fassung nicht  selten  in  der  alsbald  von  ihm  gemachten  Wahrnehmimg, 
dass  auch  in  der  Anstalt  die  geheimniss vollen  Andeutungen  über 
seine  glänzende  Zukunft  nicht  ausbleiben.  Er  wird  mit  besonderer 
Aufmerksamkeit  behandelt;  man  giesst  ihm  Rosenöl  in  sein  Bade- 
wasser, macht  ihm  verblümte  Complimente,  spielt  ihm  Zeitungen 
imd  Bücher  in  die  Hand,  deren  Inhalt  sich  auf  ihn  bezieht.  Es 
kann  ihm  daher  nicht  entgehen,  dass  die  Aerzte  ihn  nur  „auf  höheren 
Befehl"  zurückhalten  und  gar  nicht  daran  denken,  ihn  wirklich  füi- 
krank  anzusehen.  Auch  seine  Mitpatienten  sind  nichts  weniger  als 
krank,  sondern  zum  Theil  unter  Pseudonymen  verborgene,  sehr 
hochgestellte  Persönlichkeiten,  die  man  zu  seiner  Gesellschaft,  um 
ihn  zu  prüfen  und  kennen  zu  lernen,  mit  in  die  Anstalt  versetzt  hat. 

Andererseits  fehlt  es  freilich  auch  nicht  an  Versuchungen  und 
Anfechtungen.  Aus  vielfachen  kleinen  Erlebnissen  schliesst  er,  dass 
die  Macht  seiner  Widersacher  ebenfalls  bis  in  die  Anstalt  reicht,  dass 
auf  ihr  Intriguenspiel  allerlei  Verleimidungs-  und  Einschüchterungs- 
versuche zurückzuführen  sind;  er  glaubt  auch  einige  der  Räuber 
wiederzuerkennen,  die  ilm  in  der  Jugend  seinen  Eltern  entfühii 
haben.  Ein  Kräuter  schloss  aus  einem  gelegentlich  gehörten  Schimpf- 
worte, dass  man  ihn  eines  vor  Jahren  vorgekommenen  Mordes 
beschuldige. 

Der  weitere  Verlauf  der  Krankheit  ist  regelmässig  ein  sehr  lang- 
samer, meist  viele  Jahre  hindurch  fast  stationärer.  Die  Kranken 
bleiben  ruhig,  besonnen,  bewahren  andauernd  eine  äusserüch  correcte 
Haltimg  und  vermögen  sich  vielfach  sogar  recht  gut  geistig  zu  be- 
schäftigen. Ein  einfacher  Bauernsohn,  der  sich  für  den  Kaiser  und 
Papst  in  einer  Person,  späterhin  sogar  für  unsterblich  hielt,  lernte 
im  Laufe  einiger  Jahre  unter  meinen  Augen  mit  äusserst  uuzuläng- 
Hchen  Hülfsmitteln  nicht  weniger  als  acht  verschiedene  alte  und 
neuere  Sprachen  leidlich  lesen,  um  sich  die  für  seinen  Beruf  nöthige 
Bildung  zu  verschaffen.  Erst  nach  sehr  langer  Dauer  der  Krank- 
heit pflegt  sich  eine  ^  langsam  zunehmende  psychische  Schwäche 


424 


Vn.  Die  Verrücktheit. 


geltend  zu  machen,  Nachlassen  der  geistigen  Regsamkeit  bei  im 
Wesentlichen  unverändertem  Fortbestehen  des  einmal  ent\Adckelten 
Wahnsystems.  In  vereinzelten  Fällen  kann  es,  wie  es  scheint,  nun 
nachträglich  noch  zur  Ausbildung  körperlicher  Beeinflussungsideen 
mit  hallucinatorischen  Wahrnelimungen  im  eigenen  Innern  kommen. 
Ich  kannte  eine  Eranke,  die  nach  vieljälu-igem  Bestehen  eines  tjqjischen 
combinatorischen  Grrössenwahns  anfing,  darüber  zu  klagen,  dass  ilire 
Feinde,  die  „OguHsten",  ihr  eine  „Sprechmaschine"  in  die  Brust  ge- 
setzt hätten. 

Werfen  wir  nunmehr  einen  Blick  zurück  auf  die  lange  Eeihe 
der  Krankheitsbilder,  Avelche  wir  unter  dem  Namen  der  Yerrücktheit 
zusammengefasst  haben,  so  sehen  wir,  dass  die  klinische  Entnäckelung 
der  ICrankheit  sich  wesentlich  auf  psychischem  Gebiete  vollzieht. 
Es  thut  dem  Kranken  nicht  nur  „nichts  weh",  wie  er  oft  als  Be- 
weis seiner  völligen  Gresundheit  dem  Arzte  entgegenhält,  sondern 
auch  die  einzelnen  Functionen  des  Körpers,  der  Schlaf,  der  Appetit, 
die  Circulation,  die  Athmung,  die  Ernährung,  werden  in  der  Regel 
kaum  durch  die  Psychose  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Nur  durch 
Vermittelung  gewisser  Wahnvorstellungen  kann  zeitweise  Schlaflosig- 
keit, Nahrungsverweigerung,  können  örtliche  Kreislaufstörungen  (an- 
haltendes Stehen  oder  Knieen)  und  sonstige  körperliche  Schädigungen 
herbeigeführt  werden.  Ausserdem  kommt  es  auch  vorübergehend 
einmal  zu  heftigeren  gemüthlichen  GleichgCAvichtsschwankungen, 
welche  ebenfalls  mit  den  körperlichen  Begleiterscheinungen  acuter 
Aufregungszustände  einhergehen  können. 

In  einzelnen  Fällen  bildet  sich  eine  wahre  Complication  der 
Verrücktheit  mit  periodischen  Aufregungsz uständen  heraus,  welche 
in  manischer  Form  mit  Ideenflucht,  Stimmungswechsel  und  Be- 
wegungsdrang zu  verlaufen  pflegen  und  bald  nur  wenige  Wochen, 
bisweilen  jedoch  selbst  Jahr  und  Tag  andauern  können.  Die  Kranken 
sind  Avährend  dieser  Zeiten  entweder  völlig  verwirrt,  so  dass  die 
Wahnideen  ganz  in  den  Hintergrund  treten,  oder  aber  sie  bleiben 
ziemlich  besonnen,  produciren  reichliche  Verfolgungsideen  ia  ideen- 
flüchtiger Weise,  sind  gereizt,  lärmend,  zu  Gewaltthätigkeiten  geneigt. 
Oefters  treten  in  solchen  Erregimgszuständen  Hallucinationen  auf, 
auch  wenn  sie  dem  paranoischen  Krankheitsbilde  vollkommen  fehlten. 
In  den  Zwischenzeiten,  die  nach  Monaten  oder  Jahren  gemessen 
werden,  bieten  die  Kranken  ein  einfaches  verrücktes  Walmsystem 


Katatonische  Verrücktheit. 


425 


(meist  Grössenideen)  dar,  welches  bei  diesen  kiinisclien  Formen  aller- 
dings regelmässig  bald  das  deutliche  Gepräge  der  psychischen 
Schwäche  zu  gewinnen  pflegt. 

Eine  weitere  eigenthümliche  Yerlaufsart  ist  durch  das  Aiiftreten 
gewisser  katatonischer  Erscheinungen  ausgezeichnet  (katatonische 
VeiTücktheit).  Die  Kranken  werden  einsilbig,  in  sich  gekehrt,  schliess- 
lich ganz  stumm,  wechselnd  kataleptisch  oder  negativistisch  wider- 
strebend, nehmen  verzwickte  Stellungen  an,  drapiren  ihre  Bett- 
stücke in  auffallender  Weise,  verharren  lange  Zeit  in  derselben 
Lage.  Typische  Verbigeration  scheint  nicht  vorzukommen.  Auf- 
forderungen werden  in  der  Kegel  befolgt,  wenn  auch  langsam,  zögernd 
und  erst  nach  mehrfacher  eindringlicher  Wiederholung.  Auf  Fragen 
erhält  man  keine  oder  nur  leise,  wortkarge  Antwort,  doch  äussert 
der  Kranke  bisweilen  spontan  einzelne  Sätze.  Der  Inhalt  dieser 
Keden  ist  zum  Theil  durch  die  Beziehungen  auf  die  inneren  Zu- 
stände des  Kranken  unverständlich;  nicht  selten  aber  lässt  sich  fest- 
stellen, dass  die  Besonnenheit  fast  vollständig  erhalten  ist.  Dasselbe 
geht  gelegentlich  aus  einzelnen  ganz  geordneten,  überlegten  Hand- 
lungen, Lächeln  bei  scherzhaften  Yorkommnissen ,  einer  trefi'enden 
Bemerkung,  oft  auch  aus  dem  intelligenten  Ausdruck  des  Gesichtes 
hervor.  Für  die  Befriedigung  ihrer  Bedürfnisse  sorgen  die  Kranken 
vielfach  selber,  essen  allein  und  halten  sich  reinlich. 

Als  körperliche  Begleiterscheinungen  werden  Gefässlähmungen, 
Cyanose,  Oedeme,  Temperatursenkung  und  Piüsverlangsamung,  ober- 
flächliche Athmung,  Schlafstörung  und  Abnahme  des  Körpergewichtes 
beobachtet;  bisweüen  entwickelt  sich  Phthise. 

Die  Dauer  dieses  Zustandes  beträgt  in  der  Eegel  einige  Monate, 
kann  sich  aber  auch  mit  vorübergehenden  Schwankungen  durch 
Jahre  erstrecken.  Die  Lösung  erfolgt  meist  allmähüch,  in  einzelnen 
Fällen  aber  auch  von  einem  Tage  zuni  andern.  Ganz  überraschend 
ist  es,  dass  die  Kranken  nunmehr  sich  an  ihr  eigenthümliches  Yer- 
halten  zwar  genau  erinnern,  aber  nicht  das  mindeste  Yerständniss 
für  die  Absonderlichkeit  desselben  zeigen,  auch  nur  ganz  ungenügende 
Begründungen  vorzubringen  vermögen.  Die  Aerzte,  die  Feinde  haben 
es  gemacht,  dass  sie  so  sein  mussten;  die  Gewissensstimrae  hat  es 
ihnen  eingegeben.  Am  häufigsten  scheinen  sich  solche  katatonische 
Episoden  im  Yerlaufe  des  physikalischen  Yerfolgungswabns  oder 
doch  dort  zu  ent^vickeln,  wo  Ideen  einer  körperlichen  Beeinflussung 


426 


Vn.  Die  Verrücktheit. 


vorhanden  sind.  Vielfach  beobachtet  man  nach  dem  Erwachen  aus 
dem  Zustande  eine  erhebliche  Zunahme  der  psychischen  Schwäche 
mit  sehr  abenteuerlichen  Wahnideen. 

Sieht  man  von  diesen  besonderen  klinischen  Gestaltungen  der 
Paranoia  ab,  so  kann  man  im  Verlaufe  dieser  Krankheit  im  All- 
gemeinen regelmässig  mehrere,  aufeinander  folgende  Stadien  unter- 
.  scheiden.  Das  erste  derselben  ist  die  Zeit  der  Vorbereitung.  Während 
derselben  tauchen  allerlei  unbestimmte  Ahnungen  auf,  meist  im 
Sinne  des  Verfolgungswahnes,  einzelne  vieldeutige  Wahrnehmungen, 
ein  ganz  leiser,  sich  nach  und  nach  verstärkender  Verdacht.  Meist 
dauert  dieses  Stadium  der  Krankheit,  in  Avelchem  keine  auffallendere 
Störung  nach  aussen  hin  wahrnehmbar  ist,  ein  oder  mehrere,  bisweilen 
sogar  viele  Jahre.  Man  hat  zwar  vielfach  im  Anschlüsse  an  die  alte 
Griesinger'sche  Lehre  behauptet,  dass  eine  typische  chronische  Para- 
noia sich  auch  acut,  aus  einer  manischen  oder  melancholischen 
Erkrankung  heraus,  entwickeln  könne.  Ich  muss  jedoch  dem  mit 
aller  Entschiedenheit  widersprechen.  Die  chronische  Verrücktheit 
entwickelt  sich  immer  ganz  lan  gsam  und  schleichend.  Jener 
entgegengesetzten  Auffassung  liegt  nach  meiner  Ansicht  eine  Ver- 
wechselung mit  den  zwar  ähnlichen,  aber  doch  klinisch  wesentlich 
anders  charakterisirten  secundären  Schwächezuständen  nach  un- 
geheiltem  Wahnsinn  zu  Grunde. 

Die  zweite  Stufe  in  der  Entwickelung  der  Krankheit  ist  durch 
Ausbildung  des  eigentlichen  Wahnsystenis  gekennzeiclmet. 
Durch  Sinnestäuschungen,  Combinationen  oder  phantastische  Erfindung 
gewinnen  die  lange  schon  in  dem  Kranken  schlummernden  Ideen 
volles  Leben  und  ziehen  mehr  und  mehr  sein  gesammtes  Denken 
und  Handeln  in  ihre  Kreise.  Die  Krankheit  wird  somit  nunmehr 
auch  für  die  Umgebung  deutlich.  Während  dieser  ebenfalls  meist 
viele  Jahre  in  Anspruch  nehmenden  Periode  kommt  es  nicht  selten 
zeitweise  zu  lebhafterer  Productivität.  In  verhältnissmässig  kurzer 
Frist  und  regelmässig  unter  einer  gewissen  inneren  Erregung  macht 
die  Wahnbildung  rasche  Fortschritte,  die  Täuschungen  häufen  sich. 
Es  ist  wie  bei  einer  neuen  Entdeckung,  die  plötzlich  das  ganze 
Interesse  in  Anspruch  nimmt  und  Gedankenkreise  am-egt,  welche 
zunächst  möglichst  schnell  geistig  verarbeitet  werden  müssen.  Xach 
solchen  Perioden  kann  dann  aber  Avieder  ein  längerer  Stillstand 
eintreten,   und   es   können  sogar  mit  zunehmender  Beruhigun 


Verlauf. 


427 


einzelne,  voreilig  gezogene  Schlussfolgerungen  als  unzuti-effend  er- 
kannt werden.  Wo  sich  ein  derartiges  Anwachsen  und  Nachlassen 
der  Krankheitserscheinungen  mehrfach  wiederholt,  kann  man  mit 
einem  gewissen  Recht  von  einer  „schubweisen"  Entwickelimg  der 
Pai'anoia  sprechen. 

Der  einmal  ausgebildete  Wahn  bleibt  in  der  Verrücktheit  lange 
Jahre  hindurch  wesentlich  stationär.  Nur  ganz  langsam  verlieren 
sich  im  weiteren  Yerlaufe  einzelne  Elemente  desselben  und  schieben 
sich  neue  an  ihre  SteUe.  Regelmässig  aber  wird  der  Wahn  aU- 
mählich  zusammenhangsloser,  widerspruchsvoller,  unsinniger.  Das  ist 
ein  Zeichen  der  sich  ausbildenden  psychischen  Schwäche,  welcher 
das  letzte  Stadium  der  Krankheit  angehört.  Der  Beginn  dieses 
Stadiiuns  wird  bei  den  Kranken  mit  Verfolgungswahn  vielfach  dm-ch 
den  Eintritt  der  sogenannten  „Tr-ansformation",  durch  das  Auf- 
tauchen von  Grössenideen  in  Begleitung  oder  an  Stelle  des  Yer- 
folgimgswahns  angezeigt,  deren  ungtinstige  prognostische  Bedeutung 
wir  schon  früher  bei  der  Besprechung  des  Wahnsinns  kennen  zu 
lernen  Gelegenheit  hatten. 

Magnan*)  hat  an  diesen  Entwickelungsgang  die  Aufstellung 
einer  eigenen  psychischen  Kranliheitsform  geknüpft,  des  „d61ire 
chronique  ä  Evolution  systematique"  (Paranoia  completa, 
Möbius).  Unter  dieser  Bezeichnung  fasst  er  alle  diejenigen  Fälle 
chronischer  Wahnbüdung  zusammen,  bei  welchen  auf  die  Periode 
der  Yorbereitung  unter  dem  Eintritt  von  Sinnestäuschungen  ver- 
schiedener Art  ein  Stadium  der  Verfolgung,  dann  ein  solches  der 
Grössenvorstellungen  und  endlich  der  Schwachsinn  folgt.  Die  Dauer 
der  einzelnen  Abschnitte  und  die  Schnelligkeit,  mit  der  sie  einander 
ablösen,  kann  dabei  eine  sehr  verschiedene  sein.  Yon  den  im  Vor- 
stehenden beschriebenen  Formen  würden  der  Schilderung  Magnans 
ün  Wesentlichen  der  hallucinatorische  Verfolgungs-  und  Grössen- 
wahn  in  seinen  verschiedenen  klinischen  Varietäten  entsprechen. 
Die  combinatorischen  Formen  avüI  Magnan  vollständig  davon  ab- 
trennen; sie  gehören  nach  seiner  Ansicht  zu  einer  wesenthch  andern 
Gruppe  von  Psychosen,  zum  „Irresein  der  Entarteten".  . 

So  berechtigt  ohne  Zweifel  Magnans  Forderung  ist,  bei  der 
Aufstellung  von  Krankheitsforraen  nicht  nur  ein  behebiges  Zustands- 


*)  Psychiatrische  Vorlesungen,  deutsch  von  Möbius,  Heft  1,  1891. 


428 


VII.  Die  Verrücktheit. 


bild  oder  gar  ein  einzelnes  Symptom,  sondern  den  Gesammt- 
verlauf  der  Fälle  zu  berücksichtigen,  so  kann  ich  mich  doch  doi 
hier  von  ihm  vollzogenen  Abgrenzung  nicht  anschliessen.  Es  giebt 
chronische  Hallucinanten  mit  Yerfolgungswahn,  die  niemals  Grössen- 
ideen  darbieten;  es  giebt  aber  auch  solche,  bei  denen  neben  den 
Yerfolgungsideen  von  vorn  herein  Grössenwahn  besteht,  so  das> 
die  Unterscheidung  der  vonMagnan  auseinandergehaitenen  Stadien 
häufig  nicht  möglich  ist.  Andererseits  ist  auch  bei  rein  combina- 
torisch  Erkrankten,  ja  sogar  bei  Querulanten  die  Entwicklung  eines 
Grössemvahns  nach  der  Zeit  der  Verfolgung  durchaus  nicht  selten. 
Dass  ferner  zwischen  den  Formen  mit  und  ohne  Sinnestäuschungen 
vollkommen  füessende  Uebergänge  bestehen,  kann  man,  wie  ich 
glaube,  nicht  ernsthaft  bestreiten.  Endlich  aber  muss  mit  Ent- 
schiedenheit darauf  hingewiesen  werden,  dass  sich  unter  denjenigen 
Kranken,  auf  welche  Magn ans  Beschreibung  passt,  namenüich  unter 
denjenigen  mit  physikalischem  Verfolgungswahn,  zum  Mindesten 
ebenso  viele  deutlich  „Degenerirte"  finden,  als  unter  den  Queru- 
lanten und  combinatorisch  Verrückten,  deren  Psychose  er  dem 
Irresein  der  Entarteten  zurechnet. 

In  der  That  glaube  ich,  dass  die  Paranoia  sich  in  allen  ihren 
Formen  durchweg  auf  dem  Boden  einer  krankhaften  Con- 
stitution ent-wickelt.  "Weitaus  am  häufigsten  handelt  es  sich  dabei 
um  eine  angeborene  abnorme  Veranlagung,  die  wiederum  viel- 
fach mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  auf  eine  erbliche  Entartung 
zurückzuführen  ist.  Wir  machen  daher  auch  die  Beobachtuno-, 
dass  sich  sehr  vielfach,  namentlich  in  den  frühzeitig  einsetzenden 
Krankheitsfällen,  die  pathologische  Eigenart  des  Individuums  schon  in 
allerlei  körperlichen  Symptomen  andeutet.  In  morphologischer 
Beziehung  kommen  hier  namentlich  jene  Anomalien  in  Beti-acht,  die 
wir  schon  früher  als  „Stigmata  hereditatis"  kennen  gelernt  haben, 
auffallende  Schädelconfiguration,  Entwickelungshemmungen,  Mss- 
bildungen,  Strabismus,  in  functioneller  dagegen  die  Andeutungen  eines 
leicht  erregbaren  Gehirns,  Delirien  bei  geringen  Temperatm-steigerungen, 
Krämpfe  in  der  Jugend,  gelegentliche  Ohnmächten,  sehr  früh  sich 
regender,  mangelnder  oder  pervers  entwickelter  Geschlechtstrieb. 

Weit  wichtiger  aber  sind  die  psychischen  Eigenthtimlich- 
keiten  der  Kranken,  welche  sich  bisweilen  bis  in  die  Kindheit  zurück 
verfolgen  lassen.  Verzögerung  der  geistigen  Entodckelung,  nament- 


Ursachen. 


429 


lieh  späte  imd  unvollkommene  Ausbildung  der  Sprache,  auf  der 
andern  Seite  unheimliche  Frühreife  können  in  solchen  Fällen  die 
ursprüngliche  krankhafte  Veranlagung  anzeigen.  Häufig  genug  er- 
kennt man  bereits  im  ersten  und  zweiten  Lebensjahrzehnt,  dass  es  sich 
lun  eine  von  Hause  aus  abnorme  psychische  Yerarbeitung 
der  Lebensreize  handelt,  welche  auf  allen  Gebieten  des  Denkens 
und  Fühlens  ein  verschobenes  Spiegelbild  der  Welt  und  eine  eigen- 
artige Eeactionsweise  des  Individuums  zu  Stande  bringt.  Derartige 
Knaben  grenzen  sich  schon  in  der  Schule  von  ihi-en  Altersgenossen 
durch  Absonderüchkeiten  der  Auffassung,  des  Temperaments,  des 
Chai-akters  in  bemerkenswerther  Weise  ab.  Sie  ziehen  sich  zurück 
von  ihren  Kameraden,  beschäftigen  sich  viel  mit  sich  selbst  und 
haben  oft  die  Neigung,  ohne  Auswahl  grosse  Mengen  Lectüi-e  zu 
verschlingen,  oder  sich  träumend  und  grübelnd  mit  allerlei  ent- 
legenen oder  hochfliegenden  Gedankenkreisen  zu  unterhalten.  Weil 
sie  dabei  meist  ihre  Pflichten  regelmässig  erfüllen  und  in  ihrer 
Eigenart  der  Erziehung  keine  grossen  Schwierigkeiten  bereiten,  so 
gelten  sie  oft  als  Musterkinder,  zumal  ihre  Begabung  und  vor  Allem 
che  Entwickelung  ihrer  Phantasie  dasDurchschnittsmass  zum  mindesten 
zu  eiTeichen  pflegt.  Mathematische  und  exact  naturwissenschaftüche 
Studien  sind  freilich  ebenso  wenig  ihre  Stärke,  Avie  der  sti-eng 
logische  Aufbau  und  die  Disposition  ihrer  Gedanken;  das  Gedächtniss 
dagegen  ist  oft  gut  entwickelt,  und  nicht  selten  beobachtet  man 
eine  gewisse  poetische  Yeranlagung. 

Die  Beobachtung,  dass  die  Entwickluug  der  Krankheit  zuweilen 
bis  weit  in  die  Jugend  zurückreicht,  hat  Sander  veranlasst,  der- 
artige Fälle  unter  dem  Namen  der  „originären  Paranoia"  zu- 
sammenzufassen. Namentlich  gewisse  Formen  des  combinatorischen 
Grössenwahns  gehören  hierher,  bei  denen  das  Wahnsystem  die 
ganze  Lebensgeschichte  des  Kranken  im  Sinne  einer  vornehmen 
Abstammung  romantisch  umgestaltet.  Ich  habe  mich  indessen  im 
Laufe  der  letzten  Jahre  davon  überzeugen  können,  däss  auch  in 
diesen  Fällen  sich  der  Beginn  der  Krankheit  mit  einiger  Sicherheit 
höchstens  bis  in  die  Entwickelungsjahre,  meist  nur  bis  in  die  erste 
Hälfte  des  3.  Decenniums  zurück  verfolgen  lässt.  Alle  weiter  in  die 
Vergangenheit  hineinreichenden  Erzählungen  der  Kranken  sind  höchst 
wahrscheinlich  immer  nachti-ägHche  Erfindungen.  Andererseits  ent- 
wickelt sich  der  combinatorische  und  der  physikalische  Yerfolgungs- 


480 


Vn.  Die  Verrücktheit. 


wabn  ebenfalls  häufig  in  verhältnissmässig  frühem  Lebensalter  und 
auf  schwer  degenerirter  Grundlage,  so  dass  diesem  ätiologischen 
Verhältnisse  nach  meiner  Erfahrung  kein  bestimmt  umgrenztes 
Bild  zuge^viesen  werden  kann.  jSTeisser  hat  dann  als  kennzeichnen- 
des Merkmal  der  von  Sander  geschilderten  Gruppe  das  dort  in  der 
That  besonders  häufige  Symptom  der  Erinnerungsfälschungen  be- 
zeichnet und  die  Abgrenzung  einer  „confabulirenden  Paranoia"  vor- 
geschlagen. Die  Entstehungsgeschichte  und  der  klinische  Yerlauf 
der  Fälle  mit  Erinnerungsfälschungen  ist  jedoch,  wie  mir  eine 
grössere  Eeihe  von  Beobachtungen  zeigt,  ein  so  verschiedener,  dass 
ich  mich  einstweilen  nicht  entschliessen  kann,  dieselben  zu  einer 
Einheit  zusammenzufassen. 

Die  im  Eingange  dieses  Abschnittes  gegebene  Begriffsbestimmung 
der  Paranoia  macht  es  selbstverständlich,  dass  wir  die  Prognose  der 
Kjankheit  unter  allen  Umständen  als  durchaus  ungünstig  betrachten 
müssen.  Zwar  stellt  sich  mit  dem  Zurücktreten  lebhafterer  Affecte, 
namentlich  in  der  ersten  Zeit  der  Krankheit,  bisweilen  eine  gewisse 
Besserung  dadurch  heraus,  dass  der  Kranke  manche  der  acut  auf- 
getretenen Wahnideen  corrigirt,  andere  wenigstens  seltener  äussert 
und  in  seinem  Handeln  besonnener  wird.  Hie  und  da  hat  man  so- 
gar weitgehende  Remissionen  mit  ziemlich  vollständiger  Krankheits- 
einsicht zu  verzeichnen,  allein  kleine  Eigen thümlichkeiten  im  Be- 
nehmen des  Kranken  und  sein  Festhalten  an  einzelnen,  nur  scheinbar 
nebensächlichen  Punkten  des  "Wahnes,  sowie  eine  gewisse  Zurück- 
haltung bei  der  Besprechung  der  krankhaften  Ideen  weisen  hier  den 
aufmerksamen  Beobachter  gewöhnlich  bald  auf  die  Unvollständigkeit 
der  Genesung  und  die  Wahrscheinlichkeit  einer  baldigen  Rückkehr 
der  in  den  Hintergrund  getretenen  Symptome  hin.  l^och  weniger 
wird  man  sich  durch  jene  simulirten  Besserungen  täuschen  lassen, 
in  denen  der  Kranke  seine  Wahnideen  ableugnet,  um  dadurch  die 
Anerkennung  seiner  Gesundheit  oder  die  Entlassung  aus  der  Anstalt 
zu  erreichen. 

Im  Ganzen  erzeugt  der  Krankheitsprocess  regelmässig  eine  all- 
mählich fortschreitende  psychische  Invalidität,  wenn  auch 
für  die  oberflächliche  Betrachtung  bisAveilen  Jahre  lang  ein  völliger 
Stillstand  einzutreten  scheint.  Die  Schnelligkeit,  mit  welcher  sich 
diese  Verblödung  vollzieht,  ist  eine  ausserordentlich  verschiedene. 
Wahrscheinlich  spielt  dabei  unter  Anderem  die  individuelle  Veran- 


Ausgänge. 


431 


lagiing  eine  gewisse  Kolle.  Im  Uebrigen  scheinen  die  Fälle  mit 
reinen  Gehörshallucinationen,  der  Querulantenwahn  und  der  einfache 
combinatorische  Verfolgungswahn  am  langsamsten  erhebliche  Grade 
von  psychischer  Schwäche  zu  erreichen,  während  der  physikalische 
Verfolgungswahn  und  die  verschiedenen  Formen  des  Grössenwahns 
ziemlich  bald  jene  Zusammenhangslosigkeit  und  TJnsinnigkeit  der 
Ideen  darzubieten  pflegen,  welche  auf  eine  tiefere  Störung  der  Kritik 
schliessen  lassen.  Vielleicht  könnte  hier  die  psychische  Schwäche 
vielmehr  der  günstige  Boden  sein  für  die  Entwickelung  des  beson- 
deren klinischen  Bildes,  als  die  Folge  eines  eigenartigen  Krankheits- 
processes.  Mir  ist  jedoch  die  letztere  Annahme  deswegen  wahr- 
scheinlicher, weil  sich  für  jetzt  wenigstens  ein  bestimmter  Zusammen- 
hang zwischen  Höhe  der  ursprünglichen  geistigen  Veranlagung 
und  klinischer  Gestaltimg  der  Paranoia  nicht  hat  nachweisen 
lassen. 

Ueberau  indessen,  auch  dort,  wo  die  Wahnbildung  sich  in  engen 
Grenzien  hält,  bei  den  einfachen  Gehörshallucinanten,  verliert  der 
"Wahn  doch  nach  und  nach  seine  frühere  gewaltige  Wirkung  auf 
Affecte  und  Handlungen;  der  Kranke  spricht  von  ihm  wie  von  an- 
deren, gleichgültigen  Dingen  und  beschäftigt  sich  nicht  mehr  mit 
seinem  weiteren  Ausbau.  Die  Stimmung  wird  gleichmässiger,  apa- 
thischer; die  frühere  Eeizbarkeit,  aber  auch  die  Eegsamkeit  des' 
Interesses  verliert  sich.  Der  Kranke  zieht  nicht  mehr  die  Conse- 
quenzen  aus  seinen  krankhaften  Ideen,  sondern  fügt  sich  ohne 
Schwierigkeit  in  seine  Umgebung.  Der  „rex  totius  mundi"  be- 
schäftigt sich  mit  Gartenarbeit,  der  „Herrgott''  mit  Holztragen ,  die 
„Braut  Christi"  mit  Nähen  und  Flicken.  Bemerkenswerth  ist  es, 
dass  sich  diese  völlige  Beruhigung  weit  weniger  schnell  und  durch- 
greifend bei  den  Kranken  mit  Verfolgungsideen  zu  vollziehen  pflegt. 
Zum  Theil  ist  diese  Erfahrung  auf  den  höheren  Grad  von  Schwach- 
sinn zurückzuführen,  welcher  die  Ausbildung  des  Grössenwahns  be- 
gleitet; andererseits  wirken  aber  die  Unlustgefühle  überhaupt  viel 
mächtiger  und  andauernder  auf  unseren  Willen,  als  die  Lustgefühle. 
So  kommt  es,  dass  wir  bei  den  vermein thch  Verfolgten  und  Ge- 
peinigten nicht  nur  die  ängstliche  oder  zornige  Verstimmung  sich 
auffallend  lange  in  grösserer  Intensität  erhalten  sehen,  sondern  dass 
bei  ihnen  auch  noch  in  sehr  späten  Stadien  der  Krankheit  gelegent- 
üch  unvermuthete,  heftige  Affectausbrüche  sich  einstellen,  vne  sie 


482 


Vn.  Die  Verrücktheit. 


bei  den  Göttern  und  Fürsten  der  Iixenanstalt  fast  niemals  mehr  be- 
obachtet werden. 

Die  Dauer  dieser  ganzen  Eutwickelung  nimmt'regelmässig  eine 
längere  Eeihe  von  Jahren,  selbst  Jahrzehnte  in  Anspruch.  In  dieser 
Eigenthümlichkeit,  in  dem  langsamen,  schleichenden  Beginne  der 
Krankheit  ohne  erkennbaren  Anlass,  sowie  in  dem  starken  Hervor- 
treten der  intellectuellen  Störungen,  dem  Ausbau  eines  dauernd 
festgehaltenen  Wahnsystems  ohne  selbständige  Stimmungsanomalien, 
liegen  die  Anhaltspunkte  für  die  Erkennung  derselben.  Bei 
längerer  Beobachtungsdauer  werden  diese  Kriterien  regelmässig  ge- 
nügen, die  prognostisch  so  ungemein  wichtige  Abgrenzung  der 
Paranoia  von  andern,  ihr  zeitweise  ähnlichen  Krankheitsformen  zu 
ermöglichen. 

Eine  pathologische  Anatomie  der  Verrücktheit  giebt  es 
noch  nicht.  Man  hat  zwar  vielfach  gerade  die  Paranoia  als  eine 
„partielle"  Geistesstörung  betrachtet  und  bezeichnet,  bei  welcher 
isolirte  Störungen  in  unserem  Gehirn  vorauszusetzen  wären,  und 
noch  in  neuester  Zeit  ist  der  Yersuch  gemacht  Avorden,  in  dem 
klinischen  Bilde  der  Yerrücktheit  psychische  „Herdsymptome"  auf- 
zufinden. Nach  meiner  üeberzeugung  sind  derartige  Versuche  für 
die  Haupterscheinungen  der  Paranoia  völlig  aussichtslos.  Gerade 
der  ausgesprochen  constitutionelle  Charakter  der  Krankheit  macht 
es  in  hohem  Grade  unwahrscheinlich,  dass  wir  hier  etwa  an  bestimmt 
localisirte  pathologische  Processe  und  an  gröbere  anatomische  Ver- 
änderungen zu  denken  hätten.  Vielmehr  werden  wir  ausgedehnte 
functionelle  Störungen  im  gesammten  Centraiorgane  unseres  Bewusst- 
seins,  allerdings  vorzugsweise  in  denjenigen  Organen  vorauszusetzen 
haben,  welche  der  Aufnahme  und  der  Verarbeitung  von  Erfahrungs- 
material dienen.  Mit  der  Meynert'schen  Hypothese  einer  Hyper- 
aemie  der  corticalen  oder  subcorticalen  Centren  als  Entstehungs- 
m-sache  resp.  der  Wahnideen  oder  der  Sinnestäuschungen  ist  für  die 
Erklärung  des  Krankheitsvorganges  leider  wenig  gewonnen.  In  den 
späteren  Stadien  der  Verrücktheit  lassen  sich  die  Spuren  ati'ophischer 
Processe  im  Gehirn  nachweisen;  gerade  diese  Verhältnisse  verdienten 
eingehendere  Untersuchung  an  der  Hand  der  uns  zu  Gebote  stehen- 
den neueren  Methoden. 

Die  Behandlung  der  Verrücktheit  hat  der  Natur  der  Sache 
nach  nur  einen  geringen  Spielraum;  sie  ist  wesentlich  eine  sympto- 


Behandlung. 


433 


matisclie  und  exspectative.  Ihr  wichtigstes  Hülfsmittel  ist  die  Aüf- 
uahme  in  die  L-renaustalt,  welche  zui  Sicherung  der  Kranken  selbst, 
wie  ihrer  Umgebung,  immer  dann  unbedingt  nothwendig  wird,  wenn 
Aufregungszustände  hervortreten,  namentlich  solche  ängstlichen  und 
zornigen  Chai-akters,  da  Yerrückte  unter  Umständen  zu  den  aller- 
gefährlichsten  Geisteskranken  gehören.  Durch  Ruhe,  unermüdlich 
fi-eundliche,  geduldige  und  namentlich  offene  Behandlung,  sowie 
durch  passende  Ablenkung  und  Beschäftigung  gelingt  es  hier  meist, 
die  acuten  Erscheinungen  bald  zum  Schwinden  zu  bringen.  Häufig 
droht  indessen  die  anfänglich  günstige  Wirkung  der  Anstaltsbehand- 
lung im  weiteren  Verlaufe  in  das  Gegentheil  umzuschlagen.  Der 
ruhig  gewordene  Kranke  fordert  seine  Entlassung,  wird  ungeduldig, 
gereizt,  gewaltthätig  und  durch  die  vermeintlich  unrechtmässige 
Freiheitsentziehung  immer  tiefer  in  seine  Verfolgungsideen  hinein- 
gedrängt. Sehr  gewöhnlich  entspinnt  sich  nun  ein  bisweilen  höchst 
erbitterter,  fortwährender  Kampf  mit  dem  ärztlichen  Personale,  der 
besten  Falles  nach  jahrelanger  Dauer  durch  die  allmähliche  Ver- 
blödung des  Kranken  beendet  wird,  welche  die  Behandlung  desselben 
erleichtert,  wenn  er  auch  immerhin  oft  noch  zu  zornigen  Gewalt- 
thaten  geneigt  und  gefährlich  genug  bleibt. 

Auf  der  andern  Seite  sieht  man  oft  Verrückte  in  ihrer  gewohnten 
Umgebung  selbst  Jahrzehnte  lang  eine  leidlich  gute  Haltung  bei 
mässigem  Schwachsinn  bewahren,  ein  sicherer  Beweis,  dass,  abge- 
sehen von  den  acuten  Aufregungszuständen,  auf  den  Kranken  selbst 
die  Freiheit  viel  günstiger  wirkt,  als  die  Ein  Schliessung  in  der 
Anstalt.  Leider  sind  indessen  die  Gefahren  und  Unzuträglichkeiten 
dieser  Freiheit  für  die  Umgebung  vielfach  so  grosse,  dass  sie  trotz- 
dem nicht  gewährt  werden  kann.  Für  solche  Fälle  sind  die  Irren - 
colonien  mit  ihrer  mannigfaltigen  Beschäftigung  und  der  fi-eieren 
Behandlungsmethode  ein  kaum  genug  zu  schätzender  Segen.  Ruhige, 
ungefährliche  chronisch  Verrückte  eignen  sich  jedoch,  wo  die  Ver- 
hältnisse einigerraassen  günstig  sind  und  eine  gewisse  Ueberwachung 
gestatten,^  sehr  häufig  auch  für  die  häusliche  Verpflegung,  in  der  sie 
sich  erfahrungsgemäss  wohler  befinden  und  besser  conserviren,  als 
in  der  Anstalt. 

Die  Wahnideen  der  Kranken  sollen  weder  bestätigt,  noch  auch 
zu  eifrig  dialektisch  bekämpft  werden.  Es  genügt,  dieselben  stets 
mit  Ruhe  als  krankhaft  zu  bezeichnen  und  gelegentlich  auf  die 

Kraepelin,  Psychiatrie.  4.  Aufl.  28 


434 


Vn.  Die  Verrücktheit. 


Widersprüche  derselben  mit  der  gesunden  Erfahrung  hinzuweisen.  Weit 
wichtiger  ist  die  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  durch  fernliegende 
Gespräche,  Geselligkeit,  Spiel,  die  Anregung  gesunder  Interessen 
durch  Leetüre  und  namentlich  Beschäftigung  im  Sinne  des  fiTiheren 
Lebensberufes.  So  können  Yerrückte,  wenn  auch  nicht  gesund,  so 
doch  vielfach  recht  brauchbare  und  auch  zufriedene  Mitglieder  des 
Anstaltsorganismus  werden.  Beschäftigungslosigkeit,  längere  Isolirung 
begünstigt  die  Ausbildung  der  Wahnideen  und  der  Verblödung.  Die 
Sinnestäuschungen  sind  keiner  besonderen  Behandlung  zugänglich; 
die  Elektrotherapie  des  Acusticus  leistet  dagegen  in  der  Regel  nichts. 
Yon  sonstigen  Symptomen  fordert  namentlich  die  Masturbation  und 
die  bisweilen  äusserst  hartnäckige  Nahrungsverweigerung  zum  Ein- 
schreiten auf;  erstere  wird  mit  Bromkaüum,  Hydrotherapie,  Gal- 
vanisation des  Rückenmarkes  und  durch  gute  Ueberwachung  be- 
kämpft, letztere  kann  in  einzelnen  Fällen  zur  Sondenfütterung 
zwingen. 


YTTT.  Die  psycMscheii  Entartungsprocesse. 


Das  Gemeinsame  derjenigen  Krankheitsbilder,  welche  wir  unter 
dem  Namen  der  psychischen  Entartungsprocesse  zusammenfassen 
wollen,  hegt  in  der  ungemein  raschen  Entwickelung  eines 
dauernden  psychischen  Schwächezustandes,  dessen  Ent- 
stehungsweise meist  aus  einzelnen  Begleiterscheinungen  noch  deut- 
hch  erkannt  werden  kann.  Im  Gegensatze  zu  den  sonstigen  in 
secundären  Schwachsinn  ausgehenden  Psychosen  liegt  hier  die  geistige 
luTalidität  von  vornherein  oder  doch  nach  sehr  kurzer  Zeit  klar  am 
Tage.  Nirgends  kommt  es  zu  bleibenden,  durchgebildeten  "Wahn- 
systemen; andererseits  greift  der  körperliche  En tartungs Vorgang,  der 
diesen  Krankheitsformen  höchst  wahrscheinlich  zu  Grunde  liegt,  nie- 
mals so  tief,  dass  er  den  Bestand  des  Lebens  selbst  gefährden 
würde.  Nach  der  besonderen  Art,  wie  sich  die  psychischen  Störungen 
entwickeln,  sei  es  uns  gestattet,  drei  Haupttypen  als  Dementia 
praecox,  als  Katatonie  und  als  Dementia  paranoides  aus- 
einanderzuhalten. Zwischen  diesen  Eormen  giebt  es  zahlreiche 
Uebergänge. 


A.  Die  Dementia  praecox. 

Als  Dementia  praecox  bezeichnen  wir  die  subacute  Entwickel- 
ung eines  eigenartigen,  einfachen  geistigen  Schwäche- 
zustandes im  jugendlichen  Alter.  In  einer  ersten  Eeihe  von 
EäUen  vollzieht  sich  dieser  Yorgang  ohne  irgendwelche  auf- 
fallenderen Begleiterscheinungen,  so  dass  der  Schwachsinn 
bereits  sehr  weit  vorgeschritten  zu  sein  pflegt,  bevor  überhaupt  der 
Yerdacht  einer  geistigen  Störung  bei  der  Umgebung  des  Kranken 
auftaucht.   Meist  handelt  es  sich  um  Individuen  von  mässiger  oder 

28* 


486 


Vni.  Die  psychischen  Entartungsprocesse. 


geringer  geistiger  Begabung,  die  jedoch  bisweilen  wegen  ihres  gi'ossen 
Fleisses  in  der  Schule  leidlich  gut  vorwärts  kommen,  so  lange  es  sich 
wesentlich  um  Gedächtnissaufgaben  handelt.  Je  weiter  sie  aber 
fortschreiten,  desto  schwerer  wird  es  ihnen,  mit  ihren  Kameraden 
Schritt  zu  halten,  so  dass  sie  zeitweise  zu  ganz  ungewöhnlichen 
Ueberanstrengungen  getrieben  werden,  um  einigermassen  den  nor- 
malen Anforderungen  zu  genügen.  Gewöhnlich  sind  die  Kranken 
dabei  von  Jugend  auf  still,  zurückhaltend,  ohne  weiterreichende  In- 
teressen, etwas  bornirt  und  eigensinnig. 

Der  Beginn  der  eigentüchen  Krankheit  fällt  regelmässig  in  die 
Zeit  zwischen  dem  15.  und  etwa  dem  28.  Lebensjahre.  Es  stellt 
sich  heraus,  dass  die  geistige  Leistungsfähigkeit  des  Kranken  all- 
mählich entschieden  abnimmt.  Zwar  zeigt  er  vielleicht  noch  den 
gleichen  oder  sogar  grösseren  Fleiss,  als  früher,  sitzt  unermüdlich 
bei  den  Büchern,  verschlingt  massenweise  ganz  unpassende  und  für 
ihn  unverdauliche  Leetüre,  beschäftigt  sich  anscheinend  mit  ent- 
legenen und  schwierigen  Problemen.  Allein  er  vermag  in  "Wirk- 
lichkeit nichts  mehr  recht  aufzufassen,  verwickeiteren  Auseinander- 
setzungen durchaus  nicht  zu  folgen,  seine  Aufmerksamkeit  nicht  zu 
concentriren.  Er  ist  zerstreut,  schweift  mit  seinen  Gedanken  plan- 
los umher,  träumt  und  brütet  ohne  tieferes  Interesse,  ohne  erkenn- 
bares Ziel,  liest  ungezählte  Male  immer  wieder  dasselbe  von  vorn, 
ohne  es  zu  begreifen,  lässt  sich  bisweilen  sogar  beim  einfachen  Ab- 
schreiben "Varianten,  Auslassungen  und  willkürliche,  unpassende  Zu- 
sätze zu  Schulden  kommen. 

Das  Gedächtniss  bleibt  während  dieser  krankhaften  Umwälz- 
ung zunächst  wesentlich  unberührt.  Der  Kranke  verfügt  dauernd 
über  ein  unter  Umständen  sehr  ausgedehntes  "Wissen,  über  vorzüg- 
liche Sprachkenntnisse.  Bisweilen  vermag  er  auch  noch  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  mechanisch  auswendig  zu  lernen,  während  er  in 
anderen  Fällen  Tage  braucht,  um  sich  einige  Yocabeln  oder  Bibel- 
sprüche nothdürftig  einzuprägen.  Immer  aber  ist  er  gänzhch  unfähig  zu 
einer  wirklichen  Assimilirung  und  geistigen  Yerarbeitung  neuer 
YorsteUungen.  Die  einzelnen  Elemente  seiner  Erfahrung  beeinflussen 
einander  nicht  mehr,  treten  nicht  in  gegenseitige  Beziehung,  liefern 
keine  Begriffe,  Urtheile  und  Schlüsse  mehr.  Daher  kommt  es  trotz 
guten  Gedächtnisses  doch  nothwendig  zu  einer  mehr  oder  weniger 
rasch  fortschreitenden  geistigen  Verarmung;  daher  fäUt  bei  dem 


Dementia  praecox. 


437 


Kranken  toi-  Allem  eine  unbegreifliche  Urtheilslosigkeit  und 
Zerfahrenheit  seines  gesammten  Denkens  in  die  Augen. 

Das  Bewusstsein  des  Kranken  ist  dauernd  vollständig  klar; 
er  verliert  keinen  Augenblick  die  Orientirung  in  seiner  Umgebung, 
in  seinen  Verhältnissen,  und  er  empfindet  nicht  selten  mehr  oder 
weniger  deutlich,  dass  es  mit  seinen  Yerstandeskräften  bergab  geht. 
Selbstverständlich  macht  der  Kranke  in  seinem  Berufe  keinerlei 
Fortschritte  mehr,  besteht  keine  Prüfung,  bringt  keine  verwickeitere 
geistige  Leistung  mehr  zu  Stande,  fängt  Alles  am  verkehrten  Ende, 
in  ganz  unzweckmässiger  Weise  an.  Allmählich  verliert  er  gewöhn- 
lich auch  das  Interesse  an  geistiger  Beschäftigung  und  Anregung 
überhaupt,  bewegt  sich  nur  noch  in  altgewohnten,  stereotypen  Ideen- 
kreisen und  wendet  sich  vielleicht  schliesslich  ganz  irgend  einer 
mechanischen  Thätigkeit  zu,  dem  Holzsägen,  Abschreiben,  der  Gärt- 
nerei, oft  in  schroffem  Gegensatze  zu  früheren  hochfliegenden  Plänen 
imd  Hoffnungen.  Mehr  oder  Aveniger  schnell  pflegen  nun  auch  die 
Ueberbleibsel  einstiger  geistiger  Arbeit  zu  verblassen;  der  Gesichts- 
kreis verengert  sich  mehr  und  mehr,  bis  schliesslich  nur  noch  ein- 
zelne, besonders  fest  wurzelnde  Keminiscenzen  dafür  zeugen,  dass 
es  nicht  ein  unbestellter  oder  unfruchtbarer,  sondern  ein  durch 
Krankheit  verwüsteter  Acker  ist,  mit  dem  wir  es  zu  thun  haben. 

Die  Stimmung  des  Kranken  pflegt  namentlich  im  Beginne 
des  Processes  allerlei  Schwankungen  darzubieten.  Häufig  beobachtet 
man  reizbares,  rechthaberisches  Wesen,  unmotivirten  Wechsel 
zwischen  auffallender  Ausgelassenheit  mit  gehobenem  Selbstgefühl 
und  ängstlicher  Yerzagtheit.  Späterhin  wird  man  meist  durch  die 
Gleichgültigkeit  überrascht,  mit  welcher  der  Kranke  seine  Unfähig- 
keit und  seine  Misserfolge  hinnimmt.  Obgleich  er  zugiebt,  "Vieles 
verkehrt  gemacht  zu  haben,  „sehr  unverständig"  gewesen  zu  sein, 
ist  er  doch  mit  seiner  Lage  ganz  zufrieden,  ohne  Sorgen  für  die 
Zukunft,  macht  sich  gar  keine  Gedanken  über  seinen  Zustand,  son- 
dern lebt  unbekümmert  in  den  Tag  hinein,  bald  mehr  stumpf  und 
gleichgültig,  bald  in  unbestimmter  sanguinischer  Erwartung  irgend 
eines  künftigen  Glückes.] 

Im  Handeln  der  Kranken  macht  sich  gewöhnlich  ein  eigen- 
thümlich  kindischer,  läppischer  Zug  bemerkbar.  Sie  sind  haltlos, 
unselbständig,  in  einem  Augenblicke  unsinnig  hartköpfig,  im  nächsten 
ohne  Weiteres  lenksam  und  bestimmbar.    Sie  vernachlässigen  ihi;- 


43S 


Vin.  Die  psychischen  Eatartungsprocesse. 


Aeusseres,  leben  unregelmässig,  verlegen  wichtige  Gegenstände,  ver- 
gessen ihre  Pflichten,  begehen  allerlei  thörichte,  alberne  Handlungen. 
Einer  meiner  Kranken,  der  es  mit  vieler  Mühe  zum  Yolksschullehrer 
gebracht  hatte,  zeigte  sich  bei  seiner  Anstellung  plötzlich  gänzlich 
unfähig.  Schule  zu  halten,  spielte  statt  des  Unterrichts  mit  den 
Schulkindern  Tangens,  legte  sich  im  Viehstall  „aus  Muthwilleri"  in 
eine  Krippe,  steckte  den  Kopf  in  den  Brunnen,  weil  er  wegen  seiner 
grossen  Sünden  recht  gut  noch  eine  Taufe  brauchen  könne.  Sehr 
auffallend  ist  dabei  meist  das  häufige  affectlose  Lachen,  welches  sich 
bei  jeder  Unterredung  ohne  den  geringsten  Anlass  ungezählte  Male 
wiederholt.  Bisweilen  wird  auch  Gesichterschneiden,  Grunzen, 
Neigung  zu  stereotypen  Haltungen  und  Bewegungen  oder  zu  ge- 
zierten, gespreizten  Geberden  beobachtet. 

Auf  dem  Gebiete  der  sprachlichen  Aeusserungen  begegnet 
uns  theatralisches  Declamiren,  häufiges  Wiederholen  bestimmter 
Moderedensarten,  altbackener  "Witze,  hochtönender  Phrasen,  absicht- 
liche Yerdrehung  der  Wörter,  afiectirtes  Lispeln,  Einmischung  un- 
gewöhnlicher, mundartlicher  oder  fremdsprachiger  Ausdrücke  und 
Sätze.  Manche  dieser  Eigenthümlichkeiten  pflegen  noch  deutlicher 
in  den  Schriftstücken  der  Kranken  hervorzutreten.  Dazu  kommt 
eine  gewisse  nachlässige  Zusammenhangslosigkeit  im  Gedankengange, 
mehrfacher  Wechsel  der  Construction  in  lang  ausgesponnenen  Satz- 
bildungen, Yermengung  verschiedenartiger  Bilder,  unvermitteltes  Ein- 
streuen plötzlicher  Einfälle,  poetischer  Ergüsse,  oft  auch  eine  äusserlich 
saloppe  Form,  ungleichmässige  Handschrift,  Yerschnörkelungen  ein- 
zelner Buchstaben,  Unterstreichungen,  Mangel  oder  Ueberfluss  an 
Literpunctionszeichen.  Solche  Briefe  sind  nicht  selten  so  ungemein 
charakteristisch,  dass  aus  ihnen  allein  die  Diagnose  der  hier  be- 
sprochenen besonderen  Schwachsinnsform  mit  voller  Sicherheit  ab- 
geleitet werden  kann. 

Der  weitere  Yerlauf  dieser  Fälle  ist  insofern  ein  verschiedener, 
als  die  Yerblödung  bald  rascher,  bald  langsamer  fortschreiten, 
namentlich  aber  auf  sehr  verscMedener  Stufe  Halt  machen  kann. 
Fast  immer  zieht  sich  der  Ki-ankheitsprocess  über  ein  oder  mehi-ere 
Jahre  hin,  wenn  auch  bisweilen  schon  innerhalb  einiger  Monate  eine 
deutliche  Zunahme  der  geistigen  Schwäche  erkennbar  ist.  JSTach 
Abschluss  der  eigentlichen  Entwickelungszeit,  etwa  von  Mitte  oder 
JEnd©  des  dritten  Lebensjahrzehntes  an  scheint  der  Gesammtzustand 


Dementia  praecox. 


439 


ziemlich  stationäi-  zu  bleiben  und  nur  diejenigen  Veränderungen  zu 
erleiden,  welche  durch  das  allmähliche  Schwinden  des  frühereu 
geistigen  Materiales  ohne  Wiederersatz  durch  neue  Yerstandesarbeit 
bedingt  werden.  Wahrscheinlich  giebt  es  eine  ganze  Menge  von 
Individuen,  deren  geistiger  Schiffbruch  in  dieser  Lebensperiode 
vollständig  verkannt  wird,  weü  sie  aus  demselben  noch  so  viel 
Leistungsfähigkeit  haben  retten  können,  dass  sie  in  bescheidenem 
Wirkungskreise  den  Kampf  ums  Dasein  zu  bestehen  vermögen.  So 
manche  jener  fleissigen  und  vielleicht  sogar  nach  gewissen  Rich- 
tungen begabten  Schüler  dürften  hierher  gehören,  die  anfangs  zu 
höheren  Hoffnungen  berechtigten,  später  jedoch  trotz  aller  Solidität 
und  Gewissenhaftigkeit  zur  Enttäuschung  ihrer  Erzieher  nur  mit 
der  grössten  Mühe  zu  Stande  bringen,  was  die  anscheinend  weit 
schwächer  veranlagten  Kameraden  spielend  erreichten.  Hier  kann 
natürlich  nui-  eine  genaue  Kenntniss  und  Verfolgung  des  einzelnen 
Falles  den  Nachweis  der  krankhaften  Veränderung  erbringen.  In 
anderen  Fällen  kommt  es  innerhalb  weniger  Jahre  zu  einer  der- 
artigen geistigen  Invalidität,  dass  die  Möglichkeit  einer  selbständigen 
Lebensführung  gänzlich  ausgeschlossen  bleibt,  wenn  auch  im  Rahmen 
der  Anstalt  oder  in  der  Familienpflege  noch  ein  gewisses  Mass 
geistiger  oder  praktischer  Bethätigung  erhalten  werden  kann.  End- 
lich aber  scheint  der  Krankheitsprocess  hier  und  da  auch  zum 
tiefsten,  dauernden  Blödsinn  mit  völliger  Yemichtung  aller  höheren 
psychischen  Leistungen  fortzuschreiten,  doch  tritt  dieser  Ausgang 
hier  jedenfalls  sehr  viel  seltener  ein,  als  bei  der  nunmehr  zu  be- 
sprechenden Krankheitsform. 

Die  zweite,  wahrscheinlich  grössere  Gruppe  der  Fälle,  welche 
wir  glauben  der  Dementia  praecox  zurechnen  zu  sollen,  ist  dadurch 
ausgezeichnet,  dass  die  Entwickelung  des  Schwachsinns  dauernd  oder 
zeitweise  von  stärkeren  Schwankungen  des  gemüthlichen  Gleich- 
gewichtes begleitet  wird.  In  der  Regel  beginnt  die  Psychose  mit 
den  Symptomen  allgemeinen  Unwohlseins,  Kopfschmerzen,  Ohren- 
sausen, Benommenheit,  unangenehmen  Empfindungen  in  verschiedenen 
Körpertheilen,  Schlaflosigkeit  und  Appetitstörungen.  Die  Kranken 
werden  scheu,  in  sich  gekehrt,  niedergeschlagen,  ängstlich,  hören  auf, 
zu  arbeiten,  äussern  vage  Befürchtungen,  namentlich  hypochondrischen 
Inhaltes,  bisweilen  auch  Selbstmordgedanken  oder  einzelne  Ver- 
folgungs-  und  Versündigungsideen,  dass  man  sie  beobachte,  erschiessen, 


440 


"Vm.  Die  psychischen  Entartungsproeeese. 


Tergiften  wolle,  dass  sie  ein  schlechtes  Leben  geführt  hätten.  Hie 
und  da  treten  Torübergehend  G-ehörs-  oder  Gesichtstäuschungen  auf. 

Dieses  erste  Stadium  kann  unter  allmählichem  Verblassen  der 
"Wahnvorstellungen  und  SchAAdnden  des  Affectes  innerhalb  einiger 
Monate  oder  Jahre  ganz  unmerklich  und  ohne  weitere  Zwischenfälle 
in  einfachen  Blödsinn  hinüberführen.  Vielfach  jedoch  kommt  es 
wenigstens  zeitweise  zu  mehr  oder  weniger  ausgebildeten  expansiven 
Erregungszuständen,  bisweilen  unter  plötzlichem  Umschlagen  der 
Stimmung.  Die  Eo-anken  werden  heiter,  ausgelassen,  gesprächig,  er- 
zählen allerlei  selbsterfundene  Erlebnisse,  äussern  dürftige,  verworrene 
Grössenideen.  Sie  haben  viel  Geld,  eine  ganze  Stube  voll  Gold, 
schöne  Kleider,  wollen  zum  Kaiser,  zur  grossen  Armee,  PfaiTer, 
Schauspielerin  werden,  fortreisen.  lieber  ihre  Umgebung  sind  sie 
dabei  nur  mangelhaft  orientirt,  erkennen  wol  einzelne  Personen, 
wissen  aber  nicht  genau,  wo  sie  sich  befinden,  haben  keine  rechte 
Ahnung,  was  mit  ihnen  geschieht,  vermögen  ihre  Lage  gar  nicht 
zu  beurtheüen.  Regelmässig  ist  eine  lebhafte  sexuelle  Erregung 
vorhanden.  Die  Kränken  erzählen,  dass  sie  seit  50  Jahren  ver- 
heirathet  seien,  22  Frauen  hätten,  verlangen  ein  Mädchen,  fordern 
zum  Coitus  auf,  masturbiren.  Die  motorische  Um-uhe  ist  meist  gar 
nicht  sehr  gross ;  nur  ausnahmsweise  und  bei  ungenügender  Pflege 
kommt  es  zu  lauterem,  anhaltendem  Schwatzen  und  Schreien,  zu 
störendem  Klopfen,  Zerreissen  und  Sich  entkleiden.  Sich  selbst  über- 
lassen, haben  die  Kranken  die  Neigung,  fortzulaufen,  herumzuvagiren: 
sie  verkommen  dabei  rasch,  begehen  allerlei  läppische,  unsinnige 
Handlungen,  geschlechtliche  Excesse  und  gerathen  gewöhnlich  sehr 
bald  in  Confüct  mit  der  öffentlichen  Ordiiung. 

Auch  die  expansive  Erregung,  die  sich  übrigens  häufig  durch  ein- 
zelne Grössenideen,  euphorische  Stimmung,  unmotivirtes  Lachen  nm- 
leicht  andeutet,  pflegt  nicht  sehr  lange  auf  ihrer  Höhe  zu  bleiben.  Nach 
einigen  Monaten,  oft  auch  schon  viel  früher,  treten  die  Erscheinungen 
zurück  und  der  Zustand  scheint  sich  zu  bessern.  Allein  die  Kranken 
werden  zwar  ruhiger,  aber  gleichgültig,  theilnahmlos,  stumpf,  ver- 
lieren jedes  Verständniss  für  ihre  Umgebung,  kümmern  sich  nicht 
mehr  um  das,  was  um  sie  her  vorgeht.  Meist  werden  sie  unsauber 
beim  Essen,  schlingen  gierig,  verschütten,  schmieren  mit  den  Speisen 
herum;  sie  verunreinigen  sich,  halten  Koth  und  Urin  zurück,  lassen 
den  Speichel  über  ihre  Kleider  ,  fliessen.    Jede  eigene  Willens- 


Dementia  praecox. 


441 


regnng  kann  schliesslich  erlöschen;  sie  bleiben  stehen  oder  sitzen, 
wo  sie  sich  gerade  befinden,  stumm  in.  sich  versunken,  höchstens 
zeitweise  blöde  vor  sich  hinlächelnd  oder  auch  wol  einmal  leise 
einige  unsinnige  Worte  oder  Sätze  murmelnd;  sie  müssen  dann  an- 
imd  ausgekleidet,  gefüttert,  geschoben  werden. 

Aeusseren  Einwirkungen  gegenüber  verhalten  sie  sich  bald  ganz 
passiv,  kataleptisch,  bald  widerstrebend.  Die  spärlichen  Antworten,  die 
man  von  ihnen  erhält,  sind  meist  völlig  beziehungslos,  verrathen  nur 
hin  und  wieder  ein  gewisses  Verständniss  der  Frage;  eindringliche 
einfache  Aufforderungen  werden  bisweilen  noch  richtig  befolgt,  ein- 
zelne von  früher  bekannte  Personen  zutreffend  benannt.  Hie  und  da 
gelingt  es  auch  wol,  Beste  von  Schulkenntnissen,  correctes  Lesen 
oder  Schreiben,  richtige.  Lösung  einer  Kechnung,  das  Haften  einer 
historischen,  geogTaphischen,  sprachlichen  Keminiscenz  nachzuweisen. 
Manchmal  erhalten  sich  deutliche  üeberbleibsel  der  früheren  Er- 
regung, verwirrtes,  unverständliches  Schwatzen,  läppisches  Lachen, 
gezierte  Bewegungen  und  Ausdrücke,  stürmisches  Auf-  und  Abrennen. 
Häufig  zeigen  die  Kranken  wenigstens  vorübergehend  Perioden  reiz- 
barer Stimmung,  drängen  plötzlich  zur  Thüre  hinaus,  fangen  an  zu 
schimpfen '  oder  begehen  einen  impulsiven  Gewaltakt,  werfen  eine 
Schüssel  zu  Boden,  zerreissen  ein  Kleidungsstück,  versetzen  einem 
Schlafkameraden  unversehens  einen  Hieb.  Auch  Zupfen  und  Nesteln 
an  den  Kleidern,  abenteuerliche  Drapirungen  derselben,  Ausreissen 
der  Kopf-  oder  Barthaare,  beharrliches  Zerkratzen  einzelner  Körper- 
stellen, rücksichtsloses  Masturbiren  wird  vielfach  beobachtet. 

Nicht  immer  werden,  wie  es  scheint,  die  soeben  geschilderten 
schwersten  Pormen  des  apatliischen  Blödsinns  erreicht.  Yielmehr 
giebt  es  auch  hier  Kranke,  welche  auf  -der  Stufe  des  oben  be- 
schriebenen eigenartigen  Schwachsinns  stehen  bleiben.  Im  Ganzen 
aber  müssen  solche  mildere  Yerlaufsarten  gegenüber  der  grossen 
Menge  verblödender  Fälle  als  seltene  Ausnahinen.  betrachtet  werden. 

Körperliche  Störungen  gehen  mit  der  Entwickelung  der  De- 
mentia praecox  •  nur  dann  einher,  wenn  dieselbe  lebhaftere  AfFect- 
schwankungen  darbietet.  Während  dieser  letzteren  pflegen  Appetit, 
Schlaf  und  allgemeine  Ernährung  mehr  oder  weniger  empfindlich 
zu  leiden;  hie  und  da  kommt  es  auch  zu  länger  dauernder  Nahrungs- 
verweigerung. Mit  eintretender  Beruhigung  hebt  sich  das  Körper- 
gewicht regelmässig  wieder,  und  die  Kranken  gewinnen  meist  ein 


442 


Vm.  Die  psychischen  Entartungsprocesse. 


blühendes  Aussehen.  Vielfach  finden  sich  angeborene  körperliche 
Entartungszeichen,  Kleinheit  oder  Yerbildungen  des  Schädels,  kind- 
licher Habitus,  mangelhafte  Zähne  u.  dergl.  Zweimal  beobachtete 
ich  eigenthümliche,  halb  an  Chorea,  halb  an  Athetose  erinnernde  Be- 
wegungsstörungen, die  ich  am  besten  mit  dem  Ausdrucke  „athetoide 
Ataxie"  kennzeichnen  zu  köimen  glaube. 

Die  erste  genauere  und  in  vieler  Beziehung  geradezu  muster- 
gültige Schilderung  gewisser  Fonnen  der  Dementia  praecox  ver- 
danken wir  Hecker*),  der  1871  im  Anschlüsse  an  Kahlbaums 
Aufstellungen  unter  dem  Namen  der  Hebephrenie  solche  Fälle 
beschrieb,  bei  denen  sich  nach  einem  melancholischen  Eingangs- 
stadium ein  solches  der  Manie  entwickelt,  um  rasch  in  einen  ganz 
eigenartigen  Schwachsinnszustand  auszugehen.  Als  Hebephrenie  in 
diesem  Sinne  würde  somit  nur  ein  kleiner  TheiL  der  hier  in  der  Dementia 
praecox  vereinigten  Beobachtungen  zu  bezeichnen  sein.  Darasz- 
kiewicz**)  hat  daher  den  Begriff  der  Hebephrenie  dahin  ei"weitert, 
dass  er  auch  die  „schweren  Formen"  umfasst,  welche  zu  tiefem 
Blödsinn  führen.  Vielleicht  wäre  es  bei  dem  jetzigen  Stande  der 
Frage  am  zweckmässigsten,  den  Namen  der  Dementia  praecox  nur 
für  die  erste  der  von  mir  abgegrenzten  Gruppen,  für  die  Fälle  mit 
schleichender  Entwicklung  eines  meist  mässigen  Schwachsinns  bei- 
zubehalten, während  als  Hebephrenie  die  mit  Erregungszuständen 
verlaufenden,  prognostisch  ungünstigeren  Formen  zu  bezeichnen 
wären.  An  ihrer  nahen  Verwandtschaft  und  dem  Vorkommen  aller 
möglichen  XJebergänge  kann  freilich  kein  Zweifel  sein. 

Alle  im  Vorstehenden  geschilderten  Erkrankungen  erwachsen 
auf  dem  Boden  der  psychopathischen  Veranlagung,  die  sich 
häufig  genug  in  körperlichen  und  geistigen  Anomalien  des  Kindes- 
alters, verspäteter  und  ungenügender  Entwickelung  bereits  kund  giebt. 
In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  scheint  erbliche  Belastung 
vorhanden  zu  sein.  Die  Krankheit  entwickelt  sich  charakteristischer 
Weise  in  demjenigen  Lebensalter,  in  welchem  überhaupt  die  krank- 
hafte Veranlagung  zuerst  und  am  stärksten  sich  geltend  zu  machen 
pflegt.  Wie  schon  Hecker  gezeigt  hat,  ist  es  diese  Entstehimgszeit, 
welche  dem  schwachsinnigen  Endstadium  der  Psychose  sein  eigen- 


*)  Virchows  Archiv  LIL,  p.  394. 

*)  üeber  Hebephrenie,  insbesondere  deren  schwere  Form.  Diss.  Dorpat.  1892, 


Dementia  praecox. 


443 


thümliches  Gepräge  verleiht.  Hecke r  ist  sogar  geneigt,  die  Ausgänge 
seiner  Hebephrenie  geradezu  als  ein  Stehenbleiben  des  gesammten 
psychischen  Lebens  auf  der  Entwickelungsstufe  der  Pubertätsjahre 
zu  beti-achten.  Wenn  gegen  diese  Auffassung  auch  die  Häufigkeit 
tiefer  Verblödung  spricht,  welche  eben  einen  Rückschritt,  nicht  einen 
einfachen  Stillstand  der  geistigen  Ausbildung  darthut,  so  finden  wir 
doch  in  dem  vorzeitigen  Schwachsinn  viele  Züge  wieder,  welche  uns 
aus  den  normalen  Entwickelungsjahren  wohl  bekannt  sind.  Dahin  ge- 
hört die  Neigung  zu  unpassender  Leetüre,  die  naive  Beschäftigung 
mit  den  „höchsten  Problemen",  die  unreife  „Schnellfertigkeit"  des 
Urtheils,  die  Freude  an  Schlagwörtern  und  klingenden  Redensarten. 

Schon  bei  einer  frülieren  Gelegenheit  wurde  ferner  darauf  hin- 
gewiesen, dass  sich  im  Entwickelungsalter  gewisse  psychische  Wand- 
lungen vollziehen,  die  wir  vielleicht  als  das  normale  Vorbüd  leichter 
manischer  Yerstimmungen  betrachten  dürfen.  Der  unmotivirte 
Stimmungswechsel,  Niedergeschlagenheit  und  Ausgelassenheit,  die 
gelegentliche  Reizbarkeit  und  Impulsivität  der  Pubertätszeit  be- 
gegnen uns  beim  vorzeitigen  Schwachsinn  in  schärferer,  vielfach 
direct  manischer  Ausprägung.  Auch  die  Abgerissenheit  der  Ge- 
dankengänge, das  bald  gespreizte,  grosssprecherische,  bald  verlegene, 
scheue  Wesen,  das  alberne  Lachen,  die  läppischen  Scherze,  die 
affectirte  Sprechweise,  die  gesuchte  Derbheit  und  die  gewaltsamen 
Witze  sind  Erscheinungen,  welche  beim  Gesunden  wie  beim  Kranken 
auf  jene  leichte  innere  Erregung  hindeuten,  mit  welcher  die  Um- 
wälzungen der  Geschlechtsentwickelung  einherzugehen  pflegen. 

Die  Annahme  einer  degenerativen  Grundlage  der  Dementia 
praecox  wird  stark  unterstützt  durch  die  vollständig  ungünstige 
Prognose  dieses  Leidens.  Ich  muss  es  für  ausgeschlossen  halten, 
dass  eine  Genesung  der  Kranken  jemals  möglich  ist.  Zwar  können 
die  acuten  Störungen  nach  einigen  Wochen  oder  Monaten  wieder 
verschwinden,  so  dass  die  Umgebung  den  Eindruck  einer  wirklichen 
Besserung  des  Zustandes  gewinnt.  Dem  aufmerksamen  Beobachter 
indessen  entgeht  es  nicht,  dass  stets  ein  mehr  oder  weniger  hoch- 
gradiger^  unheilbarer  geistiger  Defect  zurückbleibt.  Wie  schon  früher 
betont,  scheint  diese  Invalidität  bei  den  afiectiven  Formen  regel- 
mässig tiefer  zu  greifen,  als  bei  den  einfachen.  Die  Erziehungs- 
fähigkeit nach  Ablauf  des  eigentlichen  Krankheitsprocesses  pflegt 
eine  sehr  geringe  zu  sein;  es  gelingt  meist  nur,  den  Bestand  einiger- 


444 


Vni.  Die  psychisclien  Entartungsprocesse. 


massen  zu  erhalten.  Alle  diese  Erfahrungen  weisen  mit  ziemlicher 
Bestimmtheit  darauf  hin,  dass  dem  hier  sich  abspielenden  Krankheits- 
processe  greifbare,  wenn  auch  vielleicht  sehr  feine,  pathologisch- 
anatomische  Yeränderungen  zu  Grunde  liegen  dürften. 

Unter  solchen  Umständen  ist  es  natürlich  von  grosser  prak- 
tischer Bedeutung,  den  einzelnen  FaU  von  Dementia  praecox  früh- 
zeitig und  sicher  zu  erkennen.  In  dem  kritischen  Lebensalter 
kommt  hauptsächlich  die  Abgrenzung  von  der  Paranoia  und  von 
.  den  periodischen,  bisweüen  auch  von  den  Erschöpfungspsychosen  in 
Betracht.  •  Gegenüber  der  Paranoia  ist  auf  die  raschere  Entwickelung, 
die  Dürftigkeit  und  Zerfahrenheit  der  etwa  vorhandenen  "Wahnideen 
und  den  sehr  bald  deutlichen,  zunehmenden  Schwachsinn  hinzu- 
weisen. Die  Verwechselung  mit  beginnendem  circulärem  oder  perio- 
disch-manischem Irresein  wird  bisweilen  sehr  nahe  liegen;  schlep- 
pender Beginn  mit  länger  zurückreichenden  Vorläufern ,  geringe 
Intensität  der  Krankheitserscheinungen  und  die  Zeichen  erworbener 
Demenz  ohne  tiefere  Bewusstseinstrübung  sprechen  mehr  für  die 
hier  geschilderten  Zustände.  Von  desn  Erschöpfungspsychosen  kommt 
namentlich  die  acute  Demenz  in  Betracht,  deren  plötzlicher  Beginn 
mit  schwerer  Verworrenheit  im  Anschlüsse  an  eine  eingreifende 
äussere  Schädigung  meist  die  Unterscheidung  mit  genügender  Sicher- 
heit ermöglichen  wird.  Zudem  muss  sich  in  aUen  bisher  ange- 
deuteten Zweifelsfällen  die  Sachlage  bei  weiterer  Beobachtung  in 
einigen  Monaten  vollständig  klären. 

Schwieriger  ist  es  bisweilen,  die  Dementia  praecox  von  ange- 
borener Imbecillität  zu  unterscheiden.  JSToch  vor  Kurzem  sind  mir 
mehrere  hochgradig  blödsinnige  Kranke  aus  einem  Arbeitshause  zu- 
geführt vT^orden,  die  zahlreiche  Strafen  wegen  Betteins,  Vagabon- 
direns  u.  dergl.  •  erhalten  hatten  und  nicht  die  geringste  Auskunft 
über  ihre  Vergangenheit  zu  geben  vermochten.  Aber  gerade  der 
hohe  Grad  der  Störung,  der  an  sich  ein  Leben  in  der  Freiheit  voll- 
ständig ausschloss,  wies  darauf-  hin,  dass  hier  ein  erworbenes 
Leiden  vorliegen  musste.  Später  gelang  es  dann  auch,  Ueberreste 
einstiger  leidlicher  Schulbildung  nachzuweisen,  Sowie  in  einem  Falle 
Briefe  zu  erlangen,  aus  welchen  hervorging,  dass  der  jetzt  völlig 
verblödete  Kranke  noch  wenige  Jahre  zuvor  im  Stande  gewesen 
war,  planmässig  zu  reisen  und  seine  Gedanken  gewandt  und  fliessend 
wiederzugeben.    Von  besonderer  praktischer  Wichtigkeit  ist  die 


Katatonie. 


445 


Kenntniss  solcher  Fälle  fiü-  den  Militärarzt,  da  die  Krankheits- 
erscheinungen nicht  selten  gerade  kui-z  vor  und  während  des  Dienens 
einsetzen  und  dann  leicht  im  absichtliche  Verstellung  gehalten  werden. 

Die  Behandlung  der  Dementia  praecox  bietet  wenig  Angriffs- 
punkte. Man  darf  jedoch  vielleicht  annehmen,  dass  rechtzeitige 
Schonung  des  erki-ankten  Gehirns,  Bekämpfung  der  Schlaflosigkeit, 
Aufregung,  Nahrungsverweigerung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  den 
psychischen  Yerfall  aufzuhalten  und  die  Bettung  des  noch  nicht 
Yemichteten  begünstigen  kann.  Ist  das  acute  Stadium  der  Krank- 
heit überwunden;,  so  wird  es  sich  wesentlich  darum  handeln,  die 
noch  vorhandenen  geistigen  Fähigkeiten  durch  vorsichtige,  systema- 
tische Hebung  nach  MögKchkeit  vor  der  drohenden  Inactivitätsatrophie 
zu  bewahren. 

B.  Die  Katatonie. 

Unter  dem  Namen  der  Katatonie*)  hat  Kahlbaum  ein  Krank- 
heitsbild beschrieben,  welches  der  Eeihe  nach  die  Symptome  der 
Melancholie,  der  Manie,  des  Stupors,  bei  ungünstigem  Verlaufe 
auch  der  Verwirrtheit  und  des  Blödsinns  darbietet  und  ausser- 
dem durch  das  Auftreten  gewisser  motorischer  Krampf-  und 
Hemmungserscheinungen,  eben  der  „katatonischen"  ' Symptome, 
charakterisirt  wird.  Die  von  ihm  gegebene,  in  vieler  Beziehung 
interessante  Darstellung  sollte  zeigen,  dass  alle  bis  dahin  als  Melan- 
cholia  attonita,  Stupor,  acute  Demenz  u.  s.  w.  bezeichneten  Zustände 
in  Wirklichkeit  nur  Phasen  einer  einzigen  Psychose  seien,  welche, 
analog  der  Dementia  paralytica,  trotz  äusserlicher  Verschiedenheiten 
des  Verlaufes  doch  eine  Anzahl  durchaus  typischer  somatischer  und 
psychischer  Symptome  aufweise.  "Wenn  ich  nun  auch  diese  Zu- 
sammenfassung ätiologisch,  klinisch  und  prognostisch  oft  recht  von 
einander  abweichender  Zustände  bisher  für  eine  schematisirende 
Ueberschätzung  ähnlicher  Einzelzüge  halten  muss,  so  sehe  ich  mich 
doch  durch  gewisse  Erfahrungen  veranlasst,  hier  eine  bestimmte 
Gruppe  von  Fällen  aus  dem  Gebiete  der  „Katatonie"  als  eigenartige 
Krankheitsform  herauszuheben.    Es  handelt  sich  dabei  im  Wesent- 

*)  Kahlbaum,  Die  Katatonie  oder  das  Spaunungsirresein.  1874;  Ne isser, 
Ueber  die  Katatonie.  1887.  Behr,  Die  Frage  der  Katatonie  oder  des  Irreseins 
mit  Spannung.   Diss.  Dorpat,  1891. 


446 


Vin.  Die  psychischen  Entartungsprocesse. 


liehen  um  das  acute  oder  subacute  Auftreten  eigenthümlicher, 
in  Stupor  und  späteren  Schwachsinn  übergehender  Er- 
regungszustände mit  verworrenen  "Wahnideen,  einzelnen 
Sinnestäuschungen  und  den  Erscheinungen  der  Stereotypie 
und  Suggestibilität  in  Ausdrucksbewegungen  und  Hand- 
lungen. 

Die  Psychose  beginnt  fast  ausnahmslos  mit  den  Anzeichen 
einer  leichteren  oder  schwereren  psychischen  Depression.  Die 
Kranken  werden  still,  gedrückt,  theilnahmlos,  ängstlich,  klagen  über 
Kopfschmerzen,  Erschwerung  des  Denkens,  verlieren  Schlaf  und 
Appetit,  hören  auf  zu  arbeiten,  bleiben  viel  im  Bett  liegen.  Bald 
tauchen  allerlei  unbestimmte  Wahnvorstellungen  auf,  Selbst- 
beschuldigungen,  Verfolgungsideen,  hypochondrische  Klagen.  Die 
Kranken  fürchten,  verloren  zu  sein,  nicht  in  den  Himmel  zu  kommen, 
haben  nicht  recht  gehandelt.  Menschen  und  Thiere  wissen  ihre 
Schlechtigkeit;  man  hat  sie  vergiftet,  verrückt  gemacht.  Sie  haben 
durch  Onanie  ihren  Körper  verdorben;  es  geht  etwas  im  Kopfe  herum; 
das  Gehirn  ist  zerrissen,  die  Eingeweide  sind  los.  In  dieser  Stimmung 
kann  es  zu  energischen  Selbstmordversuchen  kommen.  Oefters 
treten  auch  Sinnestäuschungen  auf.  Die  Mutter  Gottes  erscheint; 
Engel  fliegen  in  der  Luft;  die  Leute  sagen  der  Kranken  nach,  dass 
sie  geboren,  ein  Kind  umgebracht  habe;  das  Bett  beginnt  zu  sprechen. 
Meist  ist  es  indessen  trotz  mancher  Andeutungen  schwer,  über  das 
Bestehen  von  Hallucinationen  Gewissheit  zu  erlangen,  da  die  Kranken 
über  ihre  Zustände  keine  Auskunft  zu  geben,  sondern  rasch  in  mehr 
oder  weniger  tiefen  Stupor  zu  versinken  pflegen.  Bisweilen  gehen 
der  Entwickelung  dieses  Stupors  noch  einzelne  Grössenideen  voraus. 
Eine  meiner  Kjranken  lief  zum  Ortsvorsteher,  um  ein  grosses  Ver- 
mögen abzuholen,  das  sie  dort  für  sich  hinterlegt  glaubte;  eine 
Andere  traf  Vorbereitungen  zur  Hochzeit  mit  einem  ihr  ganz  frem- 
den Herrn,  der  ihr  angeblich  durch  Zeichen  seine  Liebe  erklärt  hatte. 

Einige  Wochen  oder  Monate  nach  diesen  einleitenden  Stadien 
treten  immer  stärker  die  vielfach  schon  im  Beginne  leicht  ange- 
deuteten katatonischen  Erscheinungen  hervor,  und  es  kommt  nun 
zur  Entwickelung  eines  ungemein  eigenartigen,  aus  anscheinend  ganz 
widersprechenden  Zügen  sich  zusammensetzenden  Krankheitszustandes. 
Was  zunächst  ins  Auge  fällt,  sind  die  von  Kahlbaum  mit  dem  Namen 
des  „Negativismus"  bezeichneten  Symptome.    Die  Kranken  hören 


Katatonie. 


447 


vollständig  auf  zu  sprechen  (Mutacismus)  oder  lispeln  dooh  nur  hier 
und  da  leise  einige  unverständliche  Worte;  sie  sind  gänzlich  unzu- 
gänglich gegen  jede  äussere  Einwirkung,  reagiren  nicht  auf  Anreden^ 
Berührungen  und  selbst  Nadelstiche;  nur  selten  führt  ein  sehr  kräf- 
tiger Reiz  langsame  Ausweichbewegungen  oder  auch  einmal  einen 
unvermuthet  gewandten  und  energischen  Angriff  herbei.  Auch  ein 
gelegentliches  leises  Blinzeln,  stärkere  Röthung  oder  Schwitzen  des 
Gesichtes,  Zucken  um  die  Mundwinkel  deuten  bei  solchen  Yersuchen 
darauf  hin,  dass  weniger  die  Auffassung  der  Eindrücke,  als  die  Aus- 
lösung einer  Willensreaction  auf  dieselben  gestört  ist.  Jeder  Versuch 
eines  activen  Eingreifens  in  Haltung  oder  Bewegung  der  Kranken 
begegnet  zeitweise  hartnäckigem  und  unüberwindlichem  Widerstande. 
Man  fühlt,  wie  sich  sofort  jeder  Muskel  auf  das  Aeusserste  anspannt, 
sobald  man  irgend  eine  Lageveränderung  mit  dem  Kranken  vor- 
nehmen will.  Drückt  man  gegen  die  Stirn,  so  schnellt  der  Kopf 
beim  Loslassen  federnd  nach  vorn;  berührt  man  das  Hinterhaupt, 
so  strebt  er  dem  Eingerdruck  entgegen  nach  hinten.  Den  psychischen 
Ursprung  dieses  prompten  Widerstrebens  erkennt  man  am  besten 
in  den  nicht  seltenen  Eällen,  in  welchen  die  Kranken  auch  auf 
sprachliche  Beeinflussungen  in  der  gleichen  Weise  reagiren.  Es  ist 
dann  nicht  nur  möglich,  den  Kranken  dadurch  zum  Vorwärtsgehen 
zu  veranlassen,  dass  man  ihn  scheinbar  zurückdrängt  und  umgekehrt, 
sondern  er  setzt  sich  auf  den  Nachtstuhl,  wenn  man  es  ihm  energisch 
verbietet,  steht  stiU,  sobald  man  ihn  gehen  heisst  und  ähnliches. 

Als  eine  negativistische  Erscheinung  ist  auch  wol  die  bei  un- 
seren Kranken  laäufige  Nahrungsverweigerung  aufzufassen.  Sie 
hören  bisweilen  ganz  plötzlich  auf  zu  essen,  und  sind  nun  auf  keine 
Weise  zur  Fortsetzung  der  Mahlzeit  zu  bewegen,  beissen  krampfhaft 
die  Zähne  aufeinander,  pressen  die  Lippen  zusammen,  sobald  man 
sich  mit  dem  Löffel  nähert.  Bemerkenswerth  ist  es,  dass  die  Kranken 
bei  dieser,  wie  bei  jeder  beliebigen  Beeinflussung  regelmässig  nur 
passiv  widerstreben,  höchstens  einige  plumpe  Abwehrbewegungen 
machen,  niemals  aber  mit  jenem  verzweifelten  Aufwände  aller  Kampf- 
mittel der  Einwirkung  zu  entgehen  suchen,  den  wir  bei  ängstlichen 
Kranken  beobachten. 

In  naher  innerer  Beziehung  zum  Negativismus  steht  offenbar 
die  sehr  auffallende  Neigung  unserer  Kranken  zu  dauerndem 
Festhalten  der  gleichen  Muskelspannung,  ja  jener  erstere  ist 


448 


VIII-.  Die  psychischen  Entartungsprocesse. 


vielleicht  nichts,  als  die  einfache  Folge  aus  diesem  allgemeinen 
psychomotorischen  Beharrungsvermögen.  In  Folge  dessen  sehen  wir 
die  Kranken  Tage,  "Wochen,  ja  viele  Monate  hindurch  genau  die- 
selbe Stellung  einnehmen.  In  eigenthümlicher  Haltung,  oft  starr  in 
sich  zusammengekrümmt,  sitzen  oder  liegen  sie  regungslos  da,  lassen 
sich  nach  Belieben  herumrollen  oder  auch  an  irgend  einem  Körper- 
theil  wie  ein  Packet  in  die  Höhe  heben,  ohne  die  Lage  ihrer  Glieder 
irgendwie  zu  verändern.  Die  Augen  sind  dabei  entweder  geschlossen, 
werden  bei  jeder  äusseren  Annäherung  fest  zusammengekniffen  unter 
starker  Aufwärtsrollung  der  Balbi,  oder  sie  sind  weit  offen,  starren 
mit  erweiterten  Pupillen  in  die  Ferne,  fixiren  niemals.  Der  Gesichts- 
ausdruck ist  unbeweglich,  maskenartig;  die  Lippen  sind  öfters  riissel- 
artig  vorgeschoben  („Schnauzkrampf'),  zeigen  hier  und  da  leichte, 
rhythmisch-zuckende  Bewegungen. 

Auch  im  Gange  der  Kranken  pflegen  sich  analoge  Eigenthüm- 
lichkeiten  bemerkbar  zu  machen.  Häufig  ist  es  freilich  ganz  un- 
möglich, Gehversuche  zu  erzielen.  Die  Kranken  lassen  sich  einfach 
steif  hinfallen,  sobald  man  sie  auf  die  Füsse  stellen  will.  In  anderen 
Fällen  marschiren  sie  mit  gestreckten  Knieen,  auf  den  Zehenspitzen, 
auf  dem  äusseren  Pussrande,  mit  gespreizten  Beinen,  stark  zurück- 
gebeugtem Oberkörper,  kurz  in  irgend  einer  ganz  bizarren,  aber  mit 
Aufbietung  aller  Kräfte,  entgegen  jeder  äusseren  Einwirkung  fest- 
gehaltenen Stellung.  Die  einzelnen  Bewegungen  geschehen  langsam, 
gezwungen,  als  ob  ein  gewisser  Widerstand  zu  überwinden  wäre,  oder 
ruckweise  und  dann  oft  blitzschnell. 

Endlich  dürfte  auf  das  allgemeine  Beharrungsvermögen  der 
Kranken  auch  vielfach  ihre  Unreinlichkeit  zurückzuführen  sein.  Sie 
halten  Urin  und  Koth  oft  lange  Zeit  zurück  und  lassen  ihn  dann 
einfach  unter  sich  gehen,  nehmen  nicht  die  geringste  Lageveränder- 
ung vor,  um  sich  den  unangenehmen  Folgen  zu  entziehen.  Ein 
wirklicher  Negativismus  zeigt  sich  häufig  darin,  dass  sie  auf  dem 
Abtritt  nicht  zur  Entleerung  zu  bewegen  sind,  um  gleich  darauf  den 
Fussboden  oder  das  Bett  in  ausgiebigster  "Weise  zu  verunreinigen. 
Der  Speichel  wird  oft  bis  zuni  Aeussersten  im  Munde  angesammelt, 
um  dann  plötzlich  fontänenartig  hervorzuquellen,  oder  er  läiüft  inuner- 
fort  am  Kinn  über  die  Kleider  herab,  wahrscheinlich  weniger,  weil 
die  Secretion  vermehrt  ist,  als  weil  die  psychomotorisch  erstarrten 
Kranken  keine  Schluckbewegungen  ausführen. 


Katatonie. 


449 


Einen  eig-enthümlichen  Gegensatz  zu  diesen  Erscheinungen,  in 
denen  sich  überall  das  elementare  Widerstreben  gegen  jede  Ver- 
änderung des  augenblicklichen  Zustandes  ausdrückt,  bilden  die  vielfach 
hervortretenden  Anzeichen  gerade  einer  erhöhten  Beeinflussbar- 
keit  von  aussen  her.  Dahin  gehört  vor  Allem  die  ausnahmslos  kürzere 
oder  Längere  Perioden  hindurch  bestehende  Katalepsie,  die  in  solchen 
Zuständen  ihre  höchste  Ausbildung  zu  erreichen  ptlegt.  Seltener  und 
meist  mu'  vorübergehend  begegnet  man  auch  der  Echolalie  oder  gar  der 
Echopraxie.  Die  Kranken  wiederholen  dann  einfach  ganz  mechanisch 
die  an  sie  gerichteten  Eeden  oder  auch  irgendwelche  zufällig  auf- 
gefasste  Aeusserungen;  sie  ahmen  lebhaftere  Geb  erden  nach,  die  mau 
ihnen  in  eindringlicher  "Weise  vormacht.  Bisweilen  sieht  man  sie  so- 
gar stundenlang  Alles  mitthun,  was  irgend  eine  bestimmte  Person 
ihrer  Umgebung  thut,  ihr  Alles  nachsprechen,  in  gleichem  Schritt 
hinter  ihr  hergehen,  sich  mit  ihr  an-  und  auskleiden  und  ähnliches. 

Die  beiden  nur  anscheinend  entgegengesetzten  Zustände  des 
ausgeprägtesten  Widerstrebens  und  der  vollständigen  Hingabe  an 
äussere  Einflüsse  gehen  bei  den  Kranken  regellos  und  ganz  un- 
vermittelt in  einander  über.  Zwar  kann  unter  Umständen  Wochen 
und  Monate  lang  nur  das  eine  Verhalten  bemerkbar  sein,  aber  es 
finden  sich  immer  Zeiten,  in  denen  sich  eine  plötzliche  Wandlung 
feststellen  lässt,  ja  es  gelingt  nicht  so  selten,  durch  geeignete  sug- 
gestive Beeinflussung  unmittelbar  die  Starre  in  Katalepsie  überzu- 
führen und  umgekehrt.  Eine  noch  grössere  Mannichfaltigkeit  aber 
gewinnt  das  Krankheitsbild  durch  den  Umstand,  dass  sich  regel- 
mässig allerlei  impulsive  Acte  mitten  in  jene  Zustände  hinein- 
schieben, deren  Ausbildung  im  Einzelnen  dann  vielfach  durch  die 
allgemeinen  Eigenthümlichkeiten  unserer  Kranken  beeinflusst  wird. 

Am  häufigsten  und  auffallendsten  sind  die  tonischen  und 
klonischen,  bald  ganz  einfachen,  bald  sehr  verwickelten  Zwangs- 
bewegungen, die  bisweilen  das  erste  alarmirende  Krankheitszeichen 
bilden.  Die  Eo-anken  werden  plötzlich  am  ganzen  Körper  starr, 
sinken  zu  Boden,  bleiben  in  der  Stellung  eines  Gekreuzigten  liegen,  - 
verdrehen  die  Augen,  rollen  sich  um  ihre  Längsachse;  sie  drehen 
sich  auf  den  Zehenspitzen  herum,  rotiren  Eumpf  und  Kopf,  pendeln 
hin  und  her,  proniren  die  Arme  bis  zum  Aeussersten,  wirbeln  die 
Fäuste  mit  grosser  Geschwindigkeit  um  einander.  Diese  Symptome 
können  vielfach  den  Eindruck  wahrer  Krämpfe  machen,  erinnern 

Kraepelin,  Psychiatrie.   4.  Anü.  29 


450 


VIII.  Die  psychischen  Entartungeprocesse. 


jedoch  am  meisten  an  hysterische  Erscheinungen,  denen  sie  bisweilen 
zum  Verwechseln  gleichen. 

Bei  anderen  motorischen  Leistungen  ist  der  psychische  .Ur- 
sprung deutlicher.  Die  Kranken  schlagen  die  verwegensten  Purzel- 
bäume, tanzen  in  grottesker  Haltung  und  Drapirung  herum,  lassen 
sich  immerfort  niederfallen  und  springen  wieder  auf,  machen  plötz- 
lich einige  Luftsprünge,  um  sich  dann  mit  gewaltigem  Anlauf  über 
die  hohe  Lehne  köpflings  ins  Bett  zu  stürzen,  erklettern  hastig 
einen  Stuhl,  einen  Tisch,  das  Fenstergitter,  um  dort  zu  defäciren, 
schleppen  ihr  Bett,  ihre  Matratze  stundenlang  im  Kreise  herum 
und  klopfen  bei  einer  bestimmten  Stelle  jedesmal  an  die  Wand, 
bewegen  sich  im  Sturmschritt  auf  derselben  Strecke  hin  und  her, 
schleudern  jedes  Hindemiss  rücksichtslos  bei  Seite,  yersetzen  un^^ 
vermuthet  einem  harmlosen  Nachbar  eine  schallende  Ohrfeige.  Alle 
die  geschilderten,  sehr  verschiedenartigen  Handlungen  werden  mit 
der  grössten  Kraft  und  Energie  durchgeführt,  so  dass  es  meist 
gänzlich  unmöglich  ist,  den  äusserst  gewandt  und  schnell  sich  be- 
wegenden Kranken  an  seinem  Yorhaben  zu  hindern.  In  Folge  dessen 
kommt  es  bisweilen  zu  massenhaften  Hautabschürfungen,  kleinen 
und  grösseren  Verletzungen,  da  der  Kranke  seine  Güeder  nicht  im 
geringsten  schont,  die  offenen  Stellen  immer  wieder  anschlägt  und 
die  ihm  hinderlichen  Verbände  ohne  Weiteres  herunterreisst. 

Weniger  bedenklich,  als  die  zuletzt  genannten^  glücklicher  Weise 
nicht  allzu  häufigen  Erscheinungen,  sind  die  eigenthümlichen 
sprachlichen  Impulse  der  Kranken.  Sie  beginnen  nach  vielleicht 
wochenlanger  regungsloser  Stummheit  plötzlich  überlaut  einige  ganz 
unverständliche  Schreie  auszustossen,  wie  ein  Hund  zu  bellen,  mit 
verschmitzter  Miene  einen  zeitgemässen  Gassenhauer  zu  gTölen.  Oder 
sie  machen  im  Tone  ruhiger  Unterhaltung  einzelne  abgerissene,  völlig 
beziehungslose  Bemerkungen,  ohne  sich  irgendwie  um  die  wirklich 
an  sie  gerichteten  Fragen  zu  kümmern.  Sehr  gewöhnlich  ist  endlich 
das  früher  bereits  besprochene  Symptom  der  Verbigeration.  in 
welchem  sieb,  wie  in  so  vielen  ihrer  sonstigen  motorischen  Aeusser- 
ungen,  die  Neigung  der  Kranken  zur  Stereotypie,  zur  Wiederholung 
der  gleichen  Impulse,  auf  das  deutlichste  kundgiebt.  Ii'gend  ein 
kürzerer  oder  längerer,  häufig  durchaus  sinnloser  Satz  (z.  B.  „Ge- 
kreuzigter Krex  in  e  Umkrexhaus")  wird  stunden-  und  tagelang  in 
derselben,  oft  rhythmischen  Betonung  ununterbrochen  wiederholt, 


Katatonie. 


451 


bald  laut,  bald  flüsternd,  bald  sogar  in  bestimmter  Melodie.  Bis- 
weilen versprechen  sich  die  Kranken  einmal,  oder  es  drängt  sich  ein 
in  der  Umgebung  gehörtes  "Wort  hinein;  so  kann  der  Spruch  all- 
mcähliche  "Wandlungen  erfahren,  deren  Ergebniss  man  dann  nach 
einigen  Stunden  vorfindet.  Auch  in  den  schriftlichen  Productionen 
der  Kranken  lässt  sich  die  Yerbigeration  oft  wiederfinden,  in  dem 
endlosen  "Wiederholen  der  gleichen  Schnörkel,  Zahlen,  Buchstaben, 
"Worte  oder  Sätze.  In  einem  Falle,  der  allerdings  mehr  dem  Gebiete 
der  Dementia  praecox  als  der  Katatonie  angehörte,  ergab  sich  sogar 
das  Bestehen  eintöniger  Gehörstäuschungen,  die  tagelang  dieselben 
unsinnigen  und  von  dem  Kranken  selbst  ganz  gleichgültig  hinge- 
nommenen Sätze  wiederholten,  so  dass  man  hier  von  einer  „hallu- 
cinatorischen  Yerbigeration"  sprechen  konnte.  "Wahrscheinlich  ist 
diese  Erscheinung  gar  nicht  so  selten,  wenn  wir  auch  von  den 
Patienten  nicht  viel  darüber  erfahren. 

Eine  ganze  Keihe  weiterer  seltsamer  Gewohnheiten  unserer 
Kjanken  dürfte  in  gleicher  "Weise  ihre  Entstehung  irgendwelchen 
unvermittelt  aufsteigenden  Antrieben  verdanken,  die  dann  wegen  der 
Neigung  zur  Stereotypie  immer  wiederkehren.  Dahin  sind  wol  so 
manche  der  bereits  erwähnten  eigenthümlichen  Stellungen  und  der 
automatenartigen  Bewegungen  zu  rechnen,  die  wir  hier  beobachten, 
das  krampfhafte  Andrücken  der  gespreizten  Knger  an  einzelne 
Körpertheile,  das  zwangsmässige  Kopfschütteln  und  namentlich  ge- 
wisse Sonderbarkeiten  beim  Essen.  Fast  niemals  nehmen  die 
Kranken,  die  bald  ohne  erkennbaren  Anlass  die  Nahrung  verweigern, 
bald  sich  mit  Gier  auf  das  Essen  stürzen  und  dann  häufig  ihre 
Nachbarn  rücksichtslos  ausplündern,  ihre  Mahlzeiten  in  normaler 
Weise  zu  sich.  Vielfach  greifen  sie  einfach  mit  den  Händen  in  den 
Teller  hinein,  stopfen  hastig  den  Mund  so  voll  wie  möglich  und 
schlingen  herunter,  fast  ohne  zu  kauen.  Andere  schlecken  die  Suppe 
wie  ein  Hund  oder  giessen  sie  unter  reichlichem  Verschütten  direct 
in  den  Mund,  pressen  den  Gemüseteller  glatt  auf  ihr  Gesicht  und 
lecken  ihn  so  allmählich  aus.  Eine  meiner  Kranken  fasste  zwar 
den  Löffel  ganz  richtig  mit  der  rechten  Hand,  führte  ihn  aber  hinter 
ihrem  Kopfe  herum  von  der  linken  Seite  zum  Munde.  Nicht  selten 
verschüngen  die  Kranken  ganz  unglaubliche  Mengen  der  verschieden- 
sten Nahrungsmittel,  aber  auch  ganz  unverdauliche  Dinge,  hie  und 
da  sogar  ihre  eigenen  Excremente. 

29* 


452 


VIII.  Die  psychischen  Entartungsprocesse. 


Während  der  Entwickelung  dieses  vielgestaltigen  Krankheitsbildes 
ist  das  Bewusstsein  der  Patienten  ohne  Zweifel  dauernd  etwas 
getrübt.  Allein  es  lässt  sich  dennoch  fast  regelmässig  feststellen, 
dass  die  Orientirung  den  Kranken  keineswegs-  vollständig  verloren 
gegangen  ist.  Trotzdem  dieselben  Monate  lang  schwer  benommen 
erscheinen,  ihre  Umgebung  vollständig  ignoriren  und  die  unsinnigsten 
Handlungen  begehen,  überraschen  sie  plötzlich  dadurch,  dass  sie  die 
Namen  der  Wärterinnen  oder  der  anderen  Kranken  kennen,  sich 
über  irgend  ein  Yorkonminiss  beklagen,  geordnete  Auskunft  über 
ihre  Verhältnisse  geben,  einen  zusammenhängenden  Brief  mit  zu- 
treffender Schilderung  ihres  Aufenthaltes,  der  Bitte  um  Abholung 
verfassen.  Selbst  eine  gewisse  Krankheitseinsicht  ist  bisweilen  vor- 
handen. Eine  Kranke,  welche  die  katatonischen  Bewegungstereo- 
typen in  höchster  Ausbildung  darbot,  sagte  mir:  „ich  muss  aber 
immer  so  dumme  Bewegungen  machen;  dass  ist  doch  zu  einfältig." 
Freilich  erfährt  man  über  die  Motive  des  ganzen  zwangsmässigen 
Benehmens  von  den  Kranken  nie  etwas  Anderes,  als  dass  sie  nicht 
hätten  sprechen  dürfen  oder  können,  dass  eine  Kraft  über  sie  ge- 
kommen sei  und  si$  gezwungen  habe,  dass  sie  so  oder  so  hätten 
handeln  müssen,  dass  man  es  ja  so  gewollt  habe. 

Die  Stimmung  der  Kranken  zeigt  nach  den  anfänglichen 
stärkeren  Affectschwankungen  keine  selir  auffallenden  Yeränderungen. 
Meist  sind  die  Kranken  im  Zusammenhalte  mit  ihrem  sonderbaren 
Benehmen  merkwürdig  gleichgültig;  nur  gelegentlich  beobachtet  man 
einmal  kindische  Weinerlichkeit,  Gereiztheit,  Ausgelassenheit  oder 
Zeiten  ekstatischer  Verzückung.  An  körperlichen  Symptomen  sind 
namentlich  vasomotorische  Störungen  bemerkenswerth,  Cyanose 
der  Extremitäten  und  der  Schleimhäute,  Gedunsenheit  des  Gesichts, 
Oedeme  an  den  Unterschenkeln,  lebhafte  Eöthung  und  sogar  Quaddel- 
bildung bei  leichten  mechanischen  Keizen.  Die  Keflexe  sind  fast 
ausnahmslos  gesteigert,  bisweilen  auch  die  mechanische  Erregbarkeit 
der  Muskeln  und  Nerven;  der  Puls  ist  klein,  verlangsamt,  die 
Temperatur  niedrig,  die  Athmung  oberflächlich,  der  Schlaf  wol 
immer  hochgradig  gestört,  Avenn  die  Kranken  auch  ruhig  liegen; 
das  Körpergewicht  sinkt  beträchtiich,  auch  dann,  wenn  die 
Nahrungsaufnahme  eine  reichliche  ist. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  ist,  wie  schon  die  Fülle  einander 
entgegengesetzter  Erscheinungen  vermuthen  lässt,  ein  sehr  wechselnder. 


Katatonie. 


453 


Bisweilen  allerdings  folgt  auf  die  anfängliche  Depression  einfach 
ein  mehr  oder  weniger  langes  Stadium  des  Stupors  mit  Negativismus, 
Katalepsie  und  einzelnen  impulsiven  Handlungen,  welches  unmittelbar 
in  dauernden  Schwachsinn  übergeht.  Hier  verlieren  sich  nach  einer 
längeren  Eeihe  von  Monaten  oder  auch  nach  Jahr  und  Tag  ganz 
allmählich  die  katatonischen  Erscheinungen  bis  auf  einzelne  Reste. 
Die  Kranken  werden  freier  in  ihren  Bewegungen,  geordneter  in 
ihren  Handlungen,  sind  aber  vollkommen  stumpf,  theilnahmlos,  veri 
mögen  keinerlei  oder  doch  nur  sehr  einfache  Auskunft  zu  geben, 
haben  kaum  irgendwelche  Erinnerung  an  ihre  Yergangenheit,  noch 
weniger  an  ihre  Krankheit.  Nur  hie  und  da  lässt  noch  eine  finstere 
Miene,  ein  impulsiver  Act,  ein  ausdrucksloses  Lächeln  auf  seichte 
AffectschAvankungen  schliessen.  Spuren  von  Katalepsie,  Andeutungen 
von  Haltungs-  oder  Bewegungsstereotypen,  ünreinlichkeit,  unmotivirte 
Nahrungsverweigerung  oder  Gefrässigkeit  sind  nicht  selten.  Die 
Arbeitsfähigkeit  ist  sehr  gering  oder  ganz  aufgehoben. 

Häufiger  als  dieser  unmittelbare  TJebergang  in  Blödsinn  ist  das 
zeitweise  Auftreten  manischer  Erregungszustände.  Bisweilen 
schieben  sich  dieselben  nur  ganz  vorübergehend  in  den  Stupor  ein. 
Die  Kranken  werden  plötzlich  ausgelassen,  heiter,  gesprächig,  fangen 
an  zu  singen,  zu  tanzen,  läppisch  zu  lachen,  zu  zerstören,  zu  schmieren, 
gewaltthätig  zu  werden,  um  nach  kurzer  Zeit  ebenso  rasch  wieder 
in  die  frühere  Eegungslosigkeit  zu  versioken.  In  anderen  Fällen  da- 
gegen hält  eine  leichtere  oder  schwerere  tobsüchtige  Erregung 
Wochen  und  Monate  hindurch  an,  so  dass  man  mit  einiger  Be- 
rechtigung von  einem  „manischen  Stadium"  sprechen  kann.  Auch  in 
diesen  Zuständen  jedoch  ist  die  katatonische  Grundstimmung  viel- 
fach erkennbar.  Das  Benehmen  und  die  Handlungen  der  Kranken 
pflegen  etwas  Stereotypes,  Gespreiztes,  Zwangsmässiges  zu  haben,  im 
Gegensatze  zu  der  planlosen  Beweglichkeit  und  Geschäftigkeit  in 
der  Manie;  einzelne  der  früher  besprochenen  eigenartigen  Symptome 
mischen  sich  in  den  Complex  der  manischen  Erscheinungen  hinein. 
Nicht  selten  werden  dabei  allerlei  Grössenideen  und  phantastische 
Erfindungen  von  den  Kranken  geäussert.  Eegelmässig  besteht  lebhafte 
sexuelle  Erregung,  die  sich  in  Zärtlichkeiten,  rücksichtslosen  Ent- 
blössungen  und  Masturbation  zu  entladen  sucht.  Gewöhnlich 
pflegen  solche  manische  Stadien  sich  an  den  Stupor  anzuschliessen. 
In  manchen  Fällen  beobachtet  man  einen  mehrfachen  regellosen 


454 


Vni.  Die  psychischen  Entartungsprocesse. 


Wechsel  zwischen  Starre  und  Erregung;  hie  und  da  kommen  auch 
Zeiten  lebhafter  Angst  vor.  Stets  aber  können  ganz  unerwartet 
Stunden  oder  Tage  nahezu  normalen  Yerhaltens  sich  einstellen,  in 
denen  die  Kranken  ruhig  und  zusammenhängend  Auskunft  zu  geben 
vermögen,  fi-eilich  ohne  Verständniss  für  ihre  Lage  und  ihre  Krankheit. 

Den  Ausgang  der  Katatonie  in  dem  hier  abgegrenzten  Sinne  bildet 
regelmässig  ein  erheblicher  Grad  von  geistiger  Schwäche,  der 
nicht  selten  bis  zu  tiefem  apathischem  Blödsinn  fortschreitet.  Spätestens 
nach  2 — 3  Jahren  pflegt  dieser  Endzustand  erreicht  zu  sein.  Auch 
die  Erregung  schwindet  allmählich  ganz,  oder  macht  sich  doch  nur 
gelegentlich  noch  in  einer  gewissen  Unruhe,  einzelnen  Gewaltacten, 
lebhafterem  Gesticuliren  geltend.  Das  Körpergewicht  steigt  enonn; 
die  Kranken  werden  blühend  und  corpulent,  wenn  sich  nicht,  was 
häufig  der  Eall  ist,  jetzt  oder  schon  früher  phthisische  Erkrankungen 
entwickeln.  Kahlbaum  hat  die  Prognose  der  Katatonie  nicht  als  so 
ungünstig  beti-achtet  und  eine  ganze  Anzahl  von  Heilungen  berichtet. 
Ich  möchte  jedoch  bezweifeln,  dass  seine  Fälle  wirklich  gleichartig 
waren;  ausser  manchen,  wie  ich  glaube,  periodischen  Formen  hat  er 
zur  Katatonie  auch  Beobachtungen  von  Dementia  acuta  gerechnet, 
die  nach  meiner  Auffassung  wesenthch  anders  zu  beurtheilen  sind. 
Alle  FäUe  mit  ausgeprägt  katatonischen  Erscheinungen,  die  ich 
im  Laufe  längerer  Jahre  gesehen  habe,  sind  ausnahmslos  in  der 
oben  geschilderten  Weise  ungünstig  verlaufen. 

Alle  diese  Fälle  betrafen  Personen  zwischen  dem  19.  und  26. 
Lebensjahre.  Nur  bei  einer  Kranken  trat  die  Psychose  erst  im  Be- 
ginne des  4.  Decenniums  auf,  nachdem  elf  Jahre  früher  eine  vier- 
monathche  Geistesstörung  nicht  eruirbarer  Art  voraufgegangen  war. 
Auch  hier  erfolgte  der  Ausgang  in  einen  Schwachsinn  ohne  Affect, 
ohne  Sinnestäuschungen  und  ohne  Wahnideen.  Die  Katatonie  düi-fte 
demnach  in  naher  Verwandtschaft  zur  Dementia  praecox  stehen,  eine 
Anschauung,  welche  durch  die  Häufigkeit  katatonischer  Andeutungen 
bei  dieser  letzteren  Psychose,  sowie  durch  das  Vorkommen  gewisser 
Uebergangsfälle  zwischen  beiden  Formen  noch  mehr  gestützt  wird. 
Das  weibliche  Geschlecht  scheint  mir  ein  leichtes  Uebergewicht  zu 
haben.  Erbüche  Praedisposition  war  etwa  in  der  Hälfte  der  Fälle  vor- 
handen; die  sonstige  Veranlagung  der  Kranken  Hess  meist  keine  auf- 
fallenderen Eigenthümlichkeiten  erkennen.  Mehrfach  waren  dem  Aus- 
bruche der  Krankheit  heftige  Gemüthserschütterungen  vorangegangen. 


Katatonie. 


455 


Die  Diagnose  der  Katatonie  hat  durchaus  das  klinische  Gre- 
sammtbild  zu  berücksichtigen,  die  subacute  Entwickelung  der  eigen- 
artigen, aus  Negatirismus  und  Stereotypie,  aus  Suggestibilität  und 
Impulsivität  zusammengesetzten  Gruppe  von  Erscheinungen  nach 
einer  einleitenden  psychischen  Depression.  Einzelne  Grlieder  aus 
dieser  Reihe,  namentlich  die  Katalepsie,  kommen  bei  den  ver- 
schiedensten Psychosen  gelegentlich  zur  Beobachtung.  Der  kata- 
tonische Symptomencomplex  scheint  demnach,  cähnlich  wie  der 
manische  oder  melancholische,  nur  das  Zeichen  eines  gewissen  all- 
gemeinen Himzustandes  zu  sein,  der  sich  am  ausgeprägtesten  gerade 
bei  einem  bestimmten,  zum  Schwachsinn  führenden  und  in  jugend- 
lichem Lebensalter  auftretenden  Krankheitsprocesse  entwickelt.  Am 
meisten  ähneln  der  Katatonie  symptomatisch  gewisse  Fälle  von  Para- 
lyse, bei  denen  alle  oder  nahezu  alle  charakteristischen  Erscheinungen 
Torhanden  sein  können.  Ausser  dem  höheren  Lebensalter  und  der 
verschiedenartigen  Entwickelung  der  Krankheit  werden  hier  die 
körperlichen  Störungen,  die  besonderen  psychischen  Veränderungen 
der  Paralytiker  und  der  weitere  Yerlauf  entscheiden.  Ebenso  wird 
auch  der  Verlauf  und  das  Fehlen  der  eigenartigen  Bewegungs- 
stereotypen die  Abgrenzung  gewisser  periodischer  Erkrankungen 
gestatten,  welche  zeitweise  katatönische  Zustandsbüder  darbieten 
können.  Die  acute  Demenz  unterscheidet  sich  von  der  Katatonie 
durch  die  tiefgreifende  Verworrenheit  und  die  deutlichen  Anzeichen 
der  psychischen  Lähmung  im  Gegensatze  zu  der  Besonnenheit  und 
gelegentlichen  Activität  bei  dieser  letzteren  Psychose.  Für  die 
Melancholia  attonita  und  die  stuporösen  Formen  des  Wahnsinns 
entscheidet  namentlich  der  .  dauernde  ängstliche  Affect,  für  die 
katatonische  Paranoia  das  Bestehen  eines  allmählich  ausgebildeten 
"Wahnsystems. 

Die  Behandlung  der  Katatonie  hat  unter  Umständen  recht 
schwierige  Aufgaben  zu  lösen.  Die  Bekämpfung  der  Nahrungs- 
verweigerung erfordet  bisweilen  Sondenfütterung,  diejenige  der  kata- 
tonischen Erregung  Narkotica,  Schlafmittel,  Bäder,  Einwickelungen 
u.  dergl.,  freilich  Alles  meist  mit  geringem  Erfolg.  Gewöhnlich 
schwinden  die  bedrohlichen  Symptome  eines  Tages  ganz  von  selbst, 
nachdem  man  sich  lange  vergeblich  bemüht  hat,  sie  zu  beseitigen. 
Dennoch  habe  ich  eine  Kranke  unter  starker  Temperatursenkung 
(33,80)  trotz  enormer  Essgier  einfach  an  höchster  körperlicher  Er- 


456. 


Vm.  Die  psychischen  Entartungsprocesse. 


Schöpfung  ,  ZU  Grunde  gehen  sehen,  da  aUe  Versuche  gescheitert 
waren,  den  sinnlosen,  zwangsmässigen  Bewegungsdrang  zu  beseitigen. 
Sorgfältige  chirurgische  Berücksichtigung  erfordern  in  den  Auf- 
regungszuständen  die  häufigen  Verletzungen,  welche  leicht  zu  In- 
fectioneii .  führen  können. 


C.  Die  Dementia  paranoides. 

Mit  der  hier  zum  ersten  Male  gebrauchten,  vorläufigen  Be- 
zeichnung der  Dementia  paranoides  sei  es  uns  gestattet,  jene  eigen- 
thümlichen  Krankheitsfälle  zu  charakterisiren,  welche  nach'schneller 
Entwickelung  gänzlich  unsinniger,  verworrener  Ver- 
folgungs-  und,  Grössenideen  ohne  ausgeprägtere  Affect- 
schwankungen  überraschend  früh  in  Schwachsinn  über- 
gehen. Die  Zahl  derartiger,  meist  zui^  Paranoia  gerechneten- 
Beobachtungen  ist  eine  ziemlich  grosse,  doch  ist  dieses  Gebiet  der 
klinischen  Psychiatrie  noch  sehr  wenig  durchforscht,  so  dass  wir  uns 
einstweilen  mit  einer  kurzen  SMzzirung  der  wichtigsten  uns  hier 
begegnenden  Erfahrungen  begnügen  müssen. 

Wir  fassen  dabei  zunächst  die  Fälle  mil  überwiegender  Aus- 
bildung von  Verfolgungsideen  ins  Auge.  Die  Krankheit  pflegt 
mit  den  allgemeinen  Erscheinungen  einer  leichten  Verstimmung, 
Schlaflosigkeit,  innerer  Unruhe,  Unlust  zui-  Arbeit  zu  beginnen. 
Meist  sind  jedoch  diese  Symptome  so  unbestimmter  Art,  dass  sie 
von  der  Umgebung  kaum  beachtet,  sondern  erst  nachträglich  als 
krankhaft  erkannt  werden.  Dennoch  ist  schon  im  Verlaufe  weniger 
Monate  unvermerkt  eine  derartig  tiefgreifende  Umwälzung  in  dem 
gesammten  Seelenleben  der  Kranken  eingetreten,  dass  dieselben  bei 
scheinbar  klarem  Verstände  die  unnatürlichstea  und  folgenschwersten 
Handlungen  begehen  können.  Eine  meiner  Kranken  brachte  ihren 
Kindern  schwere  Verletzungen  bei,  ixm  ihnen  durch  den  Tod  das 
nach  ihrer  Meinung  gefährdete  Seelenheil  zu  verschaffen;  eine  Andere 
erschlug  fast  ihren  ruhig  schlummernden  Mann,  um  ihn  von  seinen 
Leiden  zu  erlösen,  da  ihr  der  Gedanke  kam,  er  liege  im  Sterben. 
Es  zeigt  sich  somit  sehr  bald  eine  ganz  merkwürdige  Schwäche  des 
Urtheils,  die  besonders  deutlich  in  den  nunmehr  auftauchenden 
Wahnideen  erkennbar  ist.  Das  Vieh  frisst  nicht  mehi-  me  £i-üher, 
ist  verhext;  der  Mann  ist  verändert,  hat  keinen  rechten  Glauben 


Dementia  paranoides. 


457 


mehr;  in  den  Speisen  ist  Grift.  Alles  ist  Blendwerk;  das  "Weltende 
steht  vor  der  Thür;  der  Pfarrer  ist  todtgeschlagen  und  eingegraben 
Avorden.  Es  werden  nächtliche  Einspritzungen  vorgenommen,  die 
Muttergefühle  herausgedreht,  die  Nerven  ausgerissen;  der  Leib  wird 
bis  in  den  Hals  hinein  durchsucht,  am  After  gezupft,  das  Blut  aus- 
gedörrt, das  Fleisch  vom  Körper  abgemacht,  che  Gedanken  gelesen, 
das  Gesicht  verzerrt  und  heimlich  photographirt.  Die  Kranken  sind 
von  den  „Sozonalisten"  ausgeschrieben,  werden  von  der  Fabrik,  von 
der  Kirche  mit  einem  Ead  lebendig  herausgeschmissen,  von  boshaften 
Menschen  abgemartert. 

Dazu  gesellen  sich  häufig  einzelne  Grösse nideen.  Eine  Kranke 
meinte,  sie  habe  sollen  dem  Kaiser  seine  Frau  machen,  könnte  beim 
Kronprinz  sein,  wenn  sie  wollte^  habe  mit  zwei  jungen  Pferden  die 
Kaiserpost  aufgemacht;  eine  andere  hielt  sich  für  eine  Fürstin.  Meist 
bestehen  auch  Gehörstäuschungen.  Alle  schwätzen  aus  der  Wand; 
durch  das  Telephon  wird  das  ganze  Land  aufgemacht;  es  sind 
Männer  im  Hause;  es  ist  eine  Listigkeit  und  Heimlichkeit  hinter  dem. 
Kranken;  er  ist  in  ganz  Deutschland  als  Spion  bekannt  gemacht. 

Alle  diese  ungeheuerlichen  Ideen  werden  von  dem  Kranken 
vollkommen  ruhig,  aber  nicht  in  zusammenhängender  Erzählung, 
sondern  in  einzelnen,  abgerissenen,  barocken  Aeusserungen  vor- 
gebracht. Meist  sind  die  Kranken  ziemlich  einsilbig,  sprechen  wenig, 
zeitweise,  vielleicht  gar  nicht,  geben  über  ihre  persönlichen  Ver- 
hältnisse kurze,  zutreffende  Antworten,  verblüffen  dann  aber  plötz- 
lich durch  die  ruhige  Selbstverständhchkeit,  mit  der  sie  den  voll- 
endetsten Unsinn  vorbringen,  die  abenteuerlichsten  "Widersprüche 
festhalten  und  jeden  Einwand  durch  eine  neue  Absurdität  ent- 
waffnen. Dabei  sind  sie  dauernd  besonnen,  fassen  die  an  sie  ge- 
richteten Fragen  auf,  vermögen  sich,  abgesehen  von  ganz  vorüber- 
gehenden Störungen,  über  ihre  Umgebimg  zu  orientiren.  Ein  gewisses 
dumpfes  Krankheitsbewusstsein,  meist  wol  mit  hypochondrischer 
Färbung,  scheint  im  Beginne  öfters  vorhanden  zu  sein ;  die  Kranken 
klagen  über  Schwäche,  Hinfälligkeit,  Zittern  in  den  Beinen,  Er- 
schwerung des  Denkens.  Eine  wirkhche  Einsicht  in  che  Krankheits- 
erscheinungen fehlt  dagegen  stets  vollkommen. 

Die  Stimmung  der  Kranken  ist  meist  gleichgültig,  theilnahm- 
los,  ■  in  auffallendem  Gegensatze  zu  dem  aufregenden  Inhalte  ihrer 
"Wahnideen.    Zeitweise  jedoch  kommt  es  zu  plötzlicher  Gereiztheit 


458 


VIII.  Die  psychiecheu  Entartungsin-ocesse. 


mit  der  Neigung  zu  äusserst  rücksichtslosen  GeAvaltacten.  Die  Kranken 
werden  brutal  gegen  einen  Mitpatienten,  weil  er  sie  am  Gesichte 
gezupft,  einen  grossen  Verlust  am  Körper  gemacht,  als  falsches  Auge 
geleuchtet  hat.  Eine  meiner  Kranken  machte  Nachts  gefährliche  An- 
griffe auf  die  Wäi-terinnen,  weil  sie  ihr  mit  der  Wachuhr  den  Leib 
herausrissen.  Auch  Zeiten  fi'eudiger  Gehobenheit  mit  sexueller  Er- 
regung oder  ängstliche  Verstimmung  werden  hie  und  da  beobachtet. 

Das  Benehmen  der  Kranken  ist  im  Allgemeinen  geordnet, 
doch  kommen  einzelne  Sonderbarkeiten  vor,  übereifriges  Beten, 
nächtliches  Aufstehen,  Herumrücken  mit  der  Bettstelle,  unmotivirtes 
Lachen,  Queruliren,  plötzliches  Schimpfen  oder  Zerstören.  Zu  regel- 
mässiger Beschäftigung  sind  sie  meist  nicht  zu  bewegen,  liegen 
vielfach  tagelang  im  Bette  oder  auf  den  Bänken  herum,  ohne  das 
Bedürfniss  nach  einer  Thätigkeit  zu  empfinden.  Ihre  Ausdrucks- 
weise pflegt  allmählich  eine  eigenthümlich  fremdartige  zu  werden. 
Sie  bilden  neue  "Worte  und  Wendungen,  die  entweder  gar  nicht 
oder  nur  dem  ungefähren  Sinne  nach  verständlich  sind,  auch  auf 
Befragen  von  ihnen  durchaus  nicht  erläutert  werden.  In  diese 
Kedeweise  verfallen  sie  sofort,  sobald  sie  das  Gebiet  der  concreten 
Erfahrungen  ihrer  gesunden  Vergangenheit  verlassen. 

Weit  häufiger,  als  die  bisher  beschriebene  Form,  sind  die  Eälle 
mit  üppig  wucherndem,  verworrenem  Grössenwahn.  Auch 
hier  pflegt  die  Krankheit  zunächst  durch  Verfolgungsideen  einge- 
leitet ZU'  werden.  Der  Kranke  wird  zerstreut,  abgespannt,  reizbar, 
klagt  über  Kopfschmerzen,  Mattigkeit,  allgemeines  Unbehagen,  tiitt 
nach  einiger  Zeit  mit  der  Behauptung  hervor,  dass  man  ihn  überall 
scharf  beobachte,  eigenthümliche  Fragen  an  ihn  richte,  gegen  ihn 
intiiguire,  ihn  vergiften  wolle,  alle  seine  Gedanken  offenkundig 
mache.  Ungemein  rasch  gewinnen  diese  Vorstellungen  einen  dui-ch- 
aus  absurden  Inhalt.  Ein  junger  Offizier  erzählte  schon  wenige 
Monate,  nachdem  die  ersten  Veränderungen  bei  ihm  wahrgenommen 
waren,  sein  Arzt  habe  ihm  den  Kopf  abgeschnitten,  den  Leib  ge- 
öffnet, die  Gedärme  herausgenommen;  er  habe  einen  Pferdefuss 
bekommen.  Nachts  werden  mephitische  Dämpfe  ins  Zimmer  gelassen, 
die  Genitalien  aus  dem  Leibe  gezerrt,  Schröpfköpfe  angesetzt;  es 
wird  Magie  angewandt,  mit  Magneten  eingewii'kt.  Die  Kranken  sind 
dabei  verstimmt,  ängstlich,  missti-auisch  gegen  ihre  Umgebung,  zeit- 
weise auch  benommen,  unruhig,  sitophobisch. 


Dementia  paranoides. 


459 


Ganz  plötzlich  stellen  sich  nun  auch  zerfahrene  G-rössenideen 
ein.  Ein  Briefträger,  der  bis  dahin  noch  mit  Unterbrechungen 
Dienst  getlian  hatte,  unterschrieb  eines  Tages  ein  amtliches  Schrift- 
stück als  „Generalfeldmarschall",  verlangte  Helm,  und  Generals- 
uniform, bezeichnete  sich  als  den  Sohn  Kaiser  "Wilhelms  und  er- 
kannte an  den  Fingernägeln  seines  Yorgesetzten,  dass  derselbe  sein 
Bruder  sei.  Unaufhaltsam  vollzieht  sich  die  Production  des  blühend- 
sten und  unsinnigsten  Grössenwahnes  ohne  Mass  und  Ziel.  Der 
Kranke  ist  vertauschtes  Kind,  Graf  Eberstein,  Monarch,  Maria 
Theresia,  nach  der  Weltordnung  Kaiserin  von  Frankfurt,  Ideal  der 
Frauenwelt,  allerheiligste  Göttin,  Präsident  von  Amerika  aus  Ham- 
burg, Kaiser  von  Deutschland,  Pius  IX.  und  Leo  XIE.  in  einer 
Person,  ist  Jesasus  Christasus  Heilandasus,  „Sinngott",  Arzt,  Dichter, 
Entdecker,  Universalgenie,  Perle  und  Inbegriff  des  Weltalls;  er  weiss 
Alles,  kann  Alles,  gebietet  über  Alles.  Er  stammt  Yom  Herzog  von 
Brabant,  von  den  Propheten  ab,  dem  ersten  Abglanz  der  Sonne, 
ist  gar  nicht  auf  natürliche  Weise  zur  Welt  gekommen,  wurde  im 
Amazonenstrom  aufgefischt,  aus  Blut  und  Speichel  zusammengerieben, 
hat  schon  viele  Male  gelebt,  die  fabelhaftesten  Dinge  durchgemacht, 
alle  historischen  Begebenheiten  geleitet,  alle  Kriege  geführt,  ist  durch 
Himmel  und  Hölle  geflogen;  er  war  selber  Alexander  und  Cäsar, 
Mahomet  und  Luther,  Goethe  und  Humboldt.  Zehnmal  wurde  er 
geboren,  ist  50  mal  gestorben,  immer  durch  Aufsetzen  eines  frischen 
Schädels  wieder  neu  belebt,  durch  Gipsverbände  klein  gezogen 
worden;  er  hat  die  schönsten  Weiber,  unzählige  Kinder,  besitzt  die 
Afrikanermethode  des  Lebens;  da  kann  man  gar  nicht  sterben. 

Das  Eeich  Gottes  ist  auf  ihn  herniedergekommen,  sein  Gedäcbt- 
niss  bis  in  die  Wolken  ausgebildet  worden;  durch  ihn  werden  die 
Jahrhunderte  belohnt  und  Deutschland  befreit.  Der  liebe  Gott  hat 
ihm  Alles  gezeigt;  er  kann  Yulkane  essen,  trägt  sein  Gehirn  auf 
der  Schulter,  hat  sich  unserm  Herrgott  als  Wildsau  zur  Verfügung 
gestellt.  Er  besitzt  die  prachtvollsten  Schlösser  in  fremden  Welt- 
theilen  mit  selbsterfundenen  vninderbaren  Namen,  wo  er  von  Geistern 
bedient  wird,  grossartige  Ländereien  auf  der  Sonne,  auf  den  Sternen, 
ein  unermessliches  Yermögen;  er  wird  die  Prinzessin  heirathen,  den 
Glaubenskampf  durchkämpfen,  die  Welt  erlösen  auf  Krieg,  als  oberste 
Herrin  eingesetzt  werden,  ist  Braut  des  Kaisers  Augustus,  als  fran- 
zösischer Fahnenträger  aufgestellt,  weiss,  was  die  Fahnen  bedeuten. 


4^0 


VIII.  Die  psychischen  Entartungsprocesse. 


die  von  der  Gedächtnisskrönimg  auf  ihn  Bezug  haben;  es  ist  ein- 
Wunder,  wie  es  nicht  mehr  in  dem  Jahrhundert  vorkommt. 

Entsprechend  diesem  ungeheuerlichen,  vielfach  an  die  Dementia 
paralytica  erinnernden  Grössenwahn  gestalten  sich  auch  die  nebenher 
laufenden  Verfolgungsideen.  Entsetzliche  Kämpfe  hat  der  "Kranke 
schon  mit  feindlichen  Mächten  zu  bestehen  gehabt  von  Anbeginn 
der  Welt;  2000mal  ist  er  vergiftet,  mit  Höllenmaschinen  in  die  Luft 
gesprengt,  auf  den  Geist  getödtet  worden;  unzählige  Geschosse  haben 
seinen  Leib  durchbohrt.  Seine  Glieder  sind  ihm  abgehauen,  der  Kopf 
vom  Eumpfe  getrennt  worden;  der  ganze  Leib  wurde  eingeschmolzen, 
die  Genitalien  verstümmelt,  aber  wie  der  Phönix  aus  der  Asche 
hat  sich  der  Kranke  aus  allen  diesen  Unfällen  triumphirend  wieder 
erhoben,  seinen  Körper  selbst  neu  aus  imzerstörbarem  Stoffe  wieder- 
hergestellt und  seine  Widersacher  zerschmettert. 

,  Eegelmässig  sind  zahlreiche  Sinnestäuschungen  vorhanden. 
Die  Kranken  sehen  Geister,  Gespenster,  Männerköpfe  mit  Blut;  Engel 
steigen  vom  Himmel  herab;  der  liebe  Gott,  Kaiser  Wilhelm  in  Gala- 
uniform erscheint  ihnen,  von  Fahnen  und  Sternen  umgeben.  Sie 
sprechen  alle  Tage  mit  dem  lieben  Gott,  werden  nach  Befehl  vom 
Telegraphen  zum  Jesus  Christus  von  Oesterreich  ernannt;  die 
Herzensstimme  spricht  von  Macht  und  Reichthum,  die  Ohrenstimme 
sagt  Gönnersprüche.  In  der  Nacht,  im  Traume  unternehmen  die 
Kranken  wunderbare  Reisen  über  die  ganze  Erde,  auf  herrüchen 
Schiffen,  in  die  schönsten  Marmorsäle,  ja  durch  das  Weltall,  zum 
Erdtheil  hinter  dem  Monde,  haben  nächtlichen  Umgang  mit  Prin- 
zessinnen. „Ich  bin  weit  draussen,  wenn  ich  gleich  in  der  Irren- 
anstalt bin,"  sagte  mir  ein  Kranker,  „und  habe  nicht  nöthig,  Selbst- 
befriedigung zu  treiben.'^ 

All  dieser  sinnlose  Gallimathias  wird  von  dem  Kranken  in  ge- 
läufiger Rede  vorgebracht,  oft  auch  in  bogenlangen,  mu  in  gi-ossen 
Zügen  verständlichen  Elaboraten  niedergeschrieben.  Meist  ist  es 
schwierig,  dem  einmal  entfesselten  Redestrom  Einhalt  zu  thun. 
Gleichwol  besteht  kein  Rededrang  und  keine  Ideenflucht;  der  Kranke 
schweift  nicht  planlos  ab,  hält  an  seinem  bestimmten  Gedankengange 
fest,  spricht  auch  meist  nicht  ohne  Anlass  und  ohne  Zuhörer.  Bei 
längerer  Bekanntschaft  mit  ihm  bemerkt  man,  dass  gewisse  Wend- 
ungen und  Yorstellungen  häufig  wiederkehren,  namentlich  wenn 
die  anfängliche  Productivität  allmählich  nachlässt. 


Dementia  paranoides. 


461 


Jeder  Hinweis  auf  die  völlige  Ungereimtheit  und  Zusammen- 
hangslosigkeit  der  von  ihm  geäusserten  Ideen  prallt  an  dem' Kranken 
machtlos  ab,  vermag  ihn  höchstens  in  gereizte,  ärgerliche  Stimmung 
zu  versetzen.  Trotzdem  laufen  häufig  Aeusserungen  mit  unter,  diö 
auf  ein  gewisses  Ki-ankheitsgefühl  hinzudeuten  scheinen.  „Es  kann 
schon  sein,  dass  ich  geisteskrank  bin",  sagte  mir  ein  Kranker;  „ich 
weiss  eben  so  gar  nichts  mehr  von  mir".  Ein  Anderer  erzählte,  wie 
er  im  Beginne  der  Krankheit  „einen  Euck  im  Gedächtniss"  verspürt 
habe.  „Die  TJebernahme  ist  durch  die  Kopfkrankheit  und  das  an- 
gespannte Gedächtniss  erfolgt";  „Sie  haben  ja  gar  keine  Ahnung, 
wie  viel  in  meinem  Kopf  vorgeht;  ich  meine  oft,  er  müsste  mir 
zerspringen." 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  in  einzelnen  Fällen  ziemlich 
klar,  meist  aber  etwas  getrübt,  namentlich  nach  längerer  Dauer  der 
Psychose.  Sie  wissen  zwar  häufig,  wo  sie  sich  befinden,  fassen  ein- 
fache Anreden  auf  und  geben  über  ihre  persönlichen  Yerhältnisse 
auf  eindringliche  Fragen  richtige,  wenn  auch  mit  unsinnigen  Zu- 
sätzen verbrämte  Antworten.  Ihre  nächsten  Angehörigen  erkennen 
sie  regelmässig,  bisweilen  auch  einzelne  Personen  ihrer  späteren 
Umgebung.  Fast  überall  jedoch  besteht  die  Neigung,  Fremde  mit 
irgend  welchen  historischen  oder  selbsterfundenen  Namen  zu  be- 
legen oder  sie  mit  früheren  Bekannten  zu  identificiren.  Die  Aerzte- 
sind  verkappte  hohe  Staatsbeamte ,  die  Mitpatienten  der  Kronprinz, 
Makart,  Eichard  "Wagner;  ein  neu  eintretender  Kranker  wird  als 
hoher  Potentat  begrüsst.  Die  Auffassung  der  wirklichen  Personen 
ist  dabei  oft  eine  ganz  unklare  und  verschwommene;  eine  meiner 
Kranken  fragte  noch  nach  jahrelangem  Anstaltsaufenthalte  den  ein- 
tretenden Arzt  regelmässig:  „"War  der  Herr  schon  einmal  da?" 

Bisweilen  erscheint  dem  Kranken  jede  neue  Person  als  alter 
Bekannter,  nicht  weil  er  sie  einfach  verkennt,  sondern  weil  sich  an 
den  neuen  Eindruck  eine  Menge  von  Erinnerungsfälschungen 
anschliessen.  Ihm  fällt  sofort  ein,  dass  er  mit  dem  betreffenden 
Herrn  früher  schon  Jahre  lang  zusammen  gelebt,  mit  ihm  auf  dem 
Monde  gejagt  hat,  von  ihm  geköpft  worden  ist.  Diese  Art  der 
Person enverkennung  ist  offenbar  nur  eine  Theilerscheinung  der  hier 
bestehenden  Neigung  zu  traumhaft  üppiger,  zügellos  freier  phan- 
tastischer Erfindung. 

Die  Intelligenz  der  Kranken  leidet  stets  rasch  und  sehr  be- 


462 


Vm.  Die  psychischen  Entartungsprocesse. 


trächtlich.  Zwar  haften  im  Anfange  manche  der  früher  erworbenen 
Kenntnisse  noch  leidlich  gut,  aber  sehr  bald  geht  die  Fähigkeit  zu 
irgend  geordneten  geistigen  Leistungen  mehr  und  mehr  verloren. 
Die  Kranken  vermögen  längeren  Auseinandersetzungen  nicht  mehr 
zu  folgen,  haben  weder  Interesse  noch  Yerständniss  für  Leetüre, 
mischen  in  ihre  mündlichen  und  schriftlichen  Aeusserungen  sogleich 
ihre  verworrenen,  wahnhaften  Abschweifungen.  Einer  meiner  Kranken 
schrieb  eine  Anzahl  von  Briefen  an  gar  nicht  existirende  Personen 
mit  erfundenen  Adressen  ohne  irgend  eruirbaren  Zweck. 

Die  Stimmung  ist  regelmässig  eine  gehobene.  Die  Kranken 
sind  sehr  selbstbewusst,  hochfahrend,  anspruchsvoll,  betrachten  sich 
als  die  Hauptpersonen,  verlangen  besondere  Berücksichtigung.  Manche 
Kranke  zeigen  dauernd  eine  gewisse  Unruhe  und  grosse  gemüth- 
liche  Eeizbarkeit.  Sie  gehen  hastig  auf  und  ab,  poltern  des  Nachts 
mit  ihi-en  Möbeln,  kleiden  sich  indecent,  zerkratzen  sich,  haben 
Neigung  zum  Schimpfen  und  zu  gewaltthätigen  Handlungen  bei 
geringfügigem  Anlass.  Lebhafte  sexuelle  Erregbarkeit  ist  ebenfalls 
sehr  häufig. 

Li  anderen  Fällen  ist  das  Benehmen  der  Kranken  äusserlich 
geordnet,  so  dass  sie  sogar  zu  allerlei  mechanischen  Beschäftigungen 
heranzuziehen  sind,  doch  pflegen  sie  dabei  sehr  launisch  und 
wetterwendisch  zu  sein.  Ihre  Sprache  wird  nach  und  nach  dunkel 
und  schwer  verständlich,  namentlich  durch  das  Einmischen  selbst- 
erfundener Ausdrücke  und  Wendungen,  die  allmählich  stereotyp 
zu  werden  und  sich  häufig  zu  wiederholen  pflegen.  Bisweilen 
kommt  es  zu  einer  barocken  Häufung  von  Superlativen,  indem  die 
Kranken  mit  Aufgebot  aller  sprachlichen  Hülfsmittel  ihre  aUer- 
herrlichsten  geistigen  Vorzüge  wie  die  allergrässlichsten  Martertode 
zu  schildern  suchen,  die  sie  täglich  und  stündlich  zu  erleiden  haben. 
Auch  die  Schriftzüge  werden  verschnörkelt,  gross,  anspruchsvoll,  so 
dass  schliesslich  unter  Umständen  wenige  Buchstaben  oder  Worte 
die  Bogenseite  füllen.  Auf  diese  Weise  entstehen  dann  jene  ge- 
waltigen Bündel  von  Eingaben,  Aufrufen,  Erlassen,  in  denen  der 
Kranke  unter  zahllosen  Wiederholungen  seine  verworrenen  Grössen- 
und  Verfolgungsideen  niederlegt. 

Auffallendere  körperliche  Störungen  sind  gewöhnlich  bei  den 
Kranken  nicht  zu  bemerken.  Der  Appetit  kann  wol  w-ährend  der 
ersten  Zeit^in  Folge  von  Vergiftungsideen  leiden,  ist  aber  später 


Dementia  paranoides. 


463 


meist  vortrefflich.  Der  Schlaf  wird  zeitweise  durch  nächtliche 
Unruhe  gestört.  Das  Körpergewicht  zeigt  nur  unregelmässige 
Schwankimgen ;  meist  gewinnen  die  Kranken  sehr  bald  ein  blühendes 
Aussehen.  Einige  Male  konnte  ich  eine  sehr  bedeutende  Erhöhung  der 
yasomotorischen  Erregbarkeit  beobachten,  intensives  Erröthen  bei  den 
leisesten  Gemüthsschwankungen,  schon  beim  einfachen  Sprechen. 

Der  gemeinsame  Verlauf  der  im  Yorstehenden  beschriebenen 
Krankheitsformen  ist  der  rasche  Uebergang  in  unheilbaren 
Schwachsinn.  Die  Kranken  der  ersten  Gruppe  werden  dabei  nach 
und  nach  immer  stiller,  stumpfer  und  theilnahmloser,  so  dass  sich 
die  Fortdauer  der  Störung  wie  eines  gewissen  psychischen  Lebens 
überhaupt  schliesslich  bisweilen  nur  noch  in  gelegentlichen,  rasch 
vorübergehenden  Erregungsausbrüchen  kundgiebt.  Solche  Zeiten 
grösserer  Reizbarkeit  kehren  häufig  in  ziemlich  regelmässigen 
Zwischeni'äumen  wieder,  namentlich  in  Verbindung  mit  den  Menstrual- 
perioden.  Die  zuletzt  geschilderten  Kranken  pflegen  geistig  regsamer, 
productiver  zu  bleiben,  aber  sie  sind  darum  nicht  minder  schwach- 
sinnig. Ihre  weitschweifigen  Eeden  werden  allmählich  zu  völlig  zu- 
sammenhangslosem Gefasel;  die  Affectschwankungen  gehen  mehr  und 
mehr  in  einer  gleichmässigen  kindischen  Euphorie  unter;  das  ganze 
Thun  und  Treiben  wird  zerfahren  und  planlos,  Gleichwol  kann 
bisweilen  trotz  tiefgreifender  geistiger  Invalidität  noch  eine  gewisse 
mechanische  Correctheit  in  der  äusseren  Haltung  dauernd  fortbestehen. 

Die  Schnelligkeit,  mit  welcher  die  Verblödung  zu  Stande  kommt, 
ist  nicht  immer  die  gleiche.  In  manchen  Fällen  wird  man  schon 
nach  wenigen  Monaten  von  den  deutlichen  Zeichen  der  geistigen 
Schwäche  überrascht,  während  bei  andern  Kranken  selbst  1 — 2  Jahre 
vergehen  können,  bevor  die  Affectlosigkeit,  mit  welcher  die  un- 
geheuerlichsten Wahnvorstellungen  vorgebracht  und  festgehalten 
werden,  den  endgültigen  Zusammenbruch  der  kritischen  Leistungs- 
fähigkeit klarstellt.  Die  Ursachen  für  diese  Verschiedenheiten  dürften 
zum  Theil  wenigstens  in  der  grösseren  oder  geringeren  Widerstands- 
fähigkeit der  einzelnen  Personen  gegenüber  dem  Krankheitsprocesse 
zu  suchen  sein.  Sicherlich  spielt  hier  die  ursprüngliche  Veranlagung 
eine  gewisse  Rolle,  namentlich  auch  der  Grad  der  erblichen  Entartung. 

Von  Wichtigkeit  ist  femer  das  Lebensalter  der  Ki-anken. 
Etwa  zwei  Drittel  meiner  Patienten  standen  im  3.,  der  Rest  im 
4.  Decennium.  Die  Dementia  paranoides  entwickelt  sich  somit  gern 


464 


Vlll.  Die  psycliischen  Entartungsproeesse. 


■während  oder  bald  nach  der  Jugendblüthe  und  dürfte  in  näheren 
Beziehungen  zu  den  hebephrenischen  Erkrarikungen  stehen,  rait 
denen  sie  die  Entwickelung  abenteuerlicher  "Wahnideen  und  den 
raschen  Verlaui  in  Schwachsinn  gemein  hat.  In  der  That  schien 
mir  bei  den  früh  beginnenden  Fällen  der  Dementia  paranoides 
durchweg  die  Yerblödung  schneller  und  weiter  fortzuschreiten,  als 
bei  den  in  reiferem  Alter  einsetzenden  Erkrankungen,  sei  es,  dass 
der  frühere  Beginn  schon  als  Anzeichen  einer  schwereren  Ent- 
artung zu  betrachten  ist,  sei  es,  dass  beim  voll  entwickelten  Indi- 
viduum eine  gTössere  Widerstandsfähigkeit  besteht.  Jedenfalls  ist 
es  erklärlich,  dass  wenigstens  der  gedächtnissmässige  Niederschlag 
der  bisherigen  Lebensarbeit,  der  Schatz  stereotyp  gewordener  Be- 
griffe, Vorstellungsverbindungen  und  "Willen sreactionen,  um  so  lang- 
samer der  krankhaften  "Vernichtung  anheimfällt,  je  länger  er  Zeit 
gehabt  hat,  sich  zu  fixiren.  Von  Interesse '  ist  es,  dass  hier  bis- 
weilen mehrere  oder  selbst  viele  Jahre  vor  dem  eigentlichen 
Ausbruche  der  Krankheit  einzelne  rasch  verlaufende  manische  Auf- 
regungszustände  mit  Grössenideen  und  oft  auch  Sinnestäuschungen 
beobachtet  werden,  welche  an  die  Krankheitsbilder  des  periodischen 
Irreseins  erinnern.  Ein  unmittelbarer  Zusammenhang  dieser  friiheren 
Psychosen  mit  der  Dementia  paranoides  lässt  sich  meist  nicht  er- 
weisen; vielmehr  scheint  sich  in  ihnen  nur  jene  schwere  psycho- 
pathische Veranlagung  auszudrücken,  welche  weiterhin  das  Auftreten 
des  von  "Wahnbildungen  begleiteten  Verblödungsprocesses  begünstigt. 

Nach  den  vorstehenden  Erörterungen  wäre  die  Dementia  para- 
noides als  ein  der  Hebephrenie  ganz  analoger,  nur  in  späterem 
Lebensalter  oder  auf  etwas  widerstandsfähigerem  Boden  sich  ab- 
spielender Krankheitsprocess  aufzufassen.  Die  üppige  Production  von 
bunten  "Wahnideen,  der  wir  bei  diesem  letzteren  so  häufig  begegnen, 
könnte  dahin  gedeutet  werden,  dass  die  Phantasiethätigkeit  hier 
längere  Zeit  die  Vernichtung  der  kritischen  Hemmungen  des  Ver- 
standes überdauerte,  während  wir  bei  der  Hebephrenie  beide 
Functionen  gleichzeitig  schwinden  sehen.  Vielleicht  ist  es  übrigens 
nützlich,  darauf  hinzuweisen,  dass  ja  auch  bei  der  Dementia  para- 
lytica  neben  den  Formen  mit  luxuriirender  "Wahnbildung  die  wahr- 
scheinlich viel  zahlreicheren  FäUe  einhergehen,  in  denen  die  ein- 
fache fortschreitende  Verblödung  nur  ganz  episodisch  oder  gar  nicht 
von  "Wahnvorstellungen  begleitet  wird. 


Dementia  paranoides. 


465 


Eine  fein  durchgeführte  Unterscheidimg  der  Dementia  para- 
noides von  der  ersten  Hauptform  der  psychischen  Entartungsprocesse 
hat  daher  kaum  mehr,  als  scheraatischen  Werth.  In  die  hier  be- 
sprochene Gruppe  habe  ich  alle  diejenigen  Fälle  einbezogen,  bei 
denen  die  Wahnideen  sehr  stark  hervortraten  oder  durch  längere  Zeit- 
räume gleichmässig  festgehalten  vrurden.  Die  Fortdauer  einzelner  oder 
massenhafter  verworrener  Wahnideen  im  Stadium  vorgeschrittenen 
Blödsinns  lässt  auch  die  Ausgangszustände  dieser  Formen  noch  mit 
ziemlicher  Sicherheit  von  denjenigen  der  Dementia  praecox  ab- 
grenzen, bei  denen  wir  einfache  geistige  Schwäche  höheren  oder 
geringeren  Grades  ohne  jene  üeb  erbleib  sei  früherer  Wahnbildungen 
anzutreffen  pflegen.  Gegenüber  den  langsam  entstehenden,  fast 
stationären  Wahnsystemen  der  Paranoia  ist  auf  die  rasche  Ent- 
wickelung  der  Psychose,  die  Unsinnigkeit  und  Zusammenhangs- 
losigkeit  des  Wahns,  seine  Yeränderlichkeit  und  den  Ausgang  in 
baldige  Verblödung  hinzuweisen.  Freilich  werden  diese  Formen 
heute  noch  der  Paranoia  zugezählt.  Ihre  häufige  Entwickelung  aus 
anfänglichen  Depressions-  oder  Exaltationszuständen  dürfte  wesent- 
lich mit  dazu  beigetragen  haben,  die  alte  Annahme  einer  „secundären" 
Entstehung  der  Paranoia  zu  stützen. 

Mit  dem  paralytischen  Grössenwahn  können  manche  Fälle  der 
Dementia  paranoides  zeitweise  sehr  grosse  Aehnüchkeit  haben,  da 
beiden  Erkrankungen  die  Schwäche  des  Urtheils  bei  lebhafter  Reg- 
samkeit der  Phantasie  eigenthümlich  ist.  Abgesehen  von  dem  durch- 
schnittlich jüngeren  Lebensalter  und  dem  Fehlen  der  sonstigen 
psychischen  (Gedächtniss)  und  nervösen  paralytischen  Störungen, 
wird  der  weitere  Verlauf,  das  gleichmässige  Fortbestehen  der  Wahn- 
bildung durch  längere  Zeit  hindurch  unsere  Kranken  allmählich  er- 
kennen lehren.  Den  progressiven  Formen  des  hallucinatorischen  Wahn- 
sinns steht  die  Dementia  paranoides  sehr  nahe;  ich  halte  es  sogar  für 
möghch,  dass  es  sich  in  beiden  Krankheitsbüdern  um  einen  und 
denselben  Process  handelt,  welcher  nur  dort  mehr  mit' den  Anzeichen 
der  acuten  Psychose,  mit  schwererer  anfänglicher  Depression,  deut- 
licherer Abgrenzung  der  Stadien  und  stärkerem  Hervortreten  der 
Sinnestäuschungen  gegenüber  der  freien  phantastischen  Wahnbildung 
hier  verläuft.  Weitere  Erfahrungen  müssen  darüber  Klarheit  bringen, 
ob  nicht  vielleicht  die  dort  geschilderten  FäUe  in  die  Gruppe  der 
Dementia  paranoides  einfach  mit  einzubeziehen  sind. 

Kraepolin,  Psychiatrie.    4.  Aufl.  30  > 


466 


Vin.  Die  psychischen  Entartungsprocosse. 


Die  Behandlung  der  Dementia  paranoides  ist  eine  wesentlich 
exspoctative.  Die  Ki-anken  bedüi'fen,  weil  sie  häufig  sich  selbst 
oder  noch  mehr  Anderen  gefährlich  sind,  meist  der  Ueberwachung 
in  einer  Irrenanstalt;  gelegentlich  ist  hier  bei  grösserer  Reizbarkeit, 
Unruhe,  Nahrungsverweigerung,  Kothverhaltung  ein  symptomatisches 
Eingreifen  nothwendig.  Späterhin  kann  es  sich  nur  um  möglichste 
Erhaltung  der  noch  yorhandenen  Arbeitsfähigkeit  durch  individua- 
lisirende  Auswahl  passender  Beschäftigung  handeln. 


IX.  Die  allgemeinen  leuiosen. 


Die  gemeinsame  Eigenthümliclikeit  aller  derjenigen  Psychosen, 
welche  sich  auf  der  Grundlage  einer  allgemeinen  Neurose  entwickeln, 
ist  ihre  Verbindung  mit  functionellen  nervösen  Störungen. 
In  der  Regel  ist  die  in  der  Neurose  sich  kundgebende  Disposition 
des  Nervensystems  eine  angeborene  oder  doch  verhältnissmässig 
früh  erworbene;  seltener  wird  sie  durch  von  aussen  an  das  Indi- 
viduum herantretende  Ursachen  erst  erzeugt.  Die  Art  und  Aus- 
dehnung der  psychischen  Störungen  steht  in  naher  Abhängigkeit 
von  dem  Charakter  der  zu  Grunde  liegenden  Neurose,  so  dass  wir 
ein  neurasthenisches,  ein  hysterisches  und  ein  epileptisches 
(vielleicht  auch  ein  choreatisches)  Irresein  klinisch  von  einander 
abtrennen  können. 


A.  Das  neurastheiiisclie  Irresein. 

Den  Grundzug  der  Neurasthenie  bildet  die  reizbare  Schwäche 
des  gesammten  Nervensystems,  Erhöhung  der  Erregbarkeit 
und  zugleich  leichtere  Ermüdbarkeit  desselben.  Als  das  normale 
Paradigma  der  Neurasthenie  können  wir  das  erste  Stadium  der 
nervösen  Ermüdung  betrachten,  welches  ja  ebenfalls  mit  einer  er- 
höhten Reizbarkeit  einherzugehen  pflegt.  Bei  längerer  Dauer  dieses 
Zustandes  nimmt  zunächst  die  Eähigkeit  zu  gleichmässiger  Anspannung 
der  Aufmerksamkeit  ab;  der  Kranke  vermag  nicht  einen  und  den- 
selben Gegenstand  längere  Zeit  hindurch  zu  verfolgen,  sondern 
er  wird  leicht  durch  irgend  welche  zufälligen  Eindrücke  von  seiner 
Beschäftigung  abgezogen.  Indem  sich  gleichzeitig  eine  allmählicli 
immer  stärker  anwachsende  Unlust  zu  geistiger  Thätigkeit  überhaupt 
einstellt,  verliert  er  das  Interesse  an  der  gewohnten  Beschäftigung; 

30* 


468 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


er  wird  zerstreut,  vergesslich,  namentlich  in  Bezug  auf  Namen  und 
Zahlen,  und  vermag  nur  noch  mit  ganz  unverhältnissmässiger  An- 
strengung die  Aufgaben  zu  lösen,  welche  ihm  bis  dahin  nicht  die 
geringste  Schwierigkeit  verursachten. 

Unter  dem  Diucke  dieser  Veränderungen,  des  immer  deutlicher 
hervortretenden  Gefühls  der  mangelnden  Leistungsfähigkeit,  pflegt 
sehr  bald  die  Stimmung  in  erheblichem  Masse  zu  leiden.  Der 
Kranke  wird  aufgeregt,  missmuthig,  verdriesslich,  reizbar,  heftig  und 
ungerecht;  er  fühlt  sich  unbehaglich  und  unbefriedigt  von  seinem 
Berufe  und  seinen  Lebensverhältnissen.  Lächerlich  kleine  Anlässe, 
eine  Unart  seiner  Kinder,  kleüie  geschäftliche  Unannehmlichkeiten, 
die  ihn  in  gesunden  Tagen  unberührt  gelassen  hätten,  vermögen  ihm 
für  Stunden  und  Tage  die  Laune  zu  verderben  und  ihn  zu  Reactionen 
hinzureissen,  die  er  später  selber  bedauert.  Li  anderen  Fällen  da- 
gegen bemächtigt  sich  des  Kranken  das  Gefühl  einer  unüberwind- 
lichen Schlaffheit  und  Apathie;  er  verliert  die  Freude  an  seinen 
liebsten  Vergnügungen  und  vermag  sich  zu  keinem  Entschlüsse 
mehr  aufzuraffen,  da  ihm  Alles  gleichgültig  geworden  ist.  Diese 
natürlich  keineswegs  principieUen  Verschiedenheiten  in  dem  Ver- 
halten des  Interesses  und  der  gemüthlichen  Eeaction  sind  es,  welche 
zur  Abgrenzung  einer  erethischen  und  einer  torpiden  Form  der 
Neurasthenie  geführt  haben,  je  nachdem  die  Erscheinungen  der  er- 
höhten Reizbarkeit  oder  diejenigen  der  Erschöpfung  mehi-  in  den 
Vordergrund  treten.  Die  erstere  scheint  mehr  durch  gemüthliche 
Aufregungen,  die  letztere  mehr  durch  iuteUectuelle  Ueberanstrengung 
verursacht  zu  werden. 

Gleichzeitig  mit  diesen  psychischen  Veränderungen  macht  sich 
stets  auch  eine  Reihe  von  körperlichen  Symptomen  bemerkbar. 
Zunächst  und  am  intensivsten  wird  vor  Allem  der  Kopf  in  llit- 
leidenschaft  gezogen.  Am  häufigsten  ist  es  das  Gefühl  eines  dumpfen, 
allgemeinen  Druckes,  welches  dem  Kranken  die  Arbeitsfreudigkeit 
raubt  und  in  der  Regel  bei  irgend  einer  Anstrengung  sich  rasch 
bis  zum  Unerträglichen  steigert.  Die  Localisation  dieser  Empfindung 
ist  eine  verschiedene.  Am  meisten  scheint  dabei  die  Stirngegond 
betheüigt  zu  sein,  ferner  die  Scheitelhöhe,  seltener  der  Hinterkopf; 
bisweilen  haben  die  Kranken  das  Gefühl  eines  festen  Reifens,  der 
sich  rings  um  den  Kopf  spannt,  oder  des  Zusammenpressons  von 
beiden  Seiten  her.   In  anderen  Fällen  sind  es  wirkliche  Sclimerzen, 


NeurastheniscLes  Irresein. 


469 


über  welche  die  Kranken  zu  klagen  haben,  bisweilen  halbseitiger 
(Migräne),  häufiger  doppelseitiger  Natur.  Namentlich  die  Augen- 
gegend und  das  Hinterhaupt  sind  der  Lieblingssitz  solcher  schmerz- 
haften Empfindungen;  häufig  erweisen  sich  dann  die  Austrittsstellen 
der  Trigeminusäste  und  des  Occipitalis  major  als  auf  Druck  em- 
pfindlich. Nicht  selten  wird  von  den  Kranken  auch  das  Auftreten 
leichter,  rasch  vorübergehender  Schwindelanfälle  berichtet.  In  den 
Augen  stellen  sich  bei  geringen  Anstrengungen  lebhafte  Schmerzen, 
Verschwimmen  der  Eindrücke  und  mouches  volantes  ein  (neur- 
asthenische  Asthenopie). 

Aber  auch  im  Bereiche  des  übrigen  Körpers  machen  sich 
eine  Reihe  von  nervösen  Störungen  bemerkbar.  Sehr  häufig  ist  das 
Gefühl  allgemeiner  körperlicher  Schwäche  und  Hinfälligkeit  vor- 
handen. Der  Kranke  fühlt  sich  ermüdet  und  angestrengt,  wenn  er 
einen  kurzen  Spaziergang  gemacht,  ein  Schwimmbad  genommen  hat 
oder  einige  Treppen  gestiegen  ist.  Eine  wirkliche  Abnahme  der 
Muskelkraft  lässt  sich  jedoch  dabei  gewöhnlich  nicht  nachweisen; 
vielmehr  scheint  es  der  Mangel  an  Energie  zu  sein,  welcher  den 
Kranken  schon  bei  geringen  Leistungen  zu  sehr  bedeutenden  An- 
strengungen zwingt  und  ihn  daher  verhältnissmässig  leicht  ermüden 
lässt.  Bisweilen  werden  leichte  Zuckungen  in  einzelnen  Muskeln, 
besonders  des  Gesichts,  von  dem  Kranken  wahrgenommen,  die 
ihn  sehr  beunruhigen;  auch  über  erschwertes  Sprechen,  leichtes 
Stottern  wird  geklagt,  namentlich  in  grösserer  Gesellschaft  oder  bei 
besonderer  Gelegenheit.  Bei  der  Untersuchung  pflegt  der  motorische 
Apparat  keinerlei  wesentliche  Störungen  aufzuweisen;  nur  starke 
fibiilläre  Zuckungen  in  der  Zunge  sieht  man  sehr  häufig.  Auf 
sensorischem  Gebiete  finden  sich  zahlreiche  Anomalien  in  Form 
von  schmerzhaften  und  unangenehmen  Empfindungen  manuichfachster 
Art  und  Localisation.  Längs  der  "Wirbelsäule  werden  rieselnde, 
schauernde,  ziehende  Paraesthesien  wahrgenommen;  in  den  Beinen, 
den  Hoden,  den  Armen  stellen  sich  ausstrahlende  oder  zuckende 
Schmerzen,  das  Gefühl  von  Brennen,  Jucken,  Ameisenkriechen, 
Pelzigwerden,  Yertauben  ein.  Objectiv  sind  Sensibilitätsstörungen 
meist  nicht  nachzuweisen;  die  Reflexe  erscheinen  oft  etwas  erhöht. 

Seitens  der  Circulationsorgane  sind  es  namentlich  das  Herz- 
klopfen, bisweilen  auch  noch  andersartige,  nagende  oder  brennende 
Empfindungen  am  Herzen,  welche  den  Kranken  ängstigen.  Nicht 


470 


]X.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


selten  macht  sich  ihm  auch  das  Gefühl  des  Klopfens  und  Pulsirens 
im  Kopfe  und  anderen  Theilen  des  Körpers,  fliegende  Hitze,  leichtes 
Erröthen,  abnorme  Trockenheit  der  Haut  oder  übermässige  Schweiss- 
secretion  unangenehm  bemerkbar.  Auf  dem  Gebiete  der  Geschlechts- 
functionen  Avird  erhöhte  Erregbarkeit,  Neigung  zu  häufigen.  Pollutionen 
oder  psychisch  bedingte  Impotenz  beobachtet.  Der  Appetit  ist  meist 
gering,  der  Leib  aufgetrieben,  die  Zunge  belegt,  der  Stuhlgang  träge 
und  nur  durch  medicamentöse  oder  mechanische  Nachhülfe  zu  er- 
reichen. Bei  leerem  Magen  stellen  sich  peinliche,  nagende  Em- 
pfindungen ein,  die  durch  Essen  sich  rasch  beseitigen  lassen  (Heiss- 
hunger).  Der  Schlaf  ist  fast  immer  schlecht;  die  Kranken  liegen 
sehr  lange  wach  bevor  sie  einschlafen,  oder  wachen  unter  plötzlichem 
Zusammenschrecken  bald  wieder  auf.  Sie  träumen  viel  und  lebhaft 
und  sind  am  Morgen  nicht  erquickt,  sondern  unsäglich  müde  und 
abgespannt.  Erst  im  Laufe  des  Tages  pflegt  sich  dann  wenigstens 
ein  Theil  ihrer  frülieren  Regsamkeit  wiederherzustellen.  Li  anderen 
Fällen  besteht  dauernd  eine  unüberwindliche  Schläfiigkeit,  die  den 
Kranken  bei  der  geringsten  Anstrengung,  selbst  in  grosser  Gesell- 
schaft, im  Theater  zum  Einschlafen  bringt. 

Regelmässig  stellt  sich  im  Anschlüsse  an  den  geschilderten, 
mehr  oder  weniger  entAvickelten  Symptomencomplex  ein  ausgeprägtes 
Krankheitsgefühl  ein.  Der  Kranke  empfindet  die  Yeränderung, 
welche  sich  mit  ihm  vollzogen  hat,  und  Avenn  er  auch,  namentlich 
in  Augenblicken  missmutlüger  Erregung,  alle  möglichen  äusseren  Um- 
stände dafür  verantwortlich  macht,  so  ist  er  doch  darüber  vollständig 
klar,  dass  sein  Zustand  als  ein  pathologischer  betrachtet  werden 
müsse.  Es  bemächtigt  sich  seiner  die  bange  Befürchtung,  dass  er  im 
Beginne  eines  schweren,  verhängnissvollen  Leidens  stehe,  und  dem 
befangenen  Blicke  bieten  sich  auch  Anhaltspunkte  genug  zur  Be- 
gründung dieser  Anschauung  dar.  Auf  diese  Weise  entwickelt  sich 
jene  Störung,  Avelche  man  früher  als  leichteste  Form  psychischer 
Erkrankung  mit  dem  Namen  der  Hypochondrie  bezeichnete, 
während  man  sie  jetzt  als  eine  Theilerscheinung  des  neurasthenischen 
Irreseins  kennen  gelernt  hat.  Je  nach  dem  Bildungsgange  und  den  An- 
schauungen des  Kranken  gestaltet  sich  natürlich  diese  hypochondrische 
Verstimmung  verschieden.  Meist  ist  es  diejenige  Krankheit,  welche 
dem  Patienten  am  geläufigsten  ist  und  am  schrecklichsten  vorschwebt, 
deren  Symptome  er  an  sich  zu  entdecken  glaubt.    Ein  chronischer 


Neura8tlionis(;lies  Irresoin. 


471 


Raebonkatarrh  mit  starkem  Auswurf  erscheint  ihm  als  die  beginnende 
Schwindsucht;  einzebie  Akneknötchen  signalisiren  ihm  den  Ausbruch 
der  Syphilis,  der  Bodensatz  im  Nachtgescliirr  eine  schwere  Nieren- 
erkrankung, das  Herzklopfen  beim  Treppensteigen  und  das  Pulsiren 
ein  Vitium  cordis.  Die  Yergesslichkeit  bedeutet  dem  Mediciner  das 
Herannahen  der  Paralyse,  der  Kopf  druck  den  Hirntumor,  die  Par- 
aesthesien  in  den  Beinen  die  Tabes. 

In  der  Regel  werden  diese  Ideen,  anfangs  Avenigstens,  von  dem 
Kranken  als  unsinnig  ziu'ückgeAviesen,  aber  gerade  hier,  wo  es  sich 
direct  um  das  eigene  Wohl  und  Wehe  handelt,  geht  am  leichtesten 
der  kritische  Widerstand  gegenüber  der  Krankheit  verloren.  Die 
hypochondrischen  "Vorstellungen  können  daher  nicht  selten  die  Macht 
förmlicher  Wahnideen  gewinnen  und  den  Kranken  in  eine  hoffnungs- 
lose, verzweiflungsvolle  Stimmung  versetzen,  in  der  er  sein  Testament 
macht  und  sein  Lebensglück  für  unwiederbringlich  verloren  hält. 

Die  leichtesten  Formen  der  Neurasthenie  sind  überaus  häufige 
Erkrankungen.  Trotzdem  wurde  eine  erschöpfende  Kenntniss  des 
ganzen  Krankheitsbildes  erst  durch  Board*)  im  Jahre  1880  ver- 
mittelt, welcher  in  dem  rastlosen  Treiben  des  amerikanischen  Lebens 
ganz  besonders  häufig  Gelegenheit  hatte,  die  Krankheit  zu  studiren. 
Ohne  Zweifel  liegen  wesentliche  Entstehungsbedingungen  der  Neur- 
asthenie, welche  durch  ihren  Namen  sehr  zutreffend  als  Erschöpfung 
des  Nervensystems  gekennzeichnet  wird,  in  einer  Ueberanstrengung 
des  Gehii-ns.  Namentlich  scheint  es  die  mit  lebhafter  gemüthücher 
Erregung,  mit  grosser  Verantwortung  verbundene  Thätigkeit  zu 
sein,  welche  das  Zustandekommen  der  Nem-asthenie  in  besonderem 
Masse  begünstigt.  Der  stille  Gelehrte  ist  ihr  in  Aveit  geringerem 
Grade  ausgesetzt,  als  der  Kaufmann,  der  Offizier  im  Kriege,  der  Poli- 
tiker, der  beschäftigte  Arzt.  Es  Hegt  daher  in  der  Natur  der  Sache, 
dass  vorzugsweise  die  intelligenteren,  lebhafteren  und  gebildeteren 
Individuen  den  Gefahren  der  Neurasthenie  zugänglich  erscheinen. 
Frauen  mit  ihrer  gi'össeren  geniüthlichen  Erregbarkeit  und  ge- 
ringeren Widerstandsfähigkeit  sind  etwas  stärker  disponirt,  als  das 

*)  Die  Nervenschwäche,  ihre  Symptome,  Natur,  Eolgezustände  iind  Behand- 
lung, deutsch  von  Neisser,  2.  Aufl.  1883;  v.  Ziomssen,  Klinische  Vorträge  IV,  2. 
1888;  Bouvcret,  Die  Neurasthenie,  deutsch  von  Dornbliith  1893;  E.  C.  Müller, 
Handbuch  der  Neurasthenie.  1893;  Löwenfeld.  Pathologie  und  Therapie  der 
Neurasthenie  und  Hysterie.  1893. 


472 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


münulicho  Geschlecht.  Weiterliin  ist  natiu-lich  auch  die  allgemeine 
Lebensweise  und  die  Ernährung  von  grosser  Bedeutung.  Ein 
überhastetes,  unregelmässiges  und  excedirendes  Leben  ohne  die  aus- 
reichende Erholung  dui-ch  Ruhe  und  Schlaf  führt  aucli  bei  weit 
geringeren  Leistungen  viel  rascher  zur  Neurasthenie,  als  der  ge- 
regeltere Tageslauf  etwa  des  Beamten  und  Lehrers. 

Es  liegt  indessen  auf  der  Hand,  dass  in  der  Aetiologie  der 
Neui-asthenie  überall  neben  den  von  aussen  einwirkenden  Ursachen 
vor  Allem  die  ursprüngliche  körperliche  und  geistige  Veranlagung 
des  Menschen  eine  ausserordentlich  wichtige  Rolle  spielt  "Wahr- 
scheinlich ist  es  bei  genügend  langer  und  starker  Einwkung  ge- 
wisser Schädlichkeiten,  namentlich  der  Schlaflosigkeit  und  dauernder 
gemüthli eher  Erregung,  möglich,  schliesslich  jeden,  auch  den  wider- 
standsfähigsten Organismus  neurasthenisch  zu  machen.  Allein  von  jenen 
leistungsfähigen,  robusten  Naturen,  deren  Nervensystem  mit  staunens- 
werther  Geschwindigkeit  und  Elasticität  alle  Schädigungen  sofort 
wieder  ausgleicht,  welche  ihm  durch  die  unermüdliche  Lebensarbeit 
zugefügt  werden,  führt  eine  continuirliche  Reihe  von  Uebergängeu 
lünüber  zu  solchen  Lidividuen,  welche  sich  den  Anforderungen  des 
Lebens  schon  nach  sehr  kurzer  Zeit  nicht  mehr  gewachsen  fühlen, 
deren  Arbeitskraft  schon  bei  mässigen  Leistungen  sich  rasch  und 
vollständig  erschöpft,  und  denen  daher  jede  ernstere  Ansti-engung 
von  vornherein  durch  neurasthenische  Nachwehen  verbittert  wird. 
Der  gleiche  klinische  Zustand  kann  somit  im  einen  Falle  durch  eine 
schwere  äussere  Schädigung- bedingt '  werden,  während  wir  ihn  in 
einem  andern  Falle  vielleicht  als  den  einfachen  Ausdruck  einer  un- 
zulänglichen Yeranlagung  betrachten  müssen.  So  verschieden  die 
Grade  der  ursprünglichen  psychischen  Leistungs-  und  Widerstands- 
fähigkeit sind,  so  verschieden  wird  sich  naturgemäss  auch  hier  das  Yer- 
hältniss  zwischen  den  äusseren  und  inneren  Ursachen  gestalten  müssen. 

Die  Entwickelung  der  Neurasthenie  ist  in  der  Regel  eine 
allmähliche,  doch  kommt  es  auch  vor,  dass  im  Anschlüsse  an  rasch 
eintretende  und  intensiv  wirkende  Schädlichkeiten  (Schreck;  In- 
fluenza) der  ganze  Symptomencomplex  ziemlich  plötzHch  zu  seiner 
Höhe  ansteigt.  "Wie  es  scheint,  können  diese  acut  auftretenden 
Formen  als  Uebergang  zu  den  eigentlichen  Erschöpfungspsychosen 
angesehen  werden.  Der  Verlauf  der  Krankheit  vollzieht  sich  fast 
immer  in  vielfachen  Schwankungen,  Besserungen  und  Verschlimmer- 


Nonrasthonisohes  Irresein. 


473 


ungen.  Abgesehen  von  den  liäufigen  AbendremissioTien,  können 
sich  die  Kranken  bei  besonderem  äusseren  Anlasse  gewöhnlich  so- 
weit „zusammennehmen",  dass  die  Erscheinungen  vorübergehend  in 
den  Hintergrund  treten,  um  allerdings  mit  dem  Nachlasse  der  An- 
spannung gewöhnlich  in  um  so  grösserer  Intensität  zurückzukehren. 
Auf  der  Höhe  der  Krankheit  werden  gelegentlich  Anfälle  heftigster 
Beunruhigung  und  Angst  mit  der  Idee,  sofort  ,,verrückt"  werden 
oder  sterben  zu  müssen  („Krisen"),  beobachtet,  ja  dieselben  können 
bisweilen  zu  impulsiven  Handlungen  führen,  namentlich  gegen  die 
eigene  Person.  Ganz  besonders  charakteristisch  für  die  Neurasthenie 
ist  auch  ein  "Wechsel  der  Symptome.  Bei  längerer  Dauer  der 
Krankheit  können  die  spinalen  Symptome  der  „Myelasthenie"  in 
raannichfachster  "Weise  durch  diejenigen  der  „Phrenasthenie"  abgelöst 
werden  und  umgekehrt. 

Die  Prognose  der  Neurasthenie  ist  sehr  wesentlich  davon  ab- 
hängig, ob  sich  die  Krankheit  im  Anschlüsse  an  äussere  Schädlich- 
keiten oder  auf  der  Basis  einer  psychopathischen  Prädisposition  ent- 
wickelt hat  Im  ersteren  Falle  kann  man  nach  Beseitigung  der 
Ursachen  die  krankhaften  Symptome  rasch  und  vollkommen  sich 
verlieren  sehen.  Wo  aber  diese  letzteren  einfach  auf  dem  Boden 
einer  unzulänglichen  nervösen  Constitution  erwachsen  sind,  da  wird 
sich  naturgemäss  die  Beseitigung  der  Krankheit  sehr  viel  schwerer 
und  langsamer  erreichen  lassen,  und  überdies  wird  die  Gefahr  eines 
EückfaUes  immer  von  Neuem  zu  befürchten  sein. 

Die  Abgrenzung  der  Neurasthenie  von  manchen  anderen 
Krankheitsfoi-men  ist  in  prognostischer  und  therapeutischer  Beziehung 
von  hervorragender  Wichtigkeit.  Zunächst  kommt  man  häufig  in 
die  Lage,  sich  darüber  Gewissheit  verschaffen  zu  müssen,  dass  die 
hypochondrischen  Befürchtungen  des  Kranken  nicht  objectiv  be- 
gründet sind.  Das  Ausschliessen  der  Tabes  ist  bei  Beachtung  der 
Reflexe,  der  Pupillen  und  des  Romberg 'sehen  Zeichens  in  der 
Regel  sehr  leicht;  dagegen  kann  es  ernste  Schwierigkeiten  bereiten, 
hinsichtlich  der  Gefahr  einer  beginnenden  Paralyse  ein  endgültiges 
ürtheü  zu  gewinnen.  Nur  die  grössere  Besonnenheit  der  Kranken,  der 
Mangel  einer  greifbaren  Gedächtnissstörung  trotz  ihrer  Klagen  darüber, 
das  Pehlen  aller  objectiven  nervösen  Symptome  (Pupillendifferenz,  Anal- 
gesie, Anfälle)  kann  hier  bisweilen  den  Arzt  über  die  neurasthenische 
Nahir  des  vielleicht  sehr  verdächtigen  Krankheitsbildes  aufklären. 


474 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Sehr  häufig  wird  auch  das  depressive  Vorstadium  anderer 
Psychosen  mit  neurasthenischen  Zuständen  verwechselt.  Indessen 
der  Neurastheniker  ist  verstimmt  und  reizbar,  weil  er  merkt,  dass 
seine  geistige  Leistungsfähigkeit  gestört  ist;  seine  Stimmung  wird 
freier  und  leichter,  sobald  eine  äussere  Anregung,  eine  fröhliche 
Gesellschaft  ihn  vorübergehend  seine  Beschwerden  vergessen  macht, 
oder  sobald  er,  von  allen  Sorgen  und  Pflichten  seines  Berufes  ent- 
lastet, rückhaltlos  Ruhe  und  Erholung  gemessen  kann.  Dort  aber 
entsteht  das  Gefühl  der  Beängstigung,  der  Schwere  ohne  irgend 
welche  klare  Motivirung,  und  es  wird  durch  Zerstreuungs-  und  Ab- 
lenkungsversuche nicht  nur  nicht  gemildert,  sondern  im  Gegentheil 
oft  genug  bis  zum  Unerträglichen  gesteigert. 

Die  Behandlung  der  Neurasthenie  bietet  der  Thätigkeit  des 
Arztes  ein  sehr  ausgedehntes  und  ergiebiges  Arbeitsfeld.  Zunächst 
vermag  gerade  hier  die  Prophylaxe  ausserordentlich  viel  zu  leisten. 
Alle  jene  Bestrebungen,  welche  darauf  hinausgehen,  die  geistige 
üeberbürdung  der  heranwachsenden  Jugend  mit  todtem  Gedächtniss- 
material zu  bekämpfen  und  der  Sorge  für  die  gelehrte  Erziehung 
diejenige  für  die  körperliche  Ausbildung  zur  Seite  zu  setzen,  dienen 
diesem  Zwecke  in  hervorragendem  Masse.  Weiterhin  aber  wird  der 
Hausarzt  Gelegenheit  genug  haben,  durch  eine  gesundheitsgemässe 
Regelung  der  Lebensweise  den  Gefahren  der  Neurasthenie  vor- 
zubeugen imd  namentlich  bei  den  ersten  Anzeichen  eintretender  Er- 
schöpfung sofort  einzugreifen,  weil  dann  in  der  Regel  leicht  ein 
Erfolg  zu  erreichen  ist,  der  später  nur  mit  bedeutenden  Opfern 
an  Zeit  und  Geld  erkauft  werden  kann.  Die  erste  Aufgabe,  welche 
hier  erfüllt  werden  müsste  und  doch  nur  allzuselten  in  ausreichen- 
dem Masse  erfüllt  werden  kann,  ist  die  Beseitigimg  aller  jener 
schädigenden  Einflüsse,  welche  die  Krankheit  erzeugten.  Entfernung 
aus  der  Berufsarbeit,  womöglich  auch  aus  den  gewohnten  Ver- 
hältnissen, Versetzung  in  eine  andere,  ruhige  und  anziehende  Um- 
gebung wird  die  wichtigste  Vorbedingung  einer  jeden  Behandlung 
bilden  müssen.  Für  leichtere  Formen  genügt  oft  schon  eine  ein- 
fache Sommerfrische,  ein  Landaufenthalt  oder  eine  behagliche, 
keinesfalls  ermüdende  Reise  ins  Gebirge  oder  an  die  See,  um 
ein  Ausruhen  des  überreizten  Nervensystems  und  damit  das  rasche 
Schwinden  aller  der  vielfachen  körperlichen  und  psychischen  Be- 
schwerden herbeizuführen. 


Neurasthenisches  Irresein. 


475 


Bei  längerer  Dauer  und  gi-össerer  Intensität  der  Störungen  pflegt 
die  Durchführung  einer  vorzugsweise  diätetischen  Cur  unter  ärzt- 
licher Aufsicht  vorzügliche  Dienste  zu  leisten.  Allen  den  zahlreichen 
NeiTcn-  imd  Wasserheilanstalten  sti-ömen  immerwährend  zahlreiche 
derartige  Patienten  zu.  Ausser  der  Befi'eiung  von  den  Geschäften 
luid  Plackereien  des  täglichen  Berufes  kommt  hier  vor  Allem  die 
gesundheitsgemässe  Lebensweise  als  therapeutisches  Hülfsmittel  in 
Anwendung.  Die  Kranken  werden  kräftig  und  reichlich  ernährt; 
ihre  Appetits-  und  Yerdauungsstörimgen  werden  mit  den  gebräuch- 
lichen Mitteln,  namentlich  aber  durch  systematische,  nicht  bis  zur 
Ermüdimg  ausgedehnte  Spaziergänge  bekämpft.  Ferner  sucht  man 
durch  hydropathische  Proceduren,  durch  Gymnastik,  Massage  imd 
allgemeine  Faradisation  die  Circulation  und  den  Stoffumsatz  soviel 
wie  möglich  zu  fördern.  Unter  dem  Einflüsse  aller  dieser  Mass- 
regeln pflegt  sich  die  öfters  stark  gesunkene  Ernährung  stetig  und 
beträchtlich  zu  heben.  Gleichzeitig  bessert  sich  der  Schlaf,  die 
Stimmung  und  die  Beschäftigungsfähigkeit.  Als  medicamentöses 
Mittel  ziu-  Bekämpfimg  der  nervösen  Unruhe  und  zur  Erzielung 
von  Schlaf  ist  vor  allen  Dingen  und  mit  gutem  Rechte  das  Brom- 
kalium (3  mal  täglich  1 — 2  gr,  oder  eiae  abendliche  Dosis  von 
4 — 5  gr)  in  Gebrauch;  nur  im  Nothfalle  wird  man  vorübergehend 
seine  Zuflucht  zu  den  eigentlichen  Schlafmitteln  nehmen.  Man  hüte 
sich  vor  dem  Morphium! 

Eine  recht  wesentliche  Bedeutung  hat  bei  neurasthenischen  Zu- 
ständen fast  immer  die  psychische  Therapie.  Yielfach  kann  eine 
vorsichtige  Suggestivbehandlung  den  Eintritt  gemüthlicher  Be- 
ruhigung, die  Wiederkehr  des  Schlafes  und  die  Beseitigung  mancher 
quälender  Beschwerden  überraschend  schnell  herbeiführen.  Ausser- 
dem aber  trägt  eine  aufmerksame,  geduldige,  aber  feste  Pädagogik 
sicher  sehr  viel  dazu  bei,  dass  der  Kranke  nach  und  nach  sein  stark 
erschüttertes  Selbstvertrauen  und  die  Herrschaft  über  seinen  Willen 
wieder  gewinnt.  Nach  dem  Yerschwinden  der  eigentlichen  Krankheits- 
symptome bleibt  häufig  noch  eine  Herabsetzung  der  psychischen 
Widerstandsfähigkeit  bei  dem  Kranken  zurück,  welche  leicht  zu 
Rückfällen  führt,  wenn  nicht  die  Berufsverhältnisse  und  die  Lebens- 
weise dauernd  derart  geregelt  werden ,  dass  sie  sich  der  individuellen 
Constitution  in  geeigneter  Weise  anpassen.  Wer  die  Folgen  der  täg- 
lichen Ai'beit  in  einer  fortschreitenden  Abstumpfung  seiner  Leistungs- 


476 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


fähigkeit  empfindet,  sollte  daher  unbedingt  wenigstens  einmal  im 
Jahre  für  einige  Wochen  aus  dem  Joche  der  gewohnten  Verhältnisse 
sich  herausreissen ;  nur  dann  ist  er  einigermassen  sicher,  im  Kampfe 
mit  dem  Leben  nicht  immer  und  immer  wieder  zu  erliegen. 

Wenn  wir  oben  darauf  hinweisen  mussten,  dass  die  psycho- 
pathische Veranlagung  in  der  Aetiologie  der  einzelnen  neurasthe-- 
nischen  Erkrankung  eine  sehr  verschieden  wichtige  Rolle  spielt, 
und  dass  sich  somit  eine  strenge  Scheidung  zwischen  erworbener 
und  angeborener  Neurasthenie  nicht  durchführen  lässt,  so  lehrt  die 
klinische  Erfahrung  doch,  dass  sich  die  stärkere  Betheiligung 
der  persönlichen  krankhaften  Veranlagung  mehr  oder 
weniger  deutlich  in  dem  klinischen  Krankheitsbilde  aus- 
prägt. Einerseits  ist  es  natürlich  der  chronische,  Constitution  eile, 
prognostisch  ungünstige  Charakter  der  Störung,  der  hier  in  Beti-acht 
kommt,  dann  aber  sind  es  immerhin  auch  einzelne  symptomatische 
Züge,  welche  um  so  stärker  und  andauernder  hervorzutreten  pflegen, 
je  weniger  die  psychische  Veränderung  aus  äusseren  Ursachen  und 
je  mehr  sie  aus  einer  krankhaften  Veranlagung  ihren  Ursprung  ge- 
nommen hat. 

Das  einfachste  der  Krankheitsbilder,  welche  ich  in  diesem  Sinne 
für  die  „angeborene"  Neurasthenie  in  Anspruch  nehmen  möchte,  ist 
eine  constitutionelle  psychische  Depression,  die  von  Krafft- 
Ebing  als  „melancholische  folie  raisonnante"  bezeichnet  worden  ist. 
Die  gewöhnlich  schwer  neuropathisch  belasteten  Kranken  sind  meist 
intellectuell  normal  und  selbst  gut  entwickelt,  aber  sie  haben  von 
Jugend  auf  die  unüberwindliche  Neigung,  allen  Lebensereignissen 
die  düstere  Seite  abzugewinnen.  Sie  sind  nur  empfänglich  für  die 
Sorgen,  Mühsale  und  Enttäuschungen  des  Daseins,  ohne  die  Fähig- 
keit des  unbekümmerten,  befriedigten  Genusses,  der  rückhaltiosen 
Hingabe  an  die  Gegenwart  zu  besitzen;  jeder  Augenblick  der  Fi-eude 
wird  ihnen  durch  die  Erinnerung  an  trübe  Stunden,  durch  Selbst- 
vorwürfe und  noch  mehr  durch  phantasievolle  Befürchtungen  für 
die  Zukunft  vernichtet.  Nur  ganz  vorübergehend  vermag  ein  äusserer 
Anlass  sie  einmal  aus  ihrer  Verstimmung  herauszureissen,  ein  leb- 
haftes Interesse  in  ihnen  anzuregen,  allerdings  nur,  um  sie  in  baldigem 
Rückschlag  ihre  unglückliche  Gemüthsverfassung  um  so  stärker  em- 
pfinden zu  lassen.  Das  Leben,  die  Thätigkeit  ist  eine  Last,  die  sie  mit 
resignirtem  Pflichtgefühl  oder  in  galliger  Verbitterung  gewohnheits- 


Neuraathenisches  Irresein. 


477 


massig  tragen,  ohne  durch  die  Lust  an  der  Existenz,  die  Freude  am 
Schaffen  entschädigt  zu  werden.  Den  Grundzug  des  Zustandes 
bildet  das  Gefühl  der  eigenen  Unzulänglichkeit,  der  krankhaften 
Behinderung  oder  zwangsmässiger  Beeinflussung  im  Ablaufe  der 
psychischen  und  nervösen  Leistungen.  Geistige  Anstrengungen 
führen  rasch  zu  erhöhter  Keizbarkeit  oder  unverhältnissmässiger  Er- 
müdung; die  Kranken  fühlen  sich  abgespannt,  benommen,  erschöpft, 
ruhebedürftig,  oder  erregt,  reizbar,  unfähig,  ihrer  eigenen  Gedanken 
Herr  zu  werden.  Vielfach  wechseln  Ausbrüche  unmotivirter,  mass- 
loser Heftigkeit,  feindseliges  Misstrauen,  Zanksucht,  schroffes  Auf- 
treten gegen  die  liebsten  Freunde  mit  energieloser  Yerzagtheit, 
reuiger  Zerknirschung  und  verzweifelter  Selbstquälerei.  Gleich- 
zeitig bestehen  mannichf altige  „nervöse"  Symptome,  wie  sie  bereits 
oben  geschildert  wurden,  namentlich  Druck  oder  Schmerzen  im 
Kopfe,  abnorme  Empfindungen  in  den  verschiedensten  Partien  des 
Körpers,  Wallungen,  Pulsiren,  Yibriren,  ferner  Schlaflosigkeit,  Appetit- 
mangel, Yerdauungsbeschwerden,  Yerstopfung. 

Das  hier  kurz  skizzirte  Krankheitsbild  stellt  die  allgemeine 
Grundlage  dar,  auf  welcher  sich  die  später  zu  besprechenden  Formen 
des  neurasthenischen  Irreseins,  aber  auch  andersartige  schwere 
Psychosen  entwickeln  können,  und  es  bedeutet  in  diesem  Sinne 
eigentlich  nichts  Anderes,  als  eine  besondere  Art  der  psychopathischen 
Veranlagung.  Auf  der  andern  Seite  bildet  dieser  Zustand  den 
Uebergang  zu  jenen  degenerativen  Formen  des  periodisch-depressiven 
Irreseins,  welche  wir  vielleicht  mit  einer  gCAvissen  Berechtigung  als 
regelmässig  wiederkehrende  Yerschlimmerungen  der  hier  geschilderten 
Störungen  auffassen  können.  Endlich  aber  lernen  wir  bisweilen  in 
der  eigenthümlich  märtyrerhaften  Auffassung  der  eigenen  Lage,  in 
dem  hypochondrischen  Cultus  der  Krankheitserscheinungen  auch 
Andeutungen  kennen,  welche  uns  auf  die  Verwandtschaft  der  an- 
geborenen Neurasthenie  mit  den  hysterischen  Zuständen  hinweisen. 

Die  Entwickelung  der  constitutionellen  Depression  vollzieht  sich 
in  der  Regel  langsam,  kann  aber  durch  ungünstige  Lebensschicksale, 
erhöhte  Anforderungen  an  die  psychische  Leistungs-  und  Widerstands- 
fähigkeit sehr  beschleunigt  werden.  Der  Verlauf  bietet  manchmal 
gewisse  Schwankungen  dar,  ist  meistens  jedoch  nahezu  stationär. 
Die  Behandlung  folgt  den  oben  aufgestellten  allgemeinen  Regeln, 
pflegt  aber,  im  Gegensatze  zu  den  erworbenen  Formen  der  Neur- 


478 


IX.  üie  allgoraeinen  Neurosen. 


asthenie  und  zu  den  "Wundercuren  bei  Hysterischen,  nur  unsichere 
und  vorübergehende  Erfolge  aufzuweisen. 

Als  weitere  Erscheinungsformen  vorzugsweise  der  angeborenen 
Neurasthenie  können  wir  eine  Keihe  von  Zuständen  betrachten,  deren 
gemeinsame  Eigenthümlichkeit  in  dem  zwangsweisen  Auftreten 
unwiderstehlich  sich  aufdrängender  Vorstellungen,  Ge- 
fühle und  Impulse*)  besteht.  Der  Kranke  hat  die  Herrschaft 
über  seinen  BcAvusstseinsinhalt  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ver- 
loren; er  ist  nicht  mehr  im  Stande,  den  Verlauf  seiner  Vorstellungen 
nach  inneren  Motiven  zu  lenken  und  unangenehme  Gefühle  oder 
Antriebe  im  Entstehen  zu  unterdrücken.  Regelmässig  ist  dabei 
volle  Besonnenheit  und  Einsicht  in  die  Störung,  sowie  ein  bisweilen 
äusserst  peinliches  Gefühl  jenes  Zwanges  und  jener  Unfähigkeit 
vorhanden.  Aehuliches  begegnet  uns  ja  nicht  selten  vorübergehend, 
wenn  wir  in  Zuständen  nervöser  TJeberreiztheit,  besonders  beim 
Einschlafen,  trotz  angestrengtester  Bemühungen  die  immer  von 
Neuem  auftauchenden  Gedankenreihen  nicht  niederzukämpfen  ver- 
mögen, sondern  unter  lebhaftestem  Unbehagen  über  ganz  gleich- 
gültige, müssige  Dinge  nachdenken,  uns  irgend  welche  unwirkliche 
Situationen  ausmalen.  Reden  halten,  Briefe  schreiben  müssen. 

Die  einfachsten  Formen  dieser  Störung  sind  jene,  in  denen  be- 
stimmte Vorstellungen  in  unablässiger  Wiederkehr  sich  dem 
Kranken  aufdrängen  und  auf  diese  "Weise  die  freie  Beweglichkeit 
seines  Ideenverlaufes  beeinträchtigen.  Bisweilen  sind  diese  „Zwangs- 
vorstellungen" an  sich  ganz  gleichgültigen  oder  wenigstens  nicht 
direct  anfregenden  Inhaltes;  nur  in  der  häufigen  Wiederholung 
liegt  das  Peinigende  des  Vorganges.  Ich  kannte  einen  Arzt,  dem 
sich  bei  jeder  Gelegenheit  die  Vorstellung  eines  Abtrittes  in  quälendster 
Weise  aufdrängte.  Eine  andere  derartige  Kranke  musste  sich  un- 
ablässig auf  die  Namen  ihr  völlig  fernstehender  Personen  besinnen 
und  beschrieb  die  ganzen  Wände  der  Abtheilung  mit  diesen  Namen, 
um  sie  in  ihrer  Noth  jederzeit  leicht  wiederfinden  zu  können 
(„Onomatomanie").  Noch  Andere  empfinden  den  peinlichen  Zwang, 
die  Genitalgegend  der  Personen  ihrer  Umgebung  betrachten,  sich 
dieselben  nackt,  in  schlüpfrigen  Situationen  vorstellen  zu  müssen. 


*)  Westphal,  Archiv  f.  Psycbiati-ie,  VIII,  p.  737;  Kaan,  derneurasthenische 
AngstalTect  bei  Zwangsvorstellungen  und  der  primordiale  G-rübelzwang.  1893. 


Neurasthenisches  Irresein. 


479 


In  einer  weiteren  Reihe  von  Fällen  ist  nicht  der  specielle 
Inhalt,  sondern  nur  die  allgemeine  Richtung  des  Gedanken- 
ganges durch  den  krankhaften  Zwang  beeinflusst.  Es  tauchen  bei 
beliebigem  Aulasse,  bisweilen  in  förmlichen  „Anfällen",  massenhafte, 
zwecklose,  unlösbare,  ja  gänzlich  alberne  Fragen  im  Bewasstsein 
des  Patienten  auf,  die  derselbe  vergeblich  zu  unterdrücken  sich 
bemüht.  Der  Inhalt  dieser  Fragen  nimmt  nicht  selten  eine  all- 
gemeine, metaphysische  Richtung  und  beschäftigt  sich  namentlich 
gern  mit  der  Entstehung  und  Entwickelung  der  Dinge  („Schöpfungs- 
fragen"), indem  sich  auf  associativem  "Wege  immer  eine  ganze  Kette 
derselben  aneinander  knüpft:  Was  ist  Gott?  Wie  ist  er?  Woher 
ist  er  gekommen?  Giebt  es  überhaupt  einen  Gott?  Wie  ist  die 
Welt,  der  Mensch  entstanden?  u.  s.  f.  Bisweilen  sind  es  auch  irgend 
welche  Gegenstände  der  zufälligen  Umgebung,  auf  die  der  Blick 
gerade  fällt,  welche  den  Anknüpfungspunkt  für  die  Zwangsfragen 
abgeben:  Warum  steht  dieser  Stuhl  so  und  nicht  so?  Warumnennt 
man  ihn  gerade  Stuhl?  Warum  hat  er  vier  Beine,  nicht  mehr,  nicht 
weniger?  Warum  ist  er  braun,  warum  nicht  höher,  nicht  niedriger? 
Man  bezeichnet  diese  Form  der  Störung  gewöhnlich  mit  dem  Namen 
der  Grub el sucht.*)  Nahe  verwandt  damit  ist  die  bekannte  Er- 
fahrung grosser  Rechenkünstler  (Dahse),  die  ebenfalls  zwangsmässig 
alle  ihnen  aufstossenden  Gegenstände,  die  Worte  eines  Trauerspiels, 
die  Buchstaben  eines  gehörten  Gedichtes  zählen,  mit  allen  ihnen 
vorkommenden  Zahlen  umfangreiche  Rechnungen  ausführen  mussten, 
ohne  sich  davon  losmachen  zu  können. 

Weit  quälender  wird  natürlich  die  Störung,  sobald  der  Inhalt 
der  Zwangsvorstellungen  ein  sehr  unangenehmer  ist,  oder  wenn 
dieselben  den  Charakter  von  Befürchtungen  unter  Begleitung 
lebhafter  TJnlustgefühle  annehmen.  So  kommt  es  vor,  dass  derartige 
Kranke  von  der  als  völlig  absurd  erkannten  Idee  verfolgt  werden, 
sie  seien  an  irgend  einem  Unglück,  einem  Todesfalle,  ja  einer  Miss- 
ernte schuld,  sie  hätten  irgend  ein  Verbrechen  begangen,  könnten 
von  ihrer  Umgebung  für  einen  Dieb  gehalten,  von  einem  Betrunkenen 
belästigt  werden  u.  s.  f.  Andere  werden  das  Gefühl  nicht  los,  etwas 
Auffallendes,  Hässliches  an  sich  zu  haben,  ihrer  Umgebung  un- 
angenehm zu  sein.    Oder  sie  fürchten,  sich  lächerlich  zu  machen. 


*)  Griesinger,  Archiv  lih  Psychiatrie  I,  p.  626;  Berger,  ibid.  VI,  p.  217. 


480  IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 

sich  unpassend  zu  benehmen,  auf  dem  Abtritt  beobachtet,  in  pein- 
licher Lage  vom  Harndrang  überfallen  zu  werden,  ja  sie  fürchten 
sich  schliessüch  vor  ihren  eigenen,  sie  in  ihrer  Bewegungsfreiheit 
empfindlich  beeinträchtigenden  Befürchtungen. 

Wo  derartige  zwangsmässige  Befürchtungen  den  gesammten 
Kreislauf  der  Tagesbeschäftigungen  fast  unablässig  begleiten,  ge- 
Avinnen  sie  den  Charakter  der  Zweifelsucht  („folie  du  doute"*)). 
Bei  jeder  beliebigen  harmlosen  Handlung  drängt  sich  dem  Kranken 
der  Gedanke  auf,  dass  er  vielleicht  nicht  recht  daran  gethan 
habe.  Er  hätte  vielleicht  lieber  das  Glas  "Wasser  nicht  trinken 
sollen,  hat  sich  möglicherweise  durch  das  Essen  jener  Speise  ge- 
schadet oder  durch  das  Einnehmen  dieser  Arznei  seine  Genesung 
vereitelt.  Wäre  er  nicht  von  Hause  gereist,  so  wäre  es  besser 
gewesen;  so  ist  vielleicht  dort  ein  Unglück  geschehen,  Jemand 
krank  geworden,  Feuer  ausgebrochen.  Diese  beständigen  Zweifel 
und  Befürchtungen  machen  es  dem  Kranken  bisweilen  vollständig 
unmöglich,  einen  Entschluss  zu  fassen,  sich  zu  entscheiden,  einen 
Plan  durchzuführen.  Namentlich  sobald  es  sich  um  irgend  eine 
verantwortliche  Thätigkeit  handelt,  wird  der  Ansturm  von  Zwangs- 
befürchtungen, wie  übrigens  schon  beim  gesunden  Menschen,  am 
heftigsten.  So  wird  der  meist  schon  von  jeher  etwas  pedantische 
Kranke  von  der  Besorgniss  gequält,  dass  er  eine  Thür  nicht  ge- 
hörig geschlossen,  einen  abgesandten  Brief  nicht  zugeklebt,  dass  er 
ihn  verwechselt,  dass  er  sich  beim  Geldzählen  geirrt,  einen  Auftrag 
falsch  gegeben  oder  ausgerichtet  habe,  dass  irgendwo  ein  Licht  nicht 
ganz  verlöscht  worden  sei  u.  s.  f. 

Aus  diesen  immer  wieder  aufsteigenden  Zwangsbefürchtungen  ent- 
wickelt sich  mit  Nothwendigkeit  eine  Avachsende  Peinlichkeit  in  allen 
jenen  kleinen  Verrichtungen,  die  dem  Kranken  doch  keine  Avirklichc 
Beruhigung  verschafft.  Durch  allerlei  Merkzeichen,  schriftliche  Buchung 
und  ähnliche  Kunstgriffe  sucht  er  sich  dauernd  die  Möglichkeit  einer 
rückschauenden  Controle  aller  irgend  wichtigen  Handlungen  zu  er- 
halten. Beim  Schliessen  jedes  Schlosses  versichert  er  sich  wieder- 
holt, dass  dasselbe  wirklich  zugesperrt  ist,  reisst  das  Couvert  wieder 
auf,  um  zu  sehen,  ob  der  richtige  Brief  hineingelegt,  ob  nicht  Unter- 
schrift oder  Datum  vergessen  wurde,  zählt  jede  Summe  zehn,  zwanzig 


*)  Legrand  du  SfiiUle,  1e^  folie  du  douto.  1875. 


Neurasthenisehes  Ii-resein. 


481 


Mal,  bevor  er  sie  abgiebt,  macht  ncächtliche  Runden  durchs  Haus, 
um  sich  zu  überzeugen,  dass  nirgends  mehr  ein  Funke  glimmt. 

Analoge,  namentlich  beim  Aveiblichen  Geschleehte  häufiger  be- 
obachtete Besorgnisse  sind  diejenigen,  sich  zu  verunreinigen  (Myso- 
phobie),  sich  oder  Andere  zu  vergiften,  Nadeln  zu  verschlucken. 
Neuerdings  pflegen  sich  diese  Befürchtungen  gern  an  die  modernen 
Vorstellungen  von  der  Infection  durch  mikroskopische  Krankheits- 
erreger anzuknüpfen.  Der  Kranke  fürchtet  sich,  Messing  oder  Kupfer 
wegen  der  Gefahr  der  Grünspanvergiftung  zu  berühren,  kann  nichts 
zu  sich  nehmen,  ohne  es  immerfort  auf  Nadeln  und  Glasscherben 
zu  untersuchen,  die  er  etwa  mit  verschlucken,  in  seinen  Kleidern 
verschleppen  könnte.  Er  fühlt  sich  keinen  Augenblick  sicher,  ob  er 
nicht  irgendwo  durch  Anstreifen  einen  gefährlichen  Infectionsstoff 
aufgefangen  habe,  der  sich  nun  auch  noch  weiter  auf  andere  Per- 
sonen übertragen  könne. 

Auch  diese  Ideen  gewinnen  regelmässig  einen  sehr  weitgehenden 
Einfluss  auf  das  Handeln  der  Ej-anken;  sie  führen  zu  dem  von 
Legrand  du  Saulle  beschriebenen  „delire  du  toucher",  der  Be- 
rührung sfur  cht.  Es  entwickelt  si^jh  eine  peinKche,  alle  anderen 
Rücksichten  in  den  Hintergrund  drängende  Reiulichkeitsliebe,  die 
im  Anfange  sich  vielleicht  noch  innerhalb  der  hier  sehr  dehnbaren 
Grenzen  hält,  später  aber  nicht  selten  derartige  Dimensionen  an- 
nimmt, dass  sie  dem  Kjanken  und  noch  mehr  seiner  Umgebung  das 
Leben  aufs  Aeusserste  verbittert.  Mit  der  grössten  Sorgfalt  sucht  der 
Kranke  alle  Berührungen,  namentlich  die  unmittelbaren,  zu  vermeiden, 
öffnet  die  Klinken  mit  dem  Ellenbogen,  trägt  möglichst  viel  Hand- 
schuhe. Hat  aber  doch  eine  Berührung  stattgefunden,  so  werden 
sofort  nach  einem  oft  sehr  dui'chdachten  System  die  umfangreichsten 
"Waschungen  vorgenommen,  die  sich  nicht  nur  auf  die  Hände, 
sondern  auf  den  ganzen  Körper,  sogar  auf  Möbel  und  Kleidungsstücke 
erstrecken  können.  Bisweilen  sind  es  nur  Berührungen  bestimmter 
Art,  welche  diese  Reaction  hervorrufen,  während  andere  den  Ki-anken 
gleichgültig  lassen.  Natürlich  wird  durch  die  ganz  ins  Ungeheuerliche 
gehenden  Waschungen  mehr  und  mehr  die  gesammte  Zeit  des  Kranken 
in  Anspruch  genommen,  so  dass  er  schliesslich  zur  Erfüllung  seiner 
sonstigen  Pflichten  vollständig  unfähig  wird.  Ein  wenigstens  un- 
gefähres Yerständniss  für  die  Unsinnigkeit  dieses  Treibens  ist  trotz 
der  Unmöglichkeit,  davon  abzulassen,  regelmässig  vorhanden. 

Eraepelin,  Psychiatric.   4.  Anfl.  ''^ 


482 


IX.  Die  allgeiueiueii  Neurosen. 


BisAveilen  beobachtet  man  auch  die  Befürchtung,  irgend  etwas 
Werthvolles  zu  vernichten  oder  zu  verschleppen.  Eine  junge 
Dame,  die  ich  kannte,  wm-de  von  der  Angst  verfolgt,  möglicherweise 
wichtige  Briefe,  namentlich  Testamente,  ins  Feuer  zu  werfen  oder 
auszukehren,  ja  sie  glaubte,  das  schon  ungezählte  Male  gethan  zu 
haben.  In  Folge  dessen  hatte  sie  eine  unüberwindliche  Scheu  vor 
allem  Papier,  schliesslich  sogar  vor  gedruckten  Büchern.  Jedes  noch 
so  kleine  Fetzchen  Papier  bewahrte  sie  auf  das  Sorgfältigste  auf 
und  war  erst  berahigt,  wenn  sie  es  mir  übergeben  hatte.  Sie  wai- 
dabei  vollständig  klar  und  besonnen,  frei  von  sonstigen  Wahnideen, 
aber  von  Hause  aus  wenig  intelligent. 

Wenn  sich  alle  diese  Erscheinungen  als  bizarre  TJebertreibiuigen 
jener  zweckmässigen  leisen  Affecte  darstellen,  welche  auch  das  gesimde 
Handeln  fortgesetzt  begleiten,  so  haben  wir  in  gewissen  Befür(3htungen 
abergläubischen  Inhalts  krankhaft  verzeiTte  Aeusserungen  der 
mystischen  Neigungen  des  Menschen  vor  uns.  Analog  der  ver- 
breiteten Furcht  vor  der  Zahl  13,  vor  der  Unheil  verkündenden 
Begegnung  mit  alten  Weibern  u.  s.  f.,  begegnen  wir  bei.  Kranken 
der  Angst  vor  einzelnen  Gegenständen,  Worten,  Farben  und  nament- 
lich Zahlen,  der  Idee,  durch  ein  bestimmtes  Thun  oder  Lassen  Un- 
heil heraufzubeschwören.  Natürlich  werden  sie  durch  solche  Be- 
-sorgnisse  zu  allerlei  Sicherheitsmassregeln  veranlasst.  Es  kommt 
auf  diese  Weise  zu  den  mannichfachsten  eigenthümüchen  Gewohn- 
heiten, welche  für  den  Kranken  eine  Art  symbolischer  Bedeutimg 
gewinnen  und  ihm  Beruhigung  verschaffen,  auch  wenn  er  über  ihre 
Uüsinnigkeit  durchaus  im  Klaren  ist.  Dahin  gehört  das  geflissent- 
liche Vermeiden  oder  Aufsuchen  und  Aussprechen  einzelner  Zahlen 
oder  Worte,  die  Ausführung  bestimmter,  an  sich  zweckloser  Be- 
wegungen, das  Innehalten  der  gleichen  Keihenfolge  bei  gewissen 
Beschäftigungen,  das  zAvangsmässige  Beachten  hergebrachter  oder 
selbsterfundener  Augurien. 

Ungleich  häufiger,  als  die  letztgenannten,  schon  auf  eine  schwere 
psychische  .Degeneration  hinweisenden  Krankheitsbilder,  sind  jene 
auch  bei  der  erworbenen  Neurasthenie  bisweilen  beobachteten  Zu- 
stände, in  denen  bei  gewissen  Anlässen  plötzlich  mit  überwältigender 
Macht  die  unbestimmte  Furcht  vor  einer  grossen  drohenden 
Gefahr  ohne  klare  Yorstellung  von  dem  Wesen  derselben  über 
den  Patienten  hereinbricht.    Die  bekannteste  dieser  Formen  ist  der 


Neurasthenisches  Irresein. 


483 


Symptomencomplex  der  Platzangst  (Agoraphobie*)).  Der  Ivi'anke  ist 
nicht  im  Stande,  allein  über  einen  grossen,  menschenleeren  Platz  oder 
durch  eine  lange,  weite  Strasse  zu  gehen;  bei  jedem  Yersuche  dazu 
überfällt  ihn  eine  namenlose,  unüberwindliche  Äugst  mit  heftigem 
Herzklopfen,  die  ihm  den  freien  Gebrauch  seiner  Glieder  vollständig 
raubt.  Die  Begleitung  eines  Knaben,  das  Hinterhergehen  hinter 
einem  anderen  Menschen  oder  einem  Wagen,  das  Festhalten  an  den 
Häusern  genügt  oft  schon,  um  den  lähmenden  Affect  vollständig  zu 
überwinden.  In  den  höheren  Graden  ist  es  dem  Ejanken  nicht 
mögüch,  in  einem  Zimmer  allein  zu  sein,  ohne  von  der  furcht- 
barsten Angst  befallen  zu  werden.  Ich  kannte  einen  durch  chronische 
Verdauungsstörungen  sehr  heruntergekommenen  Herrn,  der  Monate 
lang  Tag  und  Nacht  immer  Jemanden  um  sich  haben  musste.  Später, 
mit  der  Besserung  des  körperlichen  Zustandes,  verlor  sich  diese 
Erscheinung,  aber  die  Platzangst  bestand  in  allmählich  abnehmender 
Stärke  fort.  Schliesslich  konnte  der  Kranke  auch  diesen  Zuständen 
vorbeugen,  indem  er  sich  stets  bei  seinen  Ausgängen  mit  einem 
Priessnitzschen  Umschlage  und  einem  Pläschchen  Yalerianatinctur 
versah.  Obgleich  er  von  beiden  Mitteln  nie  Gebrauch  machte  und 
sich  der  Lächerlichkeit  seiner  Massregel  völlig  beAvusst  war,  genügte 
dieselbe  doch,  das  sonst  vmfehlbare  Auftreten  der  Angst  zu  ver- 
hindern. 

Der  Platzangst  nahe  verwandt  ist  die  auch  bei  gesunden 
Menschen  in  verschiedenen  Graden  sehr  häufige  Höhenangst, 
das  Gefühl  intensivsten  ängstlichen  Unbehagens  beim  Stehen  auf 
hohen  Thürmen,  am  Rande  von  Abgründen,  selbst  wo  nicht  die 
mindeste  objective  Gefahr  eines  Herabfallens  vorhanden  ist.  Ferner 
beobachtet  man  bei  Neurasthenikern  bisweilen  heftige  Angstzufälle 
bis  zur  beginnenden  Ohnmacht  in  grossen,  weiten  Räumen,  in 
Kirchen  und  Theatern,  in  grossem  Gedränge,  beim  Alleinsein  in  der 
Dunkelheit  (Njktophobie),  bei  geschlossenen  oder  geöfiheten  Thüren 
(Claustrophobie  und  Claustrophilie),  beim  Gehen  über  Brücken, 
endlich  bei  den  verschiedensten  Gelegenheiten,  in  denen  die  Kranken 
die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  sich  gerichtet  wissen,  be- 
sonders bei  öffentlichen  Reden,  Plaidoyers,  Vorträgen.  In  den  höchsten 


*)  Westphal,  Archiv  für  Psychatrie  III,  p.  138;  Cordes  ibid.  HI,  p.  521; 
X,  p.  48. 

31* 


484 


IS.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Graden  dieser  Störung  sind  die  Kranken  nicht  im  Stande,  zu  schreiben, 
zu  gehen,  zu  essen,  Urin  zu  lassen,  auf  den  Abtritt  zu  gehen,  sobald 
sie  sich  beobachtet  wissen,  während  sie  sonst  keinerlei  motorische 
Störungen  darbieten.  Auch  diesen  Zuständen  entsprechen  An- 
deutungen im  normalen  Yerhalten,  der  hindernde  Einfluss,  den  die 
„Befangenheit"  auf  die  Sicherheit  von  Leistungen  auszuüben  pflegt, 
die  sonst  mit  der  grössten  Leichtigkeit  von  Statten  gehen,  jenes 
Gefühl  völligen  Schwindens  aller  Gedanken,  welches  den  ungeübten 
Eedner  bisweilen  plötzlich  auf  das  Peinlichste  in  dem  Flusse  seines 
Toastes  unterbricht. 

In  die  gleiche  Gruppe  von  Störungen  gehört  das  hie  und  da 
bei  unsern  Kranken  beobachtete  Symptom  der  Kl  ei  derangst.  "Wie 
der  Gesunde  sich  bisweilen  in  einem  neuen  Anzüge  •  zunächst  nicht 
recht  wohl  fühlt,  so  entsteht  hier,  namentlich  beim  erstmaligen 
Tragen  eines  Kleidungsstückes,  ein  sehr  lebhaftes  Unbehagen,  welches 
sich  mit  wirkhchen  körperlichen  Empfindungen  verbinden  kann. 
Die  Ki-anken  merken  deutlich,  dass  die  Aermel  drücken,  die  Taüle 
nicht  ganz  gerade  sitzt,  der  Schuh  zu  kurz  ist,  aber  trotz  zahlloser 
Aenderungen  bleibt  Alles  beim  Alten,  so  dass  die  Kranken  schliess- 
lich überhaupt  neue  Kleidungsstücke  nicht  mehr  ertragen  können, 
immerfort  an  dieselben  denken  müssen  und  erst  dann  aufathmen, 
wenn  sie  das  gCAvohnte  Habit  wieder  tragen.  In  einzelnen  Fällen 
kann  es  dahin  kommen,  dass  die  Kranken,  wenn  ihre  Kleider  zu 
sehr  verschlissen  sind,  allen  Ernstes  dauerndes  Bettliegen  als  ein- 
zigen Ausweg  ins  Auge  fassen,  obgleich  sie  sich  der  Lächerlichkeit 
dieser  Perspective  klar  bewusst  sind. 

Eine  gemeinsame  Eigenthümlichkeit  fast  aller  Arten  von  „Phobien" 
sind  die  „Krisen".  Sobald  man  den  Kranken  zwingt,  das  von  ihm 
Gefürchtete  zu  thun,  oder  ihn  daran  hindert,  jene  Schutzmassregeln 
zu  treffen,  welche  ihn  beruhigen,  kommt  es  zu  Aufregungszuständen 
ängstlicher,  nicht  selten  auch'  zorniger  Art,  mit  rücksichtsloser 
Empörung  gegen  den  von  aussen  gegen  die  krankhaften  Er- 
scheinungen gerichteten  Zwang.  Es  ist  oft  ganz  erstaunlich,  wie  der 
bis  dahin  einsichtige  und  selbst  die  Befreiung  von  seinem  Leiden 
herbeisehnende  Kranke  plötzlich  vollkommen  umgewandelt  erscheint 
und  auf  das  Leidenschaftlichste  gegen  den  Helfer  Front  macht,  so- 
bald derselbe  versucht,  wirklich  den  Kampf  mit  der  psychischen 
Störung  aufzunehmen. 


Neurasthenisclies  Ii-resein. 


485 


Wir  haben  zum  Sclüusse  noch  jener  eigenthümlichen,  ebenfalls 
im  gesunden  Leben  häufig  beobachteten,  aber  bei  krankhafter  Yer- 
aulagung  bisweilen  sehr  ausgebildeten  Störungen  zu  gedenken,  in 
denen  die  zwangsweise  hervortretenden  Yorstellungen  und  Gefühle 
den  Charakter  der  Impulse  annehmen.  Zunächst  haben  dieselben 
vielleicht  nur  die  Form  von  Fi-agen:  Was  würde  geschehen,  wenn 
du  diese  oder  jene  Handlung  unternehmen,  mit  dem  daliegenden 
Messer  einen  Menschen,  dein  Kind  tödten,  dem  dich  trauenden 
Geistlichen  plötzlich  eine  Ohrfeige  geben,  im  Theater  mit  einem 
Male  auf  die  Bühne  springen  würdest?  u.  dergi.  Daraus  entspringt 
dann  die  Furcbt  vor  allen  äusseren  Anlässen,  welche  derartige  Im- 
pulse wachrufen  können.  Die  Kranken  wagen  es  nicht  mehr,  Feier- 
lichkeiten beizuwohnen,  gerathen  in  äusserste  Angst  vor  allen  ge- 
fährlichen Instrumenten.  Einer  meiner  Kranken,  ein  überaus  gut- 
müthiger,  weichherziger  Mensch,  musste  schon  von  Weitem  allen 
Arbeitern  aus  dem  Wege  gehen,  die  Aexte,  Sägen  und  dergl.  ti-ugen, 
weü  ihm  deren  Anblick  immer  den  Antrieb  aufdrängte.  Jemanden 
umzubringen.  Thatsächlich  pflegen  derartige  Impulse  nie  zu  Hand- 
lungen zu  führen;  es  handelt  sich  eigentlich  mehr  um  Befürchtungen, 
die  sich  hier  gegen  die  vermeintlich  aus  dem  eigenen  Innern 
drohenden  Gefahren  richten.  Nur  auf  sprachlichem  Gebiete  setzen 
sich  die  krankhaften  Antriebe  häufiger  in  wirkliches  Zwangsreden 
um;  die  Kranken  können  der  Yersuchung  nicht  v^äderstehen,  bei 
besonders  feierlicher  Gelegenheit  oder  im  Gebet  an  Stelle  der  be- 
absichtigten Worte  sacrilegische  oder  obscöne  Wendungen  zu  setzen 
(„Koprolalie").  Die  Anfangs  nur  dm-ch  eine  Axt  Contrastwii-kung  sich 
aufdrängenden  Yorstellungen  greifen  also  auf  das  ihnen  nächstliegende 
motorische  Gebiet  der  sprachlichen  Ausdrucksbewegungen  hinüber. 

Der  Yerlauf  aller  hier  geschilderten  schweren  Formen  der 
Neurasthenie  ist  gewöhnlich  ein  sehr  chi-onischer,  aber  vielfachen 
Schwankungen  unterworfener.  Meist  reicht  ihre  Entstehung  bis  in 
die  Jugendzeit  oder  doch  ins  Pubertätsalter  zurück.  Nicht  selten 
giebt  irgend  ein  äusserer  Anlass,  eine  Gemüthsbewegung,  ein  hin- 
geworfenes Wort,  eine  auffallendere  Lebenserfahrung  den  ersten 
Anstoss  zum  Auftauchen  der  Krankheitserscheinungen.  Bei  einer 
meiner  Kranken  begann  die  „Waschmanie"  nach  einem  Samariter- 
kurs, in  welchem  eindringlich  die  Gefahren  der  Wundinfection  be- 
sprochen worden  waren.    In  anderen  FäUen  treten  die  Störungen 


486 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


bei  irgend  einer  körperlichen  Indisposition,  nach  einer'  fieberhaften 
Erkrankung,  im  Wochenbett,  in  Folge  von  Ueberarbeitung  zum 
ersten  Male  hervor.  Gerade  die  Geringfügkeit  solcher  äusseren 
Anlässe  zeigt  deutlich  genug,  dass  die  wesentliche  Ursache  der 
eigenartigen  psychischen  Symptome  ausschliesslich  in  der  angeborenen 
oder  erworbenen  krankhaften  Yeranlagung  zu  suchen  ist.  Aus- 
nahmslos fast  lassen  sich  hier  bei  einzelnen  oder  mehreren  Familien- 
gliedern die  Neigung  zu  peinlicher  Pedanterie,  übertriebener  Aengst- 
lichkeit  oder  grüblerischer  Schwarzseherei  nachweisen,  selbst  wenn 
ausgebildetere  Psychosen  nicht  vorgekommen  sind.  Auch  die  Kranken 
selber  pflegen  von  Jugend  auf  schon  die  Andeutungen  jener 
Charaktereigenthümlichkeiten  darzubieten,  als  deren  Zerrbild  sich 
die  spätere  Störung  auffassen  lässt. 

Die  Prognose  der  constitutionellen  Neurasthenie  ist  im  All- 
gemeinen eine  ungünstige.  Zwar  gelingt  es  nicht  selten,  namentlich 
bei  den  einfachen  Zwangsvorstellungen,  der  Platzangst  und  den  ver- 
wandten Erscheinungen,  die  krankhaften  Störungen  für  kürzere  oder 
längere  Zeit  zum'  Schwinden  zu  bringen,  aber  die  Gefahr  von 
Rückfällen  ist  bei  der  tief  in  der  Gesammtpersönlichkeit  wurzelnden 
Grundursache  stets  eine  ausserordentlich  grosse.  Bei  der  Grübel- 
sucht, der  Berührungsfurcht,  den  Zwangsimpulsen  scheinen  die  Aus- 
sichten auf  Besserung  am  schlechtesten  zu  sein;  hier  wird  sogar 
häufiger  ein  im  Ganzen  progressiver  Verlauf  beobachtet. 

Die  Erkennung  dieser  Zustände  bietet  in  ausgeprägten  Fällen 
keinerlei  Schwierigkeit,  doch  kommen  naturgemäss  zahlreiche  Ueber- 
gänge  zur  Gesundheitsbreite  vor,  in  denen  die  geschilderten  Störungen 
nur  angedeutet  sind.  Das  Auftreten  von  Zwangsimpulsen  weist  auf 
eine  Yerwandtschaft  mit  dem  impulsiven  Irresein  hin,  welches  wir 
später  ebenfalls  als  eine  Form  der  degenerativen  Veranlagung  kennen 
lernen  werden.  Die  Behandlung  kann  vielleicht  schon  mit  der 
prophylaktischen  Berücksichtigung  der  krankhaft  veranlagten  Kinder, 
mit  rechtzeitiger  und  ausgiebiger  Förderung  der  körperlichen  Ent- 
wickelung,  Bekämpfung  der  bedrohlichen  Charaktereigenschaften 
durch  eine  vernünftige  Erziehung  einsetzen.  Späterhin  werden  alle 
Einflüsse  nach  Möglichkeit  abzuweisen  sein,  welche  die  körperliche 
und  psychische  Widerstandsfähigkeit  schwächen.  Gegen  die  eigent- 
lichen Krankheitserscheinungen  hilft,  soviel  ich  sehe,  nur  eine  aus- 
dauernde, geduldige  Pädagogik,  welche  allmählich  das  stai-k  gesunkene 


Neurasthenisches  Irresein. 


487 


Selbstverti-aaen  -wieder  zu  heben -und  den  Kranken  Schritt  für  Schritt 
zum  Siege  über  den  pathologischen  Zwang  zu  führen  sucht.  Zur 
Unterstützung,  namentlich  in  den  Krisen,  dient  zweckmässig  die 
hypnotische  Suggestion,  doch  versagt  sie  in  scliAveren  Fällen  viel- 
fach. Auch  kleine  Alkoholgaben  erleichtern  das  TJeberwinden  der 
Angstanfälle.  Vor  dem  Morphium  ist  wegen  der  Gefahr  der  Ge- 
wöhnung dringend  zu  warnen. 

Mit  den  schwereren  neur asthenischen  Erki-ankungen  steht  in 
offenbar  naher  Vei"wandtschaft  ein  im  letzten  Jahrzehnt  besonders 
von  Westphal  und  seinen  Schülern*),  sowie  von  Charcot  näher 
studii-ter  Symptomencomplex ,  den  wir  zunächst  mit  Oppenheim 
als  „traumatische  Neurose"  bezeichnen  wollen,  obgleich  der  Name 
„Schreckneurose"  offenbar  zutreffender  wäre.  Es  handelt  sich  dabei 
lun  ein  aus  mannichfaltigen  nervösen  und  psychischen  Erscheinungen 
zusammengesetztes  Krankheitsbild,  welches  sich  in  Folge  von  heftigen 
Gemüthserschütterungen,  plötzlichem  Schreck,  grosser  Angst  aus- 
bildet un^  daher  nach  schweren  Unfällen,  besonders  nach  Eisen- 
bahnkatasti'ophen  u.  dergl.  beobachtet  wird.  Auch  manche  der  nach 
Selbstmordversuchen  gelegentlich  auftretenden  Störungen  sind,  wie 
Möbius  wahrscheinlich  gemacht  hat,  hierher- zu  rechnen. 

Bei  den  bis  dahin  wenigstens  anscheinend  ganz  gesunden 
Individuen  entwickelt  sich  im  Anschlüsse  an  das  meist  vorüber- 
gehende Bewusstlosigkeit  erzeugende  Trauma  ganz  allmählich,  in 
Wochen  oder  selbst  Monaten,  ein  Zustand,  welcher  sich  psychisch 
durch  depressive  Verstimmung  mit  ängstlichen  Befürchtungen  der 
verscliiedensten  Art  und  Unfähigkeit  zu  jeder  geistigen  Anstrengung 
charakterisirt.  Die  Kranken  erscheinen  still,  gedrückt,  wortkarg, 
kümmern  sich  wenig  um  die  Yorgänge  in  ihrer  Umgebung  und 
sind  immerfort  durch  ihre  eigenen  quälenden  Gedanken  in  Anspruch 
genommen.  In  einzelnen  Fällen  bestehen  typische  Zwangsvorstellungen, 
Agoraphobie,  Grübelsucht;  meist  aber  ü'eten  hypochondrische  Ideen 
dominirend  in  den  Yordergrund.  Die  Ki-anken  werden  den  Ein- 
druck des  erlittenen  Unfalles  nicht  mehr  los,  fühlen  sich  durch  den- 
selben in  ihrem  Gesundheitszustande  auf  das  Schwerste  geschädigt 


*)  Oppenheim,  Die  traumatischen  Neurosen,  2.  Auflage.  1892;  Schnitze, 
Sammlung  klinischer  Vorträge.  N.  F.,  14  (Innere  Medicin  No.  6);  Deutsche  Zeit- 
schrift für  Nervenheilkunde,  I,  5  u.  6,  p.  445. 


488 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


und  beobachten  mit  peinlicher  Aufmerksamkeit  alle  Vorgänge  au 
ihrem  Körper,  welche  ihnen  mit  ihrem  Leiden  in  Zusammenhang 
zu  stehen  scheinen. 

In  gemüthlicher  Beziehung  sind  sie  auffallend  erregbar,  ge- 
ratlien  ungemein  leicht  in  Yerlegenheit  und  Verwirrung,  können 
sich  nicht  zusammenhängend  über  ihren  Zustand  aussprechen  und 
fühlen  sich  dauernd  durch  das  Gefühl  innerer  Beklemmung  und 
Beängstigung  in  ihrem  Denken  und  Handeln  gehemmt.  Auch  hier 
kann  sich  die  Angst  anfallsweise  zu  förmlichen  Krisen  steigern,  welche 
die  Kranken  sogar  bisweilen  zum  Selbstmorde  führen.  Das  Ge- 
dächtniss  ist  trotz  der  Klagen  über  Abnahme  desselben  meist 
gut,  wenn  sich  auch  eine  gewisse  Zerstreutheit  und  Yergesslichkeit, 
auf  dem  mangelnden  Interesse  und  der  Aufmerksamkeitsstörung 
beruhend,  häufig  nachweisen  lässt.  Die  Arbeitsfähigkeit  der  Kranken 
wird  durch  ihre  hypochondrische  Energielosigkeit,  wie  durch  die 
zahlreichen  nervösen  Beschwerden  stets  auf  das  Empfindlichste  be- 
einträchtigt oder  ganz  aufgehoben.  Eine  weitere  Ausbildung  ge- 
winnen die  psychischen  Störungen  in  der  Kegel  nicht;  nur  hie  und 
da  wird  das  Auftreten  von  Dämmerzuständen,  acuten  hallucina- 
torischen  Aufregungen  oder  noch  seltener  von  ausgebildetem  Schwach- 
sinn beobachtet.  Im  letzteren  Falle  handelt  es  sich  wol  immer  um 
wirkliche  Kopfverletzungen. 

Der  Schlaf  der  Kranken  ist  regehoiässig  durch  ängstliche 
Träume  hochgradig  gestört,  der  Appetit  gering;  das  Körper- 
gewicht sinkt.  Im  Kopfe  bestehen  allerlei  abnorme  Sensationen, 
Druck,  Eingenommenheit,  Schwindelgefühl,  unangenehme  Bewegungs- 
empfindungen, im  Bücken  und  Kreuz  das  Gefühl  von  Spannung  und 
Steifigkeit,  in  den  vom  Trauma  betroffenen  Theilen  mannichfache 
Paraesthesien  und  Schmerzen.  Ausserdem  wird  über  asthenopische 
Beschwerden,  Ohrenküngen  und  -sausen,  Herzklopfen,  Abnahme  der 
Potenz,  Erschwerung  der  Harnentleerung  und  Stuhlverstopfmig, 
bisweilen  auch  über  hartnäckiges  Erbrechen  geklagt.  Objectiv  lassen 
sich  in  einzelnen  Fällen  Sensibilitätsstörungen  in  sehr  Avechselnder 
Ausbreitung,  Analgesie  neben  hyperaesthetischen  Stellen,  Ein- 
schränkimg des  Gesichtsfeldes,  ferner  Steigerung  der  Sehnenreflexe, 
Lähmungserscheinungen  der  verschiedensten  Art,  Langsamkeit  und 
IJnischerheit  der  Bewegungen,  Geh-  und  Sprachstörungen,  leichter 
Tremor,  bedeutende  Pulsbeschleunigung,  Ohnmächten  und  selbst 


Neurastlieiüsches  Irresein. 


489 


ausgebildete  epileptüorme  Anfälle  nachweisen.  Alle  diese  Er- 
scheinungen weichen  in  ihrem  atypischen  Auftreten  dm-chaus  von  dem 
Symptomeubilde  organischer  Hirn-  oder  Eückeumarkserkrankungen  ab 
und  werden  durch  ihre  Localisation,  ihr  wechselndes  Verhalten  und 
den  verschlimmernden  Einfluss  psychischer  Erregung  als  functionelle 
gekennzeichnet.  Nui-  ganz  vereinzelt  werden  auch  Störungen  be- 
obachtet, welche  "mit  Sicherheit  auf  eine  organische  Grundlage  hin- 
weisen, so  reüectorische  Pupillenstarre  und  Sehnervenatrophie. 

Der  Verlauf  der  traumatischen  Neurose  ist  ein  chronischer, 
die  Prognose  zweifelhaft.  Zwar  werden  viele  Fälle  nach  monate- 
und  selbst  jahrelanger  Dauer  geheilt  oder  doch  gebessert;  immerhin 
aber  kommt  es  nicht  selten  zu  einem  langsam  fortschreitenden 
Siech thum,  welches  bisweilen  mit  Entwickelung  von  Herzhyijer- 
trophie  und  Arteriosklerose  einherzugehen  scheint. 

Die  Deutung  dieses  Krankheitsbildes  hat  den  Anlass  zu  inter- 
essanten Erörterungen  gegeben.  Während  "Westphal  und  seine 
Schüler  dasselbe  Anfangs  unter  Betonung  gelegentlicher  objectiver 
Befunde  auf  schleichende  organische  Veränderungen  im  Centrai- 
nervensystem zurückführten,  hat  Charcot  alle  diese  Fälle  der 
Hysterie  zugetheilt.  Mit  Eecht  ist  indessen  geltend  gemacht  worden, 
dass  der  Begriff  der  hysterischen  Neurose  durch  diese  Erweiterung  noch 
viel  verschwommener  und  unklarer  wii'd,  als  er  es  leider  heute  schon 
ist.  Neuerdings  setzt  Charcot  die  traumatische  Neurose  in  Paral- 
lele zu  den  hypnotischen  Zuständen,  indem  er  meint,  dass  während 
der  heftigen  Bewusstseinsalteration  durch  den  Schreck  das  ganze 
Symptomenbild  auf  dem  Wege  einer  später  stabü  werdenden  Auto- 
suggestion entstehe.  Andererseits  hat  Oppenheim  die  Annahme 
einer  organischen  Grundlage,  abgesehen  von  gewissen  Ausnahme- 
fällen, aufgegeben.  Die  wesentlich  psychische  Entstehungsweise 
des  gesammten  Symptomencomplexes  darf  somit  jetzt  als  allgemein 
anerkannt  gelten. 

Gleichwol  bestehen  noch  beträchtliche  Meinungsverschiedenheiten 
über  die  Umgrenzung  des  Ei-ankheitsbildes.  Vielfach  ist  darauf 
hingewiesen  worden,  dass  nach  Traumen  sehr  verschiedenartige 
Störungen  entstehen  können  und  darum  eine  einheitliche  Zusammen- 
fassung derselben  unstatthaft  sei,  dass  man  vielmehr  locale  und  all- 
gemeine Neurosen,  hysterische,  neimasthenische,  hypochondrische, 
melancholische  Zustände  u.  dergl.  auseinanderhalten  müsse.    In  der 


490 


IX.  Die  allgeiiieineu  Neurosen. 


That  kann  die  Gemüthserscbütterung,  wie  sie  allen  traumatischen 
Neurosen  gemeinsam  ist,  schwerlich  als  die  wirkliche  und  einheit- 
liche Ursache  derselben  betrachtet  Averden.  Bei  grossen  Unglücks- 
fällen pflegen  ja  auch  nicht  alle  Betheiligten,  sondern  immer  nur 
ganz  vereinzelte  Personen  an  der  Schreckneurose  zu  erkranken.  Da- 
raus  geht  hervor,  dass  zweifellos  der  individuellen  Veranlagung 
eine  ungemein  wichtige  EoUe  bei  der  Entstehung  jener  Störung  zu- 
geschrieben werden  muss.  Die  gleiche  Mannichfaltigkeit,  die  wir  in 
den  Erscheinungsformen  der  krankhaften  Praedisposition  beobachten, 
wird  uns  daher  auch  in  den  Krankheitsbildern  entgegentreten,  welche 
hier  anscheinend  durch  die  gleiche  äussere  Ursache  hervorgerufen 
werden.  So  sehen  wir  denn  klinisch  bald  die  hysterischen,  bald  die 
neurasthenischen,  hypochondrischen,  melancholischen  Züge  im  ein- 
zelnen Ealle  sich  stärker  ausprägen,  je  nach  der  besonderen  Kichtung, 
Avelche  der  krankhaften  Grleichgewichtsstörung  durch  die  Eigen- 
thümlichkeiten  der  gegebenen  Constitution  vorgezeichnet  wird. 

In  diesen  eigenartigen  Entstehungsbedingungen  liegt  die  Er- 
klärung für  die  viel  umstrittenen  diagnostischen  Schwierigkeiten 
bei  der  Beurtheilung  der  traumatischen  Neurosen.  Das  WechselvoUe, 
Launenhafte,  Atypische  der  Krankheitsbüder,  welches  allen  wesentiich 
aus  innern  Ursachen  entstehenden  Psychosen  gemeinsam  ist,  macht 
die  Feststellung  einzelner  pathognomonischer  Symptome  unmöglich. 
Dazu  kommt  die  Unsicherheit  aller  bisher  aufgefundenen  objectiven 
Krankheitszeichen  und  endlich  die  Möglichkeit  einer  Simulation, 
welche  bei  der  gerade  hier  so  häufig  sich  erhebenden  Entschädigungs- 
frage ziemlich  nahe  liegt.  Die  zuletzt  genannte  diagnostische  Gefahr 
ist,  wie  ich  glaube,  vielfach  überschätzt  worden.  Wir-  stehen  der- 
selben ja  häufig  genug  auch  bei  der  einfachen  Hysterie  mit  ihi^er 
Neigung  zur  Ueberti-eibung  und  zur  Erfindung  seltsamer  Krankheits- 
erscheinungen gegenüber.  Hier  wie  dort  sind  alle  Einzelvorschriften 
für  die  ,,Entlarvimg"  von  Simulanten  nahezu  werthlos;  das  Mass- 
gebende ist  überall  die  Uebereinstimmung  des  klinischen  Gesammt- 
bildes  mit  einer  der  bekannten  Erscheinungsformen  der  psycho- 
pathischen Constitution.  Nicht  selten  giebt  übrigens  die  bequeme 
Diagnose  der  „ti^aumatischen  Nem-ose"  den  Anlass  zum  üebersehen 
wichtiger  Krankheitszeichen.  Namentlich  begümende  Pai-alysen 
werden  bisweilen  unter  jenen  Sammelbegriff  untergebracht.  Noch 
jetzt  behandle  ich  einen  Kranken,  dessen  Beschwerden  Monate  lang 


Hysterisches  Irresein. 


491 


mit  einem  Fall  auf  das  Gesäss  in  ursächKche  Yerbinduiig  gebracht 
wurden,  bis  ich  vordem  Schiedsgericht  nachweisen  konnte,  dass  liier 
nicht  die  ti-aumatische  „Nem-ose"  allmählich  in  eine  „Psychose"  übei- 
gegaugen  sei,  wie  angenommen  worden  war,  sondern  dass  es  sich 
einfach  um  die  Entwickelung  einer  progressiven  Paralyse  handelte, 
welche  mit  dem  auch  an  sich  unbedeutenden  Trauma  in  gar  keiner 
Beziehung  stand. 

Die  Therapie  ist  im  Wesentlichen  eine  allgemein  kräftigende  und 
ablenkende;  im  Einzelnen  sind  Bäder,  Massage,  elektrische  Behandlung, 
namentlich  Galvanisation  des  Kopfes,  unter  Umständen  hypnotische 
Suggestion,  endlich  die  Anwendung  der  Bromsalze  von  Nutzen. 

B.  Das  hysterische  Irresein. 

Wenn  es  heute  kaum  möglich  erscheint,  eine  kurze  und  präcise 
Definition  der  Hysterie*)  überhaupt  aufzustellen,  so  tritt  uns  diese 
Schwierigkeit  in  fast  noch  höherem  Grade  entgegen  beim  Hinblicke 
auf  das  hysterische  Irresein.  Wir  geben  gelegentlich  einer  ganzen  Reihe 
von  psychopathischen  Zuständen  den  Beinamen  des  „Hysterischen", 
ohne  immer  mit  genügender  Klarheit  die  Begründung  desselben 
durchführen  zu  können.  Ja,  es  kann  kaum  in  Abrede  gestellt 
werden,  dass  vielfach  ein  nicht  zu  rechtfertigender  Missbrauch  mit  der 
verallgemeinerten  Anwendung  jenes  Epithetons  getrieben  worden  ist. 
Als  wirklich  einigermassen  charakteristisch  für  alle  hysterischen  Geistes- 
störungen dürfen  wir  vielleicht  die  ausserordentliche  Leichtig- 
keit und  Schnelligkeit  ansehen,  mit  welcher  sich  psychische 
Zustände  in  mannichfaltigen  körperlichen  Reactionen  wirk- 
sam zeigen,  seien  es  Anaesthesien  oder  Paraesthesien,  seien  es  Aus- 
drucksbewegungen, Lähmungen,  Krämpfe  oder  Secretionsanomalien. 

Die  gemeinsame  krankhafte  Grundlage  aller  tiefer  greifenden 
Formen  des  hysterischen  Irreseins  wird  durch  eine  mehr  oder 
weniger  stark  ausgeprägte  Entartung  des  Charakters  gebildet.  Die 
Intelligenz  und  das  Gedächtniss  pflegen  dui'ch  die  Hysterie,  selbst 
bei  sehr  langem  Bestehen,  nicht  wesentlich  zu  leiden;  vielmehr 


*)  Möbius,  Schmidts  Jahrbücher  199,  2,  p.  185  (Literatur).  Pitres, 
Levens  cliniques  sur  l'hysterie  et  l'hypnotisme,  1891;  Gilles  de  la  Tourette, 
traite  cliniqne  et  therapeutique  de  l'hystprip.  ISDI. 


492 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


lassen  beide  in  einzelnen  Fällen  sogar  eiae  frappirende  Schärfe 
erkennen.  Was  aber  regelmässig  nach  und  nach  durch  die  Krankheit 
in  Mtleidenschaft  gezogen  Avird,  das  ist  die  Art  und  Weise  der 
gemüthlichen  Eeaction  und  das  Handeln  der  Kranken;  auf  diesem 
Gebiete  vollzieht  sich  im  Laufe  längerer  Zeiten  fast  ausnahmlos  eine 
fortschreitende  Yeränderung,  welche  man  ein  Recht  hat,  als  eine 
mehr  oder  weniger  hochgradige  moralische  Verblödung  aufzufassen. 

Zuerst  ist  es  die  Stimmung,  welche  eine  krankhafte  Störung 
erkennen  lässt.  Die  Patienten  werden  reizbar,  wetterwendisch, 
launenhaft;  aus  unmotivirter  Ausgelassenheit  verfallen  sie  binnen 
kürzester  Frist  und  bei  geringfügigstem  Anlasse  oder  auch  ganz 
ohne  denselben  in  zornige;,  entrüstete ;,  in  bittere,  weltschmerzliche 
oder  in  schwärmerisch  sentimentale  Gefühlsregungen.  Dazu  kommt, 
dass  der  Ausdruck  ihrer  Gemüthsbewegungen  den  Charakter  des 
Masslosen  und  Excentrischen  gewinnt,  während  doch  der  wahre 
innere  Affect  der  Kranken  nicht  im  Entferntesten  dem  äusserlich 
hoffnungslosen  Schmerze,  der  exaltirten  Freude  entspricht.  In 
innigem  Zusammenhange  mit  dieser  Yeränderung  steht  die  Con- 
centration  des  gesammten  Interesses  auf  die  Zustände  und 
Beziehungen  der  eigenen  Person.  Die  Eianken  werden  gleich- 
gültig gegen  fremdes  Leid,  rücksichtslos  gegen  ihre  Umgebung,  oft 
auch  gegen  ihre  allernächsten  Angehörigen,  die  sie  nicht  selten  in 
unglaublichster  Weise  tyrannisiren  und  ausbeuten.  Dafür  aber  ver- 
tiefen sie  sich  mit  einem  gewissen  Raffinement  in  ihre  eigenen  Em- 
pfindungen und  Stimmungen,  so  dass  sie  schliesslich  bisweilen  wahi-e 
Yirtuosen  des  Egoismus  werden. 

Yor  Allem  bemächtigt  sich  ihrer  der  mehr  oder  weniger  klar 
aufgefasste  Wunsch,  bemerkt,  beachtet  zu  werden.  Aus  ihm  ent- 
wickelt sich  die  Neigung  zum  Affectirten,  zum  Auffallenden,  zu 
einer  Aufbauschung  der  Wichtigkeit  aller  jener  Yerhältnisse,  welche 
das  eigene  Ich  unmittelbar  angehen.  Daher  entspringt  auch  die 
Gewohnheit,  sich  in  alle  möglichen  fremden  Angelegenheiten  un- 
berufen einzumischen,  zu  intriguiren,  sich  zum  Mittelpunkte,  zui* 
Hauptperson  zu  machen.  Mcht  selten  treibt  die  Kranken  das  Ver- 
langen, um  jeden  Preis  die  Aufmerksamkeit  der  näheren  und 
ferneren  Umgebung  auf  sich  zu  richten,  zu  den  seltsamsten,  ja 
sogar  zu  unmoralischen  Handlungen,  zur  Verdrehung  von  That- 
sachen,  zur  Lüge  und  Verläumdung.  Namentlich  das  religiöse  Gebiet 


Hysterisches  Irresein. 


493 


ist  es,  welches  ihnen  nach  dieser  Eichtung  hin  einen  willkommenen 
Spielraum  darbietet,  und  die  Geschichte  der  Schwärmer  und  Schwindler 
hat  daher  eine  nicht  geringe  Anzahl  gerade  von  Hysterischen  unter 
ihren  Grössen  zu  yerzeichnen. 

Mit  dieser  Neigung,  eine  möglichst  hervorragende  Eolle  zu 
spielen  und  die  eigene  Person  auf  ein  gewisses  Piedestal  zu  setzen, 
hängt  auch  die  nimmer  ruhende  Unzufriedenheit,  das  ungemein  an- 
spruchsvolle Wesen,  sowie  die  erstaunliche  und  für  die  Umgebung 
oft  in  hohem  Grade  quälende  Empfindlichkeit  der  Hysterischen 
gegenüber  vermeintlichen  Zurücksetzungen  und  Vernachlässigungen 
zusammen.  Aus  ihr  erklärt  sich  ferner  das  peinliche  Nörgeln  und 
Herumdeuteln  an  den  Worten  der  Umgebung,  die  schadenfrohe, 
kleinliche  Eachsucht,  die  fortwährenden  Eifersüchteleien,  sowie  die 
Leidenschaftlichkeit,  mit  welcher  sie  auf  die  vermeintliche  Bevor- 
zugTing  anderer  Personen  zu  reagiren  pflegen.  Dazu  kommt  vielfach 
eine  gewisse  unruhige  Geschäftigkeit,  die  in  bemerkenswerthem 
Gegensatze  zu  ihrer  stets  in  den  Yordergrund  gestellten  Kränklichkeit 
und  Hülfsbedürftigkeit  steht.  Immer  neue  Wünsche  tauchen  auf; 
Veränderungen  in  der  Ausstaffirung  des  Zimmers,  in  der  Eleidung, 
der  Nahrung  werden  vorgenommen,  der  Verkehr  gewechselt,  und  in 
zahllosen  Briefen  und  Billets  er^iesst  sich  ein  Strom  von  Aufträgen, 
Bitten,  Eorderungen  Auseinandersetzungen,  Beschwörungen  und 
Klagen.  Diese  egoistische  Ausbildung  ihres  Charakters  bei  voll- 
ständiger Erhaltung  der  Besonnenheit  und  Intelligenz,  diese  Em- 
pfindlichkeit und  Launenhaftigkeit,  diese  unermüdlichen  Prätensionen, 
dieser  Hang,  zu  klatschen,  zu  schmähen,  zu  medisiren,  sind  es,  durch 
welche  Hysterische  ihre  Umgebung  bisweilen  zu  völligen  Sclaven 
ihrer  Einfälle  zu  machen  verstehen,  und  durch  welche  sie  zum 
Schrecken  der  Aerzte  und  Anstalten  werden  können,  welche  mit 
ihrer  Behandlung  sich  zu  befassen  gezwungen  sind. 

Vielleicht  der  wichtigste  Zug  im  Krankheitsbiide  der  Hysterie 
ist  endlich  die  regelmässig  nachweisbare  eigenfhümliche  Willens- 
störung. Die  Ki-anken  sind  auf  der  einen  Seite  haltlos,  leicht 
bestimmbar,  allen  möglichen  Einflüssen  zugänglich,  auf  der  andern 
Seite  unfähig,  ihrer  krankhaften  Eegungen  Herr  zu  werden,  eine 
schädliche  Gewohnheit  abzulegen.  Daher  der  auffallende  Gegensatz 
zwischen  der  Hartnäckigkeit,  mit  welcher  sie  öfters  bestimmte  ab- 
sonderliche oder  selbst  gefährliche  Handlungen  immer  wiederholen, 


494 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


und  der  ausserordentlichen  Empfänglichkeit  für  äussere  Einwirkungen. 
Dieselbe  Kranke,  die  ohne  ersichtlichen  Grund  monate-  und  jahre- 
lang ihre  Nahrungsaufnahme  auf  ein  Mnimum  beschränkt,  hülflos 
im  Bett  liegen  bleibt,  sich  heimlich  immer  wieder  Verletzungen  zu- 
fügt, kann  dui'ch  ein  einziges  "Wort,  einen  plötzlichen  Einfall  in 
ihrem  ganzen  Verhalten  vollständig  umgewandelt  werden.  Freilich 
muss  bei  dem  geschilderten  Zustande  der  Ki'anken  allen  solchen 
"Wirkungen  naturgemäss  die  Nachhaltigkeit  fehlen;  der  nächste 
Augenblick  schon  kann  Eindrücke  bringen,  welche  die  Wiederkehr 
der  alten  oder  das  Auftreten  neuer  krankhafter  "Willensrichtungen 
herbeiführen,  um  selbst  sehr  bald  von  noch  anderen  Beeinflussungen 
abgelöst  zu  werden. 

Auf  dieser  freilich  in  sehr  verschiedenem  Masse  ausgebildeten 
hysterischen  Grrundlage  können  sich  nun  eine  Eeihe  verschiedener 
Krankheitsbilder  entwickeln,  sei  es  als  vorübergehende  Episoden, 
sei  es  als  dauernde  und  durchgreifende  pathologische  Zustände. 
In  erster  Linie  haben  wir  dabei  einer  Form  zu  gedenken,  welche 
nahe  Beziehungen  zu  den  hypochondrischen  Anwandlungen 
der  Neurastheniker  darbietet.  Freilich  pflegen  hier  die  hypo- 
chondrischen Vorstellungen  eine  viel  grössere  Gewalt  und  eine  viel 
längere  Dauer  im  Bewusstsein  der  Kranken  zu  gewinnen,  und 
sie  pflegen  namentlich  auch  die  körperlichen  Functionen  in  aus- 
gedehntem Masse  mit  zu  beeinflussen.  Sehr  häufig  sind  es  wii-kliche, 
aber  durch  die  Phantasie  der  Kranken  bis  ins  Ungeheuerliche  ver- 
grösserte  Beschwerden,  an  welche  sich  die  hypochondrischen  Ideen 
der  Hysterischen  anknüpfen.  Das  Gefühl  einer  allgemeinen  Schwäche 
in  Folge  von  Anaemie,  Verdauungsbeschwerden,  Kopfschmerzen  ver- 
schiedener Art,  abnorme  Sensationen  längs  des  Eückens,  in  den 
Beinen,  im  Unterleibe,  vor  Allem  aber  am  Herzen,  bieten  der  liebe- 
vollen Vertiefung  in  die  eigenen  Zustände  und  der  Neigung,  sich 
selbst  möglichst  interessant  erscheinen  zu  lassen,  die  realen  Anhalts- 
punkte für  die  Construction  eines  äusserst  merkwürdigen  und 
quälenden  Leidens,  dessen  Einzelheiten  in  feinster  Detaülii-ung  und 
effectvoUen  Superlativen  bei  jeder  Gelegenheit  in  den  Vordergrund 
geschoben  werden. 

Dieses  Leiden  bildet  gewöhnlich  den  Mittelpunkt  der  gesammteu 
Interessen  der  Ki-anken,  Es  giebt  ihnen  eine  Art  Aiisnahmestellimg 
gegenüber  allen  andern  Menschen  und  wird  vielfach  mit  einem  ge- 


Hysterisches  Irresein. 


495 


wissen  heimlichen  Stolze  erduldet.  Wir  machen  dann  die  merk- 
würdige Beobachtung,  dasS  die  Kranken  trotz  ihrer  beweglichen 
Klagen  und  trotz  ihrer  Arztbedürftigkeit  doch  gänzlich  unfähig  er- 
scheinen, ernsthaft  und  zielbewusst  an  ihrer  Wiederherstellung  zu 
arbeiten.  Sobald  von  ihrer  Ausdauer  und  Consequenz  die  gewissen- 
hafte Durchführung  eines  langwierigen  Curplans  gefordert  wird, 
pflegen  sie '  ungemein  rasch  zu  versagen.  Ihnen  fehlt  mehr  oder 
weniger  vollständig  das  Gefühl  der  eigenen  Yerantwortlichkeit  für 
ihre  Gesundheit,  die  elementare  Sehnsucht  nach  Genesung.  Der 
Arzt  hat  dafür  zu  sorgen,  dass  sie  sich  wohl  fühlen;  ihn  klagen  sie 
an  bei  jeder  Störung.  Nicht  für  sich,  sondern  ihm  zum  Gefallen 
imterziehen  sie  sich  der  Behandlung,  die  ihnen  daher  keine  Un- 
bequemlichkeiten zumuthen  darf.  Nur  wo  es  ganz  absonderliche, 
neu  erfundene  Methoden  oder  grosse  Operationen  gilt,  sind  sie  gern 
bereit,  erstaunliche  Dinge  zu  ertragen. 

In  manchen  Fällen  sind  es  namentlich  psychische  Leiden,  welche 
die  Kranken  an  den  Eand  der  Terzweiflung  bringen.  Entsetzliche 
Gedanken,  die  Erinnerung  an  die  unerhörten  Schicksale  ihres  Lebens, 
furchtbare  Seelenpein,  nächtüche  Träume  von  grauenhafter  Aus- 
führlichkeit und  Schrecklichkeit,  selbst  angebliche  Hallucinationen 
(ein  schwarzer  Mann  mit  einem  langen  Messer,  die  Mutter  im  Leichen- 
gewande,  geschlechtKche  Angriffe),  Alles  in  theatralischem  und  selbst- 
gefälligem Aufputze,  pressen  den  Kranken  bei  jeder  passenden  Ge- 
legenheit ganze  Cascaden  von  Thränen  aus  den  Augen,  während  sie 
gleichzeitig  einen  sehr  ausgeprägten,  wenn  auch  bemäntelten  Sinn 
für  materielle  Genüsse  besitzen,  bei  keiner  Anstaltsfeierlichkeit  fehlen 
und  überall'ihren  übermenschlichen  Schmerz  mit  heroischer  Resignation 
zur  Schau  tragen.  Auch  das  männliche  Geschlecht  stellt  zu  dieser 
Form,  die  man  wol  nicht  mit  Unrecht  der  Hysterie  zurechnen  darf, 
seine  Vertreter. 

Regelmässig  begegnen  wir  endlich  bei  unseren  Kranken  in 
stärkerer  oder  schwächerer  Ausbildung  jenen  Symptomen,  die  wir  als 
charakteristisch  für  die  hysterische  Neurose  zu  betrachten  pflegen 
(„Stigmata").  Namentlich  sind  es  Lähmungen  einzelner  Güeder  ver- 
schiedenen Grades,  Gehstörungen  (Astasie-Abasie),  Ovarie,  unüberwiud- 
hche  Appetitlosigkeit,  hartnäckiges  Erbrechen,  Secretionsanoraalien, 
Aphonie,  Sehstörungen,  Anaesthesien  und  Hyperaesthesien,  Globus, 
Clavus,  Ohnmachtsanfälle  und  Krämpfe,  welche  das  Krankheitsbild 


496 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


in  maunichfaltigster  "Weise  begleiten.  Allen  diesen  Störangen,  deren 
Schilderung  im  Einzelnen  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein  kann,  ist 
der  Umstand  gemeinsam,  dass  sie  in  ihrem  Auftreten  und  Yer- 
schwinden  auf  sehr  bemerkenswerthe  "Weise  von  psychischen  Ein- 
flüssen abhängig  sind.    So  vermag  eine  heftige  Aufregung  die 
Lähmungssymptome  plötzlich  zum  Schwinden  zu  bringen;  das  Er- 
brechen wird  durch  Magenaussptilungen,  die  Application  von  Kähr- 
lilystiren,  durch  die  Aussicht  auf  eine  Yergünstigung  beseitigt;  der 
Krampfanfall  schliesst  sich  an  einen  Aerger,  an  die  klinische  Demon- 
stration u.  dergl.  an,  und  er  weicht  nicht  selten  dem  Drucke  auf 
das  hyperaesthetische  Hypogastrium,  der  energischen  Anwendung 
des  faradischen  Pinsels  oder  einer  kalten  Debergiessong.  Dieses 
Yerhalten  entspricht  durchaus  der  weiteren  Erfahrung,  dass  die 
Kranken,  wenn  sie  unbefangen  sind  und  sich  unbeachtet  glauben, 
oft  alle  ihre  Beschwerden  vergessen  und  in  psychischer  wie  körper- 
licher Beziehung  (Essen,  Gehen)  eine  bedeutende  Leistungsfähigkeit 
an  den  Tag  legen,  welche  sofort  der  alten,  Mitleid  heischenden  Hin- 
fälligkeit Platz  macht  und  von  ihnen  vollständig  verleugnet  wird,, 
sobald  sie  auf  ihre  Krankheit  hingewiesen  werden  oder  sich  dem 
Arzte  gegenüber  sehen. 

Man  hat  aus  diesen  und  ähnlichen  Beobachtungen  nicht  selten 
den  in  der  That  oft  verführerischen  Schluss  gezogen,  dass  es  sich 
bei  Hysterischen  überhaupt  nicht  um  Krankheit,  sondern  lun  ganz 
ordinäre  Simulation  handele.  Ohne  Zweifel  werden  einzelne  Sym- 
ptome dieser  hypochondrischen  Form  von  den  Kranken  willkürlich 
und  zweckbewusst  vorgetäuscht,  um  sich  die  Theünahnie  des  Arztes 
zu  sichern  und  ihm  eine  möglichst  schlimme  Vorstellung  von  der 
Grösse  ihres  Leidens  beizubringen.  So  kommt  es  nicht  zu  selten 
vor,  dass  Hysterische  vorgeben,  wochen-  oder  monatelang  nichts 
gegessen  oder  keinen  Stuhlgang  gehabt  zu  haben,  trotzdem  eine 
geschickte  Beobachtung  ergiebt,  dass  sie  mit  grösster  Schlauheit  (in 
der  Nacht,  mit  Hülfe  anderer  Kranker)  sich  Nahrung  zu  verschaffen 
oder  ihre  Excremente  zu  beseitigen  wissen,  während  sie  mit  ver- 
zweiflungsvoller Duldermiene  oder  resignirtem  Trotze  an  ihrer  Be- 
hauptung festhalten.  Auch  habe  ich  es  erlebt,  dass  eine  solche 
Kranke  sich  mit  einer  Scheere  heimlich,  aber  systematisch  ziemlich 
schwere  Yerwundungen  in  der  Yagina  beibrachte,  um  Blasenblutuugen 
vorzutäuschen.    Man  darf  indessen  nicht  ausser  Acht  lassen,  dass 


Hysterisches  Irresein. 


497 


ims  clie  Neigung  zu  einer  Art  Simulation  einzelner  Symptome  bei 
einer  Keihe  von  anderen  psychischen  Erkrankungen  gelegentlich 
begegnet.  Es  wäre  daher  durchaus  verkehrt,  aus  dem  Nachvsreise 
einer  absichtlichen  Täuschung  auf  den  Mangel  einer  psychischen 
Störung  überhaupt  schliessen  zu  wollen.  Wenn  auch  dieses  oder 
jenes  von  dem  Ki-anken  behauptete  Symptom  in  "Wirklichkeit  nicht 
vorhanden  ist,  so  fällt  doch  eben  die  eigenthümliche  Neigung  zur 
Täuschung  des  Ai-ztes  und  das  dem  gesunden  Menschen  ganz  un- 
verständliche Motiv  selber  ohne  Zweifel  in  das  Gebiet  des  Krank- 
haften hinein. 

Kaiun  weniger  charakteristisch  für  das  hysterische  Irresein,  als 
die  hypochondrischen  Klagen  sind  die  in  vielen  Fällen  episodisch 
hervorti-etenden  Dämmerzustände.  Man  bezeichnet  mit  diesem 
Namen  kürzer  oder  länger  dauernde  Anfälle  stärkerer  Bewusstseins- 
trübung,  welche  sich  entweder  spontan  einstellen  oder  unmittelbar 
an  Krampfparosysmen  anschliessen,  auch  häufig  durch  solche  ab- 
geschnitten oder  unterbrochen  werden.  Als  einfachste  Form  dieser 
Dämmerzustände  können  wir  jene  Bewusstseinsstörungen  betrachten, 
welche  regelmässig  den  Krampfanfall  kürzere  oder  längere  Zeit  über- 
dauern. Die  Kranken  liegen  mit  schlaffen  Gliedern,  in  denen  nur 
gelegentlich  noch  eine  Andeutung  tonischer  Starre  hervortritt,  ruhig 
athmend  und  mit  meist  verlangsamtem  Pulse,  die  Augen  nach  oben 
und  seitw^ärts  gerollt,  fast  unbeweglich  da,  reagiren  aber  meist  durch 
Ausweichbewegungen,  Zucken,  Augenrollen  oder  durch  plötzliches 
Zusammenschrecken  und  Erwachen  auf  stärkere  Reize,  namentlich 
auf  den  faradischen  Pinsel.  Tn  einzelnen  Fällen  kann  sich  dieser 
Zustand,  unterbrochen  durch  zahlreiche  Krampfanfälle,  viele  Tage, 
ja  "Wochen  lang  mit  geringen  freieren  Intervallen  hinziehen.  Bis- 
weilen gleichen  die  Dämmerzustände  ganz  dem  gewöhnlichen  Ein- 
schlafen („Schlafanfälle").  Die  Gesichtszüge  der  Kranken  nehmen 
plötzlich  den  Ausdruck  der  Ermüdung  an;  die  Augen  schliessen 
sich;  der  Kopf  sinkt  herab;  die  Glieder  werden  schlaff,  und  die 
Kranken  scheinen  mit  tiefen,  regelmässigen  Athemzügen  zu  schlafen. 
Meist  erwachen  sie  nach  kurzer  Zeit  von  selbst  wieder,  oder  es 
gelingt,  sie  durch  energische  Reize  zu  erwecken.  Sie  scheinen  dann 
zimächst  noch  schlaftrunken,  blicken  beim  Erwachen  verstört  um 
sich  und  wissen  gar  nicht,  wie  alles  gekommen. 

Solche  Schlafanfälle  bilden  den  Uebergaug  zu  den  Erscheinungen 

Kraepelin,  Psychiatrie.   4.  Aufl. 


498 


IX.  Die  allgemeinen  iS'eurosen. 


des  Nachtwandelns  oder  Somnambulismus,  wie  sie  bei  Hys- 
terischen während  des  natürlichen  Schlafes  beobachtet  werden.  Die 
Kranken  erheben  sich  aus  ihrem  Bette,  sehen  zum  Fenster  hinaus, 
gehen  im  Zimmer  oder  selbst  im  ganzen  Hause  herum,  verrichten 
allerlei,  oft  ganz  geordnete,  bisweilen  aber  auch  unsinnige  (Zerreissen 
von  Kleidern,  Yerstecken  von  Gegenständen)  und  sogar  verbreche- 
rische Handlungen  (Diebstähle,  Brandstiftungen),  um  sich  dann  nach 
einiger  Zeit  wieder  ins  Bett  zu  legen  und  am  anderen  Morgen  mit 
höchst  unklarer  Erinnerung  an  das  Geschehene  zu  erwachen.  J^icht 
selten  ist  es  möglich,  die  Kranken  durch  Anreden  oder  doch  durch 
intensivere  Kelze  (Kälte,  Stechen,  Kneifen)  aus  ihrem  Zustande  zu 
erwecken.  Ganz  ähnliche  Anfälle  beobachtet  man  auch  bei  Tage, 
wo  sie  sich  gewöhnlich  im  Anschlüsse  an  einen  Krampfparoxysmus, 
bisweilen  auch  einen  Lach-  oder  Weinkrampf,  entwickeln.  Die 
Kranken  machen  hier  ganz  den  Eindruck  von  Nachtwandlern,  indem 
sie  mit  verschränkten  Armen,  gesticulirend  oder  leise  und  un- 
verständlich vor  sich  hin  sprechend  auf  und  abgehen.  Indessen 
lassen  sie  sich  meist  durch  äussere  Störungen  gar  nicht  beirren; 
selbst  gewaltsames  Festhalten  oder  faradische  Sti'öme  genügen  häufig 
nicht,  um  den  krankhaften  Zustand  zu  beseitigen. 

Noch  reger  gestaltet  sich  die  psychische  Thätigkeit  bei  einer 
weiteren  Form  der  Dämmerzustände.  Hier  stellen  sich  bei  mässig 
getrübtem  Bewusstsein  massenhafte  Hallucinationen  ein,  welche 
die  Kranken  entweder  in  unangenehme,  aufregende  Situationen 
oder  in  ekstatische  Zustände  mit  Wonnegefühlen  und  hinnnlischen 
Yisionen  versetzen,  Stimmungen,  die  sich  dann  natürlich  in  dem 
ganzen  Benehmen,  den  Eeden  und  den  Ausdrucksbewegungen  wider- 
spiegeln. Eine  meiner  Kranken  kämpfte  in  solchen  Zuständen  heftig 
mit  einem  imaginären  Arzte,  der  ihr,  nach  ihren  abgerissenen  Aus- 
rufen zu  schliessen,  Gewalt  anthun  wollte;  eine  andere  sah  ganze 
Berge  von  Papier  vor  sich,  durch. deren  Anbrennen  sie  die  Yer- 
nichtung  ihres  Anwesens  und  ihres  Wohlstandes  herbeiführte.  Endlich 
beobachtet  man,  namentüch  bei  jugendlichen  Individuen,  Dämmer- 
zustände mit  eigenthümlicher  läppischer  Erregung.  Die 
Kranken  befinden  sich  in  vorwiegend  heiterer,  ausgelassener  Stimmung, 
in  welcher  sie  ihre  Umgebung  verkennen,  schnippische  Reden  führen, 
ein  eigensinniges,  albernes  Wesen  an  den  Tag  legen  und  allerlei 
thörichte  oder  muthwilhge  Streiche  begehen,  schi-eien,  Thierstimmen 


Hvstorisclies  IiTesein. 


499 


iiachahmeu,  davonlaufen.  Oft  tritt  hier  bei  dem  ziemlich  besonnenen 
Benehmen  der  Ea-anken  die  pathologische  Natur  der  Störung  dem 
Zuschauer  erst  dann  recht  deutlich  zu  Tage,  wenn  nach  einigen 
Minuten  oder  Stunden  ein  leichter  Krarapfanfall  die  Scene  abschliesst 
und  nun  plötzlich  bei  völligem  Mangel  der  Erinnerung  an  das  Vor- 
gefallene ein  stilles,  gedrücktes  "Wesen  an  Stelle  der  früheren  Aus- 
gelassenheit ti-itt.  Die  letzteren  beiden  Formen  der  Dämmerzustände 
war  Kieger  durch  Hypnotisiren  experimentell  zu  erzeugen  im 
Stande,  doch  sind  sie  auch  spontan  nicht  zu  selten. 

Ausser  diesen  typischen  Krankheitsbildern  können  sich  auf  der 
hysterischen  Grrundlage  noch  eine  Keihe  von  anderen  psychischen 
Störungen  entwickeln,  welche  in  der  Regel  nur  durch  gewisse 
Eigenthümlichkeiten  ihren  hysterischen  Ursprung  verrathen.  So 
begegnet  man  hier  nicht  selten  kürzer  oder  länger  dauernden  un- 
motivirten  depressiven  Verstimmungen,  welche  oft  von  vagen 
Versündigimgsideen  begleitet  sind.  Noch  häufiger  fast  sind  Auf- 
regungszustände  aller  Art,  zumeist  in  Form  zorniger  Gereiztheit 
mit  heftigen  Schimpf paroxysmen,  mit  der  Neigung,  zu  zerstören  und 
selbst  zu  schmieren,  gewöhnlich  an  irgend  einen  äusseren  Anlass, 
einen  Aerger,  eine  eifersüchtige  Eegung  u.  dergl.  sich  anschliessend. 
Alle  diese  Affectzustände  gehen  meist  rasch,  binnen  wenigen  Stunden, 
Tagen  oder  höchstens  Wochen  wieder  vorüber,  aber  sie  haben 
naturgemäss  eine  ganz  ausserordentliche  Neigung,  zu  recidiviren, 
und  treten  bisweilen  mit  einer  gewissen  Periodicität  (etwa  in  Ver- 
bindung mit,  den  Menses)  hervor.  Ja,  es  kann  sich  aus  dem  oft 
wiederholten,  unregelmässigen  Wechsel  zwischen  exaltirteil  und 
depressiver  Verstimmung  mit  dazwischen  sich  einschiebenden 
Dämmerzuständen,  relativ  normalen  Zeiten  und  Krampfanfällen  ver- 
schiedener Art,  namentlich  tagelang  andauernder  allgemeiner  Chorea, 
ein  überaus  mannichfaltiges  und  über  Jahr  und  Tag  hin  sich  er- 
sti-eckendes  Krankheitsbild  zusammensetzen. 

Da  die  Hysterie  im  Wesentlichen  eine  besondere  Art  der  krank- 
haften Veranlagung  darstellt,  werden  natürüch  auch  die  verschieden- 
artigsten, nicht  eigentlich  hysterischen  Psychosen  auf  dieser  Grund- 
lage dm-ch  Beimischung  einzehier  besonderer  Züge  eine  eigenartige 
Färbung  annehmen  können.  Schon  früher  wurde  erwähnt,  dass 
Melancholien  bei  jugendlicheren  Personen  häufiger  hysterische  An- 
deutungen zeigen,  namentlich  Dämmerzustände  und  vorübergehende 

32* 


500 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


hallucinatorische  Angstanfälle  mit  krampfartiger  Erregung.  Ausserdem 
wäre  etwa  zu  erwähnen,  dass  man  bisweilen  auch  eine  „hysterische 
Verrücktheit"  unterschieden  hat,  deren  Eigenthümlichkeit  in  dem 
Vorkoumien  sexueller  Verfolgungs-  und  Grössenideen  liegen  solL 
Ich  habe  mich  Yon  der  Berechtigung  einer  solchen  Form  bisher 
nicht  überzeugen  können. 

Wie  der  Name  bereits  andeutet  {vorega^  die  Gebärmutter),  ist 
die  Hysterie  so  sehr  eine  Krankheit  des  weiblichen  Geschlechts, 
dass  man  sogar  zweifelhaft  gewesen  ist,  ob  man  überhaupt  ein 
Kecht  hat,  ähnliche  Symptomencomplexe  bei  Männern  unter  dieselbe 
Bezeichnung  zu  subsumiren.  Indessen  die  „männliche  Hysterie'' 
ist  heute,  wie  wir  der  Pariser  Schule  ohne  weiteres  zugestehen 
müssen,  keine  seltene  Krankheit  mehr,  und  es  lässt  sich  nicht  in 
Abrede  stellen,  dass  eine  scharfe  Trennungslinie  zwischen  den  all- 
gemeinen Neurosen  der  beiden  Geschlechter  schwerlich  gezogen 
werden  kann.  "Weder  die  eigenthümlichen  Krampferscheinungen, 
noch  die  Charakterveränderung,  noch  die  Dämmerzustände  fehlen 
bei  Männern  vollständig,  wenn  sie  auch  beim  weiblichen  Geschlechte 
eine  viel  grössere  Ausdehnung  und  typischere  Entwickelung  zu 
erlangen  pflegen.  Kecht  häufig  ist  die  Hysterie  bei  Kindern  beiderlei 
Geschlechts.  Freilich  beobachten  wir  hier  meist  nur  einzelne  Krank- 
heitserscheinungen, halbseitige  Blindheit,  Eeflexkrämpfe,  Lähmungen, 
SchreianfäUe,  krampfhaftes  Husten,  läppische  Dämmerzustände.  Alle 
diese  Symptome  werden  leicht  durch  körperliche  Störungen,  aber 
auch  durch  Gemüthsbewegungen,  namentlich  durch  psychische  An- 
steckijaig  ausgelöst  {Schulepidemien). 

Aus  den  angeführten  Erfahrungen  geht  jedenfalls  soviel  hervor, 
dass  den  legendären  Beziehungen  der  Hysterie  zu  dem  weiblichen 
Sexualsysteme  nicht  diejenige  Unverbrüchlichkeit  zukommt,  welche 
ihnen,  selbst  bis  in  die  neueste  Zeit,  vielfach  zugeschrieben  worden 
ist.  Ebenso  muss  uns  der  Umstand,  dass  gerade  eine  Reihe  sehr 
tiefgTeifender  Erkrankungen  der  Geschlechtsorgane  zwar  recht  schwere 
somatische  und  selbst  psychische  Störungen  zu  erzeugen  vermögen, 
ohne  doch  dabei  den  Symptomen complex  der  Hysterie  auszulösen, 
gegen  die  Annahme  einer  massgebenden  Bedeutung  der  Sexual- 
erkrankungen immerhin  misstrauisch  machen.  Sehen  wir  doch 
ferner  hysterische  Erscheinungen  schon  lange  vor  dem  Eintritte 
der  Geschlechtsreife,  sehen  wir  sie  doch  endlich  auch  bei  voU- 


Hysterisches  Irresein. 


501 


kommen  gesunden  Genitalorganen  in  deutlichster  Weise  sich  ent- 
wickeln. 

Auf  der  anderen  Seite  kann  nicht  geleugnet  werden,  dass  häufig 
genug  bei  Hysterischen  der  objective  Befund  oder  doch  die  Be- 
schwerden auf  die  Geschlechtssphäre  als  auf  die  Quelle  der  Neurose 
hindeuten,  und  dass  die  Beseitigung  kleiner  Störungen  auf  diesem 
Gebiete,  vielleicht  auch  einpial  die  Entfernung  der  gesunden 
Generationsorgane,  unter  Umständen  eine  erhebliche  Besserung 
oder  sogar  völlige  Beseitigung  der  hysterischen  Symptome  herbei- 
zuführen vermag.  Aus  allen  diesen  Thatsachen  scheint  mir  mit 
Sicherheit  soviel  hervorzugehen,  dass  die  eigentliche  Ursache  der 
Hysterie,  wie  früher  ausgeführt,  in  einer  krankhaften  Veranlagung 
des  gesammten  Nervensystems  gelegen  ist,  dass  wir  aber  beim 
Weibe  in  den  Genitalorganen  eine  der  ergiebigsten  Quellen  für  jene 
äusseren  Eeize  und  Schädlichkeiten  zu  suchen  haben,  welche  nun 
auf  dem  prädisponirten  Boden  die  hysterischen  Erscheinungen  aus- 
lösen. Die  constitutionelle  Entartung  ist  es,  welche  den  aus  der 
empfindlichsten  Sphäre  andringenden  Eeizen  mehr  oder  weniger 
entgegenkommt  oder  bei  besonderer  Ausbildung  selbst  ohne  stärkeren 
äusseren  Anstoss  die  krankhaften  Störungen  des  nervösen  und  psych- 
ischen Lebens  herbeiführen  kann.  Nur  so  erklärt  es  sich,  dass 
ein  und  dasselbe  organische  Leiden  in  einem  Falle  fast  symptomlos 
verläuft,  im  zweiten  leichte  nervöse  Beschwerden,  im  dritten  aber 
die  ganze  Mannichfaltigkeit  der  hysterischen  Erscheinungen  zu  er- 
zeugen im  Stande  ist. 

Wie  sich  aus  den  vorstehenden  Erörterungen  von  selber  ergiebt, 
ist  der  Verlauf  der  Hysterie  regelmässig  ein  chronischer,  nicht 
selten  über  Jahrzehnte  hinaus  sich  erstreckender.  In  einzelnen  Fällen 
zeigen  sich  die  ersten  Symptome  der  Erkrankung,  namentlich  beim 
weiblichen  Geschlechte,  schon  im  zehnten  bis  zwölften  Lebensjahre, 
ja  selbst  noch  früher;  auf  der  andern  Seite  pflegen  sich  im  höheren 
Lebensalter,  nach  dem  Klimakterium,  häufig  die  schwerereu  Er- 
scheinungen der  Hysterie  mehr  und  mehr  zu  verwischen.  Im  Gegen- 
satze zu  dem  andauernden  Fortbestehen  der  hysterischen  Constitution 
können  die  einzelnen  Formen  psychischer  Erkrankung  einen  ausser- 
ordentlich wechselvollen  imd  verschiedenartigen  Verlauf  nehmen. 
Ja,  der  rasche  und  unvermittelte  Wechsel  der  Erscheinungen 
ist  sogar  in  hohem  Grade  dem  hysterischen  Irresein  eigenthümlich. 


502 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Es  ist  gewissermassen  eine  Reibe  von  „Zufällen",  welche  sich  auf 
der  gemeinsamen  Grundlage  nach  einander  abspielen  können,  und 
deren  Einzeldauer  in  der  Eegel  einige  Monate  nicht  überschreitet, 
häufig  aber  auch  nur  einige  Tage  oder  Stunden  beträgt. 

Die  Prognose  des  hysterischen  IiTeseins  ist,  was  die  eigent- 
lichen Anfälle  psychischer  Störung  anbetrifft,  eine  durchweg  günstige; 
dafür  aber  wird  man  fast  immer  mit  Sicherheit  beim  nächsten  An- 
lasse eine  Eückkehr  dieser  oder  einer  anderen  Form  des  Leidens 
erwarten  dürfen.  Nur  die  Hysterie  der  Kinder  scheint  sich  öfters 
mit  fortschreitender  körperlicher  Entwickelung  bis  auf  eine  gewisse 
Prädisposition  völlig  zu  verlieren.  Bei  Erwachsenen  ist  an  eine 
wii-Jdiche  Umänderung  der  hysterischen  Constitution,  sowie  der  aus 
ihr  hervorwachsenden  Charaktereigenthümlichkeiten  schwerlich  zu 
denken.  Dagegen  werden  sehr  bedeutende  und  ans  Wunderbare 
grenzende  therapeutische  Erfolge  bisweilen  in  solchen  Fällen  erzielt, 
in  denen  sich  äussere  Momente  (Sexualerkrankungen,  ungeeignete 
Lebensweise,  schädlicher  Einfluss  der  Umgebung)  als  wesentliche 
auslösende  Ursache  der  Krankheitserscheinungen  erkennen  lassen. 
Andererseits  giebt  es,  wie  es  scheint,  vorzugsweise  beim  männlichen 
Geschlecht,  schwere  Formen  der  Hysterie  mit  hochgradigen  hypo- 
chondrischen Beschwerden,  welche  sich  dem  äi-ztlichen  Eingreifen 
auf  die  Dauer  nahezu  ganz  unzugänglich  erweisen  und  eine  Art  fort- 
schreitenden Verlaufes  zeigen  mit  stetiger  oder  schubweiser  Yer- 
schlechterung  des  gesammten  Krankheitsbildes. 

Schon  die  Schwierigkeit  einer  scharfen  Begriffsbestimmung  des 
hysterischen  L'reseins  deutet  auf  die  nahen  Beziehungen  hin,  die 
dasselbe  zu  den  verwandten  Neurosen  aufzuweisen  hat.  Namentlich 
die  „männliche  Hysterie"  ist  es,  welche  diese  Beziehungen  am  klarsten 
hervortreten  lässt.  Nach  der  einen  Seite  hin  haben  wir  zahlreiche 
Uebergänge  zu  dem  Krankheitsbilde  der  constitutionellen  Neui'asthenie 
zu  verzeichnen,  wenn  sich  auch  gewisse  Merkmale  aufstellen  lassen, 
welche  zumeist  eine  Abgrenzung  beider  Gebiete  von  einander  er- 
möglichen. Der  Neurasthenie  im  engeren  Sinne  fehlen  die  Lähmungen, 
die  Anaesthesien,  die  Krämpfe,  die  Dämmerzustände;  an  ihrer  Stelle 
begegnen  wir  den  Zwangsvorstellungen,  Zwangsgefühleu  und  Zwangs- 
impulsen. Die  ti-aumatische  Neui'ose  nähert  sich  in  ersterer  Be- 
ziehung der  Hysterie,  aber  ihr  Krankheitsbüd  ist  weit  einförmiger; 
die  ungünstig  ausgehenden  Fälle  ähneln  sehr  den  schweren,  fort- 


Hysterisches  Irresein . 


503 


schreitenden  formen  der  Hysterie.  Zwischen  der  Constitution  eilen 
psychischen  Depression  und  der  hysterischen  Veranlagung  giebt  es 
fliessende  Uebergänge. 

Auch  für  die  Abgrenzung  der  Hysterie  gegenüber  dem  epi- 
leptischen Irresein  ergeben  sich  Schwierigkeiten.  Vielfach  ermöglicht 
freilich  schon  die  Beobacbtung  des  einzelnen  Krampfanfalles  die  Unter- 
scheidung. Beim  hysterischen  Anfall  ist  das  Bewusstsein  nicht  so 
tief  getrübt  wie  beim  epileptischen;  es  kommt  daher  auch  fast  nie 
zu  dem  plötzlichen,  rücksichtslosen  Hinstürzen,  zu  ernsthaften  Ver- 
letzungen und  zum  Zungenbiss.  Ferner  pflegt  der  hysterische  Anfall 
eine  viel  gi'össere  Mannichfaltigkeit  in  seiner  Ausbildung  zu  besitzen, 
als  der  fast  immer  gleichförmige  epileptische  Insult.  Tonische  und 
klonische  Muskelconti^actionen  des  ganzen  Körpers  und  einzelner 
Theile,  Zwerchfellkrcämpfe,  Opisthotonus  („arc  de  cercle"),  Jactation, 
Herumrollen  an  der  Erde,  Purzelbcäume  und  ähnliche,  mehr  an  will- 
kürliche Actionen  erinnernde  Bewegungen  wechseln  miteinander, 
selbst  bei  demselben  Anfalle,  öfters  in  verschiedenartiger  Weise  ab. 
EndHch  stehen  die  hysterischen  Krämpfe  in  besonderem  Masse  unter 
dem  Einflüsse  äusserer  Einwirkungen.  Nicht  selten  gelingt  es,  sie 
durch  Gemüthsbewegungen  hervorzurufen  und  sie  durch  sehr  inten- 
sive Reize  abzukürzen  oder  völlig  zu  coupiren.  Dennoch  giebt  es 
zwischen  beiden  Krampfformen  unzweifelhaft  eine  Reihe  von  Ueber- 
gängen,  welche  bekanntlich  zur  Aufstellung  des  Zwischengebietes 
der  ,.Hysteroepilepsie"  geführt  haben. 

Recht  unsicher  kann  die  Unterscheidung  der  hysterischen  und 
epileptischen  Dämmerzustände  ausfallen.  Im  Allgemeinen  lässt  sich 
nur  sagen,  dass  die  letzteren  besonders  häufig  mit' sehr  intensiven 
AngstanfäUen  und  der  Neigung  zu  brutalen,  gewaltthätigen  Reactionen 
einhergehen,  während  die  hysterischen  Dämmerzustände  in  der  Regel 
ruhiger,  theatralischer,  weniger  impulsiv  zu  verlaufen  pflegen.  Das 
Verhalten  der  Erinnerung  ist  in  beiden  Eällen  ein  wechselndes.  Bei 
längerer  Beobachtung  wird  sich  übrigens  auf  G-rund  anderweitiger 
Anhaltspunkte,  aus  dem  Vorhandensein  der  hysterischen  Stigmata, 
aus  der  Art  der  Krampfanfälle,  soAvie  auch  aus  dem  gesammten 
psychischen  Verhalten  der  Kranken  regelmässig  .eine  Abgrenzung 
ermöglichen  lassen.  Dem  hysterischen  Charakter  ist  die  sprunghafte 
Launenhaftigkeit,  der  rasche  Wechsel  der  Stimmung,  die  Abhängig- 
keit von  äusseren  Beeinflussungen  eigenthümlich,  Avährend  bei  dem 


504 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Epileptiker  die  rohe  Zommüthigkeit,  der  bornirte  Eigensinn  und 
eine  gewisse  selbständige  Periodicität  der  Zustände  in  den  Vorder- 
grund tritt.  Zudem  pflegt  bei  letzterem  die  geistige  Schwäche  meist 
häufiger  und  hochgradiger  zu  sein,  als  dort. 

Da  die  wahren  inneren  Ursachen  der  Hysterie  wol  nur  in  ge- 
ringem Masse  einer  prophylaktischen  Therapie  durch  eine  gesundheits- 
gemässe,  einfache  Erziehung  zugänglich  sind,  so  wird  die  Behand- 
lung des  Leidens  zunächst  darauf  ausgehen,  wenigstens  die  aus- 
lösenden Ursachen  nach  Möglichkeit  zu  beseitigen.  Dabei  können 
allerlei  körperliche  Störungen,  namentlich  solche  der  Yerdauungs- 
organe  und  des  Genitalsystems,  in  Betracht  kommen.  Gerade  dieses 
letztere  hat  von  jeher  den  Hauptangriffspunkt  der  Heilbestrebungen 
bei  der  Hysterie  gebildet.  In  der  That  übt  die  Beseitigung  greif:- 
barer  Veränderungen  an  den  Genitalien  bisweilen  einen  sehr  günstigen 
Einfluss  auf  die  Krankheitserscheinungen  aus.  Freilich  wird J  man 
dabei  gut  thun,  sich  hinsichtlich  der  Dauer  der  erzielten  Besserungen 
keinen  allzu  sanguinischen  Hoffnungen  hinzugeben.  Andererseits 
können  die  genannten  Eingriffe  unter  Umständen  auch  entschiedene 
Verschlechterungen  des  Zustandes  zur  Folge  haben. 

In  neuerer  Zeit  ist  man  sogar  vor  sehr  eingreifenden  Operationen, 
bis  zur  Castration,  nicht  zurückgeschreckt,  um  auf  diese  Weise  den 
Hysterischen  Hülfe  zu  bringen.  "Wie  es  scheint,  ist  dieses  schneidige 
Vorgehen,  welches  selbst  zur  Entfernung  ganz  gesunder  Ovarien 
fortgeschritten  ist,  in  einzelnen  Fällen  von  günstigem  Erfolge  ge- 
krönt worden,  namentlich  dann,  wenn  die  Störungen  einen  gewissen 
Zusammenhang  mit  der  Menstruation  darboten.  Allerdings  liegen 
andererseits  sichere  Anhaltspunkte  dafür  vor,  dass  vielfach  der 
psychische  Eindruck  der  Operation  wirksamer  war,  als  der  chirurgische 
Effect  derselben.  Endlich  aber  hat  sich  gezeigt,  dass  nur  zu  häufig 
jener  Erfolg  keinen  dauernden  Bestand  hatte,  oder  dass  die  Ver- 
stümmelung sogar  schwere  Depressionszustände  nach  sich  zog.  Eine 
sichere  und  allseitig  anerkannte  Feststellung  der  Indicationen  füi' 
die  Castrationstherapie  der  Hysterie  und  namentlich  des  hysterischen 
Irreseins  ist  bisher  nicht  erreicht  worden.  Wahrscheinlich  dürfte 
dieselbe  im  Laufe  der  Zeit  kaum  eine  andere  praktische  Bedeutung 
gewinnen,  als  diejenige  eines  ultimum  refugium,  zu  welchem  man 
greifen  kann,  wenn  aUe  anderen  Mittel  erschöpft  sind  und  wenn 
die  Neurose  Leben  und  Genussfähigkeit  in  so  hohem  Grade  be- 


Hysterisches  Irresein. 


505 


einträchtigt,  dass  gegenüber  der  Möglichkeit  der  Bessenmg  des  Zu- 
standes  die  Unannehmlichkeiteu  und  Gefabren  einer  Operation  gänz- 
üch  in  den  Hintergrund  treten. 

In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  wird  man  sich  darauf 
beschränkt  sehen,  die  Erscheinungen  des  hysterischen  Irreseins 
zu  bekämpfen.  Einer  besonderen  Yerbreitung  hat  sich  für  diesen 
Zweck  bei  den  leichteren  hypochondrischen  Formen  mit  Lähmungen, 
Schlaflosigkeit,  Verdauungsstörungen  und  starker  Abmagerung  die 
TVeir  Mitchellsche  Mastcur*)  zu  erfreuen  gehabt,  mit  um  so 
grösserem  Eechte,  als  sie  durch  Bekämpfung  der  genannten  Symptome 
der  Hysterie  zum  Theil  auch  gleichzeitig  die  Quellen  verstopft,  aus 
denen  die  Krankheit  immer  wieder  neue  Nahrung  zieht.  Die  Erfolge 
dieser  Cur,  welche  sich  allerdings  nur  für  eine  gewisse  Gruppe 
durch  den  Yersuch  zu  erprobender  Fälle  eignet,  sind  ganz  ausser- 
ordentliche; selbst  nach  10 — 20jähriger  Dauer  schwerer  Erscheinungen 
gelang  es  doch  bisweilen,  eine  durchgreifende  Besserung  aller  der 
angeführten  Störungen  bis  zum  völligen  Verschwinden  derselben 
herbeizuführen. 

Leider  ist  jedoch  immerhin  die  Zahl  jener  Fälle  nur  allzu  gross, 
in  denen  von  der  Mastcur  ein  Heüergebniss  nicht  erwartet  werden 
kann.  Dahin  gehören  namentlich  die  Formen  mit  sehr  ausgeprägten 
psychischen  Störungen,  mit  denen  es  der  Irrenarzt  vor  Allem 
zu  thun  hat.  Abgesehen  von  denjenigen  Massregeln,  welche  durch 
die  gelegentlichen  psychischen  Gleichgewichtsschwankungen  selbst 
gefordert  werden,  wird  man  indessen  auch  hier  auf  eine  Verbesserung 
der  allgemeinen  Körperconstitution  durch  die  Sorge  für  zweckmässige 
Ernährung,  für  ausreichende  Bewegung  in  frischer  Luft  und  ge- 
nügenden Schlaf  sein  Augenmerk  zu  richten  haben.  Demselben 
Zwecke  dienen  ferner  Bäder  mit  kühlen  Ueberrieselungen,  Massage, 
Gymnastik,  allgemeine  Faradisation.  Von  Medicamenten  kommt  als 
Beruhigungs-  und  Schlafmittel  namentlich  das  Bromkalium  in  Be- 
tracht, ferner  bei  der  geAvöhnlich  anaemischen  Körperconstitution 
etwa  das  Eisen  und  zur  Coupirung  leichterer  „Anfälle"  die  Tinctura 
Valerianae,  Aqua  Laurocerasi  u.  dergl.  Ausserdem  können  auch 
noch  manche  der  übrigen  Schlafmittel  hie  und  da  in  Frage  kommen, 
doch  soll  man  mit  letzteren  möglichst  sparsam  sein.  Das  Morphium 


*)  Burkart,  Volkmanns  Klinische  Vorträge,  245. 


506 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


führt  bei  Hysterischen  ausserordentlich  leicht  zur  Gewöhnung  und 
niuss  daher  unter  allen  Umständen  vermieden  werden.  Die  Krampf- 
anfälle und  die  Dämmerzustände  lassen  sich  durch  kalte  TJeber- 
giessungen  oder  durch  den  faradischen  Pinsel  nicht  selten  wesentlich 
abkürzen. 

Den  bei  weitem  wichtigsten  Theil  der  Behandlung  Hysterischer 
bildet  indessen  die  psychische  Einwirkung.  Sehr  häufig  liegen 
in  der  Umgebung  der  Kranken,  wie  sie  sich  von  selber  oder  unter 
deren  Einflüsse  gestaltet  hat,  oder  in  der  ganzen  Lebensführung 
Schädlichkeiten,  welche  immer  von  Neuem  das  Entstehen  der  krank- 
haften Erscheinungen  begünstigen.  In  allen  schwereren  Fällen  kann 
daher  eine  Cur  Hysterischer  erfolgTeich  nur  dann  durchgeführt 
werden,  wenn  sie  vollständig  aus  ihren  bisherigen  Verhältnissen 
entfernt  und  bedingungslos  in  die  Hände  des  Arztes  gegeben  werden. 
Nichterfüllung  dieser  wichtigsten  Voraussetzung  führt  fast  regel- 
mässig zu  Misserfolgen.  Eür  die  weitere  psychische  Einwirkung 
lassen  sich  allgemeine  Vorschriften  kaum  entwerfen,  da  sie  sich  in 
jedem  Falle  der  besonderen  Eigenthümlichkeit  der  Kranken  an- 
zupassen hat.  Ohne  jeden  Zweifel  beruhen  die  Erfolge,  welche  hier 
durch  die  verschiedensten  Methoden,  durch  elektrische  und  diätetische 
Curen;  durch  Hydro-,  Metallo-,  Klimatotherapie,  von  Naturärzten, 
Homöopathen  und  Magnetiseuren  erzielt  werden,  wesentlich  oder  voll- 
ständig auf  dem  Grlauben  der  Kranken.  Diese  Erfahrung  muss  die 
Richtschnur  des  gesammten  ärztlichen  Handelns  bei  Hysterischen 
bilden.  Es  ist  daher  für  den  Arzt  vor  Allem  nothwendig,  sich  das 
unerschütterliche  Vertrauen  und  damit  die  unerlässliche  Autorität 
über  die  Kranken  zu  verschaffen,  ein  Ziel,  welches  nicht  durch 
barsches  und  rechthaberisches  Entgegentreten,  sondern  nur  durch 
ruhiges,  ernstes,  aber  stets  wohlwollendes  und  nicht  kleinhches  Fest- 
halten an  dem  einmal  aufgestellten  Behandlungsplane  erreicht  wird. 
Das  feste  Vertrauen  der  Kranken,  dass  ihnen  geholfen  werden  wird, 
ist  das  mächtigste  therapeutische  Hülfsmittel  in  der  Hand  des  Arztes 
und  lässt  ihn  oft  genug  durch  die  unbedeutendsten,  ja  scheinbar 
unsinnigsten  Eingriffe  die  weittragendsten  Erfolge  erringen.  Seinem 
Tacte  und  seiner  persönlichen  Gewandtheit  ist  somit  hier  ein  Spiel- 
raum überlassen,  wie  bei  keiner  andern  Form  psychischer  Er- 
krankungen. Dass  unter  diesen  Umständen  auch  mit  Hülfe  der 
hypnotischen  Suggestion  gute  Resultate  erzielt  werden  können,  liegt  auf 


Epileptisches  Irresein. 


507 


der  Hand;  leider  sind  aber  gerade  die  schwersten  Formen  der  Hysterie 
jener  Methode  der  psychischen  EinAvirkung  oft  nur  in  beschränktem 
Masse  zugänglich.  Je  grösser  die  Suggestibilität,  desto  leichter 
bilden  sich  störende  Eigensuggestionon  und  desto  rascher  wird  der 
Einfluss  der  ärztlichen  Eingebnug  durch  andere  Aviderstrebende 
Vorstellungen  wieder  vernichtet. 

C.  Das  epileptische  Irresein. 

Ungleich  tiefer,  als  die  Neurasthenie  und  Hysterie,  pflegt  die 
epileptische  Neurose*)  in  das  Seelenleben  des  Menschen  einzugTcifen. 
Zwar  ist  uns  aus  der  Geschichte  bekannt,  dass  eine  Reihe  historischer 
Grössen,  namentlich  Eeldherrn  und  Religionsstifter  (Cäsar,  Narses, 
Napoleon  I.,  Muhamed)  an  Epilepsie  gelitten  haben,  allein  diese  Fälle 
sind  als  seltene  Ausnahmen  zu  betrachten,  denen  die  ungeheui-e 
Masse  jener  armen  Kranken  gegenübersteht,  welche  durch  die  Epi- 
lepsie der  psychischen  Entartung  entgegengeführt  werden.  Zudem 
lassen  sich  auch  bei  jenen  hervorragenden  Persönlichkeiten  fast 
immer  wenigstens  einige  Züge  nachweisen,  welche  auf  eine  gewisse 
Yerwandtschaft  mit  dem  klinischen  Bilde  des  epileptischen  Irreseins 
hindeuten. 

Die  häufigste  und  am  meisten  charakteristische  Yeränderung, 
welche  die  Epilepsie  allmählich  im  Menschen  zu  erzeugen  pflegt,  ist 
eine  erhöhte  gemüthliche  Reizbarkeit  mit  der  Neigung  zu 
heftigen  Affectausbrüchen  und  unüberlegten,  brutalen  Ge- 
waltthätigkeiten.  Die  Kranken  sind  für  gewöhnlich  oft  gutmüthig, 
hülfsbereit,  wenn  auch  stets  ausgeprägte  Egoisten.  Bei  jedem  Conflict 
aber  zeigen  sie  sich  äusserst  empfindlich,  jähzornig,  machen  dann 
wegen  irgend  einer  Kleinigkeit  lebensgefährliche  Angriffe,  mag  es 
ausgehen  wie  es  will.  Eine  ihnen  vermeintlich  oder  wirklich  zu- 
gefügte Beleidigung  können  sie  sehr  lange  Zeit  hindurch  nicht  wieder 
vergessen,  gerathen  bei  jeder  Erinnerung  daran  leicht  wieder  in 
Wuth  und  suchen  sich  in  irgend  einer  Weise  dafür  zu  rächen.  Ganz 
besonders  leicht  treten  schwere  "Wuthanfälle  auf,  wenn  sie  sich  unter 
dem  Einflüsse  des  Alkohols  befinden,  der  ja  ohnehin  die  siebartige 


*)  Gowers,  on  epilepsy  and  other  chronic  diseases.  1881;  Fere,  les  epilepsies 
et  les  epileptiques.  1890. 


508 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Entladung  von  Affectzuständeü  in  hohem  Masse  begünstigt.  .  Ja,  die 
Mehrzahl  der  sog.  pathologischen  Rauschzustände  dürfte  nichts  anderes 
sein,  als  die  besondere  Reaction  eines  epileptisch  veranlagten  Gehii'ns 
auf  die  acute  Alkoholvergiftung.  Auf  der  andern  Seite  besteht  viel- 
fach ein  unglaublich  hartnäckiger,  bornirter  Eigensinn,  der  den 
Kranken  allen  TJeberredungsversuchen  gegenüber  taub  macht  und 
ihn  mit  der  grössten  Rücksichtslosigkeit  eine  einmal  gefasste  Idee 
festhalten  und  durchführen  lässt. 

In  innigem  Zusammenhange  mit  dieser  Entartung  des  Charakters 
steht  eine  ebenso  allmählich  sich  herausbildende  Abschwächung  der 
Intelligenz.  In  leichten  Fällen  allerdings  tritt  diese  Störung  oft 
wenig  hervor,  ja  sie  kann  sogar  vollkommen  fehlen;  allein  bei 
schwerer  und  länger  dauernder  Epilepsie  wird  man  sie  doch  nur 
selten  vermissen.  Die  Orientirung,  die  Besonnenheit  und  der  Zu- 
.sammenhang  des  Gredankenganges  bleibt  vollständig  erhalten,  aber 
die  geistige  Regsamkeit  geht  allmählich  verloren.  Der  Kranke  ver- 
mag keine  wesentlich  neuen  Erfahrungen  mehr  in  sich  aufzunehmen 
und  zu  verarbeiten,  sondern  bewegt  sich  mit  Vorliebe  in  gewohnten 
Bahnen.  Stehende  Redensarten,  Gremeinplätze,  Bibel verse,  Sprich- 
wörter pflegen  daher  eine  grosse  Rolle  in  seinen  Aeusserungen  zu 
spielen.  Ihm  fehlt  jener  Ueberblick  über  die  Lebenserfahrungen, 
welcher  uns  befähigt,  überall  das  "Wichtige  von  dem  Nebensächlichen 
zu  trennen  und  einen  Gedankengang  geradeswegs  einem  bestimmten 
Ziele  zuzuführen.  So  kommt  gerade  liier  ein  sehr  häufiges  und 
eigenartiges  Symptom  zu  Stande,  die  "Weitschweifigkeit  der  Epi- 
leptiker. Bei  jeder  Erzählung  beginnt  der  Kranke  mit  Daten,  deren 
Beziehung  zur  Frage  zunächst  kaum  erkennbar  ist,  und  er  häuft 
dabei  an  jedem  Punkte  eine  solche  Menge  von  ganz  gleichgültigen 
Nebenumständen,  dass  seine  Darstellung  schlechterdings  nicht  von 
der  Stelle  zu  rücken  scheint.  Jeder  Versuch,  ihn  durch  Zwischen- 
fragen zu  einer  rascheren  Entwickelung  des  "Wesentlichen  zu  ver- 
anlassen, pflegt  zu  scheitern;  der  Kranke  nimmt  den  Faden  einfach 
an  der  unterbrochenen  Stelle  wieder  auf.  Dabei  verliert  er  jedoch 
niemals  den  Zusammenhang.  Im  Gegensatze  zu  dem  Ideenflüchtigen, 
den  jede  Ablenkung  sofort  den  Ausgangspunkt  völhg  vergessen  lässt, 
kommt  der  Epileptiker  immer  schliesslich  zum  Ziel,  freilich  erst 
nach  ganz  unerhörten  Umschweifen.  Dem  entspricht  die  Erfahrung, 
dass  die  Erzählungen  unserer  Kranken  vielfach  in  allen  Ausdrücken 


Epileptisches  Irresein. 


509 


und  Wendungen  stereotyp  sind;  der  Yorstellungsverlauf  schlängelt 
sich  jedesmal  durch  die  gleichen  gewundenen  Pfade,  und  er  muss 
es  thun,  um  überhaupt  sein  Ziel  zu  erreichen. 

Hand  in  Hand  mit  dieser  stereotypen  "Weitschweifigteit  geht 
regelmcässig  eine  fortschreitende  Verarmung  des  Vorstellungs- 
schatzes. Das  Gedächtniss  für  vergangene  Zeiten  leidet  in  er- 
heblichem Masse;  eine  grosse  Zahl  von  Erfahrungen  des  früheren 
Lebens  geht  dem  Kranken  spurlos  wieder  verloren,  und  nur  die- 
jenigen Vorstellungskreise  bleiben  sein  dauerndes  Eigenthum,  die 
sich  durch  immerwährende  Wiederholung  fest  und  unverrückbar 
fixirt  haben.  Bisweilen  kommt  es  zu  fabulirenden  Erzählungen,  die 
von  dem  Kranken  stets  in  derselben  Weise  wieder  vorgebracht  und 
schliesslich  auch  wol  von  ihm  selbst  geglaubt  werden.  In  einzelnen 
Eällen  werden  wirkliche  Erinnerungstäuschungen  beobachtet,  indem 
sich  den  Kranken  vor  den  Anfällen  oder  auch  dauernd  die  Vor- 
stellung aufdrängt,  als  hätten  sie  die  gegenwärtige  Situation  schon 
einmal  durchlebt.  Bei  sehr  hochgradiger  Ausbildung  des  epileptischen 
Schwachsinns  kann  schliesslich  die  Fähigkeit,  neue  Erfahrungen  zu 
sammeln,  vollständig  verloren  gehen,  so  dass  der  Kranke  nur  noch 
über  einen  kleinen,  allmählich  immer  mehr  einschrumpfenden  Vor- 
rath von  Ideen  verfügt.  Im  Gegensatze  zu  anderen  Formen  des 
erworbenen  Schwachsinns  ist  er  jedoch  im  Stande,  sich  innerhalb 
dieses  kleinen  Kreises  von  Vorstellungen  noch  klar  und  zusammen- 
hängend zu  bewegen,  wenn  es  sich  auch  dabei  zumeist  nur  um  die 
ständige  Wiederholung  derselben  Gedankengänge  und  Wendungen 
handelt. 

Es  ist  natürlich,  dass  bei  der  Verarmung  des  Vorstellungs- 
schatzes nach  und  nach  die  Bedeutung  des  eigenen  Ich  in  der 
Weltanschauung  der  Kranken  ausserordentlich  anwachsen  muss.  So 
kommt  es,  dass  die  Kranken,  je  weiter  der  Schwachsinn  gediehen 
ist,  um  so  mehr  in  ihrem  Selbstgefühle  wachsen,  und  dass  schliess- 
lich der  Inhalt  ihrer  Reden  sich  wesentlich  auf  die  Lobpreisung  der 
eigenen  Person  und  alles  dessen,  was  mit  ihr  zusammenhängt, 
namentlich  auch  der  übrigen  Familienglieder,  beschränkt.  Gleich- 
zeitig beobachtet  man  bei  ihnen  eine  auffallende  Euphorie  gegenüber 
ihrer  Krankheit.  Sie  meinen  nach  jedem  Anfall,  derselbe  sei  nur 
noch  ganz  klein  gewesen;  sie  seien  nun  bald  ganz  gesund,  fühlen 
sich,  Gott  sei  Dank,  recht  wohl.  Ausserdem  sind  es  religiöse  Vor- 


510 


IX.  Die  allgemeiaen  Neurosen. 


Stellungen,  welche  mit  ungemeiner  Vorliebe  cultivirt  zu  werden 
pflegen.,  Sei-  es,  class  bisweilen  eigenthümliche ,  mit  den  Anfällen 
verbundene  Sensationen  die  Idee  einer  göttlichen  Beeinflussung  nahe 
legen,  sei  es,  dass  bei  den  hülf losen  Kranken  die  Idee  einer  Er- 
lösung durch  übernatüi-liche  Macht  einen  besonders  günstigen  Boden 
findet  —  sehr  häufig  glauben  sie,  zum  Himmel  in  einem  vorzugs- 
weise innigen  Verhältnisse  zu  stehen,  weil  sie  immer  so  brav  ge- 
wesen sind  und  immer  so  üeissig  gebetet  haben. 

,  Auch  in  ihrem  Benehmen  können  die  Kranken  trotz  hoch- 
gradigster geistiger  Schwäche  dauernd  dui'chaus  geordnet  bleiben. 
Sie  beschäftigen  sich  mit  irgend  einer  Arbeit,  schreiben  zusammen- 
hängende, aber  inhaltslose  und  stereotype  Briefe,  begrüssen  den 
Arzt,  vielfach  sogar  mit  einer  gewissen  umständlichen  Höflichkeit, 
kleiden  sich  correct  und  halten  auf  Ordnung  und  Herkommen,  geben 
allen  Vorgesetzten  in  Anrede  und  Titel  die  Ehre,  die  ihnen  nach 
ihrem  Dafürhalten  gebührt.  Oefters  entwickelt  sich  bei  ihnen  ein 
etwas  theatralisch  gespreiztes  Wesen  und  eine  eigenthümlich  ver- 
zwickte Redeweise.  Einer  meiner  Kranken  sprach  von  dem  „immer 
allgegenwärtigen,  verzweifelten  Täuschungssinn." 

Die  im  Vorstehenden  geschilderte  chronische  Entartung  der 
Epileptiker  ist  in  den  einzelnen  Fällen  ausserordentlich  verschieden 
ausgebildet.  Häufig  nur  leise  angedeutet  oder  nur  bei  besonderen 
Gelegenheiten  erkennbar,  beherrscht  sie  in  andern  Fällen  das  Krank- 
heitsbild derartig,  dass  die  Diagnose  der  Epilepsie  ohne  Weiteres 
schon  aus  der  Eigenart  des  Schwachsinns  abgeleitet  werden  kann, 
wie  es  mir  häufig  gelungen  ist.  Sie  bildet  die  Grundlage,  auf 
welcher  sich  eine  Reihe  mehr  episodischer  Störungen  entwickeln  können, 
deren  gemeinsame  Eigenthümlichkeit  in  ihrer  selbständigen,  von 
äusseren  Einflüssen  unabhängigen  Periodicität  liegt. 

Zunächst  haben  wir  dabei  jener  vielleicht  keinem  Epileptiker 
fehlenden  Gleichgewichtsschwankungen  zu  gedenken,  welche  ohne 
auffallende  Bewusstseinstrübung  mit  den  Anzeichen  einer 
starken  gemüthlichen  Spannung  einhergehen.  Die  Kranken  werden 
plötzlich  finster,  mürrisch,  ziehen  sich  zurück,  grüssen  nicht,  bleiben 
von  der  Arbeit  weg,  oder  sie  beginnen  zu  quernliren,  zu  schimpfen,  ihre 
Entlassung  zu  verlangen,  sich  in  stehenden  Wendungen  über  eine 
längst  erlittene  Benachtheiligung  zu  beklagen.  Dabei  sind  sie  regel- 
mässig sehr  reizbar,  drohend,  gerathen  leicht  mit  ihrer  Umgebung  in 


Epileptisches  Irresein. 


511 


Streit  und  schlagea  bei 'dem  geringsten  Anlasse  brutal  drauf  los.  Hie 
und  da  stellen  sich  auch  einzelne  Verfolgungsideen  und  deutliche 
Gehörstäuschungen  ein.  .  Man  will  ihnen  ans  Leben,  sie  heimlich 
überfallen  und  zerstückeln.  Einer  meiner  Kranken  erklärte  sich 
gerne  bereit,  sich  von  den  Aerzten  ordnungsmässig  hinrichten  zu 
lassen,  protestirte  aber  gegen  die  vermeintlichen  Absichten  der 
andern  Patienten,  ihn  hinterrücks  niederzumachen.  Er  sass  daher, 
heimlich  mit  selbstverfertigten,  recht  gefährlichen  Waffen  ausgerüstet, 
die  ganze  Nacht  -fachend  im  Bett,  um  sein  Leben  so  theuer  Avie 
möglich  zu  verkaufen.  Nach  einem  oder  wenigen  Tagen  pflegen 
diese  Zustände  ebenso  rasch  zu  schwinden,  wie  sie  gekommen  sind. 
Der  Kranke  ist  wieder  zugänglich,  gutmüthig,  harmlos,  will  nichts 
mehr  von  den  „Yeriolgungen"  wissen,  lacht  über  seine  „Einbildungen". 

Ungemeiii  häufig  nehmen  die  gemüthlichen  Schwankungen  der 
Epileptiker  die  Form  innerer  Beängstigungen  an.  Ohne  irgend 
welchen  Anlass  wird  es  den  Kranken  plötzlich  schwer  ums  Herz;  es 
steigen  ihnen  traurige  Gedanken,  trübe  Ahnungen,  Yersündigungs- 
ideen  auf.  Ihr  Leben  ist  verpfuscht;  es  ist  Alles  umsonst;  sie  haben 
den  Kelch  verunreinigt,  sind  unbussfertig  gewesen.  Meist  gesellt 
sich  auch  das  Gefühl  von  Benommenheit  und  Druck  im  Kopf  hinzu, 
Erschwerung  des  Denkens  und  innere  Unruhe.  Sie  sind  dann  un- 
fähig zu  arbeiten,  beginnen  entweder  zu  beten,  oder  sie  laufen  planlos 
heriun,  greifen  zum  Alkohol,  machen  einen  impulsiven  Selbstmord- 
versuch, über  dessen  Beweggründe  und  Ausführung  sie  sich  später 
oft  selbst  keine  Kechenschaft  zu  geben  vermögen.  Auch  diese 
Störangen  pflegen  einige  Stunden  oder  Tage  nicht  zu  überdauern. 

Seltener  ist  das  anfallsweise  Auftreten  expansiver  oder 
ekstatischer  Stimmungen.  Die  Kranken  werden  erregt,  laufen  mit 
glänzenden  Augen,  geröthetem  Kopfe  und  freudig  gehobenem  Ge- 
sichtsausdrucke  herum,  springen  und  jauchzen,  begehen  allerlei 
muthwillige  Streiche,  Averfen  Alles  durcheinander,  necken  die  Mit- 
patienten, beten  laut  und  pathetisch,  äussern  auch  wol  religiöse 
Grössenideen  oder  prahlen  mit  hoher  Abkunft  und  vornehmer  Ver- 
wandtschaft. Ideenflucht  scheint  dabei  nicht  vorzukommen,  wol 
aber  grosse  gemüthliche  Keizbarkeit  mit  Neigung  zu  raschen  Gewalt- 
akten.   Die  Dauer  ist  meist  eine  kurze. 

In  der  Regel  zeigen  die  einzelnen  Anfälle  bei  dem  gleichen 
Kranken  eine  ausserordentliche  üebereinstimmung  untereinander. 


512 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Man  bemerkt  sofort  an  einer  bestimmten  Redensart,  einer  kleinen 
Aenderung  im  Benehmen,  im  Gesichtsausdruck,  dass  wieder  etwas 
im  Gange  ist,  dass  „ein  schlechter  Wind  weht".  Die  gleichen  Klagen, 
die  gleichen,  oft  corrigirten  Wahnideen  kehren  wieder,  die  gleichen 
Antriebe  und  Handlungen,  um  der  inneren  Erregung  einen  Ausweg 
zu  schaffen.  Freilich  giebt  es  auch  unvollkommene  Anfälle,  in 
denen  die  gewöhnlichen  Erscheinungen  nur  theilweise  oder  nur  in 
schwachen  Andeutungen  ausgebildet  sind  oder  sehr  rasch  wieder 
vorübergehen.  Die  Zwischenzeiten  zwischen  den  .Anfällen  sind 
bisweilen  ganz  regelmässige,  so  dass  man  den  Eintritt  der  Er- 
scheinungen mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  vorhersagen  kann. 
Meist  jedoch  wechseln  die  Intervalle;  zeitweise  kann  es  zu  einer 
Häufung  der  Störungen  kommen.  Durchschnittlich  pflegen  sich  die- 
selben etwa  alle  paar  Wochen  Oder  Monate  einzustellen,  in  einzebaen 
Fällen  auch  wol  nur  ein  oder  zwei  Mal  im  Jahre. 

Die  zweite  grosse  Gruppe  der  periodischen  psychischen  Zufälle 
bei  Epileptikern  zeigt  uns  eine  mehr  oder  weniger  tiefe  Trübung 
des  Bewusstseins.  Wir  können  bei  ihrer  Schilderung  ausgehen 
von  der  schweren  Bewusstseiosstörung,  welche  regelmässig  den 
epileptischen  Krampfanfall  begleitet.  Die  Auffassung  äusserer  Ein- 
drücke und  der  Vorstellungsverlauf  stocken,  und  an  Stelle  der 
Willenshandlungen  treten  automatische,  unwillkürliche  Muskelcon- 
tractionen  (tonische  und  klonische  Krämpfe).  Weiterhin  aber  können 
diese  Krampfbewegungen  in  dem  Bilde  des  epileptischen  Anfalles 
auch  vollkommen  fehlen,  so  dass  einzig  die  Bewusstseinsstörung  den 
wesentlichen  Zug  desselben  ausmacht  (psychische  Epilepsie). 
Uebergangsformen  büden  jene  Fälle,  in  denen  sich  der  Krampf  nur 
durch  ein  leichtes  Verdrehen  der  Augen,  rasch  vorübergehende  starre 
Haltung,  einige  eigenthümliche,  stereotype  Bewegungen,  krampfhaftes 
Lachen  gerade  noch  andeutet.  Die  einfachsten  Erscheinungen  der 
psychischen  Epüepsie  sind  leichte  SchAvindelanf alle  (petit  mal), 
Ohnmächten,  Schlafparoxysmen  oder  momentane  Bewusst- 
losigkeit  (absence).  Im  letzteren  FaUe  bricht  der  Kranke  vielleicht 
plötzlich  in  seiner  Beschäjftigung,  in  der  Unterhaltung  ab  und  ver- 
harrt regungslos  in  der  eingenommenen  Stellung,  um  nach  wenigen 
Secunden  ohne  Bewusstsein  des  Vorgefallenen  fortzufahren,  als  ob 
nichts  geschehen  wäre.  Bisweilen  gehen  diesen  verschiedenartigen, 
meist  sehr  rasch  verlaufenden  Anfällen  auraähnKche  Empfindungen 


Epileptisches  Irresein. 


513 


Toran.  Während  der  länger  dauernden  psychischen  Anfälle  Avird 
häufiger  ausgeprägte  Dikrotie  des  Pulses  (Erschlaffung  der  Arterien- 
wand) beobachtet. 

Vielfach  gewinnt  die  Bewusstseinstrübung  im  epileptischen  An- 
falle insofern  eine  grössere  Selbständigkeit,  als  sie  entweder  schon 
Tor  dem  Beginne  der  Krämpfe  einsetzt  oder  häufiger  das  Ende 
derselben  überdauert.  Auf  diese  Weise  entstehen  jene  Dämmer- 
zustände, die  man  als  prae-  oder  post-epileptisches  Irresein 
zu  bezeichnen  pflegt.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  beschränken  sich 
dieselben  auf  eine  leichte,  rasch  Torübergehende  Benommenheit. 
Die  Kranken  verstehen  die  an  sie  gerichteten  Fragen  nicht  und 
vermögen  nicht  zu  antworten;  sie  wissen  nicht  recht,  wo  und  in 
welcher  Lage  sie  sich  befinden,  verkennen  die  Personen,  suchen 
sich  zu  entkleiden,  legen  sich  ins  Bett,  machen  Gehbewegungen,  wie 
um  eine  Treppe  zn  ersteigen,  stecken  allerlei  erreichbare  Gegen- 
stände in  die  Tasche.  Unzweifelhaft  finden  dabei  nicht  selten  leb- 
hafte Sinnestäuschungen  statt.  Ganz  ähnliche  Störungen  können 
auch  unabhängig  von  den  Krampfanfällen,  als  psychische  Epilepsie 
auftreten.  Es  handelt  sich  dabei  um  Anfälle  von  traumhaften 
Hallucinationen  oder  triebartigem  Davonlaufen,  von  momentaner 
Verwirrtheit  mit  verkehrten  Handlungen,  zusammenhangslosen  Eeden 
u.  s.  f.,  aus  denen  die  Kranken  nach  kurzer  Zeit  ohne  Erinnerung 
an  das  Vorgefallene  wie  aus  einem  Traume  erwachen,  sehr  ver- 
wundert, sich  in  der  inzwischen  entstandenen  Situation  wieder- 
zufinden. Ein  junges  Bauemmädchen  lief  in  einem  solchen  Anfalle 
beim  Mähen  in  einen  Bach,  dabei  immer  noch  rüechanisch  die  Be- 
wegung des  Mähens  fortsetzend.  Später  legte  sie  in  einem  ähnlichen 
Zustande  zweimal  Feuer  an  (sehr  häufig  bei  jugendlichen  Epileptikern !) 
und  verübte  eine  Reihe  von  Diebstählen,  indem  sie  alle  Gegenstände, 
die  ihr  unter  die  Hände  kamen,  in  einem  versteckten  Winkel  zu- 
sammentrug. Ein  anderer  Kranker  zündete  sein  Bett  an,  in  der 
Absicht,  sich  Kaffee  zu  kochen.  In  manchen  Fällen  tritt  eine  ge- 
wisse sexuelle  Erregung  stärker  in  den  Vordergrund.  Die  Kranken 
masturbiren,  selbst  coram  publice,  entblössen  ihre  Genitalien  auf  der 
Strasse,  begehen  geschlechtliche  Attentate.  Nicht  so  selten  geben 
derartige  Zustände  bei  Soldaten  Veranlassung  zu  ärztüchen  Ex- 
plorationen, da  in  ihnen  leicht  Insubordinationsvergehen,  auch  Deser- 
tionen begangen  werden. 

Kraopelin,  Psychiatrie.   4.  Aufl.  33 


514 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Als  leichteste  Formen  dieser  Dämmerzustände  können  wir  viel- 
leicht das  Nachtwandeln  bezeichnen.  Andeutungen  desselben 
(lautes  Sprechen  im  Schlaf,  Aufrichten  und  lebhafte  Bewegungen 
im  Bette)  kommen  allerdings  zweifellos  auch  ohne  epileptische  Grund- 
lage bei  jugendlichen,  nervös  veranlagten  Individuen  zur  Beobachtung- 
Die  Handlungen  der  Kranken  sind  auch  hier  gewöhnlich  sehr  ein- 
fache, durch  vielfache  Gewöhnung  eingeübte;  sie  stehen  auf  aus 
ihrem  Bette,  gehen  im  Zimmer  oder  im  Hause  herum,  zünden  Licht 
an,  schliessen  Thüren  auf  und  zu  u.  dergl.,  um  sich  dann  nach 
kurzer  Zeit  (einige  ]\Iinuten  bis  1/2  Stunde)  meist  wieder  ruhig  ins 
Bett  zu  legen.  Die  Augen  sind  dabei  geschlossen  oder  halb  ge- 
öffnet, starr.  Die  Wahrnehmung  der  Aussenwelt  ist  sehr  beschränkt; 
es  werden  nur  diejenigen  Objecto  bemerkt,  die  der  Kranke  gerade 
vor  sich  hat;  alles  Uebrige  entgeht  ihm.  So  kommt  es,  dass  der 
Nachtwandler  sich  nur  mit  solchen  Gegenständen  zu  beschäftigen 
pflegt,  die  sich  an  ihrem  gewohnten  Platze  befinden;  ein  wirkliches 
planmässiges  „Suchen"  ist  in  diesem  Zustande  kaum  möglich.  Die- 
Auffassung  der  Umgebung  scheint  eine  •  traumhaft  verfälschte  zu 
sein;  der  Nachtwandler,  der  durch  das  Fenster  steigt,  hält  dieses  für 
eine  Thür  u.  s.  f. 

Die  Bewegungen  tragen  meist  den  Charakter  des  Automaten- 
haften an  sich,  gehen  aber  zweifellos  oft  aus  Bewusstseinsvorgängen 
hervor,  da  sie  in  der  Yermeidung  und  Ueberwindung  von  Hinder- 
nissen bisweilen  die  Spuren  einer,  wenn  auch  nur  dunklen,  Ueber- 
legung  verrathen.  Die  Sicherheit,  mit  welcher  Nachtwandler  sich 
manchmal  in  schwierigen  Situationen,  bei  Wanderungen  auf  Dächern 
bewegen,  erklärt  sich  lediglich  aus  der  unvollkommenen  Auffassimg 
ihrer  Lage,  welche  ihnen  die  Gefährlichkeit  derselben  nicht  zum  Be- 
wusstsein  kommen  lässt  und  somit  die  Entstehung  der  ängstlichen 
Affecte  hindert,  durch  die  ja  unsere  Unsicherheit  bei  schwindel- 
erregenden Passagen  bedingt  wird.  In  seltenen  FäUen  erheben  sich 
die  Leistungen  von  Nachtwandlern  über  diese  einfachen  Vorgänge 
hinaus  zu  höheren  psychischen  Yerrichtungen.  Es  werden  Beispiele 
erzählt,  in  denen  man  mit  derartigen  Individuen  lange  Gespräche 
über  gleichgültige  Dinge  führen  konnte,  in  denen  Gedichte  an- 
gefertigt, Kecepte  ausgeführt  und  Aufgaben  gelöst  wurden.  Die 
Analogie  mit  den  hypnotischen  Dämmerzuständen  liegt  hier  sehr  nahe 

Meist  genügen  schon  energisches  Anreden  oder  doch  Anspritzen 


Epileptisches  Irresein. 


515 


mit  kaltem  "Wasser  und  ähnliche  stärkere  Eeize,  um  den  Nacht- 
wandler aus  seinem  Zustande  zu  erwecken.  Aus  nahehegendeu 
Gründen  muss  man  sich  hüten,  das  Erwachen  in  irgend  einer  ge- 
fährlichen Situation  herbeizuführen,  weil  die  sich  sofort  einstellenden 
lebhaften  Affecte  dem  Gefährdeten  die  Sicherheit  der  Bewegung  als- 
bald rauben.  Ausgedehntere  Anfälle  von  Somnambulismus  machen 
sich  am  nächsten  Morgen  beim  Erwachen  gewöhnlich  durch  das  Ge- 
fühl einer  gewissen  Ermattung  und  Abgeschlagenlieit  bemerklich. 
Dabei  ist  die  Erinnerung  an  die  ausgeführten  Handlungen  voll- 
ständig erloschen  und  kann  selbst  durch  die  Wahrnehmung  ihrer 
unzweifelhaften  Spuren  meist  nicht  Avieder  erweckt  werden. 

Wahrscheinlich  ebenfalls  auf  epileptische  Grundlage  zurück- 
zuführen sind  jene  vereinzelten  Beobachtungen,  in  denen  bei  plötz- 
lichem Erwachen  aus  dem  Schlafe  eine  mehr  oder  weniger 
lange  Andauer  der  Bewusstseinstrübung  mit  illusionärer  Verfälschung 
der  Wahrnehmung  besteht.  Die  Erwachenden  glauben  sich,  unter 
Fortspinnen  beängstigender  TraumvorsteUungen,  in  grosser  Gefahr 
und  begehen  in  ihrer  Yerwirrung  bisweilen  äusserst  gefährliche 
Handlungen,  namentlich  Angriffe  auf  Schlafkameraden. 

Die  höchsten  Grade  von  Bewusstseinstrübung  werden  im  epi- 
leptischen Stupor  erreicht,  der  sich  meist  an  einen  Krarapfanfall 
anschliesst,  seltener  als  selbständiger  psychischer  Anfall  auftreten 
kann.  Die  Kranken  zeigen  dabei  einen  schwer  benommenen,  stieren 
Gesichtsausdruck,  sprechen  nicht  oder  bringen  höchstens  einzelne 
abgerissene,  zusammenhangslose,  stotternde  Worte  hervor.  Aeusserlich 
verhalten  sie  sich  ruhig,  bleiben  im  Bett  liegen,  kümmern  sich  nicht 
um  die  Vorgänge  in  ihrer  Umgebung,  reagiren  auf  keüie  Anrede. 
Bei  äusseren  Einwirkungen  widerstreben  sie  meist  sehr  heftig,  unter 
Umständen  auch  durch  plötzliche,  brutale  Angriffe,  doch  wird  in 
einzelnen  Fällen  wenigstens  zeitweise  Katalepsie  beobachtet.  Aus  den 
Ausdrucksbewegungen  der  Kranken,  ihrem  ängsÜichen  Zusammen- 
kauern, Kopf  schütteln,  Händefalten,  Knieen  lässt  sich  entnehmen, 
dass  sie  wahrscheinhch  von  verworrenen  Wahnideen  beherrscht  sind, 
welche  am  häufigsten  einen  schrecken  erregenden,  gTauenvollen,  hie 
und  da  jedoch  auch  einen  beglückenden,  religiös-ekstatischen  Inhalt 
zu  haben  scheinen.  Die  Nahrung  wird  in  der  Regel  ganz  oder  theil- 
weise  verweigert;  energische  Selbstmordversuche  sind  nicht  selten. 

Die  Dauer  dieses  Zustandes  beträgt  gewöhnlich  1—2  Wochen, 

33* 


516 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


nur  bei  sehr  schwerem  Verlaufe  erheblich  mehr.  Die  Lösung  ist 
fast  immer  eine  allmähliche.  Der  Kranke  Avird  im  Verlaufe  einiger 
Tage  klarer,  orientirt  sich  wieder  über  seine  Umgebung,  hat  keine 
oder  nur  sehr  unklare  Erinnerung  an  den  Anfall,  weiss  höchstens 
anzugeben,  dass  ihm  allerlei  Schreckliches  vorgekommen  sei  und 
er  grosse  Angst  gehabt  habe.  In  einzelnen  Fällen,  namentlich  bei 
häufigem  Auftreten  solcher  Stuporzustände,  verschwindet,  wie  es 
scheint,  die  Benommenheit  und  Verworrenheit  überhaupt  nicht  voll- 
ständig. Es  vergehen  Monate  unter  langsamer,  von  kleinen  Eück- 
fällen,  auch  wol  von  Krampfanfällen  immer  wieder  unterbrochener 
Besserung,  aber  der  Kranke  bleibt  schliesslich  dauernd  unklar,  zer- 
fahren, stampf  und  schwachsinnig. 

Die  praktisch  bei  Weitem  wichtigste  Geistesstörung  der  Epi- 
leptiker ist  das  epileptische  ängstliche  Delirium,  welches  viel 
häufiger,  als  der  Stupor,  auch  ohne  Verbindung  mit  Krampfanfällen, 
beobachtet  wird.    Die  Entwickelung  des  Zustandes  vollzieht  sich 
rasch,  innerhalb  einiger  Minuten  oder  längstens  Stunden.  Häufig 
gehen  allerdings  schon  kurze  Zeit  Verstimmungen,  abnorme  Sen- 
sationen und  Benommenheit  voraus,  bis  dann  plötzlich  der  eigentliche 
Anfall  losbricht.    Vielfach  wird  die  Einleitung  durch  eine  ganz  be- 
stimmte, sich  regelmässig  wiederholende  Sinnestäuschung  gebildet; 
namentlich  bemerkenswerth  ist  das  Sehen  von  rothen  Gegenständen, 
Blut,  Flammen,  Mann  im  rothen  Mantel  u.  s.  f.  Der  Kranke  verliert 
völlig  die  Orlen tirung;  seine  Umgebung  verändert  sich.    Er  sieht 
sich  von  Teufeln,  Gespenstern,  wilden  Thieren,  grossen  Volksmassen 
umgeben,  die  oft  concentrisch  gegen  ihn  anrücken.  Schlachten  werden 
geschlagen,  ein  furchtbares  Blutbad  angerichtet;  er  watet  im  Blut 
und  schreitet  über  Leichen.   Man  führt  ihn  in  einen  unterirdischen 
Gang,  in  welchem  auf  schreckHchen  Marterwerkzeugen  Menschen 
und  Thiere  zerstückelt  werden.    Alles  stürzt  über  ihm  zusammen; 
Luft  und  Licht  wird  ihm  abgeschnitten;  das  jüngste  Gericht  bricht 
herein;  er  fährt  in  die  Hölle.    Zugleich  bemächtigt  sich  seiner  die 
äusserste  Todesangst,  so  dass  er  zitternd  sein  Ende  erwartet,  ein 
Stossgebet  nach  dem  andern  stammelt  oder  in  pathetischen  Worten 
sein  Leben  in  Gottes  Hände  legt.    Bisweilen  erscheinen  auch  Gott 
und  Christus,  schenken  ihm  die  Freiheit,  verheissen  ihm  Gnade, 
krönen  ihn  zum  Friedenskaiser,  doch  sind  solche  freudige  Ekstasen 
regelmässig  nur  rasch  vorübergehende  Episoden. 


Epileptisches  Irresein. 


517 


Die  Grund  Stimmung  des  ganzen  Anfalles  bleibt  immer  cäugst- 
liche  oder  zornige  Erregung,  welche  den  Kranken  nur  allzubäufig  zu 
jenen  grässüchen  Gewaltthaten  treibt,  die  sich  durch  die  rücksichts- 
lose Brutalität  ihrer  Ausführung  auszuzeichnen  pflegen.  In  dem 
verzweifelten  Drange,  sich  den  yermeintlichen  furchtbaren  Gefahren 
zu  entziehen  oder  sein  Leben  zu  retten,  greift  er  blindlings  zur 
ersten  besten  Waffe,  um  sie  gegen  sich  selbst  oder  gegen  seine 
Umgebung  zu  richten;  mit  stark  geröthetem  Kopfe  und  stierem 
Gesichtsausdrucke,  stumm  oder  kurze,  abgerissene  Sätze,  ein  nn- 
articulirtes  Schreien  und  Brüllen  ausstossend,  wüthet  er  unter  Auf- 
gebot seiner  ganzen  Kraft  plan-  und  ziellos,  AUes  zerstörend  und 
vernichtend,  was  ihm  erreichbar  ist.  In  anderen  Fällen  sind  es 
ganz  bestimmte  Handlungen,  welche  der  Kranke  unter  dem  Ein- 
flüsse einer  in  ihm  auftauchenden  Idee,  einer  Sinnestäuschung,  eines 
Impulses  begeht.  So  erinnere  ich  mich  eines  FaUes,  in  welchem 
ein  Brauknecht  durch  den  Teufel  in  Gestalt  eines  schwarzen  Hundes 
zur  Zerschmetterung  seines  schlafenden  Kameraden  veranlasst  wurde. 
Ein  anderer  Kranker  ging  mit  den  "Worten:  „Bist  du  ein  Jude,  so 
musst  du  sterben"  auf  einen  ihm  gänzlich  unbekannten  Mann  los 
und  brachte  ihm  mit  einem  bereit  gehaltenen  Messer  eine  schwere 
Verletzung  bei;  noch  ein  Anderer  endlich  fühlte  bei  einer  Procession, 
wie  sich  sein  Arm  hob  und  mit  voller  Wucht  auf  eine  arme  alte 
Erau  niedersauste,  die  am  Wege  sass.  Hier  können  die  Kranken 
für  die  oberflächliche  Betrachtung  einen  ziemlich  geordneten  Ein- 
druck machen  und  ihre  Handlung  zunächst  in  unsinniger,  aber  doch 
zusammenhängender  Weise  motiviren. 

Die  Erinnerung  an  das  Geschehene  kann  während  des  An- 
falles noch  ziemlich  klar  sein,  schwindet  aber  später  rasch 
und  zwar  entweder  vollständig  oder  nur  theilweise,  so  dass  der 
Kranke  sich  auf  einzelne  Erlebnisse  bisweilen  noch  zu  besinnen  ver- 
mag, während  ihm  andere  gänzlich  entfallen  sind.  Endlich  kommt 
es  auch  vor,  dass  die  Erinnerung,  die  zunächst  völhg  erloschen  war, 
nach  einigen  Tagen  oder  Wochen  wenigstens  in  dunklen  Umrissen 
wieder  auftaucht.  Diese  Erfahrung  fordert  zu  grosser  Vorsicht  in 
der  forensischen  Beurtheilung  derartiger  Fälle  auf.  Scheint  doch 
der  Verdacht  einer  Simulation  ausserordentlich  nahe  zu  liegen,  wenn 
ein  anfangs  zu  Protokoll  gegebenes  Geständniss  von  dem  Thäter 
weiterhin  vollständig  widerrufen  wird,  oder  wenn  der  Thäter  zuerst 


518 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


hartnäckig  leugnet,  später  aber,  anscheinend  auf  eindringlichen  Vor- 
halt hin,  dennoch  gesteht!  Hingewiesen  sei  hier  nur  auf  den  Um- 
stand, dass  "wir  auch  unsere  Träume  sehr  häufig  unmittelbar  nach 
dem  Erwachen  noch  zu  reproduciren  vermögen,  während  sie  später 
unserem  Gedächtnisse  völlig  entschwinden,  und  dass  sie  plötzlich 
von  selbst  wieder  auftauchen,  nachdem  wir  uns  lange  vergebens  be- 
müht haben,  uns  ihrer  zu  entsianen. 

Die  Dauer  des  ängstlichen  epileptischen  Deliriums  beträgt  oft 
nur  einige  Stunden,  höchstens  ein  bis  zwei  "Wochen.  Die  Besonnenheit 
kehrt  bisweilen  nach  einem  längeren  Schlafe  plötzlich  zurück;  meist 
aber  erfolgt  die  Aufhellung  des  Bewusstseins  allmählich,  so  dass 
sich  vorübergehend  deliriöse  und  normale  Vorstellungen  in  eigen- 
thümlicher  "Weise  mischen.  Einer  meiner  Kranken  bezeichnete  am 
letzten  Tage  eines  solchen  Deliriums  mich  als  Gott,  den  klinischen 
Praktikanten  als  Christus,  während  er  doch  die  ihm  bereits  vertrauten 
Bäume  der  Klinik  richtig  erkannte.  Unter  Umständen  kann  der 
Kranke  schon  ganz  klar  und  gesund  erscheinen,  während  er  in 
"Wirklichkeit  noch  sehr  benommen  und  von  mannichfachen  Yer- 
fälschimgen  der  Auffassung  beherrscht  ist,  ein  Verhalten,  welches 
sich  dann  nachträglich  erst  bei  vollkommener  Genesung  herausstellt. 

Eine  etwas  seltnere  Form  der  epileptischen  Dämmerzustände 
ist  das  protrahirt  verlaufende  räsonnirende  Delirium,  welches 
ebenfalls  im  Anschlüsse  an  einen  Krampf  oder  als  selbständiger, 
psychischer  Anfall  beobachtet  wird.  Die  Bewusstseinsü'übung  ist 
hier  weniger  tief,  so  dass  die  Kranken  äusserlich  fast  ganz  besonnen 
erscheinen.  Dennoch  wird  die  Auffassung  der  Aussenwelt  sehr 
stark  beeinträchtigt;  mannichfache  illusorische  und  hallucinatorische 
Trugwahrnehmungen  spiegeln  dem  Kranken  imaginäre  Gefahren  vor; 
meist  sind  auch  gleichzeitig  Grössenideen  vorhanden.  Trotzdem  er 
auf  einfache  Fragen  ganz  zutreffende,  oft  fi-eilich  auch  mit  deliriösen 
Elementen  durchsetzte  Antworten  giebt,  lässt  doch  sein  ganzes  Be- 
nehmen eine  gewisse  Benommenheit  und  Desorientirtheit  erkennen. 
Er  ist  in  gereizter,  meist  etwas  ängstKcher,  selten  auffallend  heiterer 
Stimmung  und  begeht  oft  genug  auch  plötzliche  Gewaltthaten  auf 
Grund  von  verschiedenartigen  "Wahnideen,  die  indessen  meist  nicht 
näher  geäussert  werden.  In  anderen  Fällen  Avird  das  Bewusstsein 
erfüllt  durch  ein  traumartig  phantastisches  Delirium  mit  "Wahnideen, 
Personenverkennung,  Sinnestäuschungen  von  häufig  religiöser  Färbung 


Epileptisches  Irresein. 


519 


(Weltuntergang,  jüngstes  Gericlit),  während  dessen  der  Kranke  bei 
scheinbarer  Besonnenheit  eine  Menge  unsinniger,  zweckloser,  ja  ver- 
brecherischer Handlungen  (weite  Eeisen,  Diebstähle,  Brandstiftung, 
Auflehnung  gegen  die  Staatsgewalt,  Sittlichkeitsverbrechen)  begehen 
kann,  ohne  irgend  welche  Einsicht  in  die  Bedeutung  derselben  zu  be- 
sitzen. Sehr  bekannt  ist  der  von  Legrand  du  Saulle  mitgetlieilte 
Fall  eines  Pariser  Kaufmanns,  der  aus  einem  solchen  Anfalle  plötzlich 
auf  der  Khede  von  Bombay  wieder  erwachte.  Solche  Zustände  können 
Wochen,  ja  eine  Anzahl  von  Monaten  dauern;  es  können  sich  auch 
mehrere,  durch  kurze  Intervalle  getrennte  Anfälle  aneinanderreihen. 

Die  Häufigkeit  der  epileptischen  Delirien  bei  einem  Kranken 
ist  ausserordentlich  verschieden.  Während  sie  sich  bisweilen  in  ganz 
kiu-zen  Zwischenräumen  wiederholen,  giebt  es  andererseits  Eälle,  in 
welchen  neben  sonstigen  epileptischen  Zufällen  nur  ein  oder  zwei 
Male  im  Leben  ausgeprägte  Delirien  auftreten.  Bei  zahlreichen  Epi- 
leptikern kommt  es  überhaupt  niemals  dazu.  Die  einzelnen  Delirien 
bei  demselben  Kranken  pflegen  eine  sehr  grosse  Uebereinstimmung 
in  ihrem  Inhalt  und  Yerlauf  darzubieten.  So  begann  das  fast  aU- 
j  ährlich  wiederkehrende  protrahirte  Delirium  bei  einem  meiner 
Kranken  regelmässig  damit,  dass  er  behauptete,  von  einem  Beamten 
der  Polizei  geschossen  worden  zu  sein.  Er  gerieth  dann  in  einen 
halb  traumhaften,  halb  besonnenen,  mehrfach  von  Krampfanfällen 
unterbrochenen  Dämmerzustand  hinein,  aus  dem  er  nach  mehreren 
Wochen  eines  Morgens  klar,  aber  ohne  jede  Erinnerung  an  die 
ZAvischeuzeit  erwachte. 

Die  Grundlage  des  epileptischen  Irreseins  ist  ohne  Zweifel  in 
krankhaften  Hirnveränderungen  zu  suchen,  die  wol  in  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  Eälle  angeboren  sind.  Die  Erblichkeit, 
namentlich  Alkoholismus  bei  den  Ascendenten,  sowie  die  sonstige 
Yeranlagung  spielt  hier  eine  grosse  Polle.  Häufig  deutet  sich  die 
Entartung  in  körperlichen  Erscheinungen  an,  besonders  Yerbildungen 
des  Schädels,  Mikrocephalie,  Hydrocephalie,  Asymmetrien,  oder  in 
der  „epileptischen  Physiognomie",  welche  durch  die  breite  Stirn,  die 
eingedrückte  breite  Nase,  durch  vorspringende  Backenknochen,  wulstige 
Lippen  und  glänzende  Augen  mit  auffallend  weiten  Pupillen  ge- 
kennzeichnet wird.  Auch  sonstige  Degenerationszeichen  finden  sich 
nicht  selten.  Ausserdem  begegnen  uns  öfters  die  Reste  früherer 
Himerkrankungen,  Hemiparesen,  Hemiathetose,  Contracturen. 


520 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


In  diesen  letzteren  Fällen  ist  die  EiDilepsie  im  engsten  Sinne 
des  Wortes  eine  symptomatische,  der  einfache  Ausdruck  eiaer  groben 
Hirnläsion.  Solche  Störungen  entwickeln  sich  regelmässig  in  jugend- 
lichem Alter,  bisweilen  schon  vor  der  Geburt.  Abgesehen  von  den 
eigentlichen  Missbildimgen  handelt  es  sich  Avesentlich  um  ence- 
phalitische  Processe,  seltener  einmal  um  multiple  Tuberkel  oder  dergl. 
Zumeist  jedoch  müssen  wir  heute  noch  von  einer  „genuinen"  Epi- 
lepsie sprechen,  deren  Entstehungsweise  uns  bis  jetzt  nicht  näher 
bekannt  ist.  Zwar  sind  mancherlei  Befunde  in  Epileptikerhimen 
erhoben  worden,  namentlich  sklerotische  Veränderungen  am  Ammons- 
horn,  aber  die  Beziehung  solcher  Thatsachen  zu  dem  klinischen 
Symptomenbilde  ist  einstweilen  noch  eine  gänzlich  unklare. 

Andererseits  wissen  wir,  dass  die  Erscheinungen  der  Epüepsie 
mit  gewissen  äusseren  Einflüssen  in  ursächlichem  Zusammenhange 
stehen  können,  sei  es,  dass  jene  letzteren  wirklich  die  Krankheit 
erzeugen,  sei  es,  dass  sie  auf  vorbereitetem  Boden  nm-  den  letzten 
Anstoss  zu  ihrem  Ausbruche  geben.  Dahin  gehören  einmal  schwere 
Kopfverletzungen,  dann  aber  vor  Allem  der  Alkoholmissbrauch. 
Wie  wir  später  sehen  werden,  ist  das  Auftreten  schwerer  Epilepsie 
beim  chronischen  Alkoholismus  nicht  selten;  weit  häufiger  aber  und 
Überzeugeuder  ist  die  verderbliche  Wirkung,  welche  selbst  sehr 
mässige  Alkoholgaben  bei  Epileptikern  auszuüben  pflegen.  In  zahl- 
reichen FäUen  kann  der  AnfaU  mit  der  Sicherheit  eines  Experimentes 
durch  jenes  Genussmittel  ausgelöst  werden.  Ferner  verfüge  ich  über 
eine  Anzahl  von  Beobachtungen,  in  denen  einfache  Beängstigungen 
bei  Epileptikern  durch  Alkoholgenuss  regelmässig  in  schwere  Dämmer- 
zustände übergeführt  wurden.  Einer  meiner  Kranken,  eiu  Student, 
verfiel  regelmässig  nach  Commersen  in  ein  epileptisches  Delirium, 
in  welchem  er  mehi-fach  nur  mit  genauer  Noth  an  der  Ausführimg 
des  Selbstmordes  verhindert  Averden  konnte.  Sobald  solchen  Kranken 
der  Alkohol  entzogen  wird,  verlaufen  die  AnfäUe,  wovon  ich  mich  viel- 
fach auf  das  Bestimmteste  habe  überzeugen  können,  ganz  leicht.  So 
verlor  sich  bei  einem  Kranken,  dessen  schwere,  sein  Leben  wiederliolt 
auf  das  äusserste  gefährdende  Dämmerzustände  jeweils  mit  einem 
starken  Alkoholexcess  begonnen  hatten,  die  einleitende  Verstimmung 
in  der  Anstaltsüberwachung  binnen  zwei  Tagen  ohne  irgend  weitere 
Störung. 

Endlich  aber  erscheint  mir  die  Thatsache  von  allergrösstem 


Epileptisches  Irreseiu. 


521 


tlieoretischem,  wie  praktischem  Interesse,  dass  durch  die  Entziehung  des 
Alkohols  vielfach  nicht  nur  die  Schwere  der  Anfälle,  sondern  auch 
ihre  Häufigkeit  in  ganz  erstaunlichem  Masse  beeinflusst  werden 
kann.  Seitdem  ich  mein  Augenmerk  auf  diese  Verhältnisse  gerichtet 
habe,  sind  mir  eine  ganze  Eeilie  von  Fällen,  namentlich  schwerer 
psychischer  Epilepsie  vorgekommen,  in  denen  durch  die  Herbei- 
führung dauernder,  vollständiger  Alkoholabstinenz  die  so  lange  in 
mehrwöchentlichen  Z^vischenräumen  auf ti-etenden  Anfälle  beizumTheil 
Jahr  imd  Tag  fortgesetzter  Beobachtung  gänzlich  oder  bis  auf  seltene, 
ganz  leichte  Verstimmungen,  Schwindelgefühle  oder  dergl.  ver- 
schwanden. Alle  diese,  zum  Theil  ganz  überraschenden  Erfaluamgen 
haben  mich  zu  der  Ueberzeugung  gebracht,  dass  auch  ein  mässiger 
oder  gelegenthcher  Alkoholgenuss  bei  manchen  Epileptikern  die 
schlummernde  ki^ankhafte  Anlage  erst  zur  Entwickelung  bringt. 

Die  Prognose  des  epileptischen  Irreseins  hängt  sehr  wesenthch 
von  der  Ursache  des  Leidens  und  von  dem  Zeitpunkte  seines  Auf- 
tretens ab.  Wo  gTöbere  organische  Erkrankungen  zu  Grunde  liegen, 
ist  natürlich  eine  Besserung  nicht  zu  erwarten;  im  Gegentheü  be- 
obachtet man  vielfach  sogar  ein  allmähhches  Fortschreiten  der 
geistigen  Schwäche,  namenthch  in  den  Entwickelungsjahren.  Dagegen 
kann  die  genuine  Epilepsie  heilen  und  ist  auch  häufig  den  thera- 
peutischen Massnahmen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zugänghch. 
Die  schweren  postepüeptischen ,  stuporösen  und  deliriösen  Zustände 
pflegen  sich  besonders  gern  nach  Serien  von  starken  KrampfanfäUen 
einzustellen,  während  sich  die  rein  psychischen  Anfälle  mehr  mit 
den  leichteren  Formen  der  Epilepsie  zu  verbinden  scheinen. 

Die  Gefahr  des  epileptischen  Schwachsinns  ist  im  Allgemeinen 
am  grössten,  wenn  häufige  und  schwere  Krampfanfälle  vorkommen, 
und  vor  Allem,  wenn  das  Leiden  in  frühem  Lebensalter  auftritt. 
Auch  abgesehen  von  den  beträchtlichen  Hindernissen,  welche  die 
Krankheitserscheinungen  selbst  der  geistigen  Ausbildung  entgegen- 
setzen, bleibt  hier  die  gesammte  psychische  Entwickelung  regebnässig 
zurück,  oft  sogar  auf  den  niedrigsten  Stufen.  "Weit  seltener  und 
wol  nur  bei  den  leichten  Formen  der  Epilepsie  kann  sich  die 
Störung  auf  das  gemüthliche  Verhalten  beschränken,  Avährend  die 
Kinder  intellectuell  normal  oder  sogar  besonders  gut  veranlagt  sind. 
In  höherem  Lebensalter  ist  Zunahme  der  geistigen  Schwäche  im 
Verlaufe  der  Krankheit  oft  ebenfalls  deutlich;  namentlich  aus  sehi- 


522 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


langclauerndem  Stupor  sieht  man  den  Kranken  bisweilen  erheblich 
blödsinniger  erwachen,  als  er  vorher  war. 

Die  Diagnose  des  epileptischen  Irreseins  bereitet  keine  nennens- 
werthen  Schwierigkeiten,  sobald  man  Gelegenheit  hat,  das  Vorhanden- 
sein der  charakteristischen  Krämpfe  festzustellen,  deren  unterscheidende 
Eigenthümlichkeiten  wir  bei  Besprechung  der  '  hysterischen  Anfälle 
bereits  aufgeführt  haben.  Die  Fälle  sind  jedoch  nicht  zu  selten,  in 
denen  weder  die  Anamnese,  noch  die  eigene  Beobachtung  über  das 
Yorhandensein  derartiger  epileptischer  Krämpfe  genügende  Klarheit 
zu  schaffen  vermag,  während  doch  die  psychische  Störung  mit  der 
einleitenden  Aura,  der  tiefen  Bewusstseinstrübung,  der  Mischung 
von  verworrenen  Yerfolgungs-  und  Grössenideen,  namentlich  religiösen 
Inhalts,  ohne 'Ideenflucht,  der  ängstlichen  Stimmung,  der  Planlosigkeit 
und  Brutalität  der  Handlungen  ohne  Bewegungsdrang,  sowie  der 
abrupte  Yerlauf  für  die  Annahme  einer  epileptischen  Grundlage 
spricht.  Allerdings  gelingt  es  immerhin  in  einer  Anzahl  von  Fällen, 
bei  genauerer  Nachforschung  dennoch  manche  leicht  Überseheue 
Anhaltspunkte  aufzufinden,  welche  zur  Bestätigung  jener  Yermuthung 
dienen  können,  das  Yorkommen  einzelner  Schwindel-,  Ohnmachts- 
oder Angstanfälle,  ferner  Anzeichen,  welche  auf  nächtliche  Paroxysmen 
hinweisen,  zeitweises  Bettnässen,  Zungenverletzungen,  das  gelegentliche 
Gefühl  starker  Abspannung  oder  heftiger  Kopfschmerzen  am  Morgen. 
Endlich  muss  auch  die  auffallende  Ueberein Stimmung  öfter  sich 
wiederholender  Dämmerzustände  als  ein  wichtiger  Anhaltspunkt  für 
die  Diagnose  der  Epilepsie  herangezogen  werden. 

Allein  selbst  nach  Abrechnung  aUer  derjenigen  Fälle,  in  denen 
man  an  der  Hand  der  aufgeführten  Gründe  zur  Annahme  eines 
epileptischen  Irreseins  geführt  wird,  bleiben  noch  eine  Keihe  von 
Beobachtungen  übrig,  welche  zwar  eine  grosse  Aehnlichkeit  mit 
jenen  Formen  aufweisen,  im  Uebrigen  aber  durchaus  keinen  Zu- 
sammenhang mit  wirklicher  Epilepsie  erkennen  lassen.  Einige 
Forscher,  vor  AUem  der  um  die  Kenntniss  der  epileptischen  Psychosen 
so  sehr  verdiente  Samt*),  sind  so  Aveit  gegangen,  auch  hier  ohne 
Weiteres  aus  theoretischen  Gründen  eine  epileptische  Ursache  voraus- 
zusetzen. Der  psychisch -epileptische  Anfall  Avui'de  von  Samt  ge- 
wissermassen  als  ein  Aequivalent  des  Krampfparoxysmus  betrachtet, 


*)  Archiv  f.  Psychiatrie,  V.  u.  VI. 


Epileptisches  Irresein. 


523 


und  jene  zweifelhaften  Formen  waren  ihm  daher  nichts  Anderes,  als 
Epilepsie,  bei  welcher  sämmtliche  Krampfanfälle  in  psycliisch-epi- 
leptische  Aequivalente  umgewandelt  sind.  Wie  man  sieht,  hängt 
die  Entscheidung  dieser  Frage  wesentiich  davon  ab,  wie  weit  man 
den  Begriff  der  Epilepsie  über  die  einfache  Neurose  hinaus  aus- 
zudehnen geneigt  ist.  _^ 

Im  Ganzen  möchte  ich  glauben,   dass   die  vöUige  klinische 
Uebereinstimmung  in  Entstehangsweise  und  Ablauf  uns  berechtigt, 
auch  dann  die  gleiche  Grundlage  für  eine  psychische  Störung  an- 
zunehmen, wenn  sie  nicht  mehrfach,  sondern  nur  ein  einziges  Mal 
im  Leben  auftritt.    Ganz  abgesehen  davon,  dass  jene  kleinen,  ge- 
legentlichen Anzeichen,  die  wir  sonst  als  gültige  Symptome  der 
Epilepsie  anerkennen,  sehr  leicht  übersehen  oder  vergessen  werden 
können,  ist  es  durchaus  denkbar,  dass  ein  an  sich  periodisches  Leiden 
auf  weniger  stark  prädisponirter  Grundlage  nur  ein  einziges  Mal, 
imter  besonders  ungünstigen  Umständen,  zum  Ausbruche  gelangt.  Es 
giebt  thatsächlich  zahlreiche  Epileptiker,  bei  denen  mehrmals  Krämpfe 
oder  Ohnmächten  auftreten,  aber  nur  einmal  ein  Dämmerzustand; 
andererseits  sehen  wir  vielfach  diesen  letzteren  sich  wiederholen, 
während  etwa  nur  ein  einziger  Ohnmachtsanfall  beobachtet  wurde. 
Wenn  diese  klinischen  Spielarten  wirklich  vorkommen,  so  könnte 
uns  wol  ein  einziger,  gut  charakterisirter  Dämmerzustand  ebenso 
die  Diagnose  der  Epilepsie  ermöglichen,  wie  das  ohne  Zweifel  ein 
typischer  Krampfanfall  thut.    Aus  diesen  Gründen  kann  ich  nicht 
umhin,  nunmehr  auch  die  sog.  „Mania  transitoria"*)  oder  besser  das 
Delirium  transitorium  als  eine  Form  des  acuten  epileptischen 
Deliriums  anzusehen.  Es  handelt  sich  dabei  um  einen  plötzlich  ent- 
stehenden, nur  einmal  im  Leben  auftretenden,  furibunden  Erregungs- 
zustand mit  tiefer,  traumhafter  Bewusstseinstrübimg,  der  sehr  rasch 
verläuft  und  keinerlei  Erinnerung  hinterlässt.  Das  gesammte  klinische 
Bild  scheint  bis  ins  Einzelne  dem  epüeptischen  Delirium  zu  gleichen; 
ich  selber  habe  leider  noch  niemals  Gelegenheit  gehabt,  einen  Fall 
zu  sehen,  den  ich  mit  Bestimmtheit  dem  Delirium  transitorium 
hätte  zurechnen  können. 

Die  Behandlung  des  epileptischen  Irreseins  wird,  soweit  das 


*)  «chwartzer,  die  ü-ansitorische  Tobsucht.  1880;  Veiituri,  lo  pazzie  tran- 
sitorie.  1888. 


524 


IX.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


möglich  ist,  in  erster  Linie  eine  causale  Bekämpfung  der  Epilepsie 
selber  in  Angrilf  zu  nehmen  haben,  wie  sie  bald  in  der  Trepanation 
(Knocheneindrücke  am  Schädel,  corticale  Herderkrankungen),  bald 
(Reflexepilepsie)  im  Ausschneiden  von  Narben,  der  Beseitigung  cariöser 
Zähne,  dem  Ausbrennen  der  Nase,  bald  auch  (Gummata,  Periostitis) 
in  einer  antiluetisehen  Cur  zu  bestehen  hätte.  Eine  ganz  besondere 
Wichtigkeit  möchte  ich  dabei  aus  früher  erörterten  Gründen  der 
Durchführung  dauernder  und  vollständiger  Enthaltsamkreit 
gegenüber  dem  Alkohol  auch  in  jenen  Fällen  beilegen,  in  denen 
es  sich  nicht  um  eine  eigentliche  Alkoholepilepsie  handelt.  Jeder 
Epileptiker  ist  in  höherem  oder  geringerem  Grade  intolerant  gegen 
Alkohol  und  ist,  wie  ich  glauben  muss,  dazu  disponirt,  durch  den- 
selben gelegentlich  in  schwere  geistige  Störung  zu  verfallen,  sich 
selbst  und  Andern  in  hohem  Grade  gefährlich  zu  werden.  Von 
symptomatisch-medicamentösen  Mitteln  können  vor  Allem  die  Brom- 
salze (5 — 6  gr  pro  die  in  mehreren  Dosen)  durch  Verminderung 
der  Anfälle  zimächst  indirect  die  psychischen  Störungen  günstig 
beeinflussen.  Ereilich  kommt  es  nicht  selten  vor,  dass  sich  unmittelbar 
nach  dem  Aussetzen  des  Mittels  die  Krämpfe  und  mit  ihnen  auch 
die  psychischen  Störungen  rasch  wesentlich  verschlimmern.  Ausser- 
dem sah  ich  zweimal  gerade  unter  dem  Einflüsse  des  Bromkalium 
einen  wahren  Status  epilepticus  sich  entwickeln,  der  erst  nach  Er- 
setzung des  Mittels  durch  Ati"opin  wieder  schwand,  und  endlich 
wurden  in  einem  von  mir  beobachteten  Falle  zwar  die  Anfälle 
durch  das  Bromkalium  vorübergehend  beseitigt,  doch  stellten  sich 
statt  ihrer  höchst  intensive  Aufi-egungszustände  mit  leichter  Be- 
wusstseinstrübung  ein,  welche  mich  die  Krämpfe  zurückwünschen 
und  die  eingeleitete  Cur  aufgeben  Hessen. 

Auf  der  anderen  Seite  ist  es  zweifellos  vielfach  möglich,  durch 
sehr  energische  Brombehandlung  (12 — 15  gr  pro  die)  den  Verlauf 
epileptischer  Psychosen  nicht  nur  wesentlich  zu  mildern  und  ab- 
zukürzen, sondern  auch  die  Häufigkeit  psychischer  Anfälle  herab- 
zusetzen. Nur  gegen  den  epileptischen  Schwachsinn  ist  das  Brom- 
kalium wirkungslos;  er  macht  seine  langsamen  Fortschritte,  selbst 
wenn  es  gelingt,  die  Anfälle  mehr  oder  weniger  vollständig  zu  unter- 
drücken. Unter  allen  Umständen  ist  beim  Auftreten  der  Zeichen 
des  Bromismus  sofortiges,  aber  langsames  Herabgehen  mit  der  Brom- 
gabe nothwendig.    Man  kann  dann  eventuell  einen  Vei-such  mit 


Epileptisches  Irresein. 


525 


Amylenhydrat  (5—8  gr  pro  die)  machen,  welches  ebenfalls  Zahl  und 
Stärke  der  epileptischen  Anfälle  herabzusetzen  scheint. 

In  symptomatischer  Beziehung  erheischen  die  epileptischen 
Dämmerzustände  eine  äusserst  sorgfältige  Ueberwachung  der  Kranken 
wegen  der  grossen  Gefahr,  welche  dieselben  für  sich  und  ihre  Um- 
o-ebung  repräsentiren.  Allmählich  scheint  in  neuester  Zeit  auch  auf 
diesem  Gebiete  der  humanen  Fürsorge  ein  Fortschritt  sich  an- 
zubahnen. Den  ersten  praktischen  Yersuch  einer  Epileptikeranstalt 
in  gi-össtem  Massstabe  hat  Pastor  v.  Bodelschwingh  in  Bielefeld 
o-emacht.  Leider  ist  indessen  schon  jetzt  erkennbar,  dass  hier  die 
Wohlthaten  des  Kränkenhauses  durch  eme  specifisch  theologische 
Auffassung  und  Behandlung  der  ohnedies  zur  Fi'ömmelei  neigenden 
Kranken  vielfach  beeinträchtigt  werden. 


X.  Die  chronisclierL  Intoxikationen. 


Die  Zahl  derjenigen  Gifte,  welche  bei  dauernder  Einwirkung 
auf  den  Organismus  Störungen  des  Nervensystems  und 
speciell  auch  der  psychischen  Functionen  herbeizuführen  ver- 
mögen, ist  eine  sehr  grosse.  Hervorragende  praktische  Bedeutung 
haben  indessen  nm-  diejenigen  unter  ihnen  erlangt,  welche  als  Ge- 
nussmittel, zur  Erzeugung  euphorischer  Zustände,  in  Anwendung 
gezogen  werden,  da  nur  bei  ihnen  in  der  Wirkung  des  Mttels  selbst 
die  Anreizung  zu  häufiger  Herbeiführung  derselben  gelegen  ist.  Yor 
Allem  aber  sind  es  jene  Gifte,  deren  Aussetzen  unangenehme 
Störungen  im  Organismus,  sog.  „Abstinenzerscheinungen"  hervorruft, 
welche  eine  mit  jeder  Wiederholung  sich  steigernde  und  schliesslich 
zur  unbezwinglichen  Leidenschaft  werdende  Neigung  erzeugen, 
immer  von  Neuem  den  verderblichen  ßeiz  einwii-ken  zu  lassen,  der 
für  den  behaglichen  Ablauf  der  Lebensfunctionen  bereits  unentbehrlich 
geworden  ist.  Wie  die  anthropologische  Forschung  lehrt,  giebt  es 
kaum  ein  einziges  Yolk,  welches  nicht  durch  irgend  ein  derartiges, 
gewohnheitsmässig  consumirtes  Genussmittel  sich  über  die  kleinen 
Sorgen  und  Mühen  des  Daseins  hinwegzutäuschen  verstände,  und 
die  Mannichfaltigkeit  dieser  giftigen  Quellen  des  Wohlbehagens  ist 
daher  eine  merkwürdig  reiche.  Für  die  psychiatrische  Erfahrung  in 
unserer  Heimath  kommen  indessen  naturgemäss  nur  einige  wenige  der- 
artige Mittel  in  Beti-acht,  von  denen  sich  als  die  praktisch  bei  weitem 
wichtigsten  der  Alkohol,  das  Morphium  und  das  Cocain  präsentiren. 

A.  Der  Alkoliolismus.*) 

Die  Einwirkung,  welche  die  acute  Alkoholvergiftung,  der  Eausch, 
auf  unser  Seelenleben  ausübt,  besteht,  soweit  bis  jetzt  bekannt  ist 

*)  Magnus  Huss,  Chronische  Alkoholkrankheit  oder  Alkoholismus  chronicus, 
deutsch  von  V.  d.  Busch.  1852;  Magnan,  de  l'alcoholisme.  1874;  v.  Speyr,  Die 
alkoholischen  Geisteskrankheiten,  Diss.  1882. 


Alkoholismua. 


527 


wesentlich  in  einer  dauernden  Erschwerung  der  Auffassung  und 
Terarbeitung  äusserer  Eindrücke,  some  in  einer  centralen  Er- 
leichterung der  Auslösung  von  Willensimpulsen.  Diese  letztgenannte 
Erscheinung  schwindet  nach  einiger  Zeit,  um  alsdann  einer  Lähmung 
auch  auf  psychomotorischem  Gebiete  Platz  zu  machen.  Je  grösser 
die  Alkoholgabe  und  je  grösser  die  persönliche  Empfindlichkeit 
gegen  das  Gift,  desto  rascher  und  stärker  macht  sich  die  lähmende 
Wirkung  geltend,  bis  sie  schliesslich  schon  von  Anfang  an,  wenige 
Minuten  nach  dem  Genüsse  des  Alkohols,  deutlich  in  den  Vorder- 
grund tritt.  Die  Muskelkraft  wird  durch  den  Alkohol  nur  ganz 
kurze  Zeit  und  in  sehr  unbedeutendem  Masse  gesteigert,  darauf 
aber  andauernd  und  erheblich  herabgesetzt. 

Alle  diese  zunächst  durch  das  Experiment  gefundenen  und  ge- 
nauer analysirten  Einzelheiten  finden  wir  ohne  Weiteres  in  dem 
uns  praktisch  bekannten  Bilde  des  Rausches  wieder.    Schon  sehr 
kleine  Mengen  Alkohol  beeinträchtigen,  wie  alle  guten  Beobachter 
übereinstimmend  angeben,  deutlich  die  Fähigkeit  zu  höherer  geistiger 
Arbeit.  Wir  vermögen  unsere  Gedanken  nicht  mehr  so  gut  zu  con- 
centriren,  längeren,  verwickeiteren  Auseinandersetzungen  nur  un- 
genügend zu  folgen.  Bei  stärkerer  Vergiftung  fällt  die  Erschwerung 
der  Auffassung  und  der  Verstandesthätigkeit  immer  mehr  ins  Auge. 
Der  Betrunkene  versteht  nicht  mehr  recht,  was  man  ihm  sagt  und 
was  um  üm  herum  vorgeht,  vermag  nicht  zuzuhören,  aufzupassen, 
irgend  einen  Gedankengang  festzuhalten.    Er  verliert  jedes  TJrtheil 
über  seine  eigenen  und  fremde  Verstandesleistungen,  jeden  Ueber- 
blick  über  die  Bedeutung  und  Tragweite  seiner  Handlungen.  Gleich- 
zeitig stellen  sich  gewisse  qualitative  Störungen  im  Ablaufe  der  Vor- 
stellungsverbindungen ein.  Einerseits  fällt  die  Neigung  zur  Wieder- 
holung stereotyper  Wendungen,  gewohnheitsmässiger  Redensarten, 
andererseits  das  Vorwiegen  rein  sprachhcher  Associationen  auf,  das 
Reimen,  die  an  den  Haaren  herbeigezogenen  Wortwitze,  das  Sprechen 
im  Jargon,  das  Radebrechen  in  fremden  Sprachen.    Zum  Schlüsse 
geht  die  Fähigkeit  zur  Auffassung  und  geistigen  Verrbeitung  immer 
mehr  verloren;  der  Berauschte  wird  unempfindlich  und  unbesinnlich 
bis  zur  vollständigen  Bewusstlosigkeit.    Die  Erinnerung  pflegt  nach 
dem  Verfliegen  des  Rausches  auch  für  diejenigen  Stadien  niu'  sehr 
mangelhaft  zu  sein,  in  denen  der  psychische  Zusammenhang  im  Sprechen 
und  Handeln  noch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  erhalten  war. 


528 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


Parallel  den  intellectuellen  Störungen  geht  die  Entwickelung 
der  psychomotorischen  Reizerscheimmgen.  Sie  beginnt  mit  jener 
leichten  „Angeregtheit",  Avie  wir  sie  schon  bei  kleinen  Alkohol- 
gaben empfinden,  mit  dem  Wegfall  der  feinen  Hemmungen,  welche 
im  täglichen  Leben  unser  Handeln  und  Benehmen  jederzeit  auf  das 
Genaneste  reguliren.  Wir  werden  unbekümmerter,  sorgloser,  muthiger, 
fühlen  uns  freier,  ungebundener,  sprechen  und  handeln  ungenirter, 
aber  auch  rücksichtsloser.  Wegen  der  Erleichterung  der  motorischen 
Auslösung  erscheint  uns  unsere  Kraft  und  Leistungsfähigkeit  erhöht, 
im  Gegensatze  zu  deren  objectiv  nachweisbarer  Herabsetzung.  Da- 
her die  weit  verbreitete,  vollkommen  unrichtige  Anschauung,  dass 
der  Alkohol  „stärke".  Bei  fortschreitender  Berauschung  nimmt  die 
motorische  Erregbarkeit  zunächst  noch  zu.  Die  Ansdrucksbewegungen 
werden  lebhafter;  der  Betriinkene  fängt  an,  zu  gesticuliren,  überlaut 
zu  sprechen,  Eeden  zu  halten,  zu  grölen,  zn  lärmen,  aitf  den  Tisch 
zu  schlagen.  Ein  Wort,  ein  Einfall  genügt,  um  irgend  eine  un- 
sinnige Reaction  hervorzurufen,  und  es  kommt  auf  diese  Weise  zu 
allerlei  impulsiven,  unüberlegten,  ja  verbrecherischen  Handlungen, 
über  deren  Entstehungsweise  der  Thäter  sich  selbst  nachträglich 
kaum  oder  gar  nicht  Rechenschaft  zu  geben  vermag.  Das  Ende 
bilden  Coordinationsstörungen,  lallende  Sprache,  schwankender  Gang, 
vollständige  Lähmung. 

Auf  gemüthlichem  Gebiete  entspricht  dem  ersten  Stadium 
des  Rausches  eine  entschiedene  Euphorie,  heitere,  rosige  Stimmung, 
Zurücktreten  der  Sorgen  und  Verdriesslichkeiten  des  Alltagslebens. 
Wir  werden  jovialer,  zugänglicher,  liebenswürdiger.  Sehr  bald  in- 
dessen steigert  sich  die  Reizbarkeit.  Es  kommt  nun  leicht  zu  stärkeren 
Affectschwankungen,  zu  tactloser  IJeberschwänglichkeit  oder  zu  Zorur 
ausbrüchen  und  leidenschaftlichen  Aufwallungen  mit  brutaler  Reaction. 
Die  höheren  ethischen  Gefühle  treten  zurück;  der  Betrunkene  wird 
roh,  gemein,  schamlos.  Die  wachsende  sexuelle  Erregbarkeit  führt 
ihn  zu  wüsten  Excessen. 

Der  allgemeine  Yerlauf  des  Rausches  wird  in  sehr  verschiedener 
Weise  beeinflusst  durch  die  Individualität.  Bei  grosser  Ermüd- 
barkeit stellt  sich  die  Lähmung  auch  auf  motorischem  Gebiete  ver- 
hältnissmässig  früh  und  ohne  ausgeprägtere  Reizerscheinungen  ein. 
Andererseits  können  bei  Personen  mit  stärkerer  gemüthlicher  Er- 
regbarkeit gerade  jene  letzteren  in  den  Vordergrund  treten.  Während 


Alkoholismus. 


529 


dort  rasch  Schläfrigkeit  und  Stumpfheit  die  Oberhand  gewinnen, 
kommt  es  hier  sofort  zu  unbändiger  Streitsucht,  grobem  Unfug  und 
selbst  blutigen  Gewaltthaten.  Lebhafte  Affecte  können  im  ersteren 
Falle,  bei  Vorwiegen  der  Lähmungserscheinungen,  zu  plötzlicher 
Ernüchterung  führen.  Im  letzteren  Falle  dagegen  wird  durch  sie 
die  Erregung  noch  gesteigert,  so  dass  unter  dem  Einflüsse  einer 
verhältnissmässig  sehr  geringfügigen  Alkoholmenge  ganz  unvermittelt 
die  unsinnigsten  und  gefährlichsten  Handlungen  begangen  werden. 
Die  abnorme  gemüthliche  Erregbarkeit  nach  Alkoholgenuss  ist  der 
forensischen  Psychiatrie  in  der  Form  der  sog.  „pathologischen 
Eauschzus fände"  wohlbekannt.  Solche  Störungen  entwickeln  sich 
wol  ausschhesölich  bei  psychopathisch  veranlagten  Personen,  viel- 
fach unter  der  vorbereitenden  Mitwirkung  zufälliger  stärkerer  Affect- 
sch wankungen.  Ganz  besonders  häufig  sind  pathologische  Eausch- 
zustände  bei  Epileptikern  mit  ihrer  bekannten  psychomotorischen 
Reizbarkeit  und  ihrer  Empfindlichkeit  gegen  Alkohol;  nächstdem 
seheinen  namenthch  gewisse  Fälle  emotiven  Schwachsinns  den 
günstigen  Boden  abzugeben. 

So  manche  der  in  der  acuten  Alkoholvergiftung  uns  entgegen- 
tretenden Züge  finden  wir  wieder  in  dem  psychischen  Krankheits- 
bilde des  chronischen  Alkoholismus.  Das  wesentlichste,  die 
Situation  von  Anfang  an  beherrschende  Symptom  ist  hier  das  all- 
mähliche Schwinden  jener  constanten  Motive  des  Handelns, 
die  man  als  „moralischen  Halt",  „Charakter"  zusammen- 
zufassen pflegt.  Der  Trinker  verliert  mehr  und  mehr  die  Fähigkeit, 
nach  feststehenden  Grundsätzen  zu  handeln,  und  wird  auf  diese 
Weise  zum  Avülenlosen  Spielball  zufälliger  äusserer  Verlockungen, 
namenthch  aber  der  immer  unbezwinglicher  werdenden  Neigung 
zum  Alkohol.  Li  sehr  naiver  Weise  pflegt  er  diese  Willens- 
schwäche einzugestehen,  iudem  er  als  vollständig  genügende  Ent- 
schuldigung für  einen  Excess  die  Thatsache  anführt,  dass  man  ihn 
zum  Trinken  aufgefordert,  ihm  etwas  bezahlt  habe,  dass  Wein  „auf 
dem  Tische  stand".  Auch  wenn  er  immer  und  immer  wieder  den 
festen  Entschluss  fasst,  dem  Alkohol,  den  er  mehr  oder  weniger  klar 
als  die  Quelle  seines  körperlichen,  sittlichen,  gesellschaftlichen  und 
wirthschaftlichen  Unterganges  erkennt,  endgültig  und  für  immer  zu 
entsagen,  auch  wenn  er  vielleicht  unaufgefordert  seine  guten  Vor- 
sätze mit  den  heiligsten  A'ersprechungen  und  Schwüren  bekräftigt 

Ol 

Kraepelin,  Psychiatrie.    4.  Anfl. 


530 


X.  Die  clironischen  Intoxikationen. 


und  sich  beleidigt  fühlt,  sobald  man  leise  Zweifel  an  der  Aufrichtig- 
keit derselben  äussert,  genügt  doch  nahezu  ausnahmslos  bereits  die 
erste  beste  Gelegenheit,  um  den  schwachen  Willen  zu  überwältigen 
und  alle  die  auf  Sand  gebauten  Vorsätze  ohne  Weiteres  über  den 
Haufen  zu  werfen.  Ist  es  doch  gerade  das  durch  den  Alkohol  hervor- 
gerufene Gefühl  erhöhter  Leistungsfähigkeit,  das  den  Kranken  über 
den  Zustand  reuevoller  Ernüchterung  hinwegführt  und  ihn  das  Elend 
seiner  ganzen  Lage  wieder  für  einige  Zeit  vergessen  lässt. 

Unter  immer  wiederholtem  Siege  der  wachsenden  Leidenschaft  über 
das  sich  abstumpfende  Pflichtgefühl  schreitet  die  sittliche  Entartung  des 
Trinkers  mit  Riesenschritten  fort.  Die  mächtigen  Motive  der  Ehi'üebe, 
der  Gatten-  und  Kinderliebe,  der  Scham  verlieren  ihre  Wirkung 
über  ihn.  Er  kümmert  sich  nicht  mehr  um  das  Wohl  und  Wehe 
seiner  Angehörigen,  giebt  sie  einfach  dem  Elend  Preis,  wird  gleich- 
gültig gegen  ihre  Bitten  und  Vorwürfe,  wie  gegen  gesellschaftiiche 
Massregelungen  und  die  Verachtung  seiner  Standesgenossen.  Ohne 
Eücksicht  auf  seine  Bildung,  seine  Stellung  betrinkt  er  sich  öffentlich, 
schliesst  wahllos  Dutzbrüderschaften,  verhandelt  seine  zartesten 
Familienangelegenheiten  mit  wildfremden  Menschen.  Meist  ent- 
wickelt sich  dabei  ein  gevsdsses  erhöhtes  Selbstgefühl,  welches  in 
handgreiflichen  Prahlereien  einen  um  so  stärkeren  Ausdruck  findet, 
je  weniger  der  Kranke  seine  zwingendsten  PfUchten  zu  erfüllen  im 
Stande  ist. 

In  engster  Verbindung  damit  steht  die  Thatsache,  dass  kein 
Trinker  jemals  sich  selber  irgend  welche  Verschuldung  an 
seiner  Trunksucht  beizumessen  geneigt  ist.  Viele  stellen  überhaupt 
trotz  der  beweisendsten  Anzeichen  das  Potatorium  schlankweg  in 
Abrede  und  suchen  die  aUenfaUs  gelegenthch  genossenen  Alkohol- 
mengen als  äusserst  harmlos  und  in  bedeutend  verkleinertem  Mass- 
stabe hinzustellen;  sie  weisen  namentlich  darauf  hin,  dass  sie  niemals 
oder  doch  nur  sehr  selten  wirklich  „betrunken"  gewesen  seien,  eine 
Beweisführung,  welche  selbst  bei  Voraussetzung  völliger  Glaub- 
würdigkeit angesichts  der  sehr  subjectiven  Kriterien  und  der  sehr 
verschiedenen  Empfindlichkeit  gegen  den  Alkohol  selbstverständlich 
nur  geringen  Werth  hat.  Andere  geben  zwar  mit  einigen  Umschweifen 
ihre  Alkoholexcesse  zu,  stellen  dieselben  jedoch  als  durchaus  noth- 
wendig,  durch  ihre  besonderen  Lebensverhältnisse  bedingt  dar.  „Wie 
kann  man  ohne  Wein  und  Bier  schwer  jirbeiten!"  sagte  mii-  ein 


Alkoholismus. 


531 


Lastträger;  die  Andern  würden  ihn  ja  auslachen,  wenn  er  nicht 
tränke.  Es  ist  interessant,  zu  sehen,  wie  kein  einziger  Beruf  sich 
völlig  unfruchtbar  an  zwingenden  Motiven  für  den  Alkoholgenuss 
erweist.  "Während  den  Schmied,  den  Schlosser,  den  Glasarbeiter  die 
Hitze  des  Feaers  zur  Schnapsflasche  ti-eibt,  thut  beim  Droschken- 
kutscher, beim  Nachtwächter  die  nächtliche  Kälte  denselben  Dienst; 
die  Zie'gelarbeiter  finden  beim  Kneten  in  der  Nässe,  die  Müller  und 
Maui-er  beim  Eiuathmen  des  trockenen  Staubes  ihre  Eettung  im 
Trinken,  ja  ein  Angestellter  einer  Dampfschifffahrtsgesellschaft  gab 
mir  an,  dass  man  „in  einem  so  grossen  Geschäft"  ohne  den  Alkohol 
nicht  auskommen  könne.  Fast  noch  häufiger,  als  durch  die  Be- 
schäftigung, wird  die  Trunksucht  durch  wirthschaftliche  und  häusliche 
Verhältnisse  begründet.  Bald  ist  es  der  Kummer  über  den  Eück- 
gang  des  Verdienstes,  über  den  Verlust  einer  Stellung,  bald  ist  es 
die  schlechte  Wohnung  oder  die  UDgenügende  Ernährung,  vor  Allem 
aber  das  unglückliche  eheliche  Leben,  welches  den  Trinker  nach 
seiner  Angabe  dem  Potatorium  in  die  Arme  geführt  hat.  Regel- 
mässig ergiebt  sich  hier  bei  genauer  Nachforschung,  dass  der  Zu- 
sammenhang ein  umgekehrter  gewesen  ist,  dass  die  angeblichen 
Ursachen  der  Trunksacht  in  "Wirklichkeit  als  mittelbare  oder  un- 
mittelbare Folgen  derselben  angesehen  werden  müssen. 

Hand  in  Hand  mit  der  moralischen  Verblödung  geht  eine  Er- 
höhung der  gemüthlichen  Reizbarkeit,  namentlich  während  der 
Alkoholwirkang.  Aus  ihr  entwickelt  sich  dann  die  berüchtigte  Streit- 
sucht der  Trinker,  ihre  Neigung  zu  unfläthigem  Schimpfen,  raschen 
Gewaltacten  und  Rohheiten,  Msshandlungen  der  Angehörigen,  zweck- 
losen Zerstörungen.  In  bemerkenswerthem  Gegensatze  zu  der  Rück- 
sichtslosigkeit und  Heftigkeit  des  Trinkers  in  seinen  häuslichen  Ver- 
hältnissen steht  die  Gefügigkeit  und  Lenksamkeit  desselben  bei 
längerer  Enthaltsamkeit  unter  dem  Drucke  äusseren  Zwanges  in  der 
Irrenanstalt,  im  Gefängniss  u.  s.  w.  Dem  Unerfahrenen  erscheint 
es  oft  vollkommen  unbegreiflich,  wie  es  denn  möglich  war,  dass  der 
anscheinend  ganz  ruhige  und  gutmüthige  Mensch  in  der  Fi'eiheit  so 
rohe  und  unsinnige  Gewaltthaten  begehen  konnte.  Sehr  eigenartig  ist 
dabei  vielfach  der  reumüthige,  ja  süssliche  Ton  der  Briefe,  welche  von 
Betheuerungen,  guten  Vorsätzen  und  frommen^  moralischen  Redens- 
arten strotzen,  Avährend  ein  Entlassungsversuch  binnen  kürzester  Frist 
die  ganze  Haltlosigkeit  des  Trinkers  aufs  deutlichste  vor  Augen  führt. 

34* 


532 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


Etwas  später,  als  die  Störungen  auf  moralischem  Gebiete,  aber 
niemals  gänzlich  fehlend,  entwickelt  sich  beim  Alkoholisten  eine 
allmähliche  Ab  Schwächung  der  Intelligenz.  Die  psychisclie 
Leistungsfähigkeit  nach  dieser  Kichtung  hin,  das  Festhalten  und 
Yerarbeiten  neuer  Eindrücke,  beginnt  mehr  und  mehr  zu  leiden. 
Stillstand,  dann  Eückgang  der  geistigen  Ausbildung,  Schwäche  des 
Gedächtnisses,  Yerarmung  des  Vorstellungsschatzes  und  Yerengerung 
des  Gesichtskreises  sind  die  unausbleiblichen  Folgen.  In  schweren 
Fällen,  kommt  es  schliesslich  zur  Entwickelung  eines  ausgeprägten 
Schwachsinns.  Der  Krank©  bleibt  zwar  besonnen  und  orientirt, 
verliert  aber  in  Folge  schiefer  und  einseitiger  Auffassung  und 
häufig  auch  einzelner  wirklicher  Sinnestäuschungen  das  richtige  Yer- 
ständniss  für  die  Yorgänge  in  seiner  Umgebung.  ISTach  derselben 
Kichtung  wirkt  seine  Yergesslichkeit,  welche  ihm  unvermerkt  ein 
völlig  verzerrtes,  mit  eigenen  Zuthaten  durchsetztes  Bild  seiner  Er- 
lebnisse unterschiebt.  Bei  seinen  aufdringlichen,  eintönigen  Er- 
zählungen geräth  er  daher  sehr  bald  in  ein  endloses  Gefasel,  voll 
der  gröbsten  Widersprüche  und  Unwahrscheinlichkeiten. 

Eegelmässig  entwickelt  sich  beim  Trinker  im  Laufe  der  Zeit 
eine  gewisse  Unruhe  und  Unstetigkeit.  Er  kann  nicht  lange 
stillsitzen,  treibt  sich  gern  ziellos  herum,  in  den  Kneipen  oder  auf  der 
Landstrasse.  Seine  Arbeitsfähigkeit  zeigt  daher  eine  sehr  bedeutende 
Abnahme,  nicht  nur  weil  häufige  Bäusche  die  Continuität  der  Be- 
schäftigung durchbrechen,  sondern  namentlich  auch,  weil  er  zu  jeder 
nachhaltigen  und  länger  dauernden  Anstrengung  seiner  körperlichen 
und  geistigen  Ejräfte  unfähig  geworden  ist.  In  Folge  dessen 
pflegt  es  mit  seinen  wirthschaftlichen  Yerhältnissen  rasch  bergab  zu 
gehen.  Er  verdient  wenig  oder  garnichts  mehr,  verbraucht  aber 
verhältnissmässig  viel  und  greift  nun  zu  allerlei  Auskunftsmitteln, 
um  sich  das  Geld  zum  Trinken  zu  verschafi"en.  Zunächst  hört  er 
auf,  für  seine  Familie  zu  sorgen,  sucht  im  Gegentheil  noch  von  ihr 
so  viel  wie  möglich  zu  erpressen.  Mehr  und  mehr  bevorzugt  er  die 
Getränke,  welche  ihn  am  raschesten  und  billigsten  in  den  Kausch- 
zustand  versetzen,  treibt  sich  in  den  schmutzigsten  "Winkelkneipen 
und  in  der  verkommensten  Gesellschaft  herum.  Sobald  der  Credit 
bei  Kneipwirthen  und  Saufkameraden-  erschöpft  ist,  geht  es  ans  Ver- 
setzen und  Verkaufen  des  persönlichen,  dann  aber  auch  des  Eigen- 
thums der  Angehörigen,  und  nicht  zu  selten  schliesst  die  weitere 


Alkoholismus. 


533 


Laufbahn  mit  Zechprellereien,  Schwindeleien,  Betrügereien,  mit 
Hehlerei  und  Diebstahl  ab. 

Der  allgemeinen  Störungen,  welche  der  chronische  Alkoholis- 
mus in  den  verschiedensten  Organen  des  Körpers  regelmässig  erzeugt, 
ist  bereits  früher  gedacht  worden.  Es  soll  daher  an  dieser  Stelle 
nur  noch  kurz  auf  die  schweren  Veränderungen  im  Nervensystem 
hingewiesen  werden.  Ausser  Schwindel  und  Kopfschmerzen,  sowie 
dem  Tremor  an  Zunge  und  gespreizten  Fingern  fallen  namentlich 
die  bekannten  neui'itischen  Symptome  ins  Auge,  Schwäche  der  Arme 
und  Beine,  Unsicherheit  beim  Stehen  und  Gehen,  Muskelatrophie, 
schmerzhafte  Druckpunkte,  Anaesthesien,  Hyperaesthesien,  Par- 
aesthesien.  Die  Eeflexe  sind  vielfach  gesteigert,  seltener  erloschen. 
Am  Opticus  hat  man  ebenfalls  eine  alkoholische  Neuritis  (Abblassung 
der  temporalen  Papillenhälfte)  kennen  gelernt;  bisweüen  bestehen 
Augenmuskellähmungen.  Ueberaus  häufig  sind  bei  Trinkern  ver- 
einzelte epileptische  Krampfanfälle,  aber  auch  die  Entwickelung  einer 
ganz  typischen  Epilepsie  mit  zumeist  schweren  Krampferscheinungen 
(häufig  Zungenbiss)  wird  in  etwa  1/3  der  Fälle  beobachtet.  Es  liegt  nahe, 
in  solchen  Fällen  an  organische  Hirnvoränderungen  zu  denken. 
FreiUch  gleichen  sich  die  auffallenden  Erscheinungen  des  chronischen 
Alkoholismus  selbst  bei  vorgeschrittener  Erkrankung  bisweilen  mit 
überraschender  SchuelHgkeit  wieder  aus.  Aber  die  zurückbleibende 
Schwäche,  namentlich  auf  dem  Gebiete  des  Willens,  ist  doch  ein  so 
hartnäckiges  Symptom,  dass  wir  im  Hinblicke  auf  die  Giftvnrkungen 
des  Alkohols  am  peripheren  Nervensystem  auch  eine  dauernde  gi'eif- 
bare  Schädigung  der  Centraiorgane  für  überaus  wahrscheinlich  halten 
müssen.  Leider  fehlt  es  hier  noch  an  Untersuchungen  mit  genügend 
zuverlässigen  Methoden.  Pachymeningitische  Erkrankungen  und  Ge- 
fässveränderungen  sind  häufige  Befunde. 

Unter  den  Ursachen  des  chronischen  Alkoholismus  spielt  eine  nicht 
geringe  Eolle  die  angeborene  oder  vererbte  Disposition.  Die  Neignng 
zum  Trinken  wird  in  hohem  Masse  auf  die  Nachkommenschaft  über- 
tragen, wahrscheinlich  in  Form  einer  verringerten  moralischen  Wider- 
standsfähigkeit überhaupt,  während  die  Yerführung  zum  Alkoholismus 
insbesondere  durch  staatliche  Einrichtungen  und  gesellige  Gewohn- 
heiten in  mehr  als  ausreichender  Weise  besorgt  wird.  Namentlich 
die  Zeiten  „flotten"  Lebensgenusses  fordern  unter  den  haltlos  ver- 
anlagten Personen  ihre  sicheren  Opfer.  Andererseits  ist  es  die  Noth, 


534 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


das  Elend,  namentlich  aber  die  yerhängnissvolle  Gedankenlosigkeit 
und  Unwissenheit  der  Massen,  welche  sie  wehrlos  dem  für  un- 
entbehrlich gehaltenen  Missbrauche  in  die  Arme  ti-eiben.  TagtägUch 
trinken  Tausende  und  Abertausende  gerade  desAvegen  "Wein,  Bier 
oder  Schnaps,  weil  sie  davon  überzeugt  sind,  dass  der  Alkohol  die 
körperliche  LeistungsfäMgkeit  erhöhe,  eine  „Stärkung"  des  Organismus 
bewirke.  Wenn  diese  Anschauung  schon  für  die  acute  Alkohol- 
wirkuug  durch  die  objective  Messung  im  "Wesentlichen  widerlegt 
wird,  so  ist  sie  für  den  chronischen  Gebrauch  geistiger  Geti'änke 
zweifellos  grundfalsch.  Gegen  diesen  gefährlichen  Unfug,  an  dem 
Avir  Aerzte  zum  guten  Theil  mit  Schuld  tragen,  kann  nicht  energisch 
genug  zu  Felde  gezogen  werden.  Gar  nicht  selten  knüpft  sich  die 
Entwickelung  des  chronischen  Alkoholismus  direct  an  das  zum  Früh- 
stück verordnete  Gläschen  Portwein  oder  Sherry  an.  So  beobachtete 
ich  kurz  hintereinander  zwei  Frauen,  welche  dadurch  schwerer 
Trunksucht  verfallen  waren ,  dass  ihnen  vom  Arzte  „zur  Stärkung"- 
nach  hartnäckigen  Menorrhagien  der  regelmässige  Genuss  alkohol- 
reichen "Weines  empfohlen  wurde.  Zu  welchen  entsetzlichen  Folgen 
endlich  eine  solche  therapeutische  Vergiftung  bei  jugendlichen 
Personen  führt,  hat  unlängst  De  mm  e*)  in  sehr  beherzigen  swerther 
"Weise  geschildert. 

Die  Mengen  alkoholischer  Getränke,  welche .  der  Einzelne  zu  sich 
nimmt,  sind  sehr  verschieden.  Manche  Personen  vertragen  von  vorn 
herein  sehr  Avenig,  und  umgekehrt  scheint  sich  auch  bei  alten  Trinkern 
bisweilen  Avieder  eine  verminderte  "Widerstandsfähigkeit  gegen  den 
Schnaps  einzustellen.  Andererseits  berichtet  Siemerling**)  von 
einem  Arbeiter,  der  in  24  Stunden  3  Liter  Nordhäuser  mit  Bittein, 
von  einem  andern,  der  2  Liter  Spiritus  mit  Kümmel  trank,  sowie  von 
einer  Eeihe  ähnlicher  Leistungen.   Der  Schnaps  ist  überall  bevorzugt 

Die  Prognose  des  ausgeprägten  chronischen  Alkoholismus  ist 
gewöhnlich  eine  sehr  trübe.  Allerdings  vermag  man  durch  recht- 
zeitiges, energisches  Eingreifen  in  einer  Anzahl  von  Fällen  die 
dauernde  Entwöhnung  vom  Schnaps  durchzusetzen  und  damit  die 
durch  ihn  erzeugten  Störungen  ziun  VerschAvinden  zu  bringen.  Die 
freilich  noch  nicht  sehr  ausgedehnten  Erfahrungen  der  Trinkeräsyle 


*)  Ueber  den  Einfluss  des  Alkohols  anf  den  Organismus  des  Kindes.  1891. 
*)  Charite-Annalen,  XVI,  p.  373  ss.  1891. 


Alkoholismus. 


535 


scheinen  zu  zeigen,  dass  immerhin  ^/i— derjenigen  Kranken, 
welche  sich  einer  längeren,  systematischen  Behandlung  unterwerfen, 
dauernd  und  vollständig  geheilt  werden,  während  ein  gleicher  Bruch- 
theil  Avenigstens  eine  sehr  wesentliche,  anhaltende  Besserung  erfährt. 
Leider  hat  die  Behandlung  der  Alkoholisten  heute  noch  mit  sehr 
gi-ossen  praktischen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen,  zu  deren  Be- 
seitigung bis  jetzt  nicht  mehr  als  die  ersten  Schritte  haben  gethan 
Averden  können.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  sinkt 
daher  der  Gewohnheitstrinker  nach  jeder  Kichtung  hin  allmählich 
tiefer  und  immer  tiefer,  bis  zum  völligen  körperlichen  und  geistigen 
Ruin,  wenn  nicht  irgend  eine  der  zahlreichen,  seine  geschwächte 
Constitution  vor  Allem  bedrohenden  Krankheiten  (Pneumonie,  Apo- 
plexie, Nephritis)  das  Ende  schon  früher  herbeiführt. 

Die  Erkennung  des  Trinkers  ist  in  den  vorgeschritteneren 
Stadien  sehr  leicht.  Abgesehen  von  dem  vernachlässigten,  herunter- 
gekommenen Aeusseren,  welches  lebhaft  mit  der  socialen  Stellung 
contrastirt,  deuten  die  schwimmenden  Augen,  das  gedunsene,  häufig 
durch  kleine  erweiterte  Yenen  geröthete  Gesicht,  die  stark  belegte^ 
oft  zitternde  Zunge,  ein  leichter  Tremor  der  gespreizten  Finger  und 
der  fusehge  Geruch  des  Athems  unverkennbar  auf  die  chronische 
Yergiftung  hin.  Vielfach  fällt  frühzeitiges  Altern  auf.  Die  genauere 
Prüfung  lässt  ausserdem  fast  immer  leichtere  oder  schwerere  neu- 
ritische  Symptome  entdecken,  besonders  an  den  unteren  Extremitäten. 
Seltener  gelingt  auch  der  Nachweis  einer  der  sonstigen,  dem  chroni- 
schen Alkoholismus  eigenthümlichen  Organerkrankungen. 

Die  einzige  Aufgabe,  welche  die  Behandlung  des  chronischen 
Alkoholismus  zu  lösen  hat,  ist  die  Herbeiführung  einer  dauernden, 
völligen  Enthaltsamkeit  von  allen  alkoholischen  Getränken. 
Alle  Yersuche,  den  Trinker  etwa  zu  einem  mässigen  Genüsse  von 
Spirituosen  zurückzuführen,  scheitern  erfahrungsgemäss  an  dem 
Umstände,  dass  eben  gerade  der  Alkohol  die  Selbstbeherrschung 
vernichtet,  die  Ausführung  impulsiver  Handlungen  begünstigt  und 
direct  zu  Excessen  verführt.  "Wer  einmal,  sei  es  aus  Anlage  oder 
durch  äussere  Yerhältnisse,  zum  Trinker  geworden  ist,  kann  nur 
durch  bedingungslose  Enthaltsamkeit  den  Gefahren  eines  Rückfalles 
entgehen,  aus  dem  einfachen  Grunde,  weü  jene  letztere  unvergleichlich 
leichter  durchzuführen  ist,  ausserordentlich  viel  geringere  Anforder- 
ungen an  die  Willenskraft  stellt,  als  das  Einhalten  irgendwie  fixirter 


536 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


Mässigkeitsgrenzen.  Wenn  mir  demnach  auch  die  grundsätzliche 
Yerdammung  jedes  Alkoholgenusses  für  den  gesunden  Menschen  an 
sich  über  das  Ziel  hinauszuschiessen  scheint,  so  betrachte  ich  für 
den  Trinker  allerdings  die  unverbrüchliche  Bewahrung  voller  Ab- 
stinenz als  die  nothwendige  Yorbedingimg  seiner  "Wiederherstellung. 
In  einer  grossen  Anzahl  von  Fällen  empfinden  die  Krauken  ihre 
hülflose  Ohnmacht  gegenüber  dem  Genussmittel  stark  genug,  um 
selbst  den  hier  angedeuteten,  einzig  möglichen  Ausweg  aus  ihrem 
Zustande  einzuschlagen.  Bei  kurzem  Bestände  des  Leidens  und 
grosser  ursprünglicher  Willenskraft  kann  die  Entziehung  sogar  ohne 
weiteres  äusseres  Hülfsmittel  von  dem  Kranken  durchgeführt  und 
das  erreichte  Eesultat  dauernd,  je  länger,  um  so  leichter,  festgehalten 
werden.  Sehr  häufig  indessen  sind  die  Trinter  von  vorn  herein 
oder  in  Folge  ihres  Alkoholismus  so  willensschwach,  dass  sie  den 
in  ihren  häuslichen  Yerhältnissen,  ihrem  Berufe,  ihrem  Verkehr 
liegenden  Verführungen  nicht  aus  eigener  Kraft  zu  widerstehen 
vermögen.  In  solchen  Fällen  passt  die  Verbringung  in  ein  „Trinker- 
asyl", wie  sie  heute,  allerdings  in  noch  gänzlich  ungenügender  Zahl, 
bereits  in  den  meisten  Ländern  bestehen. 

Endlich  aber  giebt  es  auch  Trinker  genug,  denen  die  Einsicht 
in  ihr  eigenes  Elend,  sowie  das  Streben,  sich  aus  demselben  zu 
befreien,  völlig  fehlt,  oder  welche  aus  andern  Gründen  (Wahnideen) 
jedem  Versuche  einer  Freiheitsbeschränkung  kategorischen  Wider- 
stand entgegensetzen.  Die  zwangsweise  Durchführung  der  Entziehimg 
bei  solchen  Menschen  kann  heute  nur  in  der  Weise  geschehen,  dass 
sie  als  geisteskrank  in  eine  Irrenanstalt  verbracht  werden.  Da  in- 
dessen der  Alkoholismus  als  psychische  Störung  gesetzlich  bisher 
keineswegs  anerkannt  wird,  so  besteht  thatsächlich  in  einer  er- 
schreckend grossen  Zahl  von  Fällen  die  rechtliche  Unmöglichkeit, 
den  verblendeten  Trinker  von  der  Vernichtung  seiner  eigenen,  ^ne 
der  Existenz  seiner  Familie  auch  gegen  seinen  Willen  zurück- 
zuhalten. Dass  hier  die  Nothwendigkeit  staatlichen  Eingreifens  zum 
Mindesten  ebenso  dringend  ist,  wie  etwa  bei  der  zwangsweisen  Be- 
handlung sypliiütischer  Prostituirter,  von  dem  Verfahren  gegenüber 
gemeingefährlichen  Geisteskranken  garnicht  zu  reden,  bedarf  keiner 
weiteren  Ausführung. 

Die  Entziehung  des  Alkohols  kann  in  der  Eegel  eine  ganz 
plötzliche  seiu.  Ich  habe  bisher  erst  in  einem  einzigen  Falle  durch 


Alkoholismus. 


537 


den  unvermittelten  Wegfall  des  gewohnten  Alkohols  schwerere 
Störungen  eintreten  sehen.  Es  handelte  sich  um  einen' jungen  Mann 
mit  einem  Herzfehler,  welchem  in  der  Heilanstalt,  die  er  wegen 
seiner  Trunksucht  aufgesucht  hatte,  ärztlicherseits  täglich  eine  Flasche 
Cognac  verordnet  worden  war.  Hier  sah  ich  mich  wegen  der 
Neigung  zum  Collaps  genöthigt,  neben  andern  Mitteln  noch  einige 
Tage  laug  kleine  Alkoholmengen  zu  geben.  Meist  jedoch  pflegen 
sich  die  geringen  anfänglichen  Störungen,  Schlaflosigkeit,  einzelne 
Hallucinationen,  Appetitlosigkeit  schon  nach  wenigen  Tagen  erheblich 
zu  bessern  oder  völlig  zu  verlieren.  Die  weitere  Erholung  schreitet 
nnn  ungemein  schnell  vorwärts.  Gleichwol  sollte  die  Dauer  der 
Anstaltsbeaufsichtiguug  in  einigermassen  schweren  Fällen  nicht  unter 
8/4 — 1  Jahr,  nach  Recidiven  noch  längere  Zeit  betragen,  da  nament- 
lich die  psychische  "Widerstandsfähigkeit  immer  noch  erheblich  ge- 
schwächt bleibt,  auch  wenn  der  Kranke  in  allen  übrigen  Beziehungen, 
selbst  hinsichtlich  seiner  Krankheitseinsicht,  schon  vollständig  ge- 
nesen erscheint.  Hie  und  da  sieht  man  übrigens  erst  nach  viel- 
monatlichem, zunächst  widerwilligem  Anstaltsaufenthalte  doch  all- 
mählich ein  besseres  Yerständniss  für  die  Sachlage  und  damit 
Zugänglichkeit  für  die  Bemübungen  des  Arztes  zu  Stande  kommen- 
Alle  diese  Umstände  spielen  ebenso  wie  die  Persönlichkeit  des 
Kranken  überhaupt  und  seine  äusseren  Yerhältnisse  eine  'nächtige 
Rolle  für  die  Abmessung  der  Behandlungsdauer.  Jedenfalls  soll 
die  "Wiedereinführung  in  die  Freiheit  nach  anfänglich  strengster 
Ueberwachung  nicht  plötzlich,  sondern  ganz  allmählich  geschehen, 
um  das  Selbstvertrauen  des  Kranken  zu  kräftigen  und  seine  Wider- 
standsfähigkeit praktisch  zu  erproben.  Branntweinbrennern,  Wein- 
reisenden, Schankwirthen  u.  s.  f.  ist  eine  Aenderung  ihres  Berufes 
dringend  anzurathen.  Als  moralisches  Pressionsmittel  zur  Er- 
leichterung der  Alkoholentwöhnung  ist  in  neuerer  Zeit  mehrfach 
mit  Erfolg  auch  die  hypnotische  Suggestion  mit  herangezogen  worden 
(Forel). 

Ungleich  grössere  Aussicht  auf  Erfolg,  als  die  Behandlung  des 
ausgebildeten  Alkoholismus,  gewährt  die  Prophylaxe  desselben. 
Die  verschiedenartigsten  Factoren  sind  berufen,  in  dieser  Richtung 
zusammenzuwirken.  In  der  Herabsetzung  der  Schnapsproductiou,  der 
Monopolisirung  und  Einschränkung  des  Detailverkaufs  (Gothen- 
burger System),  in  der  öffentlichen  Belehrung  über  die  schweren 


538 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


Gefahren  des  Alkoholismus,  endlich  aber  in  der  Einbürgerung  harm- 
loser Anregungsmittel  (Kaffee,  Thee)  und  auch  schon  in  der  Ver- 
drängung wenigstens  der  gefährlicheren  Formen  des  Schnapses  mit 
Hülfe  unverfälschter  Biersorten  sind  uns,  wie  die  Erfahrung  lehrt, 
die  Mittel  an  die  Hand  gegeben,  welche  es  uns  ermöglichen,  den 
furchtbaren  Begleiter  und  Feind  zugleich  unserer  Civilisation  nicht 
nur  an  seiner  weiteren  Ausbreitung  zu  verhindern,  sondern  ihm 
allmählich  auch  das  schon  gewonnene,  übergrosse  Terrain  in  hartem 
Kampfe  nach  und  nach  wieder  abzuringen.  "Wie  es  scheint,  sind 
nach  dieser  letzteren  Eichtimg  hin,  durch  die  Kräftigung  des  Ent- 
haltsamkeitsentschlusses die  in  England,  Amerika,  Skandinavien, 
Finnland,  der  Schweiz  sich  rasch  entwickelnden  „Mässigkeitsvereine" 
eine  beti'ächtliche  moralische  Einwirkung  auszuüben  im-  Stande  ge- 
wesen. Gerade  für  den  Trinker  mit  seiner  Willensschwäche  bildet 
der  Kückhalt,  den  die  Yereinigung  bietet,  ein  sehr  wichtiges  Hülfs- 
mittel  im  Kampfe  mit  der  Yerführung.  Der  sich  durch  das  Yereins- 
leben,  durch  den  Gedankenaustausch,  die  eigenartige  Literatur  ent- 
wickelnde Fanatismus  ist  ein  wohlthätiges,  vielleicht  sogar  noth- 
wendiges  "Werkzeug  zur  Bettung  jener  ungezählten  Schaaren,  welche 
vereinzelt,  auf  sich  selbst  gestellt,  unfehlbar  zu  Grunde  gehen  würden. 
Die  wichtigsten  in  Beti-acht  kommenden  Vereinigungen  sind  der 
Alkoholgegnerbund  (Internationaler  Verein  zur  Bekämpfung  des 
Alkoholgenusses),  der  Verein  des  blauen  Kreuzes  und  der  Orden 
der  Guttempler.  Freilich  steht  diesen  Gesellschaften  die  Legion  jener 
„gemüthlichen"  Vereinigungen  gegenüber,  welche  unter  irgend  einem 
Aushängeschilde  nichts  anderes  sind,  als  fruchtbare  Brutöfen  des 
„feuchtfröhlichen"  deutschen  Kneip alkoholismus. 

Auf  der  durch  den  chronischen  Alkoholismus  gebildeten  Grund- 
lage können  sich  eine  Anzahl  eigenartiger  psychischer  Störungen 
entwickeln,  welche  zum  Theil  wenigstens  in  ihrem  klinischen  Auf- 
treten selber  schon  den  Eückschluss  auf  die  Grundui'sache  gestatten, 
aus  welcher  sie  hervorgegangen  sind.  Die  bei  weitem  häufigste 
dieser  Störungen,  welche  vielleicht  nur  wenigen  wirklichen  Trinkern 
erspart  bleibt,  ist  das  Delirium  tremens.*) 

Vielfach  pflegt  sich  das  Delirium  tremens  an  irgend  eine  Ge- 
legenheitsursache, namentlich  eine  Verletzung  oder  eine  acute  Er- 


*)  Rose,  Delirium  tremens  \md  Delirium  traumaticum.  1S84. 


Alkoliolismus. 


539 


kranknag  (Pnenmonie)  anznschliessen,  so  dass  man  es  vielleicht  mit 
einem  gewissen  Eechte  als  das  „Collapsdelirium  der  Trinker"  auffassen 
kann.  Selten  sind  die  Fälle,  in  denen  lediglich  erzwungene  Abstinenz 
(Yerhaftung,  Cur)  den  Anlass  zum  Ausbruche  der  Erkrankung  giebt; 
ich  habe  das  nur  ein  einziges  Mal  sicher  beobachtet.  Dagegen  scheinen 
Aifecte,  Aufregungen  eine  auslösende  Kolle  zu  spielen.  Einen 
Bauern  sah  ich  erkranken,  als  er  die  Eeise  nach  Amerika  antrat. 
Auch  gehäufte  Excesse  dürften  nicht  ohne  Bedeutung  sein.  Namentlich 
aber  ist,  wie  ich  glaube,  auf  die- schwere  chronische  Schädigung 
der  allgemeinen  Ernährung  Gewicht  zu  legen.  Von  den  meisten 
Deliranten  erfährt  man,  dass  sie  in  Folge  ihres  Magenkatarrhs  seit 
"Wochen  oder  Monaten  sehr  wenig  Nahrung  zu  sich  genommen  haben. 

Nach  den  Prodromalersclieinungen  einer  erhöhten  psychischen 
(unruhiger  Schlaf,  Verstimmtheit,  Schreckhaftigkeit)  und  sensoriellen 
(Hyperaesthesie,  subjective  Geräusche,  Blitze,  feurige  Sterne)  Er- 
regbarkeit, welche  bisweilen  einige  Tage,  meist  jedoch  nur  wenige 
Stunden  andauern,  entwickelt  sich  in  rascher  Steigerung  der  Sym- 
ptome das  volle  Krankheitsbild,  welches  vor  Allem  durch  lebhafte  und 
zahlreiche  phantastische  Sinnestäuschungen  der  verschieden- 
sten Gebiete  bei  meist  mässiger,  traumartiger  Benommenheit  und 
durch  gewisse  typische  motorische  Störungen  charakterisirt  wird. 

Unter  den  illusionären  und  hallucinatorischen  Trugwahr- 
nehmungen, welche  Anfangs  nur  des  Nachts,  dann  aber  auch  bei 
Tage  hervortreten  und  den  Kranken  lebhaft  beschäftigen,  pflegen 
diejenigen  des  Gesichtes  zu  überwiegen.  Die  Phantasmen  sind  von 
grosser  sinnlicher  Deutlichkeit,  vielfach  schreckhaften  und  unan- 
genehmen Inhalts.  Meist  sehen  die  Kranken  massenhafte  kleinere 
und  grössere  Gegenstände,  Staub,  Flocken,  Münzen,  Schnapsgläschen, 
Flaschen.  Noch  häufiger  sind  Thiere,  welche  sich  immerfort  zwischen 
die  Beine  drängen,  in  der  Luft  herumschwirren,  das  Essen  bedecken. 
Spinnen,  Käfer,  Wanzen,  Schlangen,  Gewürm,  Eatteu,  Hunde.  Zahl- 
lose Menschenmengen  dringen  auf  die  Kranken  ein  (feindliche  Reiter, 
Gensdarmen)  oder  marschiren  in  laugen,  phantastisch  gruppirten 
Zügen  an  ihnen  vorbei;  einzelne  gefahrdrohende  Spukgestalten,  Miss- 
geburten, kleine  Männer,  Teufel,  „Feuerrüpel",  Gespenster  stecken  den 
Kopf  in  die  Thüre,  buschen  unter  den  Möbeln  herum.  Seltener  sind 
geputzte,  lachende  Mädchen  oder  lascive  Sceuen.  Dazu  gesellen  sich 
die  Trugwahrnehmungen  von  brausenden  Geräuschen,  unbestimmten! 


540 


X.  Die  chronischen  Intoxiifationen. 


Tumult,  lautem,  wirrem  Greschrei,  Musik,  Vogelgesang,  von  Glocken- 
geläute, Kanonenschüssen  und  Salven,  bisweilen  auch  von  deutlichen 
Stimmen,  Scheltworten,  Drohungen  und  Anklagen.  Durch  verschieden- 
artige abnorme  Empfindungen  auf  der  Haut  entsteht  bei  dem  Kranken 
die  Idee,  dass  Ameisen,  Kröten,  Spinnen  auf  derselben  entlang 
kriechen;  die  G-enitalien  werden  ihm  abgefressen;  er  fühlt  sich  von 
feinen  Fäden  eingesponnen,  gebissen,  gestochen,  geschossen.  Er 
sammelt  Geld,  das  er  massenhaft  herumliegen  sieht  und  deutlich  in 
der  Hand  fühlt,  aber  es  zerrinnt  wie  Quecksilber.  Was  er  anfasst, 
schwindet,  kriecht  zusammen  oder  wächst  ins  Ungeheure,  um  wieder 
zu  zerfallen,  fortzurollen,  wegzufhessen.  Nicht  selten  kann  man 
dem  Kranken  gewisse  Täuschungen  (Ungeziefer  am  Kocke,  eine 
Nadel  in  der  Hand)  durch  energisches  Einreden  direct  suggerireu. 

Gerade  bei  derartigen  Versuchen  sieht  man  deutlich,  dass  viele 
dieser  Trugwahrnehmungen  mehr  als  Illusionen  aufzufassen  sind. 
Die  kleinen  Knoten  und  Unregelmässigkeiten  des  Gewebes  erscheinen 
Avie  Flöhe  auf  dem  Bettzeug,  die  Schrammen  der  Tischplatte  als 
Nadeln,  Flecke  am  Boden  als  Münzen;  in  den  "Wänden  öffnen  sich 
geheime  Thüren;  die  Kranken  sehen  undeutlich,  verschwommen,  wie 
im  Nebel;  man  bemerkt  an  ihrem  Gebahren,  wie  sie  sich  abmühen, 
klarere  Bilder  zu  bekommen.  Trotzdem  lässt  sich  keine  schwerere 
Sehstörung  nachweisen;  aUe  einzelnen  Eindrücke  werden  richtig 
wahrgenommen  und  aufgefasst;  auch  Anreden  werden  wenigstens 
bei  eindringlicherer  Wiederholung  regelmässig  verstanden  und  sach- 
gemäss  beantwortet. 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  in  leichterem  oder  schwererem 
Grade  getrübt.  Auch  dort,  wo  anscheinend  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung äusserer  Eeize  ganz  prompt  erfolgt,  bietet  die  weitere 
Verarbeitung  derselben  ausnahmslos  die  schwersten  Störungen  dar. 
Die  Umgebung  wird  von  den  Kranken  immer  verkannt.  Sie  be- 
grüssen  Arzt  und  Mitpatienten  auf  Befragen  mit  den  Namen  alter 
Bekannter,  identificiren  die  Eäume  mit  irgend  welchen  Localitäten 
in  der  Heimath,  am  häufigsten  mit  Wirthshäusern,  Brauereien  u.  dergl. 
Alle  diese  Bezeichnungen  können  binnen  Kurzem  wechselu,  wenn 
die  Kranken  ihren  Aufenthaltsort  geändert  zu  haben  glauben,  während 
sie  andererseits  wirkliche  Reisen  gewöhnlich  ganz  ignoriren.  Auch 
die  Schätzung  der  durchlebten  Zeiträume  ist  eine  ganz  unsichere. 
Meist  erscheint  den  Krauken  die  Dauer  des  Deliriums  ungemein 


Alkoholismus. 


541 


lang.  Sie  berichten  daher  später  über  ihre  krankhaften  Erlebnisse, 
als  wenn  Wochen  oder  Monate  darüber  hingegangen  wären. 

Alle  die  hier  angedeuteten  Züge  erinnern  an  unsere  Erfahrungen 
im  Traume,  bei  denen  ims  ja  auch  die  klare  Auffassung  von  Ort 
und  Zeit  vollständig  verloren  zu  gehen  pflegt,  selbst  wenn  im 
üebrigen  der  Zusammenhang  unseres  Gedankenganges  leidlich  gut 
erhalten  ist.  Auch  im  Delirium  tremens  pflegen  die  Kranken  trotz 
ihrer  Desorientirtheit  nicht  eigentlich  verwirrt  zu  sein.  Vielmehr 
sprechen  sie  meist  ganz  geordnet  und  erzählen  in  verständlicher 
Weise,  wenn  auch  mit  häufigen  Unterbrechungen,  allerlei  phan- 
tastische Erlebnisse,  fireilich  ohne  deren  ünsinnigkeit  klar  zu  begreifen. 
Ganz  wie  in  gewissen  Träumen  reiht  sich  während  des  Deliriums 
eine  Scene  voll  abenteuerlicher  Einzelheiten  an  die  andere.  Der 
Kranke  durchlebt  mit  offenen  Augen  in  bunter  Folge  die  merk- 
würdigsten und  widerspruchsvollsten  Episoden  und  vermischt  dabei 
oft  unentwirrbar  wirkliche  Eindrücke  mit  deliriösen  Elementen. 
Einer  meiner  Krauken  sah  sich  vor  ein  geheimes  Gericht  gestellt, 
bei  welchem  Trinker  und  Temperenzler  um  ihn  kämpften.  Andere 
werden  zum  Tode  verurtheilt,  mit  scheusslichem  Gewürm  eingesperrt, 
ins  Bad  geführt,  vom  Arzt  untersucht,  von  Studenten  mit  Champagner 
überschwemmt,  machen  Festtafeln  und  weite  Spaziergänge  mit,  finden 
sich  dann  plötzlich  wieder  eingesperrt  und  ihrer  Kleider  beraubt. 

Sehr  gewöhnlich  spielt  in  den  deliriösen  Erlebnissen  die  ge- 
wohnte Thätigkeit  eine  hervorragende  Kolle  („Beschäftigungsdelirium"). 
Die  Kranken  glauben  im  "Wirthshause  zu  sein,  bestellen  Schnaps 
oder  eine  Portion  Kalbsbraten,  sehen  Getränke  vor  sich,  greifen 
nach  denselben  und  trinken  sie  aus,  serviren  den  „Gästen",  oder 
sie  wähnen  sich  mit  irgend  einer  Arbeit  beschäftigt,  nähen  mit 
imaginären  Fäden,  klopfen  mit  einem  eingebildeten  Hammer  u.  dergl. 
Alle  diese  Hantirungen  werden  mit  grosser  Ausführlichkeit  vor- 
genommen, genau  wie  im  wirklichen  Leben. 

Die  Stimmung  der  Kranken  steht  im  Allgemeinen  mit  dem 
Inhalte  der  Delirien  in  nahem  Zusammenhange.  Sie  ist  daher  bald 
ängstlich,  schreckhaft,  bald  heiter  und  vergnügt.  Bei  dem  raschen 
Wechsel  der  deliriösen  Scenen  ändert  sich  auch  der  Stimmungs- 
hintergrund häufig  ganz  unvermittelt;  Lachen  und  Todesfurcht  folgen 
kurz  aufeinander.  Meist  bildet  sich  auf  diese  Weise  ein  eigen- 
thümliches,  ungemein  typisches  Gemisch  von  geheimer  Angst  und 


542 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


Galgenhumor  heraus.  Der  Kranke  wird  durch  die  Schreckbilder 
und  die  Unklarheit  seiner  Lage  beunruhigt,  empfindet  aber  doch 
gleichzeitig  mehr  oder  weniger  deutlich  die  lächerlichen  Unmöglich- 
keiten und  Widersprüche  in  seinen  deliriösen  Erlebnissen. 

Im  Benehmen  und  Handeln  des  Kranken  fällt  regelmässig 
eine  gewisse  Unruhe  auf.  Er  ist  völlig  ausser  Stande,  sich  wirk- 
lich geordnet  zu  beschäftigen,  sondern  wird  durch  die  Täuschungen 
vollkommen  in  Anspruch  genommen.  Selten  lässt  er  als  passiver 
Zuschauer  die  wechselnden  Eindrücke  einfach  an  sich  vorüberziehen; 
meist  veranlassen  ihn  dieselben  zu  lebhaften  Eeactionen.  Er  ant- 
wortet laut  auf  die  rufenden  Stimmen,  vertheidigt  sich  gegen  die 
Yorwürfe,  drängt  zur  Thür  hinaus,  weil  es  bereits  die  höchste  Zeit 
zu  seiner  Hinrichtung  sei,  Alle  schon  auf  ihn  Avarten.  Ueber  die 
wunderlichen  Thiere  amüsirt  er  sich,  schreckt  vor  den  schwii-renden 
Yögeln  zurück,  sucht  das  GcAvürm  wegzuwischen,  die  Käfer  zu  zer- 
treten, greift  mit  gespreizten  Fingern  nach  den  Elöhen,  sammelt  das 
überall  herumliegende  Geld  auf,  sucht  die  ihn  umspinnenden  Fäden 
zu  zerreissen,  hüpft  mit  peinlicher  Anstrengung  über  die  an  der 
Erde  gezogenen  Drähte  hinweg.  Dazu  gesellen  sich  die  maainich- 
fachsten  Handlungen,  welche  aus  dem  oben  erwähnten  Beschäftigungs- 
delirium hervorgehen.  Yerhältnissmässig  selten  kommt  es  auch  wol 
einmal  zu  plumpen  Angriffen  auf  die  für  feindselig  gehaltene  Um- 
gebung oder  zu  ernsthafteren  Selbstmordversuchen.  Häufiger  ver- 
unglücken die  Kranken  in  ihren  deliriösen  Unternehmungen.  Einer 
meiner  Kranken  stürzte  sich  im  Arrestlocal  aus  Angst  vor  dem 
eintretenden  Diener  zwei  Treppen  hoch  aus  dem  Fenster  und  brach 
den  Eadius;  ein  Student  zwängte  sich  durch  das  Fenster  seines 
Zimmers,  um  auf  einen  hallucinirten  Bahnsteig  zu  gelangen,  fiel 
auf  das  Geländer  des  einen  Stock  tiefer  gelegenen  Balkons  und  blieb 
dort  im  weichen  Schnee  liegen,  ohne  sich  verletzt  zu  haben. 

Der  Schlaf  ist  im  Delirium  tremens  nahezu  gänzlich  aufge- 
hoben; die  Unruhe  pflegt  sich  gegen  Abend  zu  steigern  und  dauert 
ohne  jede  oder  doch  nur  mit  sehr  geringen  Unterbrechungen  fort, 
wenn  nicht  der  Eintritt  soporöser  Zustände  eine  ungünstige  Wendung 
des  Krankheitsverlaufes  ankündigt.  Die  Ernährung  ist  durch  die 
ängstliche  Erregung  der  Kranken,  durch  den  regelmässig  bestehen- 
den Katarrh  des  Mundes  und  Magens,  sowie  durch  häufige  Yer- 
giftungsideen  mit  Nahrungsverweigerung  empfindlich  beeinträchtigt. 


Alkoholismus. 


543 


Die  Temperatur  ist,  avo  keine  gleichzeitige  körperliche  Erkrankimg 
besteht,  meist  normal,  doch  werden  nicht  selten  plötzliche,  beträcht- 
liche Steigerungen  der  Eigenwärme  beobachtet.  In  einzelnen  Fällen 
erreicht  die  Temperatursteigerung  eine  perniciöse  Hartnäckigkeit  und 
Höhe  (bis  zu  43")  mit  letalem  Ausgange  (Delirium  tremens  febrile 
TonMagnan);  es  dürfte  sich  hier  wol  immer  um  Infection  handeln, 
für  deren  Zustandekommen  bei  der  ünempfindüchkeit  und  geringen 
"Widerstandsfähigkeit  der  Kranken  überall  die  günstigsten  Bedingungen 
gegeben  sind.  Die  Athmung  ist  frequent,  ebenso  der  Puls;  häufig 
treten  profuse  Schweisse  auf.  Der  Harn  ist  nicht  selten  eiweisshaltig. 

Auf  sensiblem  Gebiete  bestehen  vielfache  Paraesthesien,  Hyper- 
aesthesien,  Anaesthesien  und  Analgesien,  wie  sie  den  chronischen 
Alkoholismus  überhaupt  zu  begleiten  pflegen.  Schwer  verletzte 
(z.  B.  gebrochene)  Gheder  werden  mit  der  grössten  Kücksichtslosigkeit 
bewegt.  Die  Eeflexerregbarkeit  ist  bedeutend  gesteigert,  be- 
sonders hochgradig  kurz  vor  epileptischen  Anfällen.  Die  Zunge 
und  die  gespreizten  Finger  zeigen  stets  einen  ausgesprochenen, 
vibrirenden  Tremor,  der  sich  auch  noch  Aveiter  über  Gesicht  und 
Extremitäten  ausbreiten  kann.  Bisweilen  beobachtet  man  Zähne- 
knirschen. In  einzelnen,  besonders  schweren  Fällen  treten  auch 
stärkere  Muskelstösse  und  selbst  tonische  Spannungen  ^uf,  wahr- 
scheinlich als  Theilerscheinungen  der  Alkoholepilepsie.  Die  Gesichts- 
züge sind  schlajff;  häufig  machen  sich  einzelne  unwillkürliche 
Zuckungen  und  Mitbewegungen  bemerkbar.  Alle  willkürlichen  Be- 
wegungen geschehen  plump,  unsicher,  obgleich  oft  mit  grosser  Ki'aft; 
auch  der  Gang  ist  meist  unsicher  und  taumelnd.  Häufig  werden 
epileptische  Krampfanfälle  beobachtet,  in  einer  grossen  Anzahl 
von  Fällen  als  Einleitung  der  ganzen  Erkrankung. 

Der  Y erlauf  des  Delirium  ti'emens  ist  meist  ein  rascher  und 
günstiger.  Die  Genesung  vollzieht  sich  unter  dem  Eintritte  von 
Schlaf,  bisweilen  rasch  und  mit  einem  Male,  meist  aber  unter  all- 
mählichem Zurücktreten  der  Sinnestäuschungen,  die  oft  noch  in  be- 
schränktem Grade  fortbestehen,  wenn  der  Kranke  schon  im  Stande 
ist,  sie  zu  corrigiren.  Gewöhnlich  überschreitet  die  Dauer  des 
Deliriums  die  Zeit  von  1 — 2  Wochen  nicht.  Die  Erinnerung  an  die 
Phantasmen  ist  im  Gegensatze  zu  den  Krankheitszustäuden  mit  sehr 
tiefer  Bewusstseinstrübung  oft  eine  ganz  klare  und  detailUrte.  In 
ungünstig  verlaufenden  Fällen  treten  früher  oder  später  die  psychischen 


544 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


Lähmungserscheinungen  stärker  hervor.  Die  Kranken  werden  un- 
besinnlich, deliriren  ganz  zusammenhangslos;  die  Bewegungen  werden 
schwächer  und  schlaffer;  der  Puls  wird  klein,  frequent,  unzählbar, 
und  unter  rascher  Zunahme  der  Benommenheit  tritt  der  Tod  ein. 
Dieser  Ausgang  ist  nach  meinen  Erfahrungen  in  etwa  15 — 20''/o  der 
Fälle  zu  erwarten.  Die  Gefahr  einer  Erschöpfung  mit  tödtlichem 
Collapse  liegt  bei  der  heruntergekommenen  Constitution  der  Alkoholiker 
mit  ihren  verschiedenen  Organleiden  sehr  nahe,  zumal  eben  häufig 
ernste  Erkrankungen  die  Gelegenheitsursache  für  den  Ausbruch  des 
Deliriums  abgeben.  Endlich  führt  auch  die  Unruhe  und  Angst  der 
Kranken  in  einzelnen  Fällen  den  tödtlichen  Ausgang  durch  Selbst- 
mord, Verletzungen  oder  Yerschlimmerung  sonst  harmloser  begleiten- 
der Leiden  herbei.  Die  Leichenöffnung  pflegt  sehr  hochgradige  venöse 
Stauungen  und  Oedeme  des  Schädelinhaltes  zu  ergeben.  Yerhältniss- 
mässig  selten  ist  der  Ausgang  in  anderweitige  Geistesstörungen. 

Die  Diagnose  des  Delirium  tremens  bietet  bei  genauer  Be- 
achtung des  Krankheitsbildes  gewöhnlich  keinerlei  Schwierigkeiten. 
Immerhin  können  gewisse  acut  auftretende  paralytische  Aufregungs- 
zustände,  besonders  bei  vorhergehendem  stärkerem  Alkoholmissbrauche 
zu  diagnostischen  Zweifeln  Anlass  geben,  wenn  man  nicht  die  Ent- 
wickelung  .  des  ganzen  Krankheitsbildes,  die  grössere  VerwÜTtheit 
und  Schwäche  der  Paralytiker,  sowie  die  sonstigen  Symptome  dieses 
Leidens  berücksichtigt.  Tom  Collapsdelirium  unterscheidet  sich  das 
Delirium  tremens  durch  das  Pehlen  der  Ideenflucht  und  des  leb- 
haften, elementaren  Bewegungsdranges,  sowie  durch  die  viel  grössere 
Besonnenheit  der  Kranken. 

Die  Behandlung  hat  sich  vor  Allem  jedes  schwächenden  Ein- 
griffes zu  enthalten  und  für  die  möglichste  Conservirung  der 
Kräfte  durch  gute  Ernährung  (Milch)  Sorge  zu  tragen.  Schon 
prophylaktisch  ist  bei  somatisch  erkrankten  Trinkern  stets  die  Mög- 
lichkeit eines  eintretenden  Delirium  tremens  ins  Auge  zu  fassen 
und  daher  nach  den  angedeuteten  Gesichtspunkten  zu  verfahren.  In 
einer  grossen  Zahl  von  Fällen  wird  man  mit  dem  rein  zuwartenden 
Yerfahren  vollständig  auskommen.  Bisweilen  jedoch  erscheint  es 
noth wendig,  die  Uni'uhe  und  Schlaflosigkeit  direct  zu  bekämpfen. 
Zu  diesem  Zwecke  wird  man  sich  des  Paraldehyd,  des  Sulfonal  oder 
Trional  bedienen;  das  Chloralhydrat  ist  nicht  ungefährlich.  Freiüch 
versagen  oft  alle  Schlafmittel.   Krafft-Ebing  hat  dringend  die  bis 


Alkoholismus. 


545 


zum  Eintreten  des  Schlafes  alle  2 — 3  Stunden  wiederholte  subcutane 
Anwendung  des  Methylal  (0,1  gr)  angerathen,  welche  den  grossen 
Vorzug  haben  soll,  die  Dauer  des  Deliriums  abzukürzen.  Wo  die 
Zeichen  vorgeschrittener  Alkoholdegeneration  vorliegen,  bei  schwereren 
Comphcationen  und  bei  Fieber  wird  auch  das  Opium  (subcutan 
0,03  gT  Extr.  Opü  aquosi  alle  3—4  Stunden,  bis  Schlaf  eintritt)  warm 
empfohlen.  Dabei  ist  die  Herzthätigkeit  sorgfältig  zu  controliren. 
Easches  Abbrechen  der  Opiumbehandlung  muss  vermieden  werden. 
Den  Alkohol  kann  man  für  gewöhnlich  vollkommen  entbehren,  doch 
halte  ich  ihn  bei  Herzschwäche  und  Neigung  zu  Collapsen  für  noth- 
wendig.  Ausserdem  ist  hier  ein  analeptisches,  excitirendes  Verfahren 
ohne  Narkotica  am  Platze  (Aether,  Campher,  starker  Kaffee,  kühle 
Uebergiessungen). 

Von  grösster  "Wichtigkeit  ist  endlich  bei  der  notorischen  Ge- 
fährlichkeit dieser  Kranken  füi-  sich  und  Andere  eine  sorgfältige, 
unausgesetzte  TJeberwachung  derselben.  Betten  mit  hohen,  ge- 
polsterten Wänden,  die  das  Herausspringen  erschweren  und  Selbst- 
verletzungen verhindern,  sind  sehr  empfehlenswerth,  aber  nur  dann, 
wenn  beständig  Pflegepersonal  in  unmittelbarer  Nähe  sich  befindet; 
im  anderen  Falle  kann  das  Hiuausklettern  des  imgeschickten  Kranken 
über  die  hohe  Seitenwand  zu  schweren  Verletzungen  Veranlassung 
geben.  Die  Keconvalescenz  ist  durch  die  Sorge  für  Beseitigung  der 
Verdauungsstörungen  und  gute  Ernährimg,  sowie  dm-ch  Eegelung 
des  Schlafes  zu  unterstützen. 

"Weit  seltener,  als  das  DeKrium  tremens,  hat  man  bei  Trinkern 
Gelegenheit,  gewisse  andere  episodische  Geistesstörungen  zu  beobachten. 
Vor  allem  ist  hier  der  acute  hallucinatorische  Wahnsinn  zu 
nennen,  der  meist  imter  dem  Namen  der  acuten  alkoholischen  Ver- 
rücktheit beschrieben  wird.  Das  Bild  desselben  ist  fiäiher  bereits 
eingehend  geschildert  worden.  Femer  kommen  bisweilen  eigen- 
thümüche  chronisch-deliriöse  Zustände  vor.  Die  Kranken 
halluciniren  dauernd  ganz  in  der  Art  der  gewöhnlichen  Dehranten, 
sind  dabei  unvollkommen  orientirt  imd  wechsekider,  bald  gereizter 
oder  ängstücher,  bald  gleichmüthig-himaoristischer  Stinnnimg.  Klare 
Einsicht  in  die  krankhafte  Natur  der  Täuschimgen  ist  nicht  vorhanden; 
andererseits  werden  auch  keine  eigentlichen  Wahnideen  ausgebildet. 
Einer  meiner  Kranken  suchte  sich  mehrfacli  durch  Schiessen  gegen 
die  ihn  bedrohenden  Gestalten  zu  vertheidigen.  Eegelmässig  besteht 

Kraopelin,  Psychiatrie,   4.  Änfl.  35 


546- 


X.  Die  chrpniscliea  Intoxikationen. 


bereits  ein  höherer  Grad  von  alkoholischem  Schwachsinn.  Die  Dauer 
solcher  Zustände  kaan  sich  über.  Jahre  hinaus  erstrecken.  Nach  Aus- 
setzen des  Trinkens  pflegen  sich  die  Täuschungen  ganz  allmählich 
zu  verlieren,  während  die'  geistige  Schwäche  fortbesteht.  Endlich 
giebt  ßs  noch  einzelne  Fälle  von  chronischem  Alkoholismus,  in  denen 
häufiger,  namentlich  des  Nachts,  einzelne  Hallucinationen  ohne 
weitere  psychische  Störung  und  mit  voller  Einsicht  in  die  Krankhaftig- 
keit der  Erscheinung  auftreten.  Yielleicht  handelt  es  sich  dabei  nur 
um  die  erste  Entwickelungsstufe  des  chronischen  alkoholischen 
Deliriums.  Hier  verschwinden  die  Täuschungen  sofort  mit  dem 
Aufhören  des  Alkoholmissbranches. 

Eine  wesentüch  andere  ßedeutimg,  als  den  bisher  beti-achteten 
alkoholischen  Störungen  kommt  jenem  höchst  auffallenden  Ki-ankheits- 
bilde  zu,  welches  man  mit"  dem  Namen  der  Dipsomanie  zu  be- 
zeichnen pflegt  Die  Eigenthümlichkeit  desselben  besteht  in  der 
periodischen  Wiederkehr  eines  unwiderstehlichen  Dranges 
nach  dem  Genüsse  alkoholischer  Getränke.  In  der  Regel 
gehen  dem  dipsomanischen  Anfalle  gewisse  Prodromalerscheinungen 
voraus,  Unbehagen,  Beklenummgsgefühle,  tiefe  Traurigkeit,  Lebens- 
überdruss,  erhöhte  Reizbarkeit,  Eingenommenlieit  des  Kopfes,  Appetit- 
mangel, Schlaflosigkeit.  Gleichzeitig  bemächtigt  sich  des  Kranken 
eine  lebhafte  innere  Unruhe  und  damit  die  triebartige  Begierde,  sich 
durch  den  Alkoholgenuss  Erleichterung  zu  verschaffen,  so  dass  er 
Alles  stehen  und  liegen  lässt  und  „im  hellen  Galopp"  der  Kneipe 
zueilt.  Fast  ohne  Unterbrechung  fängt  er  an,  "Wein,  Bier,  Schnaps, 
selbst  Spiritus  Tag  und  Nacht  in  unglaublichen  Quantitäten  herunter- 
zustürzen. Unbekümmert  um  irgend  welche  gesellschaftlichen,  sittlichen 
und  ökonomischen  Rücksichten  treibt  er  sich  in  den  Kneipen  herum, 
versäumt  seine  sonstigen  Obliegenheiten,  kehrt  nicht  mehr-  nach 
Hause  zurück  und  giebt  das  letzte  Geldstück  daran,  ja  er  verkauft 
und  versetzt  die  Kleidungstücke  von  seinem  Leibe,  lun  seine  ki-ank- 
hafte  Gier  zu  befriedigen.  Dabei  besteht  Schlaflosigkeit,  vollständiger 
Appetitmangel  und  eine  deutliche  motorische  Erregung.  Trotz  der 
grossen  Mengen  des  genossenen  Alkohols  kommt  es  vielfach  doch 
nicht  zu  sinnloser  Betrunkenheit.  Nach  einigen  Tagen  oder  Wochen 
hört  das  Trinken  plötzHch  auf;  es  stellt  sich  unter  intensivem  Ekel- 
gefühl ein  häufig  von  Delirien  und  Sinnestäuschungen  begleiteter 
CoUapszustand  ein,  in  Avelchem  auch  die  körperlichen  Folgen  der 


Alkoholismus. 


547 


Excesse,  Erbrechen,  Anorexie,  Magenkatarrh,  Unsicherheit  der  Be- 
wegungen, Tremor,  stark  hervortreten.  Aus  ihm  geht  der  Kranke 
in  relativ  normalem  Befinden  hervor,  zeigt  oft  eine  tiefe  Eeue  über 
das  Vorgefallene  und  einen  Abschen  gegen  den  Alkohol,  gewöhnlich 
aber  auch  die  Erscheinungen  einer  geringen  psychischen  Wider- 
standsfähigkeit, erhöhte  gemüthliche  Eeizbarkeit  und  leichte  Be- 
stimmbarkeit. 

Trotz  aller  guten  Vorsätze  wiederholen  sich  die  Anfälle  in  mehr 
oder  weniger  regelmässigen  Intervallen  ohne  besonderen  äusseren 
Anlass  in  genau  gleicher  Weise.  Die  Zwischenzeiten  betragen  einige 
Wochen  oder  Monate  („Quartalsäufer"),  seltener  Jahre;  sie  pflegen 
sich  bei  längerem  Bestände  des  Leidens  allmählich  zu  verkürzen, 
wobei  zugleich  mehr  und  mehr  die  gemüthhche  Schwäche  und 
namentlich  auch  die  körperlichen  Polgen  der  gewaltigen  Schädlich- 
keiten hervortreten. 

Die  Dipsomanie  kann  sich  bei  Menschen  entwickeln,  welche 
während  der  Zwischenzeiten  durchaus  nüchtern  sind  und  keinen 
Ti'opfen  geistiger  Getränke  zu  sich  nehmen.  Andererseits  aber  tritt 
sie  häufig  bei  Personen  auf,  welche  an  sich  schon  zu  Alkoholmiss- 
brauch geneigt  waren,  ohne  vielleicht  geradezu  Trinker  zu  sein. 
Erbhche  Veranlagung  zur  Trunksucht  oder  zu  Geistesstörungen 
spielt  zweifeUos  eine  gewisse  ätiologische  Kolle.  In  manchen  Fällen 
wird  die  Bedeutung  des  Krankheitsbildes  dadurch  geklärt,  dass  es 
während  des  Anfalls  gelegentlich  zur  Entwickelung  von  Dämmer- 
zuständen mit  nachfolgender  Amnesie  kommt.  Hier  wird  man  an 
einer  epileptischen  Grundlage  des  Leidens  kaum  zweifeln  können. 
Preilich  dauern  in  solchen  Pällen  die  sinnlosen  Alkoholexcesse  oft 
nur  sehr  kurze  Zeit.  Ich  kenne  einen  Kranken,  der  nach  einigen 
Tagen  reizbarer  Verstimmung  ganz  plötzHch  davonlief,  jede  ihm  er- 
reichbare Menge  schwerster  alkoholischer  Getränke  hinuntersttirzte 
und  dann  in  tiefer  Bewusstlosigkeit  irgendwo  aufgefunden  wurde,  ein- 
mal auf  dem  Eise  eines  Plusses,  wo  er  die  Nacht  zugebracht  hatte. 
Benimmt  man  diesen  Ki-anken  durch  Internirung  die  Möglichkeit 
des  Alkoholgenusses,  so  geht  die  geschilderte  Verstimmung,  die  ganz 
an  die  periodische  Eeizbarkeit  der  Epileptiker  erinnert,  ohne  weitere 
Polgen  binnen  wenigen  Tagen  vorüber. 

Ich  vermag  nicht  mit  Sicherheit  zu  sagen,  ob  aUe  Pälle  von 
Dipsomanie  gleichartig  sind.    Die  überwiegende  Mehrzahl  der  von 

35* 


548 


X.  Die  chronisclieii  Intoxikationen. 


mir  selbst  beobachteten  Kranken  gehörte  mit  voller  Sicherheit  oder 
doch  mit  grosser  "Wahrscheinlichkeit  dem  Kreise  der  epileptischen 
Geistesstörungen  an.  Freilich  bildete  die  Epilepsie  überall  nur  die 
Grundlage,  während  die  weitere  Gestaltung  der  klinischen  Er- 
scheinungen durch  den  Alkoholmissbrauch  beherrscht  "\vurde.  Endlich 
war  es  zweifellos,  dass'  durch  den  episodischen  oder  dauernden 
Alkoholgenuss  die  Neigung  zur  Entwickelung  der  einleitenden  Ver- 
stimmung ausserordentlich  begünstigt  wurde.  Das  kann  uns  nicht 
"Wunder  nehmen,  wenn  wir  die  bekannten  ursächlichen  Beziehungen 
des  Alkohols  zur  Epilepsie  überhaupt  berücksichtigen.  Für  die 
eigentliche  Grundlage  der  Dipsomanie  glaube  ich  somit  im  Allgemeinen 
epileptische  periodische  Yerstimmungen  halten  zu  müssen,  die  ent- 
weder nur  auf  persönlicher  krankhafter  Veranlagung  oder  auf  dem 
Boden  chronischen  Alkoholmissbrauches  erwachsen.  Diese  Ver- 
stimmungen geben  den  Anlass  zu  jenen  plötzlichen  unsnmigen 
Excessen,  welche  daoin  unter  Umständen  ihrerseits  wieder  patho- 
logische Kauschzustände  oder  gelegentlich  auch  wirkliche  epileptische 
Dämmerzustände  auslösen  können. 

Die  Erkennung  der  Kraniheit  bietet  bei  dem  typisch-perio- 
dischen Verlaufe  nicht  die  geriagsten  Schwierigkeiten.  Die  Prognose 
muss,  in  TJebereinstimmung  mit  der  soeben  entwickelten  Anschauung 
über  das  Wesen  des  Leidens  im  Ganzen  als  eine  ungünstige  be- 
zeichnet werden.  Gleichwol  ist  die  Behandlung  nicht  selten  im 
Stande,  einen  sehr  erheblichen  Einfluss  auf  die  Gestaltung  der 
Krankheit  zu  gewinnen.  Ich  habe  mich  in  mehreren  Fällen  davon 
überzeugen  können,  dass  mit  der  zunächst  zwangsweisen  Durch- 
führung vollständiger  Enthaltsarokeit  vom  Alkohol  nicht  nur  alle 
schweren  Störungen  während  des  Anfalles  ausblieben,  sondern  dass 
namentlich  auch  die  Anfälle  selbst  allmählich  seltener  und  wesentlich 
leichter  wurden.  Je  länger  die  völlige  Abstinenz  bestanden  hatte, 
desto  glatter  kamen  die  Kranken  über  die  Zeiten  der  Verstimmung 
tdnweg.  Schliesslich  schien  dabei  der  eigenartige  Drang  nach  Alkohol 
überhaupt  zu  schwinden.  Jedenfalls  muss  ich  nach  meinen  Be- 
obachtungen die  grundsätzliche  Beseitigung  jeglichen  Alkohol- 
genusses bei  Dipsomanen  als  unumgänglich  nöthig  und  zugleich 
erfolgToich  bezeichnen.  Wo  die  dauernde  Unterbringung  der  Kranken 
in  einer  Anstalt  nicht  möglich  ist,  sollte  Avenigstens  mit  dem  Einüitt 
der  Verstimmung  sofort  die  Ueberführung  in  eine  Wachabtheilung  bis 


Alkoholismus. 


549 


zum  Ende  des  Anfalles  (Bettriüie !)  erfolgen.  In  neuerer  Zeit  werden 
aus  Russland,  wo  die  Krankheit  relativ  häufig  ist,  Heilungen  durch 
Strychnininjectionen  berichtet;  eigene  Erfahrungen  stehen  mir  Überdie- 
seiben bisher  nicht  zu  Gebote.  Ausserdem  wäre  vielleicht  ein  Yersuch 
mit  der  Anwendung  des  Bromkalium  in  grossen  Dosen  zu  empfehlen. 

Neben  diesen  zumeist  acut  verlaufenden  Psychosen  haben  wir 
als  dem  Alkoholismus  eigenthümlich  eine  recht  häufige  chronische 
Form  des  Irreseins  aufzuführen,  welche  klinisch  dem  Bilde  der 
Verrücktheit  gleicht,  den  sog.  Eifersuchtswahn  der  Trinker. 
Diese  Störung  entwickelt  sich  unmittelbar  aus  gewissen  Grundzügen, 
welche  wir  schon  früher  im  alkoholischen  Schwachsinn  vorgefunden 
haben.  Die  aus  der  Trunksucht  als  nothwendige  Folge  hervor- 
gehenden ehelichen  Zerwürfnisse  und  die  dadurch  bedingte  Ent- 
fremdung der  Ehegatten,  die  Abneigung  der  Frau  und  vielleicht 
auch  die  allmählich  sich  einstellende  Impotenz  bringen  den  Trinker, 
der  ohnedies  nur  zu  sehr  geneigt  ist,  die  Schuld  für  das  von  ihm 
heraufgeführte  Unheil  in  seiner  Umgebung  zu  suchen,  allmählich 
auf  die  Idee,  dass  eine  sträfliche  Neigung  seiner  Frau  zu  anderen 
Männern  der  wahre  Grund  der  veränderten  Stellung  sei,  welche  die- 
selbe zu  ihm  einnimmt.  Für  die  Eichtigkeit  dieser  Yoraussetzung 
liefert  ihm  die  tendenziöse  Beobachtung  allerlei  Beweise,  welche 
seinem  geschwächten  Urtheü  als  vollkommen  sicher  und  unumstösslich 
erscheinen.  Die  Einmischung  des  Nachbarn  bei  einer  ehelichen  Scene, 
ein  freundlicher  Bück,  eine  versteckte  Anspielung,  die  er  auffängt, 
ein  gehei m ni ssvoller  Brief,  der  ihm  in  die  Hände  fällt,  ein  im 
Dunkeln  an  ihm  vorbeihuschendes  Paar,  welches  er  zu  erkennen 
glaubt,  lassen  ihn  an  dem  Thatbestande  des  Ehebruchs  keinen  Augen- 
blick mehr  zweifeln 

Hie  und  da  gesellen  sich  zur  YervoUständigung  des  Indicien- 
beweises  auch  wirkliche  Siunestäuschungen  hinzu,  eine  Gestalt,  die 
er  nächtlicher  "Weüe  ins  Schlafzimmer  treten  sieht,  eine  höhnische 
Bemerkung,  die  ihm  aus  dem  Nebenzimmer  oder  von  der  Strasse 
herauf  zugerufen  wird  und  Aehnliches.  Oder  aber  der  Kranke  merkt 
aus  dem  ganzen  feindseligen  Yerhalten  seiner  Frau,  aus  der  Schnur, 
die  er  als  Aufforderung  zum  Erhängen  in  seinem  Bette,  auf  dem 
Tische  findet,  oder  aus  ihrem  Unwillen  über  sein  schroffes  Yorgehen 
gegen  den  beargwöhnten  Nachbar  oder  Geschäftsführer,  dass  es  mit 
seinem  Yerdachte  volle  Richtigkeit  hat. 


5Ö0 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


Eine  weitere  Ausbildung  über  dieses  allerdings  inannichfach 
variirte  Thema  der  ungerechtfertigten  Eifersucht  hinaus  gewinnt  der 
Wahn  in  der  Kegel  nicht,  doch  bleibt  er  innerhalb  dieser  Grenzen 
durchaus  fisirt  und  einer  jeden  besseren  Einsicht  völlig  unzugänglich. 
Natürlich  entwickelt  sich  aus  ihm  eine  immer  wachsende  Erbitterung 
gegen  die  Frau,  gegen  den  veimeintlichen  Nebenbuhler,  ein  trotz 
der  sonstigen  Schwäche  des  Trinkers  sehr  tiefgehender  und  leiden- 
schaftlicher Hass,  der  ausnahmslos  zu  rohen  Auftritten  und  häufig 
genug  zu  verhängnissvollen  AngriiTen  auf  Leben  und  Gesundheit 
führt.  Ich  kenne  aus  eigener  Erfahrung  zwei  Fälle,  in  denen  der- 
artige Trinker  in  bhnder  Eifersucht  und  unter  dem  Einflüsse  des 
Alkohols  ihre  Frauen  erschossen.  Die  "Wurzeki  der  Psychose  wird 
man  unschwer  bei  der  Mehrzahl  aller  Trinker  auffinden;  leider  aber 
wiixl  die  grosse  Gefährhchkeit  der  ausgebildeten  Störung  nur  allzu 
leicht  verkannt,  da  die  Intelligenz  der  Ejranken  für  die  oberflächliche 
Betrachtung  oft  nahezu  normal  zu  sein  scheint,  und  da  ihre  "Wahn- 
ideen fast  keine  phantastischen  Elemente  enthalten,  sondern  sich 
soweit  im  Bereiche  des  Möglichen,  ja  des  Wahrscheinlichen  be- 
wegen, dass  zuweilen  nur  eine  genaue  Kenntniss  der  wirklichen 
Verhältnisse  die  pathologische  Natur  ihrer  ganzen  Auffassungsweise 
zu  enthüllen  vermag.  Auf  der  andern  Seite  ist  es  natürlich  auch 
oft  schwierig,  die  thatsächliche  Berechtigung  der  von  den  Trinkern 
vorgebrachten  Eifersuchtsideen  auszuschliessen.  Das  Thun  und 
Treiben  des  Trinkers  führt  vielfach  zu  einer  wirklichen,  ernsten  und 
dauernden  Entfremdung  der  Ehegatten,  welche  dem  Ehebruche  die 
Wege  ebnen  muss.  So  typisch  daher  die  Klagen  der  Trinker  über 
eheliche  Untreue  sind,  so  nothwendig  ist  doch  gerade  hier  der  klai-e 
Nachweis  ihrer  Grundlosigkeit,  bevor  wir  berechtigt  sind,  sie  als 
krankhaft  zu  betrachten. 

In  manchen  Fällen  wird  unser  Urtheil  dadm-ch  unterstützt, 
dass  die  anfangs  schroff  und  leidenschaftlich  vorgebrachten  Eifer- 
suchtsideen nach  längerer  Entziehung  des  Alkohols  allmählich  von 
selbst  zurücktreten  und  bisweilen  sogar  geradeza  als  krankhaft  an- 
erkannt werden.  Durch  diese,  leider  nicht  sehr  häufigen  Besserungen, 
ja  Heilungen  des  Wahnes  unterscheidet  sich  die  krankhafte  Eifer- 
sucht der  Trinker  trotz  der  äusserlichen  Uebereinstimmung  sehr 
wesentlich  von  der  eigentlichen,  constitntionellen  und  grmidsätzlich 
unheilbaren  Verrücktheit. 


Morphinismus. 


551 


"Wir  haben  endlich  an  dieser  SteUe  noch  kurz  des  Krankheits- 
bildes der  alkoholischen  Paralyse  zu  gedenken,  einer  Psychose, 
die  sich  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fcälle  als  eine  einfache 
Verbindung  der  Zeichen  des  chronischen  Alkoholismus  mit  denjenigen 
der  dementen,  seltener  der  expansiven  progTCssiven  Paralyse  dar- 
stellt. Zu  der  GedächtnissschAväche  und  der  gemüthlichen  Stumpfheit 
auf  der  einen  gesellen  sich  Simiestäuschungen,  Eifersuchtswahnideen 
auf  der  andereu  Seite;  die  Ataxie  des  Paralytikers  wird  begleitet 
von  dem  Tremor  und  den  neui'itischen  Störrmgen  des  Alkoholisten. 
Ausserdem  scheinen  epileptische  Anfälle  besonders  hcäufig  zu  sein. 
In  der  Eegel  ging  der  Alkohoüsmus  hier  der  Entwickelung  der 
Paralyse  schon  lange  Zeit  voraus;  bisweilen  aber  auch  liefert  erst 
diese  letztere  den  Anstoss  zu  den  gehäuften  Excessen,  aus  denen 
die  alkoholistischen  Symptome  entspringen. 

Auf  der  anderen  Seite  giebt  es  vereinzelte  Fälle  von  Alkoholismus, 
in  denen  neben  leichten  motorischen  Störungen  (Ti-emor,  Sprach- 
stönmg,  Ataxie,  Anfälle)  ein  blühender  Grössenwahn  mit  expansiver 
Stimmung  ganz  von  der  Art  des  paralytischen  acut  zur  Ausbildung 
kommt,  um  nach  einigen  Monaten  bis  auf  die  Grundzüge  eines 
mässigen  Schwachsinns  wieder  zu  verschwinden.  Die  Erkrankung 
ist  hier  damit  endgültig  abgeschlossen,  während  sie  bei  der  erst- 
erwähnten Form  regehnässig  den  traurigen  Ausgang  der  typischen 
Dementia  paralytica  nimmt.  Offenbar  handelt  es  sich  einfach  Mm 
besonders  schwere  und  eigenartig  verlaufende  Fälle  von  chronischem 
Alkoholismus  (alkohoKsche  Pseudoparalyse). 

B.  Der  Morpliiuismiis.  *) 

Gegenüber  dem  Missbrauche  alkoholischer  Getränke,  welcher 
auf  ein  fast  ehrwürdiges  Alter  zui'ückblicken  kann,  reicht  die '  Ge- 
schichte des  Morphinismus  kaum  weiter,  als  zwei  Jahrzehnte  zurück, 
wenn  derselbe  auch  einen  gewissen  Zusammenhang  mit  der  alt- 
asiatischen Sitte  des  Opiummissbrauches  aufzuweisen  hat.  Die  Er- 
findimg der  Pravaz'schen  Spritze  und  die  durch  sie  herbeigeführte 


*)  Fiedler,  Deutsche  Zeitschr.  f.  prakt.  Medicin  1874,  27,  28 ;  Leyins-tein, 
Die  Morphiumsucht.  3." Auflage,  1883;  Erlenmeyerj  Die.  Mofphiums.uclit  mid 
ihre  BehancUung.    .3.  Auflage,  1887. 


552 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


Yerbesserung  der  Anwendungsart  hatte  einen  ausserordentlichen 
Aufschwung  im  Gebrauche  des  Morphiums  zur  Folge,  welches  sich 
nur  zu  bald  als  ein  sicheres  und  angenehmes  Mittel  zur  Bekämpfung 
von  Schmerzen  und  Unbehagen  aller  Ai-t  bewährte.  Der  wirksamste 
Hebel  für  die  Ausbildung  und  Verbreitung  des  Morphiums  lag  in 
dem  Umstände,  dass  der  Ai-zt,  unbekannt  mit  den  drohenden  Ge- 
fahren, aus  Eücksichten  der  Bequemlichkeit  dem  Ki-anken  die  Spritze 
selbst  in  die  Hand  gab,  damit  er  sich  je  nach  Bedarf  und  nach 
eigenem  Ermessen  die  ersehnte  Euphorie  verschaffen  könne. 

Allein  es  stellte  sich  bald  heraus,  dass  unter  diesen  Yerhältnissen 
das  Mittel  aus  dem  Wohlthäter  zu  einem  furchtbaren  und  fast  un- 
bezwinglichen  Feinde  wurde.  Die  grosse  Mehrzahl  der  Menschen, 
welche  gewohnheitsmässig  kleinere  Mengen  von  Alkohol  zu  sich 
nehmen,  vermag  demselben,  wo  es  sich  als  noth wendig  erweist, 
leichten  Herzens  auf  kürzere  oder  längere  Zeit  zu  entsagen.  Dagegen 
zwingt  die  wahi'haft  dämonische  Macht  des  Morphiums  denjenigen, 
der  sich  einmal  an  seinen  Gebrauch  gewöhnt  hat,  unerbittlich  zm- 
Fortsetzung  desselben,  da  jeder  Yersuch,  sich  von  der  Sklaverei  des 
Mittels  zu  befreien,  sofort  zu  derartig  unangenehmen  Erscheinungen 
führt,  dass  die  menschliche  Widerstandskraft  dadurch  gebrochen  wird. 

Die  psychischen  Wirkungen  des  Morphiums,  soweit  sie  bis  jetzt 
bekannt  sind,  bestehen,  wesentlich  verschieden  von  denjenigen  des 
Alkohols,  in  einer  Erleichterung  und  Anregung  der  intellectuellen 
und  in  einer  Erschwerung  der  psychomotorischen  Vorgänge.  Dieses 
Verhalten,  welches  sich  durch  Untersuchimgen  bei  Morphinisten  hat 
bestätigen  lassen,  macht  es  uns  verständlich,  dass  uns  der  Morphium- 
rausch in  eine  Art  angenehmer  Träumerei  versinken  lässt,  in  welcher 
bunte,  wechselnde  Phantasiebilder  an  uns  voräberziehen,  während 
sich  gleichzeitig  eine  sanfte  Erschlaffiing  auf  unsere  Glieder  legt. 
Wir  begreifen  es  auch,  dass  Morphinisten  gerade  unter  dem  Einflüsse 
des  Mittels  sich  noch  zu  geistiger  Arbeit  angeregt  fühlen,  welche  sie 
in  dem  Zustande  ihrer  gewöhnlichen  dauernden  Energielosigkeit  nicht 
mehr  zu  leisten  vermögen.  Das  gefährlichste  Element  der  Morphium- 
wirkung aber  ist  gerade  die  eigenthümliche,  ruhige  Euphorie,  welche 
sich  von  derjenigen  des  Alkoholrausches  sehi^  charakteristisch  durch 
das  vollständige  Fehlen  der  psychomotorischen  Reizerscheinimgeu, 
des  bekannten  Bewegungsdranges,  unterscheidet.  Wie  beim  Alkohol, 
ist  übrigens  auch  hier  die  Gestaltung  des  Vergiftungsbildes  im 


Morphinismus. 


553 


Einzelnen  in  hohem  Masse  von  der  persönüchen  Anlage  abhängig. 
Ebenso  gestalten  sich  die  körperlichen  Begleiterscheinungen  der 
Narkose  je  nach  der  Individnaütät  des  Menschen,  natürlich  aber 
auch  nach  der  Dosis  des  Mittels  verschieden.  Ein  rasch  auftretender 
metallischer  oder  bitterer  Geschmack,  Kollern  im  Leibe,|Myosis  und 
Erbrechen  sind  häufig.  Als  Nachwehen  der  Vergiftung  werden 
Eingenommenheit  des  Kopfes,  Schwindelgefühl,  Migräne,  profuse 
Schweisse,  grosse  Hinfälligkeit  und  Harnverhaltung  beobachtet. 

Die  Entwicklung  des  Morphinismus  nimmt  praktisch  bei  Weitem 
am  häufigsten  ihren  Ausgang  von  der  ausgezeichneten?sch merz- 
stillenden Wirkung  des  Mittels.  Irgend  ein  leichteres  oder 
schwereres  schmerzhaftes  Leiden,  eine  Neuralgie,  Ischias,  Zahn- 
schmerzen, Schlaflosigkeit,  eine  psychische  Depression  giebt  den  Anlass 
z\M  ersten  Injection.  Die  durch  sie  erzielte  Wirkung  ist  zumeist 
die  Beseitigung  aller  quälenden  körperlichen  und  psychischen  Keiz- 
momente  und  die  Erzeugimg  einer  überaus  behaglichen,  befriedigten 
Stimmung.  Dieser  günstige  Erfolg  ist  es,  welcher  immer  von 
Neuem  zu  einer  Wiederholung  der  Einspritzung  treibt,  namentlich, 
wenn  das  quälende  Leiden  noch  fortbesteht.  Ganz  unmerklich  aber 
-wird  der  Gebrauch  des  Mittels  zum  Selbstzweck,  zum  Lebens- 
bedürfniss,  auch  wenn  der  ursprüngliche  Anlass  längst  beseitigt  ist. 
In  ähnhcher  Weise  wie  bekanntlich  die  Gründe  zum  Trinken  nach 
Bedarf  jederzeit  bei  der  Hand  sind,  fehlt  es  bald  auch  nicht  an 
mehr  oder  weniger  verschämten  Vorwänden  für  die  Morphium- 
einspritzung. Das  tritt  um  so  sicherer  ein,  als  anscheinend  das 
Morphium  bei  längerer  Einwirkung  wirklich  die  moralische  Wider- 
standsfähigkeit gegenüber  allen  mögüchen  kleinen  Unannehmlichkeiten 
und  Schmerzen  beträchtlich  herabsetzt.  In  Eolge  dessen  wird  das 
Verlangen  des  Kranken  nach  dem  beruhigenden  Mittel  immer  häufiger 
nnd  dringender.  Der  entscheidende  Schritt  ist  die  Ausführung  der 
Einspritzung  durch  den  Kranken  selbst,  mit  oder  ohne  Vorwissen 
des  Arztes.  Von  diesem  Augenblicke  an  ist  sein  Schicksal  besiegelt; 
•er  ist  dem  Morphinismus  verfallen. 

Meist  sucht  er  sich  nunmehr  von  dem  Ai-zte  möglichst  un- 
abhängig zu  machen.  Er  kauft  sich  eine  Spritze,  oft  [auch  Wage 
und  Gewichte,  bezieht  sein  Morphium  direct  oder  durch  Vermittelung 
von  Leidensgefährten  aus  der  Droguenliandlung,  die  ihm  das  Mittel 
in  unverdächtiger  Packung  zusendet.  Die  Lösung  bereitet  der  Kranke 


554 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


sicli  selbst,  schliesslich  oft  nach  Gutdünken.    Andere  ziehen  es  vor, 
Recepte  zu  fälschen;  ich  besitze  ein  solches  Beispiel.    Auch  ein  '■ 
College  bediente  sich  der  Pseudonyme,  um  nicht  in  den  Yerdacht  : 
des  Morphinismus  zu  kommen.  Vielfach  findet  man  bei  den  Kranken 
ausser  Terrosteten  und  stumpfen  Nadeln  ganz  trübe,  halbverschimmelte  \ 
Flüssigkeiten,  die  sie  sich  ti'otzdem  einspritzen,  sogar  durch  die 
Kleider  hindurch.    Die  Folge  sind  häufige  Abscesse.  Vereinzelte 
Kranke  greifen,  wenn. ihnen  die  Beschaffung  der  Spritzen  zu  schwierig  ; 
wird,  zur  innerlichen  Anwendung  des  Morphiums,  auch  zur  Opium- 
tinctur,  indem  sie  sich  die  nöthige  Dosis  jeweils  unter  dem  Vor-  ■ 
wände  von  Leibschmerzen  allmählich  in  verschiedenen  Apotheken 
■zusammenschwindeln. 

Beim  chronischen  Gebrauche  des  Morphiums  treten  in  Folge  der 
sich  ausbildenden  Gewöhnung  die  unangenehmen  Nebenerscheinungen 
der  Vergiftung  mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund,  oder  sie  werden 
doch  durch  eine  neue  Gabe  des  Mittels  rasch  wieder  beseitigt.  So 
kommt  es,  dass  der  Morphinist  oft  lange  Zeit  hindurch  nur  die  an- 
regende und  zugleich  beruhigende  Wirkung  empfindet,  welche  ihn 
über  alle  kleinen  und  grossen  UnannehmHchkeiten  hinwegsetzt,  wie 
sie  aus  seinem  Gesundheitszustande,  aus  seinem  Berufe,  aus  seinen 
socialen  und  häuslichen  Verhältnissen  entspringen.  Dieselbe  Ge-  ' 
wöhnung  aber  ist  es,  welche  ihn  sehr  bald  von  der  ursprünglichen 
Gabe  des  Mittels  die  erhoffte  Befriedigung  nicht  mehr  in  vollem 
Masse  finden  lässt  und  ihn  daher  zu  einer  Steigerung  der  Dosis  ■ 
antreibt.  Zunächst  ist  der  Erfolg  ein  voUkonmiener,  aber  nach 
einiger  Zeit  versagt  auch  das  neue  Quantum,  und  so  schraubt  sich 
das  Bedürfniss  allmähhch  immer  höher  und  höher,  bis  am  letzten 
Ende  auch  die  grössten  Mengen  des  Mittels  (erfahrungsgemäss  bis 
zu  2,  3  gr  und  mehr  in  24  Stunden)  den  sehnlichst  gewünschten 
Erfolg  nur  ganz  vorübergehend  noch  erzielen. 

Alle  die  schon  früher  gelegentlich  hervorgetretenen  Beschwerden 
des  Morphinismus  erreichen  nach  und  nach  ihren  Höhepunkt.  Das ; 
Gedächtniss  wird  vielfach  unsicher;  die  geistige  Leistungsfähigkeit, . 
namentlich  die  Productivität,  nimmt  ab  und  kann  nur  unter  dein  i 
unmittelbaren  Einflüsse  des  Morphiums  noch  auf  einer  gewissen  i 
Höhe  erhalten  werden.  Auf  diese  W eise  kommt  es  zu  einem  be- 
ständigen Wechsel  zwischen  Stunden  relativen  Wohlbefindens  und  . 
solchen  apathischer  Erschlaffung  oder  nervöser  Unruhe,  ein  Zustand, : 


Morphinismus. 


55Ö 


ier  natürlich  eine  geregelte,  systematische  Thätigkeit '  völlig  un- 
möglich macht.  Die  Stimmung  ist  ebenfalls  vielfachen  Schwankungen 
.imterworfen,  bald  deprimii-t,  muthlos,  hypochondrisch,  bald  zu- 
versichtlich und  übermüthig;  nicht  selten  stellen  sich  vorübergehende 
heftige  Angstanfälle  ein. 

In  ganz  besonderem  Masse  aber  wird  der  Charakter  der 
Kranken  in  Mtleidenschaft  gezogen.  Sie  verlieren  nicht  nur  voll-__ 
kommen  die  Fähigkeit,  sich  selber  endgültig  und  thatkräftig  von 
dem  verderblichen  Mittel  loszusagen,  sondern  sie  machen  in  eigen- 
thümlichem  Zwiespalte  mit  sich  selbst  auch  dann  schon  von  vorn- 
herein den  Versuch,  die  Entziehungsem'  zu  vereiteln,  wenn  sie  aus 
freien  Stücken  in  dieselbe  eingewilligt  haben.  Kaum  ein  Morphinist 
geht  in  die  Anstalt,  ohne  sich  nicht  irgendwie  heimlich  mit  einer 
gehörigen  Menge  des  Mittels  versehen  zu  haben;  keiner,  auch  nicht 
der  heiligsten  Yersicherung  eines  Morphinisten  über  diesen  Punkt 
ist  jemals  .blindlings  zu  trauen.  Selbst  Aerzte  sind  darin  ganz 
unzuverlässig.  Ein  College  brachte  das  Morphium  unter  dem  Holz- 
belag einer  grossen  Haarbürste  versteckt  mit  sich  und  erzwang 
durch  einen  äusserst  brutalen  Auftritt  seine  sofortige  Entlassung, 
als  ihm  die  Benutzung  der  Bürste  unmöglich  gemacht  wurde.  Der 
Schlaf  erleidet  meist  hochgradige  Störungen.  Beim  Einschlafen 
ü-eten  zeitweise  Hallucinationen  auf,  besonders  des  Gesichtes;  die 
Kranken  liegen  viele  Stunden  lang  wach,  mit  zwangsmässigen,  phan- 
tastischen Ideen  beschäftigt;  dafür  stellt  sich  am  Tage  plötzlich  eine 
unbezwingbare  Müdigkeit  ein,  die  sie  mitten  in  der  Gesellschaft,  in 
der  Unterhaltung  trotz  aller  Gegenanstrengungen  überwältigt. 

In  der  sensiblen  Sphäre  machen  sich  verschiedenartige  Par- 
aesthesien  und  Hyperaesthesien  bemerkbar,-  namentlich  am  Herzen, 
sowie  in  der  Magen-  und  Blasengegend.  Die  Eeflexerregbarkei.t 
nimmt  zu,  doch  fehlt  der  Patellarreflex  nicht  selten;  die  Bewegungen 
werden  unsicher,  bisweilen  zitternd,  ataktisch.  Hie  und  da  werden 
Erschwerung  der  Sprache,  Paresen  in  der  Musculatur  des  Auges  be- 
obachtet (Doppeltsehen,  Accommodationsparese).  Die  allgemeine  Er- 
nährung leidet  immer  erheblich;  das  Körpergewicht  nimmt  ab; 
die  Haut  wird  welk,  schlaff  und  fahl;  das  Fettpolster  schwindet.  Der 
Appetit,  namentlich  für  Fleischspeisen,  vermindert  sich;  es  stellt 
sich  zeitweiliger  Heisshunger  oder  bei  grosser  Trockenheit  des 
Mundes  unstillbarer  Durst  ein;  die  meist  bestehende  Yerstopfung 


556 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


wechselt  mit  vorübergehender  Diarrhöe.  Von  Seiten  der  Circulations- 
organe  werden  hie  und  da  quälende  Herzpalpitationen  beobachtet; 
der  Puls  ist  etwas  beschleunigt,  bisweilen  unregelmässig.  Das  Ohren- 
sausen, die  Benommenheit,  die  Schwindel-  und  selbst  Ohnmachtsanfälle, 
sowie  die  reichlichen  kalten  Schweisse  und  das  Frösteln  der  Morphi- 
nisten sind  wol  ebenfalls  auf  vasomotorische  Störungen  zurück- 
,  zuführen.  Ferner  gehören  auch  Eespirationsstörungen,  besonders 
asthmatische  Beschwerden,  nicht  selten  zu  dem  hier  gezeichneten 
Syraptomencomplexe.  Die  libido  sexuahs  und  die  Potenz  nimmt 
ab;  die  Menses  cessiren.  Levinstein  betrachtet  endlich  noch  Ei- 
weissgehalt  des  Harns,  sowie  eigenthümliche  tertiane  Fieberanfälle 
als  gelegentliche  Symptome  des  Morphinismus,  doch  haben  andere 
Beobachter  seine  Angaben  nicht  bestätigen  können. 

Die  Schnelligkeit,  mit  welcher  sich  die  ganze  Reihe  dieser . 
Störungen  entwickelt,  ist  eine  sehr  verschiedene;  sie  hängt  natur- 
gemäss  einmal  von  der  Menge  des  gebrauchten  Morphiums  und 
weiterhin  von  der  Widerstandsfähigkeit  des  Organismus  ab.  Bis- 
weilen machen  sich  die  ersten  Erscheinungen  der  chronischen  Yer- 
giftung  schon  nach  einigen  Monaten  des  Morphiumgebrauches 
geltend;  in  anderen  Fällen  können  Jahre,  selbst  viele  Jahre  ver- 
gehen, bevor  ernstere  Symptome  zum  Ausbruche  kommen.  Letzteres 
ist  besonders  dann  die  Regel,  wenn  der  Kranke  Selbstbeherrschung 
genug  besass,  von  Zeit  zu  Zeit  mit  der  Gabe  des  Mittels  wieder 
etwas  zurückzugehen.  Der  sonst  gleichmässig  fortschreitende  Ver- 
lauf des  Morphinismus  lässt  unter  diesen  Umständen  mehr  oder 
weniger  ausgiebige  Besserungen  des  Allgemeinzustandes  erkennen, 
welche  bei  der  Fortdauer  des  Grrundübels  jedoch  nur  als  Remissionen 
aufgefasst  werden  dürfen.  Die  Dauer  des  Morphinismus  ist  in  ge- 
wissem Sinne  eine  fast  unbegrenzte;  schon  jetzt  sind  FäUe  bekannt, 
in  denen  das  Morphium  ohne  Unterbrechung  20  Jahre  hindurch  und 
länger  fortgenommen  vmi'de. 

Der  Morphinismus  ist  fast  ausschliesslich  eine  Ki'ankheit  der 
besseren  Stände,  schon  aus  dem  einfachen  Grunde,  weü  er  sehr  viel 
Geld  kostet.  Die  grössere  Leichtigkeit,  sich  das  Mittel  zu  verschaffen, 
lässt  das  mann  h' che  Geschlecht  und  hier  vor  Allem  die  mit  dem 
ärztlichen  Berufe  in  Beziehung  stehenden  Personen  besonders  stark 
prädisponirt  erscheinen.  Man  kann  rechnen,  dass  75°/o  der  Morphi- 
nisten Männer  imd  von  diesen  wieder  mindestens  die  Hälfte  Aerzte 


Morphinismus. 


557 


sind.  Dazu  kommen  noch  in  grosser  Zahl  deren  Angehörige,  nament- 
lich die  Frauen.  Weiterhin  ist  natürlich  die  Gefahr,  dem  chronischen 
Missbrauche  des  Morphiums  zu  verfallen,  um  so  grösser,  je  an- 
genehmer sich  die  ganze  "Wii-kung  des  Mittels  im  einzelnen  Falle 
gestaltet;  es  giebt  Menschen,  bei  denen  bereits  die  erste  Injection 
in  diesem  Sinne  über  das  ganze  fernere  Leben  entscheidet.  Endlich 
ist  offenbar  die  Disposition  zum  Morphinismus  auch  wesentlich  von 
der  psychischen  Yeranlagung  abhängig.  Ich  habe  immer  den  Ein- 
di'uck  gehabt,  dass  eine  grosse  Zahl  von  Morphinisten,  ebenso  wie 
viele  Ti'inker,  schon  vor  der  chronischen  Yergiftung  einen  bedeuten- 
den Grad  von  Charakterschwäche  dargeboten  haben.  Dafür  spricht 
die  bisweUen  staunenswerthe  Geringfügigkeit  der  Beweggründe 
(Neugierde,  Yerführung),  welche  zum  Missbrauche  des  Mittels  ge- 
fühi't  haben,  sowie  der  unglaubliche  Leichtsinn,  mit  welchem  Morphi- 
nisten vielfach  Propaganda  machen,  ihren  Leidensgefährten  Morphium 
verschaffen  und  in  einer  Art  „esprit  de  corps"  die  energische  Yer- 
folgung  ihrer  Helfershelfer  zu  verhindern  suchen.  Ein  junger  Morphi- 
nist erzählte  mir,  dass  in  dem  russischen  Kegiment,  in  welchem  er 
diente,  fast  alle  Offiziere  „zu  ihrem  Yergnügen  gespritzt"  hätten;  ein 
morphinistischer  Arzt  veranlasste  seine  Braut  ohne  jeden  Grund, 
ebenfalls  Morphium  zu  gebrauchen,  und  diese  verführte  wiederum 
ihre  intimste  Freundin,  sich  diesen  Genuss  zu  verschaffen. 

Es  muss  indessen  an  dieser  Stelle  mit  aller  Schärfe  die  schwere 
Anklage  gegen  den  ärztlichen  Stand  erhoben  werden,  dass  er  es 
ist,  den  wir  für  das  Dasein  und  die  erschreckende  Yerbreitung  des 
Morphinismus  in  allererster  Linie  verantwortlich  zu  machen  haben. 
Gäbe  es  keine  Aerzte,  so  gäbe  es  auch  keinen  Morphinismus.  Die 
Unwissenheit  und  der  Leichtsinn  der  Aerzte  sind  es,  welche  den 
Kranken  tagtäglich  bei  den  geringfügigsten  Anlässen  mit  dem  höchst 
gefährlichen  Mittel  bekannt  machen,  das  so  leicht  seine  ganze  Zukunft 
vernichten  kann.  Namentlich  sind  es  allerdings  jene  zahlreichen 
Aerzte,  die  selbst  unter  dem  Banne  des  Morphiums  stehen,  welche  mit 
merkwürdiger  Regelmässigkeit  zu  wahren  morphinistischen  Lifections- 
herden  werden.  Ich  kannte  einen  derartigen  Collegen,  —  und  solche 
Beispiele  sind  leider  nicht  selten  —  der  bei  seiner  zahlreichen 
Clientel  jede  beüebige  Klage  durch  eine  Morphiumin jection  zu  be- 
seitigen pflegte  und  so  gewissermassen  das  Haupt  einer  ganzen 
Morphinistengemeinde  wurde.  Dieser  Mann  handelte  freilich  unver- 


558 


X.  Die  chKonischen  Intoxikationen. 


antwortlich,  aber  wenigstens  uneigennützig.  Viel  schlimmer  ist  es, 
class  sich  in  unserm  Stande  Subjecte  finden,  welche  die  Noth  der 
Morphinisten  planmässig  ausnützen,  um  ihnen  für  schweres  Gehl 
die  ihnen  unentbehrlichen  Recepte  zu  schreiben!  Ich  besass  das 
Eecept  eines  Arztes,  der  einem  Morphinisten  nicht  weniger  als 
1  gr  Morphium  in  einmaliger  Gabe  zu  beliebiger  Verwendung  auf- 
geschrieben hatte. 

Die  Prognose  des  Morphinismus  ist  in  jedem  Falle  eine  sehr 
ernste.  Hie  und  da  kommen  plötzliche  Todesfälle  vor.  Die  Kranken 
greifen,  namentlich  nach  Entziehungscuren,  die  Gabe  einmal  viel  zu 
hoch,  oder  es  entwickeln  sich  unter  dem  Einflüsse  der  Ersatzmittel 
des  Morphiums  chronische  Herzalfectionen,  welche  zu  unvorher- 
gesehenen Coliapsen  führen.  Andererseits  ist  der  Ausgang  iU' 
schweres,  mit  dem  Tode  endendes  Siech thum  bei  reinem  Morphi- 
nismus nicht  gerade  allzu  häufig,  und  die  Entziehung  des  Mittels 
gelingt  unter  den  nöthigen  Vorsichtsmassregeln  fast  immer  ohne 
besondere  Schwierigkeiten.  Allein  die  Gefahr  immer  und  immer 
wiederholter  Rückfälle,  welche  nothwendig  zu  einer  vollständigen  Ver-^ 
nichtung  des  Lebensglückes  führen,  ist  eine  ausserordentlich  grosse; 
nur  eine  sehr  geringe  Zahl  von  Morphinisten  vermag  ihr  auf  die 
Dauer  zu  entgehen.  Mit  voHer  Sicherheit  kann  ich  von  mehreren 
Dutzend  Morphinisten,  die  ich  in  den  letzten  Jahren  behandelt  habe, 
höchstens  2 — 3  für  dauernd  geheilt  halten,  also  etwa  10  Procent.  Ganz 
besonders  gefährdet  sind  auch  in  dieser  Beziehung  alle  diejenigen 
Personen,  denen  entweder  ihr  Beruf  die  Erlangimg  des  Morphiums 
besonders  leicht  macht,  oder  denen  irgend  ein  chronisches,  mit 
Schmerzen  und  Beschwerden  verbundenes  Leiden  die  Verführung, 
nach  dem  erlösenden  Mittel  zu  greifen,  immer  von  Neuem  mit  im- 
widerstehlicher  Macht  aufdrängt. 

Eine  weitere,  ernste  Gefahr  droht  dem  Moi-phinisten  aus  der 
Verbindung  des  Morphiums  mit  anderen  ähnlichen  Mitteln.  Namentlich 
der  Alkohol  (Wein,  Champagner)  ist  es,  der  mit  oder  ohne  äi'ztlichen 
Eath  zur  Milderung  der  Abstinenzerschetnungen  herangezogen  wird 
und  den  Kranken  nur  zu  häufig  dem  Alkoholismus  in  die  Ai;me 
treibt.  In  ähnlicher  Weise  konnnt  das  Chloralhydi'at,  der  Aether,  das 
Chloroform  und  in.  neuerer  Zeit  vor  Allem  das  Cocain  in  Anwendung. 
So  gut  wie  niemals  gelingt  es  den  Kranken,  auf  diese  Weise  das 
Morphium  wirklich  los  zu  werden  oder  auch  nur  durch  ein  anderes 


Morpliilüsiuus. 


559 


Idittel  zu  ersetzen;  in  der  Regel  kommt  zu  dem  alten  TJebel  einfach 
ein  neues,  kaum  weniger  schlimmes  oder  noch  schlimmeres  hinzu, 
k  Die  Erkennung  des  Morphinismus  stützt  sich  neben  der  Be- 
ifichtimg  der  körperlichen  Vergittungssjanptome.  (Myosis,  Appetit- 
losigkeit, Ernähnmgsstörimg),  sowie  der  oft  sehr  ins  Auge  fallenden 
Injectionsspiu'en  (glänzende,  ovale  Narben,  schwielige  Verhärtungen 
oder  selbst  atonische  Geschwüre,  meist  an  den  Armen,  aber  auch 
an  Bauch  und  Obei-schenkelnj,  namentlich  auf  den  eigenthümlichen 
Wechsel  der  Zustände,  Avelchen  der  Morphinist  darzubieten  pflegt. 
Die  geistige  Fiische  und  Leistungsfähigkeit,  die  gehobene  Stinnnung 
nach  der  Injection  muss  ja  niu'  allzubald  einer  hochgradigen  Er- 
müdung, Schlaffheit,  Energielosigkeit  und  Niedergeschlagenheit 
weichen,  so  dass  dem  airfmerksamen  Beobachter  der  Gegensatz 
zwischen  diesen  verschiedenartigen  Dispositionen  kaum  verborgen 
bleiben  kann.  Füi"  die  Erkemitniss  der  besonderen  Ursache  finden 
sich  darm.  bei  näherem  Nachforschen  bald  weitere  anamnestische 
imd  thatsächliche  Anhaltspunkte.  Leider  lässt  sich  das  Morphium 
in  den  Ausscheidungen  der  Kranken  nur  sehr  schwierig  nachweisen, 
da  es  zum  grössten  Theile  in  den  Koth  übergeht.  Die  volle  Sicher- 
heit über  das  Bestehen  des  Morphinismus  kann  man  sich  durch 
eine  zuverlässige  Isolirung  des  Kranken  verschaffen.  Hat  man 
diesem  Letzteren  wüMich  jede  Möglichkeit  einer  heimlichen 
Morphiumzufuhr  abgeschnitten,  so  darf  der  Eintritt  oder  das  Aus- 
bleiben der  Abstinenzerscheinimgen  als  ein  untrügliches  experimentmn 
crucis  gelten. 

Die  wichtigste  Aufgabe  bei  der  Bekämpfung  des  Morphinismus 
ist  ohne  Zweifel  die  Prophylaxe,  cüe  leider  noch  sehr  im  Argen  liegt. 
Einen  Theil  dieser  Aufgabe  hat  die  Gesetzgebung  zu  lösen  gesucht,  in- 
dem sie  den  Verkauf  des  Moi^Dhiums  ohne  besondere  ärztliche  Yorschrift 
in  jedem  einzelnen  Falle  verbietet.  Es  ist  öffentliches  Geheimniss, 
dass  die  Morphinisten  diese  Bestimmungen  ohne  erhebliche  Schwierig- 
keit zu  durchbrechen  oder  zu  umgehen  wissen.  Die  besten  Helfers- 
helfer sind  ibnen  dabei  gewisse,  namentlich  morphinistische  Aerzte. 
Nach  meinen  Erfahrungen  kann  ich  daher  nur  aus  voller  Ueber- 
zeugung  der  von  Lew  in*)  aufgestellten  Forderimg  zustimmen,  dass 
jedem  an  Morphinismus  leidenden  Arzte  bis  zum  Nachweise  seiner 


*)  Berliner  klinische  Wochenschrüt,  1891,  51. 


560 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


dauernden  und  vollständigen  Heüung  das  Eecht  der  Praxis  ent- 
zogen werden  sollte.  Freilich  stehen  der  Durchführung  einer  solchen 
Massregel  sehr  grosse  Schwierigkeiten  im  Wege.  Aber  auch  in 
anderer  Kichtung  können  wir  Aerzte  zur  Bekämpfung  des  Moi-phium- 
missbrauches  ausserordentlich  viel  thun.  Wir  sollten  es  uns  zum 
festen  Grundsatze  machen,  bei  allen  chronischen  Erkrankungen  nur 
dann  zum  Morphium  zu  greifen,  wenn  dieselben  durchaus 
unheilbar  sind  und  zum  Tode  führen.  Aber  auch  hier,  ebens., 
bei  acuten  Leiden,  soll  das  Morphium  nur  dann  imd  nur  so  lange 
gegeben  werden,  als  es  unumgänglich  nothwendig  ist.  Einfache 
neurasthenische  und  hysterische  Beschwerden  mit  MoiiDhium  zu 
behandeln,  muss  unbedingt  als  ärztlicher  Kunstfehler  gelten. 
Gewissenlos  ist  es  endlich,  unter  welchem  Yorwande  es  auch  sei, 
ii'gend  einem  Kranken  Spritze  oder  Lösung  zum  eigenen  Ge- 
brauche in  die  Hand  zu  geben  und  überhaupt  grössere  Mengen 
des  Mittels  zu  verschreiben,  deren  Verwendung  nicht  genau  über- 
wacht werden  kann. 

Die  Behandlung  des  entwickelten  Morphinismus  besteht  in 
der  Entziehung  des  Mittels  imter  ärztlicher  Aufsicht.  Völlige  und 
dauernde  Abgewöhnung  des  Moi^hiums  aus  eigener  Initiative  des 
Kranken  kommt  erfahrungsgemäss  niemals  oder  doch  nur  extrem 
selten  vor.  Aus  diesem  Grunde  kann  die  Entziehimg  mit  Aussicht 
auf  Erfolg  nur  in  der  Weise  durchgeführt  werden,  dass  sich  der 
Kranke  für  einige  Zeit  bedingungslos  in  die  Hände  des  Ai'ztes  und 
in  Verhältnisse  begiebt,  welche  eine  absolute  Ausschliessung  des 
Morphiums  mit  Sicherheit  gestatten.  Allerdings  ist  es,  namentlich 
im  Hinblick  auf  die  moralische  Unzuverlässigkeit  der  Moi-phinisteu, 
nicht  immer  leicht,  sich  nach  dieser  Kichtung  hin  ausreichende 
Gewähr  zu  verschaffen.  Die  Erfahrung  zahlloser  schlauer  Betrügereien 
Seitens  der  Kranken,  ihrer  Angehörigen  und  Freunde,  der  Mit- 
patienten, des  Wartpersonals  predigt  eindringlich  die  Notliwendigkeit 
des  äussersten,  unermüdlichsten  Misstrauens.  Ein  kranker  College 
bewog  einen  Wärter  durch  Schenken  eines  Anzugs  und  das  Ver- 
sprechen, ihn  als  Diener  anzustellen,  zur  heimlichen  Besorgung  eines 
Morphiumreceptes. 

Es  muss  daher  zum  mindesten  als  eine  gefährliche  Selbst- 
täuschung betrachtet  werden,  wenn  manche  Aerzte  glauben,  bei  der 
Behandlung  des  Morphinismus  das  Sicherungsmittel  der  genauesten 


Morphinismus. 


561 


Ueberwachiing  imcl  einen  gewissen  .äusseren  Zwang  entbehren  zu 
können.  Ich  besitze  den  Bericht  eines  Arztes,  der  im  Hinbliclc  auf 
die  Milde  der  von  ihm  geübten  Entziehungscur  seine  Krankon  frei 
schalten  und  walten  Hess  und  ihnen  nur  mittheilte,  dass  sie  selbst 
die  Verantwortung  trügen,  wenn  sie  sich  ohne  sein  Wissen  Morpliium 
rerschaSten.  Die  Folge  davon  war,  dass  die  Kranken  unter  seiner 
Behandlung,  freilich  ohne  sein  Wissen,  noch  mehr  spritzten,  als  vorher. 

Sobald  dem  Kranken  das  gewohnte  Keizmittel  entzogen  wird, 
treten  nach  einigen  (5- — 6)  Stunden  jene  Abstinenzerscheinungen 
hervor,  die  wir  zum  Theil  schon  in  dem  Bilde  des  Morphinismus 
als  die  Ursachen  kennen  gelernt  haben,  welche  den  gequälten 
Kranken  immer  von  Neuem  zur  Spritze  greifen  lassen.  Was  aber 
dort  nur  angedeutet  war  und  stets  durch  die  neue  Intoxikation 
rasch  beseitigt  wurde,  das  tritt  hier  oft  jnit  grosser  G-ewalt  in  den 
Yordergrund.  Quälende  Unruhe,  häufiges  Gähnen,  Niesen,  Angst, 
Beklemmungsgefühle,-  Paraesthesien  in  den  verschiedensten  Eegionen 
des  Körpers,  Hallucinationen  mehrerer  Sinne  ■  stürmen  mächtig  auf 
den  Kranken  ein  und  lassen  ihn  sehr  rasch  alle  die  guten  Vorsätze 
vergessen,  mit  denen  er  sich  in  die  Behandlung  des  Arztes  begeben 
hat.  Dabei  besteht,  wenigstens  in  der  ersten  Zeit,  völlige  Schlaf- 
losigkeit, gegenüber  der  die  gebräuchlichen  Schlafmittel  meistens 
versagen.  Speciell  das  Chloralhydrat  pflegt  sogar  die  psychische 
Erregung  bedeutend  zu  steigern  und  Zustände  von  hallucinatorischer, 
traumartiger  Verworrenheit  herbeizuführen.  Aber  auch  abgesehen 
davon  kann  sich  bisweilen,  namentlich  bei  Herzschwäche,  unter 
lebhafter  Zunahme  der  Aufregung  ein  Krankheitsbild  entwickeln, 
welches  die  grösste  Aehnlichkeit  mit  dem  Delirium  tremens  der 
Trinker  darbietet,  zumal  auch  die  Unsicherheit  der  Bewegungen 
und  das  Zittern  der  Hände  in  gleicher  Weise  sich  einzustellen  pflegt. 
Allerdings  dauert  dieser  Zustand,  bei  dessen  Zustandekommen  viel- 
leicht der  therapeutische  Alkoholgenuss  eine  geAvisse  Rolle  spielt, 
gewöhnlich  nur  eine  Reihe  von  Stunden  oder  doch  nicht  mehr  als 
1—2  Tage. 

Auch  im  Bereiche  des  übrigen  Nervensystems  macht  sich 
die  gewaltige  Umwälzung  geltend,  welche  durch  die  Entziehung  des 
gewohnten  Reizmittels  herbeigeführt  wird.  Es  treten  unwillkürliche 
Bewegungen  und  Zuckungen  in  den  Beinen,  asthmatische  Zufälle, 
Krampfhusten,  Accommodationsparesen,  Tenesmen,  Blasenkrämpfe  und 

Kraepolin,  Psychiatrie.   4.  Aufl.  36 


562 


X.  Die  chronischen  Intoxiljationen. 


-lähmuDgen,  Erbrechen,  Herzpalpitationen,  namentlich  aber  Ohn- 
mächten und  gefährliche  Collapse  mit  plötzlichem,  raschem  Sinken 
der  Herzaction  auf,  die  sich  unter  Umständen  mehrmals  wieder- 
holen und  sogar  direct  in  den  Tod  hinüberfüliren  können.  Die 
secretorischen  Functionen,  welche  unter  dem  Einflüsse  des 
Morphiums  darniederlagen,  zeigen  eine  rasch  vorübergehende  be- 
trächtliche Steigerung,  welche  sich  in  reichücher  Speichel-  und 
Schweissabsonderung,  sowie  in  andauernden  starken  Durchfällen 
kundgiebt;  bisweilen  tritt  Eiweiss  im  Harn  auf.  Die  Schwere  der 
Abstinenzerscheinungen  ist  eine  ausserordentlich  verschiedene.  Sie 
hängt  von  der  Grösse  der  Dosis,  der  Länge  der  Gewöhnung,  dem 
Allgemeinzustande  der  Kranken  und  der  persönlichen  Veranlagung 
ab.  Bisweilen  beschränken  sich  die  Störungen  auf  einige  Durch- 
fälle, Schwitzen,  lebhaftes  Unbehagen  und  Schlaflosigkeit,  während 
in  anderen  Fällen  die  allerschwersten,  das  Leben  bedrohenden 
Symptome  auftreten.  Eine  Entziehung  ganz  ohne  Beschwerden 
giebt  es  indessen  nach  meinen  Erfahrungen  nicht.  Wo  die  Er- 
scheinungen auffallend  gering  sind  oder  gar  völliges  Wohlbefinden 
besteht,  wird  sicher  heimlich  Morphium  zugeführt.  Noch  vor  einiger 
Zeit  wurde  ich  auf  einen  derartigen  Betrug  dadurch  aufmerksam, 
dass  ich  den  betreffenden  Kranken,  einen  CoUegen,  bei  der  Visite 
behaglich  schlafend  antraf. 

Alle  Entziehungserscheinungen  lassen  sich  nämlich  dui'ch  das 
Morphium  selbst  wieder  beseitigen  oder  doch  erheblich  mildern. 
Diese  Thatsache  ist  es,  welche  zur  Aufstellung  zweier  verschiedener 
Hauptmethoden  der  Morphiumentziehung  geführt  hat,  zu  der  plötz- 
lichen und  zu  der  allmählichen  Entziehungscur.  Bei  der  ersteren 
lässt  man  von  der  gewohnten  Dosis  aus  die  Morphiuminjectionen 
mit  einem  Schlage  vollständig  wegfallen,  während  man  im  anderen 
Falle  zuerst  langsam  mit  der  Gabe  heruntergeht  oder  die  Zwischen- 
zeiten vergrössert,  bevor  man  endlich  mit  den  Einspritzungen  voll- 
ständig abbricht.  Beide  Methoden  haben  ihre  eifrigen  Vertheidiger 
gefunden.  Während  bei  der  plötzlichen  Entziehung  (Levinstein) 
die  Abstinenzerscheinimgen  meist  ausserordenthch  schrofl'  hervorti'eteu, 
von  vorübergehenden  Delirien  und  namenthch  der  Gefahr  schwerer 
CoUapse  begleitet  sind,  dafür  aber  binnen  Avenigen  Tagen  ablaufen, 
gestalten  sich  jene  Symptome  bei  der  allmählichen  Entziehung  (Burkart) 
weniger  stürmisch,  ersti'ecken  sich  aber  über  eine  viel  längere  Zeit. 


Morphinismus. 


563 


Gerade  dieser  Uiustand  erschwert  natürlich  den  völligen  Ausschluss 
joder  unberufenen  Morpliiumzufuhr  ungemein,  namentlich  wenn  man 
den  besonnenen  Kranken,  was  bei  einer  Curdauer  von  3 — 4  Wochen 
schwer  zu  umgehen  ist,  etwas  fi-eiere  Bewegung  gestattet;  die  Mög- 
lichkeit eines  Betrages  liegt  daher  ausserordentlich  nahe.  Um  dieser 
Gefahr  einerseits,  den  oben  geschilderten  lebenbedrohenden  ZufäUen 
andererseits  auszuweichen,  hat  Erlenmeyer  mit  seiner  „schnellen" 
Entziehungsmethode,  die  sich  über  1—2  "Wochen  erstreckt,  einen 
Mittelweg  eingeschlagen,  der  in  der  That  für  die  überwiegende  Mehr- 
zahl der  Fälle  am  angemessensten  erscheint.  Da  jeder  Morphinist 
weit  mehr  Morphium  zu  nehmen  pflegt,  als  für  sein  Wohlbefinden 
notliwendig  ist  („Existenzminimum") ,  wird  zunächst  sofort  auf  die 
Hälfte  oder  selbst  ein  Drittel  des  gewohnheitsmässigen  Gebrauches 
heruntergegangen  und  dann  allmählich  planmässig  die  Dosis  weiter 
vermindert;  die  Abendeinspritzung  fällt  zuletzt  fort. 

Die  Behandlung  der  Moi-phiumabstinenz  bedarf  überall  der 
vollen  und  andauernden  Aufmerksamkeit  des  Arztes.  Yor 
AUem  muss  der  Puls  unter  genauer  Controle  gehalten  werden,  so 
dass  bei  dem  Herannahen  der  CoUapsgefahr  ein  analeptisches  Yer- 
fahren  (kühle  Uebergiessungen,  kräftige  Hautreize  durch  den  fara- 
dischen Pinsel  und  Sinapismen,  Aether-  oder  Kampherinjectionen, 
Punsch,  Champagner)  eingeleitet  werden  kann;  im  Nothfalle  wird 
man  nicht  zögern,  durch  eine  Morphiuminjection  die  schAveren  Er- 
scheinungen zu  beseitigen.  Gegen  die  hartnäckige  Um-uhe  und  Schlaf- 
losigkeit wird  man  bisweilen  dm^ch  Eisapplication  auf  den  Kopf,  durch 
laue  Bäder  oder  durch  ein  Schlafmittel,  wenn  es  der  Kranke  verträgt, 
etwas  erreichen  können.  Die  mannichfachen  Schmerzen  lindert  eben- 
faUs  oft  die  locale  Anwendung  der  Kälte;  gegen  die  Tenesmen  imd 
Dian-höe  helfen  laue  Eingiessungen  und  Stuhlzäpfchen  mit  Bella- 
donna. Das  Erbrechen  wkd  durch  Eispülen  und  Kataplasmen  be- 
kämpft. Da  das  Morphium  auch  bei  subcutaner  Anwendung  sehr 
rasch  in  den  Magen  gelangt,  hat  neuerdings  Hitzig  Magenausspülungen 
empfohlen,  welche  nicht  nur  die  genannte  Erscheinung,  sondern  auch 
das  Gesammtbild  der  Abstinenz  in  sehr  günstiger  Weise  beeinflussen 
soUen. 

Zur  Erleichterung  der  Entziehimg  empfiehlt  Burkart,  zunächst 
die  innerliche  Anwendung  des  Morphiums  an  Stelle  der  Einspritzung 
zu  setzen  und  endlich  auch  fernerhin  dm-ch  Opiumgaben  den  Ausfall 

3(3* 


564 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


des  gewohnten  Geniissmittels  weniger  fühlbar  zu  machen.  Da  in- 
dessen erfahrimgsgemäss  und  aus  naheliegenden  Gründen  der  Opium- 
missbrauch  nicht  selten  denjenigen  des  Morphiums  einfach  ersetzt, 
so  ist  der  Nutzen  dieses  Verfahrens  nicht  recht  verständlich.  Das  in 
neuerer  Zeit  .so  enüiusiastisch  angepriesene  Cocain  darf  wol  nach  den 
jetzt  vorliegenden  Erfahrungen  einfach  als  ein  minderwerthiger  und 
zugleich  sehr  gefährlicher  Ersatz  für  das  Morphium  angesehen  werden; 
es  lindert  viele  Beschwerden  der  Morphiumabstinenz,  wirkt  aber 
immer  nur  für  kurze  Zeit  und  führt  in  jedem  Falle  die  äusserst 
bedenkliche  "Wahrscheinlichkeit  eines  späteren  Morphio-Cocainismus 
herauf.  Yor  seiner  Anwendung  kann  daher  nicht  eindringlich 
genug  gewarnt  werden.  lieber  den  Werth  des  ebenfalls  als  Er- 
leichterungsmittel bei  der  Morphium entziehung  empfohlenen  Nitro- 
glycerin und  Spartein  werden  erst  weitere  Erfahrungen  zu  ent- 
scheiden haben.  Ebenso  vermag  ich  ein  eigenes  TJrtheil  über  die 
Erfolge  der  Hypnose  in  diesen  Zuständen  zur  Zeit  nicht  abzugeben. 
Dagegen  ist  es  ohne  Zweifel  von  besonderer  Wichtigkeit,  in  der 
Entziehungscur  gleich  von  Anfang  an  auf  eine  zweckmässige  und 
reichliche  Ernährung  der  Kranken  bedacht  zu  sein,  da  dieselben 
wegen  ihrer  Appetitlosigkeit  und  Aufregung  sonst  rasch  von  Kräften 
kommen.  Die  Einführung  von  flüssiger  Nahiamg,  namentHch  Milch, 
eventuell  mit  etwas  Cognac,  pflegt  trotz  der  Neigung  zum  Erbrechen 
meist  zu  gelingen.  Gerade  nach  dieser  Eichtung  werden  Magen- 
ausspülungen voraussichtHch  nützHch  sein. 

Die  auffallenderen  Abstinenzerscheinungen  treten  bei  der  plötz- 
lichen Entziehung  oft  schon  nach  wenigen  Tagen,  bei  der  schnellen 
etwas  langsamer  und  bei  der  allmählichen  nach  einigen  Wochen 
oder  selbst  erst  Monaten  vollständig  in  den  Hintergrund.  Der 
Appetit  bessert  sich;  das  Körpergewicht  steigt  rasch;  der  Schlaf  stellt 
sich  anfangs  mit  Hülfe  von  Schlafmitteln,  hydropathischen  Proceduren, 
dann  aber  auch  von  selber  wieder  ein,  und  es  tritt  bei  dem  Kranken 
mehr  und  mehr  das  Gefühl  der  Gesundheit  und  der  geistigen 
Frische  wieder  hervor.  Allein  die  Gefahren  des  Morphinismus  sind 
damit  durchaus  noch  nicht  überwunden.  Noch  viele  Monate, 
ja  selbst  Jahr  und  Tag  nach  der  völligen  Entwöhnung  vom  Morphium 
kann  mit  einem.  Male,  häufig  im  Ansclüusse  an  einen  äusseren 
Anlass,  ein  körperliches  Unwohlsein,  die  Ausführung  einer  Morphium- 
injection,  oder  bei  Eückkehr  in  die  alte  Umgebimg,  in  eine  auf- 


Morphinismus. 


565 


reibende  Thätigkeit  die  Neigung  zu  dem  Mittel  niit  fast  unwider- 
stehlicher Gewalt  wieder  hervortreten.  Namentlich  6—8  Monate  nach 
Wiederaufnahme  der  Arbeit  pflegt  sich  ein  Zustand  von  Nervosität 
einzustellen,  welcher  dem  genesenen  Morphinisten  ausserordentlich 
gefälu-Hch  ist  und  eine  Ausspannung  und  Erholung  dringend  noth- 
wendig  macht.  Auch  späterhin  kehren  noch  öfters  in  schwächerer 
Andeutung  ähnliche  Mahnungen  zum  Ausruhen  wieder. 

Unter  diesen  Umständen  müssen  wir  dem  entlassenen  Morphi- 
nisten ernstlich  rathen,  jede  Schwankung  seiner  nervösen  und 
psychischen  "Widerstandsfähigkeit  genau  zu  beachten  und  sich 
mindestens  ein  Jahr  lang  nach  beendeter  Cur  in  irgend  einer  Porm 
imter  eine  gewisse  Ueberwachung  zu  stellen,  welche  jede  Neigung 
zum  Eückfalle  im  Keime  erstickt,  sei  es  in  der  Familie,  sei  es  in 
der  Gesellschaft  eines  zuverlässigen,  eingeweihten  Freundes.  Dem 
genesenden  Arzte  ist  es  ans  Herz  zu  legen,  dass  er  niemals  wieder 
eine  Injection  selber  ausführt,  weil  gerade  dabei  die  Gefahr  des 
Eückfalles  am  drohendsten  hervorzutreten  pflegt.  Forel  empfiehlt 
ferner,  wie  mir  scheint,  mit  vollem  Eecht,  jedem  Morphinisten, 
gleichzeitig  die  volle  Enthaltsamkeit  von  geistigen  Getränken  durch- 
zuführen. Nicht  selten  ist  es  der  Leichtsinn  der  Berauschtheit  oder 
der  Missmuth  des  Katzenjammers,  welche  die  mühsam  bewahrte 
Selbstbeherrschung  über  den  Haufen  werfen  und  zum  Eückfall 
führen.  Endlich  habe  ich  es  in  mehreren  Fällen  erreicht,  dass  die 
Genesenen  sich  dazu  entschlossen,  einige  Jahre  lang  1 — 2mal  jähr- 
lich eine  strenge  Quarantäne  von  2 — Stägiger  Dauer  in  einer 
geschlossenen  Anstalt  durchzumachen.  Auf  diese  Weise  wird  dem 
Kranken  selbst  ein  gewisser  moralischer  Halt  gegeben;  seine  An- 
gehörigen werden  beruhigt,  und  ein  etwaiger  Eückfall  kann  nicht 
allzulange  unentdeckt  bleiben.  FreiHch  pflegen  nur  diejenigen  wieder- 
zukommen, welche  abstinent  geblieben  süid;  von  den  Eückfälligen 
hört  man  meist  erst  auf  Umwegen  oder  gar  nicht. 

Die  vollständige  und  dauernde  Entziehung  des  Morphiums  er- 
weist sich  selbst  beim  besten  Willen  des  Arztes  und  des  Patienten 
in  einer  Eeihe  von  Fällen  als  undurchführbar.  Abgesehen  von 
jenen  Kranken,  denen  das  Leben  wegen  irgend  eines  unheilbaren, 
schmerzhaften  Leidens  nur  durch  das  Morphium  erti-ägüch  wird, 
sieht  man  bei  älteren  Personen  jenseits  der  50er  Jahre,  sowie  bei 
sehr  lange  (Jahrzehnte)  bestehendem  Morphinismus  nicht  selten 


566 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


die  Entziehimg  des  Morphiums  zu  einem  langsam  fortschreitenden 
Siechthum  führen,  welches  die  Lebensfähigkeit  in  höherem  Grade 
beeinträchtigt,  als  der  Morphinismus  selbst.  Hier  muss  man  sich 
damit  begnügen,  die  Gabe  des  Mittels  nach  Möglichkeit  niedrig  zu 
halten  und  den  Kranken  dauernd  unter  ärztliche  Aufsicht  zu  stellen. 

C.  Der  Cocainismus. 

Der  Cocainismus*)  ist  die  modernste  der  chronischen  Intoxi- 
kationen. Die  euphorischen  Wirkungen  des  Cocains  in  der  Morphium- 
abstinenz sind  es  gewesen,  welche  diesem  Mittel  sehr  rasch  eine 
unerfreuliche  Verbreitung  yerschafft  haben.  In  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle  ist  daher  der  Cocainmissbrauch  mit  dem  Morphi- 
nismus complicirt,  und  Beobachtungen  von  reinem  Cocainismus  sind 
bei  uns  relativ  selten,  während  allerdings  in  der  Heimath  der  Coca, 
in  Peru,  die  Polgen  dieser  chronischen  Vergiftung  ebenso  wohlbekannt 
sind,  wie  diejenigen  des  Opiumrauchens  in  China. 

Die  nächste  "Wirkung  des  Cocains  ist  eine  unter  Steigerung  der 
Pulsfrequenz  und  Sinken  des  Blutdruckes  eintretende  rauschartige 
Erregung  mit  behaglichem  Wärmegefühle  und  ausgesprochenem 
Wohlbefinden.  Der  Mensch  wird  lebhaft,  geschwätzig,  fühlt  sich 
leistungsfähiger  und  kräftiger.  Preiüch  folgt  ziemlich  bald  die  Er- 
schlaffung. Grössere  Gaben  erzeugen  deliriöse  Erregimgszustände 
mit  Neigung  zu  plötzlichen  CoUapsen.  Bei  längerer  Portsetzung  der 
Einspritzungen,  zu  der  man  durch  ein  starkes  Unbehagen  beim  Aus- 
setzen des  Mittels  (Beklemmungsgefühl,  Herzklopfen,  Ohnmacht)  ge- 
drängt wird,  stellt  sich  eine  dauernde  nervöse  Erregung  mit  leichter 
Ideenflucht  und  völHger  Unfähigkeit  zu  geistiger  Beschäftigung, 
Energielosigkeit  und  Abnahme  des  Gedächtnisses  ein.  Der  Ki-anke 
entwickelt  eine  planlose  Vielgeschäftigkeit,  ist  ungemein  redselig  und 
weitschweifig  im  mündlichen  Verkehre,  schreibt  langathmige  Briefe 
ohne  ersichtlichen  Zweck  und  verabsäumt  dabei  seine  wichtigsten 
Obliegenheiten.  Er  wird  unzuverlässig  und  vergesslich,  unordentlich 


*)  Erlenmeyer,  op.  cit.  p.  154  ss;  Thomsen,  Chariteannalen  XII,  1887, 
p.  405;  Heymann,  Berliner  Klin.  Wochenschi-.  XKIV,  1887,  p.  278;  Ober- 
steiner, Wiener  Klin.  Wochenschr.  1888,  19;  Saury,  Annales  medico-psycho- 
logiques,  1889,  p.  439. 


Cocaiiiismus. 


567 


und  kopflos  in  seiner  ganzen  Lebensführung,  vernachlässigt  sein 
Aeusseres  und  geräth  mit  seiner  Berufsthätigkeit,  mit  seinen  ge- 
sellschaftlichen und  Avirthschaftlichen  Verhältnissen  in  raschen  und 
unaufhaltsamen  Verfall.  Die  Stimmung  schwankt  zwischen  über- 
schwänglichem  Wohlbefinden,  grosser  Keizbarkeit  und  geheimer 
misstrauischer  Angst  bei  gleichzeitiger  Abstumpfung  der  moralischen 
Gefühle,  die  sich  in  der  auffallenden  Unempfindlichkeit  der  Kranken 
gegen  die  nächstliegenden  Forderungen  der  Sittlichkeit  kundgiebt. 

Diese  tiefgreifende  psychische  Entartung  wird  regelmässig  von 
den  Anzeichen  schweren  körperlichen  Siechthums  begleitet. 
Die  allgemeine  Ernähi-ung  liegt  trotz  reichlicher  Nahrungszufuhr 
darnieder;  das  Körpergewicht  sinkt  ungemein  rasch.  Das  Aussehen 
Avird  greisenhaft,  die  Hautfarbe  fahl,  die  Gesichtszüge  schlaff,  aus- 
druckslos, müde,  der  Gang  unsicher;  es  besteht  grosse  körperliche 
Schwäche  und  Hinfälligkeit.  Die  Keflexe  sind  gesteigert;  häufig 
beobachtet  man  lebhafte  Muskelunruhe  und  selbst  krampfartige 
Zuckungen.  Die  Pupillen  sind  stark  erweitert;  die  Zunge  zittert. 
Der  Pols  ist  beschleunigt;  dazu  kommt  Herzklopfen,  Athemnoth, 
Neigung  zu  Ohnmächten.  Die  Schweissabsonderung  ist  vermehrt; 
die  Potenz  schwindet  trotz  gleichzeitiger  geschlechtlicher  Aufregung. 
Der  Schlaf  ist  stets  sehr  gestört,  zeitweise  völlig  aufgehoben,  so  dass 
die  Kranken  zu  Schlafmitteln,  namentlich  zum  Morphium  greifen. 
Bei  einem  lijährigen  Knaben  meiner  Beobachtung,  der  sich  seit 
sieben  Wochen  täglich  2 — 3  gr  Cocain  einspritzte  und  in  Folge 
dessen  bereits  eine  Beugecontractur  der  beiden,  von  zahlreichen 
Abscessen  durchsetzten  Arme  davon  getragen  hatte,  traten  ausser- 
dem TJnreinlichkeit,  sowie  häufige  Schwindelanfälle  mit  deliriöser 
Verwirrtheit  und  zeitweisen  Hallucinationen  auf. 

Auf  der  allgemeinen  Grundlage  der  cocainistischen  Entartung 
entwickelt  sich  überaus  häufig  ein  ganz  bestimmtes  Krankheitsbild 
von  der  Form  des  acuten  hallucinatorischen  Wahnsinns.  Der 
Beginn  der  Erkrankung  ist  meist  ein  rascher.  Nachdem  eine  reiz- 
bare, misstrauische ,  ängstliche  Stimmung  mit  grosser  Euhelosigkeit 
und  Unstetigkeit  kurze  Zeit  vorhergegangen  ist,  treten  plötzlich 
Hallucinationen  auf  verschiedenen  Sinnesgebieten  hervor.  Der  Kranke 
hört  Schimpf  werte,  Anspielungen,  Drohungen,  Gespräche,  die  sicli 
auf  sein  gegenwärtiges  Thun  und  Treiben,  auf  fi-ühere  Erlebnisse, 
ja  auf  seine  geheimsten  Gedanken  beziehen.    Seine  Umgebung  er- 


568 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


scheint  ihm  unheimlich,  verändert.  Er  sieht  Bilder,  die  ihm  Avie  mit 
einer  Laterna  magica  vorgespiegelt  werden,  namentüch  aber  zahllose 
winzige  Gegenstände,  cüe  von  ihm  als  Flöhe,  Bakterien,  Krätzmilben, 
KiystaUe  aufgefasst  und  bisweilen  auch  unter  dem  j\Iikroskope  wieder- 
gefunden werden.  Besonders  stark  ausgebildet  püegen  die  Gef  ühls- 
täiischungen  zu  sein.  Der  Kranke  empfindet  ein  lebhaftes  Haut- 
jucken, das  er  auf  elektrische  oder  magnetische  Beeinflussung  zurück- 
führt; er  glaubt  mit  Nadeln  gespickt,  ausgesogen,  mit  Fäden 
umsponnen,  von  Ungeziefer  aufgezehi-t  zu  werden. 

Diese  letzten  Erfahrungen  zeigen  uns  deutlich  den  grossen  Eiu- 
fluss,  den  hier  die  wahnhafte  Deutung  auf  die  Verfälschimg  der 
Wahrnehmung  hat.  Ziehen  in  den  Gliedern  wird  von  dem  Kranken 
als  Zeichen  einer  feindseligen  Vergiftung  betrachtet;  starkes  Herz- 
klopfen führt  zu  der  Befürchtung  einer  bevorstehenden  Herzruptui-. 
In  Folge  der  Gehörstäuschungen  glaubt  sich  der  Kranke  überall 
bedroht  und  beobachtet.  Mau  liest  seine  Gedanken  mit  Hülfe  geheim- 
nissvoller Vorrichtungen;  in  den  Wänden  und  Thüren  sind  ver- 
steckte OefFnungen,  durch  die  man  ihn  überwacht;  seine  Papiere 
werden  durchstöbert  und  gelesen;  in  verleumderischen  Briefen  werden 
Niederträchtigkeiten  und  Verdächtigungen  über  ihn  ausgestreut.  Von 
allen  Seiten  drohen  Gefahren,  denen  sich  der  Kranke  durch  Be- 
schwerden bei  der  Polizei,  durch  Wohnungswechsel,  überstürzte 
Belsen,  durch  Drohimgen  und  schliesslich  sogar  durch  feindliche 
Angriffe  zu  entziehen  sucht.  Sehr  häufig  greift  er  zum  Kevolver 
und  schiesst  auf  seine  vermeintlichen  Widersacher,  um  sein  Leben 
so  theuer  als  möglich  zu  verkaufen,  oder  er  macht  seiner  verzweifelten 
Lage  durch  Selbstmord  ein  Ende.  Einer  meiner  Kranken,  dem  das 
Blut  in  Strömen  aus  der  Brust  hervorzuquellen  schien  und  der  daher 
seinen  Tod  herannahen  glaubte,  beschwor  seine  gleichfalls  unter  dem 
Einflüsse  des  Cocains  stehende  Frau,  mit  ihm  zu  sterben,  worauf 
sie  sich  sofort  mit  H^^oscin  vergiftete. 

Eine  sehr  eigen thümliche,  aber  anscheinend  typische  Störung  in 
diesen  Zuständen  ist  der  unsinnige  Eifersuchtswahn  der  Cocainisten. 
Wenn  schon  der  sonstige  Inhalt  der  Täuschungen  vielfach  ein  ge- 
schlechtlich obscöner  iat,  so  bemächtigt  sich  des  tranken  ferner  die 
Idee,  dass  seine  Frau  ihm  von  jeher  untreu  gewesen  sei.  Er  hört 
und  glaubt,  dass  sie  von  allen  Seiten  Liebesbriefe  empfangen,  mit 
zahllosen  Männern  geschlechtlich  verkehrt  habe.    Sie  ist  blass  ge- 


Cocainismus. 


569 


worden,  als  sie  plötzlich  von  üirem  Manne  überrascht  wurde,  hat 
schnell  ein  Papier  versteckt,  ist  schon  auf  der  Hochzeitsreise  mit 
einein  fremden  Herrn  im  Abtritt  verschwunden,  in  der  Tanzstunde 
von  Lieutenants  mit  aufs  Zimmer  genommen  worden.  Ein  College 
erzählte  mir  mit  dem  Ausdrucke  tiefsten  Bedauerns,  seine  Frau  sei 
leider  krank,  nymphomanisch  gewesen;  sie  habe  ihm  selber  gestan- 
den', dass  sie  sich  mit  jedem  Dienstmann  und  Droschkenkutscher 
vergangen  habe;  er  meine  fast,  sie  sei  schon  unkeusch  auf  die  "Welt 
gekommen.  Auch  dieser  Wahn  kann  gelegentlich  zu  gefährlichen 
Angriffen  auf  die  vermeintlich  Schuldigen  führen. 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  trotz  der  zahlreichen,  nicht 
corrigirten  Sinnestäuschungen  und  Wahnideen  andauernd  so  klar, 
dass  sie  nicht  nur  über  ihre  Umgebung  orientirt,  sondern  auch  im 
Stande  sind,  zusammenhängend  und  ziemlich  geordnet  über  ihre 
Yorstellungen  und  Zustände  Auskimft  zu  geben.  Nur  vorübergehend 
kommt  es  unter  lebhafteren  Affectschwankungen  einmal  zu  stärkerer 
Bewusstseinstrübung  und  Verworrenheit.  Memals  besteht  jedoch 
klai'e  Ejrankheitseinsicht;  auch  bei  anscheinend  vollkommener  Be- 
sonnenheit werden  die  unsinnigen  Wahnideen  festgehalten  und  folge- 
richtig gegen  alle  Einwände  vertheidigt.  Die  Kranken  weisen  den 
Verdacht  der  Geistesstörung  bestimmt  zurück,  suchen  vielleicht  gar 
den  Nachweis  zu  führen,  dass  diese  oder  jene  Person  ihrer  Umgebung 
plötzlich  verrückt  geworden  sei.  Die  Stimmung  ist  erregt,  reizbar 
zeitweise  zornig  und  erbittert,  am  häufigsten  misstrauisch  und  de- 
primirt.  Vielfach  sind  die  Kranken  sehr  zurückhaltend  in  der  Mit- 
theilung ihrer  krankhaften  Ideen,  weichen  den  Fragen  aus,  stellen 
Alles  in  Abrede.  Ihr  Benehmen  kann,  abgesehen  von  den  Zeiten 
deltriöser  Benommenheit,  bis  auf  eine  gewisse  Unruhe  normal  er- 
scheinen, wenn  nicht  einzelne  geradezu  durch  Wahnideen  hervor- 
gerufene Handlungen  die  schwere  geistige  Störung  verrathen.  Die 
körperlichen  Begleiterscheinungen  sind  diejenigen  der  chronischen 
Cocainvergiftung. 

Die  ganze  Entwickelung  des  Cocainwahnsinns  pflegt  sich  ziem- 
lich schnell,  oft  binnen  wenigen  Wochen  zu  vollziehen.  Dabei 
schliessen  sich  deutliche  Verschlimmerungen  mit  Zunahme  der 
Täuschungen  und  der  Erregung  an  die  einzelnen  Cocaingabeu  an. 
Die  Mengen  des  verwendeten  Giftes  pflegen  rasch  zu  wachsen,  bis 
auf  einige  Gramm  in  24  Stunden.    Daneben  werden  zur  Bekämpfung 


570 


X.  Die  chrunischen  Intoxikationen. 


der  Schlaflosigkeit  regelmässig  andere  Mittel,  am  häufigsten  Morphium, 
aber  auch  Chloralhj^drat,  Siilfonal,  Hyoscin  u.  s.  f.  genommen.  So- 
bald das  Cocain  ausgesetzt  wird,  pflegen  die  stürmischen  deliriösen 
Zustände  sehr  rasch,  innerhalb  weniger  Tage,  zu  verschwinden, 
während  die  "Wahnideen  erst  nach  Wochen  oder  selbst  Monaten  und 
die  Erscheinungen  der  psychischen  Entartung  noch  weit  langsamer 
sich  verlieren. 

Die  Entstehung  des  Cocainismus  schliesst  sich,  wie  früher  be- 
merkt, fast  immer  an  einen  anfänglichen  Morphinismus  an.  Bei  dem 
Yersuche,  sich  von  demselben  zu  befreien,  greift  der  Kranke  mit 
oder  ohne  Zureden  des  Ai^ztes  zum  Cocain,  welches  ihm  zunächst 
und  ganz  vorübergehend  Erleichterung  verschaffi,  ihn  dann  aber 
wegen  der  wachsenden  Unruhe  und  Schlaflosigkeit  zwingt,  zum  Mor- 
phium zurückzukehren.  Einer  meiner  Kranken  spritzte  Anfangs  nur 
Morphium  ein,  pinselte  sich  aber  dann  wegen  Zahnschmerzen  die 
Mundschleimhaut  mit  Cocain.  Wenn  wir  es  demnach  praktisch  fast 
mimer  mit  einer  Yerbindung  beider  Mittel  zu  thun  haben,  so  düiiten 
doch  die  hier  geschilderten  Krankheitserscheinungen  wesentüch  oder 
ausschliesslich  auf  die  Cocainwirkung  zu  beziehen  sein.  In  dem  zu- 
letzt erwähnten  Falle  traten  die  ersten  Gehörstäuschungen:  „Der  wird 
verhaftet!"  bald  nach  der  Anwendung  des  Cocains  auf,  imd  wir  wurden 
erst  durch  sie  dazu  veranlasst,  nach  etwaigem  Gebrauche  dieses  Mittels 
zu  forschen,  von  dem  der  Kranke  bis  dahin  nichts  angegeben  hatte. 
Auch  sonst  ist  die  Entwickelung  stürmischer  psychischer  Störungen 
bei  reinem  Morphinismus  so  überaus  selten,  bei  der  Verbindimg  mit 
Cocainismus  dagegen  so  regelmässig,  dass  die  ursächliche  Bedeutung 
gerade  des  Cocains  für  die  eigenartige,  schwere  Degeneration  imd  den 
hallucinatorischen  Walmsinn  der  Morphio-Cocainisten  nicht  wol  be- 
zweifelt werden  kann. 

Der  chronische  Cocainismus  besitzt  eine  gTOsse,  unverkennbare 
AehnHchkeit  mit  dem  Alkoholismus,  die  sich  bis  in  gewisse  Einzel- 
heiten hinein  erstreckt.  Die  Sinnestäuschungen  der  Cocainisten  er- 
innern dm-chaus  an  diejenigen  der  Alkoholdeliranten,  die  Eifersuchts- 
ideen an  den  bekannten  Wahn  der  Trinker.  Audi  die  acute  Wirkmig 
des  Cocahis  scheint  derjenigen  des  Alkohols  verwandt  zu  sein. 
Gleichwol  bestehen  bestimmte  Unterschiede..  Die  Cocain entartimg 
bricht  weit  gewaltiger  und  unwiderstehhcher  über  den  Menschen  herein 
als  der  Alkoholismus;  die  schAversten  Störungen  werden  sehr  A-iel 


Cocainiemus. 


571 


rascher  erreicht.  Der  Cocainwahnsinn  steht  symptomatisch  etwa  in  der 
Mitte  zwischen  dem  Delirium  ti-emens  und  dem  allcohohschen  Wahnsinn; 
er  nähert  sich  jenem  dui-ch  die  Mannichfaltigkeit  der  Täuschungen, 
diesem  durch  die  grössere  Besonnenheit.  Der  Eifersuchtswahn  tritt 
hier  acut  und  fi-ühzeitig,  beim  Trinker  erst  spät  und  als  chronische 
Störung  auf.  Endlich  zeigt  sich  überall  ein  unmittelbar  verschlim- 
mernder Einfluss  jeder  einzelnen  Cocaingahe  auf  die  psychischen 
Erscheinungen,  wähi-end  der  Yerlauf  der  alkoholischen  Psychosen 
dui'ch  den  Fortgebrauch  des  Giftes  gar  nicht  oder  nur  unerhebhch 
verändert  Avird. 

Die  Prognose  des  Cocainismus  ist  eine  ausserordentlich  trübe. 
Der  acute  Cocainwahnsinn  fi-eilich  scheint  regelmässig  zu  heilen, 
sobald  die  Zuführung  des  Giftes  dauernd  verhindert  wird.  Dagegen 
ist  die  Zerstörung  der  moralischen  Widerstandsfähigkeit  hier  eine 
weit  tiefergTeifende  und  nachhaltigere,  als  bei  Alkohol  und  Morphium. 
Die  Kranken  werden  daher  fast  ausnahmslos  rückfällig,  oft  nach  sehr 
kui'zer  Zeit. 

Eine  einigermassen  wirksame  Bekämpfung  des  Cocainismus 
kann  nur  von  der  Yorbeugung  desselben  ausgehen.  Jede  nicht  rein 
örtiiche  Anwendung  des  Mittels  muss  als  unzulässig  angesehen,  sein 
Gebrauch  bei  der  Morphiumentziehung  geradezu  als  Gewissenlosig- 
keit gebrandmarkt,  noch  besser  als  Kunstfehler  bestraft  werden. 
Wir  Alle  haben  als  Aerzte  die  Pflicht,  das  Publicum  auf  das  Ein- 
dringhchste  vor  dem  gefährlichen  Gifte  zu  warnen  und  unnachsicht- 
lich  die  niederträchtige  Ausbeutung  der  Elranken  durch  Händler  und 
Aerzte  zur  Anzeige  zu  bringen.  Dass  die  Entziehung  der  Praxis 
bei  cocainistischen  Aerzten  noch  dringender  geboten  ist,  als  bei 
morphinistischen,  bedarf  nach  den  Schilderungen  der  Cocainwirkung 
und  nach  meinen  eigenen,  geradezu  schrecklichen  Erfahrungen  keiner 
weiteren  Ausführung. 

Die  Entziehung  des  Cocains  allein  pflegt  nur  von  geringfügigen 
Störungen  begleitet  zu  sein,  die  theilweise  auch  wol  noch  als  Yer- 
giftungserscheinungen  zu  betrachten  sind.  Dazu  gehören  Unruhe, 
Schlaflosigkeit,  Herzklopfen,  Athemnoth,  endlich  plötzliche,  coUaps- 
artige  Ohnmächten.  Im  Allgemeinen  wird  daher  das  Mittel  in 
wenigen  Abstufungen  oder  sogar  mit  einem  Sclilage  entzogen  werden 
können.  Natürlich  ist  dabei  sorgfältige  TJeberwachung  und  unter 
Umständen  ein  analeptisches  Yeriahren  mit  Alkohol,  Kaffee,  kühlen 


572 


X.  Die  chronischen  Intoxikationen. 


Uebergiessungen  u.  s.  f.  am  Platze.  Die  Schlaflosigkeit  wird  durch  laue 
Bäder,  Sulfonal,  Trional  bekämpft,  gleichzeitig  auf  möglichst  kräftige 
Ernährung  Bedacht  genommen.  Bei  der  regebnässigen  Verbindung 
mit  Morphinismus  wird  man  am  zweckmässigsten  zunächst  das  Cocain 
entziehen  und  dann  erst  mit  dem  Morphium  heruntergehen.  Selbst- 
verständlich kann  jede  derartige  Cur  nur  in  einer  Anstalt  und  unter 
sicherem  Ausschlüsse  jedes  unberufenen  Verkehrs  nach  Aussen  ge- 
schehen. Ist  doch  die  moralische  Un Zuverlässigkeit  dieser  Ej-anken 
weit  grösser,  als  selbst  diejenige  der  reinen  Morphinisten!  Für  die 
weitere  Behandlung  der  Kranken  nach  vollendeter  Entziehung  aller 
Mittel  gelten  die  früher  ausführhch  besprochenen  Grundsätze.  Nur 
empfiehlt  es  sich,  hier  überall  noch  vorsichtiger  und  misstrauischer 
zu  verfahren,  als  dort. 


II.  Die  Dementia  paralytica. 


Aus  der  Reihe  von  Geisteskrankheiten,  die  mit  gröberen  ner- 
vösen Störungen  einhergehen  und  auf  eine  tiefer  greifende,  anatomisch 
erkennbare  Yeränderung  des  Gehirnes  hindeuten,  hat  sich  seit  den 
Schilderungen  Bayles  (1822)  und  Calmeils  (1826),  namentlich 
aber  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  ein  bestimmtes  Krankheitsbild 
herausgehoben,  dessen  Studium  wegen  der  hervorragenden  Betheil- 
igung der  psychischen  I\inctionen  nicht  der  Himpathologie,  sondern 
vorzugsweise  der  Psychiatrie  anheimgefallen  ist.  "Während  die  Geistes- 
störungen in  Folge  von  Geschwülsten,  Erweichungsherden,  multipler 
Sklerose  u.  s.  f.  eine  grosse  Einförmigkeit  darzubieten  jpflegen  und 
darum  neben  den  sonstigen  nervösen  und  cerebralen  Lähmungs-  und 
Eeizungserscheinungen  gänzlich  in  den  Hintergrund  treten,  hat  die 
diffuse,  chronische  Degeneration  der  Hirnrinde,  als  des 
Centraiorgans  unseres  Bewusstseins,  so  erhebliche  und  mannichfaltige 
Yeränderungen  der  psychischen  Leistungen  zur  Folge,  dass  sie  viel- 
fach die  wichtigsten  Erscheinungen  im  Krankheitsbilde  darstellen, 
während  man  die  begleitenden  nervösen  Störungen  früher  sogar  bis- 
weilen als  blosse  „Complicationen"  auffasste. 

Als  den  klinischen  Ausdruck  des  genannten  pathologischen  Yor- 
ganges  haben  wir  die  sog.  Dementia  paralytica*),  den  fort- 
schreitenden Blödsinn  mit  Lähmung  („Gehirnerweichung")  zu  betrachten, 
eine  Krankheitsform,  die  insofern  gewissermassen  auf  der  Grenze 
zwischen  Himpathologie  und  „Psychopathologie"  steht  und  eine  Yer- 
einigung  beider  ermöglicht,  als  wir  hier  den  Störungen  der  psych- 


*)  Voisin,  traite  de  la  paralysie  generale  des  alienes.  1879;  Mendel,. 
Die  progressive  Paralyse  der  In'en.  1880;  Mi  ekle,  general  paralysis  of  the  insane. 
2.  ed.  1886. 


574 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


ischen  Leistungen  unmittelbar  greif  bare  Veränderungen  des  organischen 
Trägers  derselben  parallel  gehen  sehen.  Der  Grundzug  im  Ki-ankheits- 
bilde  der  Dementia  paralytica  ist  die  fortschreitende  Schwäche 
auf  allen  Gebieten  des  psychischen  Lebens.  Allmählich,  aber 
nnanfhaltsam  nimmt  die  Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit  im  Denken, 
Ptihlen  imd  Handeln  ab,  bis  zur  völligen  Yernichtung  der  psychischen 
Persönlichkeit,  bis  zum  denkbar  tiefsten  Blödsinn.  Begleitet  wd 
dieser  Vorgang  in  der  Kegel  von  verschiedenartigen  psychischen  Reiz- 
imgserscheinungen,  Aniregimgs-  und  Depressionszuständen,  die  sich 
von  den  früber  geschilderten  wesentlich  mu-  durch  den  gemeinsamen, 
mehr  oder  weniger  deutlich  ausgeprägten  Grundzug  der  Schwäche 
unterscheiden. 

Auf  dem  Gebiete  der  Intelligenz  zeigt  sich  schon  beim  ersten 
Herannahen  der  Krankheit  eine  auffallende  Unfähigkeit  zu  dauern- 
der Anspannung  der  Aufmerksamkeit,  die  sich  auch  durch 
messende  Methoden  leicht  nachweisen  lässt.  Der  Kranke  wird  zer- 
streut, ermüdet  ungemein  rasch  bei  geriugfügigen  geistigen  Ansti-eng- 
ungen,  muss  bald  pausiren.  Jede  geistige  Leistung,  auch  die  gewohnte 
Arbeit,  fällt  ihm  schwer;  trotz  häufiger  AnläirEe  kommt  er  nicht  vor- 
wärts, stockt  bei  jeder  kleiuen  Schwierigkeit,  verhert  leicht  den  Faden, 
wiederholt  dieses  imd  übersieht  jenes.  Er  fasst  die  Vorgänge  in  seiner 
Umgebung  nicht  mehr  mit  der  früheren  Klarheit  imd  Schärfe  auf, 
verhert  den  Ueberbhck  und  vermag  sich  schhesshch  selbst  im  Ki-eise 
seiner  gewohnten  Verhältnisse  und  Obhegenheiten  nur  mit  gi-osser 
Mühe  oder  gar  nicht  mehr  zurecht  zu  finden.  Das  Verständniss  füi" 
verwickeitere  Gedankengänge,  für  feinere  Anspielimgen  imd  "Witze 
geht  verloren.  Der  Kranke  vermag  Erzählimgen  nicht  mehi-  in  ihi-em 
Zusammenhange  zu  begreifen,  verwechselt  imd  verkennt  Personen 
imd  Gegenstände,  übersieht  wichtige  Einzelheiten  oder  Unordnimgen, 
die  ihm  früher  nicht  entgangen  wären,  verirrt  sich  in  ihm  sonst  be- 
kannten Gegenden.  Ich  entsinne  mich  eiues  Zimmermanns,  der  eines 
Tages  sogar  den  Arbeitsplatz  nicht  mein-  auffand,  auf  dem  er  bis  da- 
hin regelmässig  beschäftigt  gewesen  wai\ 

Auf  diese  Weise  entwickelt  sich  eine  mein-  oder  weniger  aus- 
gesprochene Bewusstseinstrübung,  und  der  Ki-anke  lebt  nun  Avie 
im.  Traiune  oder  wie  üi  eiuem  leichten  Rausche.  Einer  meiner  Kranken 
wittde  daher  geradezu  vom  Untersuchungsrichter  für  beti-unken  ge- 
halten.   Oft  hefert  schon  im  Beginne  des  Leidens  diese  eigenthüm- 


Psychische  Symptome. 


575 


licho  Benommenlieit,  welche  den  Kranken  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  der  Wirklichkeit  enti'ückt,  ein  bedeutsames  diagnostisches  Merk- 
mal. Späterhin  kann  die  Desorientirtheit  trotz  anscheinender  Besonnen- 
heit in  einzelnen  Fällen  bei  obeiilächlicher  Betrachtung  sogar  den 
Eindi'uck  eines  epileptischen  Dämmerzustandes  machen.  Der  Kranke 
versteht  avoI  die  an  ihn  gerichteten  Fragen,  erzählt  ziemlich  geordnet, 
hat  aber  keine  Ahnung,  wo  er  ist,  mit  wem  er  spricht,  in  welcher 
Lage  er  sich  befindet,  beachtet  die  Vorgänge  in  seiner  Umgebung 
nicht,  sondern  lebt  in  einer  ganz  anderen  "Welt.  In  den  letzten  Sta- 
dien der  Krankheit  sinkt  dann  die  HeUigkeit  des  Bewnsstseins  dauernd 
imd  endgültig  auf  jene  niedrigst  möglichen  Grade  herab,  welche  eine 
Anffassimg  und  Verarbeitung  äusserer  Eindrücke  völlig  ausschliessen. 

Eine  relativ  geringe  Eolle  pflegen  in  der  Paralyse  Sinnes- 
täuschungen zu  spielen,  so  gering,  dass  man  frülier  bisweilen  ihr 
Vorkommen  hier  überhaupt  geleugnet  hat.  Ohne  Zweifel  verläuft  wol 
die  überwiegende  Mehrzahl  der  Fälle  olme  jenes  Symptom;  ebenso 
unzweifelhaft  ist  es  aber,  dass  ausgeprägte  Trugwahrnehmungen  aller 
Sinne  gelegentlich  beobachtet  werden.  In  vereinzelten  Fällen  treten 
sie  so  sehr  in  den  Vordergrund,  dass  die  psychische  Störung  in 
hohem  Grade  dem  Bilde  des  haUucinatorischen  "Wahnsinns  gleicht. 
Bisweilen  hört  man  die  Kranken  mit  verstellter  Stimme  auf  ihre 
eigenen  Aeusserungen  antworten,  so  dass  ehie  Art  Zwiegespräch  mit 
einer  imaginären  Person  zu  Stande  kommt,  ohne  dass  es  sich  jedoch 
lun  wü'kliche  Gehörstäuschungen  handelt.  Vielmehr  werden  hier  Kede 
wie  Gegenrede  von  den  Kranken  laut  vorgebracht,  während  es  bei 
den  Unterhaltungen  mit  „Stimmen"  entw^eder  ganz  stumm  hergeht 
oder  doch  nur  die  Erwiderungen  der  Kranken  auf  ihi-e  haUucina- 
torischen "Wahrnehmungen  dem  Hörer  zugänglich  sind. 

Sehr  tiefgTeifend  ist  ausnahmslos  die  Beeinträchtigung,  welche 
das  Gedächtniss  erleidet,  so  dass  die  Störimgen  auf  diesem  Gebiete 
als  ganz  besonders  kennzeichnend  für  die  Paralyse  angesehen  werden 
dürfen.  Im  Anfange  ist  es  vielleicht  die  unsichere  und  traumhaft 
verschwonunene  Auffassung  äusserer  Eindrücke,  welche  dieselben  nur 
kurze  Zeit  in  dei-  Erinnerung  haften  lässt.  Der  Kranke  vergisst  da- 
her, im  Gegensatze  zu  dem  normalen  Verhalten  des  Gedächtnisses, 
namentlich  die  Ereignisse  der  jüngsten  Vergangenheit.  Er  weiss 
nicht  mehr,  was  ihm  vor  8  Tagen  begegnet  ist,  mit  wem  er  vorgestern 
spazieren  ging,  welche  Briefe,  welche  Arbeiten  er  zu  erledigen  hatte. 


576 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


ja  er  kann  sich  schliesslich  nicht  mehr  entsinnen,  was  er  vor  einer 
Viertelstunde  gethan,  ob  er  den  ihn  täglich  begrüssenden  Arzt  schon 
einmal  gesehen  hat.  Das  Gefühl  dieser  Unsicherheit  und  Vergess- 
lichkeit  führt  die  Kranken  bisAveilen  dazu,  sich  über  jedes  kleine  Er- 
lebniss,  jeden  Einfall,  den  sie  haben,  sofort  Aufzeichnungen  zu  machen, 
in  denen  sie  sich  freilich  später  selbst  nicht  mehr  zui-echtfinden. 

Namentlich  die  Möglichkeit  einer  zeitlichen  Localisation 
geht  sehr  bald  verloren.    Da  sich  dem  Kranken  die  Wahrnehmungen 
uicht  zu  jener  festgegliederten  Kette  von  Erinnerungsbildern  zusam- 
menschliessen,  welche  uns  rückschauend  den  Abstand  der  einzelnen 
Elemente  von  der  Gegenwart  abzuschätzen  gestattet,  so  vermag  er 
namentlich  die  seit  der  Erkrankung  gemachten  Erfahrungen  nicht 
mehr  in  einen  bestimmten  Zeitabschnitt  der  Vergangenheit  einzu- 
ordnen. Es  gelingt  ihm  nicht,  sich  die  Aufeinanderfolge  seiner  Erleb- 
nisse und  deren  Zusammenhang  unter  einander  ins  Gedächtniss  zurück- 
zurufen. Die  Zeitgrenzen  verschwimmen  in  einander  und  verwischen 
sich;  es  wird  ihm  unklar,  ob  seit  einem  bestimmten  Ereignisse,  seit 
seinem  Eintritt  in  die  Anstalt  Monate,  Wochen  oder  Tage  verflossen 
sind.    Schliesslich  weiss  er  weder  Wochentag  noch  Datum,  ja  oft 
nicht  einmal  die  Jalureszahl,  ,,weil  er  keinen  Kalender  hat",  oder  er 
lässt  sich  doch  in  seinen  Angaben  ausserordentlich  leicht  irre  machen. 
Nicht  selten  schreibt  er  z.  B.  als  heutiges  Datum  Jahi-  und  Tag 
seiner  Geburt,  kann  ohne  Weiteres  zu  ganz  unmöglichen  Zusammen- 
stellungen („30.  Eebruar")  verleitet  werden.    Auch  die  gewöhnlichen 
Hülfsmittel  des  gesunden  Menschen,  ein  Blick  auf  die  Landschaft, 
der  Stand  der  Sonne,  die  Helligkeit,  die  Temperatur  u.  s.  f.  nützen 
ihm  nichts,  da  er  sie  nicht  zu  verwerthen  versteht.    Trotz  des  ge- 
heizten Ofens  glaubt  er  der  Versicherung,  dass  es  Sommer  sei,  und 
die  frischen  Kirschen  auf  dem  Tische  erregen  ihm  keinen  Zweifel 
darüber,  ob  wir  uns  wirklich  im  December  befinden.    Einer  meiner 
Kranken  fragte  mich  nach   mehrmonatlichem  Anstaltsaufenthalte 
wochenlang  tagtäglich  von  Neuem,  wo  er  sich  denn  eigentlich  befinde ; 
er  müsse  geschlafen  haben,  sei  vor  Kurzem  aufgewacht  und  sehe 
sich  nun  in  einer  ganz  fremden  Umgebung.    Schon  nach  einer  halben 
Stunde  hatte  er  die  ihm  gegebene  Auskunft  wieder  vergessen  imd 
war  immer  wieder  höchlichst  erstaunt  über  die  Veränderung,  die 
sich  mit  ihm  „während  des  Schlafes"  vollzogen  haben  müsse.  Andere 
leben  so  sehr  im  Augenblicke,  dass  sie  nicht  einmal  die  Tageszeit 


Psycliische  Symptome. 


577 


mehr  auffassen,  nicht  wissen,  ob  seit  dem  Aufstehen  kürzere  oder 
längere  Zeit  verflossen  ist,  ob  sie  schon  zu  Mittag  gegessen  haben; 
sie  kleiden  sich  Vormittags  aus,  weil  es  Zeit  zum  Zubettgehen  sei, 
sind  gegen  Abend  entrüstet,  dass  man  ihnen  den  Kaffee  noch  nicht 
gebracht  habe.  ■  So  hochgradig  sind  die  Störungen  freilich  nur  bei 
sehr  weit  vorgeschrittener  Krankheit, ,  aber  sie  sind  doch  oft  auch 
schon  im  ersten  Beginn  auffallend  genug,  um  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit die  Erkennung  der  Paralyse  zu  ermöglichen. 

Ausser  den  jüngsten  Eindrücken  wird  nach  und  nach  aber  aus- 
nahmslos auch  der  Erwerb  der  ferneren  Vergangenheit  mit  in 
die  Gedächtnissstörung  hineingezogen.  Am  leichtesten  gehen  dem 
Kranken  Eigennamen  verloren,  besonders  aber  Zahlen  und  Daten. 
Während  er  frühere  Erlebnisse  inhaltlich  noch  leidlich  gut  vorbringen 
kann,  verwirrt  er  sich  in  der  Chronologie,  giebt  sein  Geburts- 
datum falsch  an,  verwechselt  die  Namen  seiner  Kinder  und  Avird 
unsicher  im  Rechnen,  eine  Störung,  welche  namentlich  bei  Kaufleuten 
und  Beamten  oft  sehr  auffallend  und  natürlich  auch  folgenschwer 
hervortritt.  Bisweilen  enthüllen  schon  die  beiden  einfachen  Fragen 
nach  Alter  und  Gebui'tsjahr  diese  Schwäche,  indem  die  Kranken  zAvei 
widersprechende  Angaben  machen,  ohne  deren  Unvereinbarkeit  zu 
bemerken.  Auch  der  hülfesuchende  Blick,  mit  welchem  sie  sich  bei 
solcher  Gelegenheit  nach  ihrer  Umgebung  umsehen,  das  zögernde  Nach- 
denken oder  die  ausweichende  Antwort,  das  sei  aufgeschrieben,  stehe 
im  Taufschein,  der  Herr  Doctor  wisse  es,  genügen,  um  dem  kundigen 
Arzte  sofort  die  Sachlage  klar  zu  legen. 

Unaufhaltsam  vollzieht  sich  nunmehr  eine  fortschreitende  Ver- 
armung des  Vorstellungsschatzes,  welche  schliesslich  zur  völligen 
Vemichtimg  des  gesammten  geistigen  Besitzstandes  führt.  Natürlich 
ist  die  Schnelligkeit,  mit  welcher  sich  dieser  Vorgang  abspielt,  eine 
sehr  verschiedene.  Sie  wird  wol  in  erster  Linie  durch  die  Ai-t  und 
Stärke  der  Krankheitsursachen  bestimmt,  dann  aber  auch  durch  den 
Umfang  der  persönlichen  Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit.  Ich 
glaube*  bemerkt  zu  haben,  dass  Personen  von  sehr  bedeutendem  und 
sicherem  Wissen  weit  länger  noch  über  eine  grössere  Anzahl  von 
Vorstellungen  verfügten,  als  Ungebildete  und  Beschränkte.  Die 
Reihenfolge,  in  welcher  allmählich  der  geistige  Erwerb  verloren  geht, 
dürfte  wesentlich  von  der  Eestigkeit  abhängen,  mit  Avelcher  die  ein- 
zelnen Elemente  haften.     Stark  eingeübte  Gedankenverbindungen 

Kraepelin,  Psychiatrie.   4.  Anfl.  37 


578 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


widerstehen  am  längsten;  der  Kaufmann  pflegt  später  die  Herrschaft 
über  das  Einmaleins  zu  verlieren,  als  der  Bauer.  Bisweilen  haften 
einzelne  ganz  nebensächliche  Vorstellungen,  die  durch  ein  zufälliges 
Ereigniss  in  den  Yordergrund  gedrängt  wurden,  auffallend  fest.  Ein 
bereits  sehr  blödsinniger  Kranker  wiederholte  Monate  lang  bei  jeder 
Unterredung  die  Zimmernummer  der  Wasserheilanstalt,  in  der  er 
sich  bis  ziu'  Aufnahme  in  die  Klinik  befunden  hatte.  Schliesslich 
weiss  der  Kranke  nicht  mehr,  ob  er  verheirathet  ist,  ob  er  Kinder 
hat,  womit  er  sich  früher  beschäftigte,  ja  er  hat  vielleicht  sogar 
sein  Alter,  seinen  "Wohnort  und  selbst  seinen  Namen  vergessen, 
obgleich  er  sich  noch  halbwegs  geordnet  in  seiner  Umgebung  zu 
bewegen  vermag. 

In  einzelnen  FäUen  lassen  sich  neben  der  allgemeinen  Ab- 
schwächung  des  'Gedächtnisses  auch  Lücken  desselben  feststehen, 
bald  von  grösserem,  bald  von  geringerem  Umfange.  Eine  meiner 
Kranken  hatte,  als  sie  nach  einem  kurz  dauernden,  verwirrten  Auf- 
regungszustande wieder  zur  Besinnung  kam,  die  Erinnerung  an  die 
letzten  5  Monate  vor  dem  Eintritte  vollständig  verloren,  obgleich 
sie  in  jener  Zeit  sich  verlobt  und  verheirathet  hatte.  Während  sie 
im  Uebrigen  vollkommen  klar  geworden  war,  zeigte  sie  sich  höch- 
lichst erstaunt,  als  nun  ihr  Mann  sich  ihr  vorstellte.  Nach  einem 
späteren  ähnlichen  Anfalle  vermochte  sie  sich  auch  ihres  nur  kurze 
Zeit  zurücküegenden  ersten,  sechswöchentüchen  Anstaltsaufenthaltes 
nicht  zu  entsinnen  und  erkannte  trotz  ihrer  sonstigen  Besonnenheit 
die  Aerzte  und  Wärterinnen  durchaus  nicht  wieder. 

Sehr  häufig  wird  der  Ausfall  der  Erinnerung  ausgefüllt  durch 
die  Phantasie.  Gerade  weil  die  wirklichen  Keminiscenzen  ver- 
blassen und  verschwinden,  hat  die  freie  Erfindung  einen  weiten 
Spielraum.  Nicht  nur  Träume,  Gehörtes  und  Gelesenes  werden  nun 
als  Erlebnisse  in  die  eigene  Vergangenheit  zurückverlegt,  sondern 
auch  eine  Eeihe  rein  erfundener  Vorstellungen,  wie  sie  gerade  der 
Augenblick  hervorbringt.  Der  Kranke  hat  fabelhafte  Abenteuer  er- 
lebt, grosse  Schlachten  geschlagen,  mit  zahlreichen  Berühmtheiten  auf 
vertrautem  Eusse  gestanden,  seit  unvordenklichen  Zeiten  alle  histo- 
rischen Ereignisse  gelenkt  und  mitgemacht.  Er  hat  England  zer- 
stört, die  Perser  vernichtet.  Tausende  der  schönsten  Frauen  geraubt, 
das  Zalilensystem,  die  elektrische  Umwandlung  von  Holz  in  Gold 
erfunden,  die  Gedichte  des  Hafis  verfasst,  mit  den  Wikingeru 


Psychische  Symptome. 


579 


Amerika  entdeckt.  Auf  diese  "Weise  geräth  der  Kranke  bisweilen 
in  ein  ganz  eigenthümliches,  bunt  wechselndes  Spiel  der  abenteuer- 
lichsten Yorstellungen  hinein,  welches  in  hohem  Grade  an  unser 
Traumleben  erinnert  und  in  merkwürdigem  Gegensatze  zu  seinem 
sonstigen,  leidlich  geordneten  Benehmen  steht.  Am  ausgeprägtesten 
scheinen  sich  solche  traumhafte  Dämmerzustände  mit  reichlichem 
Fabuliren  bei  den  Kranken  mit  Opticusatrophie  einzustellen;  sie 
können  Monate  und  Jahre  dauern.  Andererseits  beobachten  wir 
nicht  selten  gelegentlich,  dass  gerade  die  Erinnerung  an  die  jüngste 
Zeit  durch  einzelne  frei  erfundene  Eeminiscenzen  verfälscht  wird. 
Der  Kranke  erzählt  in  gutem  Glauben,  dass  er  vor  einer  halben 
Stunde  eine  Mittheilung,  einen  Brief  empfangen.  Besuch  gehabt, 
gestern  beim  Kaiser  gespeist,  sich  am  Morgen  mit  einer  Prinzessin 
verlobt,  eine  Eeise  gemacht  habe.  In  der  Regel  kann  man  solche 
Erzählungen  durch  Suggestivfragen  hervorrufen  und  beeinflussen. 
Dabei  merkt  man  dann  meist,  dass  die  Kranken  sich  bei  den  aus 
ihnen  herausgelockten  Aeusserungen  anfangs  unsicher  fühlen,  sich 
aber  allmählich  in  die  üeberzeugung  hineinreden,  dass  Alles  wirklich 
so  gewesen  ist. 

Eine  weitere,  folgenschwere  und  schon  früh  deutlich  hervor- 
tretende Störung  auf  dem  Gebiete  des  Yerstandes  ist  die  TJrtheils- 
losigkeit  der  Paralytiker.  Die  durch  Erfahrung  erworbenen,  fest- 
stehenden Grundbegriffe/  nach  welchen  wir  die  Welt  beurtheilen, 
die  Fähigkeit,  durch  Beobachtung  des  Thatsächlichen  die  Gebilde 
unserer  Phantasie  zu  berichtigen,  gehen  ihm  ganz  unmerklich  ver- 
loren, und  er  findet  sich  mit  einem  Male  wieder  in  einer  Traum- 
welt, in  welcher  Alles  der  eigenen  Yorstellung,  dem  eigenen  "Wunsche, 
der  eigenen  Befürchtung  entspricht.  Im  Nu  ist  daher  seine  ganze 
Umgebung,  sind  seine  gesammten  Verhältnisse  in  seinem  Simie  ver- 
ändert, weil  er  sie  mit  besonderen  Augen  ansieht  und  nicht  fähig 
ist,  den  schneidenden  Contrast  seiner  gefärbten  Auffassung  mit  der 
"Wirklichkeit  wahrzunehmen. 

Wir  sind  diesem  Yorgange  einer  völligen  Yerfälschung  der 
Weltanschauung  durch  subjective  Yoraussetzungen  schon  wiederholt 
begegnet,  namentüch  bei  der  Yerrücktheit.  Allein  was  demselben 
hier  von  Anfang  an  ein  ganz  eigenartiges  Gepräge  verleiht,  das  ist 
die  zu  Grunde  liegende  geistige  Schwäche.  Bei  der  Yerrücktheit 
stehen  alle  die  einzelnen  phantastischen  Elemente,  welche  sich  in 

37* 


580 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


die  Auffassung  hineinmischen,  in  einem  gewissen  inneren  Zusammen- 
hange mit  einander,  ja  sie  werden  zu  einem  einheitlichen  Systeme, 
oft  nicht  ohne  Scharfsinn,  weiter  verarbeitet  und  festgehalten  — 
hier  dagegen  schiessen  bunt  durch  einander  die  verschiedenartigsten 
Ideen  empor,  um  ohne  die  mindeste  Rücksicht  auf  die  handgi-eif- 
lichsten  Widersprüche  hingenommen,  aber  ebenso  schnell  wieder 
vergessen  zu  werden.  Daher  die  ausserordentliche  Unsinnigkeit  und 
Abenteuerlichkeit  der  paralytischen  Wahnideen,  welche  sofort  über 
das  Wahrscheinliche  oder  auch  nur  Möghche  mit  verblüffender  Un- 
befangenheit weit  hin  auszuschweifen  pflegen.  Wo  die  Eegsamkeit 
der  Einbildungskraft  die  Yernichtung  der  Kritik  überdauert,  kann 
die  Massenhaftigkeit  und  Ueppigkeit  der  AYahnbildungen  zeit^veise 
eine  sehr  grosse  sein.  Man  wird  hier  unwillkürlich  an  gewisse 
Formen  der  psychischen  Entartungsprocesse  erinnert,  bei  denen  ja 
ebenfalls  von  vorn  herein  der  geistige  Verfall  das  Krankheitsbüd 
beherrscht. 

Damit  hängt  auch  der  Umstand  zusammen,  dass  beim  Para- 
lytiker der  Wahn  nichts  weniger  als  constant  zu  sein  pflegt,  sondern 
sich  häufig  fortwährend  durch  innere  Anstösse  wie  durch  äussere 
Einflüsse  verändert.  Während  der  Yerrückte,  wenigstens  in  den 
ersten  Perioden  der  Erkrankung,  sein  System  wol  bereichert,  aber 
dasselbe  zumeist  in  allen  wesentKchen  Punkten  dauernd  gleich- 
lautend wieder  vorbringt,  bietet  jede  Darstellung  des  paralytischen 
Wahnes  zahlreiche  und  bedeutende  Abweichungen  von  den  früheren 
Yersionen  dar.  Der  Graf  von  gestern  ist  heute  vielleicht  Kaiser 
und  morgen  der  jüngste  Lieutenant,  ja  es  gelingt  nicht  selten,  durch 
Suggestivfragen  und  durch  lebhafte  Anregung  des  Kranken,  ihn 
binnen  wenigen  Minuten  zu  einer  raschen  Selbststeigerung  seiner 
Ideen  bis  in's  Ungeheuerlichste  hinein  zu  treiben.  Andeutungen 
dieses  Yerhaltens  finden  sich  freilich  bisweilen  auch  bei  Yerrückten, 
aber  immer  nur  in  beschränktem  Masse  und  erst  bei  weit  vorge- 
schrittener psychischer  Schwäche  oder  unter  dem  Einflüsse  lebhafter 
Afl'ecte. 

Die  Zerfahrenheit  und  Zusammenhangslosigkeit  des  Gedanken- 
ganges, die  Unfähigkeit  zu  kritischer  Selbstprüfung  machen  es  erklär- 
lich, dass  eine  wirkliche  Krankheitseinsicht  .in  der  Paralyse 
zumeist  nicht  zu  Stande  kommen  kann.  Im  Gegentheil  fühlen  sich 
die  Kranken  häufig  gesünder,  als  jemals,  oder  sie  bemerken  doch 


Psychische  Symptome. 


581 


wenigstens  nicht,  dass  ihre  ganze  geistige  Kraft  völlig  gebrochen  ist, 
eben  Aveil  ihnen  die  Fähigkeit  verloren  gegangen  ist,  ihren  jetzigen 
Zustand  mit  demjenigen  in  Längst  vergessenen  gesunden  Tagen  zu 
vergleichen.  Nm-  im  Beginne  der  Krankheit  ist  bisweilen  ein  rich- 
tiges Verständniss  für  die  Natur-  des  Leidens  und  das  bevorstehende 
Schicksal  vorhanden.  Ich  besitze  den  Brief  eines  Obersten,  in  wel- 
chem derselbe  den  Entschluss  ankündigt,  sich  das  Leben  zu  nehmen, 
weil  er  an  Gehirnerweichung  leide  und  ein  blöder  Tölpel  werden 
müsse.  Der  weitere  Verlauf  der  Krankheit  rechtfertigte  seine  Ahnung 
nur-  zu  vollkommen.  Dass  die  Kranken  wenigstens  das  Herannahen 
eines  schweren,  unheilbaren  Leidens  deutlich  empfinden,  ist  nicht 
gerade  selten.  „Wenn  Sie  wüssten,  wie  mir  zu  Muthe  ist",  sagte 
mir  ein  derartiger,  damals  noch  gar  nicht  als  Paralytiker  erkannter 
Patient,  „so  wüi'den  Sie  nicht  mehr  an  meine  Wiederherstellimg 
glauben."  Nicht  zu  verwechseln  mit  dieser  wirklichen  Krankheits- 
einsicht sind  jene  Fälle,  in  denen  allerlei  nervöse  oder  auch  rein 
hypochondrische  Beschwerden  wol  den  Patienten  sich  selbst  für 
krank  halten  lassen,  ohne  dass  er  doch  die  wahren  Zeichen  seines 
Leidens  als  solche  auffasst  und  anerkennt. 

Kaum  geringere  Störungen,  als  die  Intelligenz,  bietet  die 
Stimmung  der  Kranken  dar.  In  der  ersten  Zeit  der  Paralyse  ist 
es  namentüch  die  erhöhte  Eeizbarkeit,  welche  der  Umgebung 
aufzufallen  pflegt.  Der  Kranke  ist  launenhaft,  leicht  verstimmt  und 
verdriesslich,  geräth  bei  geringfügigen  Anlässen  in  rasch  vorüber- 
gehende, unmotivirt  heftige  Aufregung,  in  der  er  die  Herrschaft 
über  sich  selbst  vollständig  verliert  und  sich  wol  gar  gelegentlich 
zu  Thätlichkeiten  hinreissen  lässt.  Auf  der  andern  Seite  ist  schon 
jetzt  nicht  selten  eine  gewisse  Stumpfheit  gegenüber  weiter  reichen- 
den Interessen  bemerkbar,  die  auf  ein  Zurücktreten  der  höheren, 
logischen,  ethischen  und  ästhetischen  G-efühle  hindeutet.  Die  Freude 
an  geistiger  Arbeit,  an  künstlerischen  Genüssen,  an  den  gemüthlichen 
Beziehungen  zur  Umgebung,  zur  eigenen  Famüie  weicht  einer  trägen 
Gleichgültigkeit,  die  zu  der  sonstigen  Eeizbarkeit  des  Kranken  in 
auffallendem  "Widerspruche  steht. 

Die  gleichen  Eigenthümlichkeiten,  leichte  Erregbarkeit  auf  der 
einen,  Mangel  an  tieferen,  nachhaltigeren  Gefühlen  auf  der  anderen 
Seite,  erhalten  sich  meist  auch  während  des  weitereu  Verlaufes  der 
Krankheit.    Dabei  zeigt  die  Färbung  der  Stimmung  eine  durch- 


582 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


gehende  Uebereinstimmiing  niit  dem  Inhalte  der  Wahnideen,  viel- 
leicht weil  dieser  letztere  wesentlich  durch  jene  beeinflusst  wird. 
Grössenideen  Averden  von  befriedigter,  oft  überaus  glückseliger 
Stimmung  begleitet,  während  wir  auf  der  andern  Seite  tiefe  Nieder- 
geschlagenheit oder  heftige  Angstzustände  in  Verbindung  mit  quälen- 
den Wahnvorstellungen  beobachten.  Eegelmässig  aber  ist  es  nicht 
eine  und  dieselbe  Färbung  des  Stimmungshintergrundes,  welche  den 
ganzen  Krankheitsverlauf  begleitet.  Yielmehr  ist  ein  unvermittelter 
Wechsel  der  Gefühlsregungen  in  so  hohem  Masse  der  Paralyse  eigen- 
thümlich,  dass  sich  auf  ihn  bisweilen  geradezu  die  Erkennung  der 
Krankheit  stützt.  Mitten  hinein  in  das  TJebermass  der  Fröhlicbkeit 
bricht  plötzlich  ein  Thränenstrom,  oder  das  hypochondrische  Elend 
wird  durch  die  kindische  Ereude  über  irgend  einen  ausserordentlichen 
Vorzug  abgelöst.  Ganz  besonders  bemerkenswerth  ist  es,  dass  es 
häufig  gelingt,  diese  raschen  Wandlungen  durch  die  Anregung  ge- 
eigneter Yorstellungen,  ja  schon  durch  den  Tonfall  der  Stimme,  den 
Gesichtsausdruck  gewissermassen  experimentell  herbeizuführen  und 
ebenso  wieder  zu  beseitigen.  Wo  gar  keine  Wahnideen  zur  Ent- 
wickelung  kommen,  oder  wo  sie  bereits  verblasst  sind,  da  trägt  auch 
die  Stimmung  meist  keine  ausgeprägtere  Färbung;  höchstens  eine 
Art  blöder  Zufiiedenheit  oder  reizbarer  Missvergnügtheit  kann  das 
Fortschreiten  der  gemüthlichen  Stumpfheit  bis  zu  ihren  höchsten 
Graden  noch-  längere  Zeit  begleiten. 

Natürlich  wird  durch  diese  Störungen  der  Charakter  des 
Kranken  vollkommen  umgewandelt.  An  Stelle  der  fi'üheren  Festig- 
keit und  Selbständigkeit  tritt  eine  fortschreitende  Willensschwäche 
und  Haltlosigkeit,  welche  sich  in  auffallender  Weichheit  und  Em- 
pfindsamkeit, zuweilen  auch  in  einer  Art  blödsinnigen,  impulsiven 
Eigensinns  kundgiebt.  Wähi-end  die  eigene  innere  Eegsamkeit,  die 
„Initiative",  mehr  und  mein-  schwindet^  lässt  sich  der  Kranke  bei 
geschicktem  Angreifen  fast  immer  leicht  nach  jeder  beliebigen 
Richtung  hin  lenken.  Namentlich  die  von  den  Augehörigen  meist 
sehr  gefürchtete  Yerbringung  in  die  Anstalt  geht  oft  zu  deren 
grösster  TJeberraschung  ohne  jede  Schwierigkeit  von  Statten.  Die 
sorglose  Selbstverständhchkeit,  mit  welcher  Paralytiker  sich  ohne 
Weiteres  in  der  Anstalt  einzuleben  pflegen,  das  schöne  Zimmer,  die 
gute  Verpflegung,  die  Behandlung  rühmen  und  gern  „noch  eine  Zeit- 
lang dableiben",  zeigt  ihre  Willensschwäche  vielleicht  am  deutlichsten. 


Psychische  Symptome. 


583 


Ein  paar  freundliche  Worte,  ein  Scherz,  eine  ausweichende  Antwort 
genügen  dann,  den  Kranken  immer  wieder  zu  beruhigen,  auch  wenn 
er  täglich  seine  Abreise  auf  „morgen"  anberaumt,  seine  ünentbehr- 
lichkeit  zu  Hause  betont  und  seine  dringenden  Zukunftspläne  aus- 
einandersetzt. Auf  diese  Weise  wii-d  er  alsbald  unfähig  zu  irgend- 
welcher geordneten  Arbeitsleistung,  da  er  seine  Obliegenheiten  zum 
Theil  einfach  vergisst  oder  vernachlässigt,  zum  Theil  aber  lückenhaft, 
unordentlich  und  fehlerhaft  erledigt.  Ein  sehr  fein  gebildeter,  voll- 
ständig besonnener  Herr  bat  sich  am  Tage  seines  Eintritts  in  die 
Klinik  ein  Conversationslexikon  zur  Leetüre  aus  und  wünschte  am 
nächsten  Tage  einen  neuen  Band,  da  er  den  ersten  ausgelesen  habe. 

Andererseits  pflegt  der  Kranke  auch  widerstandslos  den  in  ihm 
auftauchenden  Antrieben  und  Einfällen  zu  folgen.  Seine  Handlungen 
tragen  daher  den  Stempel  des  Unüberlegten  und  Planlosen.  Einer 
meiner  Kranken  sprang  aus  dem  Fenster  des  zweiten  Stockwerks, 
um  einen  unten  bemerkten  Cigarrenstumpf  aufzusuchen,  und  zog 
sich  dabei  einen  Fibulabruch  zu;  ein  Anderer  woUte  sich  an  einem 
ganz  dünnen  Faden-  von  oben  herunterlassen  und  stürzte  dabei  in 
die  Tiefe.  Selbst  Yerbrechen  können  auf  diese  Weise  begangen 
werden,  ohne  dass  der  Kranke  im  Stande  wäre,  die  Tragweite  und 
Bedeutung  derselben  irgendwie  zu  übersehen.  Häufig  gesellt  sich 
dazu  eine  überstürzte  Yielgeschäftigkeit.  In  rascher  Folge  und  ohne 
Besinnen  sucht  der  Kranke  seine  wahnhaften  Pläne  auszuführen, 
nicht  in  der  zähen,  folgerichtigen,  von  langer  Hand  vorbereitenden 
Art  des  "Verrückten,  sondern  er  thut  bereits  die  einleitenden  Schritte, 
sobald  ihm  nur  der  Gedanke  aufgestiegen  ist,  um  ihn  im  nächsten 
Augenblicke  wieder  über  etwas  Anderem,  Grösserem  zu  vergessen 
und  fallen  zu  lassen. 

Im  Benehmen  des  Kranken  macht  sich  die  Paralyse  als  eine 
Abstumpfung  gegen  die  Anforderungen  des  Anstandes  und  der 
Sitte  geltend,  die  ihn,  wie  den  Angetrunkenen,  leicht  Tactlosig- 
keiten,  Ungenirtheiten  und  selbst  grobe  Yerstösse  begehen  lässt, 
ohne  dass'  er  das  mindeste  Yerständniss  dafür  besässe.  Jene  an- 
erzogenen feinen  Hemmungen  und  Antriebe,  welche  auch  die  äussere 
Form  unseres  Thuns  und  Lassens  jederzeit  nach  der  Eücksicht  auf 
unsere  Umgebung  regeln,  gehen  dem  Paralytiker  sogar  schon  sehr 
früh  verloren,  am  leichtesten  und  vollständigsten  natürlich  dort,  wo 
nicht  eine  lange  Gewohnheit  oder  natürliche  Anlage  dieselben  sehr 


584 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


tief  dem  Wesen  des  Menschen  eingeprägt  hat.  Im  letzteren  Falle 
kann  man  auch  recht  blödsinnige  Kranke  noch  die  Schablone  der 
Yerkehrsformen  leidlich  gut  sich  bewahren  sehen. 

"Was  der  Paralyse  vor  Allem  ihr  eigenartiges  klinisches  Gepräge 
verleiht,  sind  die  nervösen  Störungen,  welche  den  ganzen  Ver- 
lauf derselben  begleiten.    Als  sehr  regelmässige  Erscheinung  im 
Beginne  der  Erkrankung  beobachtet  man  starke  Kopfschmerzen, 
die  meist  als  ein  dumpfer,  aber  äusserst  heftiger  Druck  geschildert 
werden,  als  ob  das  Gehirn  mit  grosser  Gewalt  zusammengepresst 
würde.    Am  stärksten  pflegt  derselbe  in  der  Stirngegend  zu  sein. 
Dazu  gesellen  sich  oft  die  Anzeichen  von  Blutwallungen  (Ohren- 
sausen, Funkensehen,  Schwindelgefühl).    Von  Seiten  der  Sinnes- 
organe  lässt   sich   anfangs  oft  gesteigerte  Erregbarkeit,  später 
nicht  selten  eine  leichtere  oder  schwerere  Abstumpfung  der  Em- 
pfindlichkeit feststellen,  die  aber  zweifellos  in  der  Regel  vorzugs- 
weise auf  den  psychischen  Zustand,  insbesondere  die  mangelnde 
Aufmerksamkeit,  zurückzuführen  ist.     Eine  eigenthümliche  Seh- 
störung, die  häufig  nach  paralytischen  Anfällen  hervortritt  und  sich 
bei  negativem  Augenspiegelbefunde  durch  Erschwerung  des  Er- 
kennens und  der  Localisation  von  Gegenständen  charakterisirt,  ist 
von  Eürstner   beschrieben  und  auf  Herderkrankungen  [in  der 
Hinterhauptsrinde  zurückgeführt  worden.    Auch  hier  dürften  ver- 
wickeitere psychische  Störungen  eine  wichtige,  wenn  nicht  die  Haupt- 
rolle spielen.    Auf  der  andern  Seite  jedoch  sind  auch  greifbare 
pathologische  Befunde  am  peripheren  Sinnesorgane,  am  Auge,  zu 
verzeichnen.    Atrophie  der  Sehnerven  verschiedenen  Grades  wird 
in  4—5,  nach  Möli 's  Angaben  sogar  in  12  Procent  beobachtet;  bis- 
weilen bildet  sie  das  erste  Anzeichen  des  herannahenden  Leidens. 
Ausserdem  hat  man  bisweilen  über  eine  keineswegs  charakteristische 
„Retinitis  paralytica"  und  eine  ganze  Reihe  anderer,  mehr-  gelegent- 
licher, recht  verschiedenartiger  Veränderungen  am  Auge  berichtet. 

Sehr  auffallend  sind  die  Störungen  auf  dem  Gebiete  des  Haut- 
sinnes. Im  Beginne  des  Leidens  stellen  sich  öfter  allerlei  unbestimmte, 
„rheumatoide"  Schmerzen  oder  abnorme  Empfindungen  ein,  die  bis- 
weilen längere  Zeit  das  einzige  hervortretende  Zeichen  der  Krankheit 
bilden.  Ich  sah  einen  derartigen  Kranken,  der  über  reissende 
Schmerzen  unter  dem  linken  Schulterblatte  klagte  und  schon  seit 
Monaten  vergeblich  deswegen  behandelt  worden  war,  ohne  dass  man 


Körperliche  Symptome. 


585 


die  Paralyse  erkannt  hätte.  Andere  gelten  lange  Zeit  als  Neur- 
astheniker  oder  Unfallsnervenkranke.  Im  weiteren  Verlaufe  ent- 
wickelt sich  ausnahmslos  früher  oder  später  eine  bedeutende  Herab- 
setzung aller  Qualitäten  der  Hautempfindlichkeit,  vor  Allem  aber 
eine  sehr  hochgradige  Analgesie.  Namentlich  wenn  man  die  Auf- 
merksamkeit des  Kranken  durch  Fragen  ablenkt,  gelingt]  es  zur 
grössten  nachträglichen  Verwunderung  desselben  sehr  häufig  schon 
in  relativ  frühen  Stadien,  eine  Nadel  quer  durch  eine  Hautfalte 
hüidurch  zu  stechen,  ohne  dass  er  dessen  gewahr  wird.  Gerade 
diese  Unempfindlichkeit  gegen  Schmerz  begünstigt  das  Zustande- 
kommen von  allerlei  Verletzungen,  besonders  ausgedehnten  Ver- 
brennungen, weil  der  Kranke  die  Gefahr  nicht  bemerkt  und  sich 
ihr  daher  auch  nicht  entzieht.  Ich  kannte  einen  Hauptmann,  der 
sich  in  einer  Nacht  die  Hand  mit  den  Zähnen  zerfleischte,  weil  ilnn 
dieselbe  als  etwas  Fremdes,  gar  nicht  zu  ihm  Gehöriges  erschien. 

Ganz  besonders  in  den  Vordergrund  treten  bei  der  Paralyse 
die  motorischen  Störungen,  als  deren  wichtigste  wir  wol  die 
„paralytischen  Anfälle"  zu  bezeichnen  haben.  Die  leichtesten  Formen 
derselben  bestehen  in  rasch  vorübergehenden  Schwindelanwandlungen, 
häufig  von  kurz  dauernder  Unfähigkeit,  zu  sprechen,  oder  Anstossen 
der  Zunge,  seltener  von  leichten  Hemiparesen  begleitet.  Erheblich 
ernster  sind  die  epileptiformen  Anfälle.  Ihnen  gehen  meist  allerlei 
Prodromalsymptome,  Unbesinnlichkeit,  grössere  Apathie,  Schwer- 
fälligkeit der  Bewegungen,  Herüberhängen  nach  einer  Seite  voraus, 
bis  dann  der  Kranke  plötzlich  zu  Boden  sinkt  und  nun  Krämpfe 
auftreten,  deren  eigenthümliche  Localisation  auf  ihren  Ursprung  in 
der  Hirnrinde  hinweist.  Zuerst  stellt  sich  etAva  ein  leises  Zucken 
in  den  Gesichtsmuskeln  mit  Verdrehen  der  Augen  und  nystaktischen 
Bewegungen  derselben  ein;  dann  schreitet  die  Erregung  auf  den 
Hals,  den  Arm,  die  Athmungsmuskeln,  den  Bauch,  das  Bein  der- 
selben Seite  fort,  um  endlich  auch  auf  die  entgegengesetzte  Seite 
hinüberzugreifen,  während  sie  vielleicht  auf  der  zuerst  befallenen 
schon  wieder  nachlässt.  Diese  Eeihenfolge,  von  der  allerdings  oft 
nur  einzelne  Elemente  zur  Entwickelung  kommen,  kann  sich  mit 
kürzeren  oder  längeren  Zwischenpausen,  in  denen  der  Kranke  schAver 
benommen  oder  unbesinnlich  Arme  und  Beine  bewegend  daliegt, 
sehr  häufig  hintereinander,  bisweilen  20-,  30-,  ja  80-  und  100  mal 
innerhalb  24  Stunden  wiederholen.    In  der  Regel  allerdings  pflegt 


586 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


der  Anfall  schon  nach  einer  oder  einigen  Stunden  vorüber  zu  sein, 
doch  wird  nicht  zu  selten  eine  Dauer  von  mehreren,  selbst  bis  zu 
14  Tagen  beobachtet.  Die  Körpertemperatur  ist  meist  etAvas,  selten 
beträchtlich  erhöht,  der  Befund  von  Eiweiss  im  Harn  sehr  inconstant. 
Blase  und  Mastdarm  sind  häufig  gelähmt,  so  dass  es  zu  Harn- 
verhaltung und  Kothstauung  mit  deren  Folgezuständen,  Pyelitis, 
Nephritis,  Periproktitis,  kommen  kann,  wenn  nicht  für  rechtzeitige 
Entleerung  beider  Organe  gesorgt  wird.  Die  selbständige  Nahrungs- 
aufnahme ist  wegen  Lähmung  der  SchHngmuskulatur  unmöglich.  Da 
ausserdem  die  Kehlkopfreflexe  oft  gänzlich  aufgehoben  sind,  so  ent- 
springt eine  ernste  Gefahr  für  den  Kranken  aus  der  Aspiration  von 
Speichel  aus  der  mit  reichlichen  Zersetzungsproducten  erfüllten 
Mundhöhle  (gelegentliche  Parotitis);  in  der  That  finden  wir  bei  der 
Mehrzahl  der  im  Anfalle  zu  Grunde  gehenden  Paralytiker  Schluck- 
pneumonien  (sog.  „hypostatische  Pneumonien")  als  Todesursache. 
Endlich  fordert  auch  der  hier  bei  ungenügender  Pflege  überaus 
leicht  entstehende  Decubitus  zahlreiche  Opfer. 

Das  Erwachen  aus  dem  Anfall  geschieht  immer  allmählich,  oft 
durch  ein  Stadium  grosser  Verwirrtheit  und  Benommenheit  hindurch. 
Aber  auch  weiterhin  bemerkt  man  fast  regelmässig  eine  erhebliche 
Zunahme  der  psychischen  Schwäche,  in  einzelnen  Fällen  plötzlichen 
tiefen  Blödsinn  nach  einem  bis  dahin  nahezu  normalen  Verhalten. 
Gleichzeitig  bleiben  gern  allerlei  körperliche  Symptome  zurück, 
Hemiparesen,  Zwangsbewegungen,  Sprachstörungen,  Aphasie,  die  sich 
meist  bald  wieder  verlieren,  zuweilen  aber  auch  dauernd  bestehen 
bleiben. 

Eine  letzte,  im  Ganzen  seltene  Form  der  paralytischen  Anfälle 
sind  die  apoplektiformen  Insulte,  welche  ganz  in  der  Art  gewöhn- 
licher Schlaganfälle  mit  plötzlicher  Bewusstlosigkeit,  Zusammen- 
brechen, stertorösem  Athmen  eintreten  und  bald  mit  nachfolgender 
Hemiplegie,  Contracturen,  aphasischen  Störungen,  bald  ohne  jede 
Folgeerscheinung  verlaufen,  häufig  genug  aber  auch  ganz  un- 
vermuthet  dem  Leben  ein  Ende  raachen.  Alle  diese  verschiedenen 
Formen  können  in  jeder  Phase  der  Krankheit  aufü-eten,  doch  be- 
obachtet man  im  Allgemeinen  die  leichteren  Anfälle  mehr  im  Be- 
ginne, die  schwereren  häufiger  in  den  späteren  Perioden.  Ganz 
pflegen  sie  nur  selten  zu  fehlen,  wenn  auch  ihre  Zahl  in  verschiedenen 
Fällen  eine  sehr  verschiedene  ist;  bisweilen  kann  mau  sie  alle  paar 


Körperliche  Symptome. 


587 


Tage  oder  doch  alle  paar  Wochen  sich  einstellen  sehen.  Den 
äusseren  Anstoss  zum  Entstehen  der  Anfälle  sollen  Gemüths- 
beAvegnngen,  Excesse,  Magenüberfüllung,  Kothstauung  geben  können, 
doch  herrscht  über  diesen  Punkt,  noch  keine  rechte  Klarheit;  meist 
ist  ein  Anlass  gar  nicht  erkennbar. 

In  einer  gewissen  Beziehung  zu  den  paralytischen  Anfällen 
scheinen  die  kataleptischen  Erscheinungen  zu  stehen,  die  man  bis- 
weilen in  der  Paralyse  beobachtet.  Leichtere  Andeutungen  derselben 
sind  in  der  dem  Anfalle  folgenden  Benommenheit  nicht  allzu  selten; 
in  einzelnen  Fällen  aber  sieht  man  kataleptische  Zustände  mit  aus- 
gebildeter Elexibilitas  cerea  längere  Zeit  hindurch,  selbst  Wochen 
und  Monate  lang,  fortbestehen.  Andererseits  giebt  es  auch  hie  und 
da  Kranke,  welche  daneben  die  besonderen  Symptome  der  Katatonie 
in  mehr-  oder  weniger  starker  Entwickelung  darbieten,  namentlich 
Negativismus,  Zwangsbewegungen  und  Yerbigeration.  Vor  der  Ver- 
wechselung mit  Katatonikern  schützt  hier  das  Lebensalter,  die  Art 
der  Entwickelung  des  Leidens  und  das  Auftreten  sonstiger,  der 
Paralyse  eigenthümlicher,  psychischer  oder  körperlicher  Krankheits- 
zeichen. 

Eegelmässige  Störungen  bietet  der  motorische  Apparat  des  Auges 
dar.  Zwar  gehören  Paresen  der  Augenmuskeln  oder  gar  vollständige 
Ophthalmoplegie  zu  den  seltneren  Vorkommnissen;  dagegen  sind 
Enge,  Ungleichheit,  träge  Eeaction  oder  Starre  der  Pupillen  fast  aus- 
nahmslos vorhanden;  auch  einseitige  oder  doppelseitige  Ptosis  findet 
sich  häufig,  seltener  Mydriasis.  Die  Gesichtszüge  sind  schlaff  (Ver- 
streichen der  Nasolabialf alten),  ausdruckslos;  bisweilen  bemerkt  man 
auch  Ungleichheit  der.  Gesichtshälften.  Ungemein  häufig  sind  fibrüläre 
Zuckungen  und  ausgiebige  Mitbewegungen,  wenn  man  den  sehr 
leicht  in  Verwirrung  gerathenden  Kranken  auffordert,  abwechselnd 
verschiedene  coordinirte  Bewegungen  auszuführen,  die  Augen  zu 
schliessen,  den  Mund  zu  öffnen,  die  Zunge  vorzustrecken  u.  s.  f. 
Man  sieht  es  wie  eine  Art  „Wetterleuchten"  durch  die  ganze  Gesichts- 
musku.latur  hindurchzittem ,  während  der  Kranke  angestrengt  die 
einzelnen,  ilim  gestellten  Aufgaben  zu  lösen  sucht.  Die  Stimme  ist 
rauh  und  verliert  ihren  gewohnten  Klang  (Stimmbandparese),  hie 
und  da  das  erste  Zeichen  der  Paralyse.  Die  Zunge  weicht  nicht 
selten  ab,  zeigt  starke  fibrilläre  Zuckungen,  wird  ungeschickt,  stoss- 
weise  und  Unter  zahlreichen  Mitbewegungen,  Aufreissen  der  Augen, 


588 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


Stirnrunzeln,  ja  selbst  unter  Zuhülfenahme  der  Finger  hervorgestreckt. 
Um  die  Muskelstösse  zu  verhindern,  klemmt  der  Kranke  die  Zunge 
beim  Vorzeigen  bisweilen  unwillkürlich  zwischen  den  Zähnen  fest. 
Das  Schlucken  ist  namentlich  in  den  letzten  Stadien  der  Krankheit 
sehr  erschwert;  der  Kranke  verschluckt  sich  leicht,  ohne  aber  wegen 
der  Unempfindlichkeit  des  Kehlkopf  ein  ganges  immer  in  genügend 
energischer  Weise  darauf  zu  reagiren.  Häufig  beobachtet  man  bei 
vorgeschrittenem  Blödsinn  lange  fortgesetztes,  rhythmisches  Zähne- 
knirschen, welches  fast  als  pathognomonisch  für  die  Paralyse 
angesehen  werden  darf. 

Zu  den  allerwichtigsten  Symptomen  der  Paralyse  gehören  die 
Yeränderungen,  welche  die  Sprache  erleidet.  Wir  haben  dabei  zu 
unterscheiden  zwischen  aphasischen  und  articulatorischen  Störungen. 
Zustände  vorübergehender,  selten  länger  dauernder  Aphasie  schliessen 
sich  ungemein  häufig  an  paralytische  Anfälle  an.  Einer  meiner 
Kranken  konnte  wochenlang  den  Namen  keines  einzigen  Gegenstandes 
finden,  den  man  ihm  zeigte,  obgleich  er  die  Dinge  selbst  erkannte. 
Weit  hartnäckiger  pflegt  die  Paraphasie  zu  sein,  die  viele  Monate 
unverändert  fortbestehen  kann.  Hier  werden  entweder  einzelne 
Dinge  mit  unrichtigen  Namen  belegt,  oder  es  kehren  gewisse 
stereotype  Bezeichnungen  fälschlicherweise  bei  den  verschiedensten 
Gfelegenheiten  wieder,  oder  endüch  die  Sprache  geht  vollständig  in 
einem  Gemisch  unsinniger,  häufig  wiederholter  Sübencombinationen 
unter.  Ich  kannte  einen  sehr  gebildeten  Kranken,  bei  dem  das  erste 
auffallende  Symptom  der  Paralyse  ein  leichter  Schlaganfall  war, 
nach  welchem  er  einige  Stunden  hindurch  die  5  oder  6  Sprachen, 
die  er  beherrschte,  in  ganz  unverständlicher  Weise  durcheinander 
warf.  Viel  seltener  ist  Worttaubheit,  die  sich  zudem  wegen  des 
Schwachsinns  der  Kranken  nur  sehr  schwierig  erkennen  lässt.  Noch 
vor  Kurzem  indessen  beobachtete  ich  einen  Kranken,  der  nach 
seinen  paralytischen  Anfällen  selbst  die  einfachsten  Anreden  durch- 
aus nicht  verstand,  mimischen  Aufforderungen  aber  meist  sofort 
nachkam.  Hie  und  da  kommt  auch  eine  Art  Echolalie  vor.  Die 
Kranken  fassen  das  Gesagte  nicht  auf,  wiederholen  es  aber  regel- 
mässig ganz  mechanisch. 

Häufiger,  als  diese  centralen  Sprachanomalien,  sind  Articulations- 
störungen,  die  sich  zunächst  vielleicht  ebenfalls  nur  im  Gefolge  der 
paralytischen  Anfälle,  später  aber  dauernd  geltend  machen.  Die- 


Körpeiiiche  Symptome. 


589 


selben  lassen  sich  in  zwei  verscliiedene  Gruppen  zerlegen,  welche 
sich  im  einzelnen  Ealle  freilich  meist  mit  einander  verbinden,  in 
paretische  und  ataktische,  coordinatorische  Störungen.  Die  Schwer- 
fälligkeit in  den  Bewegungen  der  Lippen-  und  Zungenmuskulatur 
macht  es  dem  Krauken  unmöglich,  verwickeitere  Buchstabenverbind- 
ungen rasch  im  Zusammenhange  auszusprechen,  so  dass  die  Sprache 
durch  das  schleifende  Hinübergleiten  über  die  mangelhaft  articulirten 
Lautverbindungen  undeutlich  und  verschwommen  wird  (schmierende, 
lallende  Sprache).  Das  Wort  „Flanelllappen"  eignet  sich  gut  zur 
Darstellung  dieser  Störung.  Da  dieselbe  ganz  der  bei  bulbären  Sprach- 
lähmungen beobachteten  analog  ist,  so  dürfte  sie  auf  Erkrankungen 
in  der  Medulla,  insbesondere  auf  solche  des  Facialis  und  Hypoglossus 
zurückzuführen  sein.  Unter  die  zweite  Gruppe  von  Sprachstörungen 
gehört  vor  Allem  das  „Silbenstolpern",  das  Yersetzen  und  Auslassen 
von  einzelnen  Buchstaben  und  Silben.  Beliebte  Beispiele  zur  De- 
monstrirung  dieses  Yerhaltens  sind  „dritte  reitende  Artilleriebrigade" 
(drittende  reitere  Artrilieriebrade),  „Elektricität"  (Ektriticät),  Exterri- 
torialität" (Extrorialität)  u.  a.  m.  Ebendahin  ist  die  hie  und  da 
beobachtete  eigen thümliche  Yerdoppelung  oder  Anhängung  tonloser 
Silben  zu  rechnen.  Oft  wird  namentlich  die  letzte  Silbe  eines  Wortes 
trotz  sichtlichen  Widerstrebens  vom  Kranken  drei-,  viermal  und  öfter 
wiederholt,  bis  seine  Sprachwerkzeuge  zur  Kuhe  kommen.  Nicht  zu 
selten  begegnet  man  endlich  auch  typischem  „Scandiren". 

Am  deutlichsten  pflegen  die  coordinatorischen  Sprachstörungen, 
wie  Eieger  festgestellt  hat,  beim  lauten  Lesen  hervorzutreten. 
Der  Kranke  producirt  hier  bei  mehrmaliger  Wiederholung  oft  immer 
wieder  neue  Silben-  und  Wortcombinationen,  die  nur  eine  bruch- 
stückweise und  entfernte  Aehnlichkeit  mit  dem  Originale  darbieten. 
Dabei  glaubt  er  vollständig  richtig  abgelesen  zu  haben,  ohne  doch 
den  Inhalt  des  Gelesenen  zu  verstehen.  Wieweit  hier  die  sinnliche 
Auffassung  der  Vorlage,  die  Yerknüpfung  der  Wortzeichen  mit  den 
Begriffen  einerseits,  den  Bewegungsvorstellungen  andererseits,  wie 
weit  endlich  die  Coordination  der  Impulse  an  dem  Zustandekommen 
der  verwickelten  Störung  betheiligt  ist,  lässt  sich  heute  noch  nicht 
entscheiden. 

Ganz  ähnliche  Störungen,  wie  die  Sprache,  lässt  die  Schrift 
erkennen.  Die  einzelnen  Züge  sind  unregelmässig  mid  unsicher, 
ohne  doch  die  rhythmischen  Zitterlinien  des  Tremor  seniüs  darzubieten ; 


590 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


die  Striche  fahren  häufig  über  die  Grenzen  hinaus.  Auf  der  andern 
Seite  begegnet  uns  das  Analogen  des  Silbenstolperns  in  Versetzung 
der  Buchstaben  und  Silben,  Auslassungen  und  Wiederholungen  der- 
selben. Greringe  Rücksicht  wird  auf  die  räumliche  Anordnung  der 
Schriftstücke  genommen.  Der  Kranke  kümmert  sich  nicht  darum, 
ob  er  mit  der  Linie  oder  der  Seite  auskommt,  schreibt  quer  und 
schräg  durch-  und  übereinander,  oft  auch  noch  auf  beide  Seiten  des 
Umschlags.  Dabei  laufen  Klexe,  Fettflecken,  Unsauberkeiten  in  Menge 
mit  unter,  so  dass  die  Entzifferung  nicht  selten  völlig  unmöglich 
•wird.  In  manchen  Fällen  wird  auch  längere  Zeit  hindurch  wahre 
Paragraphie  beobachtet;  ich  sah  eine  Kranke,  die  sich  mündlich 
•durchaus  geläufig  und  fast  ohne  Andeutung  einer  Sprachstörung  aus- 
drücken konnte,  auf  dem  Papier  aber  nur  ganz  unsinnige  Buch- 
stab encombinationen  zu  Stande  brachte.  Bei  weit  vorgeschrittener 
Krankheit  besteht  meist  völlige  Agraphie.  Die  Kranken  sitzen  rath- 
los vor  ihrem  Briefbogen  da,  ohne  etwas  anderes,  als  einige  unsichere 
Linien  mühsam  hinzumalen,  um  nach  manchen  vergeblichen  Yersuchen 
ihre  Bemühungen  aufzugeben,  weil  sie  „Rheumatismus  in  der  Hand" 
■oder  „keine  Brille  da  hätten". 

Weniger,  als  die  Störungen  bei  den  so  überaus  feinen  und  ver- 
wickelten Leistungen  des  Schreibens  und  Sprechens,  fallen  zunächst 
■die  Innervationsanomalien  bei  gröberenBewegungen  ins  Auge.  Freihch 
wii^d  der  Paralytiker  sehr  bald  zu  allen  Beschäftigungen  untauglich, 
welche  eine  besondere  Handfertigkeit  erfordern,  zum  Clavierspielen, 
zum  Einfädeln  von  Nähnadeln,  zum  Ausführen  feiner  mechanischer 
Arbeiten.  Späterhin  treten  diese  ataktischen  Störungen  deutlicher  her- 
vor und  können  in  einzelnen  Fällen  sehr  auffallend  werden.  Die 
täppische  Langsamkeit  und  Ungeschicklichkeit  beim  Zugreifen, 
Knöpfen,  die  stossweise,  in  Absätzen  erfolgende  Innervation  beim 
Drücken  der  Hand  lässt  erkennen,  dass  die  Fähigkeit  zu  einer  feineren 
Regiüirung  der  Bewegungen  verloren  gegangen  ist,  wenn  auch 
die  grobe  Kraft,  abgesehen  von  den  bisweilen  an  die  Anfälle  sich 
anschliessenden  Hemiparesen,  noch  ziemlich  normal  erscheint  Hie 
imd  da  beobachtet  man  ausgeprägtes  Intention szittern.  Der  Gang 
wird  allmählich  unsicher,  breitspurig,  schlürfend;  zu  Zeiten,  nament- 
lich vor  einem  Anfalle,  hängt  der  Kranke  ganz  nach  einer  Seite 
hinüber.  Dazu  gesellen  sich  gewöhnlich  noch  die  Zeichen  einer 
Affection   der  Hintersti'änge  (Romberg'sches  Symptom,  Ataxie, 


Körperliche  Symptome. 


591 


Schleudern)  oder  Seitenstränge  (Steifigkeit,  spastischer  Gang).  Schliess- 
lich werden  die  Kranken  immer  dauernd  bettlägerig,  gewöhnlich 
mit  mehr  oder  weniger  ausgesprochenen  Contracturen  und  Muskel- 
atrophien. 

Die  allgemeine  Eeflexerregbarkeit  ist  in  der  Regel  erhöht, 
bisweilen  so  stark,  dass  eine  heftige  Bewegung  gegen  das  Gesicht 
des  Kranken  ein  Zusammenfahren  des  ganzen  Körpers  zur  Folge 
hat.  Die  Untersuchung  der  Sehnenreflexe  erweist  sich  häufig  als 
sehr  schwierig,  da  die  Kranken  ihre  Muskeln  durchaus  nicht  ent- 
spannen. Gelingt  es  endlich,  durch  Zuhülfenahme  der  bekannten 
Kunstgriffe  (psychische  Ablenkung,  Jendrassik'sches  Verfahren) 
zum  Ziele  zu  kommen,  so  findet  man  die  Sehnenreflexe  je  nach  dem 
Sitze  der  Eückenmarkserkrankung  bald  hochgradig  gesteigert,  so 
dass  Fussklonus  und  saltatorischer  Reflexkrampf  (beim  Aufsetzen 
der  Zehen  auf  den  Boden)  auftritt,  bald  aber  auch  vollständig  er- 
loschen (in  etwa  50"/o  der  vorgeschrittenen  Fälle).  Fehlen  des 
Patellarreflexes  scheint  sich  auch  hier  besonders  häufig  mit  absoluter 
Pupillenstarre  und  Myosis  zu  verbinden.  Die  elektrische  Erregbar- 
keit der  Muskulatur  soll  anfangs  erhöht  sein;  später  ist  sie  herab- 
gesetzt. 

Yen  Seiten  der  Blase  sind  auch  ausserhalb  der  Anfälle  häufig 
Störungen  vorhanden,  sowol  Incontinenz  wie  Retention,  erstere  meist 
als  Folge  der  letzteren  (Harnträufeln).  Die  Trägheit  des  Mastdarms 
kann  zu  massigen  Kothstauungen  führen;  andererseits  besteht  in 
allen  vorgeschrittenen  Fällen  völlige  Unfähigkeit,  den  Koth  zurück- 
zuhalten, zum  Theü  vielleicht  wegen  Lähmung  der  Schliessmuskeln, 
namentlich  aber  deswegen,  weü  der  Kranke  die  herannahende  Ent- 
leerung ebensowenig  bemerkt,  wie  die  Füllung  der  Blase  bis  zum 
Nabel.  Die  sexuelle  Potenz  erlischt,  nachdem  anfangs  nicht  selten 
die  geschlechtliche  Erregbarkeit  stark  gesteigert  war. 

Unter  den  vasomotorischen  Störungen  sind  vor  Allem  die 
häufigen  Blutwallungen  zum  Kopfe,  Erytheme,  lange  dauernde 
Röthung  der  Haut  und  selbst  Quaddelbildung  bei  leichten  Reizen, 
Cyanose  zu  nennen.  Die  Sphygmographencurve  zeigt  öfters  all- 
mähliches Ansteigen  und  Erniedrigung  der  GipfelweUe  („tarde" 
Piüsformen),  Erscheinungen,  die  sich  auf  eine  langsamere  und  wenig 
kräftige  Ausdehnung  der  Gefässwand  beziehen  lassen.  An  den  zu- 
gänglichen Arterien,  besonders  den  Temporales,  wird  nicht  selten 


592 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


starke  Schlängelung  und  Starre  als  Anzeichen  atheromatöser  Er- 
krankung beobachtet.  Mit  diesen  Gefcässveränderungen  stehen  ohne 
Zweifel  auch  die  sog.  „trophischen"  Störungen  in  allernächster  Be- 
ziehung. Es  giebt  eine  ganze  Anzahl  von  Begleiterscheinungen  der 
Paralyse,  deren  Auftreten  man  vielfach  als  eine  unmittelbare  Folge 
der  Entartung  gewisser  ti'ophischer,  die  Ernährung  der  Organe  re- 
gulirender  Nervenbahnen  ansieht,  den  Decubitus,  die  Rippenbrüche, 
die  Ohi-blutgeschwulst,  ja  auch  die  so  häufigen  Pneumonien,  die  man 
wol  auf  einen  Nachlass  der  Yagusinnervation  zurückgeführt  hat. 
Ein  unbestreitbares  wissenschaftliches  und  fast  noch  mehr-  praktisches 
Verdienst  Guddens  ist  es,  den  Nachweis  geführt  zu  haben,  dass  alle 
jene  Störungen  nicht  aus  inneren  Ursachen,  sondern  ganz  ausnahms- 
los unter  der  Einwirkung  äusserer  Schädlichkeiten  sich  entwickeln. 

Freilich  wird  man  kaum  umhin  können,  eine  Herabsetzimg  der 
Widerstandsfähigkeit  des  Organismus  bei  Paralytikern  als  begünstig- 
endes Moment  anzunehmen,  da  hier  sehr  sch-^ere  Störungen  schon 
bei  verhältnissmässig  geringen  Eeizen  zu  Stande  kommen.  Die  Ent- 
stehung des  Decubitus  erklärt  sich  in  erster  Linie  dadurch,  dass  die 
Kranken  wegen  ihrer  TJnempfindlichkeit  nicht,  wie  jeder  Gesunde, 
durch  unangenehme  Druckgefühle  zu  häufigem  Lagewechsel  ange- 
trieben werden,  oder  doch  wegen  ihrer  Unbehülflichkeit  denselben 
nicht  auszuführen  vermögen,  sondern  wie  ein  Klotz  im  Bette  liegen. 
Unter  diesen  Umständen  kann  man  schon  nach  1—2  Stunden,  be- 
sonders bei  Uebereinanderliegen  der  abgemagerten  Beine  oder  beim 
Sitzen  auf  einer  harten  Nachtstuhlkante  starke  Röthung,  Quaddeln- 
und  selbst  Blasenbildung  entstehen  sehen,  während  eine  einzige  un- 
bewachte Nacht  vollauf  genügt,  imi  eine  mehrere  Centimeter  in  die  Tiefe 
greifende  Gangrän  zu  erzeugen.  Rippenbrüche  und  Othämatome 
kommen  bei  Paralytikern  relativ  häufig  und  bisAveilen  in  schrecken- 
erregender Ausdehnimg  zu  Stande,  weil  die  Kranken  sehr  imgeschickt, 
dabei  unruhig  und  vor  Allem  ausser  Stande  sind,  sich  zu  verthei- 
digen  imd  zu  beklagen,  so  dass  sie  hülflos  den  Misshandlungen  ihrer 
Umgebung  preisgegeben  erscheinen.  Möghcherweise  spielen  auch 
hier  besondere  begünstigende  Ursachen  mit  eine  Rolle,  abnorme 
Brüchigkeit  der  Rippen,  primäre  Ernährungsstörungen  im  Ohrknorpel, 
doch  steht  die  Thatsache  unzweifelhaft  fest,  dass  mit.  der  bessereu 
Ausbildung  und  Ueberwachuug  des  Wartpersonals  die  Zahl  der 
Rippenbrüche  wie  der  Othämatome  regehnässig  abnimmt. 


Körperliche  Symptome.  593 

Störungen  der  Eigenwärme  sind  in  der  Paralyse  überaus 
hcäufig.  Flüchtige,  aber  oft  recht  bedeutende  Temperatursteigerungen 
werden  vielfach  beobachtet,  ohne  dass  sich  immer  ein  greifbarer 
Anlass  dafür  erkennen  Hesse.  Bisweilen  fördert  dann  eine  Eingiess- 
ung  gewaltige  Kothmassen  zu  Tage;  die  Blase  ist  überfüllt,  oder 
es  wird  irgendwo  ein  Eippenbruch  entdeckt.  In  anderen  Fällen 
mögen  leichte  bronchitische  oder  pneumonische  Störungen  zu  Grunde 
liegen.  Seltener  dürften  diese  Fieberbewegungen  unmittelbar  mit 
der  Hirnerki-ankung  im  Zusammenhange  stehen.  Dagegen  ist  eine 
solche  Beziehung  wahrscheinlich  bei  den  Wärmesteigerungen,  welche 
die  paralytischen  Anfälle  zu  begleiten  pflegen.  Bei  längerer  Dauer 
dieser  letzteren  ti-eten  allerdings  gewöhnlich  noch  andere  fieber- 
erregende Ursachen  hinzu,  namentiich  Schluckpneumonien.  In  den 
letzten  Stadien  der  Paralyse  kommt  es  nicht  selten  zu  anhaltender 
beträchtlicher  Temperatursenkung,  die  von  den  Kianken  auffallend 
gut  ertragen  wird.  Ich  sah  vor  nicht  langer  Zeit  einen  Paralytiker 
unter  massenhafter  Nahrungsaufnahme  nüt  Temperaturen  bis  zu  30,8 
herunter  wochenlang  munter  und  lebhaft  erregt  bleiben. 

Yon  den  übrigen  Leistungen  des  Organismus  sind  es  nament- 
lich der  Schlaf,  der  Appetit  und  das  Körpergewicht,  welche 
durch  die  Paralyse  durchgehends  in  Mitleidenschaft  gezogen  wer- 
den. Der  Schlaf  ist  in  den  ersten  Stadien  der  Krankheit  vielfach 
sehr  gestört,  später  in  den  Erregungszuständen  oft  zeitweise  ganz 
aufgehoben,  während  er  gegen  das  Ende  hin  wieder  besser  wird, 
obgleich  hier  bei  dem  blödsinnigen  Hindämmern  der  Kranken  ein 
sicheres  Urtheil  über  diesen  Punkt  kaum  möglich  ist.  Bei  manchen 
Kranken  ^entwickelt  sich  eine  förmliche  Schlafsucht,  so  dass  sie 
eigentlich  nur  dann  wach  sind,  wenn  sie  essen  oder  wenn  man  sich 
gerade  mit  ihnen  beschäftigt,  während  sie  unmittelbar  nachher  sofort 
wieder  einschlafen.  Der  Appetit  pflegt  anfangs  und  in  der  Auf- 
regung herabgesetzt  zu  sein,  um  späterhin  gewöhnlich  in  förmliche  Ge- 
frässigkeit  überzugehen.  Dem  entsprechend  sieht  man  das  Körpergewicht 
im  Beginn  und  auf  der  Höhe  der  Krankheit  siuken,  dann  aber  bei 
dauernder  Beruhigung  unter  massiger  Fettansammlung  sehr  bedeutend, 
bis  weit  über  die  Norm  hinaus  ansteigen  und  endlich  gegen  das  Ende 
hin  wieder  unaufhaltsam  bis  zum  tiefsten  Marasmus  herabgehen. 

Die  Mannichfaltigkeit  der  Krankheitsbüder,  welche  sich  aus  den 
bis  hierher  besprochenen  einzelnen  Störungen  erfahrungsgemäss  zu- 

Eraepelin,  Psychiatrie.  4.  Aufl.  38 


594 


IX.  Die  Dementia  paralytica. 


saramensetzen,  ist  eine  so  grosse,  dass  es  kaum  möglich  erscheint, 
eine  auch  nur  einigermassen  befriedigende  Uebersicht  über  die 
klinischen  Gestaltungsformen  der  Paralyse  zu  geben.  "Wenn  wir  auch 
überall  dem  gemeinsamen  Grrundzuge  der  psychischen  Schwäche,  den 
Zeichen  des  organischen  Hirnleidens  und  endlich  dem  unerbittlich 
bis  zur  Vernichtung  des  geistigen  und  körperlichen  Lebens  fort- 
schreitenden Yerlaufe  begegnen,  so  können  doch  die  gegebenen  Be- 
obachtungen in  ilner  Entwickelung  wie  in  ihren  Zustand  sbildem 
derartig  von  einander  abweichen,  dass  dem  Anfänger  die  allgemeine 
Zusammengehörigkeit  durch  den  starken  Eindruck  widersprechender 
Einzelheiten  völlig  verdeckt  wird.  Erst  eine  vorgeschrittenere  Er- 
fahrung lehrt  uns,  dass  alle  die  anscheinend  so  verschiedenartigen 
Gestaltungsformen  unvermittelt  und  unberechenbar  in  einander  über- 
gehen können  und  nur  die  oben  gekennzeichneten  Grundzüge  „den 
ruhenden  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht"  abgeben.  Alle  klinische 
Einzelschilderung,  alle  Abgrenzung  von  typischen  Eiankheitsbildern 
auf  dem  grossen  Gebiete  der  Paralyse  hat  daher  zunächst  nui'  einen 
sehr  bedingten  Werth.  Immerhin  wollen  wir  der  Uebersichthchkeit 
halber  in  Folgendem  versuchen,  hergebrachter  Weise  als  hauptsäch- 
lichste Verlaufsarten  der  Paralyse  die  demente,  die  depressive, 
die  expansive  und  die  agitirte  Form  derselben  auseinander- 
zuhalten. Vielleicht  lehrt  uns  einmal  eine  bessere  Kenntniss  der 
ursächlichen  oder  der  pathologisch-anatomischen  Verhältnisse  des 
Leidens  unter  neuen  Gesichtspunkten  auch  für  die  klinischen  Be- 
obachtungen eine  zuverlässigere  Gruppirung  erreichen. 

Die  demente  Form  der  Paralyse  zeichnet  sicli  aus  durch  ein 
ganz  allmähliches,  schleichendes  Fortschreiten  des  Ver- 
blödungsprocesses,  ohne  ausgeprägtere  Wahnideen  und 
ohne  lebhaftere  Affectzustände.  Die  ersten,  aber  lange  Zeit 
hindurch  von  der  Umgebung  übersehenen  Anzeichen  der  heran- 
nahenden Krankheit  sind  Unfähigkeit  zu  geistiger  Anstrengung,  Ge- 
dankenarmuth,  Vergesslichkeit  und  Zerstreutheit,  unmotivirte  Laimen- 
haftigkeit  und  Eeizbarkeit  neben  auffallender  Gleichgültigkeit  in 
wichtigen  Angelegenheiten,  Energielosigkeit  und  Klagen  über  Schmerzen 
oder  Druckempfindungen  im  Kopfe.  Der  Kranke  ermüdet  rasch, 
schläft  gelegentlich  in  Gesellschaft  ein;  er  wird  unsicher  und  leicht 
bestimmbar  in  seinem  Urtheile,  in  seinen  Entschlüssen,  dabei  oft  zu 
Zeiten  wieder  in  Kleinigkeiten  sonderbar  eigensinnig.    Bei  Dingen, 


Demente  Form. 


595 


die  ihm  sonst  durchaus  geläufig  waren,  irrt  er  sich  und  muss  sich 
lange  besinnen,  um  sich  ganz  einfache  Daten  zu  vergegenwärtigen, 
mit  denen  er  vielleicht  täglich  zu  manipuliren  hatte.  So  kommt  es, 
dass  er  anfängt,  in  seinen  gewohnten  Terrichtungen  unordentlich 
und  nachlässig  zu  werden.  Er  versäumt  seine  Dienststunden,  wichtige 
Correspondenzen,  vergisst  die  Adressen  auf  seinen  Briefen,  ver- 
liert oder  verlegt  werthvolle  Objecte,  Geld,  Acten,  kommt  mit  seinen 
Arbeiten  gar  nicht  oder  nicht  rechtzeitig  zu  Stande  und  lässt  sich  un- 
begi-eifliche  Versehen  zu  Schulden  kommen,  orthographische  Schnitzer, 
grobe  Rechenfehler  u.  dergi.,  ohne  es  selbst  recht  zu  bemerken. 

Die  gemüthliche  Erregbarkeit  pflegt  dabei  meist  mehr  und 
mehr  zu  schwinden.  Der  Kranke  wird  stumpf,  theilnahmlos,  zeigt  nicht 
das  geringste  Interesse  mehr  für  die  Personen  und  Dinge,  die  ihn 
am  nächsten  angehen.  Die  Yorhaltungen,  die  ihm  wegen  seiner 
Verstösse  gemacht  werden,  nimmt  er  ohne  nachhaltige  Eeaction  hin ; 
er  versteht  kaum,  was  man  von  ihm  will,  da  er  den  üeberblick 
über  seine  Berufsthätigkeit  bereits  vollkommen  verloren  hat.  Viel- 
fach fällt  bei  ihm  eine  Art  schwachsinniger  Zufriedenheit  auf,  die 
sich  in  seinem  stillvergnügten  Lächeln,  den  freundlichen  Menen  bei 
jeder  Anrede  und  den  herzlichen  Begrüssungen  ganz  fremder  Per- 
sonen kundgiebt.  Trotz  des  raschen  geistigen  Verfalles  fühlt  sich 
der  Kranke  doch  ganz  gesund  und  leistungsfähig,  ist  überall  „gern 
da",  findet  Alles  ausgezeichnet  und  vortrefflich.  In  andern  Fällen 
dagegen  besteht  doch  eine  gewisse  allgemeine  Vorstellung  von  der  tief- 
greifenden Veränderung,  die  sich  mit  der  eigenen  Persönlichkeit 
vollzogen  hat.  Der  Kranke  klagt  selbst  über  die  Langsamkeit  und 
Schwerfälligkeit  seines  Denkens,  über  seine  Vergesslichkeit,  und  sucht 
deswegen  ärztliche  Hülfe  auf,  ja  er  rafft  sich  vielleicht  sogar  in 
der  mehr  oder  weniger  klaren  Furcht  vor  dem  bevorstehenden 
Leiden  zu  eiaem  Selbstmordversuche  auf,  wenn  derselbe  auch 
bei  dem  Schwachsinn  und  der  Energielosigkeit  der  Kranken  häufig 
ergebnisslos  bleibt.  Mir  selbst  sind  mehrere  derartige  Fälle  vor- 
gekommen. 

Nach  und  nach  geht  aber  auch  jenes  dumpfe  Krankheitsbewusst- 
sein  verloren.  Der  Kranke  wird  allmählich  immer  interesseloser, 
blöder,  vergesslicher,  zeitweise  ganz  verworren  und  zieht  sich  auf 
einen  immer  mehr  zusammenschrumpfenden  Schatz  von  einfachen 
Vorstellungen  und  Verkehrsfomien  zurück.    Er  hört  gänzlich  auf, 

38* 


596 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


sich  um  seine  häuslichen  und  Berufsangelegenheiten  zu  kümmern, 
kommt  mit  den  einfachsten  Aufgaben  nicht  zu  Stande,  verirrt  sich 
in  seiner  eigenen  Wohnung  und  erkennt  vielleicht  seine  nächsten 
Angehörigen  und  Preunde  nicht  mehr.  Hie  und  da  taucht  nun  auch 
wol  ganz  vorübergehend  einmal  eine  flüchtige  Wahnvorstellung  in 
dem  Kranken  auf,  dass  man  ihn  bestohlen  habe,  dass  er  an  der 
Schwindsucht  leide,  eine  ungewöhnlich  schöne  Stimme  besitze,  eine 
reiche  Frau  heirathen  werde.  Dabei  ist  er  nach  Aussage  der  An- 
gehörigen meist  „unendlich  gut",  andauernd  ruhig,  harmlos,  lenksam 
und  reagirt  auf  alle  Anreden  mit  freundlichem,  ausdruckslosem 
Lächeln.  In  anderen  Fällen  begegnet  man  vielmehr  einem  eigen- 
thümiich  abstossenden,  negirenden  Wesen.  Die  .Kranken  geben  auf 
jede  Anrede  unwirsche,  zurückweisende  Antworten  ohne  klares  Mo- 
tiv, ohne  eigentlichen  Affect  und  ohne  sich  durch  freundliches  Zu- 
reden beeinflussen  zu  lassen;  sie  sträuben  sich  gegen  die  best- 
gemeinten Massregeln  und  lassen  auch  in  diesem  bomirten  Wider- 
stande den  bereits  weit  vorgeschrittenen  Blödsinn  erkennen. 

Sehr  deutlich  tritt  gewöhnlich  ein  stumpfsinniges,  rücksichts- 
loses Interesse  für  gröbere  Genüsse  hervor.  Der  Kranke  isst,  trinkt, 
raucht,  so  lange  ihm  die  Genussmittel  erreichbar  sind,  unempfindlich 
gegen  aUe  sich  aus  seiner  Gier  ergebenden  Folgen.  Gerade  aus 
dieser  Quelle  entspringen  die  letzten  Lustgefühle,  welche  die  gleich- 
massige  Apathie  des  Stimmungshintergrundes  bisweilen  noch  vorüber- 
gehend erhellen.  In  der  Eegel  wird  die  Krankheit,  da  der  Patient 
ganz  aufhört,  zu  klagen,  viel  schläft,  einen  vorzüglichen  Appetit  zeigt 
und  an  Körpergewicht  stark  zunimmt,  von  der  Umgebung  erst  dann 
gewürdigt,  wenn  der  Blödsinn  schon  sehr  weit  gediehen  ist.  Die 
Angehörigen  gewöhnen  sich,  wie  es  scheiut,  so  sehr  an  den  all- 
mählich fortschreitenden  Untergang  der  psychischen  Persönlichkeit, 
dass  sie  oft  gar  nicht  von  der  Schwere  der  Störung  zu  überzeugen 
sind  und  die  bescheidensten  geistigen  Eegungen  als  Anzeichen  nahezu 
völliger  Gesundheit  betrachten.  „Er  weiss  doch  noch  AUes",  meinen 
sie,  wenn  der  Kranke  seine  Frau  erkennt  oder  sich  zufällig  zu  ent- 
sinnen vermag,  dass  er  Kinder  besitzt.  Mii-  wurde  ein  derartiger 
Kranker  zugeführt,  der  noch  den  verantwortungsvollen  Posten  eines 
Cassirers  bekleidete,  als  er  sich  bereits  häufig  verunreinigte  und  ganz 
einfache  Additionen  nicht  mehr  auszuführen  im  Stande  wai\  Ein 
Anderer,  ein  Arzt,  kam  unmittelbar  aus  seiner  umfangreichen  Praxis 


Depressive  Form. 


597 


selber  ins  Krankenhaus,  um  sich  ein  Panaritium  operiren  zu  lassen. 
Als  er  sich  hier  in  der  Nacht  veriiTte  und  in  die  Frauenabtheilung 
gerieth,  wurde  entdeckt,  dass  er  bereits  hochgradig  blödsinnig  war 
und  die  Dosirung  des  Morphiums  nicht  mehr  kannte. 

Die  demente  Form  ist  vielleicht  die  häufigste  Verlaufsart  der 
Paralyse  überhaupt,  wenn  sie  auch  dem  Irrenarzte  verhältnissmässig 
seltener  vorzukommen  pflegt.  Sehr  bemerkenswerther  Weise  gehört 
namentlich  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Erkrankungen  beim  weib- 
lichen Geschlechte*)  diesem  Typus  an,  ohne  dass  wir  dafür 
ausser  etwa  der  geschützteren  Stellung  des  Weibes  gegenüber  Excessen 
und  äusseren  Schädlichkeiten,  irgend  einen  Grund  aufzufinden  ver- 
möchten. Ferner  scheinen  jene  vereinzelten  Fälle,  in  denen  die  sehr 
langsame  Entwickelung  der  Krankheit  mit  den  Erscheinungen  der 
Tabes  beginnt,  an  die  sich  erst  später  die  paralytischen  Symptome 
anschüessen  (ascendirende  Form),  ebenfalls  zumeist  das  Büd  des 
einfachen  fortschreitenden  Blödsinns  darzubieten. 

Die  Dauer  der  dementen  Form  ist,  entsprechend  ihrem  schleichen- 
den Yerlaufe  gewöhnlich  eine  verhältnissmässig  lange;  sie  beträgt 
im  Durchschnitte  4 — 5  Jahre,  doch  habe  ich  auch  Fälle  von  weib- 
hcher,  wie  von  ascendirender  Paralyse  beobachtet,  die  8 — 10  Jahre 
und  selbst  noch  länger  dauerten. 

Die  depressive  Porm  der  Paralyse  ist  charakterisirt  durch 
depressive  Terstimmung  und  Wahnideen,  welche  den  ganzen 
Krankheitsverlauf  bis  zur  völligen  Verblödung  des  Kranken  begleiten. 
Ihren  Ausgangspunkt  nimmt  die  psychische  Depression  häufig  von 
dem  Krankheitsgefühle  des  Eingangsstadiums,  welches  im  TJebrigen 
die  gleichen,  schon  oben  geschilderten  Symptome  einer  allmählich 
fortschreitenden  Schwäche  des  Gedächtnisses  und  der  InteUigenz, 
einer  erhöhten  äugen bhckhchen  Eeizbarkeit  neben  gemüthlicher 
Stumpfheit  und  Energielosigkeit  darbietet.  Es  sind  daher  zumeist 
hypochondrische  Ideen,  in  denen  sich  die  Verstimmung  der 
Kranken  ausdrückt.  Sie  sind  unheübar  krank,  syphilitisch,  innerüch 
verfault;  es  haben  sich  Gefässveränderungen  entwickelt,  weil  ihnen 
früher  einmal  ein  Blutegel  angesetzt  wurde;  der  Schädel  ist  weich 
geworden,  an  einer  Stelle  aufgetrieben,  das  Gehirn  eingetrocknet. 
Meist  bestehen  mannichfache  unangenehme  Empfindungen  in  den 


*)  Jacobsen,  Dementia  paretica  hos  Evinden.  1891. 


598 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


verschiedensten  Partien  des  Körpers.  Die  Kranken  suchen  daher 
wegen  .allerlei  wenig  greifbarer  Beschwerden  die  Hülfe  des  Arztes 
auf,  der  sie  beim  Mangel  oder  bei  Nichtbeachtung  eines  objectiven 
Befundes  für  neui'asthenisch,  hysterisch,  hypochondrisch  erklärt. 

Alhnählich  gewinnen  die  Klagen  der  Kranken  emen  ganz  un- 
sinnigen Inhalt.  Sie  haben  keine  Nase,  keine  Augen  mehr,  haben 
zAvei  Leiber;  der  Schlund,  der  Mastdarm  ist  ihnen  zugewachsen, 
durch  einen  Kork  verschlossen,  so  dass  sie  weder  etwas  geniessen. 
noch  etwas  entleeren  können.  Der  Schädel  ist  leer;  die  Eingeweide 
sind  verfault,  mit  Milben  vollgestopft.  Der  Magen,  ja  auch  die 
Matratze  füllen  sich  immerfort  mit  Urin;  das  Essen  steigt  in  den 
Kopf  hinein  oder  fällt  nur  gerade  so  hinimter;  die  Lungen  sind 
verschwunden.  Es  ist  Musik  im  Leibe;  Alles  ist  mit  Gestank  erfüllt. 
Der  Kopf  ist  ganz  klein  zusammengeschrumpft,  ausgewechselt  oder 
gänzlich  verloren  gegangen,  die  Zunge  angefroren,  der  Leib  auf- 
geblasen. Arme  und  Beine  haben  sich  ungeheuerlich  ausgedehnt; 
die  Ohren  sind  von  Holz,  die  Zimge  von  Gold;  in  der  Seite  stecken 
3000  Mark.  Der  ganze  Mensch  ist  verdoppelt,  viereckig,  in  ein  Pferd 
verwandelt,  unsichtbar,  bereits  gestorben,  ist  „schon  längst  nichts 
mehr  gewesen",  begraben,  eine  „lebendige  Leiche."  Alle  diese  „miki-o- 
manischen"  Yorstellungen  versetzen  den  Kranken  in  lebhaftes  Un- 
behagen imd  vermögen,  wenn  sie  auch  zumeist  nicht  weiter  ver- 
arbeitet werden,  doch  sein  Benehmen  oft  lange  Zeit  zu  beeinflussen. 
Er  bemüht  sich  wochenlang  mit  aller  Energie,  durch  seinen  zu- 
gewachsenen Schlund  etwas  hindurch  zu  bringen,  manipulirt  un- 
ablässig an  seiner  Zunge,  am  After,  an  den  Genitalien  herum,  sitzt 
mehrere  Stunden  täglich  auf  dem  Nachtstuhl  in  der  verzweiüungs- 
vollen  Erwartung  dessen,  was  da  kommen  soll;  er  vermeidet  ängst- 
lich jede  Lageveränderung,  weü  er  seine  ungeheueren  Hände  nicht 
bewegen  kann  oder  die  winzigen  Beine  unter  der  Last  des  mächtigen 
„Kikerikikopfes"  zusammenbrechen  müssten. 

Seltener,  als  die  hypochondrische  Form  der  depressiven  Paralyse, 
ist  das  Auftreten  von  Yersündigungsideen.  Unter  den  allgemeinen 
Zeichen  allmählicher  Verblödung  wird  der  Kranke  wortkarg,  in  sich 
gekehrt,  verstört,  betet  viel  und  bringt  einzelne  abgebrochene  Selbst- 
anklagen vor,  er  habe  einen  Meineid  geleistet,  gestohlen,  Deutschland 
verrathen.  Alles  ermordet  und  ins  Unglück  gestürzt,  die  ganze 
Welt  zu  Grunde  gerichtet,  etwas  Schreckliches  begangen.  Einer 


Depressive  Form. 


599 


meiner  Kranken  schrieb  einen  langen  Brief  an  den  Erzbischof,  in 
welchem  er  mit  genauen  Zahlenangaben  die  verschiedenartigsten 
Unkeuschheiten  aufführte,  die  er  sich  habe  zu  Schulden  konmien 
lassen.  Bisweilen  werden  die  Vorwürfe  von.  hallucinatorischen  Stimmen 
erhoben,  che  den  Eä'anken  in.  grosse  Angst  versetzen.  Im  Anschlüsse 
an  die  Versündigungsideen  fürchtet  der  Kranke  gewöhnlich,  dass 
die  Poüzei  kommen,  ihn  aufgreifen,  arretiren,  vergiften,  verbrennen 
•werde;  er  sieht  in  den  Personen  seiner  Umgebung  Spione  und 
gedungene  Mörder. 

Solche  und  ähnliche  Verfolgungsideen  können  auch  den 
einzigen  Inhalt  des  depressiven  Wahnes  bilden.  Dieselben  werden 
dann  meist  von  Gehörstäuschungen  begleitet.  Der  Elranke  hört 
von  der  Strasse  herauf,  im  Sausen  des  Windes,  in  den  Fusstritten 
seiner  Umgebung  Stimmen,  die  ihn  bedrohen,  beschimpfen  und 
der  scheusslichsten  Verbrechen  beschuldigen.  Man  will  ihn  und 
seine  armen  Kinder  umbringen,  ihm  den  Leib  aufschneiden;  er 
soll  fortgeschleppt,  vor  ein  Kriegsgericht  gestellt  werden.  Im 
Essen  ist  Gift,  Ungeziefer,  Menschenfleisch;  er  soU  gestohlen,  sich 
mit  Thieren  vergangen  haben.  Von  Knoten  werden  immerfort 
schreckliche  Verbrechen  vollführt;  es  wii-d  bei  ihm  eingebrochen, 
Feuer  angelegt.  Ein  harmloses  Geräusch  im  Nebenzimmer  kündigt 
ihm  zu  seinem  grössten  Entsetzen  die  Eäuber  an,  die  sich  im  nächsten 
Augenblicke  auf  ihn  stürzen  werden.  Ein  derartiger  Kranker  meiner 
Beobachtung  verwüstete  in  seiner  Angst  sehi  ganzes  Zimmer  und  hätte 
um  ein  Haar  seine  Frau  umgebracht,  die  er  für  einen  Einbrecher 
hielt'  bis  man  sie  mit  genauer  Noth  aus  seiner  Gewalt  befi-eite. 

Die  Besonnenheit  pflegt  sich  bei  diesen  letzteren  Formen  der 
depressiven  Paralyse  vielfach  zu  trüben.  Die  Kranken  verlieren 
meist  rasch  die  Fähigkeit  zu  ruhiger  Auffassung  ihrer  Lage  und 
ihrer  Umgebung;  sie  sind  ganz  von  verworrenen  Schreckbildern 
erfüllt,  die  sie  in  die  namenloseste  Angst  versetzen.  Gerade  hier 
kommen  häufig  Angstzustände  zm^  Beobachtung,  welche  an  Heftigkeit 
vielleicht  Alles  übertreffen,  was  man  bei  anderen  Kraukheitsformen 
zu  erieben  pflegt.  Die  lü-anken  sind  in  fassungslosester  VerzAveiflung, 
schreien  unausgesetzt  aus  Leibeskräften,  sehen  sich  mit  dem  Aus- 
drucke des  Entsetzens  bei  jedem  Geräusche  imi,  in  der  ErM^artung, 
von  irgend  etwas  Schrecklichem  beti-offen  zu  werden.  Sie  sind  ganz 
unfähig  zu  irgend  einem  Entschlüsse,  sitzen  rathlos  im  Hemde  oder 


600 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


vor  ihrem  Essen  da,  ohne  sich  zum  Ankleiden  oder  Zugreifen  auf- 
raffen zu  können.  Schliesslich  wagen  sie  sich  nicht  mehr  aus  ihrem 
Zimmer,  ja  aus  ihrem  Bette  heraus,  in  welchem  sie,  am  ganzen  Leibe 
zitternd  und  schwitzend,  mit  hochgezogener  Decke  hegen,  um  jedem 
äusseren  Eingriffe  einen  blinden,  rücksichtslosen  "Widerstand  ent- 
gegenzusetzen. Durch  keinerlei  Beeinflussung  sind  sie  zu  den  ein- 
fachsten Massregeln  zu  bringen,  so  dass  die  Bettlagerung,  das  Auf- 
stehen, An-  und  Auskleiden  immer  erst  nach  verzweifeltem  Eingen 
mit  dem  vollständig  verwirrten  Kranken  erreicht  werden  kann.  Nicht 
selten  kommt  es  zu  gewaltthätigen,  aber  meist  sehr  unüberlegten 
und  unsinnigen  Selbstmordversuchen  oder  Selbstverstümmelungen. 
Einer  meiner  Kranken  suchte  sich  das  Sero  tum  aufzureissen;  ein 
Anderer  hieb  sich  mit  einem  Beile  glatt  die  gesammten  äusseren 
Genitalien  ab ,  weil  ihm  Stimmen  vorwarfen,  dass  er  sich  vor  Jahren 
von  einem  Herrn  hatte  manustupriren  lassen;  er  wollte  sich  an  dem 
Ghede  strafen,  mit  dem  er  gesündigt  hatte.  Noch  Andere  ver- 
schlucken grosse  Gegenstände,  um  sich  zu  tödten;  ich  fand  noch 
vor  Kurzem  im  Darm  eines  derartigen  Kranken  eine  dicke  Weichsel- 
cigarrenspitze  und  zwei  mehrere  Zoll  lange  Schrauben. 

Die  Dauer  der  heftigen  Angstzustände  schwankt  zwischen 
Stunden  und  Wochen.  Nicht  selten  verschwindet  die  ängstliche 
Spannung  ganz  plötzlich,  um  ebenso  unvermittelt  sich  wieder  ein- 
zustellen. Im  Uebrigen  sind  die  Kranken  niedergeschlagen  und 
verstimmt,  aber  ruhig,  oft  auch  im  Zusammenhalte  mit  den  von 
ihnen  geäusserten  Ideen  auffallend  affectlos.  Zuweilen  schieben  sich 
vorübergehend  Zeiten  gehobener  Stimmung  mit  einzelnen  kindischen 
Grössenvorstellungen  dazwischen.  Ueberhaupt  fehlt  der  gemüthüchen 
Erregung  durchaus  jene  Nachhaltigkeit  und  Einheithchkeit,  welche 
den  nicht  paralytischen  Depressionszuständen  eigenthümlich  ist. 

Wir  haben  hier  endhch  noch  kurz  einer  kleinen  Gruppe  von 
Fällen  zu  gedenken,  in  denen  systematisirte  Verfolgungsideen 
entwickelt  werden.  Die  Kranken  sind  ruhig,  vollkommen  besonnen, 
geordnet  und  erzählen  in  zusammenhängender  Weise,  dass  man  seit 
einiger  Zeit  etwas  gegen  sie  im  Schilde  führe,  sie  aus  dem  Wege 
räumen  wolle,  dass  sie  beobachtet  würden,  unter  polizeilicher  Ueber- 
wachung  stünden,  wahi'scheinlich  fälschlich  irgend  eines  Verbrechens 
bezichtigt  würden.  Der  Inhalt  jener  Darlegungen  gleicht  zunächst 
ganz  denjenigen  der  Paranoiker.   Erst  bei  genauerer  Prüfung  ent- 


Expansive  Form. 


601 


decken  wir  einzelne  handgreifliche,  von  dem  Kranken  aber  gar  nicht 
bemerkte  Widersprüche  in  seinen  Erzcählungen,  trotzdem  er  an- 
scheinend ganz  klar  und  intelligent  ist.  Wiederholte  Darstellungen 
desselben  Vorganges  weichen  von  einander  ab;  es  gelingt  verhältniss- 
mässig  leicht,  den  Kranken  in  seiner  Auffassung  wankend  zu  machen 
und  zum  Eingeständnisse  zu  bringen,  dass  er  sich  geirrt  habe.  Er 
zieht  aus  seinen  wahnhaften  Vorstellungen  nicht  die  naheliegenden 
Schlussfolgerungen  für  sein  Handeln,  sondern  zeigt  gerade  in  dieser 
Beziehung  eine  auffallende  Weichheit  und  Unschlüssigkeit.  Einer 
meiner  Kranken,  ein  sehr  thatkräftiger  und  umsichtiger  Grosskauf- 
mann, der  bei  längerer  Unterhaltung  sonst  vollständig  normal  er- 
schien, behauptete  in  aller  Gemüthsruhe,  dass  seine  Frau  ihn  durch 
geschlechtliche  Ueberreizung  und  durch  planmässige,  geheimnissvoUe 
Anspielungen  mit  Hülfe  der  Spiritisten  geisteskrank  zu  machen  und 
zum  Selbstmorde  zu  treiben  suche,  um  in  den  Besitz  seiner 
Lebensversicherung  zu  gelangen.  Trotzdem  Hess  er  sie  sich  von 
Amerika  nachkommen  und  suchte  sie  soviel  wie  irgend  möglich  in 
seiner  Nähe  zu  haben. 

Im  weiteren  Verlaufe  aller  im  Vorstehenden  geschilderten 
Formen  wird  allmählich  der  Inhalt  der  verschiedenen  Wahnideen 
immer  dürftiger,  während  die  allgemeine  Färbung  der  Stimmung 
und  namentlich  gelegentliche  Angstzustände  sich  bis  zur  völügen 
Verblödung  erhalten  können.  Schliesslich  allerdings  geht  auch  der 
Affect  in  der  gleichförmigen  Unempfindlichkeit  eines  stumpfen  Blöd- 
sinns unter.  Die  gesammte  Dauer  der  Erkrankung  ist  hier  im 
Allgemeinen  eine  kürzere,  als  bei  der  dementen  Paralyse  und 
dürfte  im  Durchschnitte  etwa  2 — 3  Jahre  in  Anspruch  nehmen. 

Die  expansive  Pom.  Bei  der  expansiven  Paralyse  folgt  auf 
die  einleitenden  Erscheinungen,  deren  Gang  vollständig  der  früher 
gegebenen  Schilderung  entspricht,  zunächst  ebenfalls  eine  kürzer 
oder  länger  dauernde  Zeit  der  Depression,  an  welche  sich  aber  dann 
ein  Zustand  heiterer  Erregung  mit  blühendem  Grössenwahn 
anschliesst.  Die  Depression  hält  sich  vielfach  im  Rahmen  einer 
einfachen,  traurigen  oder  missmuthigen  Verstimmung  mit  einzelnen 
hypochondrischen  Klagen  oder  leichten  Versündigungsideen.  Das 
ganze  Leben  ist  verpfuscht,  der  Körper  ruinirt;  der  Kranke  hat 
nicht  als  ehrlicher  Mensch  gehandelt,  unwürdig  communicirt.  Nicht 
selten  indessen  beobachten  wir  hier  auch  die  soeben  geschilderten 


602 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


Erscheinungen  der  depressiven  Paralyse  in  voller  Ausbildung,  mit 
mächtigen  AiJecten  und  beängstigenden  Wahnvorstellungen.  Die 
Dauer  solcher  Zustände  kann  sich  über  viele  Monate,  selbst  über 
Jahr  und  Tag  hin  erstrecken. 

Die  Wandlung  des  Krankheitsbildes  vollzieht  sich  gewöhnlich 
ganz  allmählich,  seltener  plötzhch  und  unvermittelt  binnen  wenigen 
Tagen.  Die  Angst  und  Traurigkeit  verliert  sich;  die  quälenden 
Wahnideen  treten  in  den  Hintergrund,  allein  der  Kranke  gewinnt 
keine  Einsicht  in  sein  Leiden,  zeigt  vielmehr  einen  merkwürdigen 
Mangel  an  Yerständniss  für  seine  wahre  Lage.  Seine  Menschen- 
scheu ist  verschwunden;  er  wird  zugänglich,  lebhaft  und  gesprächig, 
beginnt  „aufzuleben"  und  geräth  nun  gewöhnlich  rasch  in  jenen 
eigenartigen  Erregungszustand,  welcher  vor  Allem  als  klinisches 
Krankheitsbild  der  Dementia  paralytica  bekannt  geworden  ist. 

Als  auffallendste  Erscheinung,  Avelche  auch  die  volksthüinliche 
Bezeichnung  des  ganzen  Leidens  bestimmt  hat,  stellt  sich  alsbald 
der  paralytische  Grössenwahn  ein,  die  „Megalomanie".  Der  Inhalt 
desselben  umfasst  die  gesammten  Beziehungen  des  Kranken,  seine 
körperliche  und  geistige  Leistungsfähigkeit,  sein  Wissen,  seine  äussere 
Stellung,  seinen  Besitz,  seine  Zukunft.  Zunächst  halten  sich  die 
Grössenideen  vielleicht  noch  im  Bereiche  des  Denkbaren  imd  Mög- 
lichen und  machen  den  Eindruck  kindisch  aufdringlicher  Prahlereien. 
Der  Kranke  fühlt  sich  so  kräftig,  wie  noch  nie,  ist  auffallend  gut 
conservirt,  sehr  gebildet,  versteht  viele  Sprachen,  hat  wunderschöne 
Töchter.  Er  macht  vortreffliche  Gedichte,  hat  eine  ausgezeichnete 
Stimme,  verkehrt  nur  mit  feinen  Leuten,  ist  sehr  angesehen,  kann 
jeden  Tag  die  besten  Partien  machen.  Sein  Geschäft  geht  glänzend, 
wirft  ein  schönes  Geld  ab ;  er  wird  es  bedeutend  vergrössern,  überall 
EiHalen  anlegen,  das  grosse  Loos  gewinnen,  sich  ein  Schloss  bauen, 
Keichstagsabgeordneter  werden.  Schon  jetzt  indessen  tiitt  die  be- 
deutende psychische  Schwäche  des  Kranken  in  der  widerspruchs- 
vollen Zerfahrenheit  seines  Wahnes,  in  der  traumhaften  Unbefangen- 
heit, mit  der  er  seine  Luftschlösser  aufbaut,  und  in  der  IJrtheils- 
losigkeit  gegenüber  den  nächstliegenden  Einwänden  niu-  allzu  deutlich 
hervor.  Ein  armer  Gemeindeschreiber  erzählte  mir  triumphii'end, 
dass  er  für  jeden  Tag  seines  Anstaltsaufenthaltes  1000  Eubel  Ent- 
schädigung verlangen  und  dann  mit  dem  erhaltenen  Gelde  herrlich 
und  in  Ei-euden  leben  werde.    Andere  berauschen  sich  an  dem 


Expansive  Form. 


603 


Plane,  von  nnn  an  einfach  alle  Waaren  mit  50 o/o  Nutzen  zu  ver- 
kaufen oder  sämratlicbe  Lotterieloose  zu  erwerben,  damit  ihnen  das 
grosse  Loos  sicher  nicht  entgehen  könne. 

In  der  Eegel  nimmt  die  Unsinnigkeit  und  Abenteuerlichkeit 
des  Grössenwahns  rasch  und  unaufhaltsam  zu.  Der  Ki-anke  glaubt 
über  ungeheure  Körperkräfte  zu  verfügen,  kann  zehn  Elephanten 
heben,  ist  der  schönste  Adonis  der  Welt,  „schläft  wie  Tausend  in 
einer  Nacht",  wiegt  vier  Centner,  hat  eine  eiserne  Brust,  geht  in 
einer  Minute  tausend  Meilen  weit,  kann  fliegen;  sein  Urin  ist  Ehein- 
wein,  seine  Excremente  Gold.  Er  hat  alle  Wissenschaften  studirt, 
spricht  sämmtliche  Sprachen  der  Welt,  plaudert  mit  dem  lieben  Gott, 
trinkt  täghch  hundert  Flaschen  Champagner,  kann  tausend  Weiber 
befriedigen,  alle  Krankheiten  curiren,  Todte  auferwecken,  wird  nie- 
mals sterben.  Dabei  ist  er  Graf,  Eürst,  „Kaiser,  Gott  und  Eothschild", 
einstimmig  zum  deutschen  Kaiser  gewählt,  „der  höchsten  Natur  zu- 
getheilt",  Obergott,  „seine  eigene  Grossmutter  im  Cubus",  besitzt 
sämmtüche  hohe  Orden,  blauseidene  Wäsche,  Berge  von  Gold,  ein 
ungeheures  Vermögen,  Millionen  mal  Milliarden,  ausgedehnte  Jagd- 
gründe, 600  Orloftraber,  ungezählte  Yiehheerden  in  Marmorställen, 
100000  Schiffe,  jedes  hundert  Euss  lang  und  hundert  Fuss  breit, 
mit  10000  elektrischen  Schrauben,  Königreiche,  Erdtheile,  ja  die 
ganze  Welt.  Er  hat  grosse  Eeisen  gemacht,  war  in  Amerika,  Jerusalem 
und  Kamerun,  überall  auf  seinem  eigenen  Kriegsschiffe;  er  wird  die 
Kaiserin  heirathen,  jedem  der  Mitpatienten  eine  Million  schenken, 
dem  Arzte  eine  ]\Iillion  Gehalt  zahlen  „und  die  Kost",  eine  Brücke 
.über  den  Ocean  nach  Indien  bauen,  einen  Thurm  errichten  in  einem 
Garten,  der  tausend  Meilen  lang  ist,  mit  goldenem  Dach,  mit  eigenem 
Theater  und  Circus;  er  wird  eine  Flugmaschine  erfinden  und  im 
Weltall  herumfliegen,  ein  Bergwerk  bis  nach  Californien  durch  die 
Erde  graben  u.  s.  f.  Meist  spiegeln  sich  die  persönlichen  Lebens- 
verhältnisse und  Interessen  in  diesen  Ideen  wieder,  aber  immer  in 
unsinniger  Verzerrung.  Frauen  prahlen  mit  ihrer  Schönheit,  ihrem 
Schmuck,  ihren  zahlreichen  und  schönen  Kindern,  deren  sie  täglich 
■zwei  oder  mehrere  gebären,  erwählen  sich  die  höchsten  Würden- 
ti-äger  zu  Männern.  Bemerkenswerth  ist  es,  dass  im  Allgemeinen 
die  Grössenideen  der  weiblichen  Paralytiker  sich  in  bescheideneren 
Grenzen  zu  halten  und  nicht  so  ungeheuerlich  über  das  Mögliche 
hinauszugehen  pflegen,  wie  diejenigen  der  Männer. 


604 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


Das  Bewnsstsein  der  Kranken  ist  während  der  Entwickelung 
des  Grössenwahnes  meist  leicht  getrübt.  Die  Umgebung  wird  nur 
unvollkommen  und  bruchstückweise  von  ihnen  aufgefasst  und  ver- 
standen. Ueber  Zeit,  Ort  und  Omstände  vermögen  sie  sich  keine 
klare  Kechenschaft  zu  geben,  wie  sich  bei  eingehender  Prüfung 
bald  herauszustellen  pflegt.  Sie  kümmern  sich  auch  wenig  um  die 
wirklichen  Yorgänge,  sind  vielmehr  ganz  von  ihren  traumhaften 
Glücksvorstellungen  und  Plänen  in  Anspruch  genommen.  Der  Zu- 
sammenbang ibi-es  Gedankenganges  ist  regelmässig  ein  sehr  lockerer. 
Wie  sie  der  Augenblick  eingiebt,  folgen  die  verschiedenartigsten 
Ideen  einander,  in  buntem  Wechsel,  unverarbeitet,  voll  der  hand- 
greiflichsten Widersprüche.  Seltener  werden  einzelne  Bestandtheile 
des  Wahnes  längere  Zeit  hindurch  festgehalten;  meist  wird  Alles 
rasch  wieder  vergessen  oder  durch  Neues  verdrängt.  Vielfach  be- 
steht deutliche,  bisweilen  sogar  hochgradige  Ideenflucht.  Namentlich 
in  den  Schriftstücken  der  Kranken,  bei  den  Aufzählungen  ihrer 
Wünsche,  Aufträge  und  Pläne  pflegt  diese  Erscheinung  klar  hervor- 
zutreten. 

Die  Stimmung  des  Kranken  ist,  übereinstimmend  mit  dem 
Inhalte  seines  Wahnes,  freudig  gehoben,  selbstbewusst  und  hofihungs- 
voll.  Sie  steigert  sich  vielfach  zu  ganz  überschwängücher,  un- 
beschreiblicher Glückseligkeit.  Der  Kranke  dankt  dem  Himmel 
unter  heissen  Freudenthränen,  dass  ihm  eine  solche  Wonne  beschieden 
sei.  Die  ganze  Welt  möchte  er  umarmen  und  beglücken,  wie  er 
selbst  dadurch  beglückt  ist,  dass  sich  nun  sein  Schicksal  so  wunder- 
schön und  herrlich  gestaltet  hat.  AUes,  was  ihn  lungiebt,  ist  un- 
übertrefflich und  köstlich;  seine  Mahlzeiten,  seine  Wohnung,  seine 
Kleider  sind  eines  Königs  werth,  seine  Freunde  und  Bekannten 
ausgezeichnete,  edle,  hochgebildete  Männer,  seine  Kinder  voll- 
endete Muster  an  Wohlerzogenheit  und  Yerstand. 

Andererseits  jedoch  besteht  häufig  auch  eine  ausserordentliche 
Eeizbarkeit.  Namentlich  Zweifel  oder  Widerspmch  gegenüber  den 
Grössenideen  bringen  den  Kranken  leicht  in  heftigen,  aber  rasch  ver- 
rauchenden Zorn,  um  so  mehr,  wenn  er  gerade  nichts  auf  die  Ein- 
wände zu  erwidern  weiss.  Auch  andern  Kranken  gegenüber  wird 
er  bisweilen  rücksichtslos  gewaltthätig,  da  er  nicht  das  geringste 
Terständniss  für  deren  Zustand  hat,  sondern  sie  ohne  Weiteres 
für  freche  Schwindler  und  für  vollständig  gesund  erklärt.  Er  droht 


Expansive  Form. 


605 


dann,  durcli  seine  Ai-tillerie  Alles  zusammenschiessen,  die  ganze 
Gesellschaft  in  Ketten  scliliessen,  „von  100  Kamerunnegern  mit 
eisernen  Peitschen  dui-chprügeln"  zu  lassen.  Nicht  selten  beobaclitet 
man  ganz  plötzliches  Umschlagen  der  Stimmung  in  tiefe  Depression 
oder  lebhafte  Angst  mit  krampfhaftem  Weinen  und  einzelnen 
hypochondrischen  oder  Verfolgungsideen.  Freilich  pflegen  solche 
Anwandlungen  einige  Stunden  oder  Tage  nicht  zu  überdauern. 

Auf  psychomotorischem  Gebiete  fällt  an  dem  Kranken  fast 
immer  eine  gewisse  Erregung  auf,  die  sich  unter  Umständen  zu 
sehr  erheblichen  Graden  steigern  kann.  Der  Kranke  ist  unstät,  viel- 
geschäftig, unternehmungslustig,  treibt  sich  planlos  herum,  knüpft 
überall  Bekanntschaften  an,  benimmt  sich  auffallend,  lärmend,  spricht 
laut,  geräth  leicht  in  Streit,  fängt  an,  stark  zu  trinken,  zu  rauchen, 
zu  schnupfen,  geschlechtlich  zu  excediren.  Sehr  bald  beginnt  er 
auch,  an  die  Yerwii'klichung  der  grossen  Pläne  zu  gehen,  welche 
ihm  aus  dem  Gefülile  unbegrenzter  Leistungsfähigkeit  und  aus  seinem 
lebhaften  Thatendrange  hervorwachsen.  Ohne  jede  Ueberlegung 
nimmt  er  die  verschiedenartigsten  Projecte  in  Angriff,  die  nicht  nur 
über  sein  Verständniss  und  seine  Geldmittel,  sondern  sehr  bald  auch 
über  das  Mögliche  überhaupt  hinausgehen.  Allerdings  bleibt  es 
regelmässig  bei  einigen  unsinnigen  einleitenden  Schritten,  weil  rasch 
eine  neue  Idee  die  frühere  verdrängt.  Er  vergrössert  plötzlich  sein 
Geschäft,  fängt  an,  zu  bauen,  schliesst  eine  ganz  unpassende  Ehe 
oder  betreibt  seine  Scheidung,  um  eine  vornehme  Partie  zu  machen, 
telegraphiert  an  Souveräne  mit  der  Bitte  um  hohe  Orden  oder 
Titel,  macht  grossartige  Geschenke,  kauft  auf,  was  ihm  vor  das 
Gesicht  kommt,  und  bestellt  ungemessene  Mengen  der  verschiedensten 
Gegenstände,  die  er  zur  Ausführung  seiner  Pläne  zu  brauchen 
glaubt.  Einer  meiner  Kranken,  der  reich  und  Liebhaberphotograph 
war,  sandte  eine  Depesche  ab,  mit  dem  Ersuchen,  ihm  für  seinen 
Gebrauch  Pyrogallussäui-e  im  Werthe  von  200000  Mark  zu  senden. 
Andere  studiren  die  Anzeigentheile  der  Zeitungen  und  nehmen 
kurzer  Hand  Alles  in  Anspruch,  was  dort  angeboten  wird,  Papageien 
und  Köchinnen,  Kaleschen,  Landhäuser  und  Heirathsparthien.  Auf 
diese  Weise  erklärt  sich  die  ausserordentliche  Geschwindigkeit,  niit 
welcher  die  Kranken  grosse  Summen  verschwenden,  die  heilloseste 
"Verwirrung  anrichten  und  über  sich  selbst  wie  über  ihre  Angehörigen 
die  schwersten  Unannehmlichkeiten  heraufbeschwören. 


606 


XI.  Die  Dementia  paraljtica. 


Dazu  kommt,  class  sich  in  ihrem  ganzen  erregten  und  kopflosen 
Handeln  deutiich  jene  Abstumpfimg  des  sittlichen  Gefühles  geltend 
zu  machen  pflegt,  welche  durch  die  Erkrankung  regelmässig  herbei- 
geführt wird.  Die  Kranken  werden  nicht  mn  nachlässig  in  ihrem 
Aeusseren,  unsauber  und  unordentlich  in  der  Kleidung,  sondern  sie 
verlieren  auch  das  Yerständniss  für  die  einfachsten  Anforderungen 
des  Anstandes,  erzählen  schmutzige  Geschichten,  befriedigen  ihre 
Bedürfnisse  ohne  Kücksicht  auf  die  Umgebung,  rühmen  in  cynischer 
Weise  die  geschlechtlichen  Yorzüge  ihrer  Frauen  oder  Töchter, 
zeigen  sich  mit  öffentlichen  Dirnen  auf  der  Steasse  oder  suchen  die- 
selben bei  Bekannten  einzuführen.  Ja,  wir  sehen  die  Kranken  sogar 
nicht  selten  geradezu  gefährliche  und  verbrecherische  Handlungen 
begehen,  kleine  Diebstähle,  plumpe  Betrügereien,  unsittliche  Angriffe. 
Meist  verfahren  sie  dabei  so  unüberlegt,  dass  sie  sofort  entdeckt 
werden.  Einer  meiner  Kranken  ergriff  auf  dem  Bahnhofe  ohne 
"Weiteres  den  Koffer  eines  neben  ihm  sitzenden  Eeisenden  und  wollte 
damit  verschwinden.  Da  er  nachher  trotz  des  offenkundigsten  Augen- 
scheines oft  einfach  Alles  ableugnet,  wird  der  Kranke  bisweilen  für 
einen  ganz  besonders  frechen  und  geriebenen  Gauner  gehalten.  Erst 
dann,  wenn  er  die  verschiedensten  Vergehen  gegen  die  öffentliche 
Ordnung,  gegen  die  Schamhaftigkeit,  Widerstand  gegen  die  Staats- 
gewalt-u.  s.  f.  begangen  und  seine  Familie  binnen  kurzer  Zeit  an 
den  Bettelstab  gebracht  hat,  wird  er  endlich,  gemisshandelt  und  ge- 
massregelt,  heruntergekommen,  von  Ausschweifungen  erschöpft,  als 
krank  in  die  Anstalt  eingeliefert. 

Yielfach  tritt  .nunmehr  eine  gewisse  Beruhigung  ein,  in  welcher 
der  Kranke  seine  Grössenideen  und  Pläne  zum  Theil  ableugnet,  zum 
Theil  aber  auch  mehr  oder  weniger  geschickt  zu  begründen  weiss. 
Für  die  Beobachtung  in  der  Anstalt  kann  er,  der  bisweilen  nach- 
drücklich seine  Befreiung  verlangt,  abgesehen  von  einem  gewissen 
Grade  des  Schwachsinns,  unter  Umständen  annähernd  gesund  er- 
scheinen, doch  ergiebt  sich  nach  einem  Entlassungsversuche  früher 
oder  später  in  dem  Handeln  des  Kranken  ausnahmslos  die  tiefe 
Störung,  welche  seine  gesanunte  Persönlichkeit  erfahren  hat  An- 
dererseits kann  das  unsinnige  Grössendelirium  auch  längere  Zeit, 
oft  viele  Monate  und  selbst  Jahr  und  Tag  hindui-ch  in  allmählich 
immer  ausschweifenderer  und  zerfahrenerer  Form  fortdauern.  Man 
bemerkt  sehr  bald,  dass  die  ursprüngliche  Regsamkeit  und  Reich- 


Expansive  Form. 


607 


haltigkeit  des  Yorstellungslebens  mehr  und  mehr  verloren  geht.  Die 
"Wahnideen  werden  dürftiger  nnd  zusammenhangsloser,  widerspruchs- 
voller; die  Stimmung  wii-d  matter  und  theilnah mioser,  und  der 
Thatendrang  beschränkt  sich  schliesslich  auf  das  Verfassen  von  un- 
entzifferbaren Briefen  und  Depeschen,  das  Entwerfen  kindisch  un- 
geschickter Zeichnungen  und  Pläne  und  das  Schreiben  endloser 
Zahlenreihen,  in  denen  sich  das  unermessliche  Vermögen  des  Kranken 
oder  der  Gewinn  ausdrückt,  den  er  durch  seine  Unternehmungen 
zu  erzielen  hofft. 

Nach  und  nach  wird  der  Kranke  immer  blödsinniger  und 
stumpfer,  wenn  auch  ein  matter  Abglanz  des  Grössenwahns  bis- 
weilen noch  lange  Zeit  seinen  Stimmungshintergrund  erhellt.  Zu- 
fiieden,  mit  freundlichem,  glücklichem  Gesichte,  sitzt  er  da  und  lallt 
vielleicht  noch  mit  kaum  verstäudlicher  Sprache  einzelne  aus  den 
Grössenideen  herübergenommene  Worte:  „gutes  Essen",  „Millionen", 
„schöne  Pferde",  „goldene  Kaiserin",  bis  endlich'  auch  die  letzte  der- 
artige Erinnerung  mit  der  vollständigen  Vernichtung  der  psychischen 
Persönlichkeit  erlischt.  Die  Dauer  der  expansiven  Paralyse  kann, 
man  im  ]\Iittel  auf  3—4  Jahre  veranschlagen;  sie  ist  indessen  sehr 
grossen  Schwankungen  unterworfen.  Nicht  selten  erfährt  man,  dass 
schon  mehrere  Jahre  vor  dem  deutlicheren  Hervortreten  der  ein- 
leitenden Störungen  vorübergehend  einzelne  Krankheitserscheinungen, 
namentlich  Schwindelanfälle,  Eeizbarkeit  u.  dergl.  beobachtet  wurden. 
Ich  sah  noch  1884  einen  Fall,  in  welchem  durch  derartige  Vorboten 
ein  ursächhcher  Zusammenhang  mit  dem  Ea-iege  von  1870  wahr- 
scheinlich wurde. 

Das  Schwanken  zwischen  depressiven  und  expansiven  Zuständen, 
wie  wir  es  soeben  kennen  gelernt  haben,  kann  sich  in  einzelnen 
Fällen  mehrmals  hintereinander  wiederholen,  so  dass  kürzere  oder 
längere  Stadien  heitersten  Grössenwahns  mit  dem  Versinken  in  ängst- 
liche Verstimmung,  hypochondrische  Verzweiflung  oder  völlige 
Stiimpfheit  abwechseln.  Diese  Verlaufsart  hat  man  auch  wol  als 
circuläre  Form  der  Paralyse  bezeichnet.  Die  äussere  Aehnlichkeit 
mit  gewissen  Fällen  von  circulärem  Irresein  ist  bisweilen  eine  sehr 
grosse.  Trotzdem  wird  man  sie  von  diesem  letzteren  Avegen  ihrer 
schleppenden  Entstehungsweise  in  reiferem  Lebensalter,  wegen  der 
Unregelmässigkeit  der  einzelnen  Phasen,  wegen  der  deutlichen  An- 
zeichen zunehmender  psychischer  Schwäche,  wegen  der  nervösen 


€08 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


■Störungen  und  des  fortschreitenden  Verlaufes  bei  längerer  Beobachtung 
immer  abzugrenzen  im.  Stande  sein. 

Die  agitirte  Form  der  Paralyse  unterscheidet  sich  von  der 
expansiven  Form  hauptsächlich  dadurch,  dass  bei  ihr  ein  ausgeprägtes 
depressives  Stadium  der  Krankheit  fehlt  und  von  vornherein  die 
expansive  Färbung  der  Stimmung  wie  des  Vorstellungs- 
inhaltes in  den  Vordergrund  tritt.  Allerdings  geht  auch  bei 
ihr  dem  eigentlichen  Ausbruche  der  Krankheit  zumeist  eine  Ein- 
leitungszeit mit  den  früher  geschilderten  Erscheinungen  voraus; 
dieselbe  ist  jedoch  häufig  nur  angedeutet,  und  in  einzelnen  Fällen 
entgehen  die  etwa  vorhandenen  leichten  Vorläufersymptome  so  sehr 
der  Umgebung  des  Kranken,  dass  die  Psychose  anscheinend  aus 
völlig  heiterem  Himmel  hereinbricht. 

Die  Art  der  psychischen  Erregung  selbst  kann  sich  sehr  ver- 
schieden gestalten.  Verhältnissmässig  häufig  begegnet  man  gerade 
bei  dieser  Entwickelungsweise  der  Paralyse  ganz  leichten  Aufregungs- 
zuständen  mit  anscheinend  völliger  Erhaltung  der  Besonnenheit. 
Die  Kranken  sind  dabei  in  sehr  gehobener  Stimmung;  sie  sehen 
ihre  Umgebung,  namentlich  aber  ihre  eigene  Person  und  deren 
Leistungsfähigkeit  in  rosigstem  Lichte.  Sie  bauen  allerlei  Luft- 
schlösser und  thun  auch  Schritte  zu  deren  Verwirklichung;  sie 
prahlen  in  aufdringlicher  Weise  mit  ihren  ausgezeichneten  Fähig- 
keiten, ihren  hohen  Verbindungen,  ihren  glänzenden  Aussichten  und 
ihrer  wunderbaren  Vergangenheit,  ohne  es  dabei  mit  der  Wahrheit 
sehr  genau  zu  nehmen.  Sie  stehen  in  nahen  Beziehungen  zu  An- 
gehörigen des  Fürstenhauses,  erfreuen  sich  des  besonderen  Aller- 
liöchsten  Vertrauens,  sind  durch  Ordensverleihungen  ausgezeichnet 
worden;  sie  haben  eine  sehr  gewählte  Erziehung  genossen,  an  ver- 
schiedenen Universitäten  ihre  Lehrer  durch  ihre  Begabung  in  Er- 
staunen gesetzt,  eine  Menge  Preise  gewonnen,  sind  Meister  in  allen 
ritterlichen  Künsten,  Lieblinge  der  Frauenwelt,  haben  im  Kriege 
Wunder  der  Tapferkeit  verrichtet,  mehrfach  durch  ihr  persönliches 
Einschi-eiten  den  Sieg  herbeigeführt.  Auf  grossen  Reisen  haben  sie 
äusserst  merkwürdige  Erlebnisse  durchgemacht,  sind  wiederholt  in 
höchster  Lebensgefahr  gewesen,  aus  der  sie  sich  immer  wieder  diu-ch 
ihre  unerhörte  Kraft  und  Klugheit  befi-eit  haben.  Sie  werden  jetzt 
über  ihre  Thaten  öffentliche  Vorträge  halten,  ein  Buch  schreiben, 
■welches  das  grösste  Aufsehen  erregen  und  ihnen  bedeutende  Summen 


Agitirte  Form. 


609 


einbringen  ninss;  sie  werden  sich  um  einen  Sitz  im  Reichstage  be- 
werben, glänzende  Reden  halten  nnd  ohne  Zweifel  binnen  Kurzem 
ins  Ministerium  berufen  werden. 

Immerhin  halten  sich  diese  Erzählungen  und  Pläne  an  sich 
noch  im  Bereiche  des  Möglichen  oder  sogar  Wahrscheinlichen,  ja 
man  entdeckt,  dass  dieselben  fast  überall  an  die  allerdings  stark  aus- 
geschmückte Wirklichkeit  anknüpfen,  und  man  kann  daher  bisweüen 
für  den  Augenblick  zweifelhaft  werden,  ob  man  es  mit  Wahnideen 
oder  mit  bewussten  Aufschneidereien  zu  thun  hat.  Gewöhnlich 
zeigen  die  verschiedenen  Ausführungen  des  Kranken  untereinander 
durchaus  keine  Uebereinstimmung;  vielmehr  ändert  er  seine  Aus- 
einandersetzungen bei  jeder  neuen  Wiederholung  ab  und  kann  durch 
geeignete  Beeinflussung  zu  weiterer  Ausmalung  veranlasst  werden. 
Dabei  verwickelt  er  sich  in  die  schreiendsten  Widersprüche,  ohne 
es  selbst  zu  merken;  er  geräth  in  einsichtslose  zornige  Erregung, 
sobald  man  ihn  auf  dieselben  aufmerksam  zu  machen  sucht.  Meist 
lebt  er  sorglos  und  unbekümmert  in  den  Tag  hinein,  drängt  ge- 
legentlich auf  Entlassung,  um  seine  Pläne  verwirklichen  zu  können, 
lässt  sich  aber  stets  leicht  wieder  vertrösten. 

In  einer  weiteren  Reihe  von  Fällen  entwickelt  sich  von  vorn- 
herein sofort  ein  fast  noch  blühenderer  und  unsinnigerer  Grössen- 
wahn,  als  wir  ihn  schon  bei  der  expansiven  Form  kennen  gelernt 
haben.  Binnen  wenigen  Tagen  wird  der  Kranke  von  allen  seinen 
früheren  Leiden  und  Gebrechen  geheilt;  er  rückt  auf  zuin  höchsten 
Gott,  der  ewig  gelebt  und  das  Weltall  erschaffen  hat.  Sonne,  Mond 
und  Sterne  gehorchen  seinen  Befehlen;  mit  Gedankengeschwindigkeit 
vermag  er  sich  an  jeden  Punkt  des  Himmels  zu  versetzen.  Er  hat 
alle  Kriege  geführt,  alle  Schlachten  gewonnen,  die  grössten  Ent- 
deckungen und  Erfindungen  gemacht,  alle  grossen  Männer  aller 
Zeitalter  persönlich  gekannt  oder  selber  erzeugt.  Er  gebietet  über 
fabelhafte  Reichthümer,  deren  Werth  in  Zahlen  überhaupt  nicht  aus- 
gedrückt werden  kann,  über  DeciUionen  oder  Decilliarden,  baut  im 
Nu  die  prachtvollsten  Schlösser  und  Dome  aus  violetter  Mondkohle, 
Diamanten  und  Edelsteinen,  '  befruchtet  Tausende  der  schönsten 
Weiber  mit  den  herrlichsten  Göttersöhnen.  Bisweilen  verbinden  sich 
Grössen-  und  Kleinheitsideen  in  unentwirrbarer  Weise  miteinander. 
Der  Kranke  ist  verzweifelt  darüber,  dass  er  sich  in  seiner  Dununheit 
in  die  Anstalt  begeben  hat,  statt  seine  Millionen  deutscher  Reichs- 

Kraepolin,  Psychiatrie.   4.  Anfl.  39 


610 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


patente  auszunutzen  und  sich  als  Kaiser  krönen  zu  lassen.  Dadurch 
ist  ihm  der  Hals  zugewachsen,  und  er  hat  unermessüchen  Schaden. 
Aber  er  wird  so  yiele  Milliarden  unter  die  Leute  vertheilen,  dass 
Niemand  mehr  von  seiner  Yerrücktheit  sprechen  wird. 

Hier  pflegt  auch  die  Aufregung  eine  sehr  viel  stärkere  zu  sein. 
Der  Kranke  ist  Tag  und  Nacht  unruhig,  ohne  Unterbrechung  mit  seinen 
unendhchen  Plänen  beschäftigt,  Befehle  in  alle  Himmelsrichtungen 
telephonirend.  Zeitweise  kommt  es  zu  starker  ideenflüchtiger  Yer- 
worrenheit  mit  grosser  Eeizbarkeit  und  Gewaltthätigkeit.  Der  Kranke 
schläft  fast  gar  nicht,  nimmt  sehr  unregelmässig  Nahrung  zu  sich, 
da  er  unvergleichlich  viel  Besseres  zu  beanspruchen  hat,  nimmt  an 
Körpergewicht  sehr  rasch  ab.  Häufig  macht  hier  nach  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  ein  schwerer  paralytischer  Anfall  dem  Leben 
oder  doch  der  Aufregung  plötzlich  ein  Ende ;  auch  rascher  Nachlass 
der  Krankheitserscheinungen  mit  völliger  Beruhigung  ohne  klare 
Einsicht  ist  nicht  selten.  Die  Dauer  dieser  letzteren  Form  ist  zu- 
meist eine  kürzere,  als  diejenige  der  zuerst  beschriebenen  Yerlaufs- 
art;  sie  beträgt  häufig  nur  1 — 2  Jahre,  während  wir  bei  jener  immer- 
hin auf  eine  Durchschnittsdauer  von  2 — 3  Jahren  rechnen  dürfen. 

Als  eine  Unterform  gewissermassen  der  agitirten  Paralyse  können 
wir  ein  letztes  Krankheitsbild  bezeichnen,  welches  man  auch  wol 
mit  dem  Namen  der  galoppirenden  Paralyse  belegt  hat.  Die 
wesentliche  Eigenthümlichkeit  derselben  besteht  in  dem  überaus 
raschen,  tödtlichen  Yerlaufe  der  Erki-ankung  unter  den  Er- 
scheinungen hochgradigster  psychischer  und  nervöser  Er- 
regung mit  plötzlichem  Zusammenbruch.  In  der  Regel  schhesst 
sich  dieses  letzte  Stadium  der  Krankheit  an  das  Bild  der  agitirten 
Paralyse  an;  seltener  entwickelt  es  sich  aus  einer  Depression  heraus. 
Unter  rasch  sich  steigernder  Erregung  wird  der  Kranke  vollkommen 
ver-nirrt  und  unbesinnlich,  stösst  nur  unarticulirte  Laute  oder 
stereotype,  unsinnige  Silben  aUs,  wälzt  sich  am  Boden,  zappelt  mit 
Armen  und  Beinen,  schläft  nicht,  nimmt  keine  Nahrung  zu  sich, 
sondern  spuckt  Alles  wieder  aus,  lässt  Koth  und  Urin  unter  sich 
gehen.  Das  Körpergewicht  sinkt  mit  erschreckender  SchneUigkeit; 
der  Puls  ist  klein  und  frequent,  die  Temperatur  erhöht  (38 — 39"), 
wahi-scheinlich  meist  wegen  der  zahlreichen  Quetschungen  imd  Haut- 
abschürfungen, welche  sich  der  Kranke  in  seiner  sinnlosen  Erregung 
zuzieht.  Nach'  einigen  Tagen  oder  Wochen,  nachdem  vielleicht  schon 


Vorlauf. 


611 


wiederholt  apoplektiforme  oder  epileptiforme  Anfälle  dagewesen  sind, 
werden  die  Bewegungen  des  zeitweise  soporösen  Kranken  unsicher 
und  zitternd;  die  Mundhöhle  ist  trocken,  Lippen  und  Zunge  mit 
dickem,  schwärzlichem,  fuliginösem  Belage  bedeckt;  es  stellen  sich 
profuse  Diarrhöen,  kalte  Schweisse,  Sehnenhüpfen,  grosse  Neigung 
zu  Decubitus  ein,  und  unter  zunehmender  Erschöpfung  erfolgt,  bis- 
weilen nach  vorübergehender  Besonnenheit,  der  Exitus  letalis. 

Dieses  Krankheitsbild  ist  es,  welches  ohne  Zweifel  bisweilen 
mit  unter  der  Bezeichnung  des  „Delirium  acutum"  zusammengefasst 
worden  ist.  Es  gilt  das  namentlich  für  diejenigen  Fälle,  in  denen 
die  einleitenden  Erscheinungen  wenig  oder  gar  nicht  ausgesprochen 
sind.  Was  mir  diese  Anschauung  vor  Allem  wahrscheinlich  macht, 
ist  der  Umstand,  dass  man  hie  und  da  Gelegenheit  hat,  einen  Kranken 
aus  diesem  Zustande  sich  wieder  erholen  und  nunmehr  die  vorher 
vielleicht  nicht  bemerkten  Symptome  der  Paralyse  unzweifelhaft  her- 
vortreten zu  sehen.  Die  Dauer  der  galoppirenden  Paralyse  beträgt 
oft  nur  wenige  Monate,  wenn  sich  auch  meist  wegen  der  Unbestimmt- 
heit der  Prodromalerscheinungen  der  Beginn  der  Krankheit  nicht 
genau  feststellen  lässt. 

"Wie  sich  aus  den  vorstehenden  Einzel  Schilderungen  ergiebt, 
setzt  sich  der  Gesammtverlauf  der  Paralyse  im  Allgemeinen  aus 
einem  bisweilen  ganz  unbemerkt  bleibenden  Einleitungsstadium  und 
aus  einer  Zeit  lebhafterer  Krankheitserscheinungen  zusammen,  an 
welche  sich  dann  der  später  zu  besprechende  Endzustand  tiefen 
Blödsinns  anschliesst.  Es  ist  jedoch  von  grösster  Wichtigkeit,  zu 
bemerken,  dass  in  diesen  verschiedenen  Abschnitten  des  Krankheits- 
verlaufes die  Stärke  der  körperlichen  Störungen  durchaus  nicht 
immer  der  Ausbildung  der  psychischen  Symptome  entspricht.  Es 
giebt  einerseits  Fälle,  in  denen  selbst  schwere  Sprach-  und  Schrift- 
störungen lange  Zeit  bestehen  können,  bevor  eine  irgend  auffallendere 
Beeinträchtigung  des  Gedächtnisses  oder  Verstandes  nachweisbar  ist 
Andererseits  aber  —  und  das  ist  praktisch  weit  wichtiger  —  ver- 
mögen wir  aus  dem  psychischen  Krankheits bilde  sehr  häufig  die 
beginnende  Paralyse  bereits  mit  voller  Sicherheit  zu  erkennen, 
während  die  körperliche  Untersuchung  durchaus  noch  keine  ver- 
werthbaren  Anzeichen  liefert.  Aus  der  ungenügenden  Berücksicht- 
igung dieser  Erfahrung  entspringen  zahlreiche  diagnostische  Fehl- 
schlüsse. 

39* 


612 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


Der  Verlauf  aller  Formen  der  Paralyse  kann  durch  zwei  ver- 
scMedene  Ereignisse  fast  stets  in '  unberechenbarer  Weise  beeinflusst 
■werden,  durch  paralytische  Anfälle  und  durch  Remissionen. 
Die  ersteren  können  jederzeit  einen  unvorhergesehenen,  bedeutenden 
Fortschritt  aller  Krankheitserscheinungen  oder  auch  plötzlichen  Tod 
zur  Folge  haben;  ihre  Häufigkeit  und  Schwere  scheint  in  keiner 
bestimmten  Beziehung  zu  der  besonderen  kliuischen  Form  der 
Paralyse  zu  stehen.  Auf  der  anderen  Seite  sieht  man  gelegentlich 
ausgiebige  Nachlässe  der  psychischen  und  nervösen  Störungen  in 
nahezu  allen  Stadien  der  Paralyse,  mit  Ausnahme  des  allerletzten, 
den  Ablauf  der  Krankheit  verzögern.  Am  häufigsten  scheinen  der- 
artige Besserungen  bei  der  expansiven  und  agitirten  Form  vor- 
zukommen; selten  und  wenig  ausgeprägt  beobachtet  man  sie  bei 
der  dementen  Form.  Der  Eintritt  der  Beruhigung  vollzieht  sich 
bisweilen  ganz  rasch,  von  einem  Tage  zum  andern,  wenn  auch  die 
volie  Höhe  der  Remission  erst  allmählich,  vielleicht  im  Laufe  von 
Monaten,  erreicht  wird.  Der  Kranke  erscheint  klar,  besonnen,  geordnet; 
die  Wahnideen  treten  zurück  und  werden  von  ihm  als  Träume  und 
Phantasien  bezeichnet;  er  kann  sich  oft  selbst  nicht  genug  wundem, 
wie  ihm  nur  all  das  „dumme  Zeug"  in  den  Kopf  hat  kommen  können. 
Gleichwol  geräth  er  vielleicht  in  den  ersten  Tagen  gelegentlich  immer 
wieder  in  seine  früheren  Ideen  hinein,  um  erst  auf  ernstes  Zureden 
die  Wahnhaftigkeit  derselben  von  Neuem  einzusehen  und  zuzugestehen. 

Die  Erinnerung  an  die  Zeit  der  Krankheit  ist  zunächst  oft  eine 
verworrene,  doch  tauchen  nach  und  nach  viele  Einzelheiten  wieder 
deutlicher  auf.  Allmählich  kann  sogar  eine  gewisse  Krankheits- 
einsicht zu  Stande  kommen,  wenn  auch  manche  der  verkehrten 
Handlungen  noch  in  krankhafter  Weise  begründet  oder  als  durch 
äussere  IFmstände  und  Einwirkungen  veranlasst  dargestellt  werden. 
'Mit  dieser  mangelhaften  Klarheit  über  die  Yergangenheit  verbindet 
sich  häufig  eine  siegesgewisse  Einsichtslosigkeit  hinsichtlich  der  Zu- 
kunft Der  Kranke  fühlt  sich  nunmehr  vollständig  gesund  und  weiss 
ganz  bestimmt,  dass  er  es  auch  in  Zukunft  bleiben  wird;  die 
Mahnungen  des  Arztes  schlägt  er  daher  leichthin  in  den  Wind.  Die 
Stimmung  ist  bald  eine  selbstzufriedene,  vergnügte,  bald  aber  auch 
gedrückt  und  theilnahmlos,  indem  der  Ki'anke  sich  müde,  abgespannt, 
erholungsbedürftig  fühlt  und  über  allerlei  körperliche  Beschwerden 
klagt,  namentlich  über  Druck  und  Schmerzen  im  Kopfe. 


Verlaul'. 


613 


Nach  und  nach  kann  sich  der  Zustand  des  Kranken  immer 
mehr  bessern,  so  dass  er,  besonders  in  den  .engen,  geschützten  Ver- 
hältnissen der  Anstalt,  den  Eindi-uck  eines  nahezu  oder  völlig  ge- 
sunden Menschen  macht.  Den  nächsten  Angehörigen  und  Freunden 
pflegt  freilich  eine  leichte  Abschwächung  des  Yerstandes  und  des 
Gedächtnisses,  eine  Abstumpfung  seiner  geistigen  Regsamkeit  und 
seiner  gemüthlichen  Betheüigung,  sowie  ein  gewisser  Mangel  an 
Thatkraft  und  Nachhaltigkeit  kaum  jemals  verborgen  zu  bleiben. 
Dennoch  sind  manche  derartige  Kranke  im  Stande,  selbst  den  ver- 
antwortungsvollen Beruf  eines  Eisenbahnbeamten,  Officiers,  Arztes 
während  der  Besserung  mit  Erfolg  wieder  aufzunehmen.  In  der 
Regel  allerdings  siud  diese  Nachlässe  nur  von  kürzerer  Dauer  (bis 
zu  einigen  Monaten);  jene  Fälle,  in  denen  die  Kranken  länger,  als 
■ein  Jahr,  oder  gar  3,  4,  5  Jahre  annähernd  gesund  bleiben,  siud 
immerhin  als  vereinzelte  Ausnahmen  zu  betrachten. 

Die  letzten  Stadien  der  Krankheit  sind  allen  Formen  der- 
selben, mit  Ausnahme  etwa  der  galoppirenden  Paralyse,  gemeinsam. 
Der  Kranke  wird  immer  stumpfer  und  blöder;  er  kennt  die  Gegen- 
stände und  Personen,  seiner  Umgebung  nicht  mehr  und  ist  schliess- 
lich kaum  viel  mehr,  als  ein  vegetirender  Körper,  in  dem  das 
psychische  Leben  gänzüch  oder  fast  gänzhch  erloschen  ist.  Zugleich 
machen  auch  die  nervösen  Störungen  unaufhaltsame  Fortschritte. 
Der  Kranke  wird  nahezu  vollkommen  unempfindlich;  die  Schwäche 
nimmt  immer  mehr  zu;  es  stellen  sich  Beugecontracturen  und 
Muskelatrophien  ein,  so  dass  er  die  Möglichkeit  der  selbständigen 
Bewegung  verliert,  weder  gehen,  noch  stehen,  noch  am  Ende  auch 
sitzen  kann.  Zugleich  magert  er  immer  mehr  ab  und  ist  dauernd 
hochgradig  unrein,  so  dass  er  wie  ein  Kind  nach  jeder  Richtung 
hin  der  sorgfältigsten  Pflege  bedarf.  Bis  zu  diesen  tiefsten  Stufen 
des  apathischen  Blödsinns  und  der  allgemeinen  Lähmung  giebt  es 
allerdings  zahlreiche  Uebergangsformen,  die  sich  durch  die  ver- 
schiedene Erhaltung  der  geistigen  Regsamkeit,  durch  Ueberreste 
depressiver  oder  expansiver  Stimmungen  und  Yorstellungen,  sowie 
endhch  durch  die  verschiedenartige  Ausbreitung  der  nervösen 
Störungen  von  einander  abgrenzen. 

Der  Ausgang  der  Paralyse  ist  regelmässig  der  Tod.  Freilich 
sind  einzelne  Fälle  bekannt  geworden,  in  denen  die  Besserung  der 
Krankheitserscheinungen   andauernd   ein  Jahrzehnt  und  darüber 


614 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


Stand  hielt,  so  dass  man  hier  von  einer  Heilung  der  Paralyse  zu 
sprechen  berechtigt  ist  Allein  derartige  Beobachtungen  sind  so 
ungemein  selten  (lange  nicht  1  ^j^  der  Fälle),  dass  sie  gegenüber  dem 
gewöhnlichen  Verlaufe  gar  nicht  in  Betracht  kommen.  Ueberdies 
erhebt  sich  hier  der  Yerdacht,  dass  es  sich  vielleicht  um  ganz  anders- 
artige chronische  diffuse  Hirnerkrankungen  handeln  kann,  die  wir 
vor  der  Hand  klinisch  noch  nicht  von  der  dementen  Form  der 
Paralyse  unterscheiden  können.  Jedenfalls  thut  man  gut,  allen 
Fällen  von  „geheilter"  Paralyse  das  äusserste  Msstrauen  entgegen 
zu  bringen,  da  Nasse  festgestellt  hat,  dass  unter  6  von  ihm  als 
geheilt  angesehenen  Paralytikern  nur  ein  einziger  nicht  wieder  er- 
krankt ist,  bei  dem  obendrein  die  Diagnose  nicht  über  allen  Zweifel 
erhaben  war. 

Herbeigeführt  wird  der  tödtiiche  Ausgang   durch   die  ver- 
schiedensten Ursachen.  Abgesehen  von  den  in  der  ersten  Zeit  doch 
bisweilen  glückenden  Selbstmordversuchen,  können  im  ganzen  Ver- 
laufe der  Krankheit  paralytische  Anfälle  plötzlich  und  unerwartet 
dem  Leben  ein  Ende  machen.  In  der  letzten  traurigen  Periode  der 
Psychose  sind  Schluckpneumonien  (Speichel,  Speisen),  namentlich 
während  der  Anfälle,  die  bei  weitem  häufigste  Todesursache;  ausser- 
dem aber  kommen  noch  gelegentlich  pyaemische  und  septische 
Processe  oder  Fettembolien  in  Betracht,  wie  sie  sich  bei  der  Um-uhe 
und  Unempfindlichkeit  der  Kranken  aus  Verletzungen  aller  Art,  in 
Folge  von  Decubitus  oder  Blasenkatarrh  (Pyelitis)  entwickeln  können. 
Vereinzelte  Kranke  gehen  durch  Ersticken  zu  Grunde,  indem  sie 
sich  beim  Essen  den  ganzen  Mund  mit  Speisen,  namentlich  Brod, 
vollpfropfen  und  dann  einen  Theil  derselben  in  den  Kehlkopf  hinunter- 
würgen.   Endlich  aber  ist  der  gewissermassen  natürliche  Ausgang 
der  Paralyse,  wie  man  ihn  bei  einzelnen  Kranken  beobachtet,  welche 
allen  jenen  Gefahren  glücklich  entgangen  sind,  der  einfache  Marasmus, 
der  Tod  in  Folge  von  Herzschwäche.  In  solchen  Fällen  magern  die 
Kranken  schliesslich  zum  Skelett  ab;  die  gesammte  Körpermusculatur 
atrophirt  bis  zum  Aeussersten;  die  Temperatur  sinkt  häufig  dauernd 
sehr  tief  unter  die  Norm;  der  Puls  wird  langsam  und  immer  schwächer, 
schliesslich  nicht  mehr  fühlbar,  bis  endlich  das  Leben  vollkommen 
erlischt. 

Die  pathologische  Anatomie  der  Paralyse  zeigt  uns  in  den 
nervösen  Centraiorganen  eine  Eeihe  von  Veränderungen,  welche  in 


Pathologische  Anatomie. 


615 


ihrer  Gesammtheit  bis  zu  einem  gewissen  Grade  für  diese  Krankheit 
charakteristisch  erscheinen.  Als  wesentlich  sind  nicht  zu  betrachten  die 
bisweilen  beobachteten  Hyperostosen  und  Exostosen  des  Schädels,  die 
auch  bei  Gesunden  nicht  ganz  selten  vorkommen,  doch  ist  die  in  weit 
vorgeschrittenen  Fällen  häufiger  beobachtete  allgemeine  Yerdickung 
der  knöchernen  Hülle  wol  mit  Walu'scheinlichkeit  als  compen- 
satorische  Hypertrophie  gegenüber  der  Volumsabnahme  des  Gehirns 
aufzufassen.  Vielfach  sieht  man  dabei  tiefes  Einschneiden  der  Gefäss- 
furchen  in  die  mit  Osteophyten  reichlich  besetzte  Knochensubstanz. 

Wichtiger  sind  schon  die  Yeränderungen  der  Hirnhäute.  Die 
Dura  ist  theilweise,  seltener  in  ganzer  Ausdehnung,  mit  dem  Schädel- 
dache verwachsen;  bisweilen  lässt  sie  sich  ohne  Zerstörung  gar  nicht 
von  diesem  letzteren  trennen.    Kecht  häufig  findet  man  Pachy- 
meningitis  interna  und  Haematome  der  Dura,  bald  nur  zarte, 
schleierartige  Anflüge,  bald  dicke,  mehrfache  Schichtung  aufweisende 
Schwarten,  meist  aiif  der  Scheitelhöhe.    Auch  unter  der  Pia  bemerkt 
man  öfters  mehr  oder  weniger  ausgedehnte  Oberflächenblutungen. 
Die  weichen  Hirnhäute  sind  in  Folge  von  zelliger  Infiltration  regel- 
mässig getrübt,  verdickt,  bisweilen  sehr  beträchtlich ;  hie  und  da 
finden  sich  eingelagerte  Knochenplättchen.   Ihre  Yenen  sind  stark 
erweitert,  besonders  bei  der  galoppirenden  Paralyse,  zeigen  auch 
häufig  verdickte-  Wandungen;  die  Pacchioni 'sehen  Granulationen 
sind  nicht  selten  auffallend  entwickelt.    Das  Gehirn  ist  bei  länger 
bestehenden  FäUen  stets  atrophisch;  das  Gewicht  desselben  sah 
ich  selbst  bei  Männern  von  normaler  Körpergrösse  bis  auf  900  gr 
herabsinken.   Die  Windungen  sind  verschmälert,  besonders  in  den 
vorderen  Partien;  es  finden  sich  stellenweise  förmliche  Einsenkungen, 
über  welche  die  Pia  in  Gestalt  serumgefüllter  Blasen  hinwegzieht. 
Auch  die  Einde  ist  verschmälert  und,  namentlich  am  YorderMrn, 
häufig  mit  der  Pia  so  fest  verwachsen,  dass  sich  diese  nicht  ohne 
Substanzverlust  von  ihr  ablösen  lässt.    Das  Ependym  der  Yenteikel, 
vorzügüch  des  vierten,  zeigt  oft  reichUche,  stark  entwickelte,  knötchen- 
artige Granulationen. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  bietet  vor  Aflem  in  der 
Rinde*)  ausgesprochene  Yeränderungen.  Die  Gefässe  sind  sichtlich 


*)  Binswanger,  Die  pathologische  Histologie  der  Grosshimrinden-Erkrankung 
bei  der  allgemeinen  progressiven  Paralyse.  1893. 


616 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


vermehrt,  oft  in  ganz  ausserordentlichem  Masse;  häufig  findet  man 
die  Anzeichen  frischer  Gefässneubildung,  weitverzweigte  BLude- 
gewebszellen,  deren  Fortsätze  mit  den  Gefässwandungen  in  Ver- 
bindung treten.  Grössere  Gefässe  erscheinen  geschlängelt,  die 
Wandungen  verdickt  mit  massenhafter  Kern  Wucherung;  stellenweise 
kommt  es  zur  völligen  Obturation  und  Obliteration.  Einmal  sah  ich 
die  ganze  Hirnrinde  von  unzähligen  kleinen  capülären  Blutungen 
durchsetzt.  Auch  in  der  Grundsubstanz  zeigen  sich  die  Kerne  stark 
vermehrt;  die  Bindegewebszellen  sind  enorm  entwickelt;  namentlich 
findet  man  die  als  Spinnenzellen  bezeichneten,  mit  zahlreichen  Aus- 
läufern versehenen  Formen  in  grosser  Anzahl  und  ungewöhnlicher 
Ausbildung  vertreten.  "Weigert  konnte  mit  Hülfe  seiner  neuen 
Färbung  in  der  Körnerschicht  des  Kleinhirns  eine  hochgradige 
Wucherung  der  Neuroglia  nachweisen. 

lieber  die  Yeränderungen  an  den  Nervenzellen  in  der 
Paralyse  wissen  wir  leider  bisher  noch  wenig  Sicheres.  Es  ist 
zwar  kaum  zweifelhaft,  dass  hier  sehr  schwere  Entartungsvorgänge 
sich  abspielen,  aber  der  genaue  Nachweis  derselben,  die  Deutung 
der  einzelnen  Bilder,  die  Abtrennung  des  wirklich  Krankhaften  von 
einfachen  Kunstproducten,  des  Wesenthchen  vom  Zufälligen  und 
endhch  die  Aufstellung  eines  der  Paralyse  eigenthümhchen  Be- 
fundes erscheint  mir  zur  Zeit  noch  nicht  möglich.  Ich  will  mich 
daher,  bis  die  aussichtsreichen  Forschungen  Nissl's  uns  hier  einen 
gesicherten  Grund  und  Boden  geschaffen  haben,  mit  der  Angabe 
begnügen,  dass  wir  im  paralytischen  Hirn  neben  einzelnen  an- 
scheinend gesunden  eine  grosse  Zahl  krankhaft  veränderter  Zellen 
vorfinden,  deren  auffallendste  Eigenthümhchkeit  in  dem  Zerfall 
der  Chromatinkörperchen  und  der  Anhäufung  von  Pigment  besteht. 

Sehr  hochgradig  pflegen  die  atrophischen  Veränderungen  an  den 
Nervenfasern  zu  sein.  Es  ist  Tuczek's*)  Verdienst,  dieselben 
zuerst  mit  feineren  Methoden  (Exner'sche,  Weigert'sche  Methode) 
genauer  studirt  zu  haben.  Dabei  hat  sich  herausgestellt,  dass  bei 
allen  länger  dauernden  FäEen  von  Paralyse  sowol  die  aus  der 
weissen  Substanz  in  die  Hirnrinde  einstrahlenden  „Radiäi-fasern", 
als  auch  die  in  der  äussersten  Rindenschicht  der  Hirnoberfläche 


*)  Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie  imd  zur  Pathologie  der  Dementia 
paralytica.  1884. 


Pathologische  Anatomie. 


617 


parallel  laniendeu  „zonalen  Eindenfasern"  in  höherem  oder  geringerem 
Grade  ati-ophiren,  so  dass  in  den  spätesten  Stadien  kaum  noch  Ner- 
venfasern in  der  Kinde  nachzuweisen  sind.  Am  stärksten  pflegt 
dieser  Faserschwund  in  den  vorderen  Partien  des  Gehirns  ausge- 
sprochen zu  sein,  doch  lässt  sich  nach  Zach  er 's  Untersuchungen 
eine  gesetzmässige  Beziehung  zwischen  der  Stärke  und  der  Locali- 
sation  der  Yeränderung  nicht  mit  Bestimmtheit  feststellen.  Eben- 
sowenig scheint  ein  durchgehender  Zusammenhang  zwischen  den 
Gefässveränderungen  und  der  Faseratrophie  zu  bestehen,  ja  es  kann 
nicht  mehi'  zweifelhaft  sein,  dass  jene  atrophischen  Yorgänge  gar 
nicht  ausschliesslich  der  Paralyse,  sondern  unter  Umständen  auch 
andern  Psychosen,  namentlich  der  nahe  verwandten  Dementia  senilis, 
sowie  sonstigen,  z.  B.  den  epileptischen  Blödsinnsformen,  zukommen 
können.  Allerdings  dürfte  die  Häufigkeit,  die  Ansdehnung  und  die 
Stärke  jener  Veränderungen  bei  der  Paralyse  eine  weit  grössere 
sein,  als  bei  irgend  einer  anderen  psychischen  Erkrankung. 

Die  Aufdeckung  eines  engeren  Zusammenhanges  der  aufgezählten 
Befunde  mit  dem  besonderen  psychischen  Krankheitsbilde  hat  bisher 
nicht  gelingen  wollen.  Nur  das  Eine  lässt  sich  sagen,  dass  im  All- 
gemeinen die  Ausdehnung  und  Stärke  der  anatomischen  Veränder- 
ungen um  so  grösser  ist,  je  weiter  der  klinische  Verlauf  vorgeschritten 
war.  In  der  ersten  Zeit  der  Erkrankung,  vielleicht  sogar  ziemlich 
lange,  scheinen  die  Störungen  in  der  Hirnrinde  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  der  Eückbildung  fähig  zu  sein  oder  doch  durch  un- 
versehi-te  Elemente  ausgeglichen  werden  zu  können;  sonst  wären 
die  häufigen,  weitgehenden  Besserungen  der  Ejrankheitserscheinungen 
nicht  denkbar.  Zwischen  Oertlichkeit  der  Himerkrankung  und  gewissen 
Symptomen,  den  Sprachstörungen,  der  Worttaubheit,  den  Ejampf- 
erscheinungen,  dürften  die  durch  die  Localisationslehre  geforderten 
allgemeinen  Beziehungen  auch  hier' bestehen  (besondere  Betheiligung 
der  Stirn-,  Schläfen-,  Centraiwindungen).  Freilich  ist  es  aus  naheliegen- 
den Gründen  meist  sehr  schwierig,  solche  Beziehungen  ohne  sehr  ein- 
gehende und  zeitraubende  mikroskopische  Untersuchungen  festzustellen. 

Der  Nachweis  atrophischer  Vorgänge  an  den  nervösen  Elementen 
einerseits,  stärkerer  Wucherungen  des  Bindegewebes  andererseits 
hat  auch  in  der  Pathologie  der  Paralyse  zwei  verschiedenen  Er- 
klärungsversuchen Kaum  gegeben,  von  denen  der  eine  die  inter- 
stitiellen, der  andere  aber  die  parenchymatösen  Veränderungen  als 


618 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


den  Ausgangspunkt  des  ganzen  Krankheitsprocesses  auffasst.  Mir 
persönlich  scheinen  die  Erfahrungen,  welche  man  über  die  multiple 
degenerative  Neuritis  .zu  machen  Gelegenheit  hat,  die  Möglichkeit 
eines  etwa  durch  eine  chronische  Vergiftung  veranlassten  „primären" 
Entartungsvorganges  ohne  ursächliche  Erkrankung  des  interstitiellen 
Gewebes  unzweifelhaft  darzuthun.  Auf  der  anderen  Seite  wird  ja 
die  Yerdichtung  und  Wucherung  des  Bindegewebes  auch  nach  ein- 
fachen secundären  Degenerationen  beobachtet. 

Ausser  jenen  feineren  Yeränderungen  finden  sich  in  der  Rinde 
gelegentlich  noch  kleinere  erweichte  Stellen,  welche  sich  durch  die 
leichte  Ablösbarkeit  der  oberflächlichen  Rindenschichten  oder  auch 
der  ganzen  Rindendecke  von  der  weissen  Substanz  bemerkbar  machen. 
Ausgedehntere  Zerstörungen  in  der  Rinde,  wie  man  sie  insbesondere 
zur  Erklärung  der  paralytischen  Anfälle  vermuthen  soUte,  sind  da- 
gegen sehr  selten;  selbst  bei  einer  viele  Monate  andauernden  Hemi- 
plegie mit  vollständiger  Paraphasie  konnte  ich  einen  bestimmten 
Erweichungsherd  im  Gehirne  nicht  auffinden.  Wir  müssen  daher 
wol  annehmen,  dass  es  sich  bei  den  paralytischen  Anfällen  wesent- 
lich um  Kreislaufsstörungen  oder  umschriebene  Oedeme  handelt, 
welche  wegen  der  Gefässerkrankungen  leicht  zu  Stande  kommen  und 
sich  schwer  wieder  ausgleichen,  andererseits  aber  wegen  der  Yer- 
minderung  der  functionsfähigen  Nervenelemente  rasch  sehr  ernste 
Erscheinungen  herbeiführen  müssen. 

Aehnliche  Yeränderungen,  wie  in  der  Grosshirm-inde ,  finden 
sich  auch  in  den  übrigen  Theüen  des  Gehirns,  wie  das  schon  im 
Hinblicke  auf  die  sehr  bedeutende  Gewichtsabnahme  als  erwiesen 
angesehen  werden  darf.  Die  Markmassen  der  Hemisphären  zeigen 
regelmässig  einen  diffusen  Easerschwund,  der  nur  bisweilen  einzelne 
compacte  Bündel  verschont.  Seltener  sind  zerstreute  Entartungsherde 
oder,  im  Anschlüsse  an  umschriebenere  Rindenläsionen,  strangför- 
mige  Degeneration  bestimmter  Leitungsbahnen.  In  den  grossen 
Ganglien,  namentlich  im  Sehhügel,  und  ebenso  im  Kleinhirn  ist 
ausgedehnter  Easerschwund  nachgeAviesen  worden.  Weigert  glaubt 
auch  aus  den  Güawucherungen  auf  den  Untergang  der  Fortsätze 
der  Purkin je'schen  Zellen  schliessen  zu  dürfen.  Ausserdem  finden 
sich  in  den  Nervenkernen  der  MeduUa  oblongata,  namentlich  iu 
denjenigen  des  Hypogiossus,  ährdiche  Yeränderimgen  der  Ganglien- 
zellen, wie  in  der  Hirnrinde. 


Pathologische  Anatomie. 


619 


Im  Kücken  marke*)  beobachtet  man  ausser  pachymenin- 
gitischen  und  leptomeningitischen  Yeränderungen  namentlich  zwei 
Formen  der  Erkrankung,  nämlich  chronische  Myelitis  der  Hinter- 
seitenstränge mit  reichlicher  Bildung  von  Kömchenzellen,  dann  aber 
graue  Degeneration  der  Hinterstränge,  die  sich  im  Halsmark  bis- 
weilen nur  auf  die  Goll'schen  Sti'änge  beschränkt.  Yereinzelt  finden 
sich  auch  noch  eine  Eeihe  weiterer  Yeränderungen,  zerstreute  De- 
generationsherde, diffuse  Myelitis  u.  s.  f. 

Ob  sich  an  den  peripheren  Nerven  nicht  hie  und  da  Yer- 
änderungen nachweisen  lassen,  ist  erst  wenig**)  untersucht  worden, 
doch  lässt  sich  nach  den  neueren  Befunden  bei  Tabes  und  Ange- 
sichts der  hochgradigen  Muskelatrophie  im  letzten  Stadium  der  Para- 
lyse mit  Sicherheit  erwarten,  dass  auch  hier  Entar tun gs Vorgänge  in 
den  peripheren  Nerven  häufiger  vorkommen.  Die  Befunde  in  den 
übrigen  Organen  (Phthisen,  Pneumonien,  Niereninfarcte)  stehen  zu- 
meist wol  kaum  in  unmittelbarer  Beziehung  zu  dem  paralytischen 
Krankheitsvorgange ;  nur  das  fast  ausnahmslos  beobachtete  Atherom 
der  Aorta  dürfte  als  eine  Theilerscheimmg  der  allgemeinen  Gefäss- 
erkrankung  aufzufassen  sein. 

Die  Dementia  paralytica  ist  eine  sehr  häufige  Krankheit;  im 
Durchschnitte  gehören  etwa  12—13  »/o  aller  Aufnahmen  in  Irren- 
anstalten ihr  an,  doch  ist  dieses  Yerhältniss  ausserordentlichen 
Schwankungen  unterworfen.  Yon  den  beiden  Geschlechtem  ist  das 
männliche  ungefähr  3— 5  mal  so  stark  unter  den  Erkrankten  ver- 
treten, als  das  weibliche;  bei  Frauen  höherer  Stände  ist  die  Krank- 
heit überaus  selten.  Die  relative  Häufigkeit  der  weibhchen  Para- 
lyse, namentlich  in  grossen  Städten,  scheint  allmählich  etwas  zuzu- 
nehmen. Unter  den  Altersklassen  überwiegen  diejenigen  zwischen 
dem  35.— 40.  (30.— 45.)  Lebensjahre;  auch  das  Klimakterium  scheint 
von  Einfluss  zu  sein.  In  den  ersten  beiden  Lebensjahrzehnten  kommt 
die  Paralyse  kaum  jemals,  im  dritten  noch  immer  recht  selten  vor, 
doch  scheint  in  neuester  Zeit  die  Paralyse  jüngere  Lebensalter  häu- 
figer zu  befallen;  Strümpell  sah  dieselbe  sogar  bei  einem  dreizehn- 
jährigen Mädchen,  in  Yerbindung  mit  Tabes  und  hereditärer  Syphilis. 

*)  Westphal,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XX,  XXI;  Virchows  Ax-chiv, 
XXXIX;  Archiv  f.  Psychiatrie,  I,  XH. 

**)  Ho  che,  Beiträge  zur  Kenntniss  des  anatomischen  Verhaltens  der  mensch- 
lichen Eückenmarks  wurzeln.  1891. 


620 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


Ledige  Personen  scheinen  mehr  disponirt  zu  sein,  als  Verheirathete ; 
jugendliche  weibliche  Paralysen  sind  auffallend  häufig  Prostituirte. 
Nicht  ganz  selten  beobachtet  man,  dass  zwei  Ehegatten  gleichzeitig 
oder  kurz  nach  einander  paralytisch  werden.  Grosse  Städte  hefern 
einen  sehr  bedeutend  höheren  Procentsatz  von  Paralytikern,  als  die 
Landbevölkerung.  Unter  den  Berufsarten  sind  Officiere,  Kaufleute, 
Feuer arbeiter,  Eisenbahnbeamte  verhältnissmässig  zahlreich  vertreten. 
Der  Einfluss  der  erblichen  Anlage  tritt  hier  gegenüber  den  sonstigen 
Oeistesstörungen  mehr  in  den  Hintergrund. 

Unter  den  Ursachen  der  Paralyse  haben  wir  in  allererster 
Linie  der  Syphilis  zu  gedenken.  Dieselbe  findet  sich -auffallend 
täufig  in  der  Yergangenheit  der  Paralytiker,  wenn  sich  auch  gegen- 
wärtige syphilitische  Krankheitserscheinungen  nur  verhältnissmässig 
selten  nachweisen  lassen.  Damit  stimmt  die  Erfahrung  überein,  dass 
«s  anscheinend  vorzugsweise  leichte  syphilitische  Erkrankungen  sind, 
welchen  ein  ursächlicher  Zusammenhang  mit  der  Paralyse  zukommt, 
und  dass  andererseits  regelmässig  eine  längere  Keihe  von  Jahren 
zwischen  der  Ansteckung  und  dem  Auftreten  der  Paralyse  zu  hegen 
pflegt.  Ueber  die  Häufigkeit,  mit  welcher  die  Syphilis  als  Tor- 
gängerin  der  Paralyse  beobachtet  wird,  gehen  die  Angaben  sehr 
weit  auseinander  (11 — 77  ^/o).  Eieger  hat  festgestellt,  dass  Jemand, 
der  syphilitisch  inficirt  war,  im  Allgemeinen  16 — 17 mal  so  stark 
für  die  Paralyse  prädisponirt  ist,  als  der  Nicht-Syphiütische.  Jeden- 
falls steht  der  Zusammenhang  zwischen  Syphilis  und  Paralyse  über 
allem  Zweifel  fest;  auch  manche  Punkte  der  oben  angefühi'ten  all- 
gemeinen Prädisposition,  insbesondere  die  Seltenheit  der  Paralyse 
bei  Frauen  der  besseren  Stände,  ihre  Häufigkeit  bei  Officieren, 
Kaufleuten,  Prostituirten,  das  Vorkommen  paralytischer  Ehepaai-e, 
sind  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  in  dieser  Richtung  zu  deuten. 
Sehr  auffallend  ist  es  freüich,  dass  die  Mehrzahl  gerade  der  franzö- 
sischen Irrenärzte  die  ursächliche  Bedeutung  der  Syphüis  für  die 
Paralyse  leugnet  und  statt  dessen  den  Alkoholmissbrauch  in  den 
Yordergrund  stellt.  Unsere  Erfahrungen  in  Deutschland  führen  nach 
beiden  Richtungen  zu  durchaus  anderen  Ergebnissen. 

Es  hat  daher  in  älterer  wie  in  neuerer  Zeit  auch  nicht  an 
Forschern  gefehlt,  welche  die  Paralyse,  ebenso  wie  die  ihr  offenbar 
nahe  verwandte  Tabes,  einfach  als  syphilitische  Erki-ankung  des  cen- 
tralen Nervensystems  auffassen  zu  können  glaubten.  Strümpell 


Aetiologie. 


621 


hat  die  Paralyse  in  Parallele  mit  ^den  diphtherischen  Lähmungen 
gestellt,  indem  er  annahm,  dass  dort,  wie  hier,  durch  den  organi- 
sirten  Infectionsti-äger,  also  bei  der  Paralyse  den  Syphilisbacillus, 
nach  Ablauf  der  ersten  Periode  der  Krankheit  ein  chemisches  Gift 
erzeugt  werde,  welches  nun  in  eigenthümlicher  Weise  auf  die  ver- 
schiedenen Abschnitte  des  Nervensystems  zerstörend  einzuwirken  im 
Stande  sei.  Möbius  spricht  in  ähnlichem  Sinne  geradezu  von  einer 
„MetasyphiEs".  Es  muss  zunächst  dahingestellt  bleiben,  ob  diese 
Auffassung  wenigstens  für  diejenigen  Fälle  zutreffend  ist,  in  denen 
wirklich  Syphilis  vorausgegangen  ist,  doch  erscheint  es  möglich, 
vielleicht  einmal  gerade  diese  ätiologische  Gruppe  als  eine  besondere 
Form  innerhalb  des  grossen  Kahmens  der  Paralyse  sich  abgrenzen 
zu  sehen,  so  wenig  sich  auch  bis  heute  unterscheidende  Merkmale 
derselben  herausfinden  lassen.  Auf  der  anderen  Seite  aber  muss 
mit  Entschiedenheit  betont  werden,  dass  die  Zahl  jener  Paralytiker, 
bei  denen  sich  keine  frühere  Syphilis  nachweisen  lässt,  doch  immer- 
hin noch  viel  zu  gross  ist,  als  dass  es  sich  hier  bei  diesen  letzteren 
um  ein  einfaches  IJebersehen  oder  Verleugnen  jener  Krankheit  handeln 
könnte.  Für  die  unbefangene  Betrachtung  ergiebt  sich  daher  heute 
noch  der  Standpunkt,  dass  wir  in  der  SyphiHs  zwar  eine  sehr  wichtige, 
aber  eben  doch  nur  eine  von  den  Ursachen  der  Paralyse  zu  sehen 
haben. 

Von  sonstigen  Schädlichkeiten,  denen  man  für  die  Entstehung 
der  Paralyse  eine  gewisse  Kolle  zuzuschreiben  pflegt,  sind  auf  kör- 
perlichem Gebiete  der  Alkoholismus,  Insolation,  Wärmebestrahlung 
des  Kopfes  und  Kopfverletzungen  zu  nennen.  An  diese  letzteren 
schliesst  sich  die  Erkrankung  in  einzelnen  Fällen  ziemüch  bald  an; 
in  anderen  tritt  sie  erst  nach  mehreren  Jahren  hervor,  so  dass  man 
mehr  eine  vorbereitende  Wirkung  des  Traumas  anzunehmen  hat.  Der 
Alkoholmissbrauch  ist  nach  meinen  Erfahrungen  zweifellos  weit 
häufiger  Folge,  als  Ursache  der  Paralyse.  Manche  andere  Emflüsse, 
körperüche  Erkrankungen,  das  Wochenbett,  können  wol  nur  die  Ent- 
wicklung der  Krankheit  beschleunigen.  Ebenso  scheinen  psychische 
Schädlichkeiten  im  Ganzen  mehr  den  letzten  Anstoss  zum  Ausbruche 
der  Störung  auf  bereits  vorbereitetem  Boden  abzugeben.  Immerhin 
soU  nicht  geleugnet  werden,  dass  eine  sehr  verantwortimgsvolle,  mit 
heftigen  Gemüthsschwankungen  verbundene  Thätigkeit,  andauernde 
Unruhe  und  Aufregung  vielleicht  auch  zu  den  unmittelbaren  Krank- 


€22 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


heitsursachen  gerechnet  werden  ^ürfen.  "Wenigstens  sehen  wir,  dass 
der  Krieg  mit  seiner  Anspannung  der  gesammten  psychischen  Leist- 
ungs-  und  "Widerstandsfähigkeit,  das  Börsenspiel,  Excesse,  der  auf- 
reibende Kampf  ums  Dasein  ia  dem  lebhaften  Getriebe  der  grossen 
Städte  regelmässig  zahlreiche  Opfer  fordert.  Einfache  Yerstandes- 
arbeit  dagegen,  und  sei  sie  noch  so  anstrengend  an  sich,  führt 
schwerlich  zur  Paralyse,  höchstens  zur  Neurasthenie. 

Als  gemeinsames  Element  scheint  allen  jenen  Ursachen,  soweit 
wir  das  heute  übersehen  können,  die  schwächende  Einwirkung  auf 
die  Muscularis  der  Arterienwand  zuzukommen,  sei  dieselbe  durch 
eine  Vergiftung,  sei  sie  durch  häufige  und  ausgiebige  Caliber- 
schwankungen  bedingt.  Gerade  die  Erschlaffung  der  Muscularis 
aber  giebt,  wie  Thoma  nachgewiesen  hat,  den  regelmässigen  Anlass 
zur  Entstehung  endarteriitischer  Erkrankungen,  wie  wir  sie  im  para- 
lytischen Gehirn  so  häufig  beobachten.  Es  muss  indessen  fraglich 
erscheinen,  ob  wir  demnach  die  Entartung  des  Nervengewebes  bei 
Paralytikern  etwa  einfach  auf  eine  Störung  der  Hirnernährung  in 
Eolge  von  Gefässerkrankungen  auffassen  können,  da  öfters  die  Ent- 
wickelung  beider  Störungen  in  entschiedenem  Missverhältnisse  steht. 
Möglicherweise  ist  der  feinere  Zusammenhang  der  Dinge  in  ver- 
schiedenen Fällen  ein  wesentlich  verschiedener.  Die  klinischen  Krank- 
heitsbüder,  die  wir  heute  unter  dem  Sammelnamen  der  Paralyse  zu 
Tereinigen  pflegen,  werden  durch  die  anatomische  Untersuchung 
vielleicht  dereinst  in  eine  Keihe  einzelner  Formen  auseinanderge- 
trennt, deren  gemeinsame  Eigenthümlichkeit  nui-  in  der  allmählichen 
Yernichtung  des  centralen  Nervengewebes  besteht. 

Die  Erkennung  der  Paralyse  ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben 
des  Irrenarztes,  weil  von  ihr  fast  immer  sehr  einschneidende  Mass- 
regeln, namentlich  auch  wirthschaftlicher  Natur  (Entmündigung, 
Auflösung  von  Geschäften),  abhängig  sind.  Wo  deutiiche  körperliche 
Störungen  vorhanden  sind,  wird  im  Allgemeinen  die  Aufdeckung 
der  Krankheit  keine  Schwierigkeiten  bieten.  Wir  sind  aber  that- 
sächlich  sehr  häufig  in  der  Lage,  die  Diagnose  der  Paralyse  aus- 
schliesslich oder  wesentlich  aus  dem  psychischen  Zustande  stellen 
zu  müssen.  Einzelne  Fehlgriffe  sind  dabei  unausbleiblich,  doch  ist 
im  Allgemeinen  die  Zuverlässigkeit  auch  dieser  Merkmale  eine  recht 
grosse.  In  den  ersten  Zeiten  der  Krankheit  ist  die  Abgrenzung  der 
Paralyse  von  neurasthenischen  Zuständen  bisweilen  ebenso  schwierig. 


Diagnose. 


623 


wie  durch  die  Sachlage  dringend  gefordert.  Der  wichtigste  Anhalts- 
punkt wii-d  liier  immer  in  dem  Nachweise  der  Schwäche  auf  in- 
tellectuellem  und  gemüthlichem  Gebiete  liegen,  in  der  Stumpfheit, 
der  eigenthümlichen  Urtheilslosigkeit,  dem  Mangel  an  wirklich  klarer 
Einsicht  in  die  eigentlichen  Krankheitserscheinungen  gegenüber  dem 
Affecte,  dem  ungetrübten  Verstände  und  der  peinlichen  Selbstprüfung 
des  Neurasthenischen.  Dazu  kommt  die  kaum  bemerkte,  aber  sehr 
auffallende  Unzuverlässigkeit  der  Erinnerung  auf  der  einen  und  die 
objectiv  ganz  unbegründet  erscheinenden  Klagen  über  Abnahme  des 
Gedächtnisses  auf  der  anderen  Seite.  Endlich  kommt  natürlich  der 
Nachweis  greifbarer  nervöser  Störungen  in  Betracht,  von  denen  je- 
doch auf  leichte  Sehwindelanfälle,  auf  gelegentliches  Stottern,  Zittern 
der  Zunge  und  eine  massige  Steigerung  der  Sehnenreflexe  kein  all- 
zu grosses  diagnostisches  Gewicht  gelegt  werden  darf.  In  einzelnen 
Fällen  klärt  hier  ein  unzweifelhafter  paralytischer  Anfall  mit 
Sprachstörung  plötzlich  die. Sachlage;  bisweilen  jedoch  vermag  erst 
der  weitere  Yerlaui  die  Diagnose  zu  sichern. 

Die  depressiven  Zustände  der  Paralytiker  können  nicht  allzu 
selten  zur  Yerwechselung  mit  melancholischen  Erkrankungen  oder 
depressivem  Wahnsinn  Anlass  geben,  vor  Allem  natürlich  dann,  wenn, 
wie  so  häufig,  die  nervösen  Störungen  erst  in  einer  späteren  Periode 
der  Krankheit  hervortreten.  Bei  Männern  zwischen  dem  30.  und 
50.  Lebensjahre  wird  man  die  Möglichkeit  einer  Paralyse  immer  im 
Auge  behalten  müssen;  wahrscheinüch  wird  diese  letztere,  wenn 
sehr  intensive  Kopf  Symptome,  auffallend  tiefe  Benommenheit  oder 
einzelne  leichtere  nervöse  Erscheinungen  vorhanden  sind,  wenn  die 
Intelligenzstörung  eine  ungewöhnliche  TJrtiieilslosigkeit  und  Zerfahren- 
heit, der  Affect  eine  gewisse  Schwächlichkeit  aufweist.  Auch  sehr 
rasche  Besserung  der  Niedergeschlagenheit,  plötzlicher  Umschlag  in 
gehobene,  überschwängliche  oder  gar  heitere  Stinunung,  sowie  das 
unvermittelte  Auftauchen  einzelner  Grössenideen  sind  sehr  ver- 
dächtig. 

Dem  gegenüber  sind  die  expansiven  Stadien  der  Paralyse  durch 
ihre  rasche  Entstehungsweise,  durch  die  Ungeheuerlichkeit,  Zusam- 
menhangslosigkeit  und  Beeinflussbarkeit  des  Grössenwahns,  sowie 
durch  die  begleitende  Gedächtnissschwäche,  die  auf  die  letzten  Tage 
zurückgehenden  Erinnerungsfälschungen  und  die  nervösen  Symptome 
zumeist  so  gut  gekennzeichnet,  dass  ihre  Diagnose  sehr  bald  klar 


624 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


ZU  sein  pflegt.  Gewisse  leichtere  Erregungszustände  der  Paralytiker 
mit  Erhaltung  der  Besonnenheit  können  periodisch  manischen  oder, 
beim  Auftreten  depressiver  Zeiten,  circulären  Erkrankungen  sehr  ähn- 
lich sein.  Das  höhere  Lebensalter  und  die  Anzeichen  der  Schwäche 
auf  dem  Gebiete  des  Yerstandes  und  des  Gedächtnisses,  die  Neigung, 
zu  fabuliren  und  Luftschlösser  zu  bauen,  sprechen  für  Paralyse. 

Ganz  besondere  Schwierigkeiten  kann  die  Abgrenzung  gegen- 
über der  Dementia  senüis,  den  disseminirten  Herderkrankungen  und 
manchen  Formen  des  Alkoholismus  bieten.  Für  die  erstere  spricht 
hohes  Alter,  sehr  langsamer  "Verlauf  der  Erkrankung,  Dürftigkeit 
der  Wahnideen,  sowie  geringere  Entwickelung  der  motorischen  Stör- 
ungen, die  sich  auf  einfache  Lähmungen  und  Paresen  zu  beschränken 
pflegen.  Die  Diagnose  einer  syphilitischen  Herderkrankung  oder 
der  multiplen  Sklerose  gründet  sich  auf  das  meist  jugendlichere 
Lebensalter  und  den  Nachweis  von  Herdsymptomen,  bei  ersterer 
besonders  an  den  Augenmuskelnerven,  Diffuse  Erkrankungen  der 
Hirnrinde  vermögen  wir  heute  von  der  Paralyse  nicht  mit  Sicher- 
heit zu  unterscheiden.  Alle  meine  Bemühungen,  besondere  klinische 
Merkmale  an  denjenigen  Fällen  herauszufinden,  in  denen  deutliche 
Zeichen  verbreiteter  Syphilis  vorhanden  waren,  sind  bisher  vergeb- 
lich gewesen.  Bei  den  hierher  gehörigen  alkoholischen  Psychosen 
ist  bisweilen  das  starke  Hervortreten  von  Sinnestäuschungen,  ein 
grösserer  Zusammenhang  des  Yorstellungsverlaufes  und  geringere 
Ausbildung  der  Sprachstörungen  zur  Abgrenzung  von  der  Dementia 
paralytica  zu  verwerthen;  in  einzelnen  Fällen  sichert  erst  der  günstige 
weitere  Yerlauf  die  Diagnose. 

Bei  der  Behandlung  der  Paralyse  hat  man  in  erster  Linie 
häufig  genug  die  Ursache  der  Krankheit  dadurch  zu  beseitigen  ge- 
sucht, dass  man  mit  kräftigen  antisyphilitischen  Massnahmen  gegen 
die  Kranken  vorging.  Die  Erfahrung  lehrt  indessen  regelmässig, 
dass  hier  noch  weniger,  als  bei  der  Tabes,  durch  Quecksilber  oder 
Jodkalium  zweifellose  Heilerfolge  erzielt  werden.  Nachlässe  der 
Krankheit  kommen  allerdings  ebenso,  wie  bei  jeder  anderen  Be- 
handlungsart, namentlich  unter  dem  Einflüsse  der  Anstaltsruhe,  nicht 
selten  vor.  Auf  der  anderen  Seite  habe  ich  in  einer  Eeihe  von  Fällen, 
in  denen  Syphilis  sicher  voraufgegangen  und  zum  Theil  noch  in 
frischen  Anzeichen  vorhanden  war,  im  unmittelbaren  Ansclilusse  an 
eine  Schmiercur  raschen  Yerfall  der  Kräfte  und  plötzliches  Auftreten 


Behandlung. 


625 


schwerer  Aufregungszustände  beobachtet.  Ich  kann  daher  in  üeber- 
einstünmung  mit  der  Mehrzahl  der  Irrenärzte  einstweilen  nur  rathen, 
sich  im  Allgemeinen  mit  der  Darreichung  von  Jodkalium  oder  zu- 
nächst überhaupt  mit  symptomatischer  Behandlung  der  Paralyse 
zu  begnügen. 

Das  wichtigste  Erforderniss  einer  solchen  ist  in  der  ersten  Zeit 
vor  Allem  Euhe,  Entfernung  des  Erkrankten  aus  den  gewohnten 
Yerhältnissen  und  Beschäftigungen,  sowie  eine  sorgfältige  körperliche 
imd  geistige  Diätetik.  Aufgeregte  Patienten  und  solche  mit  Selbst- 
mordneigung gehören  unbedingt  in  eine  Anstalt,  um  sie  und  ihre 
Umgebung  vor  den  Folgen  ihrer  Handlungen  zu  schützen;  ruhige 
und  lenkbare  Kranke  in  besseren  Yermögensverhältnissen  können, 
soweit  eine  sachverständige  Behandlung  und  Ueberwachung  mög- 
lich ist,  auch  in  privater  Pflege  erhalten  werden.  Zu  vermeiden 
sind  jedoch  besuchte  Badeorte  mit  ihren  vielfachen  Zerstreuungen 
und  Aufreg-ungen,  anstrengende  Reisen,  alle  schwächenden  Mass- 
regeln, angreifende  Hunger-,  Kaltwasser-,  Badecuren  u.  s.  f.  Eine 
sehr  gewöhnliche  Erfahrung  ist  rasche  Verschlechterung  des  All- 
gemeinzustandes  und  plötzlicher  Ausbruch  tobsüctitiger  Erregung  in 
Folge  von  Kaltwassermisshandlung.  Ausser  der  Euhe  ist  Sorge  f  ür 
kräftige  Ernährung,  ßegelung  der  Verdauung,  Bewegung  in  frischer 
Luft,  Vermeidung  von  Alkoholicis,  von  Tabak,  Kaffee,  Thee  von 
Wichtigkeit;  auch  eine  ganz  milde,  gut  überwachte  hydropathische 
Behandlung  (Abreibungen,  laue  Bäder,  Einwickelimgen;  keine  Douche, 
keine  Ueber-  und  üntergüsse!)  kann  gute  Dienste  leisten. 

Die  Aufregungszustände  der  Paralytiker  sind  nur  in 
geringem  Grade  der  medicamentösen  Behandlung  zugänglich.  Sehr 
häufig  hilft  indessen  schon  cüe  Versetzung  in  eine  ruhige  Umgebung, 
die  Bettruhe  oder  vorübergehende  Isolirung,  sowie  die  Ablenkung 
durch  ein  freundliches  und  geschicktes,  der  Stimmung  des  Krauken 
angepasstes  Entgegenkommen.  Im  Nothfalle  kann  zum  Sulfonal  oder 
Trional  gegriffen  werden.  Gegenüber  der  EiTegung  in  der  galop- 
pirenden  Paralyse  und  ebenso  bei  den  schweren  Angstzuständen 
mancher  Kranker  pflegen  alle  Mittel  zu  versagen.  Auch  Bäder  und 
Einwickelungen  sind  wegen  des  hochgradigen  Widerstrebens  der 
Kranken  häufig  nicht  durchzuführen.  Wenn  man  auf  anderem  Wege 
nichts  erreicht,  würde  ich,  da  die  Kranken  meist  auch  keine  Nahr- 
ung zu  sich  nehmen,  ein  bis  zwei  Mal  täglich  die  Sondenftttterung 

Kraepolin,  Psychiatrie    4.  Aufl.  ^0 


626 


XI.  Die  Dementia  paralytica. 


empfehlen,  unter  Zusatz  von  je  50 — 60  gr  Alkohol  oder  von  1  gr 
Sulfonal.  Im  Uebrigen  wird  man  sich  auf  beständige  Ueberwachung, 
Schutz  der  Kranken  vor  Yerletzungen,  sorgfältige  Behandlung  der 
entstehenden  Hautabschüifiingen  u.  s.  w.  beschränken  müssen. 

Die  meiste  Sorgfalt  erfordert  die  Behandlung  der  Paralytiker 
im  letzten,  bettlägerigen  Stadium  und  besonders  in  den  An- 
fällen. Schon  vorher  ist  es  vielfach  nothwendig,  sorgfältig  auf  die 
Reinhaltung  der  Kranken  zu  achten  und  die  Nahrungsaufnahme  zu 
überwachen,  wegen  des  mangelhaften  Kauens  nur  gut  zerkleinerte, 
leicht  verdauliche  Speisen  einzuführen  und  das  gierige  Schlingen 
durch  vorsichtiges  Eingeben  zu  verhindern,  da  sonst  leicht  tödtliche 
Erstickungsanfälle  vorkommen.  Im  Anfalle  und  bei  sehr  erschöpften, 
blödsinnigen  Kranken  ist  vor  Allem  der  Entstehung  von  Decubitus 
vorzubeugen.  Dieser  Aufgabe  dienen  peinhchste  Reinlichkeit,  häufige 
Waschungen  der  gefährdeten  Theile  mit  kaltem  Wasser  oder  einer 
spirituösen  Sublimatlösung,  sorgfältige  Beseitigung  aller  Falten,  Brod- 
krumen u.  dergl.  aus  dem  Bette,  die  Anwendung  von  Wasser-  oder 
Luftkissen  oder  die  Lagerung  auf  feine  Holzwolle  oder  Mooswatte, 
welche  rasch  jede  Yerunreinigung  aufsaugen.  Endlich  aber  ist  ein 
regelmässiger,  durch  Wärterhände  bewirkter  Wechsel  der  Lage  noth- 
wendig, so  dass  der  Kranke  (in  schweren  Fällen  alle  ^/g  Stunde  Tag 
und  Nacht)  von  einer  Seite  auf  die  andere ,  auf  den  Rücken,  den 
Bauch  u.  s.  f.  herumgedreht  wird.  Diese  von  v.  Grudden  einge- 
führte Massregel,  welche  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  der 
Entstehung  von  „hypostatischen"  Pneumonien  entgegenarbeitet,  er- 
möglicht es,  den  sonst  für  unvermeidlich  gehaltenen  Decubitus  von 
den  Paralytikern  (10  "/q  derselben  sollen  daran  zu  Grunde  gehen) 
fast  ganz  fernzuhalten  und  jedenfalls  gefahrdrohende  Formen  des- 
selben vollständig  zu  verhüten.  Weit  schwieriger  ist  es,  den  ein- 
mal entstandenen  Decubitus  wieder  zur  Heilung  zu  bringen,  zumal 
der  Kranke  durch  seine  Unruhe  und  Abreissen  des  Yerbandes  die- 
selbe oft  sehr  erschwert.  Eine  regelrechte  chirurgische  Behandlung 
hat  mich  bei  rechtzeitigem  Einschreiten  dennoch  stets  zum  Ziele 
geführt,  wo  eine  Nachlässigkeit  des  Wartpersonals  die  Vorbeugung 
verabsäumt  und  (in  wenigen  Stunden!)  das  üebel  herbeigeführt  hatte. 
In  sehr  schweren  Fällen  habe  ich  auch  mit  befriedigendem  Erfolge 
mehrere  Tage  und  selbst  Wochen  laug  das  dauernde  Wasserbad  in 
Anwendung  gezogen. 


Bohandlnng. 


627 


Die  Entieerung  des  Mastdarms  und  der  Blase  bedarf  im  para- 
lytischen Anfalle  gewöhnlich  nur  anfangs  einer  Nachhülfe  durch 
Eingiessung  resp.  Einführung  des  (sorgfältigst  gereinigten  und  des- 
inficirten!)  Katheters;  später  vollzieht  sie  sich  regelmässig  von  selbst, 
wenn  man  nicht  durch  zu  langes  Warten  üoberfüUung  und  dadurch 
Lähmung  beider  Organe  hat  entstehen  lassen,  die  dann  zu  dauernder 
Kunsthülfe  zwingt. .  Auch  ausserhalb  des  Anfalles  sind  übrigens 
'diese  beiden  Punkte  wol  zu  beachten,  wenn  nicht  anhaltendes  Urin- 
träufeln und  Schlussunfähigkeit  des  Mastdarms  entstehen  soU.  Ich 
habe  bei  einem  Paralytiker,  der  bereits  2  Jahre  lang  katheterisirt 
worden  war,  nach  2  mal  täglich  wiederholten  Blasenausspülungen 
(Tanninlösung)  in  Zeit  von  4  Wochen  die  spontane  Entleerung  sich 
wiederherstellen  und  dann  auch  in  einem  13  Tage  dauernden  para- 
lytischen Anfalle  nicht  versagen  sehen.  Bei  demselben  Kranken 
entstand  trotz  andauernden  tiefsten  Komas  und  fast  völliger  Puls- 
losigkeit unter  der  oben  erwähnten  Behandlung  bis  zum  Tode  keine 
Spur  von  Decubitus.  Die  Ernährung  hat  im  Anfalle  stets  durch  die 
Sonde  zu  geschehen  (nui-  bei  mehrtägigen  Anfällen  nöthig);  blosses 
Eingiessen  in  den  Mund  ist  im  höchsten  Grade  gefährlich.  Sorgt 
man  dann  noch  für  häufige  Reinigung  und  Desinfection  des  Mundes 
durch  Auswischen  mit  einem  feuchten  Läppchen  (Kali  chloricum) 
und  für  Feuchterhaltung  der  Hornhaut  durch  regelmässiges  (alle  Va 
Stunde)  Bewegen  der  meist  halbgeöffneten  Augenlider  (Vermeidung 
von  ülcerationen),  so  kann  es  gelingen,  die  Kranken  noch  nach 
8—14  Tagen  aus  dem  paralytischen  Anfalle  sich  erholen  zu  sehen 


40* 


XII.  Die  erworbenen  Scliwäcliezustände. 


Gegenüber  den  bisher  besprochenen  Formen  psychischer  Störung, 
in  denen  wir  die  mannichfachsten  Symptome  auf  den  einzelnen 
Gebieten  des  Seelenlebens  sich  mit  einander  mischen  sehen,  haben 
wir  nunmehr  einiger  Krankheitsbilder  zu  gedenken,  deren  wesent- 
lichen Grundzug  die  Erscheinungen  der  erworbenen  psychischen 
Schwäche  bilden.  Da  dieselben  regelmässig  das  Ergebniss  eines 
bestimmten  Krankheitsvorganges  darstellen,  so  lassen  sich  neben  ihnen 
mehr  oder  weniger  deutlich  vielfach  noch  Eeste  des  früheren 
gesunden  Lebens  oder  voraufgegangener  Störungen  er- 
kennen. Bisweilen  bildet  auch  der  eigenartige  erworbene  Schwäche- 
zustand die  Grundlage  mehr  vorübergehender  Schwankungen  des 
psychischen  Gleichgewichtes.  Wahrscheinlich  handelt  es  sich  hier 
überall  um  gröbere  oder  feinere  organische  Yeränderungen  im  Him- 
gewebe.  Eine  ganze  Reihe  der  eigentlich  hierher  gehörigen  Zustände, 
den  epileptischen,  alkohohschen,  hebephrenischen  Schwachsinn,  die 
Endstadien  der  Paralyse,  haben  wir  schon  früher  bei  anderem  An- 
lasse zu  berühren  Gelegenheit  gehabt;  an  dieser  Stelle  bleibt  uns 
hauptsächlich  noch  übrig,  auf  die  Dementia  senilis  und  den 
Schwachsinn  bei  organischen  Hirnerkrankungen  einen  Blick 
zu  werfen. 

A.  Die  Dementia  senilis.*) 

Schon  in  der  allgemeinen  Aetiologie  des  Irreseins  sind  in 
grossen  Umrissen  die  "Wandlungen  geschildert  worden,  welche  die 
psychische  Persönlichkeit  im  Alter  regelmässig  zu  erleiden  pflegt. 


*)  Türstner,  Archiv  f.  Psychiatrie  XX,  2. 


Dementia  senilis. 


629 


In  ihrer  stärksten  Ausprägung  führen  diese  Veränderungen  zum 
Krankheitsbilde  des  Altersblödsinns.  Die  ersten  Anzeichen  desselben 
zeigen  sich  in  der  Kegel  nicht  vor  dem  Beginne  der  60  er  Jahre, 
doch  stellt  sich  bei  schon  ursprünglich  schwach  veranlagten  oder 
durch  aufreibende  Lebenserfahrungen  und  schwere  Ueberarbeitung 
„vorbrauchten"  Individuen  bisweilen  schon  erheblich  früher,  selbst 
bereits  gegen  Ende  des  5.  Lebensjahrzehnts,  ein  vorzeitiges  geistiges 
und  körperliches  Greisenthum  heraus  (Senium  praecox). 

In  der  Eegel  ist  es  zunächst  eine  gewisse  Vergesslichkeit, 
welche  an  dem  Kranken  auffällt.    Zwar  die  Erinnerung  an  längst 
entschwundene  Tage  haftet  noch  fest,  ja  einzelne  Erlebnisse  aus 
früher  Kindheit  tauchen  nicht  selten  mit  erstaunlicher  Lebhaftigkeit 
wieder  auf,  um  in  weitschweifiger  Breite  immer  von  Neuem  vor- 
gebracht zu  werden.   Allein  das  Gedächtniss  für  die  jüngste  Ver- 
gangenheit beginnt  immer  zahlreichere  und  unbegreiflichere  Lücken 
aufzuweisen.   Die  Gegenwart  geht  fast  spurlos,  ohne  zu  haften,  an 
dem  Kranken  vorüber;  sie  ist  schon  nach  kurzer  Zeit  völlig  ver- 
gessen, weil  sie  sein  Interesse  nicht  zu  erregen  vermag  und  darum 
nur  dimkel  und  unklar  erfasst  wird.    Ganz  ähnlich,  wie  in  der 
Paralyse,  kann  auch  hier  die  Lücke  wirklicher  Erinnerungen  durch 
allerlei  Erdichtungen  ausgefüllt  werden,  deren  subjective  Entstehung 
dem  Kranken  rasch  entschwindet.  Halberiebtes  und  fi-ei  Erfundenes 
mischt  sich  derart  zu  höchst  unzuveriässigen  Erzählimgen,  dass  der 
Wahrheitskern  oft  äusserst  schwierig  oder  gar  nicht  sich  heraus- 
schälen lässt.  Der  Kranke  vergisst,  was  er  gestern,  vorgestern  gethan 
hat,  erzählt  im  Laufe  einer  Unterhaltung  dieselben  altbekannten 
Geschichten  zum  zweiten  Male,  ohne  es  zu  bemerken,  veriiTt  sich 
in  seiner  neuen  Wohnung,  weiss  sich  auf  die  Namen  alter  Bekannter 
nicht  zu  besinnen  und  verwechselt  die  Personen  seiner  Umgebung- 
Auf  dem  Gebiete  des  Verstandes  zeigt  sich  die  Verblödung  vor 
Allem  in  der  Unfähigkeit  des  Greises,  neue  Erfahrungen  in  sich 
aufzunehmen  und  zu  verwerthen.    Die  Anpassungsfähigkeit  und 
Bewegüchkeit  des  Denkens  ist  dahin;  das  altgewohnte  Spiel  erstarrter 
Vorstellungsverbindungen  erhält  sich  noch  in  stetem  Kreislaufe,  aber 
es  ist  keiner  weiteren  EntAvickelung  mehr  fähig,  keiner  Anregung 
von  aussen  mehr  zugänglich.    Bei  dem  fortschreitenden  Versagen 
des  Gedächtnisses,  dem  kein  neuer  Erwerb  gegenübersteht,  kommt 
es  rasch  zu  einer  Verarmimg  des  Vorstellungsschatzes,  deren  Folge 


630 


Xn.  Die  erworbenen  Schwächezuetände. 


uns  in  der  ausserordentlichen  Dürftigkeit  und  Einförmigkeit  des 
Gedankeniuhaltes  entgegentritt.  Die  geistige  Verarbeitung  äusserer 
Eindrücke,  die  Bildung  von  Urtheilen  und  Schlüssen,  die  kritische 
Sichtung  und  Prüfung  aufsteigender  Vorstellungsreihon  wird  immer 
ungenügender  und  unsicherer.  Daraus  erklärt  sich  der  völlige 
Mangel  an  Verständniss  für  fremde  Anschauungen  und  Verhältnisse, 
die  Unbeugsamkeit  seniler  Vorurtheile  und  die  geringe  Wideretands- 
fähigkeit  gegenüber  den  hier  sehr  häufig  sich  einstellenden  Wahn- 
ideen. Meist  pflegen  sich  diese  letzteren  im  Bahmen  übertriebener 
Krankheitsfurcht,  unsinnigen  Misstrauens  oder  kindischer  Selbst- 
überschätzung zu  halten. 

Auch  im  Gemüthsleben  macht  sich  eine  gewisse  Verödung 
geltend.  Der  Eianke  wird  stumpf  und  theilnahmlos.  Seine  Em- 
pfänglichkeit für  die  Leiden,  aber  auch  für  die  Freuden  des  Daseins 
erlischt.  In  den  Vordergrund  des  Interesses  tiitt  mein-  und  mehr 
das  eigene  Ich  und  die  Befriedigung  der  persönlichen  Bedürfnisse 
und  Launen.  Das  körperliche  Wohlbefinden,  das  Essen  und  Trinken, 
die  Verdauung,  der  Schlaf,  der  Tabak  gewinnen  eine  ganz  besondere 
Wichtigkeit.  Verlust  der  nächsten  Angehörigen  und  ähnliche  Schick- 
salsschläge  gehen  rasch  und  spurlos  vorüber.  Die  Familie,  der  Beruf, 
seine  Lieblingsbeschäftigung  wird  dem  Kranken  gleichgültig.  Nicht 
selten  scheint  die  geistige  und  gemüthhche  Abstimipfung  mehr  oder 
weniger  klar  von  ihm  empfunden  zu  Averden.  Er  klagt,  dass  er 
zu  nichts  mehr  nütz  ist,  an  nichts  mehr  Freude  habe,  dass  es  mit 
ihm  aus  und  vorbei  sei.  Dabei  nimmt  die  augenblickliche  Er- 
regbarkeit häufig  zu.  Der  Kranke  Avird  rücksichtslos,  eigenwillig, 
rechthaberisch,  durch  jeden  Widerspruch  gereizt  und  beleidigt. 
Dennoch  sind  die  Schwankungen  der  Stimmung  oberflächlich  und 
ohne  Nachhaltigkeit;  weinselige  Rührung,  läppische  Freude,  kläg- 
liches Verzagen  werden  dui'ch  die  geringfügigsten  Anlässe  hervor- 
gerufen, um  ebenso  rasch  wieder  zu  verschwinden.  Der  Geschlechts- 
trieb ist  vielfach  gesteigert  und  äussert  sich  in  schamlosen  Heden, 
stutzerhafter  Kleidung,  zotigen  Aufschneidereien,  Heirath  splänen,  aber 
auch  in  unzüchtigen  Handlungen,  namentlich  an  Kindern,  füi-  deren 
strafrechtliche  Bedeutung  dem  geschwächten  Verstände  die  klare 
Einsicht  mangelt. 

Nicht  selten  gesellt  sich  zu  diesen  Störungen  eine  auffallende 
Unruhe  und  Geschäftigkeit.    Die  Kranken  beginnen,  gegen  ihre 


Deinontia  senilis. 


631 


Gewohnheit  ein  ausschweifendes  Leben  zu  führen,  laufen  zwecklos 
herum,  machen  unsinnige  Einkäufe  nrid  Pläne,  sammeln  allen  mög- 
lichen Plunder  bei  sich  an,  schwatzen  viel  dm-cli einander  und- ge- 
rathon durcli  ihr  unvernünftiges  Treiben  in  manniclifache  Schwierig- 
keiten. Auch  in  der  Nacht  finden  sie  keine  Ruhe,  sondern  führen 
durch  vielfaches  Aufstehen,  Herumwandern  im  Hause,  Kramen  in 
alten  Scharteken,  unvorsichtiges  Hantii-en  mit  Licht  allerlei  Störungen 
und  selbst  ernste  Gefahren  herbei.  Am  Tage  sind  die  Kranken  dann 
müde  und  schläfiig,  nicken  mitten  im  Gespräche  oder  bei  der  Mahl- 
zeit ein. 

Die   körperlichen    Begleiterscheinungen    der  Dementia 
senilis  sind  ausser  der  regelmässigen  Störung  des  Schlafes  ein  sehr 
beträchtlicher  Eückgang  des  allgemeinen  Kräf tezustandes,  ge- 
wöhnlich auch  eine  Abnahme  des  Appetits.    Die  abgemagerten 
Kranken  sehen  mit  ihren  gerunzelten  Zügen  und  der  fahlen  Gesichts- 
farbe meist  noch  älter  aus,  als  sie  wirklich  sind;  ihre  Muscijjatur  ist 
schwach,  die  Körperkräfte  sind  gering.  Dazu  können  sich  eine  Reihe  von 
Erscheinungengesellen,  welche  auf  leichtere  oder  tiefere  Veränderungen 
in  der  Hii-nernährung  hindeuten.   Sehr  häufig  sind  Schwindelanfälle 
mit  vorübergehenden  oder  dauernden  aphasischen  Erscheinungen; 
bisweilen   sah  ich  geistige  Störungen,  namentlich  Aufi-egungszu- 
stände,  sich  unmittelbar  daran  anschliessen.  Ferner  beobachtet  man 
Hemiparesen  des  Gesichtes,  der  Zunge,  der  Extremitäten;  endlich 
liegt  die  Gefahr  wii-klicher  Apoplexien  und  Hemiplegien  hier  überaU 
ausserordentlich  nahe.    An  den  geschlängelten,  rigiden  Arterien,  an 
dem  harten,  aber  kleinen  und  verlangsamten,  ni^ht  selten  imi'egel- 
mässigen  Pulse  lassen  sich  oft  schon  im  Leben  die  Zeichen  der 
arteriosklerotischen  Veränderungen  erkennen,  welchen  wir  wol  nicht 
mit  Unrecht  die  wichtigste  Eolle  in  der  Entstehungsgeschichte  der 
Dementia  senilis  zuschreiben  dürfen. 

Auf  der  allgemeinen  Grundlage  des  Altersschwachsinns  können 
sich  eine  Reihe  von  Krankheitsbildern  entwickeln,  in  deren  klinischer 
Gestaltung  mehr  oder  weniger  deutlich  der  Einfluss  der  allgemeinen 
psychischen  Rückbüdung  zum  Ausdracke  kommt.  "Wir  sehen  dabei 
ganz  ab  von  denjenigen  Störungen,  die  in  jedem  und  somit  auch  in 
iiohem  Alter  eintreten  können,  wenn  auch  eine  gewisse  Färbung 
derselben  durch  die  Greisenveränderungen  sich  häufig  genug  be- 
obachten lässt.    Die  überwiegende  Mehrzahl  der  eigentüch  senilen 


632 


Xn.  Die  erworbenen  Schwächezustände. 


Geisteskrankheiten  sind  Depressionszustände.  In  ihnen  haben 
wir  vielleicht  eine  krankhafte  Steigerung  des  schon  im  gesunden 
Greisenalter  so  häufig  sich  entwickelnden  Gefühles  der  Avachsenden 
Unfähigkeit  und  Unzulänglichkeit  vor  uns,  im  Gegensatze  zum  über- 
quellenden Ki-aftbevrusstsein  der  Jugendjahre. 

In  einer  ersten  Gruppe  von  Fällen  trägt  die  psychische  Yer- 
stimmung  wesentlich  hypochondrische  Züge.  Sie  schliesst  sicli 
häufig  an  körperliche  Beschwerden,  Verdauungsstörungen,  die  Influenza, 
einen  Magenkatarrh  an.  Die  &anken  werden  besorgt  für  ihre 
Gesundheit,  fürchten  schwer  krank  zu  sein,  nicht  mehr  gesund  zu 
werden,  bald  sterben  zu  müssen.  Sie  fühlen  sich  sehr  schwach, 
„durch  und  durch  caput",  können  nichts  mehr  essen,  nichts  mehr 
verdauen,  haben  keinen  Stuhlgang.  Oft  gewinnen  diese  Torstellungen 
einen  ganz  abenteuerlichen  Inhalt.'  In  allen  Gliedern  steckt  Eiter 
und  geht  massenweise  mit  dem  Stuhlgang  ab,  wird  beim  Eäuspern 
ausgeworfen.  Unter  der  Haut  liegen  Würmer  imd  krabbeln;  die 
Haut  ist  über  die  Achseln  zu  eng;  der  Kranke  hat  auf  der  Brust 
das  Panzergefühl.  Es  ist  aus  mit  ihm;  er  ist  todt,  syi)hilitisch, 
innerlich  verfault,  wird  das  ganze  Kivankenhaus  anstecken,  hat  keine 
Augen  mehr,  kann  nicht  sitzen,  keinen  Schritt  gehen,  nicht  mehr 
athmen,  nicht  die  Hand  geben. 

Die  Stimmung  ist  dabei  meist  auffallend  gleichgültig.  Zeit- 
weise aber  kommt  es  zu  heftigen  Erregungsausbrüchen,  stunden- 
langem Jammern,  Stöhnen,  Herumwälzen,  lautem  Schreien  und  selbst 
zu  Gewaltthätigkeiten  gegen  die  Umgebimg.  Widerspruch  gegen 
die  hypochondrischen  Ideen  pflegt  zu  gereiztem  Schimpfen  zu  fühi-en. 
Selbstmordneigung  ist  sehi-  häufig.  Höchst  eigenthümlich  ist  das 
unvermittelte  Eintreten  völliger  Beruhigung  nach  stürmischer  Auf- 
regung; bisweilen  steUt  sich  vorübergehend  heitere  Stimmung  mit 
dem  Gefühle  völliger  Gesundheit  ein. 

Meist  sind  die  Kranken  unruhig  imd  unstet,  schlafen  schlecht, 
stehen  Nachts  auf,  irren  planlos  herum,  laufen  zu  den  verschiedensten 
Aerzten,  treiben  unsinnige  Quacksalbereien.  Der  Appetit  ist  ge- 
wöhnlich gut,  auch  wenn  die  Kranken  behaupten,  keinen  Bissen  zu 
sich  nehmen  zu  können;  „dies  ist  der  letzte",  meinte  einer  meiner 
Kranken  jedesmal,  wenn  man  ihn  auf  diesen  Widerspruch  Mnwies. 
In  einzelnen  lallen  beginnt  diese  Erkrankung  schon  in  den  Rück- 
bildungsjahren und  erinnert  dann  an  gewisse  Formen  der  Hysterie, 


Dementia  senilis. 


638 


von  denen  sie  sich  aber  dnrch  die  grosse  Einförmigkeit  der  hypo- 
chondrischen Bescliwerden  unterscheidet.  Gelegentlich  sieht  man 
dabei  nach  Längerer  Dauer  zunächst  einen  Naclilass  der  Krankheits- 
erscheinungen, die  jedoch  später,  beim  Eintritte  des  wirklichen 
Greisonalters,  in  verstärktem  Masse  wiederzukehren  pflegen. 

Bei  weitem  am  häufigsten  ähneln  die  senilen  Psychosen  melan- 
cholischen Zuständen.  Von  den  typischen  Melancholien  des  fünften 
Lebensjahrzehnts  führen  fortlanfende  üebergänge  zu  denjenigen 
Formen  hinüber,  welche  durchaus  dem  Gebiete  des  Altersblödsinns 
angehören.  Die  Kranken  werden  ängsthch,  unruhig,  schlaflos, 
menschenscheu  und  beginnen  Versündigungsideen  zu  äussern. 
Sie  haben  einen  Fehler  gemacht,  etwas  Schlechtes  begangen,  eine 
schwere  Schuld  auf  sich  geladen,  ohne  recht  zu  wissen,  welche. 
Sie  sollen  über  den  Kaiser  räsonnirt  haben;  sie  haben  ihre  Familie 
ins  Unglück  gestürzt,  nicht  recht  gelebt,  sind  verdammt,  auf  ewig 
verloren,  können  nicht  mehr  sehg  werden,  kommen  in  die  Hölle. 
Der  Teufel  wird  sie  holen;  sie  werden  verhaftet,  bestraft,  vor  Gericht 
gestellt,  im  Hemde  zum  Hause  hinausgejagt,  hingerichtet,  geköpft,  ver- 
brannt, müssen  zum  Schrecken  und  Abscheu  aller  Menschen  auf  der 
Welt  ewig  herumirren.  Nicht  selten  vertheidigen  sich  die  Kranken 
gegen  vermeintliche  Anklagen,  sie  hätten  das  Vaterland  nicht  ver- 
rathen,  ihr  Kind  doch  nicht  umgebracht,  nichts  gestohlen..  An  alle 
Handlungen  und  Wahrnehmungen  schliessen  sich  oft  die  Ver- 
sündigungsideen an.  Sie  sind  Schuld,  dass  die  Andern  so  jammern, 
fortgebracht  werden.  Alle  müssen  hungern,  wenn  sie  essen.  „Was 
ich  mache,  ist  verkehrt;  ich  muss  immer  Alles  wieder  zurücknehmen, 
was  ich  rede".  Man  soll  sie  daher  nur  in  den  Neckar  werfen,  nackt 
in  den  Wald  hinauslaufen  lassen,  am  besten,  wenn  es  recht  schneit 
und  friert. 

Sehr  vielfach  treten  ganz  besonders  die  Verfolgungsideen 
in  den  Vordergrund.  Sie  pflegen  sich  zunächst  an  das  bekannte 
Misstrauen  der  Greise  anzuknüpfen.  Die  Kranken  fiüilen  sich  vor 
ihrer  Umgebung  nicht  sicher.  Man  ist  ihnen  feindlich  gesinnt, 
bestiehlt  sie,  giebt  ihnen  Gift  ins  Essen,  will  ihnen  den  Zwangs- 
kittel anziehen,  sie  prügeln,  zu  fi-emden  Leuten  thun,  ihnen  den 
Bauch  aufschneiden  und  die  Därme  herausnehmen;  „die  Wärter 
freuen  sich  schon  darauf".  Der  Arzt  ist  gar  kein  Arzt,  ist  ein 
Mörder,  wird  den  Kranken  vergiften  und  nach  seinem  Tode  aus- 


634 


XII.  Die  erworbonon  Scbwächezustäiule. 


sprengen,  er  habe  den  Kaiser  umgebracht.  Man  hat  ihn  in  ein 
schlechtes  Haus  gebracht,  ihm  Menschonüeisch,*  das  Fleisch  seiner 
Kinder  zu  essen  gegeben,  ein  ganzes  Buch  über  ihn  geschrieben; 
es  geschieht  allerhand,  was  nicht  recht  ist.  Auch  die  Angehörigen 
müssen  leiden,  werden  gemartert;  „sie  werden  doch  hoffentlich  noch 
daheim  sein?"  In  einzelnen  Fällen  werden  sog.  „nihilistische"  Wahn- 
ideen beobachtet.  Es  ist  kein  Geld  mehr  da;  Alles  ist  todt,  Alles 
kommt  fort;  der  Kranke  ist  allein  auf  der  Welt,  hat  kein  Nachtlager 
mehr,  ist  gar  nichts  mehr;  es  wird  überhaupt  nicht  mehr  Nacht. 
„Wenn  mein  Heimathsort  noch  existirt",  sagte  mir  eine  Kranke, 
„möchte  ich  wol  gern  noch  einmal  hin".  Alles  kommt  dem  Kranken 
verändert  vor;  es  ist  nichts  mehr  wie  früher.  Einer  meiner  Kranken 
hielt  die  Sonne  für  künstliche  elektrische  Beleuchtung  und  beklagte 
sich  über  die  Schwäche  seiner  Augen,  weil  er  die  eigentüche  Sonne 
(in  der  Nacht)  nicht  sehen  könne.  In  der  Nacht,  im  Traume  wird 
dem  Kranken  eingegeben,  wie  schrecklich  es  zu  Hause  aussieht, 
dass  Alles  dort  zerstört  und  verschwunden  ist.  Bisweilen  gesellt 
sich  dazu  die  Yorstellung  häufiger  Ortsveränderung.  „Ich  bin  wieder 
angekommen",  sagte  eine  Kranke  bei  jeder  Visite,  da  sie  meinte,  sie 
werde  immer  fortgeführt,  sei  jede  Stunde  an  einem  anderen  Ort. 

Andeutungen  sexueller  Wahnideen  sind  nicht  selten.  Die  soeben 
erwähnte,  65jährige  Kranke  beklagte  sich  über  unsitthche  Angriffe, 
glaubte,  in  die  Wochen  gekommen  zu  sein;  eine  andere  im  gleichen 
Alter  wähnte  sich  fortwährend  den  Nachstellungen  alter  Junggesellen 
ausgesetzt,  die  sich  zu  ihr  ins  Bett  legten.  Yielfach  halten  weibliche 
Kranke  ihre  Mitpatientinnen  für  verkleidete  Männer.  Ein  älterer 
Herr  wurde  seiner  Meinung  nach  gegen  seinen  Willen  allnächtlich 
in  Bordells  herumgeschleppt,  um  dort  syphilitisch  gemacht  zu  werden. 
Endhch  kommt  es  in  einzelnen  Fällen,  namentlich  bei  vorgeschrittener 
geistiger  Schwäche,  auch  zur  Entväckelung  dürftiger  Grössenideen. 
Der  Arzt  ist  der  Grossherzog,  die  Oberin  Frau  Grossherzogin;  die 
Kranke  ist  eine  Fürstin,  verlangt  fürstliches  Essen. 

Deutliche  Sinnestäuschungen  sind  in  diesen  senilen  De- 
pressionszuständen  meist  nicht  nachzuweisen.  Nur  hie  und  da 
scheinen  einmal  Gehörstäuschungen  vorzukommen;  es  ist  so  ein 
„Getöse";  „es  wird  soviel  daher  geredet".  Noch  seltener  sind  Ge- 
sichtstäuschungen.- Eine  meiner  Kranken  gab  an,  in  der  Zunge  zu 
fühlen,  dass  sie  immerfort  unverantwortliche  Sachen  schwätze.  Da- 


Dementia  senilis. 


635 


gegen  sind  illusionäre  Wahrnehmungen  vorschiodenster  Art,  nament- 
lich auch  Personenverkonnungen,  recht  häufig.  Abgeselieu  von  den 
Fällen  mit  einfachem  Versündigungswahn  pflegt  die  Oriontirung 
über  Zeit  und  Ort  erheblich  gestört  zu  sein. 

Die  Stimmung  ist  regelmässig  eine  niedergeschlagene,  klein- 
müthige,  weit  seltener  zornig  und  reizbar.  Vielfach  kommt  es  zu  sehr 
hartnäckigen  und  heftigen  Angstzuständen.  Die  Kranken  bleiben  nicht 
im  Bett,  irren  jammernd  und  stöhnend  herum,  entblössen  ihre  Geni- 
talien, knieen,  flehen  um  Gnade,  drängen  sinnlos  hinaus,  verkriechen 
sich,  zupfen  an  Bettstücken,  Kleidern,  Fingern,  Ohrläppchen,  Haaren, 
widersti'eben  allen  Einwirkungen  auf  das  Aeusserste,  klammern  sich  an 
Vorübergehende  an,  reissen  andere  Kranke  aus  dem  Bett,  machen 
planlose  Angriffe,  lassen  vor  Angst  unter  sich  gehen.  Fast  ausnahmslos 
besteht  entschiedene  Selbstmordneigung,  in  voller  Uebereinstimmung 
mit  der  statistischen  Erfahrung,  dass  auch  in  der  gesunden  Be- 
völkerung die  Intensität  des  Selbstmordes  mit  Avachsendem  Lebens- 
alter stetig  zunimmt.  Freilich  führen  die  Selbstmordversuche  hier 
vielfach  nicht  zum  Ziele,  Aveil  die  Kranken  unüberlegt  und  kopflos 
zu  Werke  gehen.  Der  Schlaf  ist  meist  sehr  gestört,  ebenso  der 
Appetit.  Nicht  selten  kommt  es  zu  hartnäckiger  Nahrungsverweigerung; 
das  Körpergewicht  pflegt  sehr  beträchtlich  zu  sinken. 

Der  Aveitere  Verlauf  dieser  Erkrankungen  gestaltet  sich  ver- 
schieden. Bei  den  leichteren  Formen  mit  einfachen  Versündigimgs- 
ideen,  welche  wir  mehr  bei  geistig  und  körperlich  rüstigeren  Per- 
sonen beobachten,  können  sich  die  Krankheitserscheinungen  nach 
vielen  Monaten  allmählich  wieder  verlieren,  so  dass  es  zu  einer  Art 
Genesung  kommt.  Gleichwol  pflegt  auch  hier  ein  gewisser  Grad 
geistiger  SchAväche  und  eine  grosse  Neigung  zur  Wiederkehr  gemüth- 
licher  Verstimmungen  regelmässig  zurückzubleiben.  Die  Fälle  mit 
tiefergreifender  Störung  der  Besonnenheit  und  dauernden  Angst- 
zuständen verlaufen  gewöhnlich  ungünstiger.  Die  Wahnideen  schAvinden 
allmählich;  die  Angst  lässt  nach  oder  tritt  doch  nur  anfallsAveise 
noch  stärker  hervor,  aber  die  Kranken  werden  blöde,  verworren, 
stumpf  und  lassen  nur  noch  in  einzelnen  Aeusserungen  oder  Hand- 
lungen die  spärlichen  Beste  des  abgelaufenen  Krankheitsvorganges 
erkennen.  Meist  ist  die  Verblödung,  die  natürlich  sein-  verschieden 
hohen  Grades  sein  kann,  im  Laufe  von  1 — 2  Jahren  erreicht.  Der 
körperliche  Zustand  pflegt  sich  dabei  langsam  zu  bessern.  Endlich 


636 


XII.  Die  erworbenen  SchwächezAistände. 


gehou  eine  ganze  Anzahl  von  Kranken  an  Entkräftimg  in.  Folge  der 
Nahrungsverweigerung  nnd  Unruhe,  an  Pneumonien  und  auch  an 
Phthise  zu  Grunde. 

Weit  seltener,  als  die  bisher  beschriebenen,  entstehen  manische 
Krankheitsbilder  im  Greisenalter.  Die  leichtesten  Formen  derselben 
können  sich  im  Eahmen  einer  Hypomanie  mit  den  deutlichen  Zeiclien 
geistiger  Schwäche  halten.  Die  Kranken  werden  schlaflos,  reizbar, 
auffallend  heiter,  unstät,  geschwätzig,  ideenflüchtig,  putzen  sich, 
führen  obscöne  Eeden,  wollen  heirathen,  machen  unsinnige  Aus- 
gaben und  sind  durch  ihre  planlose  Unruhe  äusserst  störend  für 
ihre  Umgebung,  bisweilen  sogar  gewaltthätig.  Häufig  zeigen  sich 
auch  wirkliche  Wahnideen  und  die  Neigung  zum  Fabuliren.  Der 
Kranke  ist  von  Adel,  besitzt  Millionen;  Gott  gehorcht  ihm  auf  den 
leisesten  Wink.  Gestern  hat  er  beim  Kaiser  gespeist,  im  Ki'iege  ein 
ganzes  Eegiment  eigenhändig  umgebracht,  fabelhafte  Reisen  unter- 
nommen und  Abenteuer  erlebt,  deren  Einzelheiten  sich  durch  Gegen- 
fragen leicht  beeinflussen  lassen. 

Das  Bewusstsein  und  die  Orientirung  kann  dabei  ziemlich 
klar  sein.  Der  Kranke  erkennt  die  Personen,  weiss,  avo  er  sich 
befindet,  hält  sich  aber  für  ganz  gesund  und  verlangt  täglich  mit 
naiver  Freimdlichkeit  seinen  „Austrittsschein",  da  seine  Frau  ihm 
gestern  geschrieben  habe,  dass  er  zu  Hause  sehr  nöthig  sei.  Bis- 
weilen schlägt  die  Stimmung  ohne  äusseren  Grund  plötzlich  in 
Traurigkeit  oder  Angst  um.  Der  Kranke  weint,  weil  Niemand  so 
vom  Schicksal  verfolgt  sei,  wie  er,  weil  man  ihn  bestohlen  habe, 
weil  er  seine  Angehörigen  nicht  mehr  sehe,  macht  auch  vielleicht 
unvermuthet  einen  Selbstmordversuch,  um  wenige  Stunden  später 
wieder  in  der  alten  Weise  zu  witzeln,  seine  Gesundheit  zu  loben 
und  mit  seinem  Vermögen  zu  prahlen. 

Die  Dauer  dieser  Zustände  kann  sich  ohne  wesentliche  Ver- 
änderung über  Jahr  und  Tag  hin  erstrecken.  Dann  kommt  es  unter 
Zunahme  des  Schwachsinns  meist  allmählich  zu  einer  gewissen  Be- 
ruhigung. Im  Laufe  der  Zeit  verarmt  der  Vorstellungsschatz  schliess- 
lich bis  auf  einige  wenige,  völlig  stereotype  und  oft  ganz  siimlose 
Wendungen,  die  bei  jeder  Frage 'mit  freundlich-stupidem  Lächeln 
vorgebracht  und  auch  sonst  unzählige  Male  wiederholt  werden. 
Die  Kranken  haben  nun  keine  Ahnung  mehr  davon,  wo  sie  sich 
befinden,  vermögen  sich  nicht  mehr  allein  an-  und  auszukleiden. 


Dementia  senilis. 


637 


sind  zu  den  einfachsten  Verrichtungen  unfähig,  hülflos  und  unrein, 
dabei  aber  meist  lenksam  und  gutmüthig  heiter.  Hie  und  da  zeigt 
sich  als  Residuum  früherer  Erregung  auch  wol  noch  die  Neigung 
zum  Zerstören  und  namentlich  zum  Schmieren  und  Sammeln;  die 
Ki-anken  kriechen  und  wischen  am  Boden  herum,  wühlen  ihre 
Bettstücke  durcheinander,  werfen  Kusshände,  tanzen  und  springen 
in  läppischer  Ausgelassenheit  durch  das  Zimmer. 

Wir  haben  endlich  noch  kurz  der  deliriösen  Aufregungs- 
zustände  des  Greisenalters  zu  gedenken.  Die  Kranken  werden  unter 
starker  Trübung  des  Bewusstseins  rasch  völlig  verwirrt,  halluciniren, 
sprechen  ganz  zusammenhangslos  und  gerathen  in  eine  äusserst 
hochgradige  Erregung  hinein,  welche  binnen  Kurzem  für  sie  ver- 
hängnissvoll  werden  kann.  Aus  ihren  kaum  verständlichen  Reden 
entnimmt  man,  dass  sie  sich  vergiftet,  verhext  glauben,  dass  der 
Teufel  vor  der  Thüre  steht,  Leute  mit  Beilen,  Pistolen  und  Messern 
hereindringen,  dass  ein  Schaffet  gezimmert  wird.  Die  Umgebung 
wird  vollständig  verkannt.  Die  Stimmung  ist  meist  ängstlich,  vor- 
übergehend aber  auch  heiter  und  vergnügt.  Die  Kranken  sind  un- 
ruhig, nahezu  schlaflos,  drängen  fort,  rütteln  an  den  Thüren,  schlagen 
die  Fenster  entzwei,  schreien  laut,  rufen  um  Hülfe,  verkriechen  sich, 
rutschen  am  Boden  herum,  zerreissen,  wischen,  schmieren,  wälzen 
und  rollen  sich,  widerstreben  sinnlos,  verweigern  die  Nahrung. 

Der  Verlauf  dieser  Formen,  welche  eine  gewisse  Aehnlichkeit 
mit  der  Amentia  und  dem  Collapsdelirium  darbieten  können,  zeigt 
fast  regelmässig  Schwankungen,  plötzliche  Nachlässe  mit  mehr  oder 
weniger  vollständiger  Rückkehr  der  Besonnenheit.  Bei  einer  68  jährigen 
Kranken  sah  ich  mehrmals  monatelange  Beruhigungen  eintreten,  so 
dass  eine  Art  periodischen  Verlaufes  zu  Stande  kam.  Meist  jedoch 
dauern  die  Nachlässe  nur  Tage  oder  Stunden.  Die  Aufregung  kann 
nach  einigen  Tagen  ziemlich  rasch  schwinden,  um  dann  einem 
schwachsinnig-ängstlichen  oder  rührseügen,  sich  langsam  ausgleichen- 
den Nachstadium  Platz  zu  machen.  In  anderen  Fällen  dauert  sie 
Monate  lang,  mit  dem  Ausgang  in  bleibende,  mehr  oder  weniger 
ausgeprägte  geistige  Schwäche.'  Sehr  vielfach  erfolgt  auf  der  Höhe 
der  Erregung  in  Folge  von  Erschöpfung,  Schluckpneumonien  oder 
zufälligen  Erkrankungen  und  Verletzungen  der  Tod. 

Die  pathologische  Anatomie  des  Altersblödsinns  zeigt  uns 
in  schwereren  Fällen  makroskopisch,  wie  mikroskopisch  deutliche 


638 


XII.  Die  erworbenen  öchwächezustände. 


Atropliio  der  Nervensubstanz.  Das  Hirngewicht  ist  verringert; 
das  Volumen  bat  abgenommen  (compensatorische  Schädelverdickungen 
und  bydropische  Serumansammlungen);  die  Windungen  sind  ver- 
schmälert. Die  Ganglienzellen  erscheinen  in  verschiedener  "Weise 
entartet  (fettig,  pigmentös,  verkalkt) ;  ebenso  lässt  sich  ein  mehr  oder 
weniger  ausgedehnter  Schwund  der  Fasermassen  nachweisen.  Ausser- 
dem trifft  man  gelegentlich  auf  Erweichungsherde  und  Blutungen 
in  Einde  und  Marklager;  pachymeningitische  Erkrankungen,  nament- 
lich Hämatome,  sind  verhältnissmässig  häufig. 

Der  unmerkliche  üeb  ergang  der  ausgeprägten  Formen  des 
Altersblödsinns  in  die  gewöhnlichen  psychischen  Yeränderungen  des 
Seniums  macht  eine  scharfe  Abgrenzung  derselben  von  der  Norm 
unmöghch.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  ist  daher  die  Kennzeich- 
nung des  Krankhaften  hier  vollkommen  willkürlich,  wenn  auch  das 
Auftreten  von  Wahnideen  und  stärkeren  Erregungszuständen  natürhch 
an  der  Ueberschreitung  der  Gesundheitsbreite  keinen  Zweifel  mehr 
zulässt.  Andererseits  gehen  die  senilen  Geistesstörungen  auch  ganz 
allmählich  in  diejenigen  der  Rückbildungsjahre  über,  in  denen  sich 
ja  gewissermassen  die  Einleitung  des  Greisenalters  vollzieht.  Immer- 
hin scheinen  die  einfachen  Depressionszustände  und  der  depressive 
Wahnsinn  mehr  dem  früheren  Lebensalter  anzugehören,  während 
die  ausgeprägt  hypochondrischen,  die  ängstlichen  und  namentlich 
die  deMriösen  und  manischen  Formen  erst  später  aufzutreten  pflegen. 
Zudem  ist  die  Prognose  dort  überall  erhebUch  günstiger,  als  hier. 
Praktisch  kaum  weniger  schwierig,  obgleich  theoretisch  leichter,  kann 
sich  in  einzelnen  FäUen  die  Unterscheidung  zwischen  der  Dementia 
senilis  und  der  Paralyse,  namentlich  den  dementen  Formen  derselben, 
gestalten.  Beruhen  doch  beide  auf  anatomischen  Yeränderungen, 
welche,  soweit  wir  heute  sehen,  sehr  viele  Aehnhchkeit  mit  einander 
darbieten.  Wie  schon  früher  angedeutet,  ist  es  namentiich  das  höhere 
Alter  der  Kranken,  der  Mangel  der  charakteristischen  Sprach-  und 
Schriftstörungen,  der  Eückenmarkserscheinungen,  das  häufigere  Her- 
vortreten Avirkhcher  Herdsymptome,  endlich  auch  der  langsamere 
Verlauf  und  die  geringere  Productivität  in  den  Wahnideen,  welche 
für  die  Abtrennung  der  Dementia  senilis  verwerthet  werden  können. 

Die  Behandlung  der  Krankheit  hat  naturgemäss  meist  nur 
einen  sehr  engen  Spielraum.  Sorgsame  körperliche  Pflege  und  Ueber- 
wachung  der  oft  gebrechlichen  und  schlecht  genährten  Kranken,  Be- 


Schwachsinu  bei  organischen  Hirnerkrankungen. 


639 


kämpfimg  der  Schlaflosigkeit  durch  Urethan  oder  Sulfonal,  der  Angst 
durch  vorsichtige  Darreichung  von  Morphium  oder  Opium  (Pulvis 
Doveri),  zuweilen  auch  passend  durch  Spiritiiosen  (abendliches  Bier) 
und  diätetische  Massregeln  ist  so  ziemlich  Alles,  was  geschehen  kann. 
In  den  deliriöson  Aufregimgszuständen  ist  häufiger  die  Anwendung 
dos  Polsterbettes,  verlängerter  Bäder,  sowie  Sondenfütterung  (mit 
Alkohol)  nothAvendig.  Andererseits  ist  bei  den  ruhigen  Schwachsinns- 
formen sehr  häufig  die  Anstaltsbehandlung  unnöthig  und  unter  günst- 
igen häuslichen  Verhältoissen  dui'ch  die  familiäre  Verpflegung  voll- 
ständig zu  ersetzen. 

B.  Der  Schwachsinn  bei  organischen  Hirnerkranknngen. 

In  ähnlicher  Weise,  wie  bei  der  Paralyse,  sehen  wir  auch  bei 
dem  an  sonstige  organische  Himerkrankungen  sich  anschliessenden 
Schwachsinn  psychische  Störungen  mit  nervösen  ßeizungs- 
oder  Ausfallserscheinungen  sich  verbinden.  Die  besondere 
Gestaltung  der  klinischen  Ki-ankheitsbüder  ist  dabei  wesentlich  durch 
die  Ausdehnung,  den  Sitz  und  die  Art  des  Hirnleidens  bedingt. 
"Wir  werden  unter  diesem  Gesichtspunkte  vor  Allem  diffuse 
und  örtlich  begrenzte  Erkrankungen  auseinander  zu  halten 
haben. 

Eine  ■  erste .  Gruppe  von  Störungen,  welche  sich  uns  hier  dar- 
bietet, sind  die  ausgebreiteten,  über  einen  grösseren  Kindenbezirk 
sich  erstreckenden  Hirnerkrankungen.  Vielleicht  ist  es  gerade  auf 
diesem  Gebiete  der  Zukunft  vorbehalten,  uns  noch  eine  Anzahl  ver- 
schiedener Krankheitsvorgänge  von  einander  unterscheiden  zu  lehren, 
die  wir  jetzt  unter  dem  Sammelnamen  des  „fortschreitenden  Blöd- 
sinns mit  Lähmung",  der  Dementia  paralytica,  zusammenwerfen. 
Ein  Anfang  in  dieser  Eichtling  ist  bereits  gemacht  mit  der  besonders 
von  P  ürstner*)  und  seinen  Schülern  näher  studirten  „Gliose 
der  Hirnrinde",  vorwiegend  tumorartigen,  multiplen  Gliawucher- 
ungen  in  den  oberflächhchen  Rindenschichten  mit  Höhlenbildung 
und  Schwund  der  nervösen  Elemente.  Die  Krankheit  entwickelt  sicli 
überaus  chronisch,  bei  Individuen,  welche  schon  von  Jugend  auf 
einzelne,  als  Initialsymptome  zu  deutende  Störungen  (Krämpfe,  Imbe- 


*)  Fürstnor  und  Stüblingcr,  Archiv  für  Psychiatrie,  XVII.  1. 


640 


XII.  Die  erworbenen  Schwächezustände. 


cillität,  Reizbarkeit)  dargeboten  haben;  später  stellt  sich  dann  eine 
fortschreitende  Demenz  ein,  mit  Gedächtnissschwäche,  Sprachstörung, 
Opticusatrophie  und  häufig  auch  tabischen  Symptomen. 

In  einer  gewissen  Verwandtschaft  zu  dieser  Form  steht  vielleicht 
auch  jener  Krankheitsprocess,  den  man  als  diffuse  Hirnsklerose 
bezeichnet,  eine  ausgedehnte  Vermehrung  des  Bindegewebes  in  einer 
oder  in  beiden  Hemisphären,  die  ebenfalls  mit  allmählich  fortschreiten- 
dem Schwachsinn  und  mannichfachen  centralen  Ausfalls-  und  Reizungs- 
erscheinungen einhergeht,  Hemiplegien,  Krampfanfällen,  Steigerung 
der  Patellarreflexe  und  Spasmen  in  den  Beinen.  Endhch  hat 
Homen*)  ein  eigenthümliches,  bei  mehreren  Geschwistern  beobach- 
tetes Ki-ankheitsbild  als  vermuthliche  Erscheinungsform  der  Lues 
hereditaria  tarda  beschrieben,  welches  klinisch  der  dementen  Form 
der  Paralyse  ähnelt.  Das  Leiden  beginnt  im  jugendlicheren  Lebens- 
alter mit  Schwindel,  Kopfschmerzen,  Unsicherheit  des  Ganges  und 
fortschreitender  Abnahme  des  Gedächtnisses  und  der  Intelligenz. 
Dazu  gesellen  sich  später  Verlangsamung  und  Erschwerung  des 
Sprechens,  Spasmen,  Contracturen,  Incontinenz,  Schluckstörungen, 
leichter  Tremor  und  bisweilen  auch  Krämpfe,  während  die  geistige 
Schwäche  bis  zu  den  höchsten  Graden  fortschreitet.  Der  Tod  erfolgte 
nach  einer  Reihe  von  Jahren.  Die  anatomische  Untersuchung  ergab 
vor  Allem  sehr  ausgedehnte  endarterütische  Gefässerkrankungen, 
ferner  Faseratrophie,  namentlich  im  Stirnhirn,  sovsäe  leichte  Ver- 
änderungen an  den  PyramidenzeUen  und  geringe  NeurogHawucherung. 

Bei  der  multiplen  Sklerose  gestaltet  sich  die  Stärke  und 
Ausdehnung  der  psychischen  Erscheinungen  je  nach  der  Locahsation 
und  Grösse  der  einzelnen  Herde  sehr  verschieden.  "Wo  überhaupt 
das  Gehirn  in  beträchtlicherem  Masse  betheiligt  ist,  sehen  wir  in  der 
Regel  einen  einfachen,  fortschi-eitenden  Schwachsinn,  Abnahme  der 
Intelligenz  und  des  Gedächtnisses  ohne  Verwirrtheit  oder  Aufregung, 
sowie  allmählich  zunehmende  Stumpfheit  und  Energielosigkeit  sich 
entwickeln.  Unter  Umständen  können  derartige  Kranke  grosse  Aehn- 
lichkeit  mit  dementen  Paralytikern  darbieten;  die  Beachtung  der 
mehr  auf  einzelne  Herde  hinweisenden  nervösen  Symptome,  eventuell 
auch  der  scandirenden  Sprache,  des  Intentionszitterns,  Nystagmus, 
sowie  der  Mangel  jener  eigenai-tigen,  tiefereu  Bewusstseinstrübung, 


*)  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXIV,  1. 


Schvvachsimi  bei  ürf^'aiiisclien  Hirnerkrankungen.  641 

welche  den  Paralytiker  auszeichnet,  ermöglichen  jedoch  fast  immer 
die  Diagnose. 

Die  multiple  Sklerose  bildet  gewissermassen  den  Uebergang 
von  den  diffusen  zu  den  strenger  localisirten  Erkrankungen  des 
Gehirns.  Im  Bereiche  dieser  letzteren  haben  wir  hauptsächlich  zwei 
grössere  Gruppen  von  Läsionen  auseinander  zu  halten,  die  Ge- 
schwülste auf  der  eine^,  die  Blutungen,  Erweichungen,  Embolien, 
Thrombosen  auf  der  anderen  Seite.  Bei  grösseren  Tumoren  pflegen 
die  psychischen  Störungen  meist  wesentlich  durch  die  Steigerung 
des  intrakraniellen  Druckes,  weniger  durch  ihre  Localisation  bedingt 
zu  Averden.  So  kommt  es,  dass  dort,  wo  die  Geschwülste  sehr  lang- 
sam wachsen,  oder  wo  sie  mehr  zerstören,  als  verdrängen,  die  psych- 
ischen Erscheinungen  lange  Zeit  hindurch  gering  sein  können. 
Ich  sah  einen  Ei-anken,  den  eine  über  faustgrosse,  im  Anschlüsse 
an  ein  Ti-auma  aufgetretene  tuberculöse  Geschwulst  den  grössten 
Theil  des  rechten  Stirnhirns  mit  der  Einde  vernichtet  hatte,  bis 
wenige  Tage  vor  seinem  Tode  keinerlei  Störung  der  Besonnenheit 
und  Intelligenz  darbieten,  nur-  eine  mässige,  von  dem  Kranken  selbst 
bemerkte  Gedächtnissschwäche.  Bei  denjenigen  Geschwülsten  da- 
gegen, welche  den  Druck  in  der  Schädelhöhle  erhebüch  steigern, 
stellt  sich  zunächst  eine  gewisse  Benommenheit  und  Unbesinnlich- 
keit  ein.  Die  Aufmerksamkeit  der  Kranken  wird  nur  durch  relativ 
kräftige  Eeize  und  auch  dann  nur  für  kurze  Zeit  erregt;  sie  liegen 
apathisch  oder  sich  unter  unerträgüchen  Kopfschmerzen  herum- 
wälzend da,  ohne  von  ihrer  Umgebung  Notiz  zu  nehmen.  Bisweilen 
tritt  Katalepsie  auf.  Nach  und  nach  werden  die  Kranken  immer 
stumpfer  und  somnolenter,  obgleich  vielleicht  noch  gar  keine  aus- 
geprägteren Herdsymptome  hervortreten.  Nicht  selten  beobachtet 
man  bis  in  das  letzte  Stadium  der  Somnolenz  hinein  einzelne 
Hallucinationen  auf  Sinnesgebieten,  die  für  normale  Eeize  völlig 
unerregbar  geworden  sind,  namentlich,  wie  es  scheint,  bei  Kleinhirn- 
tumoren.  In  einem  solchen,  von  mir  beobachteten  Falle  glaubte 
der  amaurotische  Kranke  (Potator)  lange  Eeisen  zu  machen,  sah 
bunte  Gegenden  und  kleine  Schnapsgläser  vor  sich,  nach  denen  er 
griff;  ein  anderer  derartiger  Kranker,  der  kein  Trinker  war,  sah 
trotz  völliger  Ati'ophie  der  Optici  ebenfalls  monatelang  wechselnde 
„Bilder"  und  hörte  bei  allmählich  fortschreitender  und  schliesslich 
vollständiger  Taubheit  sehr   häufig   seinen   Namen   und  allerlei 

Kraopoliu,  l'sychiatno.    4.  Aull.  41 


642 


XII.  Die  erworbenen  Schwächezustände. 


Scbimpfworte  rufen.  Stärkere  Aufregungszustände  sind  bei  Tuüioren 
selten. 

Hirnabscesse  können  lange  Zeit  ohne  jegliche  psychische  Sym- 
ptome verlaufen,  namentlich,  wenn  sie  sich  sehr  langsam  entwickeln. 
Ich  sah  einen  Schreiber,  der  bis  zum  Eintritte  in  die  Abtheilung 
seinen  Dienst  gethan  hatte,  dann  aber  unter  den  Erscheinungen 
leichter  Benommenheit  und  mit  Ki'ampfanfällen  erkrankte,  die  auf 
das  Täuschendste  hysterischen  glichen.  Als  er  3  Wochen  später  in 
einem  solchen  Anlalle  starb,  fand  sich  ein  apfelgi'osser  Abscess  im 
linken  Hinterhauptslappen.  Bei  frischen  traumatischen  Abscessen 
pflegt  die  Benommenheit  im  Vordergrunde  des  Krankheitsbildes 
zu  stehen.  Die  Kranken  verstehen  ihre  Umgebung  und  die  an  sie 
gerichteten  Anreden  nicht,  geben  ganz  verkehrte  Antworten,  deliriren 
bisweilen  in  traumhaft  zusammenhangsloser  Weise.  Dazu  können 
sich  dann  noch  Katalepsie,  aphasische  Störungen,  Rindenepilepsie 
und  andere  Reizerscheinungen  hinzugesellen. 

Ein  wesentlich  anderes  Bild  pflegen  die  psychischen  Störungen 
bei  Blutungen  und  Embolien  darzubieten.  •  In  unmittelbarem 
Anschlüsse  an  den  Schlaganfall  sind  die  Kranken  meist  benommen, 
desorientirt,  verwirrt,  verkennen  ihre  Umgebung,  begehen  allerlei 
verkehrte  Handlungen.  Bisweilen  treten  vorübergehend  lebhafte 
Erregungszustände  mit  lautem  Schreien,  Fortdrängen,  Widersti-eben 
auf.  Späterhin  jedoch  pflegen  die  Kranken,  wenn  nicht  schon  um- 
fangreicliere  endarteriitische  Yeränderungen  vorliegen,  vollständig 
klar  und  über  ihre  Umgebung  orientirt  zu  sein.  Am  meisten  in 
die  Augen  fällt  gewöhnlich  neben  den  nervösen  Störungen  eine 
mehr  oder  weniger  erhebliche  Gedächtnissschwäche.  Die  Kranken 
irren  sich  leicht,  ohne  es  zu  bemerken,  hinsichtlich  wichtiger 
Daten  und  Ereignisse  aus  ihrem  Yorleben;  besonders  die  zeitliche 
LocaUsation  ist  sehr  unsicher.  Das  Rechnen  geht  schlecht,  selbst 
wenn  früher  grosse  Fertigkeit  darin  bestand.  Auch  die  Erinnerung 
an  die  jüngste  Yergangenheit  haftet  nicht  zuverlässig.  Dazu  kommt, 
dass  dem  Kranken  leicht  einzelne  Kategorien  von  Vorstellungen, 
Eigennamen  und  Zahlen,  verloren  gehen,  Störungen,  welche  bereits 
als  die  ersten  Andeutungen  der  amnestischen  Aphasie  zu  betrachten 
sind.  Die  Beurtheilung  der  Intelligenz  wird  gerade  dui*ch  das 
Hineinspielen  aphasischer  und  paraphasischer  Symptome  vielfacli 
sehr  erschwert;  die  Kranken   erscheinen   dadurch   bei  flüchtiger 


Schwachsinn  bei  organischen  Hirnerkrankiingen. 


643 


Untersuchung  oft  weit  blödsinniger,  als  sie  wirklich  sind.  So  stellte 
sich  bei  einem  jugendlichen  Herzki'anken  meiner  Beobachtung,  der 
zunächst  eine  wahrscheinlich  embolische,  Linksseitige  Hemiplegie  mit 
Hemianaesthesie,  Hemianakusie,  Abducens-  und  Trigeminus-Lähmung, 
Gesichtsfeldeinschränkung,  kurz  darauf  aber  eine  mit  Krämpfen  auf- 
ti-etende  rechtsseitige  Hemiparese  erhtt,  ein  eigenthümlicher  Agram- 
matismus  ein,  der  ihn  vollständig  kindisch  erscheinen  liess,  da  er 
ohne  jede  Construction  nur  in  Infinitivsätzen  nach  Art  der  Kinder 
sprach.  Als  sich  diese  AnomaHe  nebst  sämmthchen  übrigen  Sym- 
ptomen aUmählich  verlor  und  er  mit  einer  gewissen  Anstrengung 
auch  die  immer  noch  vorhandene  Neigung  zum  Keden  in  Infinitiven 
überwinden  konnte,  stellte  sich  heraus,  dass  die  IntelUgenz  voll- 
kommen erhalten  war  und  sogar  nicht  unbeträchtiich  über  das  Nor- 
malmass  hinausging.  Genau  die  gleiche  Störung,  das  kindliche  Reden 
in  Infinitivsätzen,  beobachtete  ich  vorübergehend  bei  einer  62  jährigen 
Frau  mit  Mammakarcinom  und  alter  Lues  nach  einem  Schlaganfall  mit 
Aphasie  und  starker  verwirrter  Aufregung. 

"Wo  die  Folgen  eines  apoplektischen  Anfalles  dauernde  sind, 
wo  es  sich  also  um  eine  theüweise  Zerstörung  von  Hirnsubstanz 
handelt,  pflegt  eine  gewisse  Schwächung  der  gesammten  Yerstandes- 
thätigkeit  nicht  auszubleiben.  Namentlich  langes  Fortbestehen  apha- 
sischer  Störungen  scheint  regelmässig  eine  empfindliche  Einbusse  der 
intellectuellen  Leistungsfähigkeit  und  des  Yorstellungsschatzes  nach 
sich  zu  ziehen.  Die  Eä-anken  zeigen  eine  Erschwerung  und  Yer- 
langsamung  ihres  Denkens,  ermüden  ungemein  leicht,  vermögen 
keinem  schwierigeren  Gedankengange  mehr  zu  folgen,  verlieren  in 
ihren  Erzählungen  alle  Augenblicke  den  Faden,  werden  leichtgläubig 
imd  urtheüslos.  Oft  haben  sie  ein  deutliches  Gefühl  für  die  Yer- 
änderung,  die  sich  mit  ihnen  vollzogen  hat,  jammern  über  ihre  Un- 
fähigkeit. „Ich  bin  so  dimim",  klagte  mir  eine  solche  Kranke.  Die 
Stimmung  ist  bald  mehr  weinerlich,  verdriesslich,  querulirend,  bald 
sorglos  heiter  und  unbekümmert,  immer  aber  leicht  erregbar  und 
zu  Schwankungen  geneigt.  Bisweilen  kommt  es  zeitweise  zu  leb- 
hafteren Aufregungszuständen  mit  Ideenflucht,  grosser  Geschwätzigkeit 
und  Grössenideen,  namentlich  im  Anschlüsse  an  epileptische  An- 
fälle, wie  sie  bei  alten  Apoplektikem  nicht  selten  aufti-eten.  Sehr  auf- 
fallend ist  oft  die  sittliche  Stumpfheit,  die  Gleichgültigkeit  gegenüber 
den  Angehörigen,  gegenüber  den  früher  sorgfältig  gepflegten  Lebens- 

41* 


644 


XII.  Die  erworbeneu  Schwächezuständo. 


interessen,  die  ausgeprägte  Selbstsucht  und  die  Unempfindlichkeit 
gegenüber  den  Geboten  der  Sitte  und  des  Anstandes.  Der  Kranke 
ist  lenksam,  leicht  bestimmbar,  fängt  häufig  an,  zu  bummeln,  zu 
trinken,  zu  vergeuden.  Ein  derartiger  Kranker  aus  guter  Familie, 
der  vor  13  Jahren  eine  rechtsseitige  Lähmung  in  Folge  von  Lues 
erlitten  hatte,  gerieth  dadurch  mit  dem  Strafgesetze  in  Conflict,  dass 
er  bei  jeder  Gelegenheit  ohne  klaren  Beweggi-und  Strümpfe  stahl. 

Auch  noch  in  anderer  Eichtung  können  die  psychischen  Störungen 
nach  Hirnblutungen  eine  bedeutende  forensische  Wichtigkeit  ge- 
winnen. Die  Verstandesschwäche  und  TJrtheilslosigkeit  der  Apo- 
plektiker,  ihre  Keizbarkeit  auf  der  einen,  ihre  leichte  Bestimmbarkeit 
auf  der  andern  Seite  stellen  den  Arzt  bei  den  bisweilen  vorkommen- 
den Eheschliessungen,  bei  Kaufverträgen  und  Testamentssti-eitigkeiten 
vor  die  Frage  nach  dem  Yorhandensein  der  Dispositionsfähigkeit. 
Eine  allgemeine  Beantwortung  derselben  lässt  sich  selbstverständlich 
überhaupt  nicht  geben;  die  Schwäche  auf  den  verschiedenen  Gebieten 
des  psychischen  Lebens  kann  von  den  allerleichtesten,  noch  in  die 
Gesundheitsbreite  fallenden  Schädigungen  aUe  Grade  bis  zum  tiefsten 
Blödsinn  erreichen,  so  dass  die  Grenze  des  Krankhaften  im  einzelnen 
Falle  sich  oft  nur  nach  dem  persönlichen  Ermessen  des  Arztes  ab- 
stecken lassen  wird. 

In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  FäUe  sind  zweifellos  die 
localisirten  Blutungen,  Embolien,  Thrombosen  nur-  Theüerscheinungen 
ausgebreiteter  Yeränderungen,  namentlich  endarteriitischer  Gefäss- 
erkrankungen.  Wahrscheinlich  sind  in  der  Kegel  gerade  diese 
letzteren  hier  als  die  wesentlichste  Ursache  der  psychischen  Störungen 
anzusehen.  So  würde  es  sich  erklären,  dass  häufig  dem  apoplekt- 
ischen  Anfalle  schon  eine  deutliche  Abnahme  der  geistigen  Kräfte 
voraufgeht,  und  dass  die  allgemeinen  psychischen  Yeränderungen  bei 
sehr  verschiedenem  Sitze  des  Herdes  doch  in  der  Hauptsache  die 
gleichen  zu  sein  pflegen.  Mehrfach  habe  ich  Gelegenheit  gehabt, 
sogar  bei  bulbären  Herderkrankungen  die  Erscheinungen  eines  rasch 
entstandenen  Schwachsinns  zu  beobachten,  zu  dessen  Erklärung  die 
bisweilen  durch  die  Autopsie  bestätigte  Annahme  einer  ausgedehnteren 
Betheiligung  der  Hü-ni-inde  herangezogen  werden  musste  (chi-onische 
Meningitis,  Gefässveränderungen).  Am  nächsten  liegt  ein  solcher 
Zusammenhang  bei  den  Herderkrankungen  des  Greisenalters,  deren 
wesentlich  symptomatische  Bedeutung  neben  den  schweren  Störungen 


Schwachsinn  hei  organischen  Hirnerkranlcungen. 


645 


der  gesammten  Hirnfunctionen  wir  schon  früher  kennen  gelernt 
haben. 

Die  verschiedenen  Formen  des  Schwachsinns  bei  organischen 
Hirnleiden  sind  im  ganzen  überaus  häufige  Erkrankungen,  wenn 
sie  auch  dem  Irrenarzte  nur  selten,  sondern  zumeist  dem  inneren 
Mediciner  oder  dem  Neuropathologen  zu  Gesicht  kommen.  Ihre 
Dauer  und  Prognose  richtet  sich  natürlich  nach  der  Art  des  ur- 
sächlichen Krankheitsvorganges.  Die  Abgrenzung  mancher  dieser 
organischen  Himerkrankungen  von  der  Paralyse,  namentlich  der 
dementen  Form,  stösst  bisweilen  auf  grosse  Schwierigkeiten.  Bei 
diffusen  Rindenaffectionen  ist  eine  sichere  Trennung  während  des 
Lebens  heute  nicht  selten  ganz  unmöghch,  aber  auch  die  multiple 
Sklerose  und  selbst  Tumoren  können  hie  und  da  zur  Verwechselung 
mit  der  Paralyse  Anlass  geben.  Immerhin  wird  das  Auftreten  streng 
localisirbarer,  wenn  auch  multipler  Herdsymptome  meist  davor 
schützen.  Die  Behandlung  der  hier  besprochenen  Psychosen 
findet  ausser  der  Berücksichtigung  etwa  vorhandener  Causalindi- 
cationen  (Syphilis,  operative  Eingriffe),  sowie  der  Nothwendigkeit 
gelegentlicher  Beruhigungs-  und  Schlafmittel  (Urethan,  Bromkalium) 
keinen  besonderen  "Wirkungskreis. 


XIII.  Die  psycMschen  Entwickelungsanomalien. 

Die  letzte  Gruppe  psychischer  Krankheitsbüder,  welcher  wir  uns 
nunmehr  zuzuwenden  haben,  umfasst  alle  jene  Zustände,  welche  sich 
auf  dem  Boden  einer  krankhaften  Entwickelung  des  jugend- 
lichen Menschen  herausbilden.  Die  krankmachende  Ursache  wirkt 
hier  auf  den  Organismus  ein  zu  einer  Zeit,  wo  die  psychische  Per- 
sönhchkeit  erst  in  ihrer  Anlage  vorhanden  ist,  und  sie  schafft  einen 
Zustand,  welcher  in  allen  wesentlichen  Punkten  das  ganze  spätere 
Leben  hindurch  unverändert  und  unheilbar  fortbesteht.  Die  über- 
grosse Mehrzahl  aUer  in  dieser  Weise  erwachsenden  Krankheitsformen 
bietet  das  allgemeine  Gepräge  der  psychischen  Schwäche  in 
den  verschiedensten  Abstufungen  und  Färbungen  dar,  deren  Haupt- 
gruppen wir  als  Idiotie,  Cretinismus  und  angeborenen  Schwach- 
sinn auseinanderhalten  können;  weiterliin  aber  werden  wir  auch  an 
dieser  Stelle  noch  kiurz  jener  eigenartigen  Störung  zu  gedenken  haben, 
die  man  mit  dem  Namen  der  conträren  Sexualempfindung  zu 
belegen  pflegt. 

A.  Die  Idiotie. 

Unter  dem  Namen  der  Idiotie*)  pflegt  man  alle  jene  hoch- 
gradigeren psychischen  Schwächezustände  zusammenzufassen, 
deren  Entstehungszeit  vor  die  Geburt  oder  in  die  ersten 
Lebensjahre  fällt.  Streng  genommen  ist  diese  Abgrenzung  nicht 
ganz  wissenschafthch,  insofern  sie  auf  der  einen  Seite  Entwickelungs- 
hemmungen,  auf  der  anderen  Seite  aber  durch  Krankheitsvorgänge 
erworbene  Störungen  mit  einander  vereinigt.    Leider  fehlen  uns 


*)  Emminghaus,  Die  psychischen  Störungen  des  Kindesalters  p.  243.  s. 
So  Iii  er,  Der  Idiot  und  der  Imbecille,  deutsch  von  Brie.  1891. 


Tdiotio. 


647 


jedoch  bisher  noch  brauchbare  Anlialtsp unkte,  Avelche  im  einzelnen 
Falle  gestatten  würden,  auch  klinisch  die  Zeichen  einer  Hemniungs- 
bildung  von  denjenigen  einer  krankhaften  Zerstörung  wichtiger 
Hirntheile  durchgreifend  zu  unterscheiden. 

Die  psychische  Ausbildung  der  Idioten  lässt  eine  grosse  Zahl 
von  verschiedenen  Formen  erkennen,  deren  Abgrenzung  von  ein- 
ander wegen  des  Ineinanderf Hessens  der  Bilder  erhebliche  Schwierig- 
keiten darbietet.  Als  Eintheilungsprincip  hat  man  zmneist  das  Ver- 
halten der  Sprache  (gänzlichen  Mangel,  Yorhandensein  einzelner 
Worte,  stufenweise  reichere  Entwickelung  derselben)  benutzt,  weil 
ja  in  der  That  die  Entfaltung  der  Yerstandesthätigkeit  in  sehr  nahen 
Beziehungen  zur  Lautsprache  steht.  Allein  die  Fähigkeit  des  Sprechens 
deckt  sich  durchaus  nicht  immer  mit  der  weit  wichtigeren  des  Yer- 
stehens.  Es  scheint  mir  daher  zweckmässiger,  bei  einer  Betrachtung 
dieser  Zustände  an  das  Yerhalten  der  grundlegenden  psychischen 
Leistung,  der  bewussten  Wahrnehmung  der  Aussenwelt,  an- 
zuknüpfen. 

In  den  niedersten  Formen  der  Idiotie  ist  die  Erfassung  eines 
Eindruckes  durch  die  Aufmerksamkeit  gänzlich  unmöglich.  Es  ge- 
lingt nicht,  durch  irgend  einen  Eeiz  Theilnahme  zu  erwecken,  so 
dass  es  oft  schwer  ist,  festzustellen,  ob  die  Sinnesorgane  überhaupt 
erregbar  sind.  Die  Kranken  sammeha  keine  Erfahrimgen,  lernen 
ihre  Umgebung  nicht  kennen  und  sind  unfähig,  irgendwelche  klare 
Yorstellungen,  Urtheile  oder  Schlüsse  zu  bilden;  ebensowenig  kann 
von  einem  eigentüchen  Selbstbewusstsein  die  Kede  sein.  Das  Ge- 
fühlsleben bleibt  auf  den  Wechsel  dunkler  Gemeingefühle  beschränkt, 
und  die  durch  sie  hervorgerufenen  Handlungen,  die  sich  höchstens 
noch  auf  die  Nahrungsaufnahme  beziehen,  behalten  den  Charakter 
des  Triebartigen.  Die  Kranken  sind  gemüthlich  meist  gänzlich  im- 
erregbai-.  Sie  lächeln  nicht,  erschrecken  nicht,  äussern  kein  Unbehagen 
bei  Yeranreinigungen,  keine  Fi-eude  bei  den  Yorbereitungen  zur 
Mahlzeit  oder  bei  kleinen  Geschenken.  Nur  der  Hunger  oder  stärkerer 
körperlicher  Schmerz  bringt  sie  zu  eintönigem,  ausdruckslosem 
Schreien.  Sie  treffen  keine  Auswahl  beim  Essen,  zeigen  kein  Yer- 
langen,  sich  Gegenstände  anzueignen,  greifen  nicht  zu,  spielen  nicht 
und  schreien  nicht,  wenn  man  ihnen  ein  Spielzeug  aus  der  Hand 
nimmt.  Zu  den  einfachsten  zweckmässigen  Handlungen  sind  sie 
unfähig,  vermögen  z.  B.  nicht  den  zufällig  zwischen  die  eigenen 


648 


XIII.  Dio  psychischen  Entwickelungsanomalien. 


Zähne  gerathenen  Zeigefinger  in  Sicherheit  zu  bringen,  Aveichen 
nicht  aus,  wenn  man  sie  immer  wieder  an  derselben  Stelle  mit  der 
Nadel  sticht,  ti'otzdem  sie  vielleicht  die  Miene  verziehen  und  schreien. 
Der  Gesichtsausdruck  bleibt  meist  stumpf  und  leer,  kann  aber  bei 
erworbener  Idiotie  trotz  tiefsten  Blödsinns  intelligent  sein. 

Von  einer  Sprachentwickelung  ist  keine  Spur.  Das  Gehen  und 
Stehen  sogar  wird  erst  spät  oder  gar  nicht  erlernt;  alle  Bewegungen 
bleiben  ungeschickt  und  plump.  Bisweilen  zeigen  die  Kranken  eine 
gewisse  Unruhe,  planloses  Herumi-ennen  und  Betasten,  Kreischen, 
hartnäckiges  Schmieren  mit  Speichel,  Nägelkauen,  Zupfen  an  Haaren 
und  Kleidern,  triebartiges  Masturbiren.  Häufig  sind  auch  einförmige. 
Jahraus,  Jahrein  oft  rhythmisch  sich  wiederholende  Zwangsbewegungen, 
Händeklatschen,  Blasen  und  Schnauben,  Hin-  und  Herwiegen  des 
Körpers  im  Sitzen  oder  Stehen.  Manche  Kranke  schlagen  sich  mehr- 
mals takttnässig  derb  ins  Gesicht  und  weinen  dabei  vor  Schmerz,  um 
wenige  Minuten  später  das  gleiche  Spiel  zu  wiederholen,  wenn  man  sie 
nicht  daran  verhindert.  Die  gesammte  körperliche  Entwickelung 
dieser  tiefststehenden  Idioten  pflegt  erheblich  zurückzubleiben.  Das 
Zahnen  vollzieht  sich  spät  und  unregelmässig;  Krampf anfäUe  sind 
häufig.  Sie  gehen  ohne  die  liebevollste  Pflege,  die  für  ihre  Fütterung, 
Beinhaltimg  u.  s.  f.  unermüdliche  Sorge  trägt,  rasch  zu  Grunde. 

Ein  etwas  höherer  Stand  des  Seelenlebens  ist  dort  erreicht,  wo 
wenigstens  passiv,  durch  besonders  auffaUende  Eindrücke,  die  Auf- 
merksamkeit des  Kranken  für  einige  Zeit  erregt  werden  kann,  wenn 
auch  eine  selbständige  Lenkung  derselben  nach  inneren  Beweg- 
gründen noch  nicht  stattfindet.  Hier  werden  wenigstens  einzelne 
deutliche  Sinneswahrnehmungen  dem  Bewusstsein  zugeführt  und 
wol  auch  eine  beschränkte  Anzahl  von  einfachen  Vorstellungen 
gebildet,  allein  dieselben  sind  doch  vielfach  sehr  unvollständig  und 
entbehren  des  inneren  Zusammenhanges.  Das  Gedächtniss  zeigt, 
namentlich  was  die  Schnelligkeit  der  Aufnahme  anbelangt,  eine 
äusserst  geringe  Leistungsfähigkeit.  Galton  fand,  dass  selbst  besser 
begabte  und  zu  aussergewöhnlichen  Gedächtnissleistungen  befähigte 
Idioten  nur  Reihen  von  höchstens  3 — 4  ihnen  langsam  vorgesagten 
Buchstaben  sofort  richtig  wiederholen  konnten,  während  normale, 
gleichaltrige  Kinder  ohne  Schwierigkeit  sogar  7 — 8  Buchstaben  nach- 
zusprechen vermochten.  Die  Fähigkeit  zur  Absti*action,  zur  Auf- 
findung gemeinsamer  Bestandtheile  in  verschiedenen  Wahrnehm- 


Idiotie. 


ungen,  wie  sie  die  Grundlago  der  Begriff sbildimg  ausmacht,  bleibt 
mangelhaft;  es  kommt  nicht  zur  Ausbildung  einer  geschlossenen 
psychischen  Persönliclikeit. 

Die  Sprache,  wie  das  Yerständniss,  und  damit  der  geistige  Ver- 
kehr mit  der  Umgebung  ist  meist  wenig  entwickelt;  sie  bleibt  in 
der  TJnvollkommenheit  der  Satzbildung,  der  Einmischung  unver- 
standener Flickwörter,  der  Unbeholfenheit  des  Ausdrucks,  ■  der  Aerm- 
lichkeit  des  Wortschatzes  auf  kindlicher  Stufe  stehen.  Der  beim 
gesunden  Kinde  so  sehr  in  den  Vordergrund  ti'etende  Nachahmungs- 
trieb und  die  damit  zusammenhängende  Neigung,  zu  spielen,  sich 
selbst  zu  beschäftigen,  fehlt  ganz  oder  bis  auf  schwache  Andeutungen. 
Die  Kranken  ermüden  ungemein  leicht,  vermögen  keiner  Anregung 
längere  Zeit  hindurch  zu  folgen.  Egoistische,  grobsinnliche  Grefühle 
beherrschen  die  Stimmung  und  liefern  die  Antriebe  für  ein  nur 
auf  Befriedigung  augenblicklicher  Gelüste  gerichtetes  Handeha.  Ge- 
legentlich kommt  es  zu  plötzlichen,  unbändigen  Wuthausbrüchen,  wo 
die  eigenen  Wünsche  durchkreuzt  werden.  Tiefere  Zuneigung  zu 
einzelnen  Personen  kommt  nicht  zu  Stande,  höchstens  eine  gewisse 
hündische  Anhänglichkeit;  dagegen  kann  sich  bei  ungeeigneter, 
rauher  Behandlung  ein  verstocktes,  bösartiges,  rachsüchtiges  Wesen 
entwickeln.  Der  Geschlechtstrieb  fehlt  ganz  oder  tritt  auch  wol 
schon  in  den  ersten  Lebensjahren  hervor  und  kami  zu  eifrig  be- 
triebener, rücksichtsloser  Masturbation  führen.  In  ganz  vereinzelten 
Fällen  entwickeln  sich  gewisse  einseitige  Fähigkeiten,  namentlich 
auffallendes  mechanisches  Wort-,  Zahlen-,  Klanggedächtniss  oder 
technische  Fertigkeiten  einfacher  Art. 

Je  nach  der  Leichtigkeit,  mit  welcher  die  Aufmerksamkeit  an- 
gezogen und  abgelenkt  werden  kann,  lassen  sich  zwei,  allerdings 
nur  in  den  ausgeprägtesten  Fällen  von  einander  abgegrenzte  Formen 
unterscheiden,  die  anergetische  (apathische)  und  die  erethische 
(versatile).  Die  Kranken  der  ersten  Gruppe  sind  nur  schwer  aus 
ihrem  stumpfen  Hinbrüten  aufziulitteln;  der  Vorstellungsverlauf 
bleibt  langsam  imd  träge,  die  Keproduction  wegen  der  Armuth  des 
Ideenschatzes  und  bei  dem  Mangel  an  Anknüpfungspunkten  dürftig, 
meist  in  einzelnen  gewohnheitsmässigen  Bahnen  sich  bewegend.  Die 
Stimmung  ist  meist  farblos,  gleichgültig,  zeigt  bisweilen  eine  gewisse 
schwerfällige  Gutmüthigkeit.  Dieser  Form  gehören  namentlich  häufig 
die  später  genauer  zu  besprechenden  Fälle  von  cretinistischem  Blöd- 


650  XIII.  Die  psychißcben  Entwickelungsanomalien. 


sinn  mit  ihrer  eigenthümlichen  Körperbildung  an.  Bei  den  versatilen 
Formen  wandert  die  Aufmerksamkeit,  bald  hier,  bald  dort  angezogen, 
planlos  hin  und  her  und  erfüllt  das  Bewusstsein  mit  buntem,  inner- 
lich zusammenhangslosem  und  daher  rasch  vergessenem  Inlialte. 
Eascher,  oberflächlicher  Wechsel  der  Stimmung  und  eine  äusserliche, 
ziellose  Unruhe  und  Beweglichkeit,  die  sich  in  Händeklatschen, 
Herumspringen,  Gesticuliren,  Lachen  und  Schreien  kundgiebt,  ver- 
vollständigen das  Bild.  Körperlich  sind  die  Kranken  oft  wohl- 
gebildet, aber  von  kindlichem,  schlankem  Gäederbau. 

Selbstverständlich  giebt  es  nicht  nur  zwischen  den  hier  ge- 
zeichneten Gegensätzen  alle  möglichen  Uebergangsformen,  sondern 
die  einzelnen  Fälle  zeigen  auch  sonst  in  ihren  geistigen  und  ge- 
müthlichen  Eigenthmnlichkeiten  vielfach  individuelle  Züge.  In  den 
schwersten  Formen  der  Idiotie  dagegen  wird  man  bisweilen  durch 
die  typische  Uebereinstimmung  mancher  Kranker  in  ihrem  psychischen 
und  körperlichen  Gesammtverhalten  überrascht.  Manchmal  ent- 
wickeln sich  auf  der  idiotischen  Grundlage  mehr  vorübergehende 
Störungen  des  psychischen  Gleichgewichts,  namentlich  periodische 
tobsüchtige  Erregungszustände,  seltener  traurige  "Verstimmungen  oder 
Angstanfälle.  Bei  letzteren  beobachtet  man  gelegentlich  starke 
Selbstmordneigung. 

Bei  der  Yerschiedenartigkeit  der  Zustände,  welche  wir  unter 
dem  Sammelnamen  der  Idiotie  zusammenfassen,  kann  es  uns  nicht 
Wunder  nehmen,  wenn  wir  auch  auf  körperlichem  Gebiete  eine 
grosse  Mannichfaltigkeit  der  Krankheitszeichen  antreffen.  Durch- 
schnittlich findet  sich  ein  geringeres  Längenwachsthum ,  sogar  bis 
zum  Zwergwuchse;  damit  verknüpft  sich  ein  Zurückbleiben  der  ge- 
sammten  Körperentwickelung,  kindlicher  Habitus,  Ausbleiben  des 
Bartes  und  der  Schamhaare,  geringe  Ausbildung  der  Genitalien, 
Fehlen  der  Menstruation,  späte,  unregelmässige  und  mangelhafte 
Zahnbildung.  Die  Sinne,  besonders  das  Gehör,  aber  aucli  Geschmack 
und  Geruch,  erscheinen  oft  ausserordentlich  stumpf,  zum  Theil  ge- 
wiss wegen  der  Aufmerksamkeitsträgheit  der  Kranken. 

Ferner  beobachtet  man  in  grösserer  oder  geringerer  Häufigkeit  jene 
kleinen  Entwickelungsstörungen,  welche  man  als  Entartungszeichen 
anzusehen  pflegt,  Missbildungen  an  Augen,  Ohren,  Gaumen,  Nase  und 
an  den  Knochen  des  Gesichtsskeletts^  namentlich  falsche  Stellung  der 
Kiefern  und  Zähne.   Wildermuth  konnte  derartige  A.bweichungen 


Idiotie. 


G51 


in  80  "/o  der  Fälle  nachweisen.  Ausserdem  bestanden  vielfach  noch 
Steigerung  oder  Felüen  der  Sehnem-eflexe ,  sowie  Coordinations- 
störungen  an  den  unteren  Extremitäten,  den  Augenmuskeln  (Nystag- 
mus), namentlich  aber  beim  Sprechen,  Abstossen  der  Endsilben, 
mangelhafte  Articulation  einzelner  oder  der  meisten  Consonanten 
mit  Yerstümmelimg  und  Verunstaltung  der  Wörter*),  Plumpheit  und 
Ungeschicklichkeit  in  allen  Bewegungen,  unüberwindliche  Mit- 
bewegungen, Wiederkäuen,  Speichelfluss,  Bettnässen,  Unreinhchkeit. 
Häufig  sind  auch  Anzeichen,  welche  auf  vorangegangene  Hirn- 
erki-ankungen  hinweisen,  halbseitige  Lähmungen  und  Paresen,  Con- 
tracturen,  Spasmen  (in  einzelnen  Fällen  brettartige  Steifigkeit  des 
Körpers),  partielle  Wachsthumshemmungen,  Krämpfe  verschiedenster 
Art,  choreatische,  athetotische  Bewegungen,  gewohnheitsmässiges 
Zähneknirschen,  Aphasie.  Als  wichtigste  Begleiterin  des  Krankheit- 
bildes der  Idiotie  ist  endlich  die  Epilepsie  zu  nennen,  die  sich 
nach  Wildermuths  Mittheilungen  in  etwa  30°/o  der  Fälle  findet. 
Nicht  selten  treten  epileptische  Anfälle  verschiedener  Art,  von  aus- 
geprägten Krämpfen  bis  zu  den  leichtesten  Erscheinungsformen,  bereits 
in  den  ersten  Lebensjahren  auf  und  müssen  dann  als  prognostisch 
sehr  ungünstiges  Zeichen  betrachtet  werden.  Entwickelt  sich  die  Epi- 
lepsie erst  in  späterer  Zeit,  so  ist  ihre  Bedeutung  eine  weit  geringere. 

Unter  den  Ursachen  der  Idiotie  scheint,  soweit  es  sich  um 
einfache  Entwickelungshemmungen  handelt,  die  erbliche  krankhafte 
Belastung  eine  gewisse  Kolle  zu  spielen.  Wir  haben  ja  schon 
früher  gesehen,  dass  die  Idiotie,  und  wol  nicht  ohne  Berechtigamg, 
als  das  letzte  Glied  in  der  Kette  der  familiären  Entartung  auf- 
gefasst  worden  ist.  Insbesondere  sollen  Trunksucht  und  namentlich 
Betrunkenheit  der  Eltern  während  des  Zeugungsactes ,  weiterhin 
nahe  Yerwandtschaft  derselben  das  Entstehen  der  Idiotie  begünstigen. 
Dass  diese  letzteren  Punkte  nicht  als  erwiesen  gelten  dürfen,  wurde 
an  anderer  Stelle  bereits  ausgeführt.  Sehr  verscliiedenartige  Ursachen 
können  die  eigentlichen  Hirnerkrankungen  haben,  wie  sie  sich  im 
jugendlichen  Lebensalter  ja  häufig  durch  das  Auftreten  von  Eeiz- 
erscheinungen  (Delirien,  Krämpfe)  ankündigen.  Die  Hauptrolle 
spielen  wol  acute  oder  chronische  Vergiftungen,  namentlich  im  Ver- 
laufe von  Infectionskrankheiten,  Typhus,  Blattern,  Scharlach,  seltener 


*)  Berklian,  üeber  Störungen  der  Sprache  und  der  Scliriftspracho,  J889, 


652 


XIU.  Die  psychischen  Entwickelungsanomalien. 


Masern  und  Erysipel.  Auch  die  ererbte  Syphilis  kommt  hier  Avahr- 
scheinhch  in  Betracht.  Von  grosser  ursächlicher  Wichtigkeit  ist 
ferner  der  frühzeitige  Missbrauch  des  Alkohols,  vielleicht  auch  des 
Opiums,  sowie  länger  dauernde  Asphyxie  während  und  nach  der 
Geburt.  Eine  zweite  grosse  Gruppe  von  Ursachen  bilden  die  Kopf- 
verletzungen, Compression  des  Kopfes  durch  ein  enges  Becken  oder 
die  Zange,  vielleicht  auch  Ueberhitzung  des  Kopfes.  Als  mittelbare 
Ursachen  reihen  sich  ihnen  alle  die  allgemeinen  und  persönlichen 
Schädigungen  der  Gesundheit  an,  welche  vorzugsweise  die  niederen 
Yolksschichten  treffen  und  nach  dieser  oder  jener  Eichtung  hin  das 
Fortpflanzungsgeschäft  oder  die  Entwickelung  des  Fötus  in  krank- 
haftem Sinne  zu  beeinflussen  vermögen.  Das  männüche  Geschlecht 
scheint  bei  den  Idioten  zu  überwiegen;  vielfach  stammen  sie  aus 
kinderreichen  Familien,  in  denen  dann  gewöhnlich  mehrere  Ge- 
schwister gleichzeitig  schwerere  oder  leichtere  Entwickelungstörungen 
darbieten. 

Eine  ganz  besondere  Bedeutung  hat  man  früher  dem  Einflüsse 
der  Nahtverknöcherung  am  Schädel  auf  die  Ausbildung  des 
Gehirns  zugeschrieben,  indem  man  vorzeitige  Knochenverwachsungen 
als  die  Ursache  abnormer  Kleinheit  oder  asymmetrischer  Gestaltung 
desselben  ansah.  Durch  neuere  Untersuchungen  hat  sich  indessen 
herausgestellt,  dass,  in  der  Regel  wenigstens,  die  Entwickelung  des 
Schädels  wesentlich  durch  die  Wachsthumsverhältnisse  des  Gehirns 
bestimmt  wird,  und  nicht  umgekehrt.  Die  Gesetze,  welche  diesen 
letzteren  zu  Gnmde  liegen,  sind  noch  zum  grössten  Theile  ebenso 
unklar,  wie  die  Wachsthumsbedingungen  überhaupt;  es  scheint  jedoch, 
dass  die  Weite  der  Blutgefässe,  die  Menge,  namentlich  aber  auch 
die  Beschaffenheit  des  zugeführten  Ernährungsmaterials  von  einigem 
Einflüsse  sein  kann.  Natürlich  ist  die  Berücksichtigung  der  Schädel- 
form, wenn  man  in  ihr  auch  nicht  die  Ursache  der  Hiinstörungen 
sieht,  dennoch  bisweilen  von  grossem  Werthe,  insofern  sie  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  einen  Rückschluss  auf  die  Art  dieser  letzteren 
gestattet.  Thatsächlich  finden  sich  Yerbüdungen  des  Schädels  bei 
Idioten,  wie  Wildermuth  gezeigt  hat,  in  etwa  der  Hälfte  der  Fälle. 
MikrocephaHsche  Formen  überwiegen  bedeutend,  entweder  als  gleich- 
mässige  Yerkleinerung  aller  Durchmesser  oder,  seltener,  als  sog. 
Aztekentypus  mit  fliehender  Stirn  und  abgeflachtem  Hinterhaupt. 
Solche  Bildungen  sind  natüi'lich  nothwendig  mit  abnormer  Kleinlieit 


Idiotie. 


653 


des  Gehii-ns  verbunden,  die  durch  gleichzeitigen  Hydrocephalus 
noch  beti'ächtiicher  ausfallen  kann,  als  der  Augenschein  vermuthen 
lässt.  Eine  kleinere  G-ruppe  von  Idioten  zeigt  im  Gegentheil  auf- 
fallend gi-osse  Köpfe,  namentlich  hydrocephalische  Formen  mit  vor- 
gebauchter Stirn  und  grosser  Breite  zwischen  den  Scheitelhöckern. 
Da  die  Schädelnähte  verwachsen,  sobald  der  Gegendruck  des  Hirns 
an  einer  Stelle  nachlässt,  so  lassen  sich  aus  der  Schädelbildung 
gewisse  allgemeine  Schlüsse  auf  die  relative  Entwickelung  der  ein- 
zelnen Hirntheile  ziehen.  Verkürzung  der  Schädelbasis  (Triba- 
silarsynostose)  geht  mit  einer  Yerkümmerung  der  nach  unten  ge- 
legenen Hii'upartien  einher;  Verkleinerung  der  Schädelkapsel  nach 
irgend  einer  Richtung  mit  abnormer  Yerknöcherung  der  auf  letzterer 
senkrecht  stehenden  Nähte  deutet  auf  eine  geringe  Ausbildung  der 
beti-offenen  Rindengegend  hin. 

Allein  es  können  sich  bei  diesen  begrenzten  Störungen  nach 
anderen  Richtungen  hin  compensatorische  Verschiebungen 
sowol  des  Schädels,  wie  des  Gehirns  entwickeln,  die  eine  völlig  nor- 
male Entfaltung  aller  einzelnen  Hirntheile  ermöglichen.  In  der 
That  finden  sich  nicht  so  selten  ziemlich  hochgradige  Vorbildungen 
des  Schädels  bei  geistig  durchaus  gesunden,  ja  hochstehenden 
Menschen,  so  dass  wir  jene  Befunde  im  Allgemeinen  mehr  als  eine 
Hindeutung  auf  die  Möglichkeit  gleichzeitiger  anderer  Veränderungen, 
denn  als  die  nothwendige  Ursache  krankhafter  Functionsstörungen 
selbst  ansehen  dürfen.  Jedenfalls  bieten  sie  einstweilen  ein  weit 
grösseres  anthropologisches  und  anatomisches,  als  eigentlich  psychi- 
atrisches Interesse,  zumal  die  Versuche,  sie  zu  bestimmten  klinischen 
Büdern  in  Beziehung  zu  bringen,  bisher  noch  wenig  erfolgreich 
gewesen  sind.  Nur  scheint  die  Verkümmerung  der  Basis  mehr  mit 
den  tieferstehenden  apathischen  Formen  der  Idiotie  in  Zusammen- 
hang zu  stehen,  während  man  bei  abnormer  Kleinheit  der  Schädel- 
kapsel mit  fliehender  Stirn  meist  die  versatilen  Formen  beobachtet, 
häufig  begleitet  von  Epilepsie. 

Die  pathologische  Anatomie  der  Idiotie  zeigt  uns  bei 
Weitem  am  häufigsten  die  Ueberreste  krankhafter  Vorgänge.  Haupt- 
sächlich kommen  hier  encephalitische,  meningitische  und  hydrocepha- 
lische Erkrankungen  in  Betracht,  die  theilweise  Zerstörungen  (z.  B. 
Porencephalie)  und  Veränderungen  der  Hirnrinde  oder  allgemeine 
Atropliic  derselben  durcli  Steigerung  des  Druckes  im  Schädel  herbei- 


654 


Xlll.  Die  psychischen  Entwickeluuf^sanomalien. 


führen  können.  Seltener  finden  sich  Entwickelungshemmungen 
und  Missbildungen,  Heterotopien  der  Hirnsubstanz,  Fehlen  des 
Balkens,  des  Kleinhirns,  Ungleichlieit  der  beiden  Heinisphären, 
Windungsarmuth  oder  WindungsanomaJien ,  Kleinheit  des  ganzen 
Grosshirns  u.  s.  f.  Auch  dort,  wo  diese  Yerbildungen  nicht  un- 
mittelbar die  Grundlage  unseres  Seelenlebens  betreffen,  lassen  sie  doch 
einen  Eückschluss  auf  die  krankhafte  Natur  der  Gesammtanlage  zu. 

Die  Prognose  der  Idiotie  ist,  dem  Wesen  der  Krankheit  ent- 
sprechend, im  Allgemeinen  eine  durchaus  ungünstige;  der  Idiot  wird 
niemals  im  Stande  sein,  die  geistige  Reife  des  normal  entwickelten 
Menschen  zu  erreichen.  Gleichwol  ist  es  eine  Frage  von  grosser 
praktischer  Bedeutung,  im  einzelnen  Falle  sich  darüber  klar  zu 
werden,  wie  weit  der  bestehende  Zustand  die  Möglichkeit  einer 
psychischen  Fortentwickelung  zulässt,  wie  weit  der  Kranke  bildungs- 
fähig ist  oder  mcht.  In  der  ersten  Kindheit  lässt  sich  darüber  in 
der  Regel  ein  sicheres  Urtheil  kaum  gewinnen;  wird  doch  oft  von 
den  Angehörigen  das  Bestehen  einer  Störung  im  dritten  oder  vierten 
Lebensjahre  überhaupt  erst  bemerkt.  Auch  späterhin  ist  eine  pro- 
gnostische Aussage  ohne  längere  Beobachtung  häufig  nicht  leicht. 
Die  Möglichkeit  einer  Fesselung  der  Aufmerksamkeit  des  Kindes  für 
einige  Zeit,  das  längere  Haften  einer  Erirmerung  (Wiedererkennen 
von  Gegenständen,  Sträuben  gegen  früher  erfahrene  unangenehme 
Einwirkungen),  der  Nachweis  eines  Yerständnisses  für  die  Sprache 
können  als  günstige  Anzeichen  angesehen  werden,  während  das 
frühzeitige  Auftreten  der  Epilepsie  die  Prognose  sehr  trübt.  Im 
letzteren  Falle  kommt  es  häufiger  zur  Entwickelung  tiefsten  Blöd- 
sinns, da  dem  Kranken  meist  nach  und  nach  auch  der  geistige  Er- 
werb verloren  geht,  den  er  in  seinen  ersten  Lebensjahren  sich  etwa 
hatte  zu  eigen  machen  können.  Die  durchschnittliche  Lebensdauer 
der  Idioten  ist  eine  verhältnissmässig  kurze.  Während  ein  Theil 
derselben  an  den  Folgen  und  gelegentlichen  Nachschüben  der  Ge- 
hirnerkrankungen zu  Grunde  geht,  erliegen  andere  den  zahlreichen 
Schädlichkeiten,  denen  sie  wegen  ihrer  geistigen  und  körperlichen  Un- 
behülfhchkeit  ausgesetzt  sind,  und  endlich  scheint  ihnen  auch  noch  im 
Allgemeinen  eine  geringere  Widerstandsfähigkeit  gegenüber  zufälligen 
Erkrankungen  und  ungünstigen  Lebensverhältnissen  zuzukommen. 

Die  Erkennung  der  Idiotie  bietet  nur  in  der  fi'ühen  Kindheit 
eriioblichere  Schwierigkeiten.    ADerdings  können  auch  jetzt  schon 


Idiotie. 


655 


einzelne  Anzeichen,  ünempfindlichkeit  gegenüber  äusseren  Einflüssen 
und  Anregungen,  Fehlen  der  gewöhnlichen  Eeactionen  gegen  Hunger 
und  Nässe,  beim  Anlegen  an  die  Brust,  bei  Annäherung  der  Mutter, 
oder  fortwährende  planlose  Unruhe,  Mangel  der  Aufmerksamkeit, 
des  Lachens  und  Weinens,  Beibehaltung  der  fötalen  Gliederstellung, 
weiterhin  aber  die  Erscheinungen  von  Hirnerkrankungen,  Krämpfe, 
Lähmungen  und  dergl.  die  Vermuthung  einer  Idiotie  nahe  legen. 
Sicherheit  wird  aber  erst  der  weitere  Verlauf  der  Entwickelung, 
verspätetes  Gehenlernen  und  vor  Allem  das  gänzliche  oder  theil- 
weise  Ausbleiben  der  Sprachbildung  und  des  Sprachverständnisses 
zu  geben  vermögen.  Auf  der  anderen  Seite  wird  die  Abgrenzung 
der  Idiotie  von  den  leichteren  Formen  des  Schwachsinns  immer  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  wiUkürHch  sein;  man  pflegt  im  Allgemeinen 
alle  diejenigen  Kranken  der  ersten  Gruppe  zuzurechnen,  deren 
geistige  Entwickelung  seit  den  frühen  Kinderjahren  höchstens  nach 
der  Seite  des  Gedächtnisses,  nicht  aber  nach  derjenigen  des  Urtheils 
und  des  Weltverständnisses  Fortschritte  gemacht  hat. 

Die  Behandlung  der  Idiotie  wird  in  der  Hauptsache  immer 
eine  pädagogische  sein  müssen,  selbstverständlich  unter  steter  Be- 
rücksichtigung der  für  jeden  einzelnen  Fall  in  Betracht  kommenden 
ärztüchen  Grundsätze.  Sich  selbst  überlassen  oder  in  ungünstiger, 
roher  Umgebung  pflegen  Idioten  rasch  zu  verkommen  und  zu  ver- 
thieren,  auch  bösartig  zu  werden.  Ich  erinnere  mich  an  einen 
kleinen  harmlosen  Idioten,  den  sein  Yater  in  bester  Absicht  des- 
wegen an  eine  Kette  legte,  weil  er  die  Neigung  hatte,  davon  zu 
laufen,  und  bei  seinen  Irrfahrten  in  allerlei  Gefahren  gerieth,  nament- 
lich durch  die  Misshandlungen  und  Scherze  seiner  Nachbarn.  Es 
ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  eine  ganze  Anzahl  jener  verwilderten 
Menschen,  die  man  zu  verschiedenen  Zeiten  in  Wäldern  aufgefunden 
und  neuerdings  als  besondere  Abart  des  Menschengeschlechts  („homo 
sapiens  ferus")  beschrieben  hat,  verirrte  Idioten  waren.  Noch  vor 
nicht  langer  Zeit  habe  ich  einen  aus  den  Wäldern  Ungarns  stammen- 
den zerlumpten  Landstreicher  gesehen,  dessen  eigenthümlicher,  hoch- 
gxadigster  Blödsinn  sehr  wahrscheinlich  bis  in  die  früheste  Jugend 
zurückreichte.  Auch  die  häusliche  Pflege  tiefstehender  Idioten  bringt 
nicht  selten  schwere  Nachtheile  mit  sich,  namentlich  bei  den  er- 
regten Formen.  Die  mühselige  Erziehung  solcher  Kinder  erfordert 
einen  derartigen  Aufwand  von  Liebe,  Geduld  und  namentlich  auch 


656 


XIll.  Diü  psycliischoii  EutwickclungsanomaUen. 


Sachkenntniss,  wie  er  in  der  Familie  fast  niemals  erreichbar  ist 
Ausserdem  aber  können  die  Kranken  durch  schlimme  Beeinflussung 
der  Geschwister,  durch  Gewaltthätigkeiten,  unvermuthete  Fahrlässig- 
keiten, Brandstiftungen,  geschlechthche  Angriffe  gelegentlich  in  nicht 
geringem  Grade  gefährlich  Averden. 

Mit  vollem  Eechte  hat  man  daher  mehr  und  mehr  die  Behandlung 
der  Idioten,  die  zu  einer  besonderen  Specialität  ausgebildet  worden  ist, 
in  eigens  für  die  Bedürfnisse  dieser  Kranken  eingerichtete  Anstalten 
verlegt.  Geregelter  Unterricht  in  möglichst  leicht  fasslicher  Form,  von 
den  einfachsten  Kenntnissen  und  Fertigkeiten  beginnend,  fi-euudliche, 
liebevolle  Pflege  der  gemütlilichen  Regungen,  sorgfältige  Förderung  der 
körperlichen  Ausbildung,  Alles  unter  genauer  Beachtung  der  kleinen 
persönlichen  Eigenthümüchkeiten  des  Einzelnen,  sind  die  hauptsäch- 
lichsten Hülfsmittel,  mit  denen  die  Idiotenerziehung  ai-beitet.  Die 
Erfolge  dieser  aufopferungsvollen  Arbeit  sind  zwar  der  Natur  der 
Sache  gemäss  keine  glänzenden  und  in  die  Augen  springenden,  aber 
sie  sind  doch  Aveit  gi-össer,  als  man  von  vorn  herein  denken  sollte. 
Eine  ansehnliche  Zahl  geistiger  Kilippel  verlässt  alljähi-lich  die 
Idiotenanstalten,  Avenn  auch  nicht  geheilt,  so  doch  derart  erzogen, 
dass  sie  in  bescheidenem  Ki-eise  dauernd  eine  nutzbringende  Thätigkeit 
zu  entfalten  im  Stande  siud.  Eine  Art  ursächlicher  Behandlimg 
der  Idiotie  kann  unter  Umständen  mit  der  Bekämpfung  epileptischer 
Anfälle  durch  Bromkalium,  Atropin,  Ueberosmiumsäure  (Wilder- 
muth)  angestrebt  Averden,  um  so  Avenigstens  das  Fortschreiten  des 
psychischen  Verfalles  bis  zu  einem  gOAvissen  Grade  zu  hindern.  Der 
thörichte  Vorschlag,  bei  MikrocephaUe  auf  chirui-gischem  Wege  den 
Schädel  zu  öflheu,  um  dem  vermeintlich  zusammen gepressten  Ge- 
hirne Raum  zu  schaffen,  beruht  auf  einer  so  gründhchen  Verwechsel- 
ung ZAvischen  Ursache  und  Wirkung,  dass  er  hoffentlich  kein  längeres 
Leben  haben  Avird,  als  die  Kranken,  die  ihm  bisher  zimi  Opfer  ge- 
fallen sind. 

B.  Der  Cretiiiismus*) 

Der  Cretinismus  ist  ausgezeichnet  durch  die  Verbindung 
eines  idiotischen  psychischen  Zustandes  mit  den  körper- 


Bailliirger  et  Krishabor,  crotin,  c.rötiiiisine  et  goitre  eiuleiuiquo.  dictiou- 
niüre  encyeloi)e(lique  des  scicnces  medicalcs.    1879  (Literatur). 


Cretinismus. 


657 


liehen  Begleiterscheinungen  einer  Verkümmerung  oderEnt- 
artung  der  Schilddrüse.  Der  cretinistische  Zustand  ist  bei  der  Ge- 
burt in  der  Regel  noch  nicht  vorhanden;  in  seltenen  Ausnahme- 
fällen sind  indessen  Kinder  bereits  mit  Kröpfen  geboren  worden. 
Am  häufigsten  zeigen  sich  die  ersten  Andeutungen  des  Leidens 
gegen  Ende  des  ersten  Lebensjahres.  Die  Kinder  bleiben  in  ihrer 
gesammten  körperlichen  Entwickelung  zurück,  zeigen  ein  blasses, 
gedunsenes  Aussehen.  Sie  lernen  sehr  spät  oder  gar  nicht  gehen, 
sind  träge  und  unbeholfen  in  ihren  Bewegungen.  Psychisch  sind 
sie  stumpf,  theilnahmlos,  sprechen  nicht,  schlafen  viel,  essen  ohne 
Auswahl,  vermögen  sich  nicht  reinlich  zu  halten  und  bedtlrfen  lange, 
bisweilen  ihr  ganzes  Leben  hindurch,  einer  sorgfältigen  Pflege. 

Um  das  5.  oder  6.  Lebensjahr  macht  sich  meist  deutlich  die 
Vergi-össerung  der  Schilddrüse  bemerkbar,  die,  bis  zum  12.  oder 
15.  Jahre  fortschreitend,  ganz  ausserordentliche  Grade  erreichen  kann. 
In  anderen,  weniger  häufigen  Fällen  verschwindet  dagegen  für 
die  äussere  Untersuchung  jede  Spur  der  Schilddrüse.  Das  geringe 
Längenwachsthum  des  Knochenskeletts  führt  zum  Zwergwuchs.  Da- 
bei pflegen  die  einzelnen  Skeletttheile  massig,  öfters  sogar  unförmlich 
entwickelt  zu  sein;  auch  der  Kopf  ist  meist  auffallend  gross,  aber 
flach,  der  Hals  kurz  und  dick.  Die  gesammte  Haut  ist  wulstig, 
hypertrophisch,  hängt  an  einzelnen  Stellen,  am  Nacken,  an  den  Ober- 
armen, in  Form  dicker,  nur  im  Ganzen  verschieblicher  Platten  über 
der  gewöhnlich  recht  schwächlichen  Muskulatur.  Namentlich  die 
breiten  Gesichter  mit  den  schwammigen  Backen  und  Augenlidern, 
den  dicken  Lippen,  der  aufgestülpten,  an  der  Wurzel  tief  ein- 
gedrückten Nase,  bieten  einen  sehr  merkwürdigen  Anblick  dar.  Bei 
schlechterem  Ernährungsstande  wird  die  Haut  eigenthümlich  faltig, 
schlaff  und  runzlig.  Der  Haarwuchs  ist  regelmässig  spärlich.  Die 
Zähne  sind  sehlecht,  cariös,  stehen  schief,  nach  vorwärts  gerichtet. 
Die  beiden  Zahnreiben  passen  vielfach  nicht  aufeinander,  weil  der 
Unterkiefer  gegenüber  dem  oberen  zurücktritt  oder  vorspringt.  Die 
Zunge  ist  dick,  unbeholfen  in  ihren  Bewegungen,  die  Sprache  daher 
auch  dort,  wo  sie  sich  über  unarticulirtes  Grunzen  erhebt,  lallend, 
stammelnd,  ungelenk.  Die  Stimme  klingt  rauh,  heiser,  bisweilen 
fistulös.  Die  Hautempfindlichkeit  ist  erheblich  herabgesetzt.  Alle 
Bewegungen  sind  plump,  sclnverfällig,  der  Gang  langsam  und 
schleppend.    Hie  und  da  werden  Krampfanfälle  beobachtet.  Die 

Kr ii opelin,  Psychiatiio.    4.  Aufl.  42 


658 


Xin.  Die  psychischen  EntwickelungsanomaUen. 


Geschlechtsentwickelung  tritt  spät  oder  bei  den  höchsten  Graden  des 
Leidens  gar  nicht  ein.  Hier  unterbleibt  bisweilen  auch  der  Zahn- 
wechsel. Die  Widerstandskraft  der  Cretinen  gegen  Krankheiten  und 
andere  Schädlichkeiten  pflegt  eine  sehr  geringe  zu  sein;  sie  erreichen 
daher  meist  kein  hohes  Lebensalter,  nur  recht  selten  das  50.  Jahr. 

In  psychischer  Beziehung  können  die  Cretinen  alle  mög- 
lichen Grade  der  Entartung  vom  tiefsten  Blödsinn  bis  zum  leichten 
Schwachsinn  darbieten,  ja  es  giebt  einzelne  Personen,  welche  trotz 
gewisser  körperlicher  Anzeichen  des  Cretinismus,  (namentlich  Ki-opf) 
dennoch  in  ihrem  geistigen  Yerhalten  von  der  Gesundheitsbreite 
nicht  erkennbar  abweichen.  Bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  der 
Kranken  jedoch  findet  sich  eine  ausgeprägte  Stumpfheit  und  Un- 
empfänglichkeit,  welche  sie  mehr  oder  weniger  unfähig  macht,  Ein- 
drücke in  sich  aufzunehmen,  Erfahrungen  zu  sammeln,  Yorstellungen 
und  Begriffe  zu  bilden.  Sie  bleiben  daher  sehr  häufig  auf  der  Stufe 
des  4—5  jährigen  Kindes  stehen,  öfters  auch  noch  tiefer.  Auch  die 
gemüthliche  Erregbarkeit  der  Cretinen  ist  regelmässig  eine  sehr 
geringe;  sie  sind  gleichgültig,  phlegmatisch,  vielfach  kindisch  zu- 
thunlich,  gutmüthig  und  lenksam.  Zu  geregelter  Arbeit  sind  sie 
meist  nicht  fähig,  theils  wegen  ihrer  Trägheit  und  Schlaffheit,  theüs 
wegen  ihrer  geringen  Kräfte  und  der  grossen  Ermüdbarkeit.  Ge- 
wöhnlich besteht  dieser  Zustand  durch  das  ganze  Leben  gleichmässig 
fort.  Nur  in  einzelnen  Fällen  können  sich,  gerade  wie  bei  Idioten, 
mehr  vorübergehende  geistige  Störungen  hinzugesellen,  manische 
Erregungen,  Depressionen  oder  dürftige  Wahnbildungen. 

Die  pathologische  Anatomie  des  Cretinismus  liegt  leider 
noch  völlig  im  Argen.  Wir  wissen  über  den  Hirnbefund  nur,  dass 
theilweiser  Schwund,  Asymmetrien,  Erweiterung  der  Hirnhöhlen  vor- 
kommen. Der  Schädel  ist  häufig  verdickt.  Hier  wäre  ein  Angriffs- 
punkt für  die  Forschung  mit  Hülfe  der  neueren  Methoden. 

Der  Cretinismus  tritt  bei  Weitem  am  häufigsten  endemisch 
auf,  namentlich  in  den  grossen  Gebirgsstöcken  aller  Erdtheile,  in 
Europa  besonders  in  den  Alpen  und  Pyrenäen.  Am  meisten  scheinen 
die  mittleren  Abschnitte  sehr  heisser  und  feuchter  Gebii'gsthäler 
gefährdet  zu  sein;  auch  dem  Kalkboden  wird  eine  gewisse  Bedeutung 
zugeschrieben.  Die  letzten  Ursachen  dieser  endemischen  Locali- 
sation  sind  bisher  noch  unbekannt:  man  hat  die  verschiedenartigsten 
Momente,  grosse  Feuchtigkeit,  Stagnation  der  Luft,  schlechtes  Trink- 


Cretinlsmus. 


659 


Wasser,  Gehalt  der  Luft  und  des  Bodens  an  gewissen  Substanzen, 
geologische  Formation,  ungünstige  hygienische  Verhältnisse,  dafür 
verantwortlich  gemacht,  ohne  doch  bisher  eine  sichere  Erklärung 
auffinden  zu  können.  Immerhin  weisen  zahlreiche  Beobachtungs- 
thatsachen  vor  Allem  auf  eine  sehr  wichtige  Kollo  des  Trinkwassers 
hin.  In  der  Schweiz  hat  die  Bevölkerung  vielfach  solche  Quellen 
als  „Kropfbrunnen"  bezeichnet,  auf  deren  Benutzung  die  Entstehung 
des  Cretinismus  zurückgeführt  wurde.  Hie  und  da  hat  sich  die 
Beschi-änkung  des  Leidens  auf  einen  bestimmten  Brunnenbezirk, 
das  Aufhören  oder  das  Auftreten  des  Cretinismus  mit  der  Schliessung 
oder  Eröffnung-  einer  bestimmten  WasserqueHe  nachweisen  lassen. 
Meistens  fi-eilich  pflegt  die  Ursache  des  Cretinismus  eine  weitere 
Yerbreitung  zu  besitzen  und  den  Typus  der  Gesamnitbevölkerung 
einer  Gegend  mehr  oder  weniger  stark  zu  beeinflussen,  so  dass  eben 
dadurch  jene  zahlreichen  Abstufungen  bis  in  die  Gesundheitsbreite 
hinein  entstehen,  denen  wir  regelmässig  neben  den  schwersten 
Formen  begegnen.  Ja,  auch  die  Thiere,  Schweine,  Hunde,  Pferde, 
Eindvieh,  Katzen,  besonders  aber  Maulthiere,  können  die  Zeichen 
des  endemischen  Cretinismus  darbieten.  Erwachsene  Fremde,  welche 
sich  in  den  gefährdeten  Gegenden  niederlassen,  erkranken  nicht 
oder  höchstens  mit  ganz  leichten  Kropfbildungen,  während  die  dort 
von  ihnen  erzeugten  Kinder  gar  nicht  selten  cretinistisch  entarten. 
Andererseits  ist  der  Cretinismus  einer  erblichen  Uebertragung  fähig, 
auch  nach  der  Auswanderung  aus  der  befallenen  Gegend;  er  pflegt 
sich  unter  solchen  Umständen  erst  nach  wiederholter  Kreuzung  mit 
gesundem  Blute  zu  verlieren. 

Alle  diese  eigenthümlichen  Thatsachen  scheinen  darauf  hinzu- 
weisen, dass  wir  als  die  Ursache  des  Cretinismus  eine  Schädlichkeit 
anzusehen  haben,  welcher  eine  gewisse  Selbständigkeit  der  Ent- 
wickelung  neben  der  Entstehung  unter  bestimmten  allgemeinen 
hygienischen  Bedingungen  zukommt,  ein  Verhalten,  welches  mit 
grosser  "Wahrscheinlichkeit  auf  einen  organisirten  Infecti  onsstoff 
hinweist.  Namentlich  der  jugendliche,  resp.  fötale  Organismus  scheint 
diesem,  offenbar  wenig  flüchtigen  und  vielleicht  auf  die  Nach- 
kommenschaft übertragbaren  endemischen  Contagium  besonders  leicht 
zugänglich  zu  sein.  Nach  Allem,  was  wir  über  das  Myxödem,  sowie 
über  die  Entartung  nach  Ausschneidung  der  Schilddrüse  wissen, 
kann  kaum  noch  ein  Zweifel  sein,  dass  auch  beim  Cretinismus  die 

42* 


660 


XIII.  Die  psychischen  Entwickelungsanomiilien. 


Erkrankung  der  Schilddrüse  das  erste  Glied  der  Erkrankung 
darstellt,  während  die  Hautveränderungen,  die  Wachsthumshemmung, 
der  Blödsinn  als  die  Folgen  des  Ausfalls  der  Schilddrüsenfunction  an- 
zusehen sind.  Ist  es  doch  bereits  gelungen,  absichtlich  bei  Thieren 
und  unabsichtlich  beim  Menschen  alle  jene  Krankheitserscheinungen 
geradezu  experimentell  herbeizuführen!  Auf  diese  Weise  erklärt 
es  sich  einmal,  dass  es  Cretineu  mit  und  ohne  Kropf  giebt,  da  die 
Erkrankung  der  Schilddrüse  natürlich  zur  Yergrösserung  und  Ent- 
artung, aber  auch  zur-  Schrumpfung  des  Organs  führen  kann.  So 
erklären  sich  ferner  die  verschiedenen  Grade  des  Cretinismus  durch 
die  verschiedene  Ausbreitung  der  örtlichen  Veränderungen,  wie 
durch  die  wechselnde  Ausbildung  stellvertretender  Drüsen.  Endlich 
aber  begreift  man  leicht,  dass  es  neben  dem  endemischen  hie  und 
da  auch  einmal  einen  Fall  von  „sporadischem"  Cretinismus  geben 
kann,  wenn  nämlich  die  Schilddrüse  nicht  durch  den  gewöhnlichen, 
auf  bestimmte  Gegenden  beschränkten  Krankheitserreger,  sondern 
durch  irgend  ein  anderes  Leiden  functionsunfähig  wird.  Die  Aehn- 
lichkeit  der  cretinistischen  mit  der  Malariaentartung  scheint  mir 
eine  sehr  grosse  zu  sein;  in  beiden  Fällen  handelt  es  sich  um  die 
Erkrankung  einer  für  den  Blutstoffwechsel  nothwendigen  Drüse, 
in  beiden  wahrscheinlich  uin  ein  organisirtes  Ferment,  welches 
im  Grundwasser  gewisser  Oertlichkeiten  von  gleicher  Boden- 
beschaffenheit seine  günstigen  Entwickeiungsbedingungen  findet  und 
die  ganze  Bevölkerung  heimsucht,  den  Eiuen  stärker,  den  Andern 
weniger. 

Aus  dieser  Erkenntniss  der  Entstehungsweise  des  Cretinismus 
leiten  sich  leicht  die  Massregeln  für  seine  Bekämpfung  ab.  Die 
Erfahrung  hat  gezeigt,  dass  Entsumpfung  des  Bodens  und  Yer- 
sorgung  der  Bevölkerung  mit  gutem  Trinkwasser  überall  mit  über- 
raschender Sicherheit  eine  Abnahme  der  Endemie  herbeigeführt 
hat.  Auch  die  allgemeine  Yerbesserung  der  hygienischen  Verhält- 
nisse scheint  vielfach  günstig  gewirkt  zu  haben,  vielleicht  weil  auf 
diese  "Weise  die  Widerstandsfähigkeit  gegen  den  Infectionstt-äger  ge- 
steigert wurde.  Es  wäre  wenigstens  denkbar,  dass  der  vielfach  be- 
stätigte Einüuss  der  Erblichkeit  wesentlich  mit  auf  der  Vererbung 
einer  geschwächten,  wenig  widerstandsfähigen  körperlichen  Anlage 
beruht.  Jedenfalls  ist  daher  reichliche  Kreuzung  mit  gesundem 
Blute  zu  empfehlen.  Für  die  einzelne  Person  kann  die  Prophylaxe 


Angeborener  Sc-bwachsinn. 


661 


wirksam  dadurch  eingreifen,  dass  die  kleinen  Kinder  möglichst  früh- 
zeitig aus  der  befallenen  Gegend  fortgeschickt  werden,  bis  sie  das 
gefährdete  Alter  tiberschritten  haben,  am  besten  auf  die  Höhe  des 
Gebirges.  Erfahrene  Beobachter  theilen  mit,  dass  diese  Massregel 
selbst  dann  noch  völlige  Genesung  erzielen  könne,  wenn  bereits  die 
ersten  Zeichen  der  beginnenden  Entartung  erkennbar  seien;  auch 
fortgesetzte  kleine  Jodkaliumgaben  sollen  in  diesem  Stadium  von 
guter  Wirkung  sein.  Gegen  das  entwickelte  Leiden  giebt  es  keiae 
Hülfe. 

C.  Der  angeborene  Schwachsinn. 

Den  schweren  Beeinträchtigungen  des  gesammten  psychischen 
Lebens,  wie  wir  sie  als  Idiotie  geschildert  haben,  pflegt  man  alle 
die  zahlreichen  Zwischenstufen  zwischen  jener  letzteren  und 
den  normalen  Zuständen  unter  dem  Namen  des  angeborenen 
Schwachsinns  oder  der  Imbecillität  gegenüberzustellen.  Yon 
der  Idiotie  unterscheiden  sie  sich  nur  durch  den  geringeren  Grad 
der  psychischen  Schwäche,  so  dass  sie  daher  auch  wol  mit  den 
fr-üher  geschilderten  Formen  als  Idiotie  im  weiteren  Sinne  zu  einer 
gi-össeren  Gruppe  vereinigt  worden  sind. 

Die  Mannichfaltigkeit  der  Formen  in  dem  grossen  Bereiche  des 
angeborenen  Schwachsinns  ist  eine  sehr  bedeutende.  Um  uns  den 
Ueberblick  über  dieselben  zu  erleichtern,  wollen  wir  vier  Haupt- 
typen hier  auseinanderhalten,  den  intellectu eilen,  den  morali- 
schen, den  emotiven  und  den  impulsiven  Schwachsinn.  Frei- 
lich ist  eine  irgendwie  strenge  Abscheidung,  wie  das  Studium  der 
einzelnen  Krankheitsbilder  selber  lehren  wird,  schlechterdings  un- 
durchführbar, da  die  Grenzen  überall  ineinanderfliessen;  nur  ge- 
wisse allgemeine  Gesichtspunkte  sollen  hier  gegeben  Averden,  um 
das  Verständniss  dieses  so  ausserordentlich  schwierigen  Gebietes 
wenigstens  einigermassen  zu  erleichtern. 

Im  Bereiche  des  intellectuellen  Schwachsinns  begegnen  uns, 
ähnlich  wie  bei  der  Idiotie,  hauptsächlich  zwei  Gruppen  von  khni- 
schen  Bildern,  welche  sich  durch  den  Grad  der  geistigen  Reg- 
samkeit der  Kranken  von  einander  unterscheiden.  Wir  wollen  sie 
als  anergetische  und  er  ethische  Formen  bezeichnen.  Den  Grund- 
zug der  anergetischen  Schwächezustände  büdet  die  Stumpfheit 
imd  Unempfänglichkeit.    Den  Kranken  fehlt  die  Fähigkeit,  eine 


662 


XIII.  Die  psychischen  Entwickelungsanomalien. 


grössere  Zahl  von  Eindrücken  und  Lebenserfahrungen  in  sich  auf- 
zunehmen und  weiter  zu  verarbeiten.  Ihre  Erkenntniss  der  Aussen- 
welt  beschränkt  sich  auf  das  unmittelbar  Gegebene  und  Nächst- 
liegende; was  darüber  hinausgeht,  liegt  ausserhalb  des  geistigen 
Gesichtski-eises  und  bleibt  daher  unbemerkt.  Yielleicht  ist  die 
wesentliche  Ursache  dieser  „Beschränktheit"  darin  zu  suchen,  dass 
die  YorsteUungen  ihre  concreten  Formen  behalten,  ohne  sich  zu 
Begriffen  zu  erweitern.  Gerade  der  Yorgang  der  Absti-action,  die 
Yerschmelzung  der  sämmtlichen  Einzelerfahrungen  zu  Allgemein- 
vorstellungen, ist  es  ja,  welcher  es  uns  ermöglicht,  überall  das 
Wesentliche  von  dem  Nebensächlichen  zu  unterscheiden.  Durch  sie 
gelingt  es  uns  ferner,  auch  für  neue  Beobachtungen  die  Anknüpfung 
an  frühere  "Wahrnehmungen  zu  finden  und  endlich  eine  übersicht- 
liche Ordnung  unseres  gesammten  Gedächtnissmaterials  zu  erreichen. 
Bei  unseren  Kranken  geht  nur  das  Einzelne  und  Kleinliche  in  den 
Erfahrungsschatz  ein,  ohne  begriffliche  Yerarbeitung,  ohne  Auf- 
fassung allgemeinerer  Yerhältnisse,  ohne  Gewinnung  grösserer  Ge- 
sichtspunkte. Das  Typische  trennt  sich  nicht  ab  von  dem  Zufälligen ; 
grundsätzüche  Uebereinstimmungen  und  Unterschiede  werden  nicht 
erkannt,  sondern  durch  gelegentliches  Beiwerk  verdeckt.  Neue  Ein- 
drücke finden  keinen  Widerhall  in  ähnlichen  Erlebnissen  der  Yer- 
gangenheit;  unvermittelt,  ohne  innere  Beziehungen  zu  gewinnen, 
reihen  sich  die  einzelnen  Wahrnehmungen  aneinander.  Es  fehlt 
eben  jene  psychische  Resonanz,  welche  beim  Gesunden  die  führende 
Melodie  des  Yorstellungsverlaufes  beständig  mit  den  leisen,  immer 
wechselnden  Accorden  früherer  Erinnerungen  begleitet. 

So  kommt  es,  dass  der  gesammte  Ideenkreis  der  Kranken,  ab- 
gesehen von  einer  gevsässen  Beherrschung  der  alltäglich  aufge- 
nommenen Wahrnehmungen,  ärmlich  bleibt  und  sich  meist  in  den 
gleichen  Bahnen  bewegt.  Der  Gedankengang  ist,  wie  Buccola 
durch  directe  Messungen  nachgewiesen  hat,  verlangsamt.  Das  Ur- 
theil  der  Kranken  ist  bei  ihrer  Unfähigkeit  zu  selbständiger  Begrifis- 
büdung  ein  sehr  beschränktes,  unsicheres,  und  wird  vielfach  durch 
äusserlich  angelernte  Ergebnisse  fremden  Nachdenkens  („Schlag- 
worte") entscheidend  beeinflusst.  Ein  Ueberblick  über  den  Zu- 
sammenhang der  Lebensereignisse,  eine  weitergehende  Yoraussicht 
der  Folgen  eigener  und  fremder  Handlungen  wird  nicht  erreicht; 
die  Einbildungskraft,  die  Fähigkeit  zu  wiUküi'licher  Wiedei'erweckuug 


Angeborener  Schwachsinn. 


663 


und  freier  Verknüpfung  gewonnener  Yorstellungen,  ist  sehr  un- 
vollkommen ausgebildet. 

Das  Gedächtniss  der  Kranken  pflegt  nur  in  den  gröbsten 
Zügen  treu  zu  sein.  Manche  ganz  unwichtige  Einzelheiten  werden 
bisweilen  mit  grosser  Zähigkeit  festgehalten,  während  andere,  be- 
deutungsvolle Thatsachen  einfach  vergessen  sind.  Die  Erzählungen 
der  Kranken  sind  daher  häufig  sehr  unzuverlässig,  weil  sie  Manches 
auslassen,  Anderes  verwechseln,  noch  Anderes  hinzufügen.  Die  ver- 
schiedenen Berichte  über  dasselbe  Erlebniss  stimmen  untereinander 
entweder  ganz  wörtlich  überein,  oder  sie  zeigen  mannichfache  sach- 
liche Widersprüche.  In  beiden  Fällen  ist  es  schwierig,  sich  ein  TJr- 
theil  darüber  zu  bilden,  nicht  nur  wie  der  Yorfall  sich  vdrklich  ab- 
gespielt hat,  sondern  öfters  auch  darüber,  ob  der  Kranke  absichtlich, 
fahrlässig  oder  in  gutem  Glauben  falsch  aussagt. 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  dauernd  ungetrübt;  sie 
erkennen  ihre  Umgebung,  fassen  die  an  sie  gerichteten  Fragen 
auf  und  geben  besonnene,  wenn  auch  meist  sehr  unzulängliche 
und  schwerfällige  Auskunft.  Häufig  kehren  in  ihren  Aeusserungen 
stehende  Redensarten  und  Kraftworte  vsdeder.  Yon  einer  Krank- 
heitseinsicht ist  keine  Rede;  sie  halten  sich  für  ganz  gesund,  ver- 
langen hie  und  da  ihre  Freiheit,  um  sich  nunmehr  allein  fort- 
zubringen, sind  den  Belehrungen  über  ihre  Lage  nur  in  sehr  geringem 
Masse  zugänglich. 

Wegen  der  Beschränktheit  des  Gesichtskreises  gewinnen  die  Zu- 
stände und  Angelegenheiten  der  eigenen  Persönlichkeit  eine  ganz 
unverhältnissmässige  Wichtigkeit  für  den  Kranken.  Je  ärmer  die 
Erfahrung,  desto  grösser  ist  die  Rolle,  welche  das  Ich  in  derselben 
spielt.  So  kommt  es,  dass  hier  stets  eine  mehr  oder  weniger  scharf 
ausgeprägte  selbstsüchtige  Richtung  des  Gedankenganges  und 
^veiterhin  auch  der  Gefühle  sich  ausbildet.  Das  körperliche  Wohl 
und  Wehe,  das  alltägliche  Thun  und  Treiben,  die  Befriedigimg  der 
unmittelbarsten  Wünsche,  Essen  und  Trinken,  der  Besitz  begehrens- 
werth  erscheinender  Dinge  bleiben  dauernd  Mittelpunkt  des  gesammten 
geistigen  Lebens.  Alle  Erfahrungen,  die  nicht  augenfällig  an  diesen 
Mittelpunkt  anknüpfen,  lassen  den  Kranken  gleichgültig,  erregen 
keinerlei  Theilnahme  bei  ihm  und  gehen  daher  spurlos  an  ihm  vor- 
über. Vielfach  fehlen  ihm  sogar  die  natüiiichsten  Gefülilsbeziehungen 
zu  seinen  nächsten  Angehörigen.  Ihr  Wohlergehen  erweckt  höchstens 


664 


XIII.  Dio  psychischen  Entwickelungsanomalien. 


seinon  Neid,  und  das  oberflächliche  Bedauern  über  den  Verlust  etwa 
der  Eltern  wird  schon  durch  den  Pomp  des  Leichenbegängnisses 
und  den  Genuss  der  neuen  Trauerkleider  rasch  ausgelöscht.  Noch 
stumpfer  steht  der  Kranke  fremdem  Leide  gegenüber.  Daher  dio 
rohe  Gefühllosigkeit  beim  Anblicke  von  Noth  und  Unglück,  daher 
die  naive  Grausamkeit,  welche  unsere  Kranken  so  häufig  bei  ihren 
Thierquälereien  wie  bei  ihren  verbrecherischen  Handlungen  an  den 
Tag  legen.  Einer  meiner  Elranken,  der  zugleich  an  ererbter  Chorea 
ütt,  versuchte  am  hellen  Tage  seine  alte,  aufopfernd  für  ihn  sorgende 
Mutter  mit  dem  Holzbeile  zu  erschlagen,  um  in  den  Besitz  ihres  Spar- 
kassenbuches zu  gelangen.  Er  wui'de  dabei  gestört  und  zu  einer  lang- 
jährigen Zuchthausstrafe  verurtheilt,  nach  deren  Verbüssung  er  end- 
lich in  die  Irrenanstalt  wanderte. 

Die  Stimmung  der  Kranken  ist  gleichmüthig ,  theilnahmlosi 
häufig  aber  auch  von  einer  eigenthümlich  leeren,  kindischen  Heiter- 
keit. Gelegentlich  indessen  kommt  es  auch  einmal  zu  plötzhchen 
Ausbrüchen  leidenschaftlicher  Heftigkeit,  namentiich  wenn  sie  gereizt 
werden  und  sich  benachtheiligt  oder  gekränkt  glauben.  Li  ihrem  Be- 
nehmen sind  sie  meist  harmlos,  lenksam,  guten,  aber  auch  schlechten 
Einflüssen  zugänglich,  zeitweise  eigensinnig  und  querköpfig.  Schlechte 
Behandlung  macht  sie  widerspenstig  und  gewaltthätig.  Zu  einer 
selbständigen  Thätigkeit  sind  sie  in  der  Eegel  nicht  fähig,  be- 
schäftigen sich  aber  unter  Anleitung,  freilich  auch  ohne  rechten 
Eifer  und  ohne  tieferes  Yerständniss.  Nur  in  einzelnen  Fällen  "wü'd 
wol  auch  eine  hervorragende  einseitige  technische  Fertigkeit,  An- 
lage zur  Musik,  ziun  Zeichnen  beobachtet,  allerdings  stets  ohne  die 
Fähigkeit  zu  werthvollerer  Arbeit  selbst  auf  diesen  Gebieten. 

Leichtere  Formen  dieses  Schwachsinns  sind  oftmals  überaus 
schwer  zu  diagnosticiren.  Trotz  der  Beschränktheit  ihres  Ur- 
theils  und  Gesichtskreises  vermögen  die  Kranken  es  doch  vielfach, 
sich  in  einfachen  Yerhältnissen  noch  leidlich  gut  zurechtzufinden, 
ohne  dass  man  sie  gerade  für  abnorm  hält,  weil  sie  rein  gedächt- 
nissmässig  eine  gewisse  Summe  von  Erfahrung  zu  beherrschen  wissen 
imd  den  gewohnten  Kreislauf  ihrer  Beschäftigungen  mit  mechanischer 
Sicherheit  regelmässig  durchlaufen.  Wo  aber  eine  mächtige  Geniüths- 
bewegung,  eine  Entscheidung,  eine  Versuchung  an  sie  herantritt, 
wo  die  Sachlage  Umsicht,  Thatkraft  und  Selbständigkeit  des  Handelns 
erfordert,  da  tritt  unvermuthet  die  ganze  geistige  und  gemüthliche 


Angeborener  Schwachsinn. 


Ü65 


Unfähigkeit  des  Individuums  zu  Tage,  um  allerdings  dann  meist 
nicht  sowol  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Ki-ankheit,  als  unter  dem 
der  sittlichen  Schlechtigkeit  beurtheilt  zu  werden.  Selbst  schwerere 
Störungen  indessen  werden  noch  merkwürdig  häufig  verkannt.  Na- 
mentlich beim  Militär  scheint  das  Verständniss  für  dieselben  vielfach 
zu  fehlen.  Einer  meiner  Ki'anken  wurde  trotz  hochgradigen  Schwach- 
sinns nacheinander  zu  44  Monaten  Gefängniss  verurtheilt,  Jahre 
lang  aus  einem  Militärgefängnisse  in  das  andere  übergeführt  und 
mehr  als  100  Mal  polizeilich  und  disciplinarisch  bestraft,  bevor  er 
in  einer  Irrenanstalt  für  „paranoisch"  erklärt  wurde.  Vergebens 
hatte  er  in  richtiger  Selbsterkenntniss  als  Beweggrund  seiner  wieder- 
holten Desertionsversuche  angegeben,  er  passe  nicht  zum  Soldaten 
und  begreife  nicht,  was  man  immer  wieder  von  ihm  wolle;  man 
möge  ihn  in  Euhe  lassen! 

Die  Entwickelung  der  hier  beschriebenen  Störung  kündigt  sich 
meist  schon  frühzeitig  an.  Dem  verspäteten  Auftreten  der  ersten 
geistigen  Kegungen,  des  Lächelns,  der  Nachahmung,  der  Sprache, 
folgt  das  Zurückbleiben  in  der  Schule,  wenn  auch  vielleicht  die 
Unfähigkeit  zu  selbständiger  geistiger  Terarbeitung  zunächst  noch 
durch  einfache  Gedächtnissleistungen  eine  Zeit  lang  verdeckt  wird. 
Meist  sind  die  Kinder  träge,  faul,  verständnisslos  und  werden  wegen 
ihrer  geringen  Begabung  zum  Spott  ihrer  Mitschüler.  Nur  noth- 
dürftig  eignen  sie  sich  einige  Fertigkeit  im  Schreiben,  Lesen,  weniger 
im  Rechnen  an,  lernen  mühselig  eine  Anzahl  von  Sprüchen,  geo- 
graphischen oder  geschichtlichen  Thatsachen  auswendig,  um  sie  bald 
wieder  zu  vergessen,  da  der  todte  Stoff  für  sie  keine  Verknüpfung 
mit  den  Erfahrungen  des  wirklichen  Lebens  eingeht.  In  den  Ent- 
wickelungsjahren  tritt  die  geistige  Schwäche  gewöhnlich  deutlich 
hervor,  sei  es,  dass  diese  Invahden  sich  bei  den  gesteigerten  An- 
forderungen nunmehr  von  ihren  gesunden,  fortschreitenden  Kame- 
raden schärfer  abheben,,  sei  es,  dass  unter  Umständen  hier  wirklich 
*  nicht  nur  ein  Stillstand,  sondern  sogar  eine  theilweise  Rückbildung 
der  geistigen  Entwickelung  eintritt.  Fälle  der  letzteren  Art,  wie 
ich  sie  mehrfach  gesehen  zu  haben  glaube,  wüi-den  den  Uebergang 
zu  gewissen  Formen  der  Dementia  praecox  darstellen.  Die  weiteren 
Schicksale  unserer  Ki-anken  pflegen  verschiedenartige,  immer  wieder 
an  der  geistigen  Unfähigkeit  scheiternde  Anläufe  zu  einer  Berufs- 
wahl zu  sein,  endlich  thatcnloses  Daliinlebon  in  Familienpflege,  nocJi 


666 


XIII.  Bio  psychischen  Entwickelungsanomalien. 


häufiger  vielleicht  der  Uebergang  zum  Gewohnheitsbettel  und  zur 
Landstreicherei.  Eine  Menge  derartiger  Kranker  findet  sich  nament- 
lich in  den  Arbeitshäusern  und  Gefängnissen,  wo  sie  Avegen  ihrer 
Unverbesserlichkeit  der  Schrecken  der  Beamten  und  Aufseher  sind^ 
bis  sie  endlich  wenigstens  zum  Theil  spät  noch  in  die  Irrenanstalten 
gelangen. 

Zu  den  Energetischen  Schwächezuständen  stehen  die  er  ethi- 
schen nach  mancher  Kichtung  in  einem  gewissen  Gegensatze.  An 
Stelle  der  Stumpfheit  zeigt  sich  eine  krankhafte  Beweglichkeit 
der  Aufmerksamkeit  und  der  Einbildungskraft.  Die  Kranken 
sind  empfänglich  für  neue  Eindrücke,  machen  zahlreiche  Wahr- 
nehmungen, werden  durch  jeden  frischen  Eeiz  angezogen,  vermögen 
aber  nicht,  planmässig  und  ausdauernd  ihre  Aufmerksamkeit  einem 
bestimmten  Gegenstande  zuzuwenden.  Sie  begnügen  sich  überall 
mit  dem  ersten  Anschein,  schweifen  sofort  ab,  sind  mit  der  Be- 
trachtung fertig,  bevor  sie  noch  recht  angefangen  haben.  Der 
flüchtig  und  oberflächlich  erfasste  Inhalt  ihrer  Erfahrungen  ist  daher 
in  hohem  Masse  von  zufälligen  Einflüssen  abhängig  und  bietet  nur 
ein  sehr  lückenhaftes,  vielfach  stark  verzerrtes  Bild  der  Aussenwelt. 
Aus  diesen  Bestandtheilen  setzen  sich  dehnbare,  verschwommene, 
vielfach  verfälschte  Begriffe  zusammen,  welche  die  Grundlage  für 
schiefe  und  halbrichtige  Urtheile,  sowie  für  abenteuerliche  Analogie- 
schlüsse abgeben.  Dem  ganzen  Denken  der  Kranken,  sobald  es 
sich  über  das  unmittelbar  sinnlich  Gegebene  erhebt,  fehlt  die  feste 
Grenzlinie  klar  und  scharf  ausgeprägter  AllgemeinvorsteUungen, 
welche  überall  das  Spiel  der  leicht  beweglichen  Phantasie  in  die 
geordneten  Bahnen  des  logischen  Gedankenganges  zwingen.  Die 
Lebens-  und  Weltanschauung  der  Kranken  wird  auf  diese  Weise 
in  auffallendem  Masse  unabhängig  von  der  Wirklichkeit.  Wichtige 
und  massgebende  Thatsachen  haben  für  sie  gar  kein  Gewicht,  üben 
auf  ihre  Ueberlegungen  nicht  den  geringsten  Einfluss,  während  sie 
andererseits  ernsthaft  mit  Verhältnissen  rechnen,  die  nui-  in  ihrer 
Einbildung  bestehen.  Ein  derartiger  Kranker  begründete  seine  an- 
gebliche tiefe  Kenntniss  der  hohen  Politik  mit  der  Angabe,  dass 
ein  Verwandter  von  ihm  Aufseher  auf  einem  Gute  Herbert  Bis- 
marcks sei;  er  wollte  nach  seiner  Entlassung  aus  der  Anstalt  ge- 
heimer Polizist  werden,  trotzdem  er  bereits  mehi-fach  wegen  aller 
möglichen  Schwindeleien  längere  Fi'eiheitsstrafen  verbüsst  hatte. 


Angeborener  Schwachsinn. 


667 


Diese  unbekümmerte  Vernachlässigung  der  Wirklichkeit,  die 
Freiheit  von  dem  unbequemen  Ballaste  der  Bedenken  und  Ueber- 
legungen,  giebt  dem  Gedankengange  etwas  eigenthiiiulich  Zerfahrenes 
und  Widerspruchsvolles.  Ohne  Zögern  entwickelt  der  Kranke  heute 
diese,  morgen  jene  Anschauungen  und  Pläne,  stützt  sich  im  gleichen 
Satze  auf  Gründe,  die  einander  ausschliessen,  fertigt  Einwände  sieges- 
gewiss  mit  ganz  unzutreffenden  Schlagworten  ab.  Auch  hier  ist  in 
der  Eegel  trotz  aller .  anscheinenden  geistigen  Beweglichkeit  die 
häufige  Wiederkehr  bestimmter  hochti-abender  Kedensarten  und 
schwülstiger  Gemeinplätze  sehr  deutlich.  Der  innere  Zusammen- 
hang zwischen  allen  diesen,  meist  mit  grosser  Geläufigkeit  vor- 
gebrachten Ausführungen  ist  stets  ein  sehr  lockerer.  Der  Kranke 
verliert  rasch  den  Faden,  bringt  die  verschiedensten  Dinge  dui-ch- 
einander,  berauscht  sich  förmlich  an  seinen  eigenen  klingenden 
Phrasen  und  schHesst  plötzlich  unvermittelt  mit  einer  rhetorischen 
Frage  oder  einer  sonstigen,  besonders  schlagenden  Wendung.  Zu 
Zeiten  lässt  sich  sogar  zweifellose  Ideenflucht  beobachten,  nament- 
lich bei  lebhafterer  gemüthlicher  Erregung.  Trotzdem  pflegt  die 
Zungengewandtheit  der  Kranken  und  der  tönende  Wortschwall,  mit 
dem  sie  den  Zuhörer  überschütten,  häufig  genug  den  Unerfahrenen 
über  die  Unsinnigkeit  und  Zerfahrenheit  des  Inhaltes  ihrer  Eeden 
zu  täuschen,  so  dass  sie  nicht  als  schwachsinnig,  sondern  sogar  als 
besonders  schlau  angesehen  werden.  „Den  nehmen  wir  mit;  der 
ist  gescheidter,  als  wir",  sagte  eine  Gemeindeabordnung,  welche  ge- 
kommen war,  um  sich  selbst  von  dem  Zustande  eines  derartigen,  in 
der  Anstalt  festgehaltenen  Kranken  zu  überzeugen.  Freilich  brachten 
sie  ihn  schon  nach  kurzer  Zeit  wieder  zurück. 

Aus  den  bisher  besprochenen  psychischen  Eigenthümlichkeiten 
unserer  Kranken  erklärt  es  sich,  dass  wir  bei  ihnen  häufig  der 
Neigung  begegnen,  ihre  Erinnerungen  mit  frei  erfundenen  Zügen 
miszuschmücken,  die  Darstellung  früherer  Erlebnisse  derartig  sub- 
jectiv  zu  färben  und  zu  verdrehen,  dass  man  die  Grenze  absicht- 
licher Schwindelei  und  fahrlässigen  Fabulirens  nicht  mehr  -zu  er- 
kennen vermag*).  Bisweüen  bringt  erst  die  actenmässige  Verfolgung 
des  Vorlebens  Klarheit  in  den  Wust  von  Wahrheit  und  Dichtung; 


*)  Delbrück,  die  pathologische  Lüge  und  die  psychisch  abnormen  Schwindler, 

1891. 


m 


XUI.  Die  psychischen  Entwickelungsanomalien. 


in  anderen  Fällen  lässt  uns  die  plumpe  Abenteuerlichkeit  der  Er- 
findung über  den  Ursprung  derselben  nicht  im  Zweifel.  Stets  aber 
pflegen  die  Kranken  trotz  der  schlagendsten  Gegenbeweise  an  der 
Richtigkeit  ihrer  noch  dazu  vielfach  wechselnden,  sich  selbst  wider- 
sprechenden Erzählungen  festzuhalten  und  mit  der  Miene  der  ge- 
kränkten Unschuld  jede  weitere  Erörterung  abzulehnen.  Diese  Er- 
fahrung mahnt  zur  Yorsicht  namentlich  gegenüber  den  häufigen 
schweren  Beschuldigungen,  die  von  den  Krauken  gegenüber  ihren 
Angehörigen,  den  Mitpatienten  oder  dem  Wartpersonal  vorgebracht 
werden. 

Die  wirklichen  Kenntnisse  sind  bei  diesen  Kranken  meist  etwas 
ausgedehnter,  als  bei  den  anergetischen  Formen.  Manche  verfügen 
sogar  noch  über  ein  ziemlich  gutes  Gedächtnissmaterial,  geographische, 
geschichtliche  Thatsachen,  Citate  aus  Dichtern  und  selbst  Yocabeln 
aus  fremden  Sprachen.  Sie  sind  auch  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  im  Stande,  Neues  zu  lernen,  sich  in  ungewohnte  Verhältnisse 
einzuleben,  sich  zurechtzufinden,  werden  rasch  mit  ihrer  Umgebung 
bekannt,  da  sie  sich  um  Alles  kümmern,  fragen,  sich  überall  ein- 
mischen. 

Der  oberflächlichen,  sprunghaften  Regsamkeit  des  Verstandes 
entspricht  bei  unseren  Kranken  ein  leicht  bewegliches  Gemüths- 
leben.  Jeder  äussere  Eindruck  ist  von  lebhafter,  aber  rasch  ab- 
klingender Gefühlsbetonung  begleitet.  Die  Stimmungen  schwanken 
vielfach  unvermittelt  hin  und  her  und  gehen  leicht  ins  Masslose 
und  Ueberschwängliche.  Niedergeschlagenheit  und  Uebermuth,  Ver- 
zweiflung, Schwärmerei  und  Begeisterung  werden  dui'ch  die  gering- 
fügigsten äusseren  Anlässe  ausgelöst.  Häufig  wechseln  die  Gefühls- 
regungen gegenüber  dem  gleichen  Anstosse  in  ganz  regelloser  Weise. 
Was  heute  Zorn  und  Entrüstung  hervorruft,  ist  morgen  willkommen; 
der  „Ehrenmann"  wird  für  sie  bald  zum  niederträchtigen  Schurken, 
dann  wieder  zum  einzigen  Freunde  auf  der  weiten  Welt.  Alle  diese 
Schwankungen  der  Stimmung  erscheinen  trotz  ihrer  augenblicklichen 
Heftigkeit  doch  meist  oberflächlich,  aufgebauscht,  theaterhaft.  Die 
Kranken  gefallen  sich  geradezu  in  stürmischen  Ausdrucksbewegungen, 
in  gespreizten  und  übertriebenen  Gefühlsausbrüchen,  sind  aber  auch 
rasch  wieder  abzulenken  und  zu  beruhigen.  Im  Ganzen  sind  sie  gut- 
müthig  und  lenksam,  doch  fehlt  niemals  eine  gewisse  Reizbarkeit 
und  Empfindlichkeit.    Namentlich  Eingriffe  in  die  persönlichen 


Angeborener  Schwachsinn. 


669 


Ansprücho  pflegen  nüt  lebhaften  Erregungen  beantwortet  zu  werden. 
Nicht  selten  beobachtet  man  bei  ihnen  zeitweise,  auch  in  regelmässiger 
Wiederkehr,  stärkere  Erregung  mit  grösserer  Geschwätzigkeit,  Zer- 
fahrenheitj  Unruhe  und  Reizbarkeit;  dabei  kommt  es  dann  leicht  zu 
heftigeren  Wuthausbrüchen. 

Regelmässig  besitzen  die  Ki-anken  ein  ungemein  gesteigertes 
Selbstgefühl.  Sie  zeigen  keine  Spur  von  Krankheitsbewusstsein, 
halten  sich  im  Gegentheil  für  geistig  hochbegabt,  ja  genial,  prahlen 
in  aufdringlichster  Weise  mit  ihren  Familienverbindungen,  der  aus- 
gezeichneten Erziehung,  die  sie  genossen  haben,  ihren  glänzenden 
Kenntnissen  und  Aussichten.  Bei  diesen  Erzählungen  lassen  sie 
sich  sehr  leicht  zu  ganz  unsinnigen  Uebertreibungen  hinreissen, 
selbst  dann,  wenn  deren  Wahrheitswidrigkeit  sich  auf  der  Stelle 
darthun  lässt.  Mehrere  meiner  Kranken  behaupteten  nüt  ]Srachdrack_, 
eine  Reihe  von  Sprachen  in  Wort  und  Schrift  vollkommen  zu  be- 
herrschen^ während  die  Probe  ergab,  dass  sie  nur  über  einige  wenige 
Brocken  derselben  verfügten. 

In  ihrem  Benehmen  sind  die  Kranken  launenhaft,  anspruchs- 
voll, streitsüchtig.  Sie  sprechen  viel  und  gern,  blicken  auf  ihre 
Umgebung  herab,  drängen  sich  an  den  Arzt  heran,  suchen  mit  ihren 
Kenntnissen,  ihrer  Bildung  und  ihren  Fähigkeiten  zu  glänzen,  kleiden 
sich  auffallend,  arbeiten  mit  sehr  wechselndem  Eifer.  Auch  in  ihrer 
ganzen  Lebensführung  tritt  ihr  Schwachsinn  deutlich  hervor.  Sie 
gelten  in  ihrer  Jugend  häufig  für  begabt,  aber  flatterhaft,  leicht- 
sinnig und  lügnerisch,  fangen  später  alles  Mögliche  an,  halten  nir- 
gends lange  aus,  springen  unstät  von  einer  Beschäftigung  zur 
anderen  über,  reisen  planlos  herum,  verschwenden,  bauen  Luft- 
schlösser und  gerathen  durch  ihre  Unüberlegtheit,  Haltlosigkeit  und 
Yielgeschäftigkeit  häufig  in  schwere  Kämpfe  mit  dem  Leben  und 
selbst  in  die  Gefängnisse  und  Arbeitshäuser.  Auch  sie  liefern  einen 
erheblichen  Theil  der  gewohnheitsmässigen,  unverbesserlichen  Bummler 
und  Landstreicher. 

Die  Erkennung  dieser  Formen  ist,  wie  schon  früher  erwähnt, 
nicht  immer  ganz  leicht,  da  die  geistige  Regsamkeit  und  ein  ge- 
wisser Schatz  von  Kenntnissen  die  Kranken  weit  weniger  schwach- 
sinnig erscheinen  lässt,  als  sie  wirklich  sind.  Gudden  pflegte  daher 
diese  Zustände  scherzweise  als  „höheren  Blödsinn"  zu  bezeiclmen. 
Nach  der  Gesundheitsbreite  zu  finden  sich  von  ihnen  her  alle  mög- 


670 


XIII.  Die  psycbischon  Entwickelungsanomalien. 


liehen  Ueborgänge.  Daliin  gehören  jene  schwachen  und  oberfläch- 
lichen, leichtgläubigen  Naturen,  die  von  Vielem  etwas  und  nichts 
gründlich  lernen,  die  alles  Neue  mit  Begeisterung  ergreifen,  ohne 
irgend  etwas  zu  Ende  zu  führen.  Ein  geringfügiger  Anstoss,  eine 
auftauchende  Idee,  ein  schlechter  oder  guter  Rath  genügt,  um  sie, 
die  jeder  Verführung  widerstandslos  zugänglich  sind,  zu  leicht- 
sinnigen, unüberlegten,  ja  sclilechten  Sti-eichen  und  Ausschreitungen 
aller  Art  hinzureissen.  So  führen  sie,  sich  selbst  überlassen,  ein 
wechselreiches  Dasein  in  steten  Kämpfen  mit  sich  selbst  und  ihrer 
Umgebung,  oft  abenteuerlich  und  romanhaft,  voller  ünbegreifüch- 
keiten  und  Widersprüche. 

Bei  der  zweiten  Hauptform  des  angeborenen  Schwachsinns, 
dem  moralischen  Irresein  (foHe  morale,  moral  insanity),  ist 
es  die  Störung  im  Bereiche  des  Gemüthes,  welche  vor  Allem 
in  die  Augen  fällt.  Es  handelt  sich  hier  um  Mangel  oder 
Schwäche  derjenigen  Gefühle,  welche  der  rücksichtslosen 
Befriedigung  der  Selbstsucht  entgegenwirken.  Der.  Ver- 
stand dieser  Kranken  ist  innerhalb  der  Grenzen  des  praktischen 
Lebens  leidlich  gut  entwickelt.  Sie  fassen  gut  auf,  sammeln  eine 
gewisse  Summe  von  Kenntnissen  und  Erfahrungen,  die  sie,  viel- 
fach mit  schlauer  Berechnung,  zu  ihrem  Vortheil  zu  verwerthen 
wissen,  zeigen  keine  Gedächtnisslücken  und  keine  groben  Verstösse 
in  der  Folgerichtigkeit  ihres  Denkens.  Dennoch  fehlt  ihnen  meist 
die  Eähigkeit,  allgemeine  Gesichtspunkte  zu  gewinnen,  höhere  Geistes- 
arbeit zu  leisten,  sich  eine  zusammenhängende  Lebens-  und  Welt- 
anschauung zu  bilden. 

Auf  sittlichem  Gebiete  zeigt  sich  oft  schon  von  früher  Jugend 
an  der  Mangel  des  Mitgefühls  in  grausamen  Thierquälereien,  bos- 
haften Neckereien  und  tückischen  Misshandlungen  der  Spielgefährten, 
in  der  Unzugänglichkeit  gegen  jede  gemüthliche  Beeinflussung. 
Daraus  entwickelt  sich  weiterhin  unverhülltes  Hervorti-eten  der  aus- 
geprägtesten Selbstsucht,  sowie  Fehlen  des  Ehrgefühls  und  jeglicher 
Anhänglichkeit  an  Eltern  und  Geschwister.  Hierher  gehören  jene 
imgeheuerlichen  Kinder,  welche  schon  im  zartesten  Alter  ihre  An- 
gehörigen zu  ermorden  trachten,  um  deren  Kleider  zu  besitzen,  und 
dann  mit  stumpfer  Selbstverständhchkeit  über  die  Einzelheiten  ihres 
Planes  berichten,  unter  ausdrücklichem  Bedauern  darüber,  dass  er 
misslungen  sei.    Alle  erziehlichen  Einwirkungen  bleiben  fi-uchtlos, 


Angeborener  Schwachsinn. 


671 


weil  eben  die  werthvollsten  Hülfsmittel  derselben,  Liebe  und  Ehr- 
geiz, hier  keinen  Anknüpfungspunkt  finden.  Nur  die  einfache  Ver- 
gewaltigung vermag  noch  die  Aeusserungen  einer  wilden  Selbstsucht 
zü  unterdrücken.  Ihr  wird  aber  sehr  bald  durch  Falschheit,  schlaue 
Yerschlagenheit,  Hinterlist,  durch  Yerstocktheit,  unbändigen  Trotz, 
Neigung  zu  Lug  und  Trug  begegnet.  Dabei  schreitet  die  egoistische 
Ausbildung  der  Persönliclikeit  immer  weiter  fort.  Das  gehobene 
Selbstgefühl  äussert  sich  in  prahlerischer  Eitelkeit,  Grossthuerei, 
planlosem  Eigensinn,  rohen  Gewaltthaten,  die  Genusssucht  in  Arbeits- 
scheu, Ausschweifungen,  unsinniger  Yerschwendung. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  eine  derartige  Veranlagung  mit 
einer  gewissen  Nothwendigkeit  in  die  Verbrecherlauf  bahn  hinein- 
treiben muss.  Li  der  That  finden  wir  unter  den  unverbesserlichen 
Gewohnheitsverbrechern  nicht  wenige,  welche  die  Erscheinungen  des 
moralischen  Schwachsinns,  den  vollständigen,  unausfüllbaren  Mangel 
der  sittlichen  Gefühle,  in  ausgeprägter  Form  darbieten.  Freilich 
pflegt  man  derartige  Personen  gewöhnlich  als  sittüch  „verwahrlost" 
und  nicht  als  krank  zu  betrachten.  Eichtig  ist,  dass  eine  mangel- 
hafte oder  schlechte  Erziehung,  uneheliche  Geburt,  Aufwachsen  unter 
ungünstigen  Bedingungen  die  volle  Ausbildung  der  sittlichen  Ge- 
fühle hindert.  AUein  einerseits  sind  jene  Einflüsse  selbst  nicht 
selten  einfach  der  Ausdruck  familiärer  Entartung,  andererseits  kann, 
wie  schon  früher  dargelegt,  weniger  die  Entstehungsweise,  als  die 
Grösse  des  sittlichen  Mangels  für  die  ärztliche  Beurtheilung  mass- 
gebend sein.  Endlich  aber  lässt  sich  in  wii-klich  ausgebildeten 
Fällen  wol  immer  die  angeborene  sittliche  Unfähigkeit  nachweisen. 
Gerade  hier  begegnen  wir  nicht  selten  einer  ausserordentlichen 
Nachhaltigkeit  und  Festigkeit  des  verbrecherischen  Wülens,  der  durch 
keinerlei  Lebenserfahrungen  aus  seiner  Bahn  gelenkt  werden  kann, 
hier  aber  auch  jener  merkwürdigen  Einseitigkeit  und  Einförmigkeit 
des  Handelns,  welche  zur  Entwicklung  der  bekannten,  immer  wieder- 
kehrenden „Speciaütäten"  des  Verbrecherthums  führt. 

Es  ist  das  Verdienst  der  itaUenischen  Psychiatrie*),  zuerst  die  Be- 
ziehungen des  moralischen  Schwachsinns,  der  krankhaften  Gemüth- 


*)  LombroBO,  Der  Verbrecher,  deutsch  von  i'ränkel.  1887;  Kurella,  Natur- 
geschichte des  Verbrechers.  1893;  Bär,  Der  Verbrecher  iu  anthropologischer  Be- 
ziehung. 1893. 


672 


XIll.  Die  psychischen  Entwickelungsanomalion. 


losigkeit,  zum  Verbrecherthum,  und  ZAvar  zu  bestimmten  Formen  des 
selben,  nach  gewiesen  zu  haben.  Der  „geborene"  "Verbrecher  (delin- 
quente  nato)  kann  wissenschaftlich  nicht  wol  anders,  als  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte einer  unvollkommenen  Veranlagung  aufgefasst  werden. 
Gerade  diese  Betrachtungsweise  hat  zum  mindesten  die  eine  segens- 
reiche Folge  gehabt,  dass  sie  auch  den  Verbrecher  wie  andere 
Erscheinungen  der  menschlichen  Gesellschaft  endlich  einmal  zum 
Gegenstande  einer  einfach  naturwissenschaftlichen  Forschung  gemacht 
hat.  Schon  jetzt  ist  die  junge  Wissenschaft  der  Criminalpsychologie 
nicht  ohne  Erfolg  bemüht,  mit  Hülfe  der  Statistik  die  allgemeine 
Aetiologie  des  Verbrechens  aufzuklären  und  weiterhin  auf  dem  Wege 
anthropologischer  Messungen  wo  möglich  auch  bestimmte  körper- 
liche Begleiterscheinungen  kennen  zu  lernen,  welche  den  ver- 
schiedenen Formen  des  geborenen  Verbrechers  eigenthümlich  sein 
und  ge Wissermassen  die  Einordnung  derselben  in  einzelne  klinische 
Gruppen  ermöglichen  sollen.  Wir  müssen  abwarten,  zu  welchem 
Ziele  diese  letzteren  Bestrebungen  einmal  gelangen  werden.  Für 
jetzt  wird  uns,  wie  ich  glaube,  die  Criminalanthropologie  wesentlich 
nur  darüber  belehren  können,  dass  auch  beim  Verbrecher,  nament- 
lich beim  „geborenen",  mit  auffallender  Häufigkeit  jene  functioneUen 
und  anatomischen  Merkmale  zu  finden  sind,  die  wir  mit  mehr  oder 
weniger  Kecht  als  den  Ausdruck  allgemeiner  Entartung  anzusehen 
pflegen. 

Jedenfalls  sind  wir  von  der  Möglichkeit  einer  Erkennung  des 
moralischen  Irreseins  aus  körperlichen  Zeichen  noch  recht  weit  ent- 
fernt, und  selbst  bei  genauer  Kenntniss  des  ganzen  klinischen  Krank- 
heitsbildes hat  die  richtige  Auffassung  desselben  häufig  genug  ihre 
Schwierigkeiten.  Auf  der  einen  Seite  führt  der  moralische  Schwach- 
sinn durch  das  Zwischengebiet  der  angeborenen  verbrecherischen 
Veranlagung  allmählich  in  solche  Zustände  hinüber,  die  zweifellos 
der  Gesundheitsbreite  angehören.  Wegen  dieser  IJebergänge  be- 
gegnet namentlich  der  Eichter  der  Feststellung  eines  moralischen 
Schwachsinns  mit  starkem  Misstrauen.  Praktisch  wird,  hier  nament- 
lich das  Zurückreichen  der  sittiichen  Unfähigkeit  bis  in  die  frühe 
Jugend  bei  genügender  Verstandesbildung,  sowie  die  völlige  Un- 
zugänglichkeit für  alle  auf  das  Gemüth  -wirkenden  Einflüsse  für 
die  Annahme  einer  krankhaften  Persönlichkeit  sprechen.  Anderer- 
seits darf  die  erworbene  Schwächung  des  sittlichen  Willens,  wie 


Angeborener  Schwachsinn. 


673 


sie  durch  chronische  Yergiftungen,  anscheinend  aach  bisweilen 
durch  Kopfverletzungen  und  »andere  schwere  Schädigungen  erzeugt 
wird,  nicht  niit  dem  hier  besprochenen  moralischen  Schwachsinn 
verwechselt  werden.  Der  Nachweis  einer  Yeränderung  der 
Persönlichkeit  von  einem  bestimmten  Zeitpunkte  ab  wird  hier  die 
Unterscheidung  ermöglichen.  Endlich  soll  noch  darauf  hingewiesen 
werden,  dass  manche  unserer  Kranken  in  der  Zucht  und  im 
Schutze  des  Gefängnisses  oder  der  Anstalt  kaum  auffallendere 
Störungen  darbieten,  sondern  die  ganze  Grösse  ihrer  sittlichen  Un- 
fähigkeit erst  dann  dentlich  zeigen,  wenn  sie  sich  selbstüberlassen 
und  den  mannichfachen  Verlockungen  des  Lebens  haltlos  preis- 
gegeben sind. 

In  naher  Yerwandtschaft  mit  dem  moralischen  Irresein  steht 
eine  an  dieser  Stelle  kurz  zu  besprechende,  nicht  sein-  häufige  Form 
der  krankhaften  Veranlagung,  die  vielleicht  am  besten  mit  dem  Namen 
des  emotiven  Schwachsinns  zu  belegen  ist.  Es  handelt  sich  dabei 
wesentlich  nm  eine  krankhafte  Zornmüthigkeit.  Die  Kranken 
sind  geistig  in  normaler  Weise  entwickelt,  bisweilen  sogar  ziemlich 
gut  begabt,  haben  befriedigende  Schulkenntnisse  erworben  und  ver- 
fügen über  ein  zuverlässiges  Gedächtniss.  Sie  sind  öfters  recht  fleissig, 
geschickt  und  ausdauernd  bei  der  Arbeit,  namentlich  wenn  sie  unter 
einer  gewissen  Aufsicht  stehen.  Meist  zeigen  die  Kranken  ein  er- 
höhtes Selbstgefühl,  prahlerisches,  anmassendes  "Wesen,  trotzigen  Eigen- 
sinn und  die  Anzeichen  erheblicher  Gemüthsrohheit  gegenüber  An- 
gehörigen und  Fremden. 

Neben  diesen  Merkmalen  einer  leichteren  oder  schwereren  mora- 
lischen Verkümmerung  fällt  aber  vor  Allem  eine  ganz  ausserordent- 
liche Eeizbarkeit  auf,  die  bald  nur  bei  bestimmten  Anlässen,  bald 
zu  gewissen  Zelten  hervortritt.  Die  Kranken  gerathen,  wenn  sie  „ge- 
laden" sind,  bei  einem  verhältnissmässig  ganz  geringfügigen  Anstosse 
in  eine  namenlose,  unbezähmbare  Wuth.  Sie  zittern  am  ganzen 
Leibe,  stossen  mit  erstickter  Stimme  Schimpfworte,  Flüche  oder  auch 
nur  unarticulirte  Schreie  aus,  greifen  blindlings  ihre  Umgebung  an, 
zerstören,  was  ihnen  unter  die  Hände  kommt,  zerschlitzen  ihre  Kleider, 
wälzen  sich  am  Boden,  beissen  sich  in  Lippen  und  Hände,  suchen 
sich  zu  erdrosseln,  laufen  mit  dem  Kopfe  gegen  die  Wand.  Diese 
Erregung  setzt  sich  vielfach  bis  zur  völligen  Erschöpfung  fort,  bis 
die  Kranken  athemlos,  heiser,  schweissbedockt,  mit  versperrten  Zügen, 

Kraopolin,  Psychiatrie.    4.  Ann. 


674 


Xin.  Die  psj'chiBchen  EDtwickelungsanomalien. 


ausser  Stande  sind,  ihre  Glieder  zu  rühren.  Während  dieses  Zustandes 
sind  die  Kranken  allem  gütlichen  Zureden  gegenüber  unzugänglicli; 
der  Ausbruch  erfolgt  fast  mit  der  Sicherheit  und  Gewalt  einer  Ex- 
plosion. Sie  bleiben  aber  vollständig  orientirt,  verlieren  nur  die 
Besonnenheit,  nicht  die  Besinnung.  Daher  richtet  sich  die  Wuth 
nach  Lage  der  Dinge  öfters  gar  nicht  gegen  che  Umgebung,  sondern 
nur  gegen  leblose  Gegenstände  oder  gegen  die  eigene  Person.  Einer 
meiner  Kranken  gerieth  jedesmal  in  einen  solchen  Anfall,  wenn  man 
mit  ihm  über  einen  Processgegner  sprach,  der  ihn  in  schwere  Be- 
drängniss  gebracht  hatte.  Dabei  zerstörte  er  nichts,  griff  Niemanden 
an,  sondern  suchte  nur  der  stürmischen  inneren  Erregung,  deren  er 
nicht  Herr  werden  konnte,  in  wüden,  rasenden  Ausdrucksbewegungen 
einen  Ausweg  zu  verschaffen. 

Der  einzelne  AnfaU  dauert  meistens  weniger  als  eine  Stunde, 
doch  bleibt  öfters  tagelang  eine  gereizte  Stimmung  mit  Neigung  zu 
neuen  Ausbrüchen  zurück.  Nach  dem  Eintritte  der  Beruhigung  ver- 
mögen sich  die  Kranken  des  Yorgefallenen  im  Allgemeinen  zu  er- 
innern, wenn  ihnen  auch  manche  Einzelheiten  später  entfallen  sind 
und  sie  für  die  Höhe  der  Erregung  angeben  „nicht  mehr  gewusst 
zu  haben,  was  sie  thun".  Regelmässig  bedauern  sie  nun  lebhaft  ihre 
Handlungsweise  und  zeigen  eine  mehr  oderweniger  MareKrankheits- 
ein sieht.  Sie  beklagen  ihr  hitziges,  jähzorniges  Wesen,  versichern 
aber  gleichzeitig,  dass  sie  sich  beim  besten  Wülen  nicht  mehr  helfen 
könnten,  wenn  es  so  über  sie  komme.  Bisweilen  warnen  sie  wol 
selbst,  man  möge  ihnen  nicht  zu  nahe  kommen,  üinen  rechtzeitig 
alle  Waffen  abnehmen,  sie  binden  oder  einsperren. 

Stets  findet  sich  bei  diesen  Kranken  eine  ausserordentliche  Em- 
pfindlichkeit gegen  Alkohol.  Durch  dieses  Mittel  werden  die  An- 
fälle mit  der  grössten  Sicherheit  hervorgerufen.  Bei  völhger  Ent- 
haltsamkeit werden  sie  seltener,  ohne  jedoch  ganz  zu  verschwinden. 
Gerade  diese  Beobachtung  und  auch  die  bisweilen  bemerkte  Regel- 
mässigkeit iir  der  Wiederkehr  der  Reizbarkeit  würde  auf  eine 
Verwandtschaft  dieser  Zustände  mit  der  Epilepsie  hindeuten,  doch 
ist  es  mir  in  den  von  mir  gesehenen  Fällen  nicht  gelungen,  weitere 
Beweise  für  eine  solche  Annahme  aufzufinden.  Zudem  ist  ausdrück- 
lich zu  bemerken,  dass  auch  der  Alkohol  hier  immer  nur  Erregung, 
nicht  aber  Dämmerzustände  mit  Sinnestäuschungen,  Angst,  Personen- 
verkennung  erzengt,  wie  Avir  sie  beim  epileptischen  Irresein  kennen 


Angeborener  Stihwachsinn. 


675 


gelernt  haben.  Andererseits  ist  grosse  gemütlilicbe  Reizbarkeit  mit 
masslosen  ■Wuthausbrüchen  auch  beim  moralischen  Schwachsinn  nicht 
selten.  Was  dem  gegenüber  diese  Formen  auszeichnet,  ist  viel 
geringere  Ausbildung  der  dauernden  sittlichen  Entartung  und, 
vielleicht  damit  in  Verbindung  stehend,  die  Einsicht  in  die  Krank- 
haftigkeit des  Zustandes. 

Wir  haben  nun  endlich  noch  jener  letzten  Form  des  angeborenen 
Schwachsinns  zu-  gedenken,  die  man  als  impulsives  Irresein  zu 
bezeichnen  pflegt.  Die  Eigenthümlichkeit  dieser  Krankheitszustände 
besteht  in  dem  zeitweisen  Auftauchen  mächtiger,  den  Willen 
überwältigender  Antriebe  zu  bestimmten  Handlungen  ohne 
klaren  Beweggrund.  Der  Kranke  handelt  dabei  einfach,  weil  er 
den  unwiderstehlichen  Antrieb  in  sich  fühlt,  zu  bandeln.  So  kommt 
es  denn,  dass  solche  Willensäusserungen  stets  den  Stempel  des  Un- 
vorbedachten, des  Zwecklosen,  ja  des  Widersinnigen  tragen,  weil  sie 
eben  nicht  durch  einen  zielbewussten  Plan,  sondern  durch  einen 
plötzlich  auftauchenden  und  sofort  zur  Ausführung  drängenden, 
häufig  sehr  unklaren  Antrieb  hervorgerufen  werden. 

Der  Inhalt  dieser  „Zwangshandlungen"  ist  vielfach  ein  gleich- 
gültiger, und  zahlreiche  Menschen  mit  „absonderlichen  Einfällen", 
unvermittelt  hervortretenden  und  ebenso  rasch  wieder  verschwinden- 
den Antrieben  büden  die  Uebergänge  von  den  schweren,  unzweifel- 
haft krankhaften  Formen  des  impiüsiven  Irreseins  zum  gesunden 
Yerhalten.  Eine  sehr  ernste  Bedeutung  gewinnen  diese  Krankheits- 
zustände  jedoch  dadurch,  dass  die  aufsteigenden  Antriebe  ungemein 
häufig  die  Umgebung  oder  das  eigene  Leben  und  Wohlergehen  ge- 
fährden. Die  klinische  Erfahrung  lehi't,  dass  im  einzelnen  Falle  meist 
nur  eine  bestiitmte  Richtung  der  krankhaften  Antriebe  hervortritt. 
Wahrscheinlich  am  häufigsten  ist  die  Neigung  zur  Brandstiftung, 
wie  sie  besonders  bei  jugendlichen  Personen  weiblichen  Geschlechtes 
vor  und  während  der  Pubertätsentwickelung  beobachtet  wird.  Bis- 
weüen  geht  die  krankhafte  Freude  am  flackernden  Feuer  und  der 
unbezähmbare  Wunsch,  sich  diesen  Anblick  zu  verschaffen,  bis  in 
die  Kindheit  zurück.  In  einem  berühmt  gewordenen  Falle,  m  welchem 
ein  Student  zahllose  Brände  in  immer  genau  derselben  Weise  an- 
gelegt hatte,  Hess  sich  feststellen ,  dass  die  Ausführung  dieser 
Handlungen  regelmässig  unter  dem  Einflüsse  des  Alkohols  er- 
folgt war. 


G76  Xni.  Die  psychischen  Entwickelungsanomalien. 


Eine  zweite  Hauptrichtung  der  krankhaften  Antriebe  ist  die 
dauernde  oder  vorübergehende  Neigung,  gelegentliche,  unsinnige  Dieb- 
stähle zu  begehen.  Solchen  Anwandlungen  begegnen  wir  ebenfalls 
am  häufigsten  beim  weiblichen  Geschlechte,  und  zwar  vorzugsweise 
in  der  Zeit  geschlechtlicher  Umwälzungen  (Menstruation,  Schwanger- 
schaft). Die  Krankhaftigkeit  dieser  Handlungen  zeigt  sich  darin, 
dass  denselben  jeder  verständige  Beweggrund  fehlt.  Die  gestohlenen 
Gegenstände  sind  vielfach  gänzlich  oder  doch  für  den  Thäter  wertli- 
los,  oder  sie  werden  auch  später  dem  Eigen thümer  einfach  Avieder 
zugestellt.  In  andern  Fällen  richtet  sich  die  Begierde  des  Einzelnen 
gerade  auf  eine  ganz  bestimmte  Art  von  Dingen,  die  ohne  erkenn- 
baren Zweck  in  grossen  Mengen  zusammengestohlen  werden,  so 
dass  man  unwillkürlich  an  gewisse  Ausschreitungen  des  Sammel- 
sports erinnert  wird. 

Weiteriiin  aber  ist  von  hervorragender  Bedeutung  der  krankhafte 
Antrieb,  zu  verletzen  oder  zu  tödten.  Eine  besondere  Gruppe 
bilden  hier  die  triebartigen  Angriffe  junger  Mädchen  auf  die  ihrer 
Obhut  anvertrauten  Kinder.  Ich  behandelte  eine  schon  von  Em  min g- 
haus*)  kurz  erwähnte  Kranke,  die  im  Alter  von  13  Jahren  zwei 
ihrer  Pflege  anvertraute  Kinder,  darunter  ihr  eigenes  Brüderchen, 
einfacli  erstickte,  aus  keinem  anderen  Beweggrunde,  als  „weil  ihr 
die  Lust  dazu  kam."  Auf  diesem  Gebiete  des  impulsiven  LTCseins 
tritt  uns  am  deutlichsten  die  häufige  Verbindung  krankhafter  Antriebe 
mit  dem  Geschlechtstriebe  entgegen.  Gerade  von  dem  letzteren 
aus  scheinen  sich  bei  psychisch  wenig  widerstandsfähigen  Menschen 
verhältnissmässig  leicht  allerlei  zwangsmässige  Beeinflussungen  des 
Fühlens  und  Handelns  geltend  zu  machen,  die  wir  wol  am  zweck- 
mässigsten  den  Krankheitsbildern  des  impulsiven  Irreseins  zurechnen. 

Vor  Allem  haben  wir  jener  eigenthümlichen  Erscheinungen  zu 
gedenken,  die  man  nach  dem  berüchtigten  französischen  Roman- 
schriftsteller Marquis  de  Sade  als  „Sadismus"  bezeichnet  hat  Es 
handelt  sich  dabei  um  das  Auftreten  von  geschlechtlichen  WoUust- 
empfindungen  bei  Acten  der  Grausamkeit.  Die  beti-effenden  Per- 
sonen suchen  entweder  den  Eeiz  der  geschlechtlichen  Vereinigung 
durch  mehr  oder  weniger  ernste  Misshandlungen  zu  erhöhen,  oder 
die  grausame  Handlung  erweckt  schon  au  sich  die  volle  sinnliciie 


*)  Die  psychischen  Störnngon  im  Kindesalter,  1887,  p.  241. 


Angeborener  Schwacbsinn. 


677 


Befriedigung,  auch  beim  Fehlen  aller  gesunden  Yorbedingungen  für 
die  geschlechtliche  Erregung.  Der  letztere  Fall  stellt  offenbar  nur 
eine  weitere  krankhafte  Entwickelungsstufe  des  ersteren  dar.  Was 
dort  nebensächliches,  vielleicht  sogar  völlig  entbehrliches  Hülfsmittel 
war,  ist  hier  zur  Hauptsache  geworden,  neben  welcher  die  eigent- 
liche Hauptsache,  die  geschlechtliche  Yereinigang,  vollständig  in 
den  Hintergrund  getreten  ist.  Thatsächlich  finden  sich  zahlreiche 
Uebergangsformen  von  den  leichtesten,  noch  in  der  Gesundheitsbreite 
liegenden  Anwandlungen  bis  zu  den  schwersten,  das  Leben  der 
Opfer  fordernden  krankhaften  Yerirrungen. 

Unter  den  sadistischen  Handlungen  selbst  kommen  in  erster 
Linie  Geisselungen  auf  den  entblössten  Körper  in  Betracht,  die 
häufiger  zur  Unterstützung  und  Yorbereitung  der  geschlechtlichen 
Erregung  benutzt  werden.    Als  wirklicher  Ersatz  des  Beischlafs 
dienen  sie  weit  seltener  und  wol  nur  in  zweifellos  krankhaften 
Fällen.  Aehnlich  mag  es  mit  der  Neigung  zum  Kneifen  und  Beissen 
stehen.    Das  Stechen  und  Schneiden  tritt  bei  den  von  Zeit  zu  Zeit 
einmal  beobachteten  „Mädchenstechern"  geradezu  als  Form  der  ge- 
schlechtlichen Befriedigung  auf.  Die  Kj-anken  suchen  sich  an  hübsche 
junge  Mädchen  heranzudrängen  und  ihnen  mit  Dolch  oder  Messer, 
deren  sie  bisweilen  eine  grosse  Auswahl  besitzen,  eine  blutige,  aber 
nicht  gefährliche  Wunde  beizubringen,  was  ihnen  lebhafte  Wollust- 
gefühle verui-sacht.  Noch  einen  Schritt  weiter  gehen  jene  Kranken, 
Av  eiche  sich  die  geschlechtliche  Befriedigung  durch  Quälen  und 
Tödten  von  Thieren  zu  verschaffen  suchen.  Dann  kommen  die  Lust- 
mörder, die  ihr  Opfer  vor  oder  nach  dem  Geschlechtsacte  erdrosseln 
und  dann  womöglich  aufschneiden,  zerreissen,  zerstückeln.  Gerade 
in  solchen  Fällen  zeigt  sich  bisweilen  ein   buchstäblicher  „Blut- 
durst", der  zum  Aussaugen  des  Opfers  und  zur  wirklichen  Menschen- 
fresserei führen  kann.    Ueberall  können  eigentlich  geschlechtliche 
Handlungen  trotz  heftigster  geschlechtlicher  Erregung  voUkommen 
fehlen.    Als  eine  Abart  der  Lustmörder  sind  wol  die  glücklicher- 
weise recht  seltenen  Leichenschänder  zu  betrachten,  unter  denen 
der  französische  Sergeant  Bertrand  eine  traurige  Berühmtheit  er- 
langt hat,  da  er,  von  unwiderstehlicher  geschlechtlicher  Begierde  ge- 
trieben, mit  grösstem  Geschicke  frisch  bestattete  Leichen  wieder 
ausgrub,  schändete  und  zerstückelte. 

Gewissermassen  das  Gegenstück  zum  Sadismus  bildet  die  von 


678 


XIII.  Die  psychischen  Entwickehingsanomalien. 


V.  Kr  äff  t-E  b  i  n  g  *)  unter  dem  Namen  des  „M  a  s  o  g  h  i  s  m  u  s"  beschriebene 
Sucht,  sich  die  geschlechtliclie  Befriedigung  durch  Erduldung  von 
Schmerzen  zu  erhöhen  oder  überhaupt  erst  zu  verschaffen.  Die  Be- 
zeichnung ist  hergenommen  von  dem  Schriftsteller  Sacher-Masocli, 
der  in  seinen  Eomanen  diese  eigenthümlicho  Erscheinung  schilderte. 
Wegen  der  bei  beiden  bestehenden  Verbindung  von  Schmerz  und 
Wollust  hat  V.  Schrenk-Notzing  für  Masochismus  imd  Sadismus 
die  gemeinsame  Bezeichnung  „Algolagnie"  vorgeschlagen  (Schmerz- 
geilheit); jener  ist  passive,  dieser  active  Algolagnie. 

Auch  beim  Masochismus  begegnen  wir  vor  allem  der  geschlecht- 
lichen Erregung  durch  Geisselung,  aber  hier  durch  Erdulden  der- 
selben. Die  unliebsamen  Nebenwirkungen  erziehlicher  Züchtigungen, 
namentlich  der  Schläge  auf  das  Gesäss,  sind  lange  bekannt,  ebenso 
die  Auffrischung  der  gesunkenen  geschlechtlichen  Leistungsfähigkeit 
durch  älmliche  Massregeln.  Auch  das  Flagellantenthum  hat  viel- 
leicht eine  seiner  Wurzeln  in  der  sinnlich  aufreizenden  Wirkung 
der  Geisseihiebe  gehabt.  In  das  Gebiet  des  Krankhaften  gehören 
die  Fälle,  in  denen  die  geschlechtliche  Erregung  durch  wii-klich 
rohe  Misshandlungen,  Gebissen-,  Gestochen-,  Getretenwerden  u.  Aehnl. 
ausgelöst  wird.  Meist  werden  hier  andere  Personen  vorher  zui-  Aus- 
führung der  gewünschten  Handlungen  angelernt. 

Aus  naheliegenden  Gründen  führt  die  Algolagnie  nur-  verhält- 
nissmässig  selten,  bei  intellectuellem  Schwachsinn  und  grosser  sitt- 
licher Stumpfheit,  zu  jenen  wirklich  gefährlichen  Handlungen,  welche 
in  der  Entwickelungsrichtung  des  krankhaften  Triebes  liegen.  Viel- 
fach tragen  die  Acte,  welche  ausgeübt  oder  gewünscht  werden,  mehr 
einen  symbolischen  Charakter,  in  der  Weise,  wie  schon  das  Eitzen 
der  Haut  ein  Sinnbild  des  Tödtens,  das  Einpressen  der  Zähne  ein 
solches  des  Auffressens  darstellt.  Der  sadistische  Trieb  kann  sich 
in  Handlungen  Luft  machen,  welche  ganz  allgemein  nur  die  unbe- 
schränkte Herrschaft  über  das  geschlechtliche  Opfer  ausdrücken  (Be- 
schimpfen, Beschmutzen,  Fesseln),  während  der  Masochist  sich  be- 
fiiechgt  fühlt,  wenn  er  in  mögüchst  lebhafter  Weise  die  völlige 
Unterwerfung  unter  einen  fremden  Willen  empfindet  (Erdulden  von 
Beschimpfung,  Bedrohung,  Missachtung,  ekelhafter  Besudelung).  Bei 
der  regen  Mitarbeit  der  Einbildungskraft  ist  die  Mannichfaltigkeit 

*)  V.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexuaUs,  8.  Aufl.  1893. 


Angeborener  Schwnchsinn. 


679 


der  Kunstgriffe,  Avelche  diese  Kranken  zur  Vorbereitung  oder  zum 
Ersatz  des  Beischlafes  anwenden  oder  von  Andern  fordern,  trotz 
mancher  typischer  Erscheinungen  eine  ausserordentlich  grosse. 

Wir  sind  im  Vorstehendon  wiederholt  der  Erscheinung  begegnet, 
dass  bei  unseren  Kranken  ein  ursprünglich  das  Zustandekommen  der  ge- 
sclüechtlichon  Erregung  nur  unterstützender  Vorgang  schliesslich  ganz 
allein  schon  und  ohne  Verbindung  mit  eigentlichem  Geschlechts- 
verkehre die  erstrebte  Befriedigung  herbeizuführen  vermag.  Man 
könnte  etwa  daran  denken,  dass  bei  einer  krankhaften  Steigerung 
der  geschlechtlichen  Erregbarkeit  bereits  der  begleitende  Vorgang 
genügt,  um  dieselbe  Wirkung  zu  erzielen,  welche  er  im  gesunden 
Leben  höclistens  in  Verbindung  mit  den  wirklichen  Geschlechtsreizen 
erreichte,  ähnlich  wie  dem  Empfindlichen  schon  die  Probesignale 
bei  der  Feuerwehrübung  unangenehme  Gefühle  erwecken.  Allein 
schliesslich  kann  es  so  weit  kommen,  dass  nur  noch  der  neben- 
sächliche Reiz,  nicht  aber  mehr  der  natürliche,  oder  doch  jener 
unvergieiclüich  viel  stärker,  als  dieser,  die  geschlechthche  Befiie- 
digung  zu  erzeugen  im  Stande  ist.   Ganz  besonders  häufig  macht  sich 
eine  s^olclie  Verschiebung  in  verschiedenartiger  Entwickelung  dalün 
geltend,  dass  es  einzelne  bestimmte  Körpertheile  oder  Kleidungs- 
stücke sind,  welche  zunächst  geschlechtlich  anregend  wirken,  dann 
bei  der  Ausführung  des  Beischlafes  eine  herrschende  Rolle  spielen 
und  endlich  für  sich  aUein  in  ganz  absonderhcher  Weise  den  Ge- 
schlechtsgenuss  vermitteln.   Man  bezeichnet  diese  Störung  als  „Fe- 
tischismus".   Von  körperüchen  Reizen  dienen  als  Eetische  bald 
Hände  oder  Füsse,  bald  Augen,  Mund,  Ohr,  Haare,  besonders  Zöpfe. 
Die  einfache  Betrachtung,  Berührung,  Liebkosung  der  betreffenden 
Theile  gewährt  dem  Fetischisten  eine  weit  höhere  geschlechtliche 
Befriedigung,  als  der  wirkliche  Beischlaf.    Unter  den  Kleidungs- 
stücken sind  Schuhe  und  Stiefel  sehr  bevorzugt,  nach  v.  Krafft- 
Ebings  Ansicht  wegen  der  an  sie  sich  knüpfenden  masochistischen 
Wollust  der  Unterwerfung,  ferner  Taschentücher  und  Unterkleider, 
endlich  Sammet-  und  Pelzstoffe.    Wie  die  Erfahrung  lehrt,  werden 
solche  Dinge  von  den  Kranken  aus  geschlechtlicher  Begierde  öfters 
in  grossen  Mengen  zusammengestohlen  (Zopfabschneider!)  und  zu 
einsamen  mastui-batorischen  Vergnügungen  benutzt. 

Die  geistige  Begabung  unserer  Kranken  braucht  kerne  schäi-fer 
hervortretenden  Störungen  aufzuweisen,  doch  findet  sich  in  schweren 


680 


Xm.  Die  psychischen  Entwickehingsanomalien. 


Fällen  meist  ein  höherer  oder  geringerer  Grad  intellectuellen  Schwach- 
sinns. Auch  bei  leichteren  Abweichungen  wird  eine  genaue  Prüfung 
wol  selten  die  Anzeichen  einer  gewissen  Beschränktheit  oder  Zer- 
fahrenheit und  Verschwommenheit,  namentlich  aber  ein  Zurückbleiben 
der  gesammten  geistigen  Ausbildung  hinter  der  durch  das  Lebens- 
alter geforderten  vermissen  lassen.  Noch  deutlicher  pflegen  die 
Störungen  auf  gemüthlichem  Grebiete  hervorzutreten;  nach  dieser 
Kichtuug  haben  wir  es  regelmässig  mit  schwachen,  haltlosen,  oft 
auch  mit  kindisch  eigensinnigen  oder  rohen,  menschenscheuen,  ver- 
schlossenen Naturen  zu  thun. 

Auch  das  impulsive  Irresein  ist  nichts  als  eine  besondere  Form 
der  angeborenen  Entartungszustände.  Trotzdem  sehen  wir  die 
klinischen  Erscheinungen  desselben  öfters  nur  während  bestimmter 
Lebensabschnitte,  namentlich  in  den  Entwickelungsjahren,  hervor- 
treten. Diese  Erfahrung  entspricht  der  schon  bei  verschiedenen  Ge- 
legenheiten besprochenen  Thatsache,  dass  es  im  Verlaufe  des  mensch- 
lichen Daseins  gewisse  Zeiten  giebt,  in  denen  die  allgemeine  Wider- 
standsfähigkeit auf  körperlichem  und  seelischem  Gebiete  besonders 
gering  ist.  Gerade  der  Widerstreit  dunkler  Gefühle  und  Antriebe 
während  der  Geschlechtsentwickelung  wird  daher  auch  günstige  Be- 
dingungen für  das  AnAvachsen  ki-ankhafter  Willensregungen  schaffen 
können,  welche  im  späteren  Leben  durch  das  gesunde  Wollen  ein- 
fach in  den  Hintergrund  gedrängt  werden. 

Ausser  dem  gemeinsamen  Ursprünge  aus  einer  krankhaften  Ver- 
anlagung theilt  das  impulsive  Irresein  mit  einigen  andern  verwandten 
Formen  manche  äussere  Eigenthümlichkeiten.  So  kann  man  die 
unausrottbare  Kückfälligkeit  des  sittlich  unfähigen  Gewohnheitsver- 
brechers mit  der  zwangsmässigen  Wiederholung  der  gleichen  ver- 
brecherischen Handlungen  durch  unsere  Kranken  verwechseln.  Auch 
der  moralisch  Irre  legt  Feuer  an,  tödtet  und  stiehlt,  aber  er  thut 
es  aus  selbstsüchtigen  Beweggründen,  zu  irgend  einem  bestimmten 
Zwecke  oder  um  zu  schaden,  während  hier  einzig  der  gebieterische 
Antrieb  den  Ejranken  gegen  seinen  eigentlichen  Willen  zur  Be- 
gehung der  That  zwingt.  Sehr  häufig  ist  dabei  sogai-  ein  deutliches 
Gefühl  von  der  Widersinnigkeit,  ünuatürlichkeit  und  Krankhaftigkeit 
der  Handlungsweise  vorhanden.  Nach  einer  andern  Seite  hin  nähert 
sich  das  impulsive  Irresein  gewissen  Formen  der  angeborenen  Neur- 
asthenie. AUein  bei  dieser  letzteren  sind  die  auftauchenden  Antiiebe 


Angeborener  Schwachsinn.  681 

von  lebhaften  Gefühlen  der  Angst  und  des  Abscheas  begleitet.  Die 
Kranken  wollen  durchaus  nicht  die  ihnen  vorschwebenden  Hand- 
lungen begehen;  sie  fürchten  vielmehr,  dass  sie  möglicherweise 
unterUegen  könnten,  was  thatsächlich  nicht  geschieht.  Hier  dagegen, 
beim  impulsiven  Irresein,  verknüpft  sich  die  Vorstelkmg  der  krank- 
haften That  mit  dem  Gefühle  einer  gierigen  Wollust,  welche  dem 
Kranken  für  die  Ausführung  volle  und  ausgiebige  Befriedigung  ver- 
spricht, so  dass  er  nicht  ruhen  kann,  bis  er  gehandelt  hat.  Unmittel- 
bar nach  der  That  folgt  eine  deutliche  Erleichterung,  beim  Misslingen 
das  Bedauern  über  den  Misserfolg.  Yen  Reue  ist  oft  gar  keine 
Spur  vorhanden,  oder  sie  kommt  doch  nur  bei  geringergradigeni  sitt- 
lichem "Defect  und  erst  dann,  wenn  nach  der  Aufregung  der  That 
jene  Gegenvorstellungen  auftauchen,  welche  bis  dahin  durch  die 
alles  beherrschende  Begierde  zurückgedrängt  worden  waren.  Es  ist 
daher  klar,  dass  wir  es  hier  mit  wirklich  krankhaften  Trieben,  dort 
dagegen  nur  mit  einfachen  Zwangsbefürchtungen  zu  tbun  haben. 

Die  Thatsache  des  impulsiven  Irreseins  hat  auf  einer  früheren 
Entwickeinn gsstufe  der  Psychiatrie  als  Grundlage  der  Lehre  von  den 
„Monomanien"  eine  wichtige  Rolle  gespielt.  Jetzt  ist  die  für  unser 
wissenschaftliches  Yerständniss  gefahrdrohende  Annahme  isohrter 
krankhafter  Triebe  in  der  klaren  Erkenntniss  untergegangen,  dass 
man  es  hier  überall  mit  einer  angeborenen,  allgemeinen  psychischen 
Invalidität  zu  thun  hat,  deren  schwächster  Punkt  gerade  in  dem 
Mangel  einer  HeiTschaft  über  die  allerdings  vielfach  in  krankhafter 
Stärke  und  Richtung  entwickelten  Triebe  gelegen  ist.  Das  italienische 
und  spanische  StrafgesÄzbuch  nimmt  auf  das  impulsive  imd  wol  auch 
das  emotive  Irresein  Rücksicht  in  der  Anerkennimg  einer  „forza 
irresistibile"  (unwiderstehlichen  Gewalt),  welche  unter  Umständen  den 
Willen  des  Thäters  vollständig  fortreissen  und  damit  als  Straf- 
ausschlies&ungsgrund  gelten  soll.  Möglich,  dass  plötzhche  Antriebe 
von  unbezwingUcher  Stärke  bei  den  heissblütigen  Völkern  des  Südens 
häufiger  sind,  als  bei  uns;  jedenfalls  vermag  jene  Fassung  vielfachen 
„Missbräuchen"  im  Sinne  der  Justiz  Thür  und  Thor  zu  öffnen.  Wie 
ich  glaube,  sollte  man  das  Bestehen  des  impulsiven  Irreseins  nur 
dort  annehmen,  wo  wirklich  der  triebartige  Ursprung  des  Handelns 
ohne  klares,  vernünftiges  Ziel  deutlich  hervortritt,  und  wo  auch  im 
übrigen  Bereiche  des  Seelenlebens  die  Anzeichen  einer  krankhaften 
Yeranlagung  erkennbar  sind. 


682  Xin.  Die  i)8yc]iisclien  Entwickeliingsanonialicn. 

Allo  im  Yorstelionden  gGschildortoii  Formen  des  angeborenen 
Schwachsinns  sind  als  der  Ausdrnck  einer  krankhaften,  vielfach  er- 
erbten Entartung-  zu  betrachten.  Man  hat  sie  daher  wol  auch  mit 
den  von  mir  als  angeborene  Neurasthenie  bezeichneten  und  einigen 
andern  verwandten  Zuständen  unter  der  gemeinsamen  Bezeichnung 
des  degenerativen  Irreseins  zusammengefasst.  Diese  ihre  anthro- 
pologische Entstehungsweise  pflegen  sie  sehr  vielfach  durch  das  Vor- 
kommen der  körperlichen  Entartnngszeichen  zu  verrathen.  Wir 
finden  bei  ihnen  Zurückbleiben  der  gesammten  Körperentwickelung 
auf  kindlicher  Stufe,  auffallend  jugendliches  oder  frühzeitig  gealtertes 
Aussehen,  örtliche  und  allgemeine  Wachsthumshemmungen  des  Gehirns 
und  Schädels,  schiefes  Gresicht,  abnorme  Zahn-  und  Kieferstellung, 
Missbildungen  aller  Ai-t  an  Ohren,  Gaumen,  Geschlechtstlieilen, 
Händen.   Seltener  sind  die  Spuren  überstandener  Gehirnkrankheiten. 

Im  Wesentlichen  bleiben  natüiiich  diese  Krankheitsbilder 
während  des  ganzen  Lebens  unverändert,  doch  ist,  wie  fi'üher  er- 
wähnt, ein  Einfluss  der  physiologischen  Zustände  oft  deutlich  er- 
kennbar. Namentlich  die  geschlechtlichen  Umwälzungen,  die  Pubertäts- 
entwickelung, die  Menstruation,  die  Scliwangerschaft,  wol  auch  die 
Rückbildungsjahre  pflegen  eine  gewisse  Rolle  zu  spielen.  Es  kommt 
vor,  dass  sie  den  Gesammtzustand  dauernd  verschlechtern,  oder  dass 
sie  doch  ein  stärkeres  Hervortreten  der  Krankheitserscheinunsren 
bewirken.  Andererseits  sieht  man  nicht  allzuselten,  dass  sich  mit 
der  vollen  Ausbildung  und  Festigung  der  Persönlichkeit  eine  über- 
raschend weitgehende  Besserung  der  Störungen  herausstellt.  Namentlich 
scheint  das  beim  moralischen,  emotiven  und  impulsiven  Schwachsinn 
vorzukommen.  Endlich  bedarf  es  keiner  besonderen  Erwähnung, 
dass  sich  auf  dem  Boden  der  hier  besprochenen  Formen  krankhafter 
Yeranlagung  auch  die  verschiedenartigsten  vorübergehenden  Störungen 
des  psychischen  Gleichgewichtes  ausbilden  können,  am  häufigsten 
vielleicht  periodische  Erregungszustände. 

In  ihren  leichtesten  Andeutungen  gehen  die  einzelnen  Ge- 
staltungen des  degenerativen  Irreseins  allmählich  über  in  jene  mannich- 
faltigen  kleinen  Unvollkommenheiten  der  persönliclien  Veranlagung, 
welche  von  Koch*)  unter  dem  Namen  der  „angeborenen,  dauernden 
psychopathischen  Minderwerthigkeiten"  beschrieben  worden  sind. 


*)  Koch,  die  psychopatliischeu  Minderwerthigkeiten.  1893. 


Conträre  Sexualempfiiidnng.  683 

Dieselben  bilden  ein  grosses  und  ungemein  reiches  Zwischengebiet 
zwischen  dem  zweifellosen  Irresein  und  der  Gesundheitsbreite.  Alle 
die  verschiedenen  abnormen  Züge,  die  wir-  in  der  hysterischen, 
neurasthenischen,  epileptischen  Veranlagung,  sowie  bei  den  ange- 
borenen Schwächezuständon  kennen  gelernt  haben,  namentlich  auch 
o-eschlochtliclie  Yerirrungon,  können  sich  in  schärferer  oder  schwächerer 
Ausprägung,  einzeln  oder  gemischt  bei  sonst  rüstigen,  leistungsfähigen, 
ja  hochentwickelten  Persönlichkeiten  wiederfinden.  Wir  sehen  daher 
in  diesen  Zuständen  vielfach,  wie  die  Entartung  unmerklich  auch  im 
kräftigen  Stamme  ün-e  Wirkung  entfaltet;  wir  sehen  aber  wol  auch 
eben  so  oft,  wie  das  gesunde  Leben  allmählich  bis  auf  die  letzten 
unerheblichen  Spinaen  die  krankhafte  Entwickelung  früherer  Ge- 
schlechter zu  überwinden  vermag. 

Die  Behandlung  der  angeborenen  Schwächezustände  sieht  sich 
naturgemäss  wesentlich  auf  eine  sorgfältige,  die  körperliche  Ent- 
wickelung nach  Möglichkeit  berücksichtigende  und  im  Uebrigen  der 
Lage  des  einzelnen  Falles  angepasste  Erziehung  beschränkt.  Grosse 
Geduld,  gleichmässige,  zielbewusste  Festigkeit  und  vor  Allem  warm- 
herzige Freimdüchkeit  Averden  hier  manchen  ungehofften  Erfolg  er- 
ringen. Sehr  wichtig  erscheint  es  mir,  bei  diesen  Kranken  von 
vorn  herein  dauernde  völlige  Entiialtsamkeit  vom  Alkohol  zu  er- 
sta-eben,  der  ihnen  naclnveislich  so  häufig  schweren  Schaden  bringt. 
Eine  ganze  Reihe  von  Kranken,  namentiich  der  hier  zahlreich  ver- 
tretenen Gemeingefährlichen,  wird  nothwendiger  Weise  der  Anstalts- 
pflege anheimfallen,  unt^r  deren  Schutz  sie  meistens  noch  zu  einem 
verhältnissmässig  nützlichen  und  für  sie  selbst  befriedigenden  Leben 
erzogen  werden  können.  Dabei  sind  ausser  den  allgemeinen  Regeln 
der  Anstaltsbehandlung  überhaupt,  Beschäftigung,  guter  Ernäh- 
rung, Ueberwachung  und  wohlwollender  Führung  meist  kerne  be- 
sonderen Anzeigen  zu  erfüllen. 

D.  Die  conträre  SexualempfiiidTiiig. 

Die  verschiedenartigen  Verirrungen  des  Geschlechtstriebes, 
weichen  Avir  auf  dem  Gebiete  des  impulsiven  Irreseins  begegnet 
sind,  bilden  in  mancher  Beziehung  einen  üebergang  zu  jener  eigen- 
artigen Umwandlung  der  geschlechtlichen  Neigungen,  welche  West- 
phal  nach  ihrem  wichtigsten  Zeichen  als  „conträre  Sexualempfindung" 


684 


XIII.  Die  iisychiBchen  Eutwickelungsanonialien. 


bezeichnet  hat.  Es  liandelt  sich  hier  um  eine  meist  in  früher  Jugend 
bereits  hervortretende  geschlechtliche  Zuneigung  zu  Per- 
sonen desselben  Geschlechts  („Homosexualität"),  wähi-end  das 
andere  Geschlecht  dem  Patienten  in  dieser  Hinsicht  gleichgültig 
bleibt  oder  sogar  Abscheu  und  Ekel  einflösst.  Die  Aufmerksamkeit 
der  L'renärzte  wurde  auf  diese  wahrscheinlich  uralte,  mit  der  Knaben- 
liebe der  Griechen  und  Römer  in  Beziehung  stehende  Verirrung 
hauptsächlich  durch  Casper  gelenkt;  später  haben  namentlich  West- 
phal  und  v.  Krafft-Ebing  unser  Wissen  über  diesen  Gegen- 
stand gefördert,  der  in  neuester  Zeit  gleich  eine  ganze  Reihe  ein- 
gehendster monographischer  Bearbeitungen  erfahren  hat*j. 

In  der  Mehrzahl  der  Fälle  scheint  die  Störung  Männer  zu  be- 
treffen, oder  sie  ist  doch  bei  ihnen  den  Aerzten  leichter  und  häufiger 
bekannt  geworden;  fast  immer  ist  angeborene,  häufig  ererbte  psycho- 
pathische Veranlagung  vorhanden.  Der  Geschlechtstrieb  pflegt  sich 
früh  und  kräftig  zu  entwickeln  und  führt  sehr  häufig  zu  einer  leb- 
haft betriebenen  Onanie.  In  manchen  Fällen  bestehen  zunächst  ge- 
sunde, „heterosexuelle"  Neigungen,  die  erst  später  durch  den  stärker 
anwachsenden  krankhaften  Trieb  überwältigt  werden.  Meist  aber 
beziehen  sich  die  wollüstigen  Begleitbilder  der  geschlechthchen  Er- 
regung im  Wachen  und  Träumen  von  vorn  herein  auf  das  gleiche 
Geschlecht,  und  alle  Yersuche  normalen  Geschlechtsverkehrs  miss- 
glücken vollständig  oder  gewähren  doch  wenigstens  keine  Befriedigung. 
Gerade  diese  Erfahrungen  sind  es,  welche  dem  Kranken,  der  oft 
längere  Zeit  über  sich  selbst  im  Unklaren  ist,  die  Eigenart  seines 
Geschlechtslebens  enthüUen.  Entscheidend  ist  für  die  weitere  Ent- 
wickelung  die  Bekanntschaft  mit  irgend  einer  Person  gleichen  Ge- 
schlechts, die  entweder  einfach  durch  ihre  körperlichen  und  geistigen 
Vorzüge  die  Sinnlichkeit  des  Kranken  mächtig  erregt  oder  geradezu 
die  gleichen  Neigungen  hat  und  ihn  „verführt"  oder  sich  von  ihm 
verfülu-en  lässt.  Es  kommt  zu  einem  schwärmerischen  und  leiden- 
schaftlichen„Freundschaftsbündnisse"  mit  allen Ueberschwänglichkeiten 
eines  Liebesspiels,  sentimentalenBriefen,Blumensendungen,Geschenken, 


*)  Westphal,  Archiv  f.  Psychiatrie,  U,  1;  v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia 
sexualis.  8.  Auflage.  1893;  Moll,  Die  conträre  Sexualempfiadmig.  1891;  v. 
Schrenk-Notzing,  Die  Suggestionstherapie  bei  krankhaften  Erscheinungen  des 
Geschlechtssinnes.  1892. 


Conträre  Soxualempfindiing. 


685 


Eif ersuch tsscenen,  brünstigem  Küssen  und  Händedrücken.  Meist 
schreitet  dasselbe  zu  wollüstigen  Umarmungen,  gegenseitiger  Mastur- 
bation und  allen  möglichen  andern  „beischlafähnlichen  Handlungen", 
seltener  zu  wirklicher  Paederastie  fort. 

Ganz  wie  bei  den  Beziehungen  verschiedener  Geschlechter  be- 
stehen solche  „Verhältnisse"  bisAveilen  längere  Zeit,  selbst  viele  Jahre 
hindurch  fort.  Weit  häufiger  ist  jedoch  ein  Wechsel  der  Neigungen 
oder  sogar  grosse  Unbeständigkeit.    Meist  sind  beide  TheUe  homo- 
soxual,  doch  giebt  es  manche  Kranke,  die  gerade  nur  mit  gesund 
fühlenden  Personen  geschlechtlich  zu  verkehren  lieben.  Standes- 
unterschiede scheinen,  genau  Avie  im  gewöhnlichen  Geschlechtsleben, 
hier  eine  weit  geringere  EoUe  zu  spielen,  als  etwa  beim  rein  gesell- 
schaftlichen Verkehr.    Einzehie  Kranke  der  besseren  Stände  fühlen 
sich  sogar  am  meisten  zu  Fabrikarbeitern,  Kutschern,  Lastträgern 
u.  dergl.  hingezogen.    Einer  besonderen  Beliebtheit  erfreuen  sich 
auch  hier  die  Soldaten.  Aus  allen  diesen  Umständen  erklärt  es  sich, 
dass  in  grösseren  Städten  gewöhnlich  auch  eine  mäimliche  Prostitution 
mit  allem  Zubehör  zu  bestehen  pflegt,  die  sich  nicht  nur  aus  homo- 
sexualen, sondern  auch  aus  geschlechtlich  normalen  Personen  zu- 
sammensetzt.   Andererseits  werden  neben  den  körperlichen  Reizen 
meist  auch  zusagende  Eigenschaften  des  Gemüths  und  des  Verstandes 
gefordert,  mit  denen  aber  die  Einbildungskraft  des  Homosexualen 
den  Gegenstand  seiner  Liebe  ebenso  freigebig  ausstattet,  wie  der 
normale  Liebesrausch.  Der  Unbefangene  begegnet  in  seinem  ganzen 
Leben  nicht  einer  solchen»Schaar  von  „hochgebildeten",  „edeldenken- 
den",  „charaktervollen"  Männern,  wie  wir  sie  in  der  Schilderung 
eines  einzigen  Freundeskreises  solcher  Kranker  anzutreffen  pflegen. 

Natürlich  bleibt  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Homosexualen 
unvermählt.  Dennoch  gehen  einzelne  der  Kranken  trotz  ihres  Wider- 
willens gegen  das  andere  Geschlecht  die  Ehe  ein,  theils  in  der 
Hoffnung,  sich  dadurch  von  ihrem  abnormen  Triebe  zu  heilen, 
theils  in  dem  Wunsche,  Kinder  zu  besitzen.  Nicht  immer  sind 
diese  Ehen  unglücklich,  da  die  Kranken  bisweilen,  abgesehen  vom 
geschlechtlichen  Verkehre,  mit  grosser  Pflichttreue  ihre  eigenthüm- 
Hche  Stellung  auszufüllen  verstehen.  Ja,  es  gehngt  denselben  sogar, 
Nachkommenschaft  zu  erzeugen,  allerdings  nur,  wenn  sie  sich  während 
des  Geschlechtsactes  mit  Aufbietung  ihrer  Phantasie  in  die  Arme 
einer  jungen  und  schönen  Person  gleichen  Geschlechtes  zu  ver- 


686 


Xni.  Dia  psychischen  Entwickehmgsanomalien. 


setzen  vermögen.  Daneben  unterhalten  sie  vielfach  noch  gelegent- 
lichen oder  regelmässigen  homosexualen  Verkehr. 

Gewöhnlich  besteht  ausser  der  conträren  Sexualenipfindung  noch 
eine  Reihe  anderweitiger  Züge,  welche  auf  eine  ki-ankhafte  Veran- 
lagung hindeuten.  Daliin  sind  zunächst  alle  jene  vielgestaltigen 
körperlichen  Entartungszeichen  zu  rechnen,  die  wir  früher  kennen 
gelernt  haben.  Der  Verstand  der  Kranken  ist  meist  normal  ent- 
wickelt, doch  macht  sich  häufig  neben  guter  Auffassungsgabe  grosse 
Ermüdbarkeit,  geringe  Ausdauer  bei  geistiger  Arbeit  und  Neigung 
zu  Träumereien  geltend.  Die  Einbildungskraft  pflegt  stark  über  die 
Fähigkeit  zu  rein  verstandesmässiger  Thätigkeit  zu  überwiegen.  Gar 
nicht  selten  beobachtet  man  auch  wirklichen  Schwachsinn.  Am  auf- 
fallendsten ist  gewöhnlich  die  erhöhte  Erregbarkeit  im  Gemüths- 
leben.  Die  Kranken  sind  empfindlich,  von  Stimmungen  und  Ein- 
drücken in  besonderem  Masse  abhängig,  schöngeistig  und  künstlerisch, 
besonders  musikalisch  veranlagt,  zu  Schwärmerei  und  Gefühlsaus- 
brüchen geneigt.  Meist  haben  sie,  namentlich  bei  sonstiger  geistiger 
Begabung,  ein  lebhaftes  Gefühl  für  ihre  eigenartige  Stellung.  Wenn 
sie  auch  nicht  geneigt  sind,  sich  für  eigentlich  krank  zu  halten,  viel- 
mehr an  sich  ihr  Trieb  ihnen  als  etwas  ganz  Natürliches  erscheint, 
so  empfinden  sie  doch  sehr  tief  und  schmerzlich  den  Druck,  mit 
welchem  Gesetz  und  Sitte  sie  belastet,  und  sind  unglücklich  darüber, 
keine  Familie  gründen  zu  können.  Ihr  Charakter  ist  weich,  lenk- 
sam, unselbständig,  sogar  schlaff  und  haltlos.  Ihre  Lebensführung 
weist  daher  häufiger  eine  gewisse  Zerfahrenheit  und  Abenteuerlich- 
keit auf.  UnZuverlässigkeit,  Mangel  an  Wahrheitsliebe,  Neigung  zum 
Prahlen  und  kleinliche  Eitelkeit  sind  gewöhnliche  Untugenden.  Die 
geschlechtlichen  Beziehungen  spielen  vielfach  eine,  namentlich  für 
Männer,  ganz  merkwürdig  wichtige  und  entscheidende  Rolle  in  ihrem 
Leben,  können  sie  längere  Zeit  ganz  vollkommen  in  Anspruch  nehmen, 
an  jeder  geregelten  Thätigkeit  hindern,  sie  verbummeln  lassen,  ihre 
Schicksale  in  durchaus  massgebender  Weise  beeinflussen.  Bisweilen 
gesellen  sich  zu  der  homosexualen  Neigung  die  fi-üher  besprochenen 
Verirrangen  der  Algolagnie  und  des  Fetischismus  ebenso  hinzu, 
wie  zum  heterosexualen  Triebe. 

Während  der  Entwickelung  der  conti'ären  Sexualempfindung  lässt 
sich  sehr  häufig  das  gelegentliche  Auftauchen  heterosexualer 
Regungen  feststellen.     Ich  erinnere   mich  eines  von  Hause  aus 


Conträre  Sexualempfindung. 


687 


krankhaft  veranlagten  jungen  Mannes,  der  zunächst  zweifellose 
sinnliche  Beziehungen  zu  Mädchen  besass,  später  aber  sicli  aus- 
schliesslich durch  Manustupration  von  Knaben  befriedigte.  Niclit 
selten  bestehen  Neigungen  zu  beiden  Greschlechtern  nebeneinander, 
bald  als  Uebergangsstadiura,  bald  dauernd.  Freilich  pflegt  meist 
die  eine  Richtung  mit  stäi'kerer  Befriedigung  verknüpft  zu  sein. 
Man  spricht  hier  von  einer  „psychischen  Hermaphrodisie". 

Bei  ausgeprägter  Homosexualität  zeigt  sich  häufiger  eine  Ver- 
änderung der  ganzen  Lebensführung  im  Sinne  des  entgegengesetzten 
Geschlechtes.  Der  Mann  wnd  weibisch  in  seinen  Bewegungen,  seinem 
Gange,  seiner  Haltung,  seiner  Geschmacksrichtimg.  Er  zeigt  em  süss- 
liches,  geziertes  Wesen,  wird  eitel,  gefallsüchtig,  legt  grossen  "Werth 
auf  Aeusseres,  kleidet  sich  mit  besonderer  Sorgfalt,  nach  der  Mode,  trägt 
Blumen  im  Knopfloch,  parfümirt,  schminkt  sich,  lässt  sich  frisiren, 
schreibt  zierüche  Briefe  auf  duftendem  Papier,  schmückt  seine  Zimmer 
nach  Art  der  weibhchen  Boudoirs  aus.    Vielfach  besteht  die  Neigung, 
sich  mit  weiblichen  Handarbeiten  zu  beschäftigen,  weibliche  Kleidung 
(Corsett!)  zu  tragen,  Busen  und  Hüften  auszustopfen,  in  Fistelstimme 
zu  sprechen,  kurz  sich  in  allen  Stücken  auch  äusserlich  möglichst 
der  erwünschten  geschlechthchen  Stellung  zu  nähern.  Andererseits 
sehen  wn  homosexuale  Frauen  durch  ihre  Neigung  zu  männlichem 
Aufti-eten,  zum  Bauchen  und  Trinken,  zu  übermüthigen  Sü-eichen, 
zu  männlicher  Kleidung  und  Haartracht,  zu  männlichem  Sport  und 
männlichen  Berufsarten  auffallen.    Diese  Veränderungen  bezeichnet 
V  Krafft-Ebing  als  Eff eminatio  und  Viraginität.   Nicht  selten 
gehen  die  ersten  Spuren  derselben  schon  bis  in  die  Kinderjahre 
zurück  und  geben  vielleicht  günstige  Vorbedingungen  für  die  Aus- 
bildung der  conträren  Sexualempfindung  ab;  in  andern  Fallen  voll- 
zieht sich  die  ganze  Umwälzung  erst  späterhin,  anscheinend  wesentlich 
unter  dem  Einflüsse  jener  letzteren. 

Es  giebt  endlich  eine  kleine  Gruppe  von  homosexual  ver- 
anlagten Personen,  bei  denen  auch  der  körperliche  Bau  gewisse 
Abweichungen  vom  Geschlechtstypus  in  der  Richtung  des  andern 
Geschlechts  aufweist.  Dahin  gehören  die  bartlosen  Männer  mit 
weiblicher,  hoher  Stimme,  glatter,  weisser  Haut,  stärkerem  Fettpolster, 
entwickelten  Brustdrüsen,  schlanker  Taille  und  breiten  Hüften,  die 
Frauen  mit  Bartanflug,  grobem  Knochenbau,  tiefer,  rauher  Stimme, 
männlichem  Becken,  erstere  von  v.  Krafft-Ebin  g  als  Androgyne 


688 


Xin.  Die  psychisclien  Entwickelungsanomalieii. 


letztere  als  G-ynandrier  bezeichnet.  Wirkliche  Zwitterbildung  bei 
conträrer  Sexualempfindung  ist  bisher  niemals  beobachtet  worden. 

Der  Verlauf  des  Leidens  ist  stets  ein  äusserst  chronischer. 
Der  vollen  Entwickolung,  die  sich  meist  gegen  Ende  des  zweiten 
oder  im  Anfange  des  dritten  Lebensjahrzehntes  vollzieht,  können 
lauge  Zeiten  des  Kampfes  oder  der  Homosexuahtät  voraufgehen, 
wenn  auch  andererseits  bisweilen  eine  einzige  Lebenserfahrung 
plötzlich  bestimmend  sein  kann.  In  einzelnen  Fällen  hat  man  ein 
periodisches  Auftreten  der  homosexualen  Neigungen  beobachtet,  mit 
oder  ohne  Verbindung  mit  allgemeinen  Erregungszuständen.  Zwei- 
mal sah  ich  acut  Verfolgungsideen  bei  den  sonst  ganz  besonnenen 
Kranken  auftreten.  Sie  fürchteten  entdeckt,  belauscht  zu  werden, 
hörten  über  sich  sprechen,  waren  äusserst  ängstlich  und  nur  theil- 
weise  und  vorübergehend  einsichtig.  Die  Störung  erinnerte  sehr 
an  gewisse  Fälle  von  Grefangenenwahnsinn;  leider  habe  ich  den 
Aveiteren  Verlauf  nicht  beobachten  können. 

Die  conträre  Sexualempfindung  ist  nach  den  Versicherungen 
aller  derartiger  Kranker  keineswegs  selten,  obgleich  die  bisher  vor- 
liegende Casuistik  aus  begreiflichen  Gründen  kaum  mehr  als  etwa 
150  Fälle  umfasst.  Dennoch  ist  die  Angabe  von  Ulrichs,  der  in 
einer  Reihe  von  Schriften  diesen  Zustand  aus  eigener  Erfahrung 
behandelt  hat,  wahrscheinlich  beträchtlich  übertrieben;  er  nimmt 
nämlich  auf  200  Männer  je  einen  „Urning"  an,  wie  er  die  hier  ge- 
schilderten Kranken  nennt.  Auf  Grund  dieser  Angabe  plaidirt  jener 
Autor  sogar  für  die  staatliche  Anerkennung  der  conträren  Sexual- 
empfindimg  und  namentlich  für  die  Gestattung  dauernder  förmlicher 
Ehebündnisse.  In  gewissen  Ständen,  namentlich  den  mehr  weiblichen 
Berufsarten,  finden  sich  Homosexuale  besonders  häufig,  unter  den 
Decorateuren,  Tapezierern,  Kellnern,  Damenschneidern;  auch  unter  den 
Schauspielern  scheinen  sie  viel  vertreten  zu  sein.  Moll  behauptet, 
dass  Damenkomiker  regelmässig  homosexual  seien.  Meistens  wird 
hier  wol  überall  die  Berufswahl  schon  durch  die  ursprüngliche,  zum 
Weiblichen  neigende  Veranlagung  beeinflusst  werden;  namentlich  das 
letzte  Beispiel  spricht  dafür. 

Die  Erkennung  der  conti'ären  Sexualempfindung  ist  in  den 
Fällen  mit  starker  Umwandlung  der  geistigen  oder  gar  körperlichen 
Persönlichkeit  vielfach  sehr  leicht,  obgleich  auch  trotz  jener  Um- 
wandlung völlig  normale  geschlechtliche  Neigungen  vorhanden  sein 


Conträre  Sexaalempfindung. 


689 


können.  Sonst  ist  die .  ärztliche  Diagnose  nur  aus  den  eigenen  An- 
gaben des  Kranken  möglich.  Alle  Angaben  der  Urninge  über  die 
Schnelligkeit  und  Unfehlbarkeit  ihres  Erkennens  sind  Prahlereien. 
Neben  der  krankhaften  conträren  Sexualempfindung  giebt  es  auch 
eine  künstlich  gezüchtete.  Beide,  die  übrigens  wieder  von  der  ein- 
fachen Ausübung  homosexualer  Acte  ohne  homosexuales  Fühlen 
wohl  zu  unterscheiden  sind,  gehen  in  einander  über  und  können  nur 
nach  den  im  einzelnen  Falle  vorliegenden  Angaben  über  die  Ent- 
stehungsweise auseinandergehalten  werden. 

Es  kann  nicht  dem  geringsten  Zweifel  unterliegen,  dass  die  con- 
träre Sexualempfindung  auf  dem  Boden  einer  krankhaft  entarte- 
ten Persönlichkeit  erwächst.    Dagegen  ist  es  fragüch,  ob  die 
eigenthümliche  Verkehrung  des  Geschlechtstriebes  als  solche  schon 
angeboren  ist,  oder  ob  sie  nur  eine  der  vielen  Erscheinungsformen 
krankhafter  Triebe  darstellt,  welche  bei  geringer  gemüthhcher  Wider- 
standsfähigkeit durch  äussere  Lebenserfahrungen  grossgezogen  werden 
können.  Man  ist  meist  der  gewichtigen  Ansicht  v.  Krafft-Ebing's  zu 
Gimsten  der  ersteren  Möglichkeit  gefolgt,  und  die  vielen  Selbst- 
schilderungen von  Urningen  behaupten  fast  ausnahmslos  sehr  be- 
stimmt, dass  die  homosexualen  Neigungen  angeboren  seien.  Auch 
die  Erfahrung  eines  Zusammenhanges  nicht  nur  der  ganzen  Ge- 
müthsart,  sondern  auch  gewisser  körperücher  Eigenthümlichkeiten 
mit  der  conträren  Sexualempfindung  scheint  kaum  anders,  als  im 
Sinne  eines  angeborenen  Zwiespaltes  zwischen  der  Bildung  der  Ge- 
schlechtsorgane und  der  geschlechtlichen  Veranlagung  der  eigent- 
lichen Persönlichkeit  gedeutet  werden  zu  können.    Ulrichs  hatte 
geradezu  von  einer  „anima  muliebris  in  corpore  virili  inclusa"  ge- 
sprochen, und  man  durfte  wenigstens  daran  denken,  dass  bei  der 
erst  spät  erfolgenden  Differenzirung  der  beiden  Geschlechter  die 
gewöhnhche   Uebereinstimmung   der  körperüchen    und  geistigen 
Gesammtrichtung  mit  den  äusseren  Geschlechtskennzeichen  mög- 
ücherweise  einmal  nicht  zu  Stande  kommen  könne. 

Gegenüber  diesen  Annahmen  ist  v.  Schrenk-Notzing  mit 
schwerwiegenden  Beweisen  für  eine  häufigere  Entstehung  der  con- 
trären Sexualempfindung  aus  mehr  zufälügen  Anregungen  em- 
getreten.  Mit  Recht  hat  er  darauf  hingewiesen,  dass  bei  unseren 
geseUschaftüchen  Einrichtungen  die  meist  lange  vor  dem  eigentlichen 
Pubertätsalter  sich  einstellenden  ersten  geschlechtlichen  Regungen 

44 

Kraepelin,  Psychiatrio.  4.  Aull. 


4 


690 


XIII.  Die  psychischen  Entwickeliingsanomalien. 


fast  mit  Nothwendigkeit  sich  an  Erlebnisse,  mit  dem  eigenen  Ge- 
schleclite  anknüpfen  müssen  (nackte  Knaben  beim  Baden,  Ringen 
Verführung  durch  Mitschüler).  Thatsächlich  sind  lebhaft  sinnlich 
betonte  Freundschaften  zwischen  Schulkindern  des  gleichen  Ge- 
schlechts, die  noch  nichts  von  den  Geschlechtsunterschieden  wissen, 
ganz  ungemein  häufig. 

Bei  gesunden  Personen  sind  die  Nebenunistände,  unter  denen 
die  ersten  sinnlichen  Gefühle  auftauchen,  für  die  spätere  Richtung 
des   Geschlechtstriebes    gleichgültig.     Dagegen   können  dieselben 
bei  krankhafter  Veranlagung,  bei  der  ohnedies  das  Erwachen  des 
Triebes  früher  und  heftiger  zu  erfolgen  pflegt,  von  grosser  Be- 
deutung werden.    Dafür  sprechen  vor  Allem  gewisse  Erfahrungen 
bei  Fetischisten,  deren  geschlechtliche  Neigungen  ihr  ganzes  Leben 
hindurch  unter  dem  Banne  eines  bestimmten  Eindi^uckes  stehen 
bleiben.  Auch  an  die  dauernde  Herrschaft  einzelner,  von  aussen  her 
angeregter  Vorstellungskreise  und  Antriebe  bei  den  Schreckneu- 
rosen, wie  bei  Neurasthenikern  überhaupt  darf  hier  erinnert  werden. 
Wie  der  Fetischist  nur  unter  ganz  bestimmten  Umständen  ge- 
schlechtlichen Genuss  findet,  so  könnte  dieser  letztere  beim  Homo- 
sexualen an  die  Wiederkehr  jener  Eindrücke  sich  knüpfen,  welche 
zum  ersten  Male  oder  in  besonders  alarmirender  Weise  den  Ge- 
schlechtstrieb anregten;  das  würden  hier  die  Kennzeichen  des  gleichen 
Geschlechtes  sein.    Dass  dieser  ursprüngliche  Zusammenhang  später 
häufig  vergessen  wird  und  nur  das  anscheinend  räthselhafte  End- 
ergebniss  zu  Tage  liegt,  kann  in  beiden  Fällen  geschehen.  Doch 
liegen  für  Fetischisten  wie  für  Homosexuale  genügend  zahlreiche 
Beobachtungen  vor,  welche  mit  Bestimmtheit  auf  die  hier  angedeutete 
Entstehung  hinweisen.  Gegen  das  Angeborensein  der  Störung  spricht 
ferner  die  Thatsache  der  häufigen  psychischen  Hermaphrodisie.  Ver- 
hältnissmässig  selten  sind  jene  Personen,  bei  welchen  niemals  eine 
Spur  von  heterosexualen  Regungen  vorhanden  gewesen  ist.  Wie 
beim  gesunden  Menschen  die  ursprünglich  vielleicht  am  häufigsten 
auf  das  eigene  Geschlecht  sich  richtenden  sinnlichen  Neigungen 
später  einfach  von  mächtigeren  Trieben  unterdrückt   werden,  so 
wird  dort  die  gesunde  Regung  von  dem  homosexuellen  Triebe 
überwuchert,  der  sich  schon  lange  vorher  auf  dem  krankhaft  em- 
pfänglichen Boden  üppig  entwickelte.    Daher  die  entscheidende  Be- 
deutung der  ersten  geschlechtlichen  Misserfolge,  daher  aber  auch  die 


Conträre  Sexualempfindung. 


691 


sonst  einfach  imerklärlicho,  später  zu  besprechende  Möglichkeit  einer 
Heilung  der  Kranken  auf  psychischem  Wege!  Das  Krankhafte  üegt 
also,  wie  ich  mit  v.  Schreuk-Notzing  glaube  annehmen  zu  müssen, 
häufig  oder  regelmässig  nicht  in  einem  ursprünglich  verkehrt  ent- 
wickelten Triebe,  sondern  es  liegt  in  der  eigenthümlichen,  auf  Ent- 
artung beruhenden  Bestimmbarkeit  des  überdies  früh  erwachenden 
Trieblebens.  Dui-ch  sie  wird  in  dem  jugendlichen  Gemüthe  dis 
erste  Ani-egung  der  Sinnlichkeit  massgebend  für  die  dauernde  Ge- 
sammtrichtung  derselben. 

Allerdings  sprechen  gegen  diese  Auffassung  der  oben  erwähnte 
Zusammenhang  der  geistigen  und  namentlich  der  körperlichen  Eigen- 
schaften mit  der  Geschlechtsumwandlung.     Indessen  der  Werth 
dieser  Thatsachen  ist  unter  dem  Einflüsse  der  Ulrichs'schen  An- 
schauung überschätzt  worden.  Alle  jene  körperlichen  Eigenthümlich- 
keiten  treffen  wir  gelegentlich  bei  beliebigen  Entarteten,  ohne  An- 
deutung von  conträrer  Sexualempfindung.   Zudem  sind  sind  sie  bei 
unsern  Kranken  selbst  durchaus  nicht  häufig;  im  Gegentheil  besitzt 
die  überwiegende  Mehrzahl  derselben  vollständig  alle  körperlichen 
Eigenschaften  ihres  Geschlechtes.   Ebenso  ist  im  Allgemeinen  die 
auffallende  geistige  Yeranlagung  zu  beurtheilen.  Wir  sind  derselben 
schon  bei  manchen  anderen  Formen  der  krankhaften  Entai'tung,  bei 
der  Hysterie,  bei  gewissen  Schwachsinnsformen  u.  s.  w.  begegnet, 
ohne  aUe  Yerbindung  mit  Homosexualität.    Umgekehrt  kenne  ich 
Kranke  genug,  welche  jene  Züge  durchaus  nicht  besitzen.  Immerhin 
wäre  es  wol  mögüch,  dass  bestimmte  Charaktereigenschaften  wegen 
der  gesammten  Stellung,  die  sie  dem  Einzelnen  in  seiner  Umgebung 
anweisen,  von  vorn  herein  die  Entstehung  homosexualer  Neigungen 
begünstigten.   Endlich  aber  ist  ein  TheU  derselben,  sind  namentiich 
die  Lebensgewohnheiten  einfach  die  Folge  der  einmal  bestehenden 
geschlechtüchen  Kichtung.  Es  giebt  übrigens  auch  zahlreiche  sexuell 
vöUig  gesund  veraiüagte  Männer,  welche  ausser  jeder  Beziehung 
zu  ihrem  Berufe  eine   überraschende  Kenntiiiss  der  weibüchen 
Kleidung,  der  Küche,  ja  sogar  grosse  Fertigkeit  in  weiblichen  Arbeiten 
besitzen,  während  andererseits  unsere  „emancipirten",  rauchenden, 
reitenden,   schriftstellernden,  stiidirenden  Damen  kemeswegs  die 
Männerliebe  zu  verschmähen  pflegen. 

Durch  die  hier  verti-etene  Auffassung,  welche  vielleicht  nicht 
für  alle  doch  aber  für  die  Mehrzahl  der  Fälle  von  conta-ärer  Sexual- 
'  44* 


692 


Xin.  Die  psychischen  Entwickelungeanomalien 


empfinclung  gelten  dürfte,  wird  die  Prognose  dieser  Störung  eine 
weit  günstigere,  als  man  früher  annehmen  konnte.  Die  Ei-fahrung 
hat  im  Laufe  der  letzten  Jahre  gezeigt,  dass  bei  nicht  wenigen 
Kranken  eine  sehr  weitgehende  Besserung  und  sogar  Heilung  mög- 
lich ist. 

Die  Behandlung  besteht  wesentlich  in  dem  Yerfahren  der 
hypnotischen  Suggestion,  die  bei  diesen  Kranken,  wie  bei  so  manchen 
andern  Gelegenheiten, Heilerfolge  erzielt,  wo  alle  andern  Behandlungs- 
arten machtlos  sind.  Die  Suggestion  richtet  sich  zuerst  gegen  die 
so  häufig  betriebene  Masturbation  und  die  gesteigerte  geschlechtliche 
Erregbarkeit  überhaupt.  In  zweiter  Linie  wird  TJnempfindüchkeit 
gegen  das  eigene  Geschlecht,  Verblassen  der  betreffenden  Phantasie- 
bilder, in  dritter  Anregung  durch  das  andere  Geschlecht,  Neigung 
zum  heterosexualen  Yerkehr  Torgeschrieben.  Meist  ist  diese  hyp- 
notische Erziehung,  da  es  sich  schon  um  tief  eingewurzelte  Gewohn- 
heiten handelt,  eine  äusserst  mühsame  und  langwierige;  gelegentliche 
Eückfälle  sind  nicht  selten.  Den  grössten  Werth  legt  v.  Schrenk- 
Notzing  auf  regelmässigen  normalen  Geschlechtsverkehr,  der  zwar 
bei  Männern  verhältnissmässig  leicht  zu  beschaffen  ist,  aber,  wie 
seine  Fälle  zeigen,  auch  manche  Gefahren  mit  sich  bringt.  Ein 
Glück,  dass  für  Mädchen  die"  Behandlungsfrage  weniger  brennend 
ist!  Yor  übereilten  Coitusversuchen  muss  gewarnt  werden,  da  ihr 
MissUngen  das  Selbstvertrauen  tief  zu  schädigen  geeignet  ist.  Anderer- 
seits kann  ein  Erfolg  in  dieser  Richtung  anscheinend  raschen  Um- 
schlag der  Stimmung  und  sogar  die  Selbsttäuschung  völliger  und 
endgültiger  Heilung  bewirken.  Unterstützt  wird  die  Behandlung 
durch  Massnahmen,  welche  sich  gegen  den  allgemeinen  nervösen 
Zustand  des  Kranken  richten,  Brom,  diätetische  Yorschriften,  gym- 
nastische Uebungen  und  Aehnliches.  Das  Endergebniss  wird  natüi-Hch 
auch  nach  dem  allmählichen  Schwinden  der  homosexualen  Neigungen 
eine  krankhaft  entartete  Persönlichkeit  sein.  Mehrere  der  so  geheilten 
Patienten  haben  geheirathet. 


E  e  g  i  s  t  e  r. 


A. 

Aberglaube,  Unterscheidung  von  Wahn- 
ideen 108. 

Ablenkbarkeit  als  Symptom  89.  92. 

Abreibungen  als  Heilmittel  209. 

Absence  der  Epileptiker  512. 

Abstinenzerscheinungen  beim  Morphinis- 
mus 561. 

Abulie  als  Symptom  132. 

Acusticusreaction,  elektrische  26.  73. 171. 

Aengstlichkeit  als  Symptom  129. 

Aequivalent,  psychisch-epileptisches  522. 

Aether  als  Beruhigungsmittel  206. 

Aethermissbrauch  als  Ursache  des  Irre- 
seins 25. 

Aetiologie,  allgemeine  5. 

Affecte  s.  Gemüthsbewegungen. 

Agoraphobie  s.  Platzangst.  ^ 

Agrammatismus  bei  Hirnerkrankungen 
643. 

Aidoiomanie  142. 
Algolagnie  678.  686. 
Alkohol  als  Ursache  des  Irreseins  21.  652. 
als  Schlafmittel  205. 

„      Kampf  gegen  denselben  196.  537. 
Alkoholabstinenz  535. 
Alkoholepilepsie  520.  533.  543. 
Alkoholismus,  chronischer  526.  529. 
Alkohohieuritis  22.  533.  535. 
Alkoholparalyse  551. 
Alkoholwahnsinn  322.  545. 
Alkoholwirkung,  psychische  526. 
Altersblödsinn  628. 
Altscherbitz  236. 
Amentia  260. 

„       bei  Untersuchungsgefangenen 

326. 

Amylenhydrat  als  Schlafmittel  203. 
Amylnitrit  als  Arzneimittel  208. 


Anamnese  167. 
Androgyne  687. 
Anfälle,  epileptische  512. 

hysterische  497.  503. 

„      paralytische  585.  612. 
Angehörige  Geisteskranker  167. 
Angina  als  Ursache  des  Irreseins  16. 
Angst  als  Symptom  127. 

„     Behandlung  derselben  223. 
Angstmelancholie  304. 
Anorexie  132. 

Ansteckung,  psychische  38. 
Anthropophagie  677. 
Aphasie,  amnestische,  als  Symptom  93. 
Apoplexie  als  Ursache  des  Irreseins  9.  642. 
Apperception  86. 
ApperceptionshaUucination  76. 
ApperceptionsiUusion  77. 
Are  de  cercle  503. 
Arzneimittel  197. 

Association  s.  Vorstellungsverbindung. 
Asthenopie,  neurasthenische  469. 
Atropindelirium  25.  252. 
Auffassungsstörungen  86. 
Aufnierksamkeit,  Untersuchung  derselben 
178. 

Aufnahmeverfahren  234. 
Auscultation  des  Kopfes  170. 
Ausgänge  des  Irreseins  155. 
Ausschweifungen,  geschlechtliche,  als  Ur- 
sache des  Irreseins  30. 
Autohypnose,  Gefahr  derselben  221. 
Automatie  als  Symptom  137. 
Autopsie  183. 

Aztekentypus  bei  Idiotie  652. 

B. 

Bäder  als  Heilmittel  209. 

„    elektrische  211. 
Balkeumangel  bei  Idioten  654. 


694 


Eegister. 


B  a  s e  d  0  w'sche  Krankheit  als  Ursache  des 

Irreseins  28. 
Befehlsautomatie  138. 
Begriffsbildung  98. 
Behandlung  des  Irreseins  193. 
„         körperliche  197. 
„         psychische  215. 
.,         symptomatische  222. 
Belastung,  erbliche  s.  Erblichkeit. 

„        organische  61. 
Beobachtung  der  Geistesln-anken  182. 
Berauschtheit  während  der  Zeugung  als 

Ursache  des  Irreseins  64.  651. 
Berührungsfurcht  481. 
Beruf  als  Ursache  des  IiTeseins  57. 
Beruf  losigkeit  als  Zeichen  des  Irreseins  57. 
Berufswahl  als  Vorbeugung  des  Irreseins 
196. 

Beschäftigung  als  Heilmittel  219. 
Beschäftigungs delirium  der  Trinker  541. 
Beschleunigung  der  psychischen  Vorgänge 
101. 

Beschränktheit  662. 

„  Abgrenzung    ders.  von 

geistiger  Störung  186. 
Beschränkung,  mechanische  214. 
Besessenheitswahn  398. 
Besserung  der  Geisteskrankheit  durch 

körperliche  Krankheit  157. 
Bettbehandlung  213. 
Bettsucht  als  Symptom  295. 
Bewegungsdrang  134.  278. 
Bewegungsstereotypen  140. 
Bewusstlosigkeit  86.  91. 
Bewusstsein  85. 

„       doppeltes  151. 
„       Helligkeitsgrade  desselben  86. 
Bewusstseinstrübung  als  Symptom  85. 

87.  174. 

Biegsamkeit,  wächserne  139.  171. 
Blasenpflaster  als  Heilmittel  209. 
Blattern  s.  Variola. 

Bleivergiftung  als  Ursache  des  Irreseins  26. 
Blödsinn  s.  Dementia 
„       höherer  669. 
Blutentziehungen  als  Heilmittel  208. 
Bluterkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 18.  28. 
Blutstauungen  8. 
Blutverluste  8.  18.  265. 
Boldin  als  Heilmittel  201. 
Brandstiftungstrieb  142.  675. 
Bromaethyl  als  Heilmittel  206. 
Bromammonium  als  Heilmittel  206. 
Bromkalium        „         „  206. 
Bromnatrium       „         „  206. 
Bromrubidium     „         „  206. 


Bromvergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 25. 

Bromwasser,  kohlensaures,  als  Heilmittel 
207. 

Bulimie  als  Symptom  135. 

c. 

Cannabinon  als  Heilmittel  200. 
Cannabinum  purum  als  Heilmittel  200. 

„       tannicum  „         „  200. 
Castration  bei  Hysterie  504. 
Civilstand,  Einfluss  desselben  auf  das 

Irresein  58. 
Chapman'scher  Schlauch  als  Heilmittel 

210. 

Chininvergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 25. 

Chloralamid  als  Schlafmittel  202. 

Chloralhydrat  als  Schlafmittel  201. 

Chloralmissbrauch  als  Ursache  des  IiTe- 
seins 25. 

Chloralrash  202. 

Chloroform  als  Beruhigimgsmittel  200. 

Chloroformdelirium  252. 

Chlorof ormm i ssbraucb  als  Ursache  des 
Irreseins .  25. 

Cholaemie  als  Ursache  des  Irreseins  21. 

Cholera  „        „        „  14. 

Chorea       „       ,,        „        „  13. 

Classification  s.  Eintheilung. 

Claustrophilie  483. 

Claustrophobie  483. 

Cocainismus  25.  566. 

Cocainwahnsinn  567. 

Codein  als  Arzneimittel  198. 

Coitus,  erster,  als  Ursache  desln-eseins  31. 

CoUapsdelirium  254. 

Coloniales  System  236. 

Commotio  cerebri  s.  Gehirnerschütterung. 

Coniumvergiftung  als  Ursache  des  IiTe- 
seins 25. 

Contagion  s.  Ansteckung. 

Cornutin  als  Heilmittel  208. 

Cretinismus,  endemischer  656. 
„         sporadischer  660. 

Criminalanthropologie  672. 

Criminalpsychologie  672. 

Cultur,  Beziehimgen  derselben  zum  Irre- 
sein 56. 

Cysticerken  als  Ursache  des  Irreseins  9. 
Cytisin  als  Heilmittel  208. 

D. 

Dämmerzustand  als  Symptom  87. 
„  epileptischer  512. 

„  hysterischer  497. 


Register. 


695 


Daturavergiftung  als  Ursache  des  Ii're- 

seins  25. 
Dauer  des  Ii-reseins  164. 
Deckelbad  209. 
Decubitus  586.  592. 

„       Behandlung  desselben  626. 
Degeneration  s.  Entartung. 
Dclinquente  nato  672. 
DeUre  chronique  a  evolution  systematique 

427. 

Dolire  du  toucher  129.  481. 
Delirium  246. 

„     acutum  259.  611. 

„     ängstUches,  der  Epileptiker  516. 

„     blandes  247. 

„     chronisches  der  Trinker  545. 

„     febriles  543. 

„     furibundes  247. 

„     im  Dunkelzimmer  27. 

„     mussitirendes  247. 

„     periodisches  349. 

„     räsonnirendes  der  Epileptiker  518. 

„      seniles  628. 

,,     transitorium  523. 

„     traumaticum  12. 

„     tremens  538. 

„  der  Morphinisten  561. 

Dementia  s.  Schwachsinn. 
„      acuta  267. 

„      paralytica  s  JParalyse,  progressive. 

„      paranoides  456. 

„      praecox  435. 

„      senilis  628. 
Depression,  constitutionelle  476. 
Depressionszustände,  periodische  379. 
Derivantien  als  Heilmittel  209.  » 
Diabetes  als  Ursache  des  Irreseins  18. 
Diaetetik  des  Irreseins  211. 
Diagnostik,  allgemeine  166. 
Digitalis  als  Heilmittel  208. 
Dipsomanie  546. 

Diphtherie  als  Ursache  des  Irreseins  16. 
Dispositionsfähigkeit  146.  644. 
Dissimulation  191. 

Doppeldenken  als  Symptom  76.  84.  397. 
Douchen  als  Heilmittel  209. 
Drastica  als  Heilmittel  209. 
Drehschaukel  als  Heilmittel  231. 
Drucksteigerung  in  der  Schädelkapsel  als 

Ursache  des  Irreseins  8. 
Duboisinimi  sulfuricimi  200. 
Dunkelzimmer,  Delirium  in  demselben  27. 

E. 

Echolalie  140. 
Effeminatio  687. 

Ehe,  Beziehungen  ders.  zum  Irresein  58. 


Eifersuchtswahn  der  Cocainisten  568. 

der  Trinker  549. 
,,  der  Vemickten  395. 

Emtheüvmg  der  Seeionstörungen  239. 
„        ätiologische  241. 
„       klinische  242. 
„       pathologisch-anatomische  240. 
„        symptomatische  241. 
Einwickelungen,  hydropathische  209. 
Einzelhaft  als  Ursache  des  Irreseins  42. 323. 
Eisbeutel  als  Heilmittel  210. 
Ekelgefühle,  Verlust  ders.  als  Symptom  124. 
Ekstase  130. 

Elektrotherapie  beim  Irresein  210. 
Encephalopathia  saturnina  26. 
Entartungszeichen  63.  170.  650.  682. 
Entartungsprocesse,  psychische  435. 
Enthaltsamkeit,  geschlechtliche  als  Ur- 
sache des  Irreseins  32. 
Entlassung  aus  der  Anstalt  237. 
Entwickelungsanomalien,  psychische  646. 
Entwickelungsstörungen  als  Ursache  des 

Irreseins  64. 
Entziehungscur  bei  Alkoholismus  536. 
,,  „  Cocainismus  571. 

„  ,,  Morphinismus  562. 

Epilepsie  als  Ursache  des  Irreseins  13. 
.,       bei  Idiotie  651. 
;,       genuine  520. 
,,       psychische  512. 
„       symptomatische  520. 
Epileptisches  Irresein  507. 
Erblichkeit  als  Ursache  des  In-eseins  59. 
„        atavistische  60. 
„        collaterale  60. 
„        cumulative  61. 
;,        directe  60. 
„        gleichartige  63. 
„        indirecte  60. 
Ergotismus  als  Ursache  des  Irreseins  20. 
Erinnerungsfälschung  95. 
Erinnerungshallucination  95. 
Erinnerungslosigkeit  91.  ■* 
Erinnerungslücke  91. 
Erlenmeyer'sches  Gemisch  207. 
Ermüdbarkeit,  Messung  ders.  178. 
Ernährung  der  Geisteskranken  211. 

künstliche  227. 
Erregung,  Behandlung  ders.  223. 
Erschöpftingszustände,  acute  254. 
Erysipel,  bessernder  Einlluss  desselben 

auf  Geistesstörungen  157. 
Erysipel  als  Ursache  des  Irreseins  14.  16. 

248.  257.  272.  652. 
Erziehung  als  Ursache  des  Irreseins  64. 

„  Vorbeugung  des  Irreseins 

193. 


696 


Eegister. 


Esclioltzia  californica  als  Schlafmittel  199. 
Euphorie  als  Symptom  130. 
Existenzminimum  der  Morphinisten  563. 

F. 

Familiäre  Verpflegung  237. 
Faradisation,  allgemeine  211. 
Faserschwund  bei  Paralyse  616.  618. 
Fetischismus  679.  686. 
Fieberdelirien  14.  15.  246. 
Flagellanten  678. 

Flexibilitascerea  s.  Biegsamkeit,  wäch- 
serne. 

Fhegenschwammvergiflung  als  Ursache 

des  Irreseins  25. 
FoHe  ä  deux  39. 

„    du  doute  480. 

„    morale  670. 

„    raisonnante  367. 

„  „        melancholische  476. 

Forensische  Psychiatrie  146.  187.  189. 
Forza  irresistibile  681. 
Fütterung,  künstliche  227. 

G. 

Galvanisation  des  Gehirns  210. 

Geburt,  protrahirte,  als  Ursache  des  Irre- 
seins 652. 

Gedächtniss  90. 

Gedächtnissprüfung  176.  179. 

Gedächtnissschwäche  91. 

Gedächtniss,  Störungen  desselben  90. 

Gefässerkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 8.  28.  644. 

Gefangenenwahnsinn  42.  323. 

Gefühle  121. 

„     Störungen  derselben  121. 

Gehirnerschütterung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 8. 

Gehirnerweichung  s. Paralyse,  progressive. 

Gehörstäuschung  81. 

Geistesstörung  s.  Irresein  und  Psychose. 

Gelenkrheumatismus  als  Ursache  des  Irre- 
seins 14.  16.  248.  258.  265. 

Gelüste  der  Schwangeren  136. 

Gemüthsbewegungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 7.  8.  40. 

Gemüthsbewegungen  Feststellung  der- 
selben 176. 

Genie,  Abgrenzung  desselben  vom  Irre- 
seüi  187. 

Genitalorgane,  Erkrankungen  ders.  als 
Ursache  des  Irreseins  30.  33. 

Geschlecht,  Beziehungen  desselben  zum 
Irresein  54. 

Geschlechtstrieb,  Perversitäten  desselben 
142.  676. 


Gesichtstäuschung  80. 
Gewohnheitsvorbrecher  57. 
Gheel  237. 

Gleichgültigkeit  als  Symptom  des  Irre- 
seins 121. 

Gliose  der  Hii-nrinde  639. 

Gothenburger  System  537. 

Gravidität  s.  Schwangerschaft. 

Greisenalter  als  Ursache  des  Ii-reseins  53. 
628. 

Grössenwahn  als  Symptom  112. 

„  combinatorischer  416. 

„  hallucinatorischer  410. 

Grübelsucht  479. 
Gynandrier  688. 

H. 

Haematom  der  Dura  bei  Paralyse  615. 
Hallucination  73. 

„  der  Erinnerung  95. 

„  hypnagogische  72. 

„  psychische  76. 

,,  stabile  72. 

Haschisch  als  Heilmittel  200. 

„       als  Ursache  desIrreseins  25. 252. 
Hebephrenie  442. 
Heilung  des  IiTeseins  155. 
„      mit  Defect  160. 
,,      unvollständige  158. 
Heirathen  Geisteskranker  193. 
Herderkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 641. 
Heredität  s.  Erblichkeit 
Hermaphrodisie,  körperliche  686. 

psychische  687.  690. 
Herzleiden  bei  Geisteskranken  7.  8.  27. 
HeteroSexualität  684. 
Heterotopien  bei  Idioten  654. 
Hirnabscesse  als  Ursache  desIrreseins  642. 
Hirnaenamie  als  Ursache  des  L-reseins  8. 
Hirnblutung  als  Ursache  des  Irreseins  7. 
642. 

Hirndruck  als  Ursache  des  Irreseins  7. 
Hirnerkrankungen,  Schwachsinn  bei  dens. 
639. 

Bürngeschwülste  als  Ursache  des  Irre- 
seins 7.  9.  641. 

Hirnhyperaemie  als  Ursache  des  Irre- 
seins 7. 

Hirnsklerose,  düfuse  640. 

Höhenangst  483. 

Homo  sapiens  ferus  655. 

Homosexualität  684. 

Hydrocephalus  bei  Idiotie  653. 

Hydrotherapie  209. 

Hyoscin  als  Heilmittel  199. 

Hyoscyamin  als  Heilmittel  200. 


Register. 


697 


Hyoscyamusvergiftiing  als  Ursache  des 

Irreseins  25. 
Hyperalgesio,  psychische  127. 
Hyperostose  des  Schädels  bei  Paralyse 

615. 

Hypnon  als  Heilmittel  205. 
Hyiinose  137. 

„      als  Behandlungsart  220. 

„      bei  conträrer  Sexualempfindung 
6!)2. 

Hypnotica  s.  Schlafmittel. 

Hypnotische  Versuche  als  Ursache  des 

Irreseins  39. 
Hypochondria  gastrica  309. 
Hypochondrie  der  Greise  632, 

„  der  Hysterischen  494. 

der  Neurasthenischen  470. 
„  der  Verrückten  400. 

Hysterie  491. 

„      als  Folge  von  Genitalleiden  34. 
„       „  Ursache  des  Irreseins  13. 
„      männliche  500. 
Hysteroepüepsie  503. 

I. 

Jahreszeiten  in  Beziehung  zum  Irresein  59. 
Icterus  gravis  als   Ursache  des  Irre- 
seins 21. 
Ideenflucht  als  Symptom  105. 
Idiotenanstalten  656. 
Idiotie  646. 

„     anergetische  649. 

„     apathische  649. 

„     erethische  649. 

„     erworbene  648.  ^ 

„     versatile  649. 
IdiosjTikrasien  129. 
Illusion  73. 
nten  237. 
Imbecülität  661. 
Inducirtes  Irresein  39. 
Infectionski-aiikheiten  als  Ursachen  des 

Irreseins  14.  18.  651. 
Influenza  als  Ursache  des  Irreseins  14. 

16.  257.  472. 
Infusion,  subcutane  229. 
Initialdelirium  250. 
Initialsymptome  150. 
Insolation  als  Ursache  des  Irreseins  621. 
IntelUgenzprüfung  175. 
Intentionszittern  bei  Paralyse  590. 
Intermittens  als  Ursache  des  Irreseins 

14.  16.  151.  250. 
Intermittens,  bessernder  Einüuss  dess.  auf 

das  Irresein  157. 
Intimidation  191.  220. 
Intoxikationen,  chronische  526. 


Intoxikationsdelirium  250. 
Jodoformvergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 25. 
Iracundia  morbosa  125.  673. 
Irrenanstalt  280. 
Irrencolonien  236. 
Irrenfiirsorge  als  Vorbeugung  196. 
Irresein  s.  Psychose. 

„      circuläres  363. 

„      degeneratives  682. 

„      emotives  673. 

„      epileptisches  507. 

„      hysterisches  491. 

„      impulsives  675. 

„      menstiueUes  354. 

„      moralisches  670. 

„      neurasthenisches  467. 

„      periodisches  348. 

„      postepileptisches  513. 

„      praeepüeptisches  513. 
Isolirung  214. 

Juden,  Veranlagung  zum  Irresein  56. 
K. 

Kachexia  strumipriva  28. 
Kälte  als  Behandlungsmittel  209. 
Karcinom,  s.  Krebskachexie. 
Katalepsie  139.  171. 

„       bei  Katatonie  449. 
„       bei  Paralyse  587. 
Kataraktoperationen    als    Ursache  des 

Irreseins  27. 
Katatonie  137.  140.  445. 
Kinder,  Irresein  derselben  48. 
Kleiderangst  484. 
Kleptomanie  142.  676. 
Klima,  Beziehungen  dess.  zum  Irresein  59. 
Klimakterium  als  Ursache  des  Irreseins 

53.  346. 

Klimakterium,  künstliches,  als  Ursache 
des  Irreseins  34. 

Knabenliebe  der  Alten  684. 

Kochsalzinfusion  als  Heilmittel  229. 

Körpergewicht  bei  Geisteskranken  154. 

Kolilenoxydgasvergiftung  als  Ursache  des 
Irreseins  21. 

Kohlensäurevergiftung  als  Ursache  des 
Irreseins  21. 

Koma  248. 
„     vigil  248. 

Kopfrose  s.  Erysipel. 

Kopfverletzungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 8.  10.  621.  652. 

Kopfverletzungen ,    bessernder  Einfluss 
ders.  auf  das  Irresein  157. 

Koprolalie  485. 

Koprophagie  136. 


698 


Eegister 


Kosmische  Ursachen  des  Iweseins  59. 
Kranlcheiten,  körperliche,  als  Ursache  des 

Irreseius  14.  265.  272. 
Kjankheiten,  körperliche,  bessernder  Ein- 

lluss  auf  das  Ei'resein  157. 
Kraukheitshewusstsein  174. 
Kraukheitseinsicht  als  Symptom  112. 

„  als  prognostisches 

Zeichen  156. 
Krebskachexie  als  Ursache  des  Ii-reseins 

18.  300. 

Ki'ieg  als  Ursache  des  In-eseins  43. 
Krisen  bei  Neui'asthenie  473.  484. 
Krisen  bei  Schreckneurose  488. 
Kriterien  des  In-eseins  183. 
Kritikstörung  bei  der  Wahnbildung  115. 
Kropf  bei  Cretinen  657.  660. 
Kropfbrunnen  659. 

L. 

Lactation  als  Ursache  des  Irreseins  36. 
265.  300. 

Lebensalter,  Beziehungen  desselben  zum 

Irresein  48. 
Leichenschändung  beim  impulsiven  IiTe- 

sein  677. 
Lethargie  248. 

Leuchtgasvergiftung    als   Ursache  des 

Irreseins  21. 
Leukaemie  als  Ursache  des  Irreseins  18. 
Localisation  der  psychischen  Störungenil. 

„  der  Wahnideen  118. 

„         zeitliche  93. 

„  „      Störungen  ders.  94. 

Lüge,  patholog'ische  663.  667. 
Lues  s.  Syphilis. 

Lues    hereditaria    tarda,  Schwachsinn 

bei  ders.  640. 
Lungenentzündung  s.  Pneumonie. 
Lungenkrankheiten  als  Ursache  des  Ii-re- 

seins  27. 
Lustmord  142.  677. 

Lyssa  als  Ursache  des  Irreseins  15.  250. 
M. 

Mädchenstecher  677. 

Mässigkeitsvereine  538. 

Magenerlcrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 29.  309. 

Malaria  s.  Interniittens. 

Mania  275. 

„     furiosa  278. 
„     mitis  367. 
„     mitissima  367. 
„     periodica  352. 
„     senilis  636. 


Mania  sine  delü-io  367. 
„     transitoria  523. 

Mann,  Veranlagung  dess.  zu  Geistes- 
störungen 54. 

Masern  als  Ursache  des  Irreseins  14.  652. 

Masochismus  678. 

Massage  als  Heilmittel  211: 

Mastcur  212. 

Masturbation  als  Ursache  des  Irreseins  .30. 

„        Behandlung  derselben  226. 

,.        gegenseitige,  bei  conträrer 
Sexualempfindung  685. 
Medicamente  s.  Arzneimittel. 
Megalomanie  der  Paralytiker  602. 
Melancholia  288. 

„        activa  304. 

„        attonita  310. 

„        periodica  379. 

„        senilis  633. 

„        Simplex  288. 
Meningitis  als  Ursache  des  Irreseins  7. 
Menschenfi'esserei-  bei   impulsivem  Irre- 
sein 677. 
Menstrualpsychosen  358. 
Menstruationsstörungen  als  Ursache  des 

Irreseins  33. 
Mensti-uationsstörungen,  Einfluss  derselb. 

auf  den  Verlauf  des  Irreseins  152. 
Metamorphose,  Wahn  der  110. 
Metasyphilis  621. 
Methylal  als  Schlafmittel  205. 
Miki-ocephalie  bei  Idioten  652. 
Miki-omanie  der  Paralytiker  598. 
Mimik  der  Geisteskranken  143. 
Minderwerthigkeiten,  psychopathische  682. 
Monomanie  142.  676.  681. 
Moral  insanity  670. 
Mordtrieb  142. 
Moria  282. 
Morphinismus  551. 
Morphiococainismus  570. 
Morphium  als  Heilmittel  198. 

„      als  Ursache  des  Irreseins  24. 
Morphiumabstinenz  561. 
Morphiumeuphorie  552. 
Mutacismus  140.  447. 
Myelasthenie  473. 
Mysophobie  481. 

Mystiker,  Beziehung  ders.  zum  Irresein 
186. 

Myxödem  als  Ursache  des  Irreseins  18. 
28.  300. 

N. 

Nachahimmgsautomatio  140. 
Nachtwachen  als  Ursachen  des  Irreseins 
265. 


Register. 


699 


Nachtwandeln  498.  514. 
Nahrungsverweigerung,  Behandhmg  ders. 
22G. 

Nahtverkuöcherung  bei  Idioten  652. 
Narkotica  als  Heihnittel  197. 
Narrenthürme  230. 

Nationalität,  Beziehungen  dors.  zum  Irro- 
soin  56. 

Negativismus  als  Symptom  140. 
Nervcnki'ankheitün  als  Ursache  des  Irre- 
seins 12. 
Neurasthenie  467. 

„         angeborene  476. 

„         constitutionelle  476. 

„         erworbene  467. 
Neiu-itis,  alkohoHsche  22.  533.  535. 

„      bei  Paralyse  619. 
Neurosen,  allgemeine  13.  467. 
Neurose,  traumatische  487. 
Nierenerki-ankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 30. 
No-restraint  214. 
Nyktophobie  483. 
Nymphomanie  135. 

0. 

Ohnmacht,  epileptische  512. 
Ohrenleiden  als  Ursache  des  Irreseins  26. 
Onanie  s.  Masturbation. 
Onomatomanie  478. 

Opium  als  Ursache  des  Irreseins  25. 
253  652. 

Opium  als  Heümittel  197.  286.  310.  ■ 
Ophthalmoskopie     als  Untersuchungs-' 

methode  170. 
Organerkrankungen    als    Ursache  des 

Irreseins  26. 
Othaematom  592. 

P. 

Pachymeningitis  interna  als  Ursache  des 

Irreseins  7. 
Pachymeningitis  interna  bei  Paralyse  615. 
Päderastie  685. 
Pantophobie  306. 
Paraldehyd  als  Schlafmittel  202. 
Paralyse,  ängstliche  598. 

„      agitirte  608. 

„      ascendirende  597. 

„      circuläre  607. 

„      demente  594. 

„      depressive  597. 

„      expansive  601. 

„      galoppirende  610. 

„      hypochondrische  597. 

„      progressive  573. 


Paralyse,  weibliche  597.  603. 
Paranoia  s.  Verrücktheit. 

„      completa  427. 
Parasiten  im   Darm   als  Ursache  des 

Irreseins  29. 
Pellagra  als  Ursache  des  IiTeseins  20. 
Perceptionsphantasmeu  72. 
Personenverwechselung  81. 
Petit  mal  512. 
Pflegepersonal  235. 
Phobien  der  Neurastheniker  484. 
Phrenasthenie  473. 

Phthise  als  Begleiterin  des  Irreseins  163. 

„      als  Ursache  des  Irreseins  18. 
Physiognomie,  epileptische  519. 
Picae  gravidarum  186. 
Piscidia  erythi-ina  als  Heilmittel  201. 
Platzangst  129.  483. 
Pneumonie  als  Ursache  des  Irreseins  14. 

248.  256. 
Pocken  s.  Variola. 

Politische  Bewegungen  als  Ursache  des 

Irreseins  58. 
Porencephalie  bei  Idioten  653 
Praecordialangst  128. 
Praedisposition  zum  Irresein  47. 

„  allgemeine  48. 

„  Grundlage  derselben  66. 

„  individuelle  59. 

Primordialdelirien  385. 
Processe,  krankhafte  148. 
Processkrämer  407. 
Prodromalsymptome  150. 
Prognose  des  irresems  155. 
Prophylaxe  des  Irreseins  193. 
Pseudohallucination  76. 
Pseudoparalyse,  alkoholische  551. 
Psychose,  s.  Irresein. 

„      accidentelle  244. 

„      acute  typische  244.  . 

„      angeborene  244. 

„      chronische  progressive  244. 

„      circuläre  152. 

„      constitutionelle  244. 

„      cyklische  152. 

„      der  Schwerhörigen  391. 

„      menstruale  152. 

„      periodische  151.  348. 
Pubertätsalter,  Geistesstörungen  dess.  50. 
Puerperium  s.  Wochenbett. 
Pulsbild  beim  Irresein  172. 
Pyromanie  142.  675. 

a. 

Quartalssäufer  547. 

Quecksilberbohandlung  bei  Paralyse  624. 


700 


Register. 


Quecksilbervergiftung  als   Ursache  des 

LTOseius  2G. 
Querulantenwahn  407. 

R. 

Eace,   Beziehung  derselben  zum  Ii-re- 

sein  56. 
Eaptus  melancholicus  306. 
Eausch  527. 

Eauschzustände,  pathologische  529. 
Eeconvalescenz  153. 
Eeflexepilepsie  524. 
Eeflexliallucination  78. 
Eeflexkrampf  saltatorischer  591. 
Eeflexpsychosen  13. 

Eeinlichkeit,  Störungen  derselben  124. 

Eeizbarkeit,  gemüthliche,  Erhöhung  der- 
selben 125. 

Eeligiöse  Bewegungen  als  Ursache  des 
Irreseins  58. 

Eemissionen  der  Paralytiker  612. 

Eeperception  75. 

Eestraint  215. 

Eetinitis  paralytica  584. 

Eippenbriiche  der  Paralytiker  592. 

S. 

Sadismus  676. 

Salicylsäurevergiftung  als  Ursache  des 

Irreseins  25. 
Santonindelirium  252. 
Satyriasis  135.  ■ 
Scandiren  der  Paralytiker  589. 
Schädelmessung  bei  Geisteskranken  170. 
Scharlach  als  Ursache  der  Idiotie  651. 
Scharlachdelirien  14.  16.  248. 
Scheinoperationen  bei  Hypochondern  220. 

402. 

Schilddrüsenerkrankung  als  Ursache  des 

Irreseins  28. 
Schilddrüsenerkrankung  bei  Cretinismus 

657.  659. 
SchlafanfäUe  bei  Epilepsie  512. 

„         bei  Hysterie  497. 
Schlaflosigkeit,  Behandlung  derselben  223. 
Schlafmittel  201. 
Schmierkur  bei  Paralyse  624. 
Schnauzkrampf  als  Symptom  140. 
Schreck  als  Ursache  des  Irreseins  8.  272. 

314.  472. 
Schreckneurose  487. 
Schriftstörungen  144. 
Schulepidemie,  hysterische  500. 
Schwachsinn  s.  Dementia 

,;         anergetischer  661. 
„         angeborener  148.  661. 
,,         bei    orgfiniscben  Hirner- 
.  krankungen  639. 


Schwachsinn,  emotiver  673. 

„         epileptischer  507. 

„         erethischer  666. 

„         erworbener  628. 

,,         impulsiver  675. 

„         intellectueller  661. 

„         moralischer  670. 

„         secundärer  149. 
Schwangerschaft  als  Ursache  des  Irre- 
seins 34. 

SchwefelkohlenstofFvergiftung  als  Ursache 

des  Irreseins  21. 
Schwefelwasserstoff  Vergiftung  als  Ursache 

des  Irreseins  21. 
Schwellenwerth  86. 

Schwerhörige,  Psychose  derselben  391. 
Schwindelanfalle  epileptische  512. 

„  paralytische  585.  612. 

Sectionsergebnissebei  Geisteskranken  183. 
Sehstörung  der  Paralytiker  584. 
Selbstbewusstsein  119. 

„  Störungen  desselb.  119. 

Selbstmord  als  Symptom  163.  185.  296. 
Selbstmordneigung,  Behandlimg  ders.  224. 
Senium  praecox  629. 
Septicaemie  als  Ursache  des  Irreseins  15. 
Sexualempfindung,  conträre  142.  683. 
Silbenstolpern  der  Paralytiker  589. 
Simulation  189. 
Sinnestäuschungen  70.  73. 

„  elementare  71. 

„  Nachweis  ders.  174. 

Sklerose,  diffuse  640. 

„      multiple  640. 
Somnambulismus  s.  Nachtwandeln. 
Sondenfütterung  227. 
Sphygmographie  bei  Geisteskranken  172. 
SpinnenzeUen  bei  Paralyse  616. 
Sprachstörung  144. 

„  der  Idioten  651. 

der  Paralytiker  588. 

Stadtasyl  235. 

Status  praesens,  körperlicher  169. 

„  „       psychischer  173. 

Stehltrieb  142.  676. 
Stereotypie  als  Symptom  140.  171. 
Stickstoffoxydul  als  Ursache  des  Irreseins 

21.  253. 
Stigmata  hereditatis  63. 
Stiromen  81. 
Stupor  269.  310.  329. 

„     epileptischer  515. 

„     im  circulären  Irresein  365. 

„     im  periodischen  Irresein  360. 

„     manischer  366. 
Suggestion,  hypnotische  1.38. 
„        ä  echcance  138. 


Kegister. 


701 


Suggestion  bei  conträrer  Soxiialompfind- 

ung  692. 
Suggestion,  posthypnotische  138. 
Sultbnal  als  Schlafmittel  204. 
Symptomatologie  des  Irreseins  69. 
Syphilis  als  Ursache  des  Irreseins  19.  652. 
„     bei  Paralyse  620. 

T. 

Tabakmissbrauch  als  Ursache  des  Irre- 
seins 25. 

Tabes  als  Ursache  des  Ii-reseins  12. 
„     bei  Paralyse  590.  597.  619. 

Tangentialfasem,  Schwund  ders.  bei  Para- 
lyse 616. 

Telepathie  110.  396. 

Tetanie  als  Ursache  des  Irreseins  13. 

Tetronal  als  Schlafmittel  204. 

Theilnahmlosigkeit  als  Symptom  121. 

Therapie  s.  Behandlung. 

Thermometrie  des  Kopfes  170. 

Thierverwandlung,  Wahn  ders.  110. 

Tobsucht  367,  s.  auch  Manie. 

Tod  als  Ausgang  des  Irreseins  162. 

Transformation  der  Vererbung  63. 

„  desWahnesbeiParanoia427. 

Traiuna  als  Ursache  des  Irreseins  8.  9. 
10.  487. 

Tremor,  alkoholischer  535.  543. 
Tretrad  als  Behandlungsmittel  231. 
Tribasilarsynostose  bei  Idiotie  653. 
Triebe,  krankhafte  141. 
Trinkerasyle  536. 
Trional  als  Schlafmittel  204. 
Tuberculose  als  Ursache  des  Irreseins  18. 
Typhus  als  Ursache  des  Irreseins  14.  16. 

248.  250.  265.  272.  651. 
Typhus,  bessernder  Einfluss  desselben  auf 

Geistesstörungen  157. 

U. 

Ueberanstrengung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 43.  272. 

Ueberbürdung  der  Schuljugend  194. 

Ueberemährung  als  Behandlungsmethode 
266. 

Uebungsfähigkeit,  Messung  derselben  180. 
Unheilbarkeit  161. 

Unreinlichkeit,  Behandlung  derselben  225. 

Unsittlichkeit ,  Abgrenzung  ders.  vom 
Irresein  187. 

Unterricht,  psychiatrischer  197. 

Untersuchungshaft  als  Ursache  des  Irre- 
seins 42.  326. 

Untersuchungsmethoden,  klinische  166. 

Uraomie  als  Ursache  des  Irreseins  21. 

Ural  als  Schlafmittel  205. 


Urethan  als  Schlafmittel  204. 
Urning  688. 

Ursachen  des  Irreseins,  äussere  6. 

„        „        ,,       innere  47. 

„        „  körperliche  6. 

,,        „        „       psychische  37. 

„        „.        „       rohe  45. 

.,    ,  „        „       wahre  45. 
Urtheilsstörungen  107. 

V. 

Vagabunden,  Beziehungen  ders.  zimi  Irre- 
sein 57. 

Variola  als  Ursache  des  Irreseins  14.  16. 

248.  250.  272.  651. 
Verbalsuggestion  222. 
Verbigeration  141.  450. 

„         haUucinatorische  451. 
Verblödung  99.  162. 
Verbrecher,  geborener  672. 
Verdauungsstörungen   als  Ursache  des 

Irreseins  29. 
Vererbung,  s.  Erblichkeit. 
„        cumulative  61. 
„        gleichartige  63. 
„        Transformation  ders.  63. 
Verfolgungswahn  als  Symptom  110. 

,,  combinatorischer  402. 

„  hallucinatorischer  386. 

„  hypochondrischer  392. 

„  phantastischer  391. 

„  physikalischer  396. 

.,  sexueller  393. 

Vergiftungen  als  Ursachen  des  Irreseins 
20.  250. 

Verlangsamung  der  psychischen  Leist- 
ungen 101. 
Verlauf  des  Irreseins  148. 
„     alternirender  153. 
„     circulärer  152. 
„     continuirlicher  150. 
,,     cyklischer  152. 
„     intermittirender  150. 
„     periodischer  151. 
„     progressiver  162. 
,,     remittirender  150. 
Verrücktheit  385. 

„        acute  385. 
„        confabiilirende  430. 
„        depressive  386. 
„        erotische  420. 
„        expansive  410. 
„        hypochondrische  400. 
„        hysterische  500. 
„        katatonische  42ö. 
„        originäre  429. 
I  Versündiguugswahn  Iii.  289. 


702 


Eegister. 


Verwandlungawahn  HO. 
Verwandtschaft  der  Eltern  als  Ursache 

des  Irreseins  64. 
Verwirrtheit  als  Symptom  106. 

„        acute  260. 

„        affective  106. 

„        asthenische  262. 

„        combinatorische  106. 

„        deliriöse  106. 

„        hallucinatorische  107.  260. 
ideenflüchtige  106.  277. 

„        secundäre  107. 
Viraginität  687. 
Vision  80. 

Vorstellungsverbindiingen ,  apperceptive 
97. 

Vorstellungs Verbindungen,  associative  97. 

„  Schnelligkeit 
derselben  181. 

Vorstellungsverbindiingen,  Statistik  der- 
selben 181. 

Vorstellungsverbindiingen,  zeitlicher  Ab- 
lauf derselben  100. 


w. 

Wachabtheilimg  235. 
Wärmebestrahlung  des  Kopfes  als  Ur- 
sache des  IiTeseins  7.  621. 
I  Wahnidee  als  Symptom  108. 
„       depressive  109. 
„      exaltirte  112. 

fixe  114. 
„       hypochondrische  109. 
„      Nachweis  derselben  174. 
„      nihilistische  341.  634. 
„       systematisirte  114. 
„      wechselnde  114. 
Wahnsystem  114. 
Wahnsinn  318. 

„       chronischer  384. 
„      depressiver  340. 
„      hallucinatorischer  319. 
„  „  ängstlich-stu- 

poröser  326. 
Wahnsinn,    hallucinatorischer  alkoho- 
lischer 322.  545. 


Wahnsinn,  hallucinatorischer,  der  Cocai- 
nisten  567. 

Wahnsinn,  haUucinatorischer,  der  Ge- 
fangenen 42.  323. 

Wahnsinn,  hallucinatorischer,  einfacher 
319.  _ 

Wahnsinn,  hallucinatorischer,  labiler  334. 
„  ■  „  progressiver 

331. 

Wahrnehmung,  Störungen  ders.  70. 
Wechselfieber  siehe  Intermittens. 
Weib,  Disposition  desselben  zum  Irre- 
sein 54. 

Weitschweifigkeit  der  EpUeptiker  508. 

Widerstandsfähigkeit,  psychische,  Mes- 
sung ders.  179. 

Wülensimpulse,  Herabsetzung  ders.  131. 

Windungsanomalien  bei  Idioten  654. 

Windungsarmuth  bei  Idioten  654. 

Wochenbett  als  Ursache  des  Irreseins  35. 
256.  265.  272. 

Wollusttrieb  142. 

Wurstgift  als  Ursache  des-  Irreseins  25. 
Z. 

Zange,  Anlegung  ders.  als  Ursache  der 

Idiotie  652. 
Zeitmessungen,  psychische  100.  181.  662. 
Zeitsinn,  Prüfung  desselben  180. 

„      Störungen  desselben  94. 
Zerstörungssucht,  Behandhmg  ders.  224. 
Zopfabschneider  679. 
Zornmüthigkeit,  krankhafte  125.  673. 
Zomtobsucht  278. 
ZuchthausknaU  43. 
Zurechnungsfähigkeit  146. 
Zustände,  krankhafte  148.  185. 
Zwangsbefürchtungen  129.  479. 
Zwangsbewegungen  137. 140. 172. 449. 648. 
Zwangshandlungen  135.  675. 
Zwangsjacke  215. 
Zwangsimpulse  136.  485. 
Zwangsvorstellungen  103.  129.  478. 
Zweifelsucht  480. 
ZwilUngsirresein  39. 
Zwitter,  körperliche  686. 

psychische  687.  690.