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Full text of "Psychiatrie : für Ärzte und Studirende"

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WREDENS  SAMMLIJNG 


BAND  XVII. 


PSYCHIATRIE. 

FUR 

ARZTE  UND  STUDIRENDE  BEARBEITET 

VON 

Dr.  MED.  TH.  ZIEHEN, 

A.  O.  PROFESSOR  AN  DER  UNIVERSITAT  JENA. 


MIT  10  ABBILDUNOEN  IN  HOLZSCHNITT  UND  10  PH YS 1 0 ON 0 M ISCHBN 
D ARSTELLUNGEN  AUF  6 LICHTDRUCKT AFELN. 


BERLIN, 

VERLAG  VON  FRIEDRICH  WREDEN. 


1894. 


PSYCHIATRIE. 


Ft)K 


ARZTE  UND  STUiDIRENDE  BEARBEITET 


VON 


Dr.  MED.  TH.  ZIEHEN, 

A.  O.  PROFESSOR  AN  DBR  UNIVERSITAV  JENA. 


MIT  10  ABBILDUNGEN  IN  HOLZSCHNITT  UND  10  P HY SI O GN O M IS C HEN 
DARSTELLUNGEN  AUF  6 LICH TDRU CK T AF EDN. 


BERLIN, 

VERLAG  VON  FRIEDRICH  WREDEN. 

1894. 


Alle  Rechte,  auch  das  der  Uebersetzung  in  fremde  Sprachen,  vorbehalten. 


Druck  von  Appelhans  & Pfenningstorff  in  Braunschweig. 


Holzschnitte  von  Albert  Prohst  in  Braunschweig. 


V o r r e cl  e. 


In  dem  nachfolgenden  Lehrbucli  babe  icb  versucbt,  die  Lebren  der 
pbysiologiscben  Psycbologie,  wie  icb  sie  in  meinem  Leitfaden  der  letzteren 
vorgetragen  babe,  auf  die  kliniscbe  Psycbiatrie  anzuwenden.  Von  alien 
mebr  oder  weniger  metapbysiscben  Hypotbesen,  wie  sie  leider  die 
Psycbiatrie  nocb  immer  zii  sebr  beberrscben  (Apperception,  Willens- 
vermdgen,  Selbstbewusstsein  u.  s.  w.),  babe  icb  vollig  abseben  zu  miissen 
geglaubt.  Die  sogenannte  Associationspsycbologie  reicbt  vollig  aiis,  die 
Erfabr ungen  der  kliniscben  Psycbiatrie  zu  erklaren.  Gerade  aucb  in 
didaktiscber  Beziebung  bewabrt  .sie  sicb,  wie  icb  aus  Erfabrung  sagen 
kann,  durcbaus. 

Der  allgemeinen  Psychopatbologie  ist  ein  verbiiltnissmassig  breiter 
Raum  zugewiesen  worden,  da  es  bei  dem  neuen  psycbologiscben  Stand- 
punkte  selbstverstandlicb  in  erster  Linie  darauf  ankam,  die  psycbo- 
patbiscben  Einzelerscbeinungen  im  Sinne  der  Associationspsycbologie 
darzustellen  und  zu  erklaren.  Wo  irgend  angangig,  ist  an  die  bekann- 
teren  Tbatsacben  der  Neuropatbologie  angeknupft  worden. 

Die  Eintbeilung  der  Psycbosen  ist  von  jeber  die  bedenkbcbste 
Klippe  fiir  psycbiatriscbe  Lebrbucber  gewesen.  Dafur  spricbt  scbon 
die  grosse  Zabl  der  Classificationen,  welcbe  die  psycbiatriscbe  Literatur 
aufweist.  Zur  Zeit  liegen  deren  etwa  60  vor  mu-.  Es  bedarf  offenbar 
nocb  vieler  kliniscber  Einzelstudien , bis  eine  definitive  Classification 
moglicb  sein  wird.  Icb  babe  versucbt,  ausscbliesslicb  auf  Grund  des 
kliniscben  Verlaufs  die  Psycbosen  zu  classificiren.  Die  Griinde,  wesbalb 
icb  die  von  vielen  Seiten  beliebte  atiologiscbe  Classification  nicbt  ange- 
nommen  babe,  sind  im  Bucbe  selbst  angegeben.  Jedenfalls  glaubte  icb 
den  Versucb  macben  zu  miissen,  fiir  die  Eintbeilung  der  Psycbosen  im 
Wesentlicben  nur  ein  Princip  — eben  jenes  kliniscbe  — aufzustellen. 


VI 


Vorrede. 


Die  Abgrenzung  cler  einzelnen  Former)  der  Geistesstorung  schwankt 
bekanntlich  nocb  sebr.  Scbon  in  didaktiscbem  Interesse  babe  icb  die 
Zahl  der  dargestellten  Psycbosen  moglicbst  beschrankt  und,  wenn  an- 
gangig,  Psycbosen,  welcbe  in  ibren  Hauptzugen  ubereinstimmen,  zu 

einer  Hauptform  zusammengefasst. 

Der  Wicbtigkeit  der  patbologiscben  Pbysiognomik  ist  durcb  beson- 
dere  Kapitel  im  Text  und  namentlicb  durcb  besondere  pbysiognomiscbe 

Tafeln  Kecbnung  getragen  worden. 

Entsprecbend  dem  Zweck  des  Bncbes,  den  Studirenden  und  den 
Arzt  in  die  Psycbiatrie  einznfubren , sind  alle  Literaturangaben  weg- 

geblieben.  , . 

Mancbe  Wiederbolungen  sind  aus  demselben  Grunde  unvermeidbcb 

gewesen,  da  das  Bucb  nicbt  nnr  zum  fortlaufenden  Studium,  sondern 

aucb  zum  Nacbscblagen  bestimmt  ist  und  im  Interesse  des  letzteren  die 

Verweisungen  eingescbrankt  werden  mussten. 


Jena,  Januar  1894. 


Th.  Ziehen. 


Inhaltstibersicht 


Seite 


Einleitung 

A.  Allgemeine  Psychologie 

I.  Allgemeine  Symptomatologie 

a.  Die  Storungen  der  Empfindung 

a.  Intensitatsstorungen  der  Empfindung 

p.  Storungen  des  Geftililstons  der  Empfindung 

y.  Qualitative  oder  inhaltliche  Storungen  der  Empfindung  . . . 

1.  Secundare  Sinnesempfindungen 

2.  Hallucinationen 

3.  Illusionen 

b.  Die  Storungen  der  Vorstellungen  oder  Erinnerungsbilder  .... 

a.  Storungen  in  der  Vorstellungsbildung 

1.  Defecte  der  Vorstellungsbildung 

2.  Bildung  falscber  Erinnerungsbilder 

p.  Storungen  der  Erbaltimg  der  Erinnerungsbilder 

1.  Verlust  von  Erinnerungsbildern 

2.  Falscbung  von  Erinnerungsbildern 

c.  Die  Storungen  der  intellektuellen  Gefiihlstone 

1.  Krankbafte  Depression 

2.  Krankbafte  Exaltation  

3.  Krankbafte  Reizbarkeit 

4.  Krankbafte  Apatbie 

5.  Krankbafte  Veranderlicbkeit  der  Gefuble 

d.  Die  Storungen  der  Ideenassociation 

Storungen  des  Wiedererkennens 

Storungen  des  Aufmerkens 

Allgemeine  Associationsstorungen 

a.  Krankbafte  Bescbleunigung 

p.  Krankbafte  Verlangsamung 

y.  Storungen  des  Zusammenbangs  ....••••• 

Specielle  Associationsstorungen  

a.  Inbaltlicbe  Storungen  der  Urtbeilsassociationen 

Wabnideen 

Zwangsvorstellungen 

p.  Defecte  der  Urtbeilsassociationen 

e.  Die  Storungen  des  Handelns 

a.  Handlungen,  bedingt  durcb  Empfindungsstorungen  . . 

p.  Handlungen,  bedingt  durcb  Defecte  der  Erinnerungsbilder 
y.  Handlungen,  bedingt  durcb  Aftectstorungen  . . . . 


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7 

7 

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99 
99 

101 

120 

132 

136 

137 

138 

139 


VIII 


Inhalt. 


Seite 

S.  Haiulhmgen,  bedingt  (lurch  formale  Storungen  der  Ideen- 

association I45 

1.  Beschleunigung  der  motoriscben  Actionen  . . . 147 

2.  Verlangsamung  der  motorischen  Actionen  . . . 149 

3.  Incoharenz  der  motorischen  Actionen 155 

e.  Handlungen,  bedingt  durch  inhaltliche  Storungen  der 

Ideenassociation 157 

1.  Wahnhandlungen  158 

2.  Zwangshandlungen  . . . 164 

3.  Defecthandlungen 166 

f.  Somatische  Begleitsymptome  der  Psychosen 166 

a.  Storungen  der  Motilitat 168 

1.  Lahmungen  168 

2.  Motorische  Reizerscheinungen 170 

3.  Storungen  im  Ablauf  der  willkiirlichen  Bewegungen  172 

fi.  Storungen  der  Reflexe  und  Sehnenphanomene  ....  175 

y.  Sensible  und  sensorielle  Storungen 179 

s.  Secretorische , trophische,  vasomotorische  und  splanch- 

nische  Storungen  181 

II.  Lehre  vom  allgemeinen  Verlauf  der  Psychosen 193 

III.  Allgemeine  Diagnostik 201 

IV.  Allgemeine  Aetiologie 208 

Einzelne  atiologische  Factoren 211 

1.  Erblichkeit 211 

2.  Mechanische  Ijasionen  des  Centralnervensystems  ....  220 

3.  Toxische  Einflusse 222 

a.  Alkohol 222 

b.  Metallgifte 225 

c.  Alkaloide  226 

4.  Physiologische  Entwicklungsvorgange 230 

a.  Pubertat 230 

b.  Senium 231 

5.  Kbrperliche  Krankheiten 233 

a.  Acute  Krankheiten 233 

b.  Chronische  Krankheiten 234 

c.  Krankheiten  des  Nervensystems 238 

6.  Cerebrale  Erschopfung 247 

7.  Gemuthserschiitterungen 248 

8.  Imitation  249 

V.  Allgemeine  Prognostik 250 

VI.  Allgemeine  Therapie  . 253 

1.  Diatetische  Mittel 257 

2.  Hydrotherapie 261 

3.  Electrotherapie 263 

4.  Medicamentbse  Therapie 263 

5.  Psychische  Therapie  266 

6.  Aetiologische  Therapie 268 

Specielle  Behandlung  einiger  Einzelsymptome 268 

B.  Speciel le  Psychopathologie 

Die  Eintheilung  der  Psychosen 272 


Inhalt. 


IX 


Seite 

I.  Psychosen  ohne  Intelligenzdefect 276 

A.  Einfache  Psychosen 276 

1.  Affective  Psychosen 276 

a.  Manie 276 

b.  Melancholie 297 

c.  Neurasthenie 314 

2.  Intellectuelle  Psychosen 335 

a.  Stupiditat 335 

b.  Paranoia  341 

I.  Paranoia  hallucinatoria  acuta 342 

II.  Paranoia  hallucinatoria  chronica 365 

III.  Paranoia  simplex  acuta 374 

IV.  Paranoia  simplex  chronica 376 

c.  Geistesstbrung  durch  Zwangsvorstellungen  . . . 387 

B.  Zusammengesetzte  Psychosen 395 

a.  Secundare  hallucinatorische  Paranoia 395 

b.  Postmanische  und  postmelancholische  Stupiditat  . 395 

c.  Postneurastheniscbe  hypochondriscbe  Melancholie 

und  Paranoia 395 

d.  Postmelancholische  hypochondriscbe  Paranoia  . . 396 

e.  Melancholisch-maniakalisches  Irresein 396 

f.  Katatonie 398 

II.  Defectpsychosen 399 

A.  Angeborene  Defectpsychosen 399 

a.  Idiotie 399 

b.  Imbecillitat 404 

c.  Debilitat 407 

B.  Erworbene  Defectpsychosen 413 

a.  Dementia  paralytica 413 

b.  Dementia  senilis 441 

c.  Dementia  secundaria  nach  Herderkrankungen  . . 445 

d.  Dementia  secundaria  nach  functionellen  Psychosen  446 

e.  Dementia  epileptica 448 

f.  Dementia  alcoholica 450 

Aetiologische  Uebersicht  tiber  die  Psychosen 453 

Sachregister 457 


Einleitung. 

Die  Psycliiatrie  ist  die  Lehre  von  den  psychischen  Krankheiten. 
Das  Organ  aller  psycliisclien  Thatigkeiten  ist  die  Einde  des  Grosshirns 
mit  ihren  Ganglienzellen  und  den  die  Ganglienzellen  untereinander  ver- 
bindenden  Associationsfasern.  Psycbiscbe  Processe  finden  nur  statt,  wenn 
bestinunte  materielle  Processe  in  der  Hirnrinde  sich  abspielen.  Man 
kann  daber  von  einem  Parallelismus  der  psychischen  Vorgange  und  der 
mateiiellen  Vorgange  in  der  Hirnrinde  sprechen.  Die  Verwitterung  des 
Steins,  das  Wachsen  der  Pflanze,  die  Secretion  der  thierischen  Driisen, 
der  Sohlenreflex  sind  alles  materielle  Processe  — theils  mit,  theils  ohne 
Nervensystem  — , fiir  welche  psychische  Parallelvorgange  nicht  existiren. 
Dagegen  lehrt  uns  die  Humphysiologie,  dass  Gesichtsempfindungen  nnr 
zn  Stande  kommen,  solange  die  Einde  des  Occipitallappens  des  Gross- 
hirns unversehrt  ist.  Nimmt  man  diese  bei  einem  Hunde  mit  dem 
Messer  oder  Gliiheisen  weg  und  erhalt  das  Thier  am  Leben,  so  ist  es 
kiinftig  blind.  In  der  Einde  des  Occipitallappens  spielen  sich  also  mate- 
rielle Processe  ab,  denen  auf  psychischem  Gebiet  die  Gesichtsempfindungen 
parallel  gehen.  Das  Gleiche  gilt  fiir  alle  psychischen  Phanomene:  jedem 
kommt  ein  bestimmter  materieller  Parallelprocess  in  der  Hirnrinde  und 
zwar  an  ganz  bestimmter  Stelle  zu. 

Es  giebt  materielle  Processe  im  Centralnervensystem,  welche  ohne 
psychischen  Parallelprocess  ablaufen.  Hierher  gehoren  erstens  alle 
Eeflexe  und  zweitens  alle  automatischen  Acte.  Der  oben  erwahnte 
Sohlenreflex  ist  das  einfachste  Beispiel  eines  Eeflexes.  Einer  der  com- 
plicirtesten  ist  z.  B.  folgender  von  Goltz  beim  Frosch  beschriebener 
Eeflex.  Hat  man  einem  Frosch  das  Grosshirn  weggenommen  und  be- 
rfihrt  nun  die  Cornea  mit  einer  Staarnadel,  so  tritt  zuerst  nur  einfacher 
reflectorischer  Lidschluss  ein.  Wiederholt  oder  verstarkt  man  aber  die 
Eeizung,  so  schlagt  das  Thier  die  Nadel  mit  dem  Vorderfuss  der  gleichen 
Seite  fort.  Bei  weiterer  Steigerung  des  Eeizes  wird  Eumpf  und  Kopf 
nach  der  entgegengesetzten  Seite  gewandt.  Schliesslich , bei  ofterem 

Z i e li  e n , Psycliiatrie.  1 


2 


Einleitung. 


unci  immer  intensiverem  Kciz  bewegt  sich  das  grosshirnlose  Thier  vora 
Platze.  Hier  begegnen  wir  complicirten  Reflexbewegungen  von  hochster 
Zweckmassigkeit  und  Coordination,  und  doch  febit  ein  psycbisclier  Parallel- 
vorgang.  Dem  entspricht  denn  auch  die  Thatsache,  dass  aucb  das 
grosshirnlose  Thier  solche  Bewegungen  noch  ausfiilirt.  Noch  complicirter 
und  doch  gleichfalls,  ohne  psychischen  Parallelprocess  sind  die  automa.- 
tischen  Acte.  Wenn  ich  einen  Frosch  so  operire,  dass  ich  ihra  die  Gross- 
hirnrinde  wegnehme,  aber  den  Sehliiigel  lasse,  und  ihn  nun  wdeder  durch 
Sticbe  mit  der  Staarnadel  zum  Forthiipfen  bringe,  so  beobachtet  man, 
dass  dieser  Frosch  sogar  Hindernissen,  die  man  ihm  in  den  Weg 
stellt,  ausweicht.  Der  Unterschied  gegeniiber  den  Reflexen  liegt  auf 
der  Hand.  Bei  dem  Reflex  lost  ein  Reiz  eine  Bewegung  aus,  deren 
weiterer  Ablauf  unabanderlich  ist.  Bei  dem  automatischen  Act  lost 
ein  Reiz  (z.  B.  die  Beriihrung  der  Staarnadel)  eine  Bewegung  aus,  welche 
in  ihrem  weiteren  Ablauf  durch  intercurrente  neue  Reize  (z.  B.  das  in 
den  Weg  gestellte  Hinderniss)  modificirt  wircl;  der  weghiipfende  Frosch 
weicht  dem  Hinderniss  aus.  Diese  Modificirbarkeit  durch  intercurrente 
Reize  ist  fiir  die  automatischen  Acte  characteristisch.  Auch  diese  auto- 
matischen Acte  sind  ohne  psychischen  Parallelprocess,  und  dem  entspricht 
wiederum  die  Thatsache,  dass  grosshirnlose  Thiere  — wofern  nur  der 
Sehliiigel  erhalten  ist  — solche  Bewegungen  noch  ausfiihren. 

Bewegungen  mit  psychischem  Parallelprocess  bezeichnen  wir  als 
Handlungen;  zuweilen  gebrauchen  wir  auch  die  ausfiihrlichere  Bezeich- 
nung  „bewusste  Haudlung",  „willkurliche  Handlung^^  oder  „Willenshaud- 
lung^h  Die  Handlung  ist  dadurch  charakterisirt,  dass  fiir  den  Ausfall 
und  Ablauf  einer  Bewegung  nicht  nur  der  anfangliche  Reiz  und  spatere 
intercurrente  Reize,  sondern  namentlich  intercurrirende  Vorstellungen 
d.  h.  Erinnerungsbilder  friiherer  Reize  entscheidend  sind.  Ein  ein- 
faches  Beispiel  ist  folgendes.  Ein  Freund  geht  an  mir  voriiber.  Dieser 
optische  Reiz  lost  bei  mir  eine  Griissbewegung  aus.  Diesen  Vorgaug 
bezeichnet  man  als  Handlung.  Die  Bewegung  wircl  hier  offenbar  nicht 
allein  durch  die  Reize  des  Augenblickes  bestimmt.  Ware  die  Gestalt 
nicht  diejenige  meines  Freundes,  so  wiirde  derselbe  optische  Reiz  keine 
Griissbewegung  auslosen,  sondern  ich  wiirde  achtlos  weiter  gehen.  Aber 
es  ist  mein  Freund;  derselbe  optische  Reiz  hat  schon  ofter  auf  mich 
gewirkt,  und  von  cliesem  vielmaligen  friiheren  Sehen  ist  ein  Erinnerungs- 
bilcl  zuriickgeblieben.  So  kommt  es,  class,  wenn  ich  den  Freund  jetzt 
sehe,  die  Erinnerung  in  mir  auftaucht,  dass  es  mein  Freund  ist,  und 
dies  Auftauchen  des  Erinnerungsbilcles  beclingt  es , class  geracle  die 
Griissbewegung  erfolgt  und  nicht  eine  beliebige  anclere  Bewegung.  Das 
bestimmende  Dazwischentreten  eines  Erinnerungsbilcles  charakterisirt  die 
Handlung.  Die  Handlung  ist  ein  materieller  Process,  der  von  psychischen 


Einlcitnng. 


3 


Parallelvorgangeu  begleitet  ist.  Rein  materiell  betrachtet,  stellt  sicb  der 
Vorgang  so  dar:  Ein  peripberer  Reiz  Rp  (die  Gestalt  des  Freundes) 
lost  eine  corticale  Erregung  Rc  (im  speciellen  Fall  eine  Erregung  der 
Sebspbare,  d.  b.  der  Occipitalrinde)  aus.  Diese  Erregung  wird  nicbt 
direct  in  das  motoriscbe  Gebiet  der  Hirnrinde  iibertragen,  um  bier  eine 
beliebige  Bewegung  auszulosen,  sondern  zunacbst  gelangt  die  Erregung 
auf  Associationsfasern  zu  denjenigen  Rindenelementen,  in  welcben  die 
Residuen  friiberer  abnlicber  Rindenerregungen  (bei  friibereni  Seben  des 
Freundes)  abgelagert  sind.  Erst  nacbdem  diese  Elemente  in  Erregung 
versetzt  worden  sind,  gelangt  die  Erregung  in  die  motoriscbe  Region  und 
zwar  zu  ganz  bestimmten  Elementen  derselben,  namlicb  denjenigen, 
deren  Erregung  nun  im  Muskelapparat  die  Griissbewegung  auslost. 
Psycbologiscb  betracbtet,  entspricbt  der  Rindenerregung  Rc  die  Empfin- 
dung  E (die  Gesicbtsempfindung  oder  das  Seben  des  Freundes).  Der 
Erregung  der  Rindenelemente , in  welcben  die  Residuen  friiberer  abn- 
licber optiscber  Reize  niedergelegt  sind,  entspricbt  die  auftaucbende 
Erinnerung,  dass  es  mein  Freund  ist,  oder,  wie  man  kiirzer  sagen  kann, 
das  Erinnerungsbild  oder  die  Vorstellung  des  Freundes,  Dies  auf- 
taucbende Erinnerungsbild  bestimmt  nun  die  Bewegung,  d.  b.  icb  griisse 
den  Freund.  Die  Handlung  lasst  sicb  also  in  folgender  Reibe  darstellen; 
Reiz  — Empfindung  — Vorstellung  — Bewegung. 

Bei  den  meisten  Handlungen  scbiebt  sicb  zwiscben  Empfindung 
und  Bewegung  nicbt  eine  einzige  einfacbe  Vorstellung  ein,  sondern 
zablreicbe  und  zum  Tbeil  sebr  comj)licirte  Vorstellungen.  Icb  sebe  z.  B. 
eine  Rose  in  einem  fremden  Garten  steben.  An  diesen  Reiz  und  die 
von  ibm  ausgeloste  Gesicbtsempfindung  der  Rose  scbliessen  sicb  eine 
grosse  Reibe  von  Vorstellungen  an.  So  taucbt  z.  B.  die  Vorstellung 
des  scbonen  Duftes  der  Rose  in  mir  auf,  dann  stelle  icb  mir  vor,  wie 
scbon  die  Rose  in  meinem  Zimmer  sicb  ausnebmen  wiirde,  dann,  dass 
sie  fremdes  Eigentbum  ist,  dass  ibr  Pfliicken  mb’  Strafe  zuzieben  kbnnte 
u.  dgl.  mebr.  Erst  nacbdem  diese  ganze  Reibe  von  Vorstellungen  ab- 
gelaufen  ist,  erfolgt  die  Handlung,  und  zwar,  je  nacbdem  die  erstge- 
nannten  Vorstellungen  oder  die  letztgenannten  intensive!*  sind,  pfliicke 
icb  die  Rose  oder  gebe  meines  Weges  weiter.  Diese  ganze  Vorstellungs- 
reibe,  welcbe  sicb  zwiscben  Empfindung  und  Bewegung  einscbiebt,  be- 
zeicbnet  man  als  Ideenassociation.  Auf  die  Empfindung  E folgt 
die  Vorstellungsreibe  V^  V2  V3  u.  s.  f.  oder  die  Ideenassociation,  und 
das  Resultat  derselben  ist  die  Bewegung  oder  die  Handlung  s.  str.,  B. 
Wie  sicb  scbon  aus  dem  soeben  angefiibrten  Beispiel  ergiebt,  tendiren 
die  einzelnen  auftaucbenden  Vorstellungen  oft  zu  sebr  verscbiedenen 
Bewegungen,  z.  B.  tbeils  zum  Pfliicken  der  Rose,  tbeils  zum  Weiter- 
geben.  Die  starkeren  Vorstellungen  siegen,  d.  b.  bestimmen  die  Hand- 

1* 


4 


Einleitung. 


lung.  Insofern  kann  man  die  Ideenassociation  auch  als  das  Spiel  oder 
den  Kampf  der  Motive  bezeichnen. 

Den  materiellen  Parallelprocess  fiir  die  ganze  Deihe  E Vi  Vg  . . . , B 
stellt  man  sich  der  Einfacbheit  wegen  zunaclist  am  besten  so  vor,  dass 
der  Eeiz  Rp  zunachst  eine  Empfindungszelle  erregt,  dass  die  Erregung 
dann  von  dieser  der  Reihe  nach  auf  mebrere  Erinnerungszellen  mittelst 
Associationsfasern  iibergebt  und  scbliesslicb,  abermals  mittelst  einer  Asso- 
ciationsfaser,  auf  eine  motoriscbe  Zelle  der  sog.  motorischen  Region  iiber- 
tragen  wird,  um  bier  die  Scblussbewegung  auszulosen.  Freilich  lebrt  die 
pbysiologische  Psycbologie,  dass  in  der  Regel  der  Vorgang  viel  com- 
plicirter  ist:  der  Empfindung  E entspricht  ein  Erregungsvorgang  nicht 
in  einer,  sondern  in  vielen  Riudenzellen.  Ebenso  ist  das  Auftauchen 
einer  bestimmten  Vorstellung  fast  stets  mit  einem  materiellen  Erregungs- 
vorgang in  vielen  Riudenzellen  verkniipft  und  endlich  erfolgt  auch  die 
schliessliche  Uebertragung  der  Erregung  in  das  motoriscbe  Gebiet  nicbt 
auf  eine  einzige  Ganglienzelle,  sondern  auf  eiuen  ganzen  Complex  von 
Zellen.  Aucb  ist  bei  dem  gegebenen  Schema  immer  im  Auge  zu  be- 
balten,  dass  die  Annabme,  Empfindungs-  und  Vorstellungsprocesse  fanden 
gerade  in  den  Ganglienzellen  statt,  zwar  viel  Wabrscbeinlicbkeit 
bat,  aber  nicbt  bewiesen  ist. 

Enter  diesen  Vorbebalten  diirfen  wir  kiinftig  die  Reibe  E Vi  Vg  . . . B 
als  das  Schema  jedes  psycbiscben  Processes  betracbten  und  einen  mate- 
rielleu  Parallelprocess  annebmen,  welcber  von  den  Empfindungszellen  zu 
den  Vorstellungszellen  und  von  diesen  zu  den  motorischen  Zellen  mittelst 
der  Associationsfasern  der  Hirnrinde  fortscbreitet.  Dabei  ist  zu  be- 
acbten,  dass  der  Erregung  der  motorischen  Zellen  selbst,  also  dem  B, 
ein  psycbiscber  Parallelprocess  nicbt  entspricht.  Mit  der  letzten  Motiv- 
vorstellung  ist  die  psycbiscbe  Reibe  abgescblossen.  Dann  erfolgt  die 
Uebertragung  der  Erregung  in  die  motoriscbe  Region  obne  psycbiscben 
Parallelprocess.  Wenn  icb  z.  B.  einen  gesebenen  Gegenstand  mit  der 
Hand  ergreife , so  lebrt  die  Selbstbeobacbtung  uber  diesen  Vorgang 
Folgendes.  Zuerst  tritt  die  Gesicbtsempfindung  des  Gegeustandes,  E, 
auf.  Dann  folgen  eine  Reibe  Vorstellungeu,  so  z.  B.  namentlicb  zum 
Schluss  die  entscbeidende  Vorstellung  gewisser  Annebmlicbkeiten,  welcbe 
den  Besitz  des  Gegeustandes  begleiten.  Feblen  bemmende  Vorstellungeu, 
so  erfolgt  nun  die  Uebertragung  in  das  motoriscbe  Gebiet  und  damit 
die  motoriscbe  Innervation  obne  psycbiscben  Parallelprocess.  Erst  nacb- 
traglicb  unterricbtet  micb  die  Bewegungsempfindung , welcbe  von  der 
Muskelcontraction  durcb  Reizung  peripberer  Nervenendigungen  bervor- 
gerufen  wird , davon , dass  die  Bewegung  wirklicb  stattgefuudeu  bat. 
Im  Leben  des  Erwacbseneu  andert  sicb  dieser  Tbatbestand  nur  insofern 
zuweilen,  als  sicb  vor  der  Bewegung  die  Bewegungsvorstelluug  eiuschiebt. 


Einleitung. 


5 


Bevor  ich  nach  dem  Gegenstand  greife,  schwebt  mir  einen  Augenblick 
die  Vorstellimg  dieser  Greifbewegung  vor  oder,  wie  wir  es  popular  aus- 
driicken,  ;,icb  nebme  mir  die  Greifbewegung  vor^b  Diese  Bewegungsvor- 
stellung  ist  nicbts  anderes  als  das  Erinnerungsbild  frliberer  Bewegungs- 
empfindungen.  Nur  durcb  diese  letzteren  ist  mir  iiberbaupt  die  Be- 
wegung  bekannt.  Ibnen  verdanke  icb  es,  dass  icb  mir  eine  Bewegung 
meines  Korpers  oder  meiner  Glieder  vorstellen  kann,  und  diese  Vorstellung 
gebt  der  bewussten  Bewegung  oft  voraus.  Die  psycbiscbe  Beibe  wiirde 
sicb  in  diesem  Falle  folgendermaassen  darstellen:  E,  V^,  Vg,  V3, . . . V^ew,  B. 

Alles  psycbiscbe  Gescbeben  lasst  sicb  auf  dies  Schema  zuruckfiibren. 
Bleibt  B (resp.  V^ew  und  B)  aus,  weil  bemmende  Vorstelbmgen  iiber- 
wiegen,  so  reducirt  sicb  die  Ideenassociation  auf  Empfinden  und  Nacb- 
denken.  Liegt  ausserdem  E sebr  weit  zuriick,  so  scbeint  die  Vorstellungs- 
reibe  Vj  Vg  etc.  ganz  isolirt  dazusteben.  Man  spricbt  dann  von  ein- 
facbem  Nacbdenken  oder  Denken.  Alles  dies  sind  nur  Specialfalle  der 
Ideenassociation,  welcbe  in  unserem  Schema  entbalten  sind.  Es  ergiebt 
sicb  bieraus,  dass  nur  zwei  psycbologiscbe  Elemente  existiren,  namlicb 
Empfindungen  und  Vor stellungen.  Der  einzige  Process,  der 
mit  beiden  arbeitet,  ist  die  Ideenassociation.  Das  Product  der- 
selben  ist  die  Hand  lung.  Die  sog.  Seelenvermogen,  welcbe  die  altere 
speculative  Psycbologie  unterscbied,  existiren  nicbt.  Speciell  ist  die  An- 
nabme  eines  besonderen  Willensvermogens,  welches  liber  der  Ideenasso- 
ciation scbweben  und  „willkurlicb‘'  diese  oder  jene  Bewegung  innerviren 
wiirde,  iiberflussig  und  irreleitend.  Ebenso  iiberflussig  ist  aucb  die  nocb 
jetzt  von  Vielen  getheilte  Annabme  einer  besonderen  Apperception,  welcbe 
ibre  „Aufmerksamkeit^'  willkiirlicb  bald  dieser  bald  jener  Vorstellung 
oder  Empfindung  zuwenden  und  so  den  Gang  der  Ideenassociation  be- 
stimmen  soli.  Vielmebr  folgen  die  Vorstellungen  aufeinander  nacb  be- 
stimmten  Gesetzen  obne  Dazwiscbentritt  eines  besonderen  willkiirlich 
scbaltenden  Seelenvermbgens,  und  aucb  die  scbliesslicbe  Bewegung  ist 
das  notwendige  Kesultat  dieser  Ideenassociation.  Endlicb  existirt 
aucb  kein  besonderes  Gefiiblsvermogen , vielmebr  ergiebt  eine  genaue 
Untersucbung,  dass  unsere  Gefiible  der  Lust  und  Unlust  niemals  isolirt, 
sondern  stets  gebunden  an  Empfindungen  und  Vorstellungen,  d.  b.  als 
Eigenschaften  der  letzteren  auftreten.*) 

Wir  werden  daher  aucb  der  Betracbtung  der  patbologischen  psycbi- 
scben  Processe  das  oben  erorterte  Schema  zu  Grunde  legen  und  in 
jedem  Fall  zuerst  die  Storungen  der  Empfindungen,  dann  die  Stbrungen 
der  Erinnerungsbilder  oder  Vorstellungen,  dann  die  Storungen  der  Ideen- 


*)  Hierbei  wie  in  alien  Fragen  der  normalen  Psycbologie  verweise  icb  auf  meinen 
Leitfaden  der  pbysiologischen  Psycbologie.  Jena,  G.  Fischer  1893.  2.  Aufl. 


6 


Einleitung. 


association  imd  schliesslich  den  Einfluss  dieser  Storungen  auf  die  Be- 
wegungen  resp.  Handlungen  des  Kranken  untersuchen.. 

Daraiis,  das  alle  die  obengenannten  Processe,  Empfindung,  Vor- 
stellung,  Ideenassociation,  Handlung  in  der  Hirnrinde  sich  abspielen, 
ergiebt  sich,  dass  die  Psychiatrie  einen  Abschnitt  und  zwar  den  wich- 
tigsten  der  Lehre  von  den  Hirnrindenerkrankungen  bildet.  Keine 
Psychose  ohne  Rindenerkrankung.  Die  der  Psycbose  zu  Grunde 
liegende  Rindenerkrankung  ist  meist  eine  functionelle , d.  h.  unseren 
seitherigen  Untersuchungsmethoden  ist  der  pathologisch-anatomische 
Nacbweis  der  Rindenveranderung  bei  vielen  Psychosen  noch  nicht  ge- 
lungen.  Nur  bei  einer  kleinen  Zahl  von  Psychosen,  so  z.  B.  bei  der 
sog.  Dementia  paralytica  oder  „Gehirnerweichung“  des  Laien  lasst  sich 
eine  organische  Erkrankung  der  Hirnrinde  nachiweisen.  Oft  ergiebt  in 
diesen  Fallen  schon  der  makroskopische  Anblick  eine  Verschmalerung 
der  Rinde,  jedenfalls  'weist  aber  in  Uebereinstimmung  mit  unseren  obigen 
Voraussetzungen  die  mikroskopische  Untersuchung  einen  ausgedehnten 
Untergang  von  Ganglienzellen  und  Associationsfasern  in  der  Hirn- 
rinde nach. 

Jede  Rindenerkrankung  bedingt  eine  gewisse  Stbrung  des  psychi- 
schen  Processes.  Diese  Storung  hat  bald  den  Charakter  eines  Herd- 
symptoms,  bald  deutet  sie  auf  eine  diffuse  Erkrankung.  So  kann  durch 
eine  Erkrankung  der  Rinde  des  Occipitallappens  an  bestimmter  Stelle 
der  ausschliessliche  Wegfall  aller  Gesichtsempfindungen  ohne  irgend 
welche  andere  Stbrung  bedingt  werdeu.  Hier  hat  die  psychische  Stbrung 
den  Charakter  eines  Herdsymptoms.  Bei  den  Psychosen  im  engeren 
Sinne  ist  meist  die  psychische  Stbrung  keine  so  isolirte,  vielmehr  be- 
theiligen  sich  an  derselben  die  Empfindungen  und  Vorstellungen  aller 
Rindenbezirke.  Die  meisten  Psychosen  im  engeren  Sinne  beruhen  somit 
auf  sehr  ausgebreiteten  diffusen  Rindenerkrankungen  theils 
organise  hen,  theils  functionellen  Charakters. 


A.  Allgemeine  Psychopathologie. 


I.  Allg*emeine  Sjmptomatolog’ie. 

a.  Die  Storungen  der  Erapfindimg. 

Die  Emp  fin  clung  ist  das  erste  Glied  des  psychischen  Processes 
Die  normale  Empfindung  entsteht  stets  durch  einen  ausseren  Keiz,  welcher 
auf  die  Endausbreitung  irgend  eines  sensiblen  oder  sensoriscben  Nerven 
wirkt.  In  seltenen  Fallen  lost  aucb  ein  auf  die  peripbere  Nerven- 
babn  wirkender  Keiz  eine  Empfindung  aus.  So  bewirkt  z.  B.  ein 
Stoss  Oder  Druck  auf  den  N.  ulnaris  am  Ellenbogen  eine  eigentbiimliche 
Empfindung  im  ganzen  Ausbreitungsgebiet  des  Nerven.  — Jede  Em- 
pfindung bat  4 Haupteigenscbaften.  Die  erste  ist  die  Qualitat  der 
Empfindung:  die  Empfindung  des  Tones  c und  des  Tones  cis,  des  Rotben 
und  des  Siissen  etc.  sind  samtlich  mebr  oder  weniger  qualitativ  ver- 
schieden.  Ein  zweites  Merkmal  jeder  Empfindung  ist  ibre  Intensi- 
ty t.  Icb  kann  denselben  Ton  c lauter  und  leiser  boren.  Befeucbte 
icb  meine  Zunge  mit  einer  immer  intensiveren  Zuckerlosung,  so  wacbst 
die  Intensitat  der  Empfindung,  obne  class  ibre  Qualitat  sicb  andert. 
Eine  dritte  Eigenscbaft  jeder  Empfindung  ist  ibr  G e f ii  b 1 s t o n.  J ede  Em- 
pfindung ist  von  einem  mebr  und  weniger  starken  Lust-  oder  Unlustgeflibl 
begleitet.  So  ist  z.  B.  die  Empfindung  des  Accordes  c — cis  von  einem 
deutlicben  Unlustgefiibl  oder  negativen  Gefublston  begleitet,  wabrend  die 
Empfindung  des  Accordes  c — e von  einem  starken  Lustgefuhl  oder  posi- 
tiven  Gefublston  begleitet  ist.  Endlicb  kommen  viertens  jeder  Empfin- 
dung raumliche  Eigenscbaften  zu,  insofern  jede  Empfindung 
an  eine  bestimmte  Stelle  des  Kaumes  projicirt  wird.  Diese  raum- 
licbe  Projection  gewinnt  eine  ganz  besondere  Bedeutung  bei  dem  Ge- 
sicbtssinn  des  Auges  und  dem  Beriibrungssinn  der  Haut,  indem  wir  die 
von  nebeneinander  liegenden  Punkten  der  Haut  und  der  Retina  ber- 
riibrenden  Empfindungen  in  der  gleicben  raumlicben  Anordnung  aucb 
nacb  aussen  projiciren.*) 

*)  Pathologische  Storungen  dieser  raumlicben  Projection  durcb  psycbische  Erkran- 
kung  sind  kaum  bekannt.  Es  wird  also  von  dieser  Projection  im  Folgenden  nur  bei- 
laufig  gesprocben  werden. 


8 


Die  StOrungen  der  Erapfindung. 


Die  vier  soeben  aufgefiibrten  Eigenschaften  der  Empfindung  pflegt 
man  dadurch  zu  bezeicbnen,  dass  man  zu  E die  Indices  q,  i,  a und  r 
binziifiigt.  Die  Empfindung  mit  alien  ibren  Merkmalen  wiirde  also  als 
Eqiar  zu  bezeicbnen  sein.  Wir  besprecben  zunachst  die  Intensitats- 
storimgen  der  Empfindung. 


a.  Intensitatsstorungen  der  Empfindung. 

Die  Intensitat  einer  Empfindung  hangt  bei  dem  gesunden  Menscben 
in  ganz  gesetzmassiger  Weise  von  der  Intensitat  des  Reizes  ab,  welcher 
die  Empfindung  bewirkt.  Die  wichtigsten  bier  in  Betracbt  kommenden 
Gesetze  sind  folgende; 

1.  Der  Reiz  muss  eine  gewisse  Starke  baben,  urn  eben  eine  Em- 
pfindung auszulosen  oder,  mit  anderen  Worten,  es  giebt  untermerkliche 
Reize,  d.  b.  Reize,  welche  zu  scbwacb  sind,  um  eine  Empfindung  aus- 


loseu  zu  konnen.  Derjenige  Reiz,  welcher  eben  ausreicht  eine  merkliche 
Empfindung  auszulosen,  wird  als  Reizscbwelle  bezeiclinet.  Fiir  jede 
Empfindungsqu^itat  existirt  eine  ganz  bestimmte  Reizscbwelle. 

2.  Wenn  der  Reiz  liber  die  Reizscbwelle  binaus  wacbst,  so  nimmt 
die  Empfindungsintensitat  erst  sebr  rascb  und  dann  immer  langsamer 
und  langsamer  zu. 

3.  Wenn  der  Reiz  eine  gewisse  Starke,  die  sogenannte  Reiz  bo  be 
erreicbt  hat,  so  fiibrt  ein  weiteres  Wacbsen  des  Reizes  keine  weitere 
Steigerung  der  Empfindungsintensitat  berbei,  sondern  letztere  verbleibt 
auf  der  Kobe,  welcbe  der  Reizbdbe  entsj)racb,  steben. 

Alle  diese  Verbiiltnisse  stellt  die  beistehende  Figur  libersichtlicb 
dar.  Die  Reizstarken  sind  als  Abscissen,  die  Empfindungsiutensitateu 
als  Ordinaten  eingetragen.  So  entspricbt  z.  B.  der  Reizstlirke  Ox 


Die  StOrungen  der  Empfindung. 


9 


die  Empfindungsintensitat  xy.  Eg  ist  die  Eeizscliwelle,  Ei,  die  Eeizhohe. 
Die  Gesamratheit  aller  Empfindimgsintensitaten  ist  durch  die  Kurve  Ej 
dargestellt. 

Den  einfachsten  Beleg  fiir  die  Eichtigkeit  dieser  Gesetze  gewahrt 
z.  B.  die  Beobachtung  eines  starken  Scballes,  welcbem  wir  uns  aus 
grosser  Entfernung  allmahlich  annaliern.  In  weiter  Feme  horen  wir  von 
dem  Schall  garnichts,  obwobl,  wie  die  Physik  lehrt,  dock  Scballwellen 
in  imser  Obr  eindringen:  der  Eeiz  ist  in  Edge  der  grossen  Ent- 
ferniing  nocb  zu  schwacb  eine  Empfindung  auszulosen.  Er  befindet  sicb 
unterbalb  der  Eeizscbwelle.  Erst,  wenn  wir  uns  dem  Scball  auf  eine 
bestimmte,  der  Eeizscbwelle  entsprecbende  Entfernung  genabert  baben, 
fangen  wir  an,  den  Scball  zu  boren.  Mit  der  weiteren  Annaberung 
nimmt  die  Intensitat  der  Scballempfindung  zunacbst  sebr  rascb,  dann 
aber  immer  langsamer  zu.  Sind  wir  scbliesslicb  in  grossere  Nabe  des 
Scballes  angelangt,  so  tritt  ein  Augenblick  ein,  wo  wir  durcb  eine  wei- 
tere  Annaberung  die  Empfindungsintensitat  nicht  mebr  zu  steigern  ver- 
mbgen,  obwobl  die  einfacbste  pbysikaliscbe  Betracbtung  lebrt,  dass  die 
Eeizstarke  aucb  jetzt  nocb  mit  jedem  Scbritt  der  Annaberung  wacbst. 
Die  Empfindung  ist  so  laut  und  gellend  geworden,  dass  eine  weitere  Zu- 
nabme  nicbt  mebr  stattfindet : die  Eeiz  b 5 b e ist  erreicbt,  die  Empfindung 
wacbst  nicbt  mebr.  — Man  bat  auf  den  verscbiedensten  Wegen  versucbt, 
dieses  eigentbiimlicbe  Verbalten  der  Empfindungsintensitat  bei  zunebmen- 
der  Eeizstarke  durch  eine  bestimmte  matbematische  Formel  auszudriicken. 
Am  bekanntesten  ist  die  sog.  Fecbner’scbe  Formel.  Diese  lautet: 

Ei  prop  log  E 

wo  Ej  die  Empfindungsintensitat  und  E die  Eeizstarke  bezeicbnet.  Alle 
diese  Formeln  einscbliesslicb  der  F ec finer ’ scben  erweisen  sicb  im  Ein- 
zelnen  so  baufig  unzuverlassig,  dass  sie  vorerst  fiir  die  Pafbologie  be- 
deutungslos  sind.  Die  Patbologie  unterscbeidet  daber  einstweilen  nur 
zwei  Hauptstbrungen  der  Empfindung,  die  Hypastbesien  rep.  Anastbe- 
sien  und  die  Hyperastbesien. 

Die  Hypastbesien. 

Als  Hypastbesie  bezeicbnet  man  die  Herabsetzung  der  Empfindlicb- 
keit.  Dieselbe  aussert  sicb  darin,  dass  die  Eeizscbwelle  sebr  bocb  liegt 
und  Ei  im  Verbaltnis  zu  E sebr  scbwacb  ist.  Ist  aucb  die  bbcbste 
Eeizstarke  nicbt  im  Stande  eine  Empfindung  auszulosen,  so  spricbt  man 
von  Anastbesie  (=  Aufbebung  der  Empfindlicbkeit.) 

Die  meisten  Hypastbesien  und  Anastbesien,  welcbe  wir  bei  Geistes- 
kranken  beobacbten,  beruben  auf  Complicationen  der  Psycbose.  Be- 
sonders  baufige  derartige  Complicationen  sind  folgende: 

1.  Die  tactilen  Hypastbesien  und  Anastbesien  der  Hysterie. 


10 


r>ie  StSrungen  der  Empfindung. 


Auf  dem  Gebiet  des  Beriihrungssinnes  sind  dieselben  durch  ihre  eigen- 
thiimlicbe  Lokalisation  ausgezeicbnet:  entweder  namlich  beschrankt  sich 
die  Hypastbesie  auf  eine  Kbrperhalfte  (Hemianastliesie  resp.  Hemi- 
hypasthesie)  oder  tritt  sie  in  plaquesformiger  Vertlieilung  auf  oder 
endlicli  grenzt  sie  sich  auf  einzelnen  Extremitilten  ^manschettenformig^^ 
ab,  Hilufig  kommt  liierzu  auch  eine  sensoriscbe  Hemihypasthesie,  na- 
nientlich  eine  Hemianopsie  zugleich  mit  concentrischer  Einengung  der 
intacten  Gesichtsfeldhalften.  Ageusie  und  Anosmie  treten  bald  einseitig, 
bald  doppelseitig  auf.  ’ 

Auch  die  halbseitigen  Hypasthesien  der  Chorea  minor  compliciren  ab 
und  zu  eine  Psychose. 

2.  Die  diffusen,  aber  der  anatomischen  Ausbreitung  bestimmter 
Nerven  entsprechenden  tactilen  Hypasthesien  der  multiplen  Neuritis. 
Namentlich  nach  acuten  Infectionskrankheiten , bei  Syphilitikern  und 
Alkoholisten,  zuweilen  auch  im  Senium  tritt  die  multiple  Neuritis  zugleich 
mit  einer  Psychose  auf. 

3.  Die  tactilen  Hyp-  und  Anasthesien  der  Tabes.  Die  Tabes  ist 
sehr  haufig  mit  Psychosen  complicirt,  am  haufigsten  mit  der  Dementia 
paralytica,  und  fiigt  dann  ihre  Hypasthesien  und  Anasthesien  zu  den 
Symptomen  der  Psychose  hinzu.  Ausser  den  Stbrungen  der  Beriihrungs- 
und  Temperaturempfindlichkeit  kommt  hier  die  Sehstorung  durch  die 
tabische  Opticusatrophie*)  sowie  die  seltenere  Hbrstorung  durch  tabische 
Acusticusatrophie  in  Betracht.  Ebenso  wie  die  Tabes  fiihrt  auch  die 
multiple  Sklerose  und  die  mutiple  Syphilis  des  Centralnervensystems 
ofter  zu  einer  ausgesprochenen  Psychose  und  theilt  derselben  alsdann 
ihre  schwankenden  plaquesweisen  Hypasthesien  mit. 

4.  Die  sensible!!  und  sensorischen  Ausfallserscheinungen  in  Folge 
einer  Herderkrankung  an  irgend  einer  Stelle  des  Verlaufs  einer  sen- 
siblen  oder  sensorischen  Bahn.  Jede  Herderkrankung  des  Gehirns  kann 
gelegentlich  — z.  B.  durch  Fernwirkung  auf  das  Organ  der  Psyche, 
die  Hirnrinde  — eine  Psychose  hervorgerufen.  Letztere  erscheint  als- 
dann complicirt  mit  den  sensiblen  oder  sensorischen  Hypasthesien  der 
Herderkrankung. 

Alle  die  soeben  aufgefuhrten  Hypasthesien  und  Anasthesien  sind 
mehr  beilaufige  Complicationen  der  Psychose  als  Symptome  der 
Psychose  selbst.  Ob  ausser  solchen  complicirenden  Hypasthesien  auch 
essentielle,  durch  die  Psychose  als  solche  bedingte  Hypasthesien  vor- 
kommen  ist  zweifelhaft.  Bei  denjenigen  Psychosen,  welche  wie  Stupi- 
ditat,  Melancholie  und  manche  Formen  des  neurasthenischen  Irreseins 


*)  Beilaufig  sei  an  dieser  Stelle  auch  an  die  Intoxicationsamblyopien  erinnert, 
welche  z.  B bei  Alkoholisten  in  Folge  retrobulbarer  Neuritis  auftreten. 


Die  Storungen  der  Empfindung. 


11 


nocli  am  ersten  essentielle  Hypasthesien  erwarten  lassen  konnten,  ist  in 
Folge  des  kranldiaften  Gebahrens  der  Kranken  eine  exacte  Bestimmimg 
der  Reizscbwelle  und  Messiing  der  Empfindungsstarke  nicht  moglicb. 
Wenn  solcbe  Hypastbesien  wirklicb  existiren  sollten,  so  sind  sie  dock 
jedenfalls  vorerst  diagnostisch  bedeutungslos. 

Die  Hyperasthesien. 

Aucb  diese  sind  zunacbst  haufig  nur  die  Symptome  complicirender 
Neurosen.  So  kann  z.  B.  die  Hemihyperasthesie*)  der  Hysterie  oder 
die  allgemeine  Hyperastbesie  einer  beginnenden  tuberkulosen  Meningitis 
bei  einer  bysteriscben  odei\  meningitiscben  Psycbose  binziikoinmen  In 
viel  engerer  Beziebung  znr  Psycbose  selbst  stebt  die  Hyperastbesie  der 
Kranken  mit  neurastheniscbem  Irresein.  Von  dem  Neurastheniker  wird  ein 
leicbter  Licbtscbein  zuweilen  schon  als  blendend  empfunden.  Er  nimmt 
Geriicbe  wabr,  welcbe  der  Gesunde  wegen  ibrer  geringen  Starke  nicbt 
wabrnimmt.  Hier  scbeint  in  der  That  die  Eeizscbwelle  patbologiscb 
berabgesetzt. 

Ausser  der  Neurastbenie  zeigen  nocb  zablreicbe  andere  Psycbosen 
Hyperastbesie  sowobl  tactile  wie  optiscbe  (Hyperaestbesia  retinae)  wie 
acustiscbe  (Oxyacoia).  Namentlicb  jugendlicbe  Kranke  zeigen  ungemein 
haufig  solcbe  Hyperasthesien.  Ferner  sind  die  Prodromalstadien  vieler 
Psycbosen,  so  z.  B.  der  Manie,  der  acuten  Paranoiaformen,  oft  von 
Hyperasthesien  dieses  oder  jenes  Sinnesgebietes  begleitet.  Aucb  die 
Reconvalescenz  (z.  B.  von  der  Manie)  kann  Hyperasthesien  zeigen.  Fast 
ausnabmslos  ist  diese  Hyperastbesie  an  bestimmten  Punkten  der  Korper- 
oberflacbe  bei  starkerem  Druck  besonders  ausgesprochen.  Man  bezeichnet 
solcbe  Punkte  als  Druckpunkte.  Sie  entsprecben  zum  Tbeil  bestimmten 
Nervenstammen , so  z.  B.  der  Supraorbital-,  Infraorbital-  und  Mental- 
punkt,  zum  Tbeil  wissen  wir  ibre  Localisation  nocb  nicbt  sicber  zu 
erklaren;  zu  letzteren  gebort  z.  B.  der  Valleix’scbe  Punkt  fiber  dem 
Jocbbeinfortsatz,  der  Ibacalpunkt,  dessen  Druckempfindlicbkeit  bei  dem 
weiblicben  Geschlecbt  falscblicb  als  Ovarie  bezeichnet  wird,  die  Inter- 
costalpunkte,  die  Dornfortsatze  der  Wirbelsaule,  deren  Druckempfindlicb- 
keit aucb  als  Spinalirritation  bezeichnet  wird,**)  die  Scbadelnabte,  der 
Mammalpunkt  u.  s.  f.  Bei  Besprecbung  der  Hyperalgesien  wird  auf  diese 
Druckpunkte  nocbmals  zurfickzukommen  sein.  — Ein  werthvolles  objec- 
tives Zeicben  der  in  Rede  stebenden  Hyperastbesie  bietet  in  vielen  Fallen 
die  Steigerung  der  Hautreflexe. 

*)  Auch  hyperasthetische  Plaques  kommen  bei  Hysterie  gelegentlich  vor. 

**)  Eine  raassige  Druckempfindlicbkeit  der  Dornfortsatze  des  Interscapularraumes 
ist  iibrigens  auch  bei  vollig  gesunden  Individuen  ab  und  zu  anzutreffen. 


12 


Die  Stflrungen  der  Empfindung. 


(3.  Storungen  des  Gefiihlstons  der  Empfindung. 

Unter  clem  Gefiihlston  der  Empfindungen  versteht  man,  wie  oben 
erwahnt,  das  die  Empfindung  begleitende  Lust-  oder  Unlustgefiihl.  Das 
Lustgefubl  wird  aucb  als  positiver,  das  Unlustgefiihl  als  negativer  Ge- 
fiililston  bezeicbnet.  Das  Vorzeichen  des  Gefiihlstons  und  die  Starke 
desselben  bangt  zunachst  ganz  wesentlicb  von  der  Qualitat  der 
Empfindung  und  somit  aucb  von  der  Qualitat  des  Reizes  ab.  Der 
Accord  c — cis  erzeugt  eine  Empfindung  mit  starkem  negativen  Gefiibls- 
ton  Oder,  wie  wir  gewbhnlicb  sagen,  wir  empfinden  ibn  als  Disso- 
nanz.  Der  Accord  c d erzeugt  eine  Empfindung  mit  scbwacherem 
negativen  Gefiiblston.  Der  Accord  c f ist  von  deutlicbem  Lustgefubl, 


2. 


also  positivem  Gefiiblston  begleitet,  der  Accord  c e von  sebr  viel  star- 
kerem  Lustgefiibl  u.  s.  f.  Diese  Abbangigkeit  des  Gefiiblstons  der 
Empfindung  von  der  Empfindungsqualitat  ist  bei  Psycbosen  selten  ge- 
stort.  Nur  gelegentlicb  findet  man  — namentlicb  bei  hysterischen 
Psycbosen  — eine  Umkebr  der  Gefiihlstdne,  vermdge  deren  z.  B.  Disso- 
nanzen  als  angenebm,  Consonanzen  als  unangenebm,  widrige  Geriicbe 
als  angenebm,  Woblgeriicbe  als  unangenebm  empfunden  werden  u.  s.  f, 
Man  kann  diese  Storungen  als  Paralgesien  resp.  Parbedonien  bezeicbnen. 
Die  sog.  „Geliiste"  in  den  leicbt  psycbopatbiscben  Zustanden  mancber 
Graviditiit  geboren  zum  Tbeil  bierber.  Besonders  wicbtig  sind  aucb  die 
Parbedonien  auf  dem  Gebiet  der  Sexualempfindung.  Sie  aussern  sicb 
namentlicb  darin,  dass  nicbt  der  Umgang  mit  Personen  des  anderen 
Gescblecbts,  sondern  Umgang  mit  Personen  des  gleicben  Gescblecbts 
Sexualempfindungen  mit  positivem  Gefiiblston,  also  Wollustgefiible  ber- 
vorruft.  Man  bezeicbnet  diese  Abnormitat  aucb  als  contrare  Sexual- 
empfindung oder  contriires  Sexualgefiibl. 

Viel  bedeutsamer  fiir  die  Psycbopatbologie  als  diese  Abbangigkeit 
des  Gefiiblstons  von  der  Empfindungsqualitat  ist  die  Abbangigkeit 


Die  Storungeii  der  Einpfiiulung. 


13 


fles  Gefillilstons  von  der  Empfindungsintensitat.  Fiir  den  Geistesge- 
sunden  gilt  hier  folgendes  Gesetz.  Jede  Empfindung  ist  bei  schwacber 
Intensitiit  (also  in  der  Nabe  der  Reizscbwelle)  mit  positivem  Gefiiblston 
verkniipft.  Je  niebr  die  Empfindungsintensitat  wacbst,  desto  starker 
wil’d  ziinficbst  dieser  positive  Gefiiblston.  Erst  wenn  die  Empfindungs- 
intensitat eine  gewisse  Kobe  erreicbt  bat,  welcbe  auf  der  beistebenden 
Eigur  der  Empfindungsintensitat  iw  und  der  Reizgrbsse  Rw  entspricbt, 
tritt  ein  Wendepunkt  in  der  Affectkurve  ein:  der  positive  Gefiiblston 
nimmt  fortgesetzt  ab  und  ist  bei  der  Empfindungsintensitat  b und  der 
Reizstarke  Ry  auf  den  Wertb  Null  berabgesunken.  Nebmen  Reizstarke 
und  Empfindungsintensitat  nocb  weiter  zu,  so  stellt  sicb  ein  zunebmen- 
der  negative!’  Gefiiblston  ein.  Auf  der  beistebenden  Eigur  sind  die 
positiven  Gefiiblstone  als  Erbebungen  fiber  die  Abscissenacbse,  die  nega- 
tiven  als  Senkungen  unter  dieselbe  eingetragen.  Die  Kurve  des  Gefiibls- 
tons  stellt  sicb  biernacb  als  eine  Linie  dar,  welcbe  bei  der  Reizscbwelle 
sicb  fiber  die  Abscissenacbse  erbebt,  bei  R^  ein  Maximum  erreicbt  und 
dann  ziemlicb  steil  unter  die  Abscissenacbse  abfallt. 

Scbon  alltaglicbe  Erfabrungen  bestatigen  uns  die  Ricbtigkeit  des 
eben  dargestellten  Gesetzes.  Uebelriecbende  Substanzen  werden,  wie 
die  Parffimfabrikation  zeigt,  bei  genfigender  Verdfinnung  zu  Woblgerficben, 
und  eine  sebr  concentrirte  Zuckerlosung  erzeugt  ein  ausgesprocbenes  Un- 
lustgeffibl.  Dies  Gesetz  gilt  fiir  alle  Empfindungsqualitaten.  Ein  zu  in- 
tensives  Licbt  wirkt  „blendend^^,  ein  fiberlauter  Scball  wird  als  „gellend“ 
empfunden,  eine  intensivere  Berfibrung  ist  „scbmerzbaft".  Wenn  wir 
trotzdem  mancbe  Qualitaten  der  Empfindung,  z.  B.  gewisse  Gerficbe, 
im  Allgemeinen  entweder  als  angenebm  oder  als  unangenebm  bezeicbnen, 
so  erklart  sicb  dies  daraus,  dass  ffir  mancbe  Substanzen  der  Punkt  R,y 
sebr  weit  von  der  Reizscbwelle  entfernt  liegt  und  somit  ffir  die  meisten 
lutensitatswertbe  der  Empfindung  der  Gefiiblston  positiv  ist,  wahrend 
ffir  andere  Substanzen  R,y  sebr  nabe  bei  Rs  liegt  und  mitbin  das  Ge- 
biet  der  positiven  Gefiiblstone  sebr  eng  begrenzt  ist. 

Die  patbologiscben  Storungen  der  Starke  des  Geffiblstons  der  Em- 
pfindungen  tbeilt  man  ein  in  Hypalgesien  und  Hyperalgesien,  Hyphedo- 
nien  und  Hyperbedonien,  je  nacbdem  die  negativen  oder  jiositiven  Ge- 
ffiblstone  berabgesetzt  oder  gesteigert  sind. 


Hypalgesien. 

Als  Hypalgesie  bezeicbnet  man  die  Herabsetzung  der  negativen  Ge- 
ffiblstone  der  Empfindung.  Ibr  bocbster  Grad  ist  die  Analgesie  oder 
Aufhebung  der  negativen  Gefiiblstone  der  Empfindung.  Praktiscbe  Be- 
deutung  besitzen  nur  die  Hypalgesien  und  Analgesien  der  Berfibrungs- 


14 


Die  Storungen  der  Erapfindung. 


empfincllichkeit,  also  die  Herabsetzuugen  der  sogenannten  Schmerzem- 
pfindlichkeit  im  engeren  Sinne, 

Aehnhch  wie  die  Hypasthesien  beruhen  die  Hypalgesicn  und  Anal- 
gesien,  welcbe  wir  bei  Geistesstorungen  treffen,  haufig  nur  auf  Compli- 
cationen  der  Psycbose.  So  ist  z.  B.  die  balbseitige  oder  allgemeine 
Aualgesie  bei  bysteriscben  Psychosen  mehr  ein  Symptom  der  hyste- 
riscben  Neurose  als  ein  Symptom  der  Psychose  selbst;  denn  die  Anal- 
gesie  besteht  bei  diesen  Kranken  aucb  vor  Ausbrucb  und  nacb  Abklingen 
der  hinzugekommenen  Geistesstbrung  ganz  in  derselben  Weise.  Aehnliches 
gilt  auch  z.  B.  von  den  tabischen  Hypalgesien  und  Analgesien. 

Ein  engerer  Zusammenhang  der  Hypalgesie  mit  der  Psycbose  selbst 
besteht  namentlich  in  folgenden  Fallen: 

1.  Bei  dem  angeborenen  Schwachsinn. 

2.  Bei  vielen  Fallen  des  erworbenen  Schwachsinns.  So  ist  nament- 
lich die  Aufhebung  der  Schmerzempfindlichkeit  ein  sehr  friihes,  cha- 
rakteristisches  und  haufiges  Symptom  der  schon  mehrfach  erwalmten 
Dementia  paralytica.  Man  kann  bei  diesen  Kranken  oft  die  intensivsten 
Hautreize  appliciren,  z.  B.  die  Nadel  bis  zum  Knopf  einstossen,  ohne 
dass  der  Kranke  mehr  als  eine  ,,leichte  Beriihrung^^  empfindet. 

3.  Bei  schweren  hallucinatorischen  Dammerzustanden,  d.  h.  bei 
eigenthiimlichen  anfallsweise  auftretenden  Zustanden,  in  welchen  eine 
grosse  Zahl  von  Sinnestiluschungen  (Hallucinationen)  und  zugleich  hoch- 
gradige  Unorientirtheit  besteht.  Am  haufigsten  sind  solche  Dammerzu- 
stande  bei  Epileptikern  und  gerade  bei  diesen  sind  sie  fast  stets  von 
einer  fast  vollstandigen  Analgesie  der  gesammten  Korperoberflache  be- 
gleitet. 


Hyp  eralgesien. 

Die  oben  erwahnte  Hyper asthesie  verbindet  sich  sehr  haufig  auch 
mit  Hyperalgesie,  d.  h.  nicht  nur  die  Intensitat  der  Empfindung 
selbst  ist  in  ki-ankhafter  Weise  gesteigert,  sondern  auch  der  negative 
Gefiihlston  krankhaft  verstarkt.  Das  Vorkommen  der  Hyperalgesie  bei 
Psychosen  deckt  sich  daher  auch  ungefahr  mit  demjenigen  der  Hyper- 
asthesie.  Am  haufigsten  sind  sensible  oder  sensorische  Hyperalgesien 
bei  dem  hysterischen  und  neurasthenischen  Irresein  sowie  bei  Psychosen 
jugendlicher  Individuen.  Dementsprechend  sind  die  oben  erwlihuten 
Druckpunkte  nicht  nur  auf  Druck  besonders  empfindlich,  sondern  auch 
auf  Druck  direct  schmerzhaft,  zuweilen  in  so  hohem  Grade,  dass  die 
Kranken  laut  aufschreien. 

Auch  der  Hungerschmerz  mancher  Geisteskranken,  welcher  zu  einem 
jjathologischen  Heisshunger  (Bulimie)  fiihrt,  gehort  hierher. 


Die  Storungen  cler  Empfindnng. 


15 


Hyphedonien. 

Hypliedonie  oder  krankhafte  Herabsetzung  der  positiven  Ge- 
fublstbne  der  Empfindnng  ist  erbeblicli  seltener  als  Hypalgesie.  Wo  sie 
auftritt,  ist  sie  fast  stets  ein  Symptom  der  Psychose  selbst.  Am  grbssten 
ist  ibre  Bedeutung  auf  dem  Gebiet  der  Sexualempfindungen.  Hier  kommt 
zuweilen  bei  gewissen  Geistesstorungen  eiue  vollige  Anhedonie  vor,  indem 
die  sogenannten  Wollustgefiible  d.  li.  die  positiven  Gefiihlstone  der  Se- 
xualempfindungen vollig  fehlen.  Namentlich  auf  dem  Boden  schwerer 
erblicber  Belastung  entwickelt  sicb  eine  solcbe  sexuelle  Anhedonie  nicht 
selten.  Zuweilen  ist  sie  auch  ein  Symptom  schwerer  organischer  Er- 
krankungen  des  Centralnervensystems,  z.  B,  der  Tabes  oder  der  De- 
mentia paralytica.  Auch  manche  chronische  Intoxicationen  (Alkohol, 
Morphium,  Cocain)  bedingen  haufig  eine  krankhafte  sexuelle  Anhedonie 
oder  Hyphedonie. 

Auch  auf  dem  Gebiet  der  Hungerempfindungen  spielt  die  Hyphe- 
donie bei  Psychosen  oft  eine  erhebliche  Kolle:  es  kommt  zu  einer  psy- 
chisch  bedingten  Appetitlosigkeit  oder  Anorexie.  Letztere  kann  so  er- 
heblich  sein,  dass  es  zu  vollstandiger  Nahrungsverweigerung  kommt. 

Hyp  erhedo  nien. 

Krankhafte  Steigerungen  der  positiven  Gefiihlstone  der  Empfindnng 
bezeichnet  man  als  Hyperhedonien.  Am  haufigsten  sind  solche  wieder- 
um  auf  dem  Gebiete  der  Sexualempfindungen.  Die  Hyperhedonie 
aussert  sich  hier  in  der  Kegel  darin,  dass  unmittelbar  nach  der  sexu- 
ellen  Befriedigung  die  sexuelle  Libido  sofort  wiederum  und  zwar  haufig 
noch  gesteigert  erwacht.  Anderweitige  reine  Hyperhedonien  sind  selten. 


Mit  den  soeben  aufgezahlten  Hypalgesien  und  Hyperal- 
gesien,  Hyphedonien  und  Hyperhedonien  sind  die  Storungen 
der  Starke  des  Gefuhlstons  der  Empfindungen  noch  nicht  er- 
schopft.  Ausser  dem  Gefiihlston  namlich,  welcher  den  Empfindungen 
selbst  ganz  unabhangig  von  den  an  die  Empfindung  gekniipften  Vor- 
stellungen  zukommt,  iibertragen  auch  die  an  eine  Empfindung  gekniipften 
Vorstellungen  ihren  Gefiihlston  auf  die  Empfindung.  So  erregt  z.  B.  oft 
eine  Landschaft  trotz  geringer  Schonheit  ihrer  Linien  und  Farben  Lust- 
gefiihle  vermoge  der  Vorstellungen,  z.  B.  der  angenehmen  Erinnerungen, 
welche  sich  an  dieselbe  kniipfen.  Der  Vorgang  ist  hier  otfenbar  folgender: 
ich  habe  an  dem  betreffenden  Ort  ein  angenehmes  Erlebniss  gehabt, 
d.  h.  Empfindungen  mit  starken  positiven  Gefiihlstonen , z.  B.  einen 
Freund  gefunden.  Sowohl  von  der  Oertlichkeit  wie  von  der  Begegnung 


16 


Die  Storungen  der  Empfindung. 


des  Freimdes  bleiben  Erinnerungsbilder  in  mir  zuriick.  Das  Erinne- 
ruugsbild  der  Landschaft  ist  zunachst  von  keinem  positiven  Gefublston 
begleitet,  sondern  nur  das  Erinnerungsbild  des  Freundes.  Weil  aber 
das  Sehen  der  Landschaft  und  das  Begegnen  des  Freundes  gleich- 
zeitig  stattfand,  iibertragt  sich  der  positive  Gefiihlston  des  letzteren 
auch  auf  das  Erinnerungsbild  der  Landschaft.  Man  bezeichnet  dies 
als  die  Irradiation  der  Gefiihlstone.  Die  Folge  dieser  Irradiation 
ist,  dass,  wenn  ich  die  Landschaft  zum  zweiten  'Mai  sehe,  diese 
Gesichtsempfindung  der  Landschaft  von  einem  deutlichen  positiven  Ge- 
fiihlston  begleitet  ist.  Dieser  Gefiihlston,  welchen  die  Empfindung  nur 
den  mit  ihr  associirten  Vorstellungen  verdankt,  wird  auch  als  „reflec- 
tirter  oder  secuudilrer  Gefiihlston  der  Empfindung"  bezeichnet.  Diese 
reflectirten  Gefiihlstone  spielen  in  der  Psychopathologie  eine  grosse 
Rolle.  Bei  vielen  Psychosen  tritt  namlich  ein  krankhaftes  Ueberwiegen 
entweder  der  positiven  oder  der  negativen  Gefiihlstone  der  Vorstellungen 
auf.  So  entsteht  eine  krankhafte  traurige  Verstimmung  oder  Depression 
(z.  B.  bei  der  sog.  Melancholie)  und  eine  krankhafte  heitere  Verstim- 
mung oder  Exaltation  (z.  B.  bei  der  sog.  Manie).  Die  pathologischen 
Stimmungen  im  Bereich  des  Vorstellungslebens  theilen  sich  auch  den 
Gefiihlstonen  der  Empfindungen  riickwirkend  mit,  und  so  entstehen 
reflectu’te  secundilre  Lust-  und  Unlustgefiihle  der  Empfindung.  Der 
Melancholische  z.  B.  fiihlt  zwar  den  Wohlklang  der  Consonanz  noch 
ebenso  wie  den  Missklang  der  Dissonanz  — die  primaren  Gefiihlstone 
der  Empfindung  sind  in  der  Regel  gar  nicht  veriindert  — , aber  der 
Wohlklang  der  Consonanz  maoht  ihm  in  Folge  der  allgem einen  negativen 
Gefiihlsbetonung  des  Vorstellungslebens  keine  Freude:  entweder  er  ist 
gleichgiiltig  („das  Herz  ist  wie  zum  Stein  geworden"  sagt  der  Kranke) 
oder  er  empfindet  den  Wohlklang  sogar  schmerzlich.  Der  Maniakalische 
andererseits  fiihlt  die  Dissonanz  zwar  noch  als  Missklang,  den  Stich  noch 
als  Schmerz,  aber  die  allgemeine  positive  Gefiihlsbetonung  seines  Vor- 
stellens  tauscht  ihn  fiber  Missklang  und  Schmerz  hinweg.  In  sehr 
charakteristischer  Weise  erzahlte  mir  z.  B.  eine  junge  Maniakalische 
mit  einem  cariosen  Zahn  lachend  von  ihren  „gottlichen  Zahnschmeizen  . 

Auf  diese  secundaren  Storungen  des  Geffihlstons  der  Empfindungen 
wird  wegen  ihrer  besonderen  Wichtigkeit  spater  bei  Besprechung  dei 
Storungen  der  intellectuellen  Gefiihlstone  und  der  Stimmungsanomalien 
ausffihiiicher  zurfickzukommen  sein. 

y.  Qualitative  oder  inhaltliche  Storungen  der  Empfindung. 

Die  Qualitat  oder  der  Inhalt  einer  normalen  Empfindung  ist  dui'cli 
den  peripheren  Reiz  bestimmt.  Auf  die  periphere  Nerveuausbieitung 
wirkt  ein  Reiz  R und  erzeugt  in  den  peripheren  Nervenausbreitungen 


Die  Stijrungen  der  Empfindimg. 


17 


erne  Erregimg,  die  wir  als  Ep  bezeichnen.  Diese  Erregung  wird  ziir 
Hirnrinde  fortgepflanzt  imd  lost  dort  eine  Erregung  Rc  aus.  Der  Er- 
regung Ec  entspriclit  die  Empfiudung  E.  Im  Allgemeinen  ist  Ec  von 
dem  Rp  qualitativ  niclit  verscbieden,  und  insofern  bietet  die  Empfindung 
E ein  treues  Bild  des  Reizes  R.  Nur  wenn  ein  inadilquater  Reiz 
die  periphere  Nervenausbreitung  trifft,  weicbt  das  Rc  von  dem  Rp  ab 
und  entspricbt  dann  aucb  E dem  R inhaltlicb  nicht.  So  sind  z.  B.  fur 
den  Sebnerv  die  Aetherscbwingungen  des  Lichts  und  fiir  den  Hornerv 
die  Molekiilschwingungen^  des  Scballes  der  adaquate  Reiz.  Lassen  wir 
auf  den  Seb-  oder  Hornerv  einen  inadaquaten  Reiz  wirken,  also  einen 
mecbaniscbeu  Reiz  oder  einen  elektriscben  Reiz,  so  tritt  allerdings  aucb 
eine  Licbt-  oder  Scballempfindung  auf.  Driicken  wir  z.  B.  von  der 
Seite  auf  unseren  Augapfel  und  zerren  dadurcb  die  Sebnervendigungen 
der  Netzbaut,  so  seben  wir  einen  bellen  Licbtring.  Ebenso  lost  gal- 
vaniscbe  Reizung  des  Sebnerven  eine  Licbtempfindung,  galvaniscbe  des 
Hornerven  eine  Klangempfindung  aus.  Hier  entspricbt  das  Rc  offenbar 
dem  Rp  nicbt,  der  mecbaniscbe  Reiz  resp.  der  elektriscbe  Reiz  erfiibrt 
in  der  Hirnrinde  gemiiss  dem  Gesetz  von  der  specifiscben  Energie  der 
Sinnesnerven  eine  Umwandlung,  derzufolge  der  mecbaniscbe  und  elek- 
triscbe Reiz  als  Licbt  oder  Scball  empfunden  wird.  Die  Empfindung 
E tauscbt  uns  einen  Reiz  R vor,  der  garnicbt  vorbanden  ist.  Diese 
qualitative  Falscbung  der  Empfindung  im  Sinn  des  Gesetzes  von  der 
specifiscben  Energie  spielt  aucb  in  patbologiscben  Fallen  zuweilen  eine 
Rolle.  Der  mecbaniscbe  Druckreiz  einer  Geschwulst,  welcbe  die  Babn 
des  Olfactorius,  Acusticus  etc.  comprimu’t,  kann  „subjective^^  Gerucbs- 
empfindungen  oder  Gebbrsempfindungen  erzeugen.  Diese  durcb  inada- 
quate  Reize  ausgelosten  subjectiven  Empfindungen  sind  bei  dem  Geistes- 
gesunden  durcb  sebr  elementare,  einfacbe  Bescbaffenbeit  ausgezeicbnet: 
meist  bandelt  es  sicb  um  einfacbe  Licbtblitze  oder  Glockenlauten  etc. 

Bei  dem  Geisteskranken  sind  die  qualitativ en  Storungen  in  dem  Ver- 
baltniss  von  E und  R viel  mannigfaltiger  und  complicirter.  Man  unter- 
scbeidet  3 Formen  solcber  qualitativen  Storungen  der  Empfindung,  namlicb 

1.  Die  secundiii’en  Sinnesempfindungen:  bei  diesen  lost 
ein  Reiz  Pi  eine  vollig  entsprecbende  Empfindung  E aus,  zu  dieser 
Empfindung  tritt  jedoch  eine  zweite  Empfindung  auf  einem  andereu 
Sinnesgebiet  obue  irgend  welcben  entsprecbenden  Reiz  biuzu. 

2.  Die  Hallucinationen:  R feblt  vollig  und  trotzdem  tritt  eine 
Empfindung  E auf. 

3.  Die  Illusion  en:  R ist  vorbanden  und  lost  nur  eine  Empfin- 
dung auf  dem  entsprecbenden  Sinnesgebiet  aus,  diese  Empfindung  aber 
entspricbt  dem  ursacblicben  Reize  R nur  tbeilweise,  sie  ist  gegeniiber 
der  normalen  Empfindung  tran sf or mirt. 

Ziehen,  I’sychiatrie.  2 


18 


Die  StOnuigen  dor  Empfindung. 


Secundare  Sinnesempfindungen , Hallucinationen  und  Illusionen 
werden  aiich  uuter  dem  Sammelnamen  ;,Sinnestauschungen^  zu- 
sammengefasst. 

1.  Secundare  Sinnesempfindungen. 

Ira  Jalire  1873  berichtete  ein  junger  Philologe  naraens  Nuss- 
bauraei  ira  Wiener  arztlichen  Verein  iiber  eigenthiiraliche  Selbstbe- 
obacbtungen.  Er  und  sein  alterer  Bruder  batten  seit  friibester  Jugend 
die  raerkwiirdige  Eigenscbaft,  dass  bei  ibnen  rait  jeder  norraalen  Ton- 
empfindung  sicb  je  eine  bestimrate  Farbenerapfindung  verband.  Wurde 
ibra  auf  dera  Harraoniura  ein  bestimrater  Ton  angegeben,  so  gab  er 
fiir  denselben  Ton  stets  dieselbe  Farbenerapfindung  an,  obwobl  er  nicbt 
einraal  die  Tone  selbst  ricbtig  wiederzuerkennen  verraocbte.  Diese 
Farbenerapfindungen  waren  ira  Kindesalter  so  lebhaft  und  iiberrascbend, 
dass  er  bei  einera  Ton  oft  in  laute  Bewunderung  nicbt  fiber  diesen, 
sondern  fiber  die  Scbonbeit  der  secundar  erapfundenen  Farbe  ausbracb 
und  sicb  dadurch  Spott  seitens  seiner  Eltern  und  fibrigen  Gescbwister 
zuzog.  Je  nacbdera  ein  Ton  auf  diesera  oder  jenera  Instrument  gespielt 
wurde,  also  die  Klangfarbe  verscbieden  war,  trat  eine  bestimrate  Nfian- 
cirung  der  secundaren  Farbenerapfindung  auf.  Ein  Wiener  Nervenarzt 
erklarte  dies  Verhalten  ffir  psycbopathisch  und  raabnte  Nussbaumer 
zur  Vorsicht.  Diese  Besorgniss . erwies  sicb  als  unbegrfindet : Nuss- 
baumer ist  bis  zum  beutigen  Tage  gesund  geblieben. 

Spatere  Forscbungen  baben  gelebrt,  dass  abnlicbe  secundare  Sinnes- 
empfindungen auch  sonst  gelegentlicb  bei  geistesgesunden  Individuen, 
baufiger  aber  bei  Geisteskranken  auftreten.  Allen  diesen  secundaren 
Sinnesempfindungen  ist  gemeinsam,  dass  ein  Reiz  ausser  der  Empfindung 
auf  dem  entsprecbenden  Sinnesgebiet  nocb  eine  weitere  Empfindung  auf 
einera  anderen  Sinnesgebiet  auslost:  die  letztere,  die  Secundarempfin- 
dung,  wird  gewissermaassen  binzuballucinirt.  Der  normale  Menscb  kann 
wobl  durcb  einen  Trompetenton  an  die  Farbe  „gelb"  oder  durcb  den 
Anblick  des  Feuers  an  das  Gerauscb  des  Knisterns  erinnert  werden. 
In  beiden  Fallen  vermitteln  Vorstellungen  die  Verknfipfungen,  und  nur 
das  nicbt  sinnlicb  lebbafte  Erinnerungsbild  des  Gelben  oder  des 
Knisterns  taucbt  in  uns  auf.  Bei  den  secundaren  Sinnesempfindungen 
bestebt  die  Abnormitat  darin,  dass  die  primare  Empfindung  direct 
wieder  eine  sinnlicb  lebbafte  Empfindung  auslost.  Eine  Analogie  ffir 
die  secundaren  Sinnesempfindungen  bietet  die  Irradiation  der  Scbmerz- 
empfindung,  welcbe  z.  B.  von  einera  caribsen  Zabn  ausgebend  sicb 
scbliesslicb  fiber  die  ganze  Kopfbalfte  ausbreiten  kann.  Was  bier  auf 
dem  Gebiet  eines  Sinnes  stattfindet,  fiudet  bei  den  secundaren  Sinnes- 
empfindungen von  einera  Sinnesgebiet  auf  ein  anderes  bin  statt. 


Die  Storungen  der  Empfindung. 


19 


Unter  den  secundaren  Sinnesempfindimgen  sind  Pliotismen,  d,  h. 
secundare  Licht-  resp.  Farbenempfiudungen , am  haufigsten.  Diese 
Pliotismen  konnen  die  verschiedensten  Primarempfindungen  begleiten. 
Meist  werden  sie  von  einer  Gehors-  oder  Berubrnngsempfindung  ausge- 
Ibst,  Im  Allgemeinen  werden  belle  Photismen  durcb  hobe  Tonempfin- 
dungen  oder  durcb  scbarfbegrenzte  Berubrungsempfindungen  (kleine, 
spitzige  Gegenstande)  erzeugt.  Im  ersteren  Falle  spricbt  man  von 
Scballpbotismen,  in  letzterem  von  Berubrungspbotismen.  Rotbe,  gelbe, 
blaue  und  braune  Farben  berrscben  vor.  Zuweilen  ist  nicbt  die  Ton- 
bo  be  bestimmend  fiir  die  Farbe  der  secundaren  optiscben  Empfindung, 
sondern  jedem  Vokal  der  menscblicben  Spracbe  ist  eine  bestimmte 
Farbenempfindung  zugeordnet.  *)  So  gab  mir  z.  B.  eine  Geisteskranke 
folgende  Farbenassociationen  an: 


Normale  Primarempfindung 

a 

e 

i 

0 

u 


Secundarempfindung 
(obne  entsprecbenden  Reiz) 
gelb 
weiss 
blau 
rotb 
scbwarz 


Die  Dipbtbonge  erscbienen  ibr  in  Miscbfarben. 

Bei  einer  anderen  Kranken  loste  das  Horen  gewisser  Zablworte 
Secundarphotismen  aus  und  zwar 

die  Gebbrsempfindung  3 die  Secundarempfindung  bellgriin 

4 „ „ rotb 

5 „ gelb 

9 „ „ orange. 


Fiir  die  iibrigen  Zablen  waren  die  Pbotismen  nicbt  ganz  deutlicb.  So 
Ibste  z.  B.  die  Gebbrsempfindung  7 eine  aus  Dunkelgriin  und  Rotbbraun 
gemiscbte  Secundarempfindung  aus. 

Bei  derselben  Person  ist  die  Qualitat  der  secundaren  Licbt-  resp. 
Farbenempfindung  fiir  eine  bestimmte  Primarempfindung  stets  dieselbe, 
bei  verscbiedenen  Personen  bingegen  oft  verscbieden.  So  baben  z.  B. 
andere  Personen  bei  dem  Hbren  des  Vokals  o nicbt  die  Empfindung 
„rotb“,  sondern  die  Empfindung  „gelb^^  etc. 

Erbeblicb  seltener  sind  Pbonismen,  d.  b.  secundare  Scball-  oder 
Gerauscbempfindungen.  Man  kann  dieselben  in  Licbtphonismen  und  Be- 
rubrungspbonismeu  eintbeilen,  je  nacbdem  die  Primarempfindung  eine 
optiscbe  oder  tactile  ist.  Hobe  Pbonismen  werden  meist  durcb  belle 


*)  In  Frankreich  bezeicbnet  man  dies  sebr  cbarakteristiscb  als  Audition  colorde. 

2* 


20 


Dio  StOrungen  dor  Empfindung. 

Lichtempfinclungen  oder  scharfbegrenzte  Beriihrungsempfindungen  hervor- 
gerufen.  Die  meisten  Plionismen  haben  Gerauscliqualitat. 

Bie  Localisation  der  secundaren  Sinnesempfindung  ist  meist  durch 
diejenige  der  Primarempfindung  bestimmt.  Scliallpliotismen , d.  li. 
durch  Tonempfindungen  inducu^te  Lichtempfindungen,  werden  also  in 
der  Regel  in  das  Horfeld  der  primaren  Schallemplindung,  die  seltenen 
Geschmacksphotismen  meist  an  die  betreffende  Stelle.  der  Mundhbhle, 
Geriichsphotismen  in  die  Umgebiing  des  riechenden  Korpers  oder  in  die 
Nase  localisirt.  Seltener  ist  die  Projection  in  das  Innere  des  Kopfes, 

Der  Gefiihlston  der  Secimdarempfindung  ist  von  demjenigen  der 
Primarempfindung  zuweilen  unabhangig:  es  kann  also  z.  B.  der  unan- 
genehme  Gefiihlston  einer  Primarempfindung  von  einem  angenehmen  Ge- 
fiihlston  der  Secundarempfindung  gefolgt  sein. 

Weitaus  in  der  Mehrzahl  der  Falle  tritt  die  Secundarempfindung 
annahernd  gleichzeitig  mit  der  Primaremjifindung  auf;  in  seltenen  Fallen 
schiebt  sich  ein  Intervall  von  einigen  Secunden  ein. 

Das  Vorkommen  solcher  secundaren  Sinnesempfindungen  bei  Ge- 
sunden  ist  iiusserst  beschrankt.  Auch  bei  Geisteskranken  sind  sie 
keineswegs  haufig,  Mitunter  liisst  sich  bei  den  mit  secundaren  Sinnes- 
empfindungen Behafteten  zwar  keine  Geistesstorung , wohl  aber  eine 
Neurose  oder  neuropathische  resp.  psychopathische  Veranlagung  nach- 
weisen.  Man  muss  mit  der  Anuahme  von  secundaren  Sinnesempfindungen 
sowohl  bei  Geistesgesunden  wie  bei  Geisteskranken  sehr  vorsichtig  sein; 
denn  nur  zu  oft  werden  secundare  Sinnesempfindungen  von  Kranken 
und  Gesunden  fingiert,  urn  sich  interessant  zu  machen.  Auch  werden 
haufig  secundare  Sinnesempfindungen  mit  Vorstellungsassociationen  ver- 
wechselt,  d.  h.  zu  der  Primarenijilindung  tritt  nicht  eine  sinnlich-leb- 
hafte  Emjifindung,  sondern  lediglich  eine  Vorstellung  (z.  B.  zum  Horen 
des  V ocals  e i die  Gesichts  vorstellung  des  W e i s s e n oder  zum  Horen 
einer  Trompete  die  Vorstellung  des  Gelben).  — 

Wo  sich  bei  Geistesgesunden  secundare  Sinnesempfindungen  finden, 
kann  man  nicht  selten  feststellen,  dass  mehrere  Familienglieder  von 
denselben  befallen  sind.  Erheblichere  diagnostische  Bedeutung  haben 
die  secundaren  Sinnesempfindungen  fiir  die  Psychiatric  bis  jetzt  nicht. 

2.  Hallueinationen. 

Eine  Hallucination  ist  eine  Sinnesempfindung  ohne  iiiisseren  Reiz. 
R fehlt  vollstilndig  und  doch  tritt  ein  Rc  und  dementsprechend  ein  E, 
eine  Empfindung  auf.  Der  Hallucinant  sieht  Gestalten  am  klaren, 
wolkenlosen  Himmel  und  hbrt  Laute  bei  absolute!'  Stille  etc. 

a.  Qualitat  der  Hallueinationen.  Hallueinationen  treten  auf 


Die  Storungen  cler  Empfindung. 


21 


alien  Sinnesgebieten  anf  imd  zeigen  auf  jeclem  clerselben  gewisse  Be- 
sonderbeiten. 

Die  Gesicbtshallucinationen  oder  Visionen  kommen  in  den 
mannigfaltigsten  Formen  vor.  Die  einfacbsten  besteben  in  deni  Seben 
von  Funken,  Licbtern,  Flammen-  oder  Licbtscbein,  Fiiden,  Nebeln  nnd 
Scbatten.  Die  complicirtesten  stellen  ganze  Landscbaften  nnd  Personen 
init  alien  Details  dar.  Bald  sind  sie  vollig  farblos,  ,,scbemen-  oder 
silbouettenbaft",  wie  gebildete  Kranke  sicb  aiisdriicken,  bald  zeigen  sie 
— so  namentlicb  bei  Alkobolisten  nnd  Epileptikern  — die  lebbaftesten  nnd 
grellsten  Farben.  Ancb  die  Bestimmtbeit  der  Umrisse  scbwankt  im 
Einzelnen  sebr.  Bald  erscbeinen  sie  mebr  flacbenbaft,  „als  Gemalde", 
bald  ebenso  plastiscb  wie  die  wirklicben  Dinge.  Die  Zabl  der  balln- 
cinatoriscb  gesebenen  Objecte  wecbselt  sebr.  Znweilen  erfiillt  ein  Ge- 
wimmel  von  Gestalten  (z.  B.  Tbieren)  das  ganze  Gesicbtsfeld , so 
namentlicb  bei  alkobolistiscben  Psycbosen.  In  anderen  Fallen,  speciell 
bei  bysteriscben  Psycbosen,  tritt  eine  Menge  von  Gestalten  ansscbliesslicb 
in  einer  Halfte  des  Gesicbtsfeldes  anf,  meist  gerade  in  deijenigen,  welcbe 
einem  bemianopiscben  Defect  entspricbt.  Oefter  nocb  erscbeinen  die 
ballncinatoriscben  Gestalten  mebr  vereinzelt.  Diese  einzelnen  balln- 
cinatoriscben  Gestalten  baben  znweilen  „Kiesengrosse^^,  z.  B.  bei  epilep- 
tiscben  Psycbosen.  In  anderen  Fallen  stellen  die  Visionen  „Miniatnr- 
bilder^^  dar.  Am  banfigsten  baben  sie  natiirlicbe  Grosse.  Bald  er- 
scbeinen sie  dicbt  vor  den  Angen  des  Hallncinanten,  bald  in  weitester 
Entfernnng.  Die  wirklicben  Gegenstande  werden  von  den  Visionen  bald 
vollig  verdeckt,  bald  „scbeinen  sie  dnrcb  die  visioniiren  Bildnngen  dnrcb^^ 
In  seltenen  Fallen  beobacbtet  man,  dass  die  Hallucination  die  Ver- 
dopplnng  oder  Vervielfacbnng  eines  wirklicben  Objectes  darstellt  (balln- 
cinatoriscbe  Diplopie  nnd  Polyopie). 

Die  Gebor sballncinatione n oder  Akoasmen  in  ihrer  elemen- 
tarsten  Form  besteben  in  allerband  Geriinscben,  Sansen,  Ziscben,  Klingen, 
Donnern,  Fliistern,  Lanten  etc.  Die  complicirteren  Akoasmen  besteben 
ans  Worten.  Bald  bort  sie  der  Hallncinant  im  natiirlicben  Ton,  bald 
bocb  bald  tief.  Oft  nnterscbeidet  er  nacb  der  Klangfarbe  der  Stimme 
verscbiedene  zn  ibm  redeude  Personen.  Ancb  nnterscbeidet  er  Weiber-, 
Manner-  nnd  Kinderstimmen.  Bald  bort  er  einzelne  Worte,  wie  z.  B. 
Hiilfernfe,  bald  ganze  Satze  nnd  selbst  Keden  nnd  Gespracbe.  Bald 
sind  die  Akoasmen  gellend  lant,  banfiger  leise  nnd  selbst,  wie  die  Kranken 
sicb  ansdrucken,  „fast  nnborbar  leise".  Fordert  man  den  Kranken  anf, 
mit  seiner  Stimme  die  ballncinatoriscben  Stimmen  nacbznabmen,  so  er- 
klart  derselbe  nicbt  selten,  das  sei  ibm  nicbt  moglicb:  die  Stimmen 
batten  einen  „ganz  nbernatiirlicben  Klang".  In  anderen  Fallen  gleicben 
die  ballncinatoriscben  Stimmen  bis  anf  alle  Einzelbeiten  wirklicben 


22 


Die  Stdrungen  der  Empfindung. 


Stiiiiineii,  und  vermag  der  Hallucinant  sie  mit  mehr  oder  weniger  Ge- 
schick  nachzuahmen.  Gelegentlich  werden  statt  gesprochener  Worte 
auch  Melodien  ohiie  Worte  und  selbst  ganze  Orchesterstiicke  gelidrt. 
Bald  werden  die  Akoasmen  in  weite  Entfernung  verlegt,  bald  bebauptet 
der  Kranke,  die  Stimme  schreie  oder  fliistere  ibm  unmittelbar  in  das 
Ohr.  Selten  giebt  der  Kranke  ausdriicklich  an,  er  bore  die  Stimmen  auf 
einem  Obr,  meist  bort  er  sie  durcbaiis  symmetriscb  auf  beiden  Obren. 

Gescbmacksballucinationen  im  strengen  Sinne  des  Wortes 
sind  isolirt  sebr  selten.  Die  pbysiologiscbe  Psycbologie  lebrt  namlicb, 
dass  nur  4 Gescbmacksqualitaten,  Bitter,  Siiss,  Salzig,  Sauer,  existiren 
und  dass  der  sog.  Gescbmack  vieler  Speisen  darauf  berubt,  dass  im 
binteren  Tbeil  der  Mundboble  Speisetbeilcben  verdamj)fen  und  so  in 
die  Nasenboble  gelangen,  wo  sie  Gerucbsempfindungen  ausldsen.  In  der 
Psycbopatbologie  pflegt  man  diese  Gerucbsempfindungen,  welcbe  die  Ge- 
schmacksempfindungen  s.  str.  begleiten,  mit  zu  den  Gescbmacksempfin- 
dungen  in  weiterem  Sinne  zu  recbnen.  Die  enge  Verscbmelzung,  welcbe 
zwiscben  diesen  Gerucbsempfindungen  und  den  eigentlicben  Gescbmacks- 
empfindungen  stattfindet,  rechtfertigt  die  Zurecbnung  und  erklart  auch, 
dass  in  Krankheitsfallen  die  entsprecbenden  Hallucinationen  gemeinbin  ver- 
bunden  auftreten.  Solche  Gescbmacksballucinationen  in  weiterem  Sinne 
sind  sebr  baufig.  Die  Kranken  geben  an,  dass  sie  plotzlich  einen  Gescbmack 
nacb  Koth  oder  Blut  etc.  in  der  Mundboble  empfanden  u.  dergl.  m. 

Isolirte  Gerucb shall ucinationen  sind  sebr  baufig.  Geriicbe 
nacb  Pecb,  Scbwefel,  Bauch,  Kotb,  Scbweiss,  Chloroform  und  anderer- 
seits  nacb  Bosen  und  anderen  Blumen  treten  in  grosserer  oder  geringerer 
Intensitat  auf. 

Beriibrungsballucinationen  (baptische  Hallucinationen)  kom- 
men  auf  der  ganzen  Hautoberfiacbe  vor.  Nicbt  selten  werden  auch  die 
Beriibrungsempfindungen  in  das  Innere  des  Korpers  (Scbleimbaute  etc.) 
verlegt.  Bald  empfindet  der  Kranke  einen  plotzlicben  Scblag  oder  Stick 
oder  einen  Kuss  oder  eine  unsicbtbare  Umarinung,  bald  empfindet  er 
auf  der  ganzen  Korperoberflacbe  ein  Netz  von  Spinneweben  oder  elek- 
triscbe  Scblage  oder  das  Herumlaufen  unsichtbarer  Tbiere  oder  „Zwerge“. 
Die  Mannigfaltigkeit  dieser  baptischen  Hallucinationen  ist  ungemein 
gross  und  mit  dieser  Aufzahlung  in  keiner  Weise  erscbopft.  Ein  Kranker 
mit  Verfolgungswabn  empfand,  wie  auf  seinen  Spaziergiingen  eine  un- 
sicbtbar  vor  ibm  bergebende  Person  fortwahrend  mit  ibrer  Ferse  auf 
seine  Fussspitze  trat.  Derselbe  fiiblte  dfter  auf  seiner  Mundscbleimbaut, 
wie  ein  klebriger  Brei  auf  dieselbe  gescbmiert  wurde.  Andere  Kranke 
fiihlen,  wie  menscbliche  Kbrper  (namentlicb  von  Kindern  und  Personen 
des  anderen  Gescblecbtes,  oft  auch  von  Tbieren)  zu  ibnen  in  ibr  Bett 
gelegt  werden.  „Icb  bin  ganz  eingebettet  in  warines  Fleiscb^  erzablte 


Die  Stfirungen  cler  Empfinclung. 


23 


mir  ein  Hallucinant.  Ueberhaupt  tritt  zu  cler  ballucinatoriscben  Be- 
riihrungsempfinclimg  nicht  selten  aiicli  eine  hallucinatorische  Warme- 
oder  Kalteempfindiing  hinzu.  — Eine  besondere  Bedeutung  beansprucben 
aucb  die  Beruhrungsballucinationen  auf  sexuellem  Gebiet.  Es  kommt 
bier  zu  vollstandigen  Cobabitationsballucinationen,  d.  b.  es  treten  alle 
die  zablreicben  die  Cohabitation  begleitenden  haptiscben  Empfindnngen 

oft  einschliesslicb  der  begleitenden  Gefiihlstone  — ballucinatorisch 

auf.  Der  mittelalterlicbe  Hexenglaube  spracb  bei  solchen  Kranken  von 
Succubus  und  Incubus,  inclem  er  die  unsichtbare  Cohabitation  vom 
Teufel  ausgeben  Hess.  Aucb  allerband  Misshandlungen  der  Genitalien 
werden  oft  ballucinatoriscb  empfunden. 

Den  Berubrungsballucinationen  nabe  verwandt  sind  aucb  die  ball u- 
cinatoriscben  Organempfindungen.  Geisteskranke  klagen  oft 
uber  die  eigenthumbcbsten  Empfindungen  in  diesem  oder  jenem  Korper- 
organ,  so  namentbcb  uber  eigentblimbcbe  Verlagerungen,  Bewegungen 
und  Umgestaltungen  der  Eingeweide,  obne  class  aucb  die  peinbcbste 
Untersucbung  irgendwelcbe  peripbere  Keizquelle  aufzuweisen  vermocbte. 
Bei  Besprecbung  der  illusionaren  Organempfindungen  wird  bierauf 
zuriickzukommen  sein. 

Bewegungsballucinationen  sind  ballucinirte  Bewegungsem- 
pfindungen.  Die  Empfindung  der  passiven  und  activen  Bewegung  unseres 
Korpers  oder  eines  Korpertbeils  ist  sebr  zusammengesetzt,  wabrscbein- 
bcb  entstammt  sie  vorwiegend  der  Gelenksensibbtat.  Wie  jecle  an- 
dere  Empfinclung  konnen  aucb  cliese  passiven  Bewegungsempfinclungen 
ballucinatorisch,  cl.  b.  obne  ausseren  Keiz  auftreten.  So  geben  mancbe 
Kranke  an,  class  sie  plotzbcb  sicb  in  die  Luft  geboben  fiiblen  oder  plotz- 
bcb  die  Empfinclung  baben,  als  clrebe  sicb  ihr  Kopf  nacb  recbts  oder 
links.  Weiter  unten  wird  zu  erortern  sein,  welcben  eigenthiimbchen  Ein- 
fluss  diese  hallucinirten  Bewegungsempfindungen  auf  die  Bewegungen 
soldier  Kranken  baben.  Zuweilen  kommen  solcbe  Bewegungsballucina- 
tionen  aucb  auf  clem  Gebiet  cler  Spracbmuskulatur  vor.  Durcb  die  Con- 
traction unserer  Lippen-,  Zungen-,  Gaumen-  und  Keblkopfmuskeln  beim 
Sprecben  werden,  wie  durcb  andere  Bewegungen,  gleichfalls  sensible  Nerven- 
encligungen  gereizt  und  so  Bewegungsempfindungen  erzeugt.  Aucb  cliese 
Sprecbbewegungsempfinclungen  werden  gelegentbcb  ballucinirt.  Der  Kranke 
bat  dann  die  Empfinclung,  „als  ob  er  ein  bestimmtes  Wort  ausspracbe^^ 
Zusammengesetzte  Hallucinationen.  Mitunter  besclirankt 
sicb  die  jeweibge  Hallucination  auf  ein  Sinnesgebiet,  oft  jeclocb  ver- 
einigen  sicb  Hallucinationen  mebrerer  Sinnesgebiete  zur  Vortauscbung 
eines  realen  Objectes.  So  kommt  es  allerclings  vor,  class  die  visionaren 
Gestalten  stumm  sind  und  bocbstens  die  Lippen  lautlos  bewegen,  und 
class  die  Stimmen  unsicbtbar  bleiben.  Etwa  ebenso  oft  aber  vereinigen 


24 


Die  Storiingen  der  Empfindung. 


sicli  Vision  unci  Akoasma,  cl.  li.  die  visionare  Gestalt  spriclit  hdrbar  zu 
dein  Kranken,  die  Stimnie  „erscheint^^  ilim.  Ja  zuweilen  kommt  noch 
eine  tactile  Hallucination  hiuzu:  der  Kranke  fiihlt,  wie  die  zu  ihrn  re- 
clencle,  seinen  Augen  sichtbare  Gestalt  ibn  aiicb  anfasst.  Geracle  solcbe 
zusainmengesetzten  Hallucinationen  sincl  von  der  Wirklicbkeit  fiir  den 
Kranken  kaum  mebr  zu  unterscheiclen.  Sebr  baufig  verkniipfen  sicb  aucb 
die  Bewegungsballucinationen  niit  anderen  Hallucinationen,  namentlicb  mit 
tactilen:  der  Kranke  fiiblt  nicbt  nur,  wie  sein  Kopf  unwillkurlich  be- 
wegt  wil'd,  sonclern  er  fiiblt  aucb  die  Beriibrung  der  Hand,  welclie  diese 
Bewegung  vermeintlicb  an  ibm  ausfiibrt.  Die  Zabl  clieser  combinii’ten 
Hallucinationen  ist  ausserorclentlicb  gross.  Hiiufig  lasst  sicb  im  Verlauf 
einer  Psycbose  beobacbten,  wie  allmablicb  ein  Sinnesgebiet  nacb  clem 
anderen  binzutritt,  urn  sicb  bei  clem  Aufbau  solcber  zusammengesetzten 
Hallucinationen  zu  betbeiligen.  Monate  lang  fiiblt  die  Kranke  z.  B. 
zunacbst  nur  den  Dolcbstich  an  einer  bestimmten  Korperstelle,  spater 


siebt  sie  aucb  die  den  Dolcbsticb  ausfiibrende  feincllicb  sicb  iiber  sie 
beugende  Gestalt  unci  scbliesslicb  bort  sie  aucb  ibre  Drobworte. 

b.  Gefiiblston  der  Hallucinationen.  Wie  die  normalen 
Empfinclungen  babeu  aucb  die  ballucinatoriscben  Empfinclungen  ibre  Ge- 
fiiblstone,  meist  sincl  die  Gefiiblstone  der  Hallucinationen  sogar  besonclers 
stark.  Hallucinationen  gleicbgiiltigen  Inbalts  sincl  verbaltnissmassig  selten. 

c.  Localisation  der  Hallucinationen.  Scbon  bei  Besprecbung 
der  Qualitat  der  Hallucinationen  wurcle  erwabnt,  class  die  ballucinato- 


riscbe  Empfindung  vom  Kranken  bald  in  seine  unmittelbare  Nabe  bald 
in  grossere  Entferuung  projicirt  wircl.  Diese  raumlicbe  Projection  findet 
nacb  ganz  clenselben  Gesetzen  statt,  wie  cliejenige  der  normalen  Em- 
pfinclungen. Begleitencle  Bewegungsvorstelluugen  liegen  ibr  zu  Gruncle. 
Im  allgemeiuen  pflegeu  die  Hallucinationen  clann,  wenn  sie  im  Verlauf 
der  Krankbeit  zu  scbwinclen  begiuuen,  nicbt  nur  seltener  unci  leiser  zu 
werclen,  sonclern  aucb  in  grossere  Entfernung  projicirt  zu  werden.  Bei 
Scbielenclen  werden  die  ballucinatoriscben  Objecte  zuweilen  cloppelt  ge- 
seben.  Zuweilen  treten  aucb  bestimmte  visionare  Gestalten  immer  an 
einer  bestimmten  Stelle  des  Gesicbtsfelcles  auf.  Aucb  bei  Akoasmen  be- 
obachtet  man  zuweilen  abnlicbes:  so  bort  z.  B.  ein  Kranker  stets  eine 
freundlicbe  Stimme  in  sein  recbtes,  eine  feincllicbe  in  sein  linkes  Obr 
sprecben.  — Bewegt  der  Ilallucinant  seine  Augen,  ocler  clrebt  er  den 
Kopf,  so  folgen  die  visiontiren  Objecte  baufig  seiuem  Blick.  Bei  Kranken 
mit  Nystagmus  kommt  mitunter  ein  fortwabrencles  Hiu-  unci  Herscbwanken 
der  ballucinatoriscben  Gestalten  vor.  Die  Localisation  von  Geborsballu- 
cinationen  wircl  clurcb  Kopfdrebungen  meist  nicbt  beeinflusst. 

In  mancben  Fallen  werclen  die  Hallucinationen  aucb  in  das  Innere 
des  eigenen  Korpers  verlegt.  So  kannte  icb  einen  Kranken,  der  im 


Dio  Storungen  dor  Empfindung. 


25 


Innern  seines  Brustkorbes,  mitnnter  auch  im  Innern  seines  Kopfes  com- 
plicirte  Visionen  (Baume  mit  Tenfelsgesichtern)  zu  baben  angab.  Viel 
baufiger  ist  classelbe  bei  Geborsballucinationen.  Der  Kranke  bort  die 
Stimme  oft  im  Kopfe  oder  in  der  Brustboble  oder  im  Leib  sprecben, 
sogar  in  einzelne  Finger  verlegt  der  Kranke  zuweilen  seine  Akoasmen. 
Mitnnter  sind  ancb  anderweitige  Reize  nnd  mit  diesen  verkniipfte  Vor- 
stellnngen  flir  die  Localisation  der  Hallucinationen  maassgebend.  So  ist 
der  Geborsballucinant  gern  geneigt,  seine  Stimme  in  den  Scbornstein, 
Ventilationslocber  etc.  zii  verlegen.  Diese  Localisation  ist  meist  eine  se- 
cundare.  Anfangs  ist  die  Localisation  solcber  Akoasmen  eine  ganz  an- 
dere  oder  unbestimmt  gewesen ; weil  aber  der  Hallncinant  den  Sprecber 
nicbt  siebt  nnd  docb  deutlicb  bort,  bildet  er  sicb  die  Vorstellung,  der- 
selbe  sei  z.  B.  im  Ventilationsscbacbt  verborgen.  Diese  Vorstellung  be- 
stimmt  nun  die  Localisation  aller  folgenden  Akoasmen.  Aucb  sensible 
Reize  kbnnen  gelegentlicb  flir  die  Localisation  von  Akoasmen  direct 
maassgebend  sein:  so  kommt  es  vor,  dass  Kranke  die  Stimmen  an  der- 
jenigen  Partbie  des  Abdomens  boren,  welcbe  Sitz  neuralgiscber  oder 
anderweitiger  Scbmerzen  ist. 

d.  Entstebungsbedingungen.  Scbliesst  der  Gesicbtsballuci- 
nant  seine  Augen,  so  findet  man  baufig,  dass  die  Visionen  kurzere  oder 
langere  Zeit  verscbwinden.  Umgekebrt  giebt  es  Kranke,  bei  welcben 
der  Augenscbluss  notbwendige  Vorbedingung  flir  das  Auftreten  von  Visi- 
onen ist.  Ebenso  wirkt  der  Verscbluss  der  Obren  bei  dem  einen  Hallu- 
cinanten  steigernd,  bei  dem  anderen  abscbwacbend  auf  die  Akoasmen.  In 
vielen  Eallen  ist  der  Abscbluss  ausserer  Reize  iiberbaupt  obne  Einfluss. 
Hiermit  bangt  aucb  die  weitere  Beobacbtung  zusammen,  dass  mancbe 
Gebors-Hallucinanten  in  der  Stille  der  Nacbt  oder  der  Einzelbaft  be- 
sonders  lebbaft  balluciniren,  wabrend  andere  leise  wirklicbe  Gerauscbe 
boren  miissen,  damit  neben  diesen  nocb  Akoasmen  auftreten.*)  Ebenso 
treten  die  Visionen  bei  dem  einen  Kranken  vorwiegend  im  objectleeren 
Gesicbtsfeld  (im  Dunkel,  am  leeren  Himmel  etc.),  bei  dem  anderen  vor- 
wiegend mitten  unter  zablreicben  wirklicben  Objecten  auf. 

Gleicbzeitige  Einwirkung  wirklicber  Reize  auf  andere  Sinnesgebiete 
scbwacbt  baufig  die  Hallucinationen  momentan  ab.  So  kann  ein  plotz- 
liches  Gerauscb  eine  Vision  und  ein  interessantes  Bild  ein  Akoasma 
momentan  verdriingen.  Sebr  viel  seltener  ist  es,  dass  umgekebrt  ein 
wirklicber  Reiz  auf  einem  andern  Sinnesgebiet  notbwendig  ist,  um  die 

*)  Man  bezeichnet  solche  Hallucinationen  auch  ala  functionelle  Hallucinationen. 
Von  den  Illusionen  sind  dieselben  dadurcb  unterschieden,  dass  bei  der  Illusion  das 
wirklicbe  Gerauscb  selbst  zu  der  Geborstauscbung  wird,  also  in  ihr  aufgebt,  wabrend 
bei  der  functionellen  Hallucination  neben  und  ausser  dem  wirklicben  Gerauscb,  zu-. 
weilen  sogar  an  einer  anderen  Stelle  des  Kaumes,  das  Akoasma  gohort  wird, 


26 


Die  Stfirungen  der  Empfindung. 


Hallucination  liervorzurufen.  So  batte  eine  Kranke  regelmassig  unci 
ausschliesslich  claim,  wenn  sie  ein  Messer  ocler  eine  Scheere  sab,  die  faktile 
Hallucination,  class  in  ibre  Finger  gescbnitten  wercle.  Diese  Beriibrungs- 
tauscbung  war  bei  ibr  so  lebbaft,  class  sie  sinnlos  auf  die  Person,  welcbe 
die  Scbeere  ocler  das  Messer  in  der  Hand  bielt,  einscblug.  Das  Be- 
wusstsein,  class  es  sicb  uni  eine  Tauscbung  handle,  feblte  ibr  vollkommen. 
Man  bat  diese  Hallucinationen  aucb  als  Reflexballucinationen  bezeicbnet. 
Von  den  secundaren  Sinnesempfindungen  unterscbeiclen  sicb  clieselben 
dadurcb,  class  sicb  zwiscben  die  normale  Primarempfindung  unci  die 
Hallucination  nocb  eine  Vorstellung,  z.  B.  in  clem  mitgetbeilten  Fall  die 
Vorstellung  des  Scbneidens,  einscbiebt. 

Von  grossem  Einfluss  auf  das  Zustandekominen  der  Hallucinationen 
ist  bei  vielen  Kranken  aucb  die  sog.  Aufmerksamkeit.  Viele  Kranke 
bbren  Stimmen,  sobald  sie  binborcben,  sei  es,  class  der  Arzt  sie 
dazu  aufforclert,  sei  es,  dass  sie  selbst  von  den  Stimmen  etwas  erfabren 
wollen.  Andere  seben  Gestalten,  sobald  sie  den  Blick  auf  einen  be- 
stimmten  Raumpunkt  beften.  Die  Anspannung  des  Accommoclations- 
apparates  des  Auges  unci  des  Obres  lost  bier  die  Sinnestauscbung  aus. 
Hierauf  berubt  es,  dass  viele  Kranke,  wie  man  es  auszudriicken  pflegt, 
„willkiirlicb'^  balluciniren  konnen. 

Grosse  Wicbtigkeit  in  diagnostischer  und  prognostiscber  Beziebung 
bat  encllicb  die  Frage,  •side  weit  die  Hallucinationen  dem  augenblicklicben 
Vorstellungsinbalt  des  Kranken  entsprechen.  Keine  Hallucination  des 
Kranken  ist  eine  vollige  Neuscbopfung.  Die  Kranken  balluciniren  nur, 
was  sie  friiber  einmal  empfunclen  baben  und  was  also  in  Gestalt  von 
Erinnerungsbilclern  ocler  Vorstellungen  in  ibrer  Hirnrinde  vorbanden  ist. 
Freilicb  kommt  es  oft  genug  vor,  class  die  Kranken  Gesicbter  seben,  die 
ibnen  ganz  unbekannt  sincl,  und  Silbencombinationen  boren,  die  ibnen 
friiber  nie  vorgekommen  sincl  unci  cleren  Sinn  ibnen  selbst  ratbselbaft  ist. 
Aber  aucb  in  diesen  Fallen  ist  die  Hallucination  keine  vollige  Neu- 
schopfung,  sie  bat  nur  neue  Combinationen  partieller  Erinnerungsbilcler 
friiberer  Empfinclungen  gescbaflfen.  Die  combinatoriscbe  Tbiitigkeit,  clurcb 
welcbe  wir  aus  Brucbstiicken  von  Erinnerungsbilclern  neu  zusammen- 
gesetzte  Vorstellungen  bilden,  bezeicbnen  wir  bei  clem  Gesunden  als 
Pbantasie.  Bei  dem  Gesunden  ist  die  Pbantasie  nicbt  sinnlicb  lebbaft: 
unsere  Pbantasievorstellungen  bleiben  eben  Vorstellungen.  Bei  clem  Hallii- 
cinanten  erlangen  sie  sinnlicbe  Lebbaftigkeit  ocler,  mit  ancleren  Worten, 
werden  sie  zu  Empfinclungen.  Ebenso  wie  die  Pbantasievorstellungen 
des  Gesunden  keine  volligen  Neuscbopfungen,  sonclern  nur  neue  Combi- 
nationen alter  Erinnerungsbilcler  sincl,  so  sincl  aucb  die  Hallucinationen 
trotz  ibrer  gelegentlicben  Fremclartigkeit  in  letzter  Linie  stets  auf  Er- 
innerungsbilder  wirklicber  Empfindungen  zuruckzufubren.  Hiermit  bangt 


Die  St5rangen  der  Empflnclung. 


27 


es  auch  zusammen,  class  bei  cleu  Blindgeborenen  niemals  Visionen, 
bei  den  Tanbgeborenen  niemals  Akoasnien  anftreten,  wabrend  er- 
w or  bene  Blindheit  und  Tanbheit  Hallucinationen  keineswegs  ausscbliesst. 

Unser  Gebirn  enthalt  zabllose  Vorstellnngen  oder  Erinnerungsbilder. 
Die  meisten  derselben  sind  latent  cl.  h.  im  Augenblick  lecliglicli  als  ina- 
terielle  Spuren  obne  psychiscben  Parallelprocess  in  meiner  Hirnrinde 
vorbanden,  imd  nnr  einige  wenige  sind  im  Angenblick  actuell  vorbanden, 
namlicb  cliejenigen,  an  welcbe  icb  — wie  wir  es  popular  ausdrilcken 
im  Augenblick  gerade  denke.  Man  kann  nun  mit  Vortbeil  die  Hallnci- 
nationen  eintbeilen  in  solcbe,  welcbe  clem  jeweiligen  augenblicklicben  Be- 
wusstseinsinbalt,  also  den  actne lien  Vorstellnngen,  inbaltlicb  entspiecben, 
und  solcbe,  welcbe  zu  dem  augenblicklicben  Bewusstseinsinbalt  gar  keine 
Beziebung  baben,  sonclern  vielmebr  aus  latenten,  z.  Tb.  balbvergessenen 
Erinnerungsbilclern,  sei  es  in  alten  Combinationen,  sei  es  in  neuen  Combi- 
uationen  bervorgeben.  Wir  bezeicbnen  die  ersteren  als  vermittelte 
oder  begleitencle  Hallucinationen,  die  letzteren  als  nnvermittelte 
Hallucinationen.  Die  vermittelten  Hallucinationen  sind  meist  weniger 
sinnlicb  lebbaft,  namentlicb  weniger  bunt  nnd  scbarf  begrenzt,  resp. 
laut  nnd  cleutlicb  als  'die  unvermittelten.  Entsprecbend  dem  steten 
Wecbsel  des  Bewusstseinsinbalts  sind  sie  sebr  veranclerlicb,  wabrend  die 
unvermittelten  Hallucinationen  oft  durcb  grosse  Bestancligkeit  sicb  ans- 
zeicbnen.  Die  vermittelten  Visionen  deutet  der  Kranke  gern  dabin, 
class  „all  sein  Denken  alsbalcl  in  Scene  gesetzt  wercle^^  Die  vermittelten 
Akoasmen  bezeicbnet  er  oft  geradezu  als  eiu  „Nacbsprecben^^  oder  „Laut- 
werclen''  seiner  Geclanken.  Aucb  von  „Mitklingen“  sprecben  die  Kranken 
zuweilen.  Gerade  diese  vermittelten  Akoasmen  werden  besonclers  baufig 
in  der  eben  angegebenen  Weise  in  das  Innere  des  eigenen  Korpers,  nament- 
licb des  eigenen  Kopfes  verlegt.  Die  Klangfarbe  der  Akoasmen  ist  in  cliesen 
Fallen  meist  sebr  unbestimmt,  ziiweilen  entspricbt  sie  derjenigen  der 
eigenen  Stimme  des  Kranken,  seltener  entspricbt  sie  einer  fremden  Stimme. 

Haufig  stellen  die  vermittelten  Hallucinationen  keine  einfacbe  Wieder- 
bolung  der  augenblicklicben  Vorstellnngen  des  Kranken  clar,  sondern  sie 
steben  nnr  in  nnverkennbarer  Beziebung  zu  cleu  letzteren.  Namentlicb 
gilt  dies  von  den  Akoasmen.  Die  Stimmen  macben  Randglossen  zu  den 
Gedanken  des  Kranken.  Ein  Patient  verglicb  sie  geradezu  mit  dem 
Cbor  der  griecbiscben  Tragbdie.  In  vielen  kommt  es  zu  vollstancligem 
Frage-  und  Antwortspiel  zwischen  dem  Kranken  und  seinen  Stimmen. 
Dabei  ist  der  Kranke  zuweilen  liber  das  Treffende  der  ballucinirten  Be- 
merkungen  erstaunt.  So  kenne  icb  einen  Kranken,  der  regelmassig 
Italieniscb  trieb;  wenn  er  sicb  Vocabeln  abborte,  so  kam  es  zuweilen 
vor,  class  er  ein  Wort  nicbt  wusste  oder  falsch  sagte,  und  die  Stimme 
ibm  das  ricbtige  Wort  zurief. 


28 


Die  Storungen  der  Empfindung. 


Bei  Kranken  mit  vermittelten  Hallucinationen  lassen  sich  haufig 
auch  neue  Hallucinationen  durcli  Suggestion  (oline  Hypnose)  liervorrufen 
resp.  vorhandene  Hallucinationen  inhaltlich  beeinflussen.  Es  geniigt  zu- 
weilen,  dass  man  solclien  Kranken  einen  bestimmten  Gegenstand  zeigt 
oder  nennt  und  so  die  den  Gegenstand  entsprechende  Vorstellung  her- 
vorruft:  die  durcli  Suggestion  angeregte  Vorstellung  lost  alsbald  Halluci- 
nationen, welche  zu  dem  betreffenden  Gegenstand  in  Beziehung  stelien,  aus. 
Hierber  gehort  auch  die  sog.  „willkurliche^^  Erzeugung  einer  bestimmten 
Hallucination  durch  lebhaftes  Denken  an  die  entsprechende  Vorstellung. 

Handelt  es  sich  um  Kranke  mit  Wahnvorstellungen,  so  gestalten 
sich  etwaige  vermittelte  Hallucinationen  mit  besonderer  Vorliebe  im 
Sinne  dieser  Wahnvorstellung, 

Die  unvermittelten  Hallucinationen  sind  dem  Kranken  selbst  haufig 
iiberraschend.  Die  abliegendsten  Erinnerungsbilder  aus  friiher  Kindheit 
konnen  plotzlich  Hallucinationen  auslosen.  Die  Seltsamkeit  in  der 
Combination  partieller  Erinnerungsbilder  zu  scheinbaren  Neuschdpfungen 
versetzt  den  Kranken  mitunter  geradezu  in  Erstaunen  fiber  seinen  un- 
geahnten  Phantasiereichthum.  Bei  vielen  Kranken  kommen  fibrigens 
vermittelte  und  unvermittelte  Hallucinationen  neben  einander  vor.  Auch 
existiren  fliessende  Uebergange  zwischen  beiden. 

e.  Einfluss  der  Hallucinationen  auf  den  Ablauf  der 
I deen association.  Die  wichtigste  Frage  ist  hier,  ob  die  Hallucina- 
tion von  dem  Hallucinanten  als  wirkliche  Empfindung  acceptirt  wird 
Oder  nicht.  Es  sind  in  dieser  Hinsicht  3 Falle  zu  unterscheiden. 

1.  Der  Hallucinaut  nimmt  ffir  seine  Hallucination  einen  ausseren 
Reiz  an,  gerade  so  als  ob  sie  eine  normale  Empfindung  ware.*) 

2.  Der  Hallucinant  unterscheidet  seine  Hallucinationen  zwar  von  den 
gewohnlichen,  durch  aussere  Reize  hervorgerufenen  Empfindungeu,  misst 
ihnen  aber  doch  entscheidende  Bedeutung  zu  und  wird  in  seinen  Schlfissen 
und  Handlungen  von  denselben  beeinflusst.  Der  Hallucinant  fasst  die 
Hallucination  in  diesem  Fall  gern  als  gottliche  Offenbarung  auf. 

3.  Der  Hallucinant  ist  sich  der  subjectiven  Entstehung  seiner 
Hallucinationen  bewusst  und  zwar  erkennt  er  in  ihnen  dann  meist  richtig 
die  Erzeugnisse  einer  krankhaft  erregten  Phantasie,  zuweilen  ffihrt  er 
sie  auch  auf  Vergiftungen  zurfick,  welche  seine  vermeintlichen  Feinde  bei 
ihm  versucht  haben. 

Das  sub  1 und  2 angeffihrte  Verhalten  ist  am  haufigsten  bei  solchen 
Hallucinationen,  welche  auf  mehreren  Sinnesgebieten  gleichzeitig  auf- 
treten.  Beschranken  sich  die  Hallucinationen  auf  ein  einziges  Sinnes- 
gebiet,  so  hangt  es  von  ihrer  Intensitat,  ihrer  Haufigkeit,  ihrer  Be- 

*)  Dabei  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  der  Kranke  die  Hallucination  als  ein 
„Gaukelwerk“  oder  „Theater“  auffasst,  welches  ihm  „vorgemacht  wird“. 


Die  Storungen  der  Empfindung. 


29 


zielmng  zu  den  actuellen  Vorstellungen  ab,  ob  der  Hallucinant  der 
Tauschnng  iinterliegt  oder  nicht.  Wenu  Halliicinationen  jahrelang  be- 
steben,  so  ist  es,  auch  bei  Beschrankung  anf  ein  Sinnesgebiet,  Regel, 
dass  der  Kranke  schliesslich  die  Kritik  verliert  und  an  die  Realitat 
seiner  Halliicinationen  glaubt. 

Ist  der  Hallucinant  von  der  Realitat  seiner  Hallucinationen  liberzeugt, 
so  ist  der  Einfluss  der  letzteren  anf  sein  Denken  und  Handeln  fast 
stets  ein  iibermacbtiger.  An  sich  ware  es  ja  durcbaus  nicbt  noth- 
wendig,  dass  der  Hallucinant  z.  B.  einer  Stimme,  welcbe  ibm  zu  essen 
verbietet,  — auch  wenn  er  dieselbe  flir  wirklich  halt  inehr  glaubt 
und  gehorcht  als  dem  Hunger  und  dem  Arzt,  welch  er  ihn  zum  Essen 
auffordert,  und  doch  lehrt  eine  tausendfache  Erfahrung,  dass  der  Kranke 
in  der  Regel  der  Stimme  folgt  und  abstinirt,  d.  h.  nichts  isst.  Die  Hallu- 
cination erweist  sich  als  einflussreicher  als  alle  normalen  Empfindungen 
und  verniinftigen  Ueberlegungen  und  Zureden.  Aus  dem  Vorstellungs- 
leben  entspringt  die  Hallucination  und  die  Ideenassociation  verleugnet 
ihren  eignen  Abkommling  in  der  Regel  nicht. 

Der  Einfluss  der  Hallucinationen  auf  den  weiteren  Vorstellungsab- 
lauf  ist  in  formaler  Beziehung  sehr  verschieden.  Bald  wirken  die 
Hallucinationen  hemmend,  bald  beschleunigend  auf  denselben.  Im 
ersteren  Fall  spricht  man  von  secundarer  hallucinatorischer 
Denkhemmung  (hallucinatorischem  Stupor),  im  letzteren  von  secun- 
darer hallucinatorischer  Ideenflucht.  Bei  einformigen  schreck- 
haften  oder  religios  - ekstatischen  Hallucinationen  liberwiegt  meist  die 
Hemmung,  wahrend  massenhafte  heitere  Hallucination  im  Allgemeinen 
ofter  zu  Ideenflucht  flihren.  Doch  ist  im  einzelnen  Fall  oft  schwer  zu 
ergriinden,  weshalb  die  vorhandenen  Hallucinationen  gerade  Hemmung 
Oder  im  anderen  Fall  gerade  Beschleunigung  des  Yorstellungsablaufes 
bedingen.  Wenn  sich  die  Hallucinationen  sehr  haufen  und  zugleich 
untereinander  des  Zusammenhangs  entbehren,  so  wu’ken  sie  auch  storend 
auf  den  Zusammenhang  des  Vorstellungsablaufs  und  bedingen  eine  vol- 
lige  Verwirrtheit  der  Ideenassociation,  welche  sich  namentlich  in  ver- 
wirrten  Reden  aussert  und  uns  spater  als  secundare  hallucinatorische 
Incoharenz  eingehender  beschaftigen  wird.  Der  Kranke  ist  eben  nicht 
mehr  im  Stande  die  zahlreichen  zusammenhangslosen  Vorstellungen, 
welche  die  massenhaften  und  unter  sich  disparaten  Hallucinationen  an- 
regen,  zu  einer  geordneten  Vorstellungsreihe  zusammenzufiigen.  Mit 
dieser  hallucinatorischen  Incoharenz  verbindet  sich  in  der  Regel  auch 
secundare  d.  h.  durch  Hallucinationen  bedingte  Unorientirtheit.  Das 
hallucinatorische  Erscheinen  weit  wegwohnender  Personen  und  entfernter 
Landschaften  stort  seine  zeitliche  und  raumliche  Orientirung:  er  glaubt 
in  andrer  Zeit  und  an  anderem  Orte  zu  leben. 


30 


Die  StOrungen  cler  Empfindung. 


Endlich  beclingt  die  Hallucination  haufig  direct  i n h a 1 1 1 i c h e 
btorungen  des  Denkens,  d.  h.  Wahnideen.  Eine  Stimine  ruft  z.  Ik  deni 
Kranken  direct  zii:  ^,Du  bist  Cliristus^',  und  fortan  ist  der  Kranke  fest 
von  seiner  Messiaswiirde  iiberzeugt:  er  ist  durcli  seine  Hallucination  zu 
einer  Grossenidee  gekommen.  Diese  secundaren  bal lucinatorischen 
Wabnvorstellungen  werden  spater  noch ausfiihrlicher  zu  besprecben  sein. 

Aehnlich  gestalten  sich  auch  die  Handlungen  des  Hallucinanten 
je  nacli  dem  lulialt  der  Hallucination  unendlicli  verscbieden.  Zunacbst 
malt  sich  die  Hallucination  im  Gesichtsausdruck  des  Kranken.  Das  ge- 
spannte  Hinliorchen  oder  plotzliche  Aufhorchen  des  Einen  verriith  die 
Anwesenheit  von  Akoasmen.  Der  Gesicbtshallucinant  starrt  meist  in  das 
Deere,  sein  Blick  wandert  bin  und  her,  ohne  dass  ein  merklicher  Gegen- 
stand  sich  bewegt.  Oft  beobachtet  man  auch  ganz  charakteristische  Ab- 
wehrbewegungen,  durch  welche  der  Hallucinant  unangenehme  Halluci- 
nationen  abzuwehren  sucht.  Der  Visional-  schliesst  die  Augen  und  wendet 
den  Kopf  ab,  der  Gehorshallucinant  halt  sich  die  Ohren  zu  oder  ver- 
kriecht  sich  unter  die  Decke  oder  stopft  Watte  in  die  Ohren  und  in 
die  Schliissellbcher.  Der  Geschmackshallucinant  speit  aus  oder  riihrt 
die  ihm  vorgesetzten  Speisen  garnicht  an.  Der  Geruchshallucinant  halt 
sich  die  Nase  zu  oder  er  schlagt  plotzlich  ein  Fenster  ein,  um  durch 
frische  Luft  sich  von  dem  hallucinatorischen  Qualm  und  Dunst  zu  be- 
freien  etc.  Veriveigert  der  Kranke  Auskunft,  so  kann  man  haufig  erst 
nachtraglich,  d.  h.  nach  Genesung  des  Kranken,  diese  Abwehrbewegungen 
richtig  deuten  lernen.  So  kannte  ich  einen  Kranken,  der  fortwahrend 
niit  seinem  Kopf  die  eigenthiimlichsten  drehenden  Bewegungen  ausfiihrte. 
Wahrend  des  Krankheitsverlaufes  war  eine  Auskunft  fiber  die  Motive 
zu  dieser  Bewegung  nicht  zu  erhalten.  Genesen  gab  der  Kranke  an, 
dass  er  fortwahrend  einen  Galgen  fiber  sich  gesehen  und  eine  Schlinge 
um  seinen  Hals  geffihlt  habe  und  durch  die  Kopf  bewegung  den  Hals 
aus  der  Schlinge  zu  ziehen  versucht  habe.  — Ganz  besonders  bedeutend 
ist  auch  der  Einfluss  der  hallucinirten  Bewegungsempfindungen  auf  die  Be- 
wegungen des  Kranken.  Eine  hallucinatorische  Bewegungsempfindung  kann 
in  doppelter  Weise  wirken:  entweder  versucht  der  Hallucinant  durch 
eine  gegensinnige  oder,  wie  wir  sagen  wollen,  compensatorische  Bewegung, 
die  vermeintliche,  hallucinirte  Bewegung  wieder  auszugleichen,  oder  die 
hallucinirte  Bewegungsempfindung  veranlasst  ihn  die  vermeintliche,  hallu- 
cinirte Bewegung  auch  wirklich  auszuffihren.  Hat  z.  B.  der  Kranke  die 
Hallucination,  dass  sein  Kopf  plotzlich  nach  rechts  gedreht  werde,  so  wird 
er  entweder  durch  eine  energische  daiiernde  oder  auch  bfter  ruckweise 
wiederholte  Links drehung  des  Kopfes  die  vermeintliche  Rechtsdrehung 
zu  compensiren  suchen,  oder  die  hallucinirte  Bewegungsempfindung  wird 
umgekehrt  gerade  Veranlassung  zu  einer  Rechtsdrehung  des  Kopfes. 


Die  StOrungen  tier  Empfindung. 


31 


Warum  in  dem  eineu  Fall  cliese,  in  clem  anclern  jene  motorisclie  Reaction 
stattfindet,  liisst  sich  oft  garniclit  nachweisen.  Man  bezeiclinet  diese  eigen- 
thlimliclien  Bewegungen  auch  als  „balliicinatorisclie  Zwangsbewegungen". 
Einen  Specialfall  derselben  stellt  das  „balliicinatoriscbe  Zwangssprecben'' 
dar:  bier  veranlassen  die  oben  erwabnten  ballncinirten  Bewegungsem- 
pfindungen  im  Gebiet  der  Spracbmuskulatur  den  Kranken  zum  Aus- 
sprecben  der  Worte,  deren  zugeborige  Muskelcontractionen  der  Kranke 
zu  empfinden  glaubt.  In  anderen  Fallen  sucbt  der  Kranke  dnrcb  be- 
stimmte  Stellungen  den  ballncinirten  Bewegungen  entgegenzuwirken : 
man  bezeiclinet  dieselben  als  ballucinatoriscbe  Zwangsstellungen.  Da  die 
Hallucinationen,  welcbe  solcbe  Zwangsbewegungen  und  Zwangsstellungen 
veranlassen,  oft  stunden-  und  tagelang  sicb  in  namlicber  Weise  wieder- 
bolen,  so  wiederbolen  solcbe  Kranke  aucb  ibre  Zwangsbewegungen  oft 
stunden-  oder  tagelang  und  verbarren  fortwabrend  in  gewissen  Zwangs- 
stellungen. Solcbe  stereotypen  ballucinatoriscben  Zwangsbewegungen  und 
Zwangsstellungen  bezeicbnet  man  aucb  als  katatoniscbe. 

Abgeseben  von  den  bis  jetzt  betracbteten  Bewegungen  des  Auf- 
merkens  und  Abwehrens  losen  die  Hallucinationen  aucb  zablreicbe  com- 
plicirtere  Handlungen  aus.  Am  einflussreicbsten  sind  in  dieser  Hinsicbt 
die  sog.  imperativen  Hallucinationen,  d.  b.  Stimmen,  welcbe  dem 
Kranken  diese  oder  jene  Handlung  befeblen.  Der  eine  kniet  auf  Befebl 
der  Stimme  nieder,  der  andere  steckt  ein  Hans  an,  ein  dritter  verstlimmelt 
sich  selbst  u.  s.  f.  In  anderen  Fallen  liben  die  Hallucinationen  eine 
motoriscbe  Hemmung  aus.  So  verbarren  Kranke  z.  B.  wocbenlang  in 
regungsloser  Riickenlage,  weil  eine  Stimme  ibnen  den  Tod  drobt,  sobald 
sie  sicb  regen.  Icb  kannte  eine  Kranke,  welcbe  iiber  einen  Monat  lang 
den  ganzen  Tag  regungslos  auf  einem  Fleck  stand:  der  Speicbel  floss 
ibr  aus  den  offenen  Mundwinkeln,  Urin  imd  Kotb  Hess  sie  unter  sicb 
geben.  Spater  wurde  festgestellt,  class  sie  rings  zu  ibren  Flissen  Ab- 
griinde  sab  und  desbalb  sicb  nicbt  von  der  Stelle  riibrte.  Ausser  scbreck- 
baften  Visionen  konnen  aucb  gelegentlicb  pracbtige  Visionen  (namentlich 
religiosen  Inbalts)  zu  motoriscber  Hemmung  fiibren.  So  beobacbtet  man 
Kranke,  welcbe  den  Himmel  often,  Gott  umgeben  von  den  Engeln  und 
Cbristus  am  Kreuz  seben  und  in  diesen  Anblick  versunken  tagelang  kein 
Glied  riibren.  Man  bezeicbnet  solcbe  Hallucinationen  als  fascinirencle. 
Sind  die  Hallucinationen  zablreich,  sebr  wecbselnd  und  von  starken, 
namentlich  positiven  Gefiiblstonen  begleitet,  so  iiberwiegt  meist  der  be- 
scbleunigende  Einfluss  auf  die  motoriscben  Innervationen : es  kommt  zu 
der  sog.  ballucinatoriscben  Agitation,  welcbe  sicb  baufig  zu  aus- 
gesprocbener  Tobsucbt  steigert. 

f.  Tbeorie  des  Sitzes  und  der  Entstebung  der  Hallu- 
cinationen. Die  pbysiologiscbe  Psycbologie  lebrt,  class  alle  Empfln- 


32 


Die  Storungen  der  Empfindung. 


clungen  in  cler  Hirnrinde  stattfinden , d.  h,  in  dieser  ibre  inaterielleu 
Parallelvorgange  haben,  die  Gesichtsempfindungen  in  der  Sehsphare  des 
Occipitallappens,  die  Geborsempfindungen  in  der  Horspbare  des  Tem- 
porallappens  u.  s.  f.  Wir  miissen  daber  annebmen , dass  aucli  die 
patliologiscben  Emjrfindungen , die  Hallncinationen,  ebenda  ibren  Sitz 
haben,  die  Visionen  in  der  Sehspbare,  die  Akoasmen  in  der  Horspbare 
ii.  s.  f,  Alle  Hallncinationen  sind  also,  was  ibre  Localisation  anlangt, 
cortical.*)  Eine  andere  Frage  ist,  wo  her  die  hallucinatorischen  Er- 
regungen  stammen.  Scbon  aus  friiberen  Auseinandersetzungen  ergiebt 
sicb,  dass  die  Hallncinationen  ibren  Ursprnng  in  erster  Linie  ans  nnseren 
Erinnernngsbildern  oder  Vorstellnngen  nebmen.  Der  Anscbanlicbkeit  wegen 
legen  wir  wieder  das  bypothetiscbe  Schema  zn  Grnnde,  welches  wir  in 


3. 

der  Einleitnng  anfstellten  (vgl.  Fig.  3).  Normaler  Weise  erzengt  ein 
Reiz  R in  der  corticalen  Empfindnngszelle  E eine  Empfindnng,  nnd  von 
dieser  Empfindnng  bleibt  in  der  Erinnernngszelle  V ein  Erinnernngsbild 
oder  eine  Vorstellnng  znriick.  Normaler  Weise  nimmt  also  die  Erregnng 
stets  den  Weg  REV.  Bei  der  Hallucination  kebrt  sicb  dieser  Verlanf 
nm.  Das  in  V niedergelegte  Erinnernngsbild,  die  Vorstellnng,  versetzt 
E in  Erregnng  nnd  erzengt  bier  die  zngebbrige  Empfindnng,  d.  b.  — 
da  ein  R feblt  — eine  Hallncination.  Dabei  ist  das  Erinnernngsbild 
in  V bald  ein  latentes,  bald  ein  actnelles,  d.  b.  bald  liegt  der  Hallncina- 
tion eine  Vorstellnng  zn  Grnnde,  die  im  Angenblicke  gar  nicbt  in 
nnserem  Bewnsstseinsinbalt  enthalten  ist,  bald  eine  Vorstellnng,  an  die 
wir  im  Angenblick  gerade  wirklicb  denken.  Wir  nnterscbieden  biernacb 
scbon  oben  nnvermittelte  nnd  vermittelte  Hallncinationen.  In  Hinblick 
anf  nnsere  Fignr  kann  man  geradezn  von  einem  abnormen  centri- 
fugal en  Verlanf  der  Erregnng  von  den  Erinnernngszellen  zn  den 
Empfindnngszellen  sprecben.  Hierin  liegt  der  wesentlicbe  patbologiscbe 
Vorgang  bei  jeder  Hallncination.  Bei  vielen  Hallncinationen  kommt 
jedoch  noch  ein  zweites  Moment  binzn.  Es  lasst  sicb  namlicb  oft 
nacbweisen,  dass  R,  also  ein  anf  die  Empfindnngszellen  wirkender  Reiz, 
nicbt  vollstiindig  feblt.  So  scbeint  ja  z.  B.  fiir  die  Visionen  des  Alko- 
bolisten,  der  allentbalben  Bienen  in  seiner  Stnbe  nmberfliegen  siebt,  zn- 
niicbst  R vollig  zn  feblen.  Ein  ansserer  Reiz  in  dem  gewobnlicben 
Sinne  feblt  in  der  That  ancb,  bingegen  lebrt  genanere  Untersncbnng, 
dass  anf  dem  Weg  vom  Sinnesorgan  bis  zn  der  Hirnrinde  Reize  docb 

*)  Die  altere  Theorie  Schroecler  van  der  Kollcfi,  Meynerts  n.  a.  nalmi  an,  dass 
die  Hallncinationen  infracortical  (in  den  Vierhiigeln  etc.)  auftreten. 


Die  Stoningen  der  Enipfindung. 


33 


vorlianden  siud.  Namentlich  im  Sinnesorgan  selbst  finden  sich  solche 
Reize  recht  liiiufig:  hierher  gelioren  z.  B.  die  Glaskorpertriibimgen  des 
Aiiges  iind  die  chrouiscli-eutziindlichen  Processe  des  Mittelobrs.  Solche 
eutoptische  uud  entotische  Reize  werden  ausserhalb  der  Psychose  als 
solche  empfimden,  d.  h.  die  Glaskorpertriibungen  als  Mouches  volantes, 
die  Reizvorgauge  ia  der  Paiikenhohle  — nach  dein  Gesetz  voii  der 
specifischen  Euergie  — als  einfache  subjective  Gerausche,  Sausen, 
Kliugeu  etc.  Sobald  eine  Psychose  ausbricht,  werden  aus  diesen 
Mouches  volantes  umherschwirrende  Bienen , aus  den  einfachen  Ge- 
rauschen  hallucinatorische  Worte.  Der  Nachweis,  dass  in  vielen  Fallen 
den  Hallucinationen  solche  entotische  und  eutoptische  Reize  zu  Grunde 
liegen,  liegt  darin,  dass  sich  im  Krankheitsverlauf  der  allmahhche 
Uebergang  der  einfachen  subjectiven  Gerausche  in  Stimmen  etc.  und 
spater  bei  Abnahme  der  Krankheit  die  Rlickbildung  der  Stimmen  zu 
Gerauschen  verfolgen  lasst.  Auch  sind  Falle  bekannt,  in  welchen  die 
Beseitiguug  eiues  Paukenhohlenkatarrhs  das  Verschwinden  der  Hallu- 
cinationen zur  Folge  hatte.  Fndlich  erklaren  sich  so  auch  die  einseitigen 
Hallucinationen,  welche  man  gelegentlich  beobachtet:  es  handelt  sich 
hier  um  Kranke,  welche  ihre  Stimmen  nur  auf  einem  Ohr  horen  und 
ihre  Visionen  nur  auf  einem  Auge  sehen;*)  einer  genauen  Untersuchung 
gelingt  es  hier  meist,  periphere  Erkrankungen  in  demjenigen  Ohr  resp. 
Auge  nachzuweisen , welches  Sitz  der  Hallucinationen  ist.  Aehnliches 
hat  man  auch  auf  alien  anderen  Siunesgebieten  nachzuweisen  vermocht. 
Zuweilen  ist  die  Reizquelle  auch  nicht  im  Sinnesorgan,  sondern  centraler 
zu  suchen.  So  liefert  Atrophie  des  Sehnerven,  Gehoruerven  uud  Riech- 
nerven,  weit  entfernt  Hallucinationen  auszuschliessen,  geradezu  mitunter 
das  nothwendige  Reizmaterial  fiir  die  Entstehung  von  Hallucinationen. 
Auch  bei  multipler  Neuritis  hat  man  Aehnliches  beobachtet. 

Je'mehr  man  sich  daran  gewohnt,  bei  jedem  Hallucinanten  genau 
die  peripheren  Sinuesorgane  zu  untersuchen,  um  so  ofter  gelingt  es, 
periphere  Reizquellen  fiir  die  Hallucinationen  zu  entdecken.  Plait  man 
sich  streng  an  die  anfanglich  gegebene  Definition  der  Hallucination, 
wonach  absolutes  Fehlen  jvcdes  Reizes  gefordert  wird,  so  waren  offenbar 
alle  die  eben  betrachteten  Falle,  insofern  bei  denselben  ein  Reiz  doch 
nachzuweisen  ist,  den  spater  zu  besprechenden  Illusionen  zuzurechnen. 
Aus  praktischen  Grilnden  thut  man  dies  nicht.  Wollte  man  die  Defi- 
nition streng  aufrecht  erhalteu,  so  miisste  man  — bei  der  Schwierigkeit 
des  Nachweises  einer  Erkraukung  der  peripheren  Sinuesorgane  bei 
Geisteskranken  — in  sehr  vielen  Fallen  die  Entscheidung,  ob  Hallu- 

*)  Die  Einseitigkeit  lasst  sich  namentlich  dann  hequem  nachweisen,  wenn  mit 
, dem  Schluss  des  einen  Auges  (namlich  des  erkrankten)  die  Hallucinationen  schwinden, 
wahrend  Schluss  des  anderen  Auges  sie  unbeeinflusst  lasst. 

Ziehen,  Psychiatrie.  3 


34 


Dio  Stfirungen  dor  Erapfindung. 


cination  oder  Illusion,  in  suspense  lassen  und  auf  jede  Bezeichnung 
verzicliten.  Man  hat  sich  daher  gewohnt,  alle  obigen  Falle  noch  zu  den 
Hallucinationen  zu  rechnen  und  dementsprecliend  in  der  Definition  der 
letzteren  nur  die  Abwesenlieit  ausserer  Beize  zu  fordern.  In  der 
kiinftigen  Darlegung  soli  das  Wort  „ Hallucination^^  stets  in  diesem 
weiteren  Sinne  gebrauebt  werden.  Man  muss  sicb  dabei  nur  gegen- 
wiirtig  balten,  dass  von  den  Hallucinationen  in  diesem  weiteren  Sinn 
ein  grosser  Tbeil  durcb  inner balb  der  Kdrperoberflacbe  gelegene  Reize 
gespeist  vdrd.  Man  kann  dies  im  Hinblick  auf  das  oben  gegebene 
Schema  aucb  folgendermaassen  ausdriicken:  bei  jeder  Hallucination  ver- 
setzt  ein  krankbafter  Erregungsprocess  in  den  Erinnerungszellen  die 
Empfindungszellen  in  Erregung  und  erzeugt  so  die  Hallucination;  er- 
leicbtert  wird  in  vielen  Fallen  diese  centrifugale  Erregung  der  Empfin- 
dungszellen, wenn  diese  sicb  sebon  so  wie  so  durcb  centripetale  Reize 
(entoptisebe,  entotisebe)  in  einem  gewissen  Erregungszustand  befinden. 

g.  Diagnose  der  Hallucinationen.  Der  gewobnlicbste  An- 
lass  fiir  den  Arzt,  bei  einem  Kranken  eine  Hallucination  anzunebmen,  ist 
der,  dass  der  Kranke  fiber  eine  Sinnesempfindung , fiir  welcbe  aller 
Wabrscbeinlicbkeit  nach  jeder  aussere  Reiz  gefehlt  bat,  beriebtet.  Diese 
Anuabme  bedarf  jedocb  stets  einer  genauen  Prfifung.  Es  kann  namlicb 
falscblicb  eine  Hallucination  angenommen  werden  in  Folge  der  nacb- 
stebenden  Verwecbslungen: 

1 . mit  wirklicben  Empfindungen : das  Sebimpfwort , welches  der 
Kranke  gebort  zu  baben  angiebt,  der  Seblag,  den  er  geffiblt  zu  baben 
angiebt,  ist  wirklich  gefallen; 

2.  mit  Traumen:  der  Kranke  verwecbselt  ab  und  zu  die  Erlebnisse 
des  Scblafes  mit  denen  des  Wacbens; 

3.  mit  Illusionen : es  ist  tbatsachlicb  gesproeben  worden , ein  R 
war  vorbanden,  aber  der  Kranke  bat  die  Worte  anders  gebort,'  als  sie 
gesproeben  wurden,  er  bat  das  E transformirt ; 

4.  mit  sog.  wahnbaften  Auslegungen:  der  Kranke  bat  ein  that- 
sachlicb  vorhandenes  R richtig  d.  b.  obne  Transformation  empfunden, 
aber  an  diese  normale  Empfindung  ganz  falsche  Vorstellungen  gekniipft.  *) 

Ueber  die  Natur  dieser  versebiedenen  Verwecbslungen  giebt  z.  B. 
folgender  Fall  Auskunft.  Eine  Kranke  beriebtet  dem  Arzt,  sie  babe 
in  der  letzten  Nacbt  ibre  Kinder  sebreien  boren.  Auf  diese  Aeusserung 

*)  Eine  5.  seltenere  Verwechslung,  namlich  mit  den  sog.  Erinnerungstauschungen, 
wird  weiter  imten  bei  den  Storungen  des  Denkens  Erwabnnng  finden.  In  gericht- 
lichen  Fallen  kommt  weiterbin  ab  und  zu  aucb  die  Simulation  von  Hallucinationen 
in  Frage.  Aucb  kommt  endlich  gelegentlich  in  Betracbt,  dass  gewisse  Kranke  Hallu- 
cinationen simuliren,  um  sich  interessant  zu  machen  oder,  wie  mir  eine  Kranke  sagte, 
dom  Arzt  etwas  „vorzumacben“. 


Dio  StiSrungen  dor  Empiindiing. 


35 


liin  sofort  eine  Hallucination  anzimeliinen  ware  ganz  falsch.  Vielraelir 
wil’d  man  sicli  zunachst  vergewissern,  ob  nicht  die  Kinder  der  Frau 
wirklicb  nebeuan  gescbrieen  liaben.  Wir  nehmen  an,  dass  dies  auszu- 
scliliessen  ist.  Nun  wird  man  feststellen,  ob  die  Kranke  nicht  zu  der 
Zeit,  wo  sie  die  Stimmen  gehort  haben  will,  vielleicht  geschlafen  hat 
und  dem  Arzt  als  Empfindung  im  Wachen  berichtet,  was  sie  thatsachlich 
getraumt  hat.  Ist  auch  dies  auszuschliessen,  so  wird  man  feststellen 
miissen,  ob  zu  der  fraglichen  Zeit  nicht  vielleicht  irgend  ein  anderer 
Larin  (ein  R)  war,  den  die  Kranke  in  entstellter  Weise  als  Geschrei 
ihrer  Kinder  empfunden  hat  (—  Illusion).  Endlich  ist  zugleich  die 
Moglichkeit  zu  beriicksichtigen , dass  sogar  wirklich  Kindergeschrei  in 
der  Nacht  horbar  war,  also  die  Empfindung  der  Kranken  sogar  dem 
ausseren  Reiz  vollig  entsprach,  und  dass  die  Kranke  das  Geschrei  nur 
falschlich  als  dasjenige  ihrer  Kinder,  welche  thatsachlich  abwesend  sind, 
deutete  (=  wahnhafte  Auslegung).  Erst  wenn  man  alle  diese  Moglich- 
keiten  durch  Verhor  der  Angehdrigen  resp.  des  Wartepersonals  und 
Befragen  der  Kranken  selbst  ausgeschlossen  hat,  ist  man  berechtigt,  eine 
Hallucination  anzunehmen.  Namentlich  in  dem  gerauschvolleren  Leben 
einer  Anstalt  soil  man  mit  der  vorschnellen  Annahme  von  Hallucinationen 
vorsichtig  sein. 

Mindestens  ebenso  gross,  wenn  nicht  grosser  ist  andererseits  die 
Gefahr,  Hallucinationen  zu  iibersehen.  In  dieser  Hinsicht  kommt 
speciell  in  Betracht , dass  viele  hallucinirende  Geisteskranke  dissi- 
muliren  d.  h.  in  dem  Bewusstsein,  dass  die  Hallucinationen  krank- 
haft  sind  oder  — bfter  — in  dem  Bewusstsein,  dass  die  Hallucinationen 
fiir  krankhaft  gehalten  werden  kbnnten,  in  Abrede  stellen  zu  hallu- 
ciniren.  In  solchen  Fallen  ist  der  Arzt  auf  Schliisse  aus  dem  Gesichts- 
ausdruck  und  den  Handlungen  der  Kranken  angewiesen  (s.  o.).  Die- 
selben  Schwierigkeiten  liegen  vor  bei  Kranken,  welche  so  verwirrt  sind, 
dass  sie  liber  ihre  inneren  Vorgange  keine  klare  Auskunft  geben 
konnen.  Bei  dissimulationsverdachtigen  Kranken  ist  es  oft  auch  zweck- 
massig,  die  Kranken  zu  Niederschriften  aufzufordern  und  bei  Mitkranken 
iiber  etwaige  Aeusserungen  sich  zu  erkundigen.  Dem  Papier  und  an- 
deren  Kranken  vertrauen  Dissimulirende  ihre  Hallucinationen  oft  lieber 
an  als  dem  Arzt  und  dem  Warter. 

h.  Das  Vorkommen  der  Hallucinationen.  Bei  dem  Geistes- 
gesunden,  d.  h.  ohne  irgendwelche  andere  psychopathische  Symptome 
kommen  Hallucinationen  sehr  selten  vor.  Meist  ist  die  Hallucination 
die  Theilerscheinung  einer  Psychose  und  auch  in  den  seltenen  Fallen, 
wo  anderweitige  psychische  Krankheitserscheinungen  fehlen,  ist  sie  stets 
als  krankhaft  anzusehen.  In  den  Beispielen,  welche  man  flir  das  Vor- 
kommen von  Hallucinationen  bei  grossen  Mannern  der  Geschichte  an- 

3* 


36 


Die  SWrungen  der  Empfiiidung. 


fiilirt,  liauclelt  es  sicli  zumeist  urn  Illusionen,  Zielit  man  alle  der- 
artige  Fiille  als  nicht  liierher  gehorig  ab,  so  bleibt  nur  ein  Fall  iibrig, 
in  welcbem  Hallucinationen  mitunter  als  einziges  Krankheitssymptom 
auftreten:  es  ist  dies  das  Auftreten  von  Hallucinationen  bei  psychopatbisch- 
belasteten,  aber  selbst  sonst  nicbt  psycbopatliisclien  Individuen  nach 
scbweren  korpeidicben  oder  geistigen  Ueberanstrengungen  sowie  bei 
heftigen  Affecten.  Namentlicb  im  Kindesalter  kann  man  ab  und  zu 
unter  solchen  Umstanden  unzweifelhafte  Hallucinationen  obne  jede  andere 
Krankbeitserscbeinung  beobacliten. 

Besonders  sind  aucb  die  sog.  bypnagogiscben  Hallucinationen 
zu  erwalinen,  welche  bei  gescblossenen  Augen  aucb  bei  dem  Gesunden 
ziemlich  baufig  — namentlicb  vor  dem  Einscblafen  — auftreten.  Meist 
bandelt  es  sicb  um  verscbwommene  farblose  Gesicbter,  seltener  um  ganze 
Figuren  und  Landscbaften.  Bei  der  Entstebung  derselben  ist  unzweifel- 
baft  das  sog.  Eigenlicbt  der  Ketina  betbeiligt. 

Unendlicb  viel  baufiger  treten  die  Hallucinationen  zusammen  mit 
andern  psycbopatbiscben  Erscbeinungen  auf  und  zwar  sind  es  ganz  be- 
stimmte  atiologiscbe  Momente,  welcbe  besonders  baufig  neben  andereu 
psycbopatbiscben  Symptomen  Hallucinationen  zeitigen.  Am  wicbtigsten 
sind  unter  diesen: 

1.  Die  Intoxicationen  und  zwar  namentlicb,  aber  nicbt  aus- 
scbliesslicb  die  acuten  Intoxicationen.  So  ist  es  bekannt,  dass  Opium, 
Belladonna,  Datura,  Hyoscyamus,'  Hascbiscb  und  ibre  Alcaloide  besonders 
baufig  Hallucinationen  erzeugen,  speciell  bei  psycbopatbiscb  veranlagteu 
Individuen.  Regelmassig  findet  man  in  diesen  Fallen  aucb  Stdrungeu 
der  Ideenassociation.  Der  Alcohol  fiibrt  namentlicb  bei  cbroniscbem 
Missbraucb  zu  Hallucinationen  und  zwar  bald  zu  vereinzelten  (sensuum 
fallacia  ebriosa)  nacb  eiuem  besonders  starken  Alcobolexcess,  bald  zu  ge- 
bauften  und  langer  anbaltenden  bei  plotzlicber  Entziebung  des  gewobnten 
Alcobolquantums.  Unter  den  Metallgiften  ist  es  namentlicb  das  Blei, 
Welches  bei  cbroniscbem  Missbraucb  ofter  Hallucinationen  bervorruft. 

2.  Fieberzustande.  Aucb  bei  diesen  kommt  psycbopatbiscbe 
Veranlagung  meist  als  pradisponirendes  Moment  hinzu.  In  vielen  Fallen 
scbeint  der  die  Hallucinationen  (die  sog.  Fieberdelbien)  erzeugende  Factor 
weniger  die  Temperatursteigerung  selbst  als  die  infectidse  Vergiftung  zu 
sein.  Wenigstens  sind  diese  Fieberdelirien  bei  den  fieberbaften  Infec- 
tion s krankheiten  weitaus  am  haufigsten. 

3.  Ernabrungstor ungen,  wie  sie  nacb  scbwerem  Blutverlust 
(z.  B.  bei  Entbindungen),  bei  Inanition  etc.  auftreten.  Socbe  kacbektiscben 
Hallucinationen  beobachtet  man  namentlicb  aucb  nacb  fieberbaften  Er- 
krankungen  als  Folgenerscbeinung  der  von  langerem  Fieber  bervorge- 
rufenen  Ernabrungsstdrung  (Empyem,  Tuberkulose  u.  a.  m.). 


Die  Sterungeii  der  Empfiiidimg. 


37 


4.  Calorisclie  Scliadlichkeiten. 

5.  Eiuige  Neurosen,  so  Hysterie,  Chorea  iind  namentlich 
Epilepsie.  Bei  letzterer  findet  man  Hallucinationen  haufig  auch  als 
Aiirasymptom , d.  h.  dem  Krampfanfall  geht  eine  Hallucination  un- 
mittelbar  voraus.  Die  epileptischen  Hallucinationen  sind  meist  durch 
schreckhaften  oder  religiosen  Inhalt  und  duich  grosse  Lebhaftigkeit 
(hunte  Gestalten,  laute  Stimmen)  ausgezeichnet.  Treten  bei  Epilepti- 
schen Oder  Hysterischen  die  Hallucinationen  wahrend  langerer  Zeit  auf, 
so  beobachtet  man  oft,  dass  die  aufeinander  folgenden  Hallucinationen 
nach  Art  eines  Traumes  ein  zusammenhangendes  hallucinatorisches  Er- 
lebniss  darstellen;  man  spricht  in  solchem  Fall  von  hallucinatorischen 
Dammerzustanden. 

Sieht  man  von  diesen  atiologischen  Momenten  ab  und  geht  man  mm 
von  dem  psychopathischen  klinischen  Bild  der  Psychose  aus,  so  ergiebt 
sich,  dass  manche  Psychosen  Hallucinationen  zu  ihren  Hauptsymptomen 
zahlen,  so  namentlich  die  sog.  hallucinatorischeForm  der  Paranoia,  wahrend 
andere  Psychosen,  wie  Manie  und  Melancholie,  mehr  ausnahmsweise 
Hallucinationen  zeigen.  Endlich  giebt  es  Psychosen  wie  die  Dementia 
paralytica  und  Dementia  senilis,  die  sehr  haufig  Hallucinationen  zeigen, 
ohne  dass  man  doch  dieselben  als  charakteristisches  Symptom  der 
Psychose  bezeichnen  konnte.  — Acute  und  chronische  Psychosen  zeigen 
Hallucinationen  ganz  gleichmassig,  nur  pflegen  im  Allgemeinen  Visionen 
bei  acuten  Psychosen  haufiger  zu  sein,  als  bei  chronischen  Psychosen. 

3.  Illusionen. 

Bei  der  Illusion*)  ist  der  oben  gegebenen  Definition  entsprechend 
stets  ein  ausserer  Reiz  R vorhanden.  Das  Krankhafte  besteht  darin, 
dass  die  Empfindung  E diesem  ausseren  Reiz  nur  theilweise  entspricht. 
E ist  transformirt  oder  wie  man  auch  sagen  kann,  der  Kranke  hallucinirt 
etwas  in  die  normale  Empfindung  hinein.  So  sieht  der  Kranke  z.  B.  ein 
Portrait,  welches  wirklich  vorhanden  ist,  dabei  sieht  er  aber,  wie  das  Bild 
ihm  die  Zunge  herausstreckt,  oder  ein  anderer  Kranker  hort  aus  dem 
Knarren  der  Rader  eines  thatsachlich  vorliberfahrenden  Wagens  Schimpf- 
worte  heraus.  Die  pathologische  Transformation  der  Empfindung,  das  Hin- 
einhalluciniren  oder  Hinzuhalluciniren,  liegt  in  beiden  Fallen  auf  der  Hand, 

Die  Gesichtsillusionen  zeigen  bald  eine  Transformation  der  Form 
bald  der  Farbe.  Nicht  selten  sind  auch  Form-  und  Farbenempfindung 
verandert.  Mitunter  erscheinen  dem  Kranken  nur  solche  Gegenstande 
verandert,  deren  undeutliche  Umrisse  eine  illusionare  Transformation 

*)  Weil  das  Wort  „Illusion“  noch  eine  populare  Nebenbedeutung  hat,  hat  Kabl- 
baum  fur  die  Illusion  im  psychiatrischen  Sinne  das  Wort  Pareidolie  vorgescblagen, 


38 


Die  StOrungen  der  Erapfindung. 


begiinstigen,  Dalier  die  Haufigkeit  von  Illusionen  im  Halbdunkel  oder 
im  Scliein  eines  flackernden , bewegliclie  Scbatten  werfenden  Lichtes. 
Audi  die  thatsadilidie  Aelinliclikeit  eines  wirklidien  Gegenstandes  mit 
einem  friiber  gesebenen  kann  dazu  fiiliren,  dass  ersterer  in  der  Em- 
pfindung  des  Ivranken  so  transformirt  wird,  dass  aus  der  Aehnlidikeit 
eine  Gleidilieit  wird.  In  anderen  Fallen  erscheinen  den  Kranken  alle 
Gegenstande  trotz  sdiarfster  Umrisse  iind  ganz  iinabbangig  von  zufalligen 
Aebnlichkeiten  verandert.  Besonders  hiiiifig  sehen  die  Kranken  die  Ge- 
siditer  der  Personen  ibrer  Umgebung  in  andere  verwandelt  oder  entstellt 
(bobniscbe  Grimassen,  Leicbenblasse  etc.).  Diese  Illusionen  sind  zuweilen 
sell!’  bartniickig,  zuweilen  wecbseln  sie  fortwabrend.  In  scbweren  Fallen 
ist  das  ganze  Gesicbtsfeld  illusionar  entstellt.  Allentbalben  sind  die 
Umrisse  der  wirklicben  Gegenstande  zu  allerband  Figuren  verzerrt. 
Dabei  ist  oft  eine  scbarfe  Grenze  zwiscben  illusionarer  Transformation 
und  ballucinatoriscber  Zutbat  nicbt  zu  zieben. 

Eine  besondere  Gattung  der  Gesicbtsillusionen  ist  dadurcb  ausge- 
zeicbnet,  dass  die  Objecte  im  Baum  dem  Patienten  samtlicb  oder  tbeil- 
weise  erbeblicb  vergrossert  oder  verkleinert  erscbeinen.  Namentlicb  bei 
Epileptikern  beobacbtet  man  ofter  solcbe  Gesicbtsillusionen.  Dabei 
ist  jedocb  in  Betracbt  zu  zieben,  dass  das  Verzerrtseben,  Grosserseben 
und  Kleinerseben,  wenn  es  sicb  auf  alle  Objecte  des  Gesicbtsfeldes  be- 
ziebt,  sebr  baufig  aucb  auf  opbtbalmologiscben  Erkrankungen  berubt. 
So  wissen  wir,  dass  Verzerrtseben  bei  Astigmatismus  und  Netzbauter- 
krankungen  vorkommt  (Metamorpbopsie),  dass  Grosserseben  (Makropsie) 
zu  den  Symptomen  des  Accommodationskrampfes,  *)  Kleinerseben  (Mi- 
kropsie)  zu  denjenigen  der  Accommodationsparese  gebort.  Nur  wenn 
solcbe  Ursacben  auszuscbliessen  sind,  darf  man  eine  Illusion  im  eigent- 
licben  Sinne  annebmen.  Ueber  das  Zustandekommen  der  illusionaren 
Makropsie  und  Mikropsie  wissen  wir  nocb  wenig.  Es  ist  wabrscbeinlicb, 
dass  bei  denselben  patbologiscb-gefalscbte  Associationen  der  Empfindung 
mit  Bewegungsvorstelbmgen  eine  Rolle  spielen  und  die  Entstellung  der 
Empfindung  bedingen.  In  seltenen  Fallen  kommt  es  aucb  vor,  dass  die 
Gesicbtsillusion  in  einer  bestimmten  Verfarbung  des  Gesicbtsfeldes 
bestebt.  Hierber  gebort  das  Gelbseben  im  Santoninrauscb.  Da  dies 
jedocb  eine  Folgeerscbeinung  der  durcb  die  Intoxication  bervorgerufenen 
Violettblindbeit  ist,  so  wird  man  besser  nicbt  von  einer  Illusion  im 
engeren  Sinne  reden.  Aucb  die  sog.  Erytbropsie  (Rotbseben)  ist  selteu 
eine  Illusion  im  engeren  Sinn.  Meist  berubt  dieselbe  auf  einer  Ermii- 
dung  der  Retina  fiir  die  kurzwelligen  Strablen  der  violetten  Seite  des 
Spectrums  (so  z.  B.  die  Erytbropsie  nacb  Staaroperationen). 


*)  Bei  Epileptikern  ist  seiches  nicht  selten. 


Die  Storungen  der  Empfindung. 


Die  Geliorsillusionen  bestelien  meist  darin,  dass  aiis  irgend- 
welclien  imarticulirten  Geraiisclien  Worte  oder  aucli  Melodien  lieraus- 
geliort  werden.  Selir  oft  glauben  die  Kranken  iliren  eigenen  Namen  zu 
versteben,  noch  ofter  Scbimpfworte,  seltener  Scbmeiclielreden.  Ungemein 
haufig  werden  aucb  statt  wirldich  gesprocbener  Worte  andere  mebr 
Oder  weniger  abnlicbe  geliort.  Diese  letzteren  Gebbrsillusionen  gehen 
fliessend  in  das  sog.  Missversteben  iiber.  Mitimter  ersclieint  den  Kranken 
ancb  nur  die  Klangfarbe  der  von  ibrer  Umgebimg  gesprocbenen  Worte 
verandert;  sie  gelangen  dann  leicbt  zu  der  Vorstelbmg,  ibre  Umgebimg 
sprecbe  aus  irgendwelcben  Griinden  mit  verstellter  Stimme. 

Die  Gerucbs-  und  Gescbmacksillnsionen  sind  in  iiber- 
wiegender  Zabl  unangenebmen  Inbalts.  In  eineni  gewissen  Stadium  dei 
Santoninvergiftung  kann  aucb  der  Gesunde  eine  sebr  klare  Gescbmacks- 
illusion  beobacbten;  bringt  man  namlicb  etwas  destillirtes  Wasser  auf  die 
Zunge,  so  verwandelt  sicb  der  fade  Gescbmack  desselben  in  einen  inten- 
siv  bitteren.  Dem  Geisteskranken  scbmecken  die  Speisen  nacb  Bbit, 
Bratenduft  verwandelt  sicb  in  Uringerucb  etc. 

Die  B eriibrungsillusionen  spielen  bei  Geisteskranken  wabr- 
scbeinlicb  eine  viel  grossere  Kobe  als  die  Berlibrungsballucinationen, 
ibre  Feststelbmg  begegnet  jedocb  oft  grossen  Scbwierigkeiten,  welcbe 
spater  erortert  werden  sollen.  Ein  sebr  reines  Beispiel  einer  Beriibrungs- 
illusion  bot  z.  B.  eine  Kranke,  welcbe  bei  dem  Druck  einer  auf  ibi- 
liegenden  Bettdecke  (und  nur  dann)  alle  Empfindungen  einer  stattba- 
henden  Cobabitation  batte.  Aucb  der  sandige,  erdige  „ Gescbmack 
iiber  welcben  viele  Kranke  bei  dem  Essen  klagen,  ist  viel  baufiger  eine 
Beriibrungsillusion  als  eine  Gescbmacksillusion. 

Den  Beriibrungsillusionen  steben  die  illusionaren  Organem- 
p find  ungen  sebr  nabe.  Scbwacbe  Reize,  welcbe  bei  dem  Gesunden 
Empfindungen  iiberbaupt  nicbt  auslosen  oder  nur  ganz  unbestimmte 
Empfindungen  des  Druckes  etc.  bervorrufen,  werden  zu  complicu'ten 
Empfindungen  ausgestaltet  resp.  transformirt.  Statt  einfacber  Darmbe- 
wegungen  empfinden  z.  B.  weiblicbe  Kranke  mit  der  grossten  Deutlicbkeit 
Kindsbewegungen  und  glauben  auf  Grund  dieser  Illusion  gravid  zu  sein. 
Hierber  geboren  aucb  die  eigenartigen  Illusionen,  vermoge  deren  der 
ganze  Korper  oder  einzelne  Tbeile  resp.  Organe  desselben  als  vergrossert 
oder  verkleinert  empfunden  werden.  Namentlicb  bei  epileptiscbem  Irre- 
sein  sowie  bei  Dementia  paralytica  beobacbtet  man  derartige  Vergrosse- 
rungs-  und  Verkleinerungsempfindungen.  Dieselben  sind  wabrscbeinlicb 
abnlicb  zu  erldaren  wie  die  oben  erwabnten  analogen  Gesicbts- 
illusionen. 

Bewegungsillusionen,  d.  b.  illusionar  gefalscbte  Bewegungs- 
empfindungen  sind  selten.  Dieselben  besteben  darin,  dass  die  Kranken 


40 


Die  SWruiigen  der  Etnpfindung. 


Bewegungen,  welclie  sie  selbst  ausfiihren,  anders  empfinden,  als  sie  that- 
saclilich  von  statten  gelien. 

Entsteliungsbedingiingen  der  Illiisionen.  Aucb  die  Illusionen 
stebeu  bald  in  Beziehung  zn  den  augenblicklichen  Vorstellungen  des 
Kranken,  bald  nicbt,  oder,  mit  anderen  Worten;  die  Illusion  vollzieht  sicli 
bald  im  Sinne  actueller  bald  im  Sinne  latenter  Vorstellungen.  Man  kann 
danach  auch  die  Illusionen  in  vermittelte  und  unvermittelte  eintbeilen, 
Der  Kranke,  welcber  plbtzlicb,  wiibrend  seine  Gedanken  mit  ganz  anderen 
Dingen  bescbaftigt  sind,  die  Falten  seines  Betttucbs  sicli  zu  einem 
Marmorkopf  gestalten  siebt,  bat  eine  ;,unvermittelte  Illusion".  Die  Kranke, 
welche,  von  Verfolgungswabn  beberrscht,  bei  dem  Vorubergeben  an  einer 
Menscbengruppe  denkt,  jetzt  werde  ibr  Boses  nacbgeredet,  und  nun  aus 
dein  Gefliister  Scbimpfworte  berausbort,  bat  eine  „vermittelte  Illusion". 
Im  Ganzen  sind  die  vermittelten  Illusionen  baufiger  als  die  unvermittelten. 

Die  Tbeorie  der  Illusionen  deckt  sicb  mit  derjenigen  der  Hallu- 
cinationen.  Aucb  bei  den  Illusionen  bandelt  es  sicb  um  eine  patbo- 
logiscbe  riickwirkende  Beeinflussung  der  Empfindungszellen  durcb  die 
Vorstellungszellen.  Der  Unterscbied  gegeniiber  der  Hallucination  bestebt 
nur  darin,  dass  bei  der  Illusion  stets  in  den  Empfindungszellen  eine 
durcb  einen  ausseren  Reiz  entstandene  normale  Erregung  vorliegt,  welcbe 
erst  durcb  den  Einfluss  der  patbologiscb  wirksamen  Vorstellungszellen 
eine  Transformation  erfabrt. 

Die  Diagnose  der  Illusionen  ist  oft  sebr  scbwierig,  nament- 
licb  die  Enter scbeidung  von  den  Hallucinationen  einerseits  und  von  dan 
oben  erwabnten  wabnbaften  Auslegungen  andrerseits  ist  oft  kaum  durcli- 
fiibrbar.  Was  erstere  Unterscbeidung  anbelangt,  so  kommt  oftenbar 
alles  darauf  an,  ob  ein  R vorbanden  ist  oder  nicbt.  Nun  wurde  scbon 
oben  erwilbnt,  dass  fur  viele  Hallucinationen  R nicbt  vollig  feblt,  viel- 
mebr  ein  R im  peripberen  Sinnesapparat  oder  im  Verlauf  der  Sinnes- 
nervenbabn  docb  existirt.  Aber  aucb  abgeseben  biervon  begegnet  die 
Feststellung,  ob  ein  ausserer  Reiz  vorbanden  gewesen,  oft  grossen 
Scbwierigkeiten.  Scbon  auf  dem  Gebiet  des  Gesicbts  und  Gebors  ist 
nacbtraglicb  mitunter  nicbt  zu  entscbeiden,  ob  nicbt  ein  leicbter  Scbatten 
oder  ein  leises  Gerauscb  der  Sinnestauscbung  zu  Grunde  gelegen  und 
somit  eine  Illusion  vorgelegen  bat.  Ganz  unmoglicb  ist  dies  bei  vielen 
Gescbmacks-  und  Beriibrungstauscbungen.  Der  Zungenbelag,  welcber 
bei  acuten  Psycbosen  so  ungemein  baufig  vorkommt,  ist  gewiss  in  vielen 
Fallen  von  Gescbmackstauscbungen  als  der  auslbsende  „aussere  Reiz" 
zu  betracbten.  Ein  leicbter  Luftzug  geniigt  zuweilen,  eine  Beriibrungs- 
tauscbung  (z.  B.  die  Illusion  eines  Scblages)  bervorzurufen.  Die  Gefabr, 
den  illusionaren  Cbarakter  in  solcben  Fallen  zu  uberseben,  liegt 
sebr  nabe,  Dasselbe  gilt  aucb  von  den  Organempfindungen.  Hier  ist 


Die  StOrungen  cler  Empfindung. 


41 


kaum  je  mit  Sicherlieit  ausziiscliliessen,  class  ein  „aiisserer  Reiz"*)  die 
Nervenendigungen  als  bez.  Korperorgans  getroffen  bat. 

Ebenso  schwer  resp.  immoglicb  ist  in  vielen  Fallen  die  Unterscbeidung 
zwischen  Illusion  nnd  wahnbafter  Auslegung,  also  die  Feststellung,  ob 
eine  Transformation  der  Empfindung  oder  eine  unricbtige  Auffassung 
einer  normalen  Empfindung  stattgebabt  bat.  Namentlicb  auf  dem  Ge- 
biet  der  Gescbmacks-,  Gerucbs-  und  Beriibrungsempfindungen  **)  macbt 
sicb  diese  Unsicberbeit  geltend.  Wenn  z.  B.  eine  Kranke  angiebt,  dem 
tbatsacblicb  raucbenden  Ofen  entsteige  ein  Gerucb  nacb  gebratenem 
Menscbenfleiscb,  so  ist  scbwer  zu  entscbeiden,  ob  der  raucbige  Gerucb 
des  Ofens  sicb  fur  die  Kranke  wirklicb  in  den  Gerucb  gebratenen 
Fleiscbes  verwandelt  bat  und  mitbin  eine  Illusion  vorliegt,  oder  ob  die 
Kranke  den  raucbigen  Gerucb  so  empfindet,  wie  er  tbatsacblicb  ist  und 
nur  jene  krankbafte  Vorstellung  daran  kniipft,  ob  also  eine  illusionare 
Auslegung  vorliegt.  Sebr  baufig  trifft  jedenfalls  eine  leicbte  illusionare 
Transformation  der  Empfindung  mit  einer  wabnbaften  Auslegung  oder 
Urtbeilstauscbung  zusammen.  So  ist  scbon  in  dem  eben  gegebenen 
Beispiel  — aucb  wenn  die  Auffassung  des  raucbigen  Gerucbes  als 
Bratengerucbes  auf  Transformation  der  Empfindung  berubt  — die 
Deutung,  es  riecbe  nacb  gebratenem  Menscbenfleiscb,  jedenfalls  ledig- 
licb  Zutbat  des  krankbaften  Vor ste Hungs lebens.  Dasselbe  gilt  z.  B. 
von  der  baufigen  Aeusserung  geisteskranker  Personen,  die  Speisen 
scbmeckten  nacb  Gift.  Ob  dabei  aucb  eine  Transformation  der  Empfin- 
dung, also  eine  ecbte  Illusion  mit  im  Spiele  ist,  ist  oft  garnicht  zu 
entscbeiden;  class  eine  Urtbeilstauscbung  jedenfalls  vorliegt,  gebt  aus 
cler  Deutung  cler  Speise  als  Gift  unzweifelbaft  bervor.  Illusion  und 
wabnbafte  Auslegung  treffen  zusammen  z.  B.  aucb  in  den  Fallen,  wo 
die  Kranken  ein  eng  anscbliessendes  Halstucb  oder  eine  Hand,  die  sie 
erdrosseln  will,  empfinclen.  Besonders  Nacbts  sind  derartige  Berlibrungs- 
illusionen  in  unmittelbarer  Verkniipfung  mit  wabnbafter  Auslegung  sebr 
baufig.  Meist  lasst  sicb  bier  sogar  nacbweisen,  dass  die  Transformation 
der  Empfindung  unter  dem  Einfluss  cler  wabnbaften  Auslegung  statt- 
findet.  Man  bezeicbnet  diese  Falle  vermittelter  Illusionen  mit  gleicb- 
zeitiger  wabnbafter  Auslegung  aucb  ganz  allgemein  als  „illusionare 
Auslegungen".  Dieselben  stellen  also  combinirte  Empfindungs-  und 
Vorstellungstauscbungen  dar. 

Eine  specielle  Bedeutung  und  Haufigkeit  baben  solcbe  illusionare 
Anslegungen  auf  clem  Gebiete  cler  Organempfinclungen.  Hier  ist  der 

*)  AeusBerer  Reiz  ist  hier  jeder  Reiz,  der  ausserhalb  der  Sinnesnervenbahn  und 
etwaiger  specieller  Sinneswei'kzeuge  liegt. 

**)  Es  beruht  dies  offenbar  auf  unserer  unvollkommenen  sprachlichen  Unter- 
scheidung  der  Qualitaten  auf  diesen  Sinnesgebieten. 


42 


Die  Storungen  der  Empfindung. 


tliatsacliliclie  Reiz  zimachst  meist  selir  unbestimmt  und  gering,  die 
Transformation  der  Empfindung  gestaltet  sicli  sclion  bestimmter,  endlicli 
die  wabnliafte  Anslegiing  iiberrascbt  durcb  ibre  minutiose  Detailmalerei. 
So  ist  die  Kranke  Esquirols,  des  beriibmten  franzbsisclien  Psychiaters 
zu  Anfang  dieses  Jahrbunderts , bekannt,  welcbe  in  ibrem  Leibe  die 
Abbaltnng  ganzer  Concilien  spiirte:  die  Section  ergab  ein  Carcinom. 
Andere  Kranke  bescbreiben  ausfiibrlicb , wie  kleine  Feinde  in  ibrem 
Magen  ein  Pumpwerk  eingerichtet  baben  oder  complicii’te  Zapfvor- 
richtiingen  ibr  Herzbliit  aussaugen  oder  unsicbtbare  Feinde  „in  ibrem 
Gebirn  viviseciren^'  oder  vermeintlicbe  „Zwillinge  allerband  Trapez- 
iibungen  an  der  Nabelscbnur  innerbalb  der  Gebarmutter  machen^. 

Auf  dem  Gebiet  des  Gesichts-  imd  Gehorssinnes  ist  die  Unter- 
scbeidnng  zwiscben  Illusion  imd  wahnbafter  Auslegung  meist  leicbter. 
Wenn  ein  scbwacbsinniger  Kranker  glitzernde  Kiesel  fiir  Diamanten  er- 
klart,  so  ist  dies  unzweifelbaft  meist  eine  durcb  den  Schwachsinn  be- 
dingte  wabnbafte  Auslegung  und  keine  Illusion.  Desgleicben  bandelt 
es  sich  nur  um  wabnbafte  Auslegung,  wenn  ein  Kranker  den  Donner 
eines  Gewitters  als  Salutscliiisse,  welcbe  Kanonen  zu  seinen  Ehren  ab- 
geben,  auffasst.  Es  lasst  sicb  bier  durcb  Befragen  leicbt  feststellen, 
dass  eine  Transformation  der  Empfindung  selbst  vollig  fehlt.  Halt  man 
z.  B.  dem  letztaufgefiibrten  Kranken  entgegen,  der  Schall  klinge  dock 
ganz  wie  der  Donner  eines  Gewitters,  so  giebt  der  Kranke  dies  obne 
weiteres  zu  und  liefert  damit  .also  den  Beweis  fiir  die  Unversebrtbeit 
seiner  Empfindung;  meist  fiigt  er  direct  binzu:  trotzdem  „wisse^^  er, 
dass  es  Salutschiisse  seien.  Wer  eine  ecbte  Illusion  bat,  beruft  sicb 
nicht  auf  sein  „Wissen^^,  sondern  auf  sein  gefalscbtes  Empfindeu 
selbst. 

Das  V 0 r k 0 m m e n von  Illusionen  ist  erbeblicb  ausgebreiteter  als 
dasjenige  der  Ilallucinationen.  Zunacbst  sind  Illusionen  aucb  bei  dem 
Geistesgesunden , d.  b.  obne  anderweitige  psycbopatbiscbe  Symptome 
nicht  selten.  So  boren  maucbe  Gesunde  aus  dem  Rasseln  der  Eisen- 
babnrader  Melodien  beraus  und  seben  in  den  Wolken  oder  Scbatten 
oder  im  Nebel  Gestalten.  Zwei  Momente  sind  es,  welcbe  das  Auftreteu 
solcber  pbysiologiscben  Illusionen  begiinstigen : Die  Unbestimmtbeit  des 
wu-klicben  Sinnesreizes  und  das  Vorbandensein  lebbafter  Affekte.  Unter 
den  letzteren  ist  der  Affekt  der  Erwartung,  der  boffenden  wie  der 
fiu-cbtenden,  am  frucbtbarsten  in  der  Erzeugung  von  Illusionen.  Darauf 
bezieben  sicb  aucb  die  Scbiller’scben  Verse; 

Hor’  ich  das  Pfortchen  nicht  gehen? 

Hat  nicht  der  Riegel  geklirrt? 

Nein,  es  war  des  Windes  Wehen, 

Der  durch  diese  Pappeln  schwirrt. 


Die  StOrungen  der  Empfindung. 


43 


Offenbar  ist  es  bier  das  iibermachtige  Dominiren  einer  Vorstellung 
(z.  B.  in  dem  angefiibrten  Gedicht  die  Vorstellung  der  Geliebten), 
welches  die  Transformation  der  Empfindung  begiinstigt.  Daher  sind 
aucli  die  meisten  pbysiologischen  Illusionen  vermittelte.  Unvermittelte 
Illusionen  kommen  bei  dem  Gesunden  fast  ausschliesslich  nur  dann  vor, 
wenn  der  aussere  Reiz  sehr  ausgesprochene  Aehnlichkeit  mit  einem 
latenten  Erinnnerungsbild  bat,  die  Illusion  also  insofern  sehr  nahe  liegt. 
Auch  ist  es  in  diesen  Fallen  sehr  oft  fraglich,  ob  selbst  diese  geringe 
Transformation  der  Empfindung  wirklich  stattgefunden  hat  oder 
nicht  vielmehr  eine  Urtheilstauschung  vor  sich  gegangen  ist.  So  kann 
der  Stumpf  eines  Baumes  uns  gelegentlich  als  Menschengestalt  erscheinen, 
auch  wenn  unsere  Gedanken  mit  vollig  anderen  Bingen  beschaftigt  sind, 
wofern  die  Aehnlichkeit  — z.  B.  in  der  Dammerung  — in  der  That 
sehr  gross  ist.  Dabei  ist  es  aber  garnicht  sicher,  dass  unsere  Empfin- 
dung wirklich  eine  Transformation  erfahren  hat:  meist  ist  in  diesen 
Fallen  vielmehr  der  Reiz  so  unbestimmt  und  die  Aehnlichkeit  mit  einem 
Menschen  so  gross,  dass  wir  das  Hirnrindenbild  des  Baumstumpfes  trotz 
seiner  volligen  Uebereinstimmung  mit  dem  Reiz  falschlich  als  Mensch 
deuten. 

Diese  pbysiologischen  Illusionen  andern  meist  an  der  Far  be  der 
Gesichtsreize  nichts,  auf  dem  Gebiet  des  Gehorssinns  kommt  es  selten  zur 
illusionaren  Transformation  in  Worte.  Bei  psychopathisch  belasteten 
Individuen  kommen  jedoch  auch  solche  weitergehende  Illusionen  mitunter 
ohne  anderweitige  manifesto  psychopathische  Symptome  vor.  Speciell 
begiinstigen  weiterhin  korperliche  und  geistige  Uebermiidung  sowie 
lilngeres  Hungern  das  Auftreten  isolu’ter  Illusionen.  Auch  unmittelbar 
vor  dem  Einschlafen  und  unmittelbar  nach  dem  Erwachen  kommen  bei 
Geistesgesunden  gelegentlich  Illusionen  vor.  Individuelle  Verschieden- 
heiten  kommen  sehr  in  Betracht,  speciell  die  Verschiedenheiten  in  der 
Entwicklung  der  sog.  Phantasie;  Individuen  mit  sehr  lebhaften  Erinne- 
rungsbildern  werden  ceteris  paribus  ihre  Empfindungen  leichter  im  Sinne 
ihrer  Erinnerungsbilder  transformiren.  So  erklart  es  sich,  dass  von 
Kiinstlern  und  Dichtern  so  zahlreiche  Illusionen  berichtet  werden. 

Enter  den  Psychosen  selbst  neigen  einige  ganz  besonders  zu  Illu- 
sionen, so  namentlich  wiederum  die  sog.  hallucinatorische  Form  der 
Paranoia.  Von  keiner  Psychose  sind  sie  ganz  ausgeschlossen.  Im  Allge- 
meinen  sind  sie  bei  den  acuten  Psychosen  haufiger  als  bei  den  chronischen. 
Auch  als  Aurasymptom  epileptischer  Krampfanfalle  beobachtet  man  zu- 
weilen  eine  oder  mehrere  Illusionen:  der  Kranke  sieht  z.  B.  unmittelbar 
vor  dem  Anfall  alle  Gesichter  seiner  Umgebung  verzerrt  oder  blutroth 
etc.  Auch  vor,  nach  und  im  Verlauf  hysterischer  Anfalle  kommen  neben 
Hallucinationen  nicht  selten  Illusionen  vor. 


44 


Die  StOrungen  der  Vorstollungen  oder  Erinnerungsbilder. 


b.  Die  Storimgeu  der  Vorstellimgeii  oder  Erinnerungsbilder. 

V 0 r b e m e r k u n g e n. 

Der  materielle  Erregimgsprocess  Rc  in  der  Hirnrinde,  welclier  durch 
den  Reiz  R hervorgeriifen  war  und  dem  auf  psychischem  Gebiet  die 
Empfindimg  E entspracb,  verschwindet,  sobald  R verscliwindet,  niclit  voll- 
standig,  sondern  in  den  Elementen  der  Hirnrinde  bleibt  eine  materielle 
Veranderung  zuriick,  eine  Spur  der  stattgebabten  Erregiing,  welcbe  wir 
als  Ri  bezeicbinen.  Jede  Empfindung  oder  richtiger  jedes  Rc  binterlasst 
ein  solclies  Ri.  Niir  dadurcb  wird  es  uns  moglich,  einen  Gegenstand, 
den  wir  einmal  geselien  baben,  bei  einem  zweiten  Seben  wiederzuerkennen, 
oder,  wenn  wir  ibn  nicbt  wiederseben,  ibn  uns  vorzustellen.  Man  bezeicbnet 
das  Ri,  Welches  nacb  jeder  Empfindung  zuriickbleibt,  auch  als  latentes 
Erinnerungsbild  oder  als  latente  Vorstellung,  Es  entspricbt  namlicb 
der  bleibenden  materiellen  Veranderung  Ri  zunacbst  keinerlei  psycbiscber 
Parallelvorgang.  Die  zabllosen  R]’s,  welcbe  unsere  zabllosen  Empfin- 
dungen  binterlassen,  sind  lediglicb  als  materielle  Dispositionen  in  der 
Hirnrinde  vorbanden.  Diese  Ri’s  macben  es  mir  nur  moglicb,  gegebenen 
Falles  diese  oder  jene  Vorstellung  zu  reproduciren,  oder,  mit  anderen 
Worten,  micb  dieser  oder  jener  Empfindung  zu  erinnern,  aber  den  Ri’s 
selbst  entsprecben  diese  Vorstellungen  nocb  nicbt.  Vielmebr  werden 
diese  lediglicb  materiellen,  latenten  Erinnerungsbilder  nur  danu  psycbiscb 
lebendig  oder,  anders  ausgedriickt,  die  bez.  scblummernden  Vorstellungen 
taucben  nur  dann  wirklicb  in  uns  auf,  wenn  entweder  ein  gleicbes  oder 
abnlicbes  Reizobject  wieder  eine  gleicbe  oder  abnlicbe  Empfindung  aus- 
Ibst  oder  unsere  Ideenassociation  die  erforderlicbe  Anregung  liefert. 
Habe  icb  z.  B.  einen  bestimmten  Menscben  auf  dem  Markt  geseben,  so 
entspricbt  dieser  Gesicbtsempfindung  der  materielle  Rindenprocess  Rc  und 
von  diesem  Process  bleibt  eine  Veranderung  Ri  zuriick.  Diesem  Ri  ent- 
spricbt psycbiscb  nicbts:  mebrere  Page  denke  icb  an  den  Betreftenden 
nicbt  mebr.  Davon,  dass  mittlerweile  eine  Spur  meines  Gesicbtseindruckes, 
ein  R],  in  mir  zuruckgeblieben  ist,  merke  icb  gar  nicbts.  Dies  vollziebt 
sicb  ganz  unbewusst  oder,  wie  wir  sagen,  latent.  Erst  wenn  icb  ibn 
wiedersebe,  oder  wenn  meine  Ideenassociation  micb  an  den  Gang  fiber 
den  Markt  denken  lasst,  taucbt  das  Erinnerungsbild  jenes  Menscben 
wieder  in  mir  auf.  Damit  also  zu  Ri  ein  psycbiscber  Parallelprocess 
binzutritt,  ist  es  notbwendig,  dass  entweder  durcb  eine  Wiederbolung 
des  Reizes  oder  durcb  einen  Anstoss  der  Ideenassociation  Ri  nocb  in 
bestimmter  Weise  modificirt  wird.  Ri  muss,  sagen  wm,  in  Rv  verwandelt 
werden,  damit  aus  der  latenten,  nur  potentia  vorbandenen  Vorstellung 


Die  Storungen  der  Vorstcllungen  oder  Eriimcrungs Wider. 


45 


eine  actu  vorhandeue  wird.  Von  imsern  zahllosen  latenten  Erinnerungs- 
bildern  sind  in  jedeni  Augenblick  niir  einige  wenige  actuell  lebendig, 
nanilicli  diejenigen,  deren  Ki  durch  aussere  Reize  oder  diircb  den  Gang 
unsrer  Ideenassociation  gerade  in  Ry  verwandelt  worden  ist. 

Ueber  die  niibere  Besebaffenbeit  des  Ri  wissen  wir  nocli  garnichts. 
Am  einfaebsten  stellt  man  sicb  das  Ri  als  eine  bestimmte  Verlagerung 
in  bestimmter  Weise  zusammengesetzter  Molekiile  in  den  Ganglienzellen 
der  Hirnrinde  vor  und  zwar  ist  es  wabrscbeinlicb,  dass  die  Veranderung 
Ri  niebt  in  denselben  Zellen  znriickbleibt,  in  welchen  der  urspriinglicbe 
Erregungsprocess  Rc  stattgefunden  batte.  Aiisgebend  von  dieser  Hypo- 
tbese  bezeiebnet  man  die  Zellen,  in  welcben  Rc  stattfindet,  als  Empfin- 
dungszellen,  und  die  Zellen,  in  welcben  Ri  znriickbleibt  und  unter  den 
angegebenen  Umstanden  zu  Ry  wird,  als  Erinnerungs-  oder  Vorstelbmgs- 
zellen.  Den  folgenden  Erbrterungen  soil  der  Anscbaulicbkeit  und  Kiirze 
wegen  stets  diese  Hypotbese  zu  Grunde  gelegt  werden.  Es  ist  aber  im 
Auge  zu  bebalten,  dass  alle  folgenden  Erorterungen  von  dieser  Hypo- 
tbese unabbiingig  sind  und  obne  Scbwierigkeiten  einer  anderen  Hypo- 
tbese, also  z.  B.  etwa  derjenigen,  dass  Empfindung  und  Erinnerung  an 
ebendieselben  Rindenelemente  gebunden  seien,  angepasst  werden  konnten. 

Wir  baben  soeben  eine  ganz  einfacbe  Empfindung  und  das  zugeborige 
Erinnerungsbild  betraebtet.  Die  meisten  sinnlicb  wabrnebmbaren  Gegen- 
stande  rufen  niebt  eine  einfacbe  Empfindung,  sondern  einen  Complex  von 
Empfindungen  auf  den  versebiedensten  Sinnesgebieten  bervor.  So 
lost  die  Rose  niebt  allein  eine  Gesiebtsempfindung  und  ein  Erinnerungs- 
bild derselben,  die  Gesicbtsvorstellung,  aus,  sondern  der  Duft  lost  aucb 
eine  Geruebsempfindung  und  die  weicben  Blatter  eine  Beriibrungs- 
empfindung  aus,  und  aucb  von  diesen  Empfindungen  bleiben  Erinnerungs- 
bilder,  also  eine  Gerucbsvorstellung  und  eine  Beriibrungsvorstellung 
zuriick.  Es  werden  also  von  der  Rose  mindestens  drei  Erinnerungsbilder 
niedergelegt,  ebenso  viele  Erinnerungsbilder,  als  dieselbe  Sinnesorgane 
erregt.  Nun  liegt  die  Rieebspbare  weit  ab  von  der  Sebspbare,  und 
ebenso  die  Eiiblspbare.  Also  werden  in  drei  weit  auseinandergelegenen 
Ganglienzellen  an  ganz  versebiedenen  Hirnrindenstellen  latente  Vor- 
stellungen  niedergelegt.  Die  folgende  Skizze  stellt  eine  Grossbirnbemi- 
spbare  in  groben  Umrissen  dar.  Bei  S liege  die  Sebspbare,  bei  F die 
Eiiblspbare,  *)  bei  H die  Hbrspbare,  bei  R die  Rieebspbare.  Von  der 
Rose  sind  drei  Partialvorstellungen  zuruckgeblieben  in  a,  b und  c.  Die 
Ganglienzelle  a stebt  durcb  Associationsfasern  sowobl  mit  b wie  mit  c 
in  Verbindung  und  ebenso  aucb  b und  c unter  sicb.  Nun  sind  a,  b 
und  c oft  gleicbzeitig  erregt  worden,  d,  b.  sebr  oft  saben,  fiiblten  und 


*)  Die  genauere  Lage  der  FUhlsphare  ist  bekaimtlicb  noch  niebt  sicher  festgestellt. 


46 


Die  StOrungen  der  Vorstellungen  oder  Erinnerungsbilder. 


rochen  wir  ein  unci  dieselbe  Rose  unci  legten  also  gleichzeitig  in  den 
Zellen  a,  b und  c die  entsprecbenden  Erinnerungsbilder  nieder;  die  Folge 
dieser  haufigen  gleicbzeitigen  Erregung  ist,  dass,  wenn  eines  der  drei 
Erinnerungsbilder,  z.  B.  a,  erregt  wird,  stets  aucli  b und  c miterregt 
werden.  Wenn  icb  an  Gestalt  und  Farbe  der  Rose  denke  (a),  so  fallt 
inir  aucb  ihr  Duft  und  die  Weicbheit  ihrer  Blatter  ein  (c  und  b).  Es 
werden  also  von  einein  sinnlichen  Gegenstand  Partial  vorstellungen  in  ver- 
scbiedenen  Hirntbeilen  niedergelegt ; diese  Partialvorstellungen  steben  in 
associative!’ Verb  indung;  daber  werden  beim  Auftaucben  der  einen  Partial- 
vorstellung  durcb  Association  die  anderen  wacbgerufen.  Die  Gesammtbeit 
der  associativ  verknilpften  Partialvorstellungen  bildet  die  Vorstellung  des 


4. 


Gegenstandes.  Die  Vorstellung  Rose  ist  also  nicbts  Einfacbes,  sondern 
etwas  Zusammengesetztes,  dessen  Einbeit  lediglicb  auf  der  gegenseitigen 
associativen  Verkniipfung  der  Tbeile  berubt.  Aber  eine  weitere  Einbeit 
fur  diese  zusammengesetzten  Sinnesvorstelbmgen  ist  uus  in  der  Spracbe 
gegeben.  Die  Vorstellungen,  wie  wir  sic  bis  jetzt  kennen  lernten,  sind 
von  der  Spracbe  ganz  unabbangig,  sie  kommen  wabrscheinlicb  aucb  den 
Tbieren  zu.  Nun  benennt  der  Menscb  aucb  seine  Vorstellungen:  icn 
begleite  die  oben  bescbriebene  zusammengesetzte  Vorstellung  init  dem 
Aussprecben  des  Wortes  „Rose“,  cl.  b.  mit  einer  eigentbumlicben  Com- 
bination von  Keblkopf",  Lippen-,  Zungen-  und  Gaumenbewegungen,  deren 
Resultat  fur  einen  Dritten  ist,  dass  er  micb  das  Wort  „Rose“  aus- 
sprecben bdrt.  Die  Hirnpatbologie  lebrt,  dass  die  Zerstbrung  des 


Dio  StOrungen  dor  Vorstellnngen  odor  Erinnerungsbilder. 


47 


Fusses,  cl.  li.  cles  liintersten  Drittels  der  linken  untersten  Stirnwindung 
(bei  d)  eiuen  daueruden  Ausfall  dieser  Spreclibewegungen , die  sogen. 
motorische  Apbasie  zur  Folge  bat.  Wir  miissen  daber  annebmen,  class 
an  dieser  Stelle  cliejenigen  Ganglienzellen  gelegen  sincl,  aus  welcben  die 
beim  Sprecben  inner virten  motoriscben  Fasern  fur  die  Keblkopf-,  Lippen-, 
Gaumen-  und  Zungenmuskeln  entspringen.  Man  kann  daber  den  Fuss 
der  linken  untersten  Stirnwindung  direct  als  motoriscbes  Spracbcentrum 
bezeicbnen.  Dies  Spracbcentrum  stebt  nun  durcb  Associationsbabnen 
in  associativer  Verkntipfung  mit  clenjenigen  Rindengebieten,  in  welcben 
die  Partialvorstellungen  der  sinnlicben  Gegenstiinde  niedergelegt  sind. 
Also  sincl,  wie  aucb  die  beistebencle  Zeicbnung  angiebt,  die . Ganglien- 
zellen a,  b,  c,  in  welcben  die  Erinnerungsbilder  des  Duftes,  der  Farbe 
und  Form  der  Rose*)  niedergelegt  sind,  nicbt  nur  untereinancler  durcb 
Babnen  verkniipft,  sonclern  im  Stirnbirn  liegt  aucb  eine  Ganglienzelle 
resp.  ein  Ganglienzellencomplex  cl,  in  welcbem  die  complicirte  motoriscbe 
Innervation  fur  das  Aussprecben  des  Wortes  „Rose^^  entstebt.  Es  gilt 
nun  beziiglicb  cles  motoriscben  Elements  cl  dasselbe,  was  beziiglicb  der 
Partialvorstellungen  a,  b,  c untereinancler  gait.  Sobalcl  a,  b ocler  c auf- 
taucbt,  fallt  uns  cl,  das  Wort  fur  das  Gesebene,  Gerocbene  oder  Ge- 
fiiblte  ein. 

Ausser  cl  lebrt  uns  die  Hirnpbysiologie  nocb  anclere  spracblicbe 
Elemente  in  der  Gesamtvorstellung  „Rose"  kennen.  Wir  boren  das 
Wort  „Rose^^  unzablige  Male  aussprecben.  Von  dieser  Geborsempfin- 
clung  bleibt  ein  akustiscbes  Erinnerungsbilcl , die  Spracbborvorstellung 
cles  Wortes  „Rose",  e zurlick.  Der  Sitz  dieser  Klangbilcler  der  Spracbe 
ist  im  binteren  Abscbnitt  der  linken  obersten  Scblafenwindung  gelegen. 
Wil'd  cliese  Stelle  durcb  einen  Krankbeitsbeercl  zerstort,  so  bestebt  das 
Symptom  der  sensoriscben  Apbasie:  cl.  b.  der  Kranke  bbrt  wobl  alle 
zu  ibm  gesprocbenen  Worte,  seine  Geborsempfinclungen  sind  intact, 
aber  alle  zu  ibm  gesprocbenen  Worte  klingen  ibm  fremcl,  er  erkennt 
sie  nicbt  wiecler  und  verstebt  sie  nicbt,  weil  ibm  eben  die  Horvorstel- 
lungen  der  Spracbe  verloren  gegangen  sincl.  Bei  clem  gebildeten  Menscben 
kommen  weiterbin  nocb  die  optiscben  Spracbvorstellungen , die  Er- 
innerungsbilcler  der  Gesicbtsempfinclungen  der  gelesenen  Worte,  sowie 
die  Scbreibbewegungen  bei  clem  Nieclerscbreiben  der  Worte  binzu. 
Erstere  sind  im  linken  Gyrus  angularis  bei  f niedergelegt,  letztere  geben 
vom  Fuss  der  linken  mittleren  Stu’nwin clung  (bei  g)  aus. 

Zusammenfassend  konnen  wir  somit  sagen:  die  VorsteUung  Rose 
bestebt  aus  3 Partialvorstellungen,  welcbe  ebenso  vielen  qualitativ  ver- 


*)  Bei  einem  auch  auf  unsor  Gehor  oder  unsorn  Geschmack  wirkendcn  Gegen- 
stand  kamen  selbstverstandlick  nock  zwei  weitero  Partialvorstellungen  kinzu. 


48 


Die  Storungen  der  Vorstelliragen  oder  ErinnernngsLilder, 


scliiedenen  von  der  Rose  ausgelosten  Sinnesempfindungen  entsprechen ; 
liierzu  kommen  ausserdem  die  2 resp.  4 sprachliclien  Coniponenteu 
(2  motorische,  eine  akustische  und  eine  optische),  welche  zur  einiieit- 
lichen  Ziisammenfassimg  der  sinnlichen  Partialvorstellungen  beitragen. 
Den  Gesaintcomplex  der  sinnlichen  Partialvorstellungen  einscliliesslicli 
der  sprachliclien  Componenten  bezeichnet  man  auch  als  den  concreten 
oder  sinnlichen  Begriff  der  Rose. 

Die  ersten  einfachsten  concreten  Begriffe  sind  die  speciellsten.  Zu- 
nachst  wird  der  concrete  Begriff  einer  ganz  bestimmten  einzelnen  Rose 
erworheu.  Spater  sehe  ich  immer  mehr  ahnliche  Einzelrosen,  und  diese 
Haufigkeit  des  constanten  Zusammentreffens  einer  bestimmten  Farbe, 
Form  etc.  auf  wecbselndem  Hintergrund  geniigt  den  allgemeinen  con- 
creten Begriff  der  ,,Rose  liberhaupP^  in  meiner  Hirnrinde  niederzulegen. 
Fine  viel  grossere  Induction  ist  erforderlicb,  urn  den  weit  allgemeineren 
Begriff  der  Pflanze  in  meiner  Hirnrinde  niederzulegen  und  mit  Spracli- 
vorstellungen  zu  verbinden.  Die  meisten  dieser  allgemeineren  concreten 
Begriffe  entsteben  in  folgender  Weise.  Die  Frfahrung  deponirt  zabl- 
reicbe  concrete,  aus  Partialvorstellungen  zusammengesetzte  Finzelbegiiffe 
in  meiner  Hirnrinde,  z.  B.  die  der  Tulpe,  der  Rose,  des  Eicbbaumes 
u.  s.  f.  Bei  aller  Verscbiedenbeit  werden  die  Partialvorstellungen  dieser 
Einzelbegriffe  gewisse  Aebnlicbkeiten  besitzen  und  daher  auf  Grund  der 
Associationsgesetze  untereinander  in  associative  Verbindung  treten.  So 
haben  alle  z.  B.  die  grtiue  Farbe  der  Blatter  gemein.  Wabrend  also 
die  Partialvorstellungen  der  Rose  untereinander  einen  sebr  eng  vei- 
bundenen  Complex  bilden,  welchem  das  Wort  „Rose^'  associirt  ist, 
bildet  die  Summe  der  concreten  Begriffe  der  Rose,  der  Tulpe  und  zabl- 
loser  anderer  Pflanzen  einen  weiteren , aber  aucli  loseren  Complex, 
welchem  sich  das  Wort  Pflanze  associirt.  Wenn  also  der  Begriff  Pflanze 
in  uns  auftaucht,  so  taucht  erstens  die  Wortvorstellung  des  gesprocheneu 
und  gehorten  Wortes  „ Pflanze"  auf,  und  zweitens  gerathen  dabei  die 
zahllosen  Partialvorstellungen  aller  einzelnen  Pflanzen  in  leise  Miter- 
regung,  sie  „schwingen  mit",  wie  man  es  haufig  auch  bezeichnet  hat. 
Je  allgemeiner  also  ein  concrete!’  Begriff  ist,  um  so  complexer  ist  ei, 
um  so  mehr  lose  associativ  verkniipfte  Finzelvorstellungeu  schwiugen 
beim  Auftauchen  desselben  mit,  und  eine  scheinbare  Finlieit  wird  nur 
durch  die  alien  diesen  Finzelvorstellungeu  associate  sprachliche  Conipo- 
nente  gegeben.  Daher  kommt  es,  dass,  wenn  wir  „Pflanze  denizen 
und,  vom  Worte  absehend,  den  Inhalt  des  Begriffs  scharfer  fixiren  wollen, 
uns  sofort  bestimmte  einzelne  Pflanzen  mehr  oder  weniger  deutlich  vor 
Augen  treten.  Dies  sind  eben  jene  mitschwingenden  Finzelvorstellungen, 
und  zwar  vor  alien  diejenigen,  welche  uns  am  liauflgsteu  begegnet  sind 
und  welche  daher  am  starksten  mitschwingeu.  Dem  Denken  eines 


49 


Dio  Storungen  tier  Vorstellungen  odor  Erinnerungsbilder. 

allgemeinen  sinnlichen  Begriffs  entspricht  also  in  noch  viel  hoherem  Grade 
als  deni  Denken  eines  speciellen  sinnlichen  Begriffs  ein  iiber  fast  die 
ganze  Grosshirnrinde  ausgebreiteter  physiologischer  Process.  Hieraus 
ergiebt  sich  aiicli,  dass  der  spracbliclien  Componente,  der  motorischen 
nnd  akustischen,  gerade  fiir  die  allgeineineren  Begriffe  eine  bohere  Be- 
deutung  zukoinmt  als  fiir  die  speciellen,  indem  die  losen  Vorstellungs- 
complexe  der  ersteren  in  der  That  obne  das  gemeinscbaftliche  Band  der 
Wortvorstellung  aiiseinanderfallen  wiirden.  Sehr  beweisend  fiir  diese 
Darlegung  ist  aiicb  die  Art  nnd  Weise,  wie  wir  allgemeine  concrete 
Begriffe  erwerben.  Als  Kindern  wird  uns  unzablige  Male  beim  Sehen 
einer  Rose,  einer  Tiilpe,  einer  Eiche  das  Wort  „Pflanze^^  vorgesprochen, 
nnd  wii-  sprechen  es  nach:  so  bildet  sich  eine  motorische  nnd  akustische 
Sprachcomponente  in  Association  niit  zablreichen  concreten  Einzelvoi- 
stellungen,  die  nnter  sich  bei  aller  Verscbiedenbeit  eine  gewisse 
Aebnlicbkeit  liaben.  Das  Gesammtsystein  dieser  Associationen  bildet  den 
allgemeinen  concreten  Begriff  Pflanze. 

In  ganz  analoger  Weise  entsteben  aucb  die  Beziebungsbegiiffe. 
Betracbten  wir  z.  B.  den  Begriff  der  „ Aebnlicbkeit Unzablige  Male 
wird  dem  Kind  bei  dem  Seben  zweier  abnbcber  Gegenstande  das  Wort 
„abnbcb^^  vorgesprochen,  sagen  wir  z.  B.  ziierst  in  Bezug  auf  zwei  abn- 
iicbe  Spielsacben.  Das  Wort  „ahnbcb"  bedeutet  ihm  zunacbst  nur  jene 
„zwei  bestimmten  abnbcben  Spielsacben^^  Aber  weiterbin  wird  ihm  das 
Wort  „abnbcb“  ofter  vorgesprochen:  aucb  zwei  abnbcbe  Baume,  zwei 
abnbcbe  Hauser  werden  dem  Kind  als  abnbcb  bezeichnet , odei , mit 
anderen  Worten,  das  Wort  „ abnbcb tritt  bei  dem  Kind  in  associative 
Verknupfung  mit  zabllosen  Paaren  abnbcber  concreter  Erinneiungsbildei. 
Bei  dem  Aussprecben  oder  Horen  des  Wortes  „abnbcb“  scbwingen  immer 
mebr  nnd  immer  verscbiedenere  derartige  Paare  abnbcber  Erinneriings- 
bilder  mit.  Das  Endresultat  ist,  dass  die  Worterregung,  die  motorische 
wie  die  akustische,  ihren  besonderen  Inbalt  (Spielsacben,  Baume  u.  s.  w.) 
ganz  verloren  bat  und  ibre  Cbarakteristik  nur  daraus  emjifangt,  dass 
eben  alle  jene  Erinnerungsbilder  einander  paarweise  abnbcb  sind.  So 
entstebt  der  Beziebungsbegriff  der  Aebnlicbkeit. 

Je  allgem  einer  und  je  abstracter  die  Begriffe  sind,  um  so  complexer 
sind  sie,  d.  b.  um  so  mebr  Parti alvorstellungen  sind  im  ganzen  Gebiet 
der  Hirnrinde  mit  der  Worterregung  verknupft.  Begriffe  wie  „icb  , 
„Vaterland^  „Gott^  „Recbt",  „Unrecbt%  „Dankbarkeit^^  sind  im  bbcb- 
sten  Maasse  zusammengesetzt.  Das  Wort  leistet  bier  etwa  dasselbe  wie 
in  der  Algebra  ein  Bucbstabe,  z.  B.  cp,  den  wir  statt  eines  sebr  com- 
pbcirten  algebraiscben  Ausdrucks  einfiihren.  Das  Wort  ist  nicbt  der 
Inbalt,  der  Inbalt  jener  Begriffe  besteht  ausscbbessbcb  in  den  mit- 
scbwingenden  zabllosen  Partialvorstellungen.  Das  Wort  ist  nur  eine 

4 

Ziohen,  Psychiatrie. 


50 


Die  StOrungen  dcr  Vorstellungen  oder  Erinne  rungsbilder. 


beqiieme  Zusammenfassimg  imd  Abkiirzung,  welcbe  den  Gebraucli  des 
Begriffes  in  der  Ideenassociation  ungemein  erleicbtert.  So  kornmt  es, 
dass  z.  B.  Aphasisclie  zwar  keinen  einzigen  Begriff  wirklich  einbiissen, 
aber  docb  in  der  Eegel  rait  ihren  Begriff en,  wenigstens  mit  den  com- 
plicirteren,  etwas  schwerfalliger  bantiren  als  Gesunde. 

An  jeder  Vorstellung  untersclieiden  wir  vier  Haupteigenschaften, 
nilmlicb 

1.  Den  lubalt  oder  die  Bedeutung:  so  haben  z.  B.  die  Vorstellungen 
„Donner“  und  „Pflanze^^  einen  ganz  verscbiedenen  Inbalt.  In  diesen 
Inbalt  der  Vorstellung  geben  alle  Eigenscbaften  der  zu  Grunde  liegenden 
Empfindungen  mit  Ausnalime  des  Gefiiblstons  ein.  So  ist  der  Inbalt 
der  Vorstellung  Donner  durcb  die  Klangfarbe  (Qualitat),  den  lauten 
Scball  (Intensitiit)  und  die  Dauer  der  einzelnen  Empfindungen  des 
Donners  bestimmt,  die  icb  friiber  gehabt  babe. 

2.  Die  Scbarfe  oder  Deutlicbkeit : das  Erinnerungsbild  entspricbt 
der  zu  Grunde  liegenden  Empfindung  in  wecbselndem  Grade.  Wenn 
icb  eine  Empfindung  nur  wenige  Male  gebabt  babe  oder  seit  ibrem 
letzten  Auftreten  lange  Zeit  verstricben  ist,  so  blasst  das  Erinnerungs- 
bild ab,  d.  b.  es  entspricbt  der  zu  Grunde  liegenden  Empfindung  immer 
weniger  genau  und  scbliesslicb  so  wenig,  dass  es  „vergessen“  ist.  So 
babe  icb  z.  B.  von  einer  Kbododendronbliitbe  eine  weit  weniger  scbarfe 
oder  deutlicbe  Vorstellung  als  von  einer  Eosenblutbe. 

3.  Den  Gefublston:  die  • Vorstellung  des  einen  Menscben  ist  von 
einem  angenebmen,  diejenige  eines  anderen  von  einem  unangenebmen 
Gefublston  begleitet. 

4.  Die  Energie  oder  die  Intensitat:  je  nacb  der  Starke  des  Im- 
pulses, welcben  eine  Ganglienzelle  mit  der  Disposition  Ei  von  der  Ideen- 
association empfangt  und  durcb  welcben  Ei  in  Ey  verwandelt  wird,  ist 
die  Intensitat  der  Vorstellung  sebr  verscbieden.  Wenn  icb  mir  ein 
friiber  gesebenes  Gemalde  jetzt  in  das  Gedacbtniss  zuriickrufe,  so  stelle 
icb  mir  gewisse  Figuren  des  Gemaldes  nicbt  nur  scbarfer,  soudern  aucb 
intensiver  vor  als  andere. 

Die  patbologiscben  Stdrungen  der  Erinnerungsbilder  oder  Vor- 
stellungen tbeilen  wir  ein  in: 

a.  Storungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen. 

p.  Stdrungen  in  der  Erbaltung  der  Vorstellungen. 

Diesen  beiden  Gruppen  entsprecben  zugleicb  die  inbaltlicben 
Stdrungen  und  die  Stdrungen  der  Scbarfe  der  Vorstellungen.  Die 
Stdrungen  der  Gefiiblstdne  der  Vorstellungen  werden  in  einem  besonderen 
Kapitel  besprocben  werden.  Die  Stdrungen  der  Energie  der  Vorstellungen 
gebdren  bereits  zu  den  Stdrungen  der  Ideenassociation  selbst. 


Die  Stiirungen  der  Vorstellungcn  ocler  Erinnerimgsbilder, 


51 


a.  Storungen  in  der  Vorstellungsbildung. 

1.  Defeete  der  Vorstellungsbildung. 

Die  Zalil  cler  inhaltlicli  verschiedenen  Vorstellungen  bezw.  Begriffe, 
welche  im  Ganzen  in  der  Hirnrinde  niedergelegt  sind,  scliwankt  ausser- 
ordeutlicli.  Es  giebt  z.  B.  Volkerscbaften  in  Afrika,  welcbe  ans  den 
zahllosen  Farbenempfindimgen , welche  die  umgebende  Natnr  in  jedem 
Menschen  erregt,  nur  zwei  concrete  Vorstellungen  gebildet  liaben,  namlich 
roth  und  schwarz:  wenigstens  geht  dies  daraus  hervor,  dass  denselben 
sprachliche  Bezeichnungen  fiir  andere  Farbenqualitaten  vollig  fehlen. 
Ebenso  existiren  polynesische  Stamme,  deren  Zahlbegriffe  und  Zahl- 
bezeichnungen  nur  bis  5 reichen:  alles,  was  grosser  als  5 ist,  wird  als 
„unendlicli  gross^^  mit  einem  Worte  bezeichnet.  Auch  innerhalb  der 
civilisirten  Volker  schwankt  bei  den  Einzelnen  die  Zahl  der  inhaltlich 
verschiedenen  Erinnerimgsbilder  je  nach  Begabung  und  Bildung  in  hoch- 
stem  Maasse.  Der  eine  hat  eben  noch  den  Begriff  des  „Productes^^  er- 
worben,  der  andere  weiss  von  „Quadratwurzeln^^,  fiir  einen  dritten  endet 
die  Reihe  der  algebraischen  Begrilfe  erst  mit  den  hochsten  ,,elliptischen 
Functionen^h 

Die  Bildung  inhaltlich  verschiedener  Erinnerimgsbilder  kann  nun 
auch  durch  Krankheit  eine  Einschrankung  erfahren  haben,  d.  h.  es 
giebt  Individuen,  welche  in  Edge  einer  krankhaften  Hirnentwickhmg 
nicht  dieselbe  Zahl  von  Begrilfen  zu  erwerben  vermochten  wie  ihre 
unter  gleichen  socialen  Bedingungen  lebende  Umgebung.  Man  bezeichnet 
solcheKranke  als  Angeboren-Schwachsinnige  und  unterscheidet  je  nach  dem 
Grade  des  angeborenen  Schwachsinns  Idioten,  Imbecille  und  Debile. 
Bei  dem  Idioten  ist  die  Zahl  der  Erinnerungsbilder  iiiisserst  klein : nicht 
einmal  von  den  Personen  und  Gegenstanden,  welche  ihn  stets  umgeben, 
legt  er  Erinnerungsbilder  nieder,  welche  ihm  z.  B.  das  Wiedererkennen 
derselben  ermoglichten.  Nur  von  dem  Essen  und  vielleicht  vom  strahlen- 
den  Licht  und  von  seinen  Kleidern  und  seinem  Korper  bildet  er  sich 
einige  unbestimmte  Vorstellungen,  und  auch  diese  ohne  sprachliche 
Componenten.  Das  Lacheln  im  Gesicht  des  Idioten  scheint  zu  beweisen, 
dass  er  die  leuchtende  Elamme,  welche  man  ihm  entgegenhiilt,  wieder- 
erkennt,  aber  weder  weiss  er  selbst  sie  zu  benennen  noch  versteht  er 
die  Benennung,  welche  andere  ihr  geben.  Bei  dem  Imbecillen  sind 
zahlreiche  concrete  Begriffe  zur  Entwicklung  gelangt  und  werden  vom 
Kranken  richtig  bezeichnet.  So  verfiigt  er  fast  stets  liber  sichere  Er- 
innerungsbilder von  den  ihn  umgebenden  Personen  und  Gegenstanden. 
Die  Farbenbegriffe  sind  meist  noch  etwas  liickenhaft,  namentlich  die 
Vorstellungen  „griin“,  „blau“,-  ;,grau"  sind  oft  mangelhaft  getrennt. 


52  Die  Storungen  der  Vorstellungen  Oder  Erinnerungsbilder. 

Die  Zahlbegriffe  reiclien  hochstens  bis  10.  Die  Erinnerungsbilder  der 
landesiiblicben  Geldmiinzen  sind  meist  vorbanden.  Beziebungsbegriffe 
und  abstractere  Begriffe  feblen  in  der  Regel  vollkomnien.  Bei  dem 
Debilen  sind  aucb  Beziebungsbegriffe  und  abstracte  Begriffe  zur  Aus- 
bildung  gekommen.  Der  Debile  weiss,  was  „gleicb'^  und  was  ^abnlicb^^ 
bedeutet,  er  spricbt  von  Ursacbe  und  Wirkung  und  fiibrt  Gott  und 
Vaterland  und  Recbt  und  Unrecbt  im  Munde.  Der  Defect  der  Begriffs- 
bildung  tritt  bier  erst  zu  Tage,  wenn  man  den  Kranken  nacb  der  Be- 
deutung  dieser  complicirteren  und  abstracteren  Begriffe  fragt.  Dann 
ergiebt  sicb,  dass  die  Partialvorstellungen,  welcbe  diesen  Worten  erst 
Inbalt  und  Bedeutung  geben,  garnicbt  oder  sebr  sparlicb  entwickelt 
sind.  Man  muss  sicb  also  biiten,  aus  dem  Vorbandensein  des  Wortes 
auf  das  Vorbandensein  des  Begriffes  zu  scbliessen.  Gcrade  bei  dem 
angeborenen  Scbwacbsinn  leicbteren  Grades  stellen  sicb  gern  Worte  ein, 
wo  Begriffe,  d.  b.  inbaltgebeude  Partialvorstellungen  feblen. 

2.  Bildung  falseher  Erinnerungsbilder. 

Falscbe  Erinnerungsbilder,  d.  b.  Erinnerungsbilder,  welcbe  den 
Objecten  nicbt  entsprecben,  kommen  dann  zu  Stande,  wenn  die  Empfin- 
dungen,  aus  welcben  die  Erinnerungsbilder  bervorgegangen  sind,  patbo- 
logiscbe  waren.  So  binterlassen  die  Illusion,  die  Hallucination,  die  byper- 
und  die  bypastbetiscbe  Empfindung  Erinnerungsbilder,  welcbe  entweder 
qualitativ  oder  intensiv  der  Wirklicbkeit  nicbt  entsprecben.  Der  Vor- 
gang  der  Vorstellungsbildung  selbst  ist  bier  offenbar  nicbt  gestort,  die 
Vorstellungen  sind  bier  nur  desbalb  falscb,  weil  sie  aus  patbologiscb 
verandertem  Empfindungsmaterial  gewonnen  sind.  Es  kommen  aber 
bei  Geisteskranken  aucb  primare  Falscbungen  der  Erinnerungsbilder 
vor,  d.  b.  obwobl  im  Empfindungsleben  keinerlei  Storungen  vorliegen, 
bilden  sicb  unricbtige  Erinnerungsbilder,  also  Erinnerungsbilder,  die 
weder  den  stattgebabten  Empfindungen  nocb  den  Objecten  entsprecben. 
Da  diese  Falscbungen  der  Erinnerungsbilder  fast  ausnabmslos  nicbt 
scbon  im  Augenblick  des  Niederlegens  des  Erinnerungsbildes  stattfinden, 
sondern  an  fruber  niedergelegten  Erinnerungsbildern  vor  sicb  geben, 
werden  dieselben  unter  den  Storungen  der  Erbaltung  der  Erinnerungs- 
bilder besprocben. 

p.  Storungen  der  Erhaltung  der  Erinnerungsbilder. 

1.  Verlust  von  Erinnerungsbildern. 

Wie  alle  Elemente  und  Gewebe  des  Kdrpers  unterliegen  aucb  die 
Ganglienzellen  der  Hirnrinde  dem  Einfluss  des  Stoffwecbsels,  und  dieser 


Die  StOrungen  der  Vorstellimgen  oder  Erinnerungsbilder. 


53 


Einfluss  bewirkt,  class  die  Disposion  Ki  allmahlicli  verwisclit  wircl.  Auf 
psychischem  Gebiet  aussert  sich  dies  darin,  class  das  Erinnerunpbild, 
wenn  die  zAigelibrige  Empfindimg  sich  nicht  wiederholt,  allmahlicli  an 
Scharfe  verliert  imd  somit  der  zu  Grimde  liegenden  Empfindung  bezw. 
clem  zugehorigen  Object  nicht  mehr  entspricht.  Schliesslich  kann  Ri  so 
vollig  verwischt  sein,  class  wir  das  bez.  Erinnerungsbild  iiberhaupt  nicht 
mehr  reprocluciren  konnen:  „wir  haben  es  vergessen".  Diese  physio- 
logische  Zerstonmg  der  Erinnerungsbilder  ist  stets  eine  sehr  langsame; 
unter  pathologischen  Verhaltnissen  ist  diese  Zerstbrung  oft  enorm  be- 
schleimigt.  Bald  ist  dieselbe  auf  ein  einziges  Sinnesgebiet  beschrankt, 
bald  handelt  es  sich  urn  einen  diffusen  Verlust  von  Erinnerungsbildern, 
an  welchem  sich  alle  Sinnesspharen  mehr  oder  weniger  gleichmassig  be- 
theiligen.  Der  isolirte  Verlust  der  optischen  Erinnerungsbilder  wircl 
als  Seelenblindheit  bezeichnet.  Der  Seelenblincle  sieht  noch  alles, 
seine  Gesichtsempfindung en  sincl  intact,  aber  er  erkennt  nicht 
wieder,  was  er  sieht,  weil  er  seine  Gesichtsvorstellungen  verloren  hat. 
Den  Lbffel,  welchen  er  vor  sich  sieht,  starrt  er  als  einen  unbekannten 
Gegenstand  an ; erst  wenn  er  ihn  betastet,  erkennt  er  ihn  wieder.  Wircl 
clem  Seelenblinclen  gesagt,  er  solle  versuchen,  sich  die  Strassen  seines 
Wohnortes  im  Geiste  vorzustellen,  so  erklart  er  sich  hierzu  absolut  un- 
fahig.  Er  hat  seine  „optische  Phantasie"  eingebiisst.  Dementsprechend  sincl 
auch  aus  seinen  Traumen  alle  optischen  Elemente  verschwunclen.  Diese 
Seelenblindheit  cleutet  stets  auf  eine  Heerclerkrankung  der  Rincle  der  lateralen 
Convexitat  im  Gebiete  der  Occipitalwinclungen  bin.  Eine  specielle  Form 
der  Seelenblindheit  ist  die  Alexie,  cl.  h.  die  Unfahigkeit  Gedrucktes  oder 
Geschriebenes  zu  verstehen.  Dieselbe  beruht  auf  clem  Verlust  der 
optischen  Buchstabenbikler  unci  ist  das  Heerdsymptom  cles  Gyrus  angu- 
laris  sinister.  — Der  isolirte  Verlust  der  akustischen  Erinnerungs- 
bilder wird  als  Seelentaubheit  bezeichnet.  Der  Seelentaube  hort 
alles,  aber  er  erkennt  die  Gerausche  unci  Klange,  welche  er  hbrt,  nicht 
wieder.  Am  haufigsten  ist  die  specielle  Form  der  Seelentaubheit,  welche 
man  als  Worttaubheit  oder  sensorische  Aphasie  bezeichnet.  Hier  sincl 
speciell  die  akustischen  Erinnerungsbilder  der  Worte  verloren  gegangen. 
Der  Kranke  hort  die  Worte,  versteht  sie  aber  nicht  mehr.  Diese  sen- 
sorische Aphasie  beruht  auf  einer  Heerclerkrankung  cles  mittleren  Ab- 
schnitts  der  linken  obersten  Schlafenwinclung.  — Der  isolirte  Verlust 
der  tactilen  Erinnerungsbilder  erzeugt  die  Seelengefiihllosig- 
keit.  Die  Kranken  fiihlen  jede  Beriihrung,  erkennen  aber  die  Gegen- 
stancle  clurch  Befiihlen  nicht  mehr.  Es  ist  wahrscheinlich , dass  die 
tactilen  Erinnerungsbilder  ebenso  wie  die  Lagevorstelhmgen  im  oberen 
Scheitellappchen  niedergelegt  sincl.  Encllich  konnen  auch  die  Be- 
wegungsvorstellungen,  d.  h.  die  Erinnerungsbilder  unserer  Bewegungs- 


54  StOrungen  der  Vorstellungen  oder  Erinnerungsbilder. 

empfinclungen  isolirt  zu  Grimde  gehen.  Ueber  den  corticalen  Sitz  dieser 
Stbrungen  besteht  nocb  keine  Sicherheit.  *) 

Aus  dieser  Zusammenstellung  ergiebt  sicb  bereits,  dass  diese  isolirten 
Defecte  der  Erinnerungsbilder  einer  einzigen  Sinnessphare  fiir  die 
Psychiatrie  weniger  Bedeutung  besitzen.  Denn  dieselben  beruhen  auf 
circiimscripten  Heerderkrankungen,  wabrend  die  Psycbosen  auf  diffusen 
Erkrankungen  der  Hirnrinde  beruhen.  Indes  ist  es  nicht  selten,  dass 
zu  einer  Heerderkrankung  des  Gebirns  in  Folge  der  von  ihr  ausgehenden 
Fernwirkungen  eine  Psychose  binzutritt.  So  kann  z.  B.  ein  Erweichungs- 
beerd  im  Cuneus  als  Ausfallssymptom  Seelenblindbeit  und  zugleicb  in 
Folge  einer  vorilbergebenden  die  gesammte  Hirnrinde  in  Mitleidenscbaft 
ziebenden  Eernwirkung  eine  voriibergebende  Psycbose  erzeugen.  Anderer- 
seits  kommt  es  vor,  dass  der  diffuse  iiber  die  ganze  Hirnrinde  ausge- 
breitete  Krankbeitsprocess,  welcber  die  Psycbose  bedingt,  in  einem  be- 
stimmten  Tbeil  der  Hirnrinde  ganz  besonders  iiberwiegt  und  so  einen 
isolirten  Defect  der  Erinnerungsbilder  einer  bestimmten  Sinnesspbare 
vortauscbt.  So  existirt  z.  B.  eine  Psycbose,  die  auf  einem  anatomiscb 
nacbweisbaren  Untergang  der  specifiscben  Elemente  im  ganzen  Bereicb 
der  Hirnrinde  berubt.  Bei  dieser  sog.  Dementia  paralytica  ist  nament- 
licb  im  Beginn  die  Rindenerkrankung  zuweilen  in  einem  Rindenabscbnitt, 
z.  B.  in  der  obersten  linken  Scblafenwindung  so  vorzugsweise  localisirt, 
dass  iiber  dem  Verlust  der  akustiscben  Erinnerungsbilder  der  Spracbe, 
also  iiber  der  Worttaubheit,  die  leicbten  Defecte  auf  dem  Gebiete  der 
Erinnerungsbilder  anderer  Sinnesspbilren  leicht  iiberseben  werden. 

Erbeblicb  wicbtiger  fiir  die  Psycbiatrie  ist  der  diffuse  Verlust  der 
Erinnerungsbilder.  Ein  Verlust  der  concreten  Begriffe,  der  Beziebungs- 
begriffe  sowie  aller  allgemeinen  Begriffe  kann  offenbar  iiberbaupt  nur 
durcb  eine  diffuse  Rindenerkrankung  zu  Stande  kommen,  da  diese 
Begriffe  aus  Partialvorstellungen  besteben,  welcbe  iiber  die  ganze  Hirn- 
rinde zerstreut  liegen.  Der  diffuse  Verlust  von  Erinnerungsbildern  be- 
trifft  vorzugsweise  und  zuerst  gerade  die  zusammengesetzteren  und  all- 
gemeineren  Vorstellungscomplexe  oder  Begriffe.  Derselbe  ist  cbarakte- 
ristiscb  fiir  den  sog.  envorbenen  Scbwacbsinn  in  seinen  verscbiedenen 
Formen  (Dementia  paralytica,  secundaria,  senilis,  epileptica,  alcobolica 
u.  s.  w.).  In  der  iibergrossen  Mebrzabl  der  Falle  ist  er  progressiv.  Scbliess- 
licb  geben  diesen  Kranken  aucb  die  einfacbsten  concreten  Begriffe  ver- 
loren.  Ganz  besonders  rascb  pflegen  die  Kranken  aucb  diejenigen  Er- 
innerungsbilder einzubiissen , welcbe  sie  erst  vor  kurzer  Zeit,  speciell 
also  nacb  Beginn  ibres  Leidens  erworben  baben.  Erst  nacb  und  nacb 


*)  Viele  Autoren  lassen  alle  willkurlichen  Bewegungen  aus  diesen  Bewegungs- 
vorstellungen  hcrvorgehen. 


Die  Sterungen  der  Vorstellungen  oder  Erinnerungsbilder. 


55 


werden  anch  die  Erinnerungsbilder,  welche  clem  Kranken  aus  langst 
vergaugener  Zeit  uoch  ziir  Verfiigung  stelien,  von  dem  Krankbeits- 
process  ergriffeu.  Dies  allmablicbe  Fortschreiten  der  Einbusse  der  Er- 
inuerungsbilder  von  der  Jiingstvergangenheit  zur  Langstvergangenbeit  wird 
von  Ribot  als  das  Gesetz  des  riickscbreitenden  Erinnerungsverlustes 
(Loi  de  la  regression)  bezeicbnet.  Dasselbe  erklart  sicb  offenbar  daraus, 
class  diejenigen  Erinnerungsbilder  der  Langstvergangenbeit,  z.  B.  der  Jugend, 
welcbe  ilberbaupt  im  mittleren  Alter  nocb  erbalten  zu  sein  pflegen  und 
deren  Verlust  allein  als  krankbaft  in  Betracbt  kommen  kann,  im  Laufe  des 
Lebeus  clurcb  baufige  Reprodiictionen  so  sebr  eingepragt  und  befestigt 
worden  sind,  class  sie  dem  Krankbeitsprocess  stilrkeren  Widerstand 
leisten.  Fiir  das  geringe  Haften  der  nacb.  Beginn  der  Psycbose  er- 
Avorbenen  Erinnerungsbilder  kommt  speziell  nocb  in  Betracbt,  class  die 
Ganglienzellen  mit  clem  Einsetzen  der  Krankbeit  durcb  ibre  patbo- 
logiscben,  zum  Tbeil  unter  clem  Mikroskop  post  mortem  nacbweisbaren 
Veranclerungen  scbon  die  A uf  nab  me  der  Erinnerungsbilder  in  mangel- 
bafter  und  unvollkommener  Weise  vollzieben. 

Was  eben  liber  den  Verlust  einfacber  und  zusammengesetzter  Er- 
innerungsbilcler  gesagt  wurcle,  gilt  nun  gauz  in  clerselben  Weise  aucb 
fill’  gauze  Reiben  von  Eriunerungsbilclern.  Ein  Erlebniss  binterlasst 
uicbt  ein  einziges  Erinnerungsbilcl,  sonderu  eine  cbronologiscb  geordnete 
Reibe  einzelner  tbeils  einfacb^’  tbeils  zusammengesetzter  Erinnerungs- 
bilcler.  Aucb  solcbe  cbronologiscb  geordnete  Reiben  geben  bei  dem  er- 
worbenen  Scbwacbsinn  verloren:  der  Kranke  vergisst  seine  Erlebnisse 
und  zwar  wieclerum  zuerst  diejenigen  der  jiiugsten  Vergangenbeit. 
Encllicb  legen  wir  viele  Erinnerungsbilder  in  ganz  bestimmten  associativen 
Verknlipfungen  niecler. *)  So  lernen  wir,  class  7x8  = 56,  class  die 
Hauptstadt  von  Frankreicb  Paris  ist,  class  1 Tbaler  3 Mark  entspricbt 
etc.  Haufig  geben  nun  die  einzelnen  Erinnerungsbilder  zwar  nicbt  ver- 
loren, wobl  aber  ibre  associativen  Verknlipfungen.  Aucb  dieser  Verlust 
der  associativen  Verknlipfungen  kommt  zuweilen  ganz  isolu’t,  cl.  b.  be- 
scbrankt  auf  eine  einzige  Associationsbabn  vor.  Plierber  gebort  z.  B. 
die  scbon  erwabnte  „optiscbe  Apbasie^b  Kranke  mit  optiscber  Apbasie 
erkennen  alle  Gegenstancle  (sind  also  nicbt  seelenblind),  fiuclen  aber  fiir  die 
ibnen  gezeigten  Gegenstancle  die  spracblicbe  Bezeicbnung  nicbt.  Erst  wenn 
sie  den  Gegenstand  nicbt  nur  seben,  sonclern  aucb  betasten  dlirfen,  finclen 
sie  das  Wort  fiir  den  Gegenstand  sofort.  Hier  sind  die  einzelnen  Er- 
innerungsbilder erbalten,  aber  die  associative  Verknlipfung  zwiscben  den 
optiscben  Erinnerungsbilclern  des  Hinterbauptlappens  und  clem  moto- 


*)  Strong  genommcn  beruht  auch  die  chronologische  Ordnung  der  einzelnen 
Erinnerungen  eines  Erlebnisses  auf  solcben  associativen  Verknupfungen. 


56 


Die  Sttirimgen  der  Vorstellungen  oder  Erinnerungsbilder. 


rischen  Sprachcentrum  ist  durch  eine  Heerderkrankung  zerstdrt.  Sehr 
viel  liaufiger  ist  ein  iiber  die  ganzc  Hirnrinde  ausgebreiteter  diffuser 
Untergang  der  associativen  Verkniipfiingen.  Derselbe  ist,  ebenso  wie 
der  Untergang  der  Erinnerungsbilder  selbst , charakteristiscb  fiir  alle 
Formen  des  erworbenen  Schwachsinns.  Den  Folgeerscbeinungen  dieses 
Untergangs  der  associativen  Verkniipfungen  werden  wir  spiiter  bei  Be- 
sprecbung  der  Storungen  der  Ideenassociation  nocli  bfters  wieder 
begegnen. 

Eine  ganz  besondere  Form  des  Verlustes  einer  cbronologiscb  zu- 
sammengehorigen  Reihe  von  Erinnerungsbildern  resp.  der  zugehorigen 
associativen  Verkniipfungen  stellt  die  sog.  Amnesie  dar.  Dieselbe  ist 
dadurcb  ausgezeichnet,  dass  lediglich  alle  oder  fast  alle  einem  ganz  be- 
stimmten,  auch  anderweitige  Krankbeitssymptome  aufweisenden  Zeitraum 
angehdrigen  Erlebnisse  vergessen  sind.  Mitunter  lasst  sicb  genau  fest- 
stellen,  von  welcber  Stunde  und  Minute  an  und  bis  zu  welcber  Stunde  und 
Minute  der  Krankheitszustand , fiir  den  Amnesie  bestebt,  gedauert  bat. 
Man  bezeicbnet  solcbe  Krankbeitszustande  mit  nacbfolgender  Amnesie 
aucb  kurz  als  Dammerzustande  (oder  — weniger  zweckmassig  — aucb  als 
Zustiinde  der  Bewusstseinsstorung  oder  Bewusstlosigkeit).  Ist  die  Am- 
nesie keine  totale,  so  spricbt  man  von  „summari sober  Erinnerung" 
Oder  ^partiellem  Erinnerungsdefect'^  Diese  Amnesie  berubt  wabr- 
scbeinlicb,  ebenso  wie  die  analoge  fiir  Tiiiiume,  darauf,  dass  associative 
Verknupfungen  derjenigen  Empfindungen  und  Vorstellungen,  welcbe 
wiibrend  des  Diimmerzustandes  auftreten,  mit  denjenigen  des  normalen 
Zustandes  vor  und  nacb  jenem  Zeitraum  aus  irgend  einem  Grunde  unter- 
bleiben  oder  verloren  geben.  In  seltenen  Fallen  findet  man,  dass  bei 
Wiederbolung  des  Diimmerzustandes  wabrend  des  neuen  Diimmerzustandes 
die  Erinnerung  fiir  die  Erlebnisse  des  ersten  wiederkebrt ; man  bezeicbnet 
dies  als  „alternirendes  Bewusstsein",  Dammerzustande  mit  nacbfolgender 
Amnesie  finden  sicb  namentlicb  bei  Epilepsie,  Hysterie,  Intoxicationen, 
nacb  Kopfverletzungen  und  als  sogen.  „transitoriscbes  Irresein";  aucb 
die  Zustande  der  Scblaftrunkenbeit , des  Scblafwacbens  und  Scblafwan- 
delns,  sowie  der  Hypnose  gebbren  bierber. 

2.  Falschung  von  Erinnerungsbildern. 

Die  Erinnerungsbilder  unserer  Hirnrinde  steben  untereinander  in 
ausgiebigster  associativer  Verkniipfung.  So  kommt  es,  dass  unter  dem 
Einfluss  der  Ideenassociation  die  Gruppirung  und  associative  Verkniipfung 
der  Erinnerungsbilder  in  krankbafter  Weise  veriindert  werden  kann  (Erin- 
nerungsentstellungen),  oder  Erinnerungsbilder,  deren  zu  Grunde  liegende 
Empfindungen  nicbt  einmal  in  annabernd  entsprecbender  Verkniipfung  je 
aufgetreten  sind,  associativ  verkniipft  werden  (Erinnerungstauscbungen). 


Storungen  der  intellectuellen  Geftlhlstdne  oder  AfFectstdrungen. 


57 


Beide  Storungen  betreffen  ausschliesslich  die  Erlebnisse  des  Kranken 
selbst.  Die  Hysteriscbe  macbt  aiis  dem  Besuch  des  Arztes  einen  Stuprum- 
versiich  (Erinnerungsentstelliing),  der  Paralytiker  erfindet  obne  jeden  tliat- 
sacblicben  Inbalt  Jagden  nnd  Abenteuer,  die  er  mit  alien  Einzelheiten  er- 
lebt  baben  will  (Erinnerimgstauscliung).  Da  diese  Falschungen  der  Er- 
innerungsbilder  stets  bereits  Storungen  der  Ideenassociation  voranssetzen, 
werden  dieselben  ansfiibrlicher  erst  unter  diesen  besprocben  werden. 


c.  Storungen  der  intellectuellen  Oefiihlstdne  oder 

AfFectstorungen. 

Sowobl  den  Empfindungen  wie  ihren  Erinnerungsbildern,  den  Vor- 
stellungen,  kommt  ein  Gefiihlston  zu.  Die  Gefiiblstone  der  Empfindungen 
werden  als  sensorielle  Gefiiblstone,  die  Gefiiblstone  der  Vorstellimgen 
als  intellectuelle  Gefiiblstone  bezeicbnet.  Znnacbst  kommen  nnr  den 
Empfindungen  Gefiiblstone  zu,  und  die  Vorstellimgen  bekommen  ibre 
Gefiiblstone  einfacb  von  den  zu  Grunde  liegenden  Empfindungen.  Die 
pathologiscben  Storungen  der  Gefiiblstone  der  Empfindungen  sind  bei 
der  Lebre  von  den  Empfindungsstbrungcn  bereits  erortert  worden.  Die 
Gefiiblstone  von  Vorstellimgen,  deren  Empfindungen  von  krankbaft 
veranderten  Gefiiblstonen  begleitet  waren,  iiberkommen  selbstverstandlicb 
von  den  Empfindungen  aucb  diese  krankbaft  veranderten  Gefiibls- 
tone. Der  Kranke,  welcher  an  contraren  Sexualempfindungen  leidet, 
begleitet  nicbt  nur  seine  Empfindungen  mit  pathologiscben  Gefiibls- 
tonen, sondern  aucb  sein  Vorstellungsleben  zeigt  die  entsprecbende 
Veranderung  der  Gefiiblstone:  aucb  in  der  Pbantasie  sind  die  Be- 
ziebungen  zum  eigenen  Gescblecbt  bei  diesen  Kranken  mit  krankbaften 
Lustgefiiblen  verkniipft.  Es  wiirde  sonacb  scbeinen,  als  sei  eine  besondere 
Besprecbung  der  intellectuellen  Gefiiblstone  ganz  iiberfliissig.  Dem  ist 
jedocb  nicbt  so.  Die  intellectuellen  Gefiiblstone  erfabren  bei  dem 
Menscben  eine  fiir  das  gesunde  und  kranke  Geistesleben  hbcbst  be- 
deutsame  Weiterentwicklung.  Es  kommt  namlicb  ein  friiber  bereits 
gestreiftes  Gesetz  zur  Geltung,  welcbes  folgendermaassen  lautet:  Hat 
von  zwei  gleicbzeitigen  Vorstellungen  Vi  und  Vg  V^,  weil  es  von  einer 
mit  stark  positivem,  resp.  negativem  Gefiiblston  bebafteten  Empfin- 
dung  El  stammt,  einen  intensiv  positiven  resp.  negativen  Gefiiblston, 
bingegen  V2,  weil  es  von  einer  gleicbgiiltigen  Empfindung  Eg  stammt, 
keinen  oder  nur  einen  schwacben  Gefiiblston,  so  iibertragt  sicb  der  starke 
Gefiiblston  von  Vj  auf  Vg.  Man  bezeicbnet  diese  Uebertragung  als 
Irradiation  der  Gefiiblstone.  Besonders  stark  ist  diese  Irradiation 
bei  solcben  Vorstellungen,  welcbe  gleicbzeitig  niedergelegt  wurden  oder, 


58 


StCrungen  der  intellectuellen  GefdhlstOne  oder  Affectstdrungen. 


anclers  ausgedriickt , deren  zugeliorige  Empfindungen  gleiclizeitig  auf- 
getreten  sind.  Wenn  ich  an  einem  beliebigen  Orte  einen  Unfall  z.  B. 
eine  Verletznng  erlitten  babe,  so  ist  kiinftig  niclit  nur  die  Erinnerung 
an  diese  Verletznng  von  einem  Unlustgefiilil  begleitet,  sondern  baufig 
ist  mir  ancb  die  Erinnerung  an  den  Ort  selbst  verleidet,  d.  b.  eben- 
falls  mit  einem  Unlustgefiibl  verkniipft.  Die  genauere  Analyse  des 
psycbologiscben  Vorganges  ergiebt  Folgendes:  Eine  bestimmte  Oertlicbkeit 
erregt  in  iins  die  Empfindung  Eo,  gleicbzeitig  baben  wk  bei  der  Ver- 
letzung  die  Berubrungsempfindung  Et.  Eo  ist  von  keinem  oder  sebr 
scbwacbem  Gefliblston  begleitet.  Et  ist  scbmerzhaft,  also  von  intensiv 
negativem  Gefliblston  begleitet.  Von  Eo  bleibt  das  Erinnerungsbild  Vo, 
von  Et  das  Erinnerungsbild  Vt  zuriick.  Vo  und  Vt  als  gleicbzeitig 
niedergelegte  Vorstellungen  steben  untereinander  in  associative!'  Ver- 
kniipfung.  Vo  entbebrt  zunacbst  des  Gefiiblstons,  Vt  iiberkommt  den 
intensiv  negativen  Gefliblston  von  Et.  Das  Irradiationsgesetz  aussert 
sicb  nun  im  vorliegenden  Fall  darin,  dass  Vt  seinen  Gefliblston  in 
voller  oder  abgescbwacbter  Intensitat  auf  das  associativ  mit  ibm  ver- 
knlipfte  Vo  iibertragt.  Die  Folge  biervon  ist,  dass  kiinftig  aucb  die 
Erinnerung  des  Ortes,  obwobl  dessen  Empfindung  nie  von  negativem 
Gefliblston  begleitet  war,  von  Unlustgefiibl  begleitet  ist.  Der  Geflibls- 
ton von  Et  bat  sicb  bier  direct  auf  Vt  und  indirect  aucb  auf  Vo  iiber- 
tragen.  Aber  die  Uebertragung  gebt  nocb  weiter.  Wenn  icb  die  Oert- 
licbkeit wiedersebe,  also  Eo ' sicb  wiederbolt,  so  ist  dies  Eo  baufig  von 
Unlustgefiibl  begleitet.  Es  bat  also  weiterbin  Vo  seinen  Vt  resp.  Et 
entlebnten  Gefliblston  auf  das  zweite  Eo  libertragen.  Die  Empfindung 
bat  mitbin  bier  ibren  Gefliblston  der  Vorstellung  entlebnt.  Man  be- 
zeicbnet  diese  Gefliblstone  der  Empfindung,  welcbe  derselben  nicbt  ur- 
spriinglicb  zukomnien,  sondern  den  Vorstellungen  entlebnt  sind,  als 
reflectirte  Gefliblstone.  Neben  der  Irradiation  der  Gefliblstone  ist 
diese  Reflexion  der  Gefliblstone  die  wicbtigste  Erscbeinung  unseres  Ge- 
fliblslebens. 

Die  wicbtigste  Consequenz  des  Irradiations-  und  Reflexionsgesetzes 
ist  folgende:  wenn  icb  in  einer  gewissen  Zeiteinbeit  eine  oder  einige 
wenige  Empfindungen  oder  Vorstellungen  mit  gleicbsinnigem  starkem 
Gefliblston  babe,  so  werden  .die  vielen  anderen  in  derselben  Zeiteinbeit 
auftretenden  Empfindungen  und  Vorstellungen,  welcbe  zunacbst  von 
keinem  oder  scbwacbem  Gefiiblston  begleitet  sind,  sammtlicb  durcb  den 
Gefiiblston  jener  einen  Vorstellung  (oder  Empfindung)  gefarbt.  So  kommt 
es,  dass  sebr  baufig  innerbalb  einer  gewissen  Zeiteinbeit  unsere  Em- 
pfindungen und  Vorstellungen  eine  Gleicbartigkeit  der  Gefliblstone  zeigen. 
Begrifflicb  fassen  wir  dann  den  Durcbscbnitt  dieser  gleicbartigen  Ge- 
fiiblstone  der  innerbalb  einer  Zeiteinbeit  vorbandenen  Empfindungen  und 


StOmngen  der  intellectuellen  Gefiihlstdne  oder  Affectstdrungen.  59 

Vorstelluugen  iiuter  clem  Wort  „ Stimmung"  zusammen.  Unsere 
Stimmimg  ist  somit  nicht  ein  unabliaugiger,  selbstancliger  psychischer 
Process,  sondern  die  Abstraction  aus  den  gleicliartigen  Gefliblstonen  der 
Vorstellimgen  und  Empfindungen  innerbalb  eines  bestimmten  Zeitab- 
scbnittes.  Treten  innerbalb  eines  solcben  mebrere  Vorstellimgen  (oder 
Empfindungen)  mit  starkem,  aber  entgegengesetztem  Gefublston  auf,  so 
bat  es  gar  keinen  Sinn,  von  einer  einbeitlicben  Gemiitbsstimmimg  zu 
reden. 

Die  Gefiiblstbne  und  Stimmimgen  beeinflussen  in  bobem  Maass  die 
Ideenassociation  und  das  Endglied  derselben,  die  Handlung.  Insofern 
die  Gefiible  beide  beeinflussen,  bezeicbnet  man  sie  aucb  als  Affecte. 
Der  Einfluss  der  Affecte  auf  den  formalen  Ablauf  der  Ideenassociation 
bangt  fast  ausscbliesslicb  von  ibren  Vorzeicben  ab,  Traurige  oder  de- 
pressive Affecte  (mit  negativem  Vorzeicben)  verlangsamen  den  Vor- 
stellungsablauf,  beitere  oder  exaltirte  Affecte  (mit  positivem  Vorzeicben) 
bescbleunigen  ibn.  Ganz  dasselbe  gilt  im  Allgemeinen  aucb  von  dem  Ein- 
fluss auf  die  Handlungen.  Depressive  Affecte  fiibren  langsam  und  spiir- 
bcb  zu  Handlungen,  exaltirte  Affecte  rascb  und  ausgiebig. 

Nicbt  alle  Gefiiblstbne  sind  qualitativ  identiscb  und  nur  nacb  In- 
tensitat  und  Vorzeicben  verscbieden.  Speciell  die  intellectuellen  Gefiibls- 
tbne  der  complicirteren  Vorstellimgen  zeigen  zabllose  qualitative 
Niiancir ungen.  Scbon  das  Lustgefiibl,  welcbes  die  Scballempfindung  des 
Duraccords  c e— g begleitet,  ist  von  dem  Lustgefiibl,  welcbes  die 
Scballempfindung  des  Mollaccords  c — es — g begleitet,  nicbt  nur  inteusiv, 
sondern  aucb  qualitativ  verscbieden.  Viel  verscbiedenartiger  nocb  sind 
die  Gefiiblstbne,  welcbe  imsere  complexen  Vorstellimgen  begleiten.  Hire 
bbcbste  Differenzirung  und  Mannigfaltigkeit  erreicben  diese  Gefiiblstbne 
da,  wo  sie  etbiscbe  Vorstellimgen  begleiten.  Die  complexen  Vorstellimgen 
Vaterland,  Familie,  Nacbster,  Ebre,  Kecbt,  Gesetz  etc.  sind  bei  dem 
normalen  Menscben  von  specifiscben  Gefiiblstbnen  begleitet,  welcbe  man 
aucb  direct  als  „ etbiscbe  Gefiible^^  bezeicbnet.  Dieselben  sind  die 
Hesultanten  zablreicber  Irradiationen,  welcbe  die  einzelne  Vorstellung 
von  alien  associativ  mit  ibr  verkniipften  Vorstellungen  erfabrt.  Bei  dem 
einzelnen  Individuum  sind  diese  etbiscben  Gefiiblstbne  zu  verscbiedeuen 
Zeiten  in  der  Hegel  ziemlicb  constant:  ibre  Summe  macbt  im  Wesent- 
licben  das  aus,  was  man  als  den  Cbarakter  des  Individuums  be- 
zeicbnet. Plaufig  driickt  man  jedocb  aucb  mit  dem  Wort  „Cbarakter‘^ 
ganz  allgemein  das  Ueberwiegen  gewisser  Gefiiblstbne  und  Stimmimgen 
bei  einem  Individuum  aus. 

Die  wicbtigsten  krankbaften  Stbrungen  des  Gefiiblslebens  sind  — 
abgeseben  von  den  friiber  bereits  besprocbenen  Stbrungen  der  primaren 
(d.  b.  nicbt-reflectirten)  Gefiiblstbne  der ' Empfindung  — folgende: 


60 


Storungen  der  intellectuellen  Geftihlstfine  Oder  AffectstOrungen. 


1.  Krankhafte  Depression, 

2.  Krankhafte  Exaltation, 

3.  Krankhafte  Keizbarkeit, 

4.  Krankhafte  Apathie, 

5.  Krankhafte  Labilitiit  cler  Gefiihlstbne  resp.  Stimmungen. 


1.  Krankhafte  Depression  (Dysthymie). 

Wie  hei  jeder  Gefiihlsstorung  ist  auch  bei  der  pathologischen  De- 
pression d.  h.  bei  dem  krankhaften  Ueberwiegen  negativer  Gefiihlstone 
streng  zwischen  primaren  und  secundaren  Gefiihlsstbrungen  zu  unter- 
scheiden. 

Die  secundare  Depression  ist,  motivirt  durch  das  thatsach- 
liche  Vorhandensein  von  Empfindungen  oder  Vorstellungen  mit  nega- 
tivem  Gefiihlston.  Die  unangenehmen  Empfindungen,  welche  eine 
secundare  Depression  veranlassen,  konnen  entweder  wirklichen  Reizen 
entsprechen  (so  z.  B.  bei  Neuralgie)  oder  auf  der  friiher  besprochenen 
Hyperalgesie  beruhen  oder  endlich  hallucinatorischen  Ursprungs  sein. 
In  alien  drei  Fallen  ist  das  Gefiihlsleben  selbst  nicht  primar  gestort. 
Der  Hallucinant,  der  die  schrecklichsten  Drohworte  hort  und  dariiber 
verstimmt  ist,  ist  krank,  insofern  er  hallucinirt;  die  secundare  allge- 
meine  Verstimmung  fiber  diese  Hallucinationen  ist  kein  ueues  Krank- 
heitssymptom,  sondern  eine  normale,  nach  den  Gesetzen  der  Irradiation 
durchaus  selbstverstandliche  Reaction  auf  die  Hallucinationen.  Ganz 
dasselbe  gilt  auch  von  der  allgemeinen  secundaren  Depression,  welche 
Vorstellungen  unangenehmen  Inhalts  begleitet.  Der  Paranoiker,  welcher 
sich  verfolgt  wahnt  und  dariiber  verstimmt  ist,  ist  krank,  insofern  er 
eine  Wahnvorstellung  hat;  die  durch  die  Wahnvorstellung  hervorgerufene 
allgemeine  Depression  ist  durch  den  Inhalt  der  Wahnvorstellung  vbllig 
ausreichend  motivirt. 

Anders  die  primare  Depression.  Bei  dieser  fehlen  motivirende 
Empfindungen  und  Vorstellungen  vollstandig  oder,  wenn  solche  Em- 
pfindungen und  Vorstellungen  vorhanden  sind,  so  steht  doch  die  Schwere 
und  Dauer  der  allgemeinen  Depression  in  gar  keinem  Verhiiltniss  zu 
der  Geringffigigkeit  des  negativen  Geffihlstons  der  thatsachlich  vorhan- 
denen  Empfindungen  und  Vorstellungen.  Letzteres  ist  z.  B.  der  Fall, 
wenn  eine  Frau  in  Folge  des  Todes  eines  Kindes  monatelang  so  sehr 
trauert,  dass  sie  alle  Arbeiten  vernachlassigt,  die  Nahruugsaufnahme 
verweigert,  unmotivirte  Angstanfalle  hat,  sich  in  sinnlosen  Selbstanlilagen 
ergeht  u.  dgl.  Hier  ist  ja  thatsachlich  eine  traurige  Empfindung  oder  viel- 
mehr  ein  trauriger  Empfindungscomplex,  niimlich  das  Erlebniss  des  Todes 
des  Kindes  vorhanden,  und  es  ware  nach  dem  Irradiationsgesetz  ganz 


Storungen  cler  intellectuellcn  Gefiihlstono  oder  Affectstdrungen.  61 

verstandlich , wenn  langere  Zeit  eine  allgemeine  Depression  bestancle. 
Aber  in  clem  augefiibrten  Fall  iibersteigen  die  Irradiationen  weit  die 
normalen  Grenzen.  Auch  in  solcbeu  Fallen  sprecben  wir  von  einer 
primaren  Depression.  In  vielen  Fallen  feblt  eine  ursacbliche  deprimi- 
rende  Enipfindung  oder  Vorstellung  iiberhaiipt  ganz.  Die  Depression 
bricbt  aus  heiterem  Himmel  herein. 

Die  allgemeine  primare  Depression  stellt  sicb  in  vielen  Fallen  ein- 
facb  als  eine  immotivirte  Traurigkeit  dar.  Vergangenbeit  und  Zukunft 
stellt  sick  cler  Kranke  in  clem  triibsten  Licbte  vor  und  aucb  die  Em- 
pfinclungen  cler  Gegenwart  erbalten  reflectirte  negative  Gefiiblstone. 
Der  Kranke  empfinclet  alles  scbmerzlich.  Allerdings  empfindet  er  den 
Cclur- Accord  nocb  als  Consonanz:  die  primaren  sensoriellen  Gefiibls- 
tbne  sincl  nocb  erbalten,  aber  er  freut  sicb  nicbt  uber  den  Woblklang: 
die  Eeflexion  cler  patbologiscben  negativen  Gefublstone  cler  Vorstel- 
bingen  wirkt  auf  die  Empfinclungen  zuruck.  Die  Kranken  seben  alles 
Grau  in  Grau.  Die  Froblicbkeit  ibrer  Umgebung  stimmt  sie  doppelt. 
traurig. 

In  vielen  Fallen  kommt  zu  clieser  allgemeinen  Traurigkeit  eim  wef- 
terer  Afifect  binzu,  die  Angst.  Die  Angst  tritt  bald  obne  irgendwelcbe 
begleitenclen  korperlicben  Empfinclungen  auf,  bald  ist  sie  mit  den  mannig- 
faltigsten  Sensationen  vergesellscbaftet.  Im  Allgemeinen  ist  letzteres. 
baufiger.  Speciell  ist  die  Angst  sebr  baufig  mit  einem  qualvollen 
Oppressionsgefubl  in  cler  Herzgegend  verknupft.  Man  bezeicbnet  dies© 
Form  cler  Angst  als  Pracordialangst.  In  anderen  Fallen  geben  die 
Kranken  an,  dass  es  aus  der  Herzgegend  „wie  ein  beisser  Strom  zum 
Kopf  binaufziebe^b  Mancbe  Kranken  klagen  aucb  fiber  ein  die  Angst 
begleitencles  Constrictionsgeffibl  im  Halse  oder  fiber  ein  Wallen  und 
Klopfen  im  Abdomen.  Endlicb  klagen  viele  Ifranke  lecliglicb  fiber 
eine  Empfindung  der  Unrube,  welcbe  bald  im  ganzen  Korper,  bald  in 
den  Beinen,  bald  in  den  Armen  besonders  baufig  auftritt.  Entsprecbend 
dem  Sitz  clieser  Empfinclungen  localisiren  nun  aucb  die  Kranken  ibre 
Angst.  Aucb  die  einfacbe  Depression  wircl  zuweilen  localisu’t;  so 
klagte  eine  Kranke  fiber  ein  „nagencles  Kummergeffihl  in  der  Magen- 
gegencUb  Daber  sprecben  die  einen  direct  von  Herzensangst,  andere  von 
Brustangst,  wieder  andere,  bei  clenen  qualvolle  Begleitempfinclungen  im 
Abdomen  oder  Kopf  auftreten,  von  Unterleibsangst  oder  Kopfangst. 
Zuweilen  wircl  aucb  die  Localisation  cler  Angst  durcb  zufallig  coexisti- 
rende  Sensationen  oder  Scbmerzen  bestimmt,  welcbe  scbon  lange  vor 
dem  Auftreten  cler  Angst  bestanden  baben.  In  den  Fallen,  wo  Begleitem- 
pfindungen  ganz  feblen,  aussern  die  Kranken  entwecler,  die  Angst 
;,sitze  fiberalF^  oder  „es  sei  nur  eine  Seelenangst",  oder  endlicb 


ver- 


62 


StOrungen  der  intellectuellen  GefuhlstOne  oder  Affectstorungcn. 


legeii  sie  aucli  — man  kann  sagen  faute  de  mieux  — ihre  Angst 
trotz  Abwesenheit  entsprecliender  Begleitempfindungen  in  den  Kopf. 

Ueber  das  Verliiiltniss  der  Angst  zu  den  erwabnten  Begleitempfindun- 
gen ist  \fiel  gestritten  worden.  Man  ist  oft  so  weit  gegangen,  dass  man 
jene  Begleitempfindungen  direct  als  die  Ursacbe  jeder  Angst  bezeicbnet 
bat,  und  bezeicbnete  z.  B.  speciell  die  Pracordialangst  direct  als  eine 
vasomotoriscbe  Neurose  des  Herzens.  Diese  Auffassung  scbeitert  scbon 
an  der  Tbatsacbe , dass  die  Begleitempfindungen  zuweilen  aucb  bei 
lieftiger  Angst  ganz  felilen  konnen.  Die  Angst  ist  vielmebr  zuniichst 
und  in  erster  Linie,  wie  alle  normalen  und  alle  patbologischen  Affecte, 
corticalen  Ursprungs.  Defter  und  intensiver  als  andere  Affecte  iibt 
die  Angst  einen  Einfluss  auf  die  quergestreifte  und  glatte  Muskulatur 
des  Korpers.  Dieser  aussert  sicli  zunacbst  in  den  sogenannten  Angst- 
bewegungen,  dem  angstlichen  Reiben  der  Hande  und  Hinundherfabren 
der  Beine.  Der  Kranke  empfindet  diese  Bewegungen  wie  alle  anderen 
Bewegungen : so  entstebt  die  Begleitempfindung  allgemeiner  Unrube, 
welcbe  oben  erwabnt  wurde.  Andererseits  veriindert  die  Angst  baufig 
die  Respiration : in  der  Angst  atbmet  der  Kranke  rascber,  aber  dies 
rasche  Atlimen  wird  bfter  durcb  eine  lange  Pause  und  uacbfolgendes 
tiefes  saccadirtes  Aufatbmen  unterbrocben.  So  entstelien  die  Begleit- 
empfindungen der  „Brustangst‘fi  Nocb  wichtiger  ist  endlicb  der  Einfluss 
der  Angst  auf  die  Circulation.  Die  periphereu  Arterien  erfabren  eine 
stiirkere  Contraction,  die  Herztliatigkeit  wird  beschleunigt,  unregelmassig 
und  weniger  ausgiebig.  So  kommt  es  zu  dem  „Angstscbauer“  und  der 
„Herzunrube^^,  fiber  welcbe  viele  Kranke  klagen.  Es  ist  ferner  nicbt 
unwabrscbeinlicb,  dass  der  Arterienkrampf,  welcber  die  peripberen  Ar- 
terien betrifft,  sicb  aucb  auf  die  Kranzarterien  des  Herzens  erstreckt. 
Da  wir  nun  aus  dem  kliniscben  Bild  der  Angina  pectoris  resp.  Steno- 
cardie  wissen,  dass  ein  solcber  arterieller  Gefasskrampf,  sei  es  der 
peripberen  Arterien,  sei  es  speciell  der  Coronararterien,  aucb  obne 
Psycbose  qualvolle  Empfindungen  in  der  Herzgegend  bediugt,  deren 
Geffiblston  direct  als  Angst  bezeicbnet  werden  kann,  so  liegt  auf  der 
Hand,  dass  gerade  die  vasomotoriscbe  Wirkung  der  Angst  im  bocbsten 
Maass  geeignet  ist  erstens  rfickwirkend  die  Angst  zu  verstarken  und 
zweitens  die  Localisation  der  Angst  in  die  Herzgegend  zu  veranlasseu. 
So  entstebt  das  kliniscbe  Bild  der  Pracordialangst.  Bei  Besprecbuug 
der  Ausdrucksbewegungen  wird  auf  die  korperlicben  Erscbeinungen  der 
Pracordialangst  zurfickgekommen  werden.  Hier  sei  nur  nocb  bemerkt, 
dass  in  seltenen  Fallen  aucb  Scbmerz  mit  der  Pracordialangst  sicb  ver- 
knfipft.  Zuweilen  strablt  derselbe  sogar  in  die  linke  Scbulter  und  den 
linken  Arm  aus.  In  dieseu  Fallen  kann  man  geradezu  von  einer  die 
Psycbose  begleitenden  Stenocardie  sprecben. 


Storungen  der  intellectuellcn  Gefiihlstdne  odor  Affcctstdrungen. 


63 


Die  Angst  — in  jecler  Form  — tritt  bald  continuirlich  bald  an- 
fallsweise  auf.  Ancli  ein  reinittirender  Typus  (anfallsweise  Verstarkungen) 
wil'd  biinfig  beobacbtet. 

Die  Folgeerscheinungen  der  primaren  Depression  imd  Angst 
iiussern  sicli  beziiglicb  der  Ideenassociation  in  der  spater  ausfiihrlich  zn 
besprecbenden  Denkhemniung,  d.  h.  in  einer  krankhaften  Verlang- 
samung  des  Vorstellungsablaufs.  Es  dauert  oft  Minuten,  bis  solcbe 
Kranke  das  einfacbste  Kecbenexempel  aiis  dem  Einmaleins  ricbtig  rechnen. 
Mitunter  erscbeint  diese  Denkbemmung  ancli  als  coordinirtes,  der  De- 
pression parallel  gehendes  Begleitsyinptom.  Auf  motoriscbem  Gebiet  — 
also  beziiglicb  der  Handlungen  — bedingt  die  Depression  eine  ganz 
analoge  Hemmung,  welcbe  man  als  „motorische  Hemmung  oder  Ge- 
biindenheit^^  bezeichnet.  Dieselbe  aussert  sich  bald  in  einer  volbgen 
Resolution  der  gesammten  Korpermusculatur,  bald  in  einer  gleicb- 
miissigen  Spannung  der  Korpermuskeln.  In  letzterem  Fall  spriclit  man 
von  „katatonischen^^  Zustiinden  oder  „Attonitat^^  Bei  Besprechung  der 
Handlungen  wird  auf  diese  motorischen  Symptome  ausfiibrliclier  zuriick- 
gekommen  werden  miissen.  Die  Angst  kann  dieselben  motoriscben 
Secnndarsymptome  bervorrufen  wie  die  Depression,  also  gleicbfalls  mo- 
toriscbe  Hemmung  entweder  in  Form  einer  volbgen  Resolution  oder  in 
Form  katatonischer  Spannungen.  Sehr  baufig  beobacbtet  man  jedocb 
aucb,  dass  die  Angst  die  motoriscben  Innervationen  in  einer  gewissen 
Ricbtung  verstilrkt  und  bescbleunigt : die  Kranken  ringen  die  Hiinde, 
zupfen  an  den  Fingerbeeren,  wecbseln  die  Lage  resp.  Stellung  der  Beine 
fortwabrend  oder  laufen  rube-  und  planlos  bin  und  her.  Man  bezeichnet 
diese  Folgebewegungen  der  Angst  aucb  direct  als  Angstbewegungen 
und  den  ganzen  Zustand  als  iingstlicbe  Agitation.  Wesbalb  die 
Angst  in  dem  einen  Fall  motorische  Hemmung  und  im  anderen  Agitation 
bedingt,  ist  nocb  nicbt  aufgeklart.  In  nicbt  wenigen  Fallen  wecbselt 
aucb  der  Einfluss  der  Angst  auf  die  Bewegungen:  Hemmung  und  Agi- 
tation losen  sich  gegenseitig  ab.  Man  darf  daber  aucb  der  Hemmung 
solcber  Kranken  nie  trauen:  dieselbe  kann  sich  plotzbcb  losen  und 
scliwerer  Agitation  mit  jaben  Selbstmordversucben  Platz  macben. 

Ausser  dem  eben  erwahnten  Einfluss  auf  den  Ablauf  der  Ideenasso- 
ciation und  die  Bewegungen  aussert  die  Depression  und  Angst  baufig 
aucb  einen  Einfluss  auf  den  Inbalt  der  Ideenassociation , indem  sie 
Wahnvorstellungen  hervorruft.  Der  Kranke  sucbt  eine  Erklarung  fiir 
seine  Angst,  und  als  willkommene  Erklarungsversucbe  bieten  sich  ibm 
die  Wahnvorstellungen  der  Versiindigung,  der  Verarmung,  des  Unbeilbar- 
krankseins  (seltener  der  Verfolgung)  dar.  Selbstverstandbcli  handelt  es 
sich  bier  nicbt  um  ein  absicbtbcbes  Erklaren,  sondern  die  Stimmungs- 
anomabe  beeinflusst  die  Urtheilsassociationen  der  Kranken  in  ibrem 


(54  Stor ungen  der  intellectuellen  Gefiihlstone  oder  AfTectstorungen. 

Sinne.  Bei  Besprechung  des  Kleinheitswalins  wird  spater  auf  diese 
secundaren  Walinvorstellungen  ausfiilirlich  eingegangen  werden. 
Haufig  bezeiclmet  man  dieselben  direct  als  Angstvorstellungen.  In 
selteneren  Fallen  konimt  es  aucli  zu  secundaren  Hallucinationen  ent- 
sprecbenden  Inhalts. 

Das  Yerhilltniss  einer  bestehenden  Depression  bezw.  Angst  zu  gleich- 
zeitigen  Walinvorstellungen  kann  sonach  ein  doppeltes  sein.  Entweder  ist 
die  Depression  bezw.  Angst  das  Primare  und  die  Wabnvorstellungen 
sind  secundare  Erklarungsversuche  derselben,  oder  die  Walinvorstellungen 
sind  primar  und  erzeugen  in  Folge  ibres  Inhalts  secundare  Depression 
oder  Angst. 

Das  Vorkommen  primarer  Depression  ist  ausserst  ausgedehnt. 
Namentlich  intercurrente  Zustande  prirnarer  Depression  mit  oder  ohne 
Angst  finden  sich  gelegentlich  bei  jeder  Psychose.  Sehr  haufig  sind 
Zustande  primarer  Depression  (meist  ohne  Angst)  auch  im  Prodromal- 
stadium  vieler  Psychosen,  z.  B.  der  Manie.  Ein  langeres  Stadium 
ausgesprochener  primarer  Depression  findet  sich  ungemein  haufig  im 
Verlauf  der  Dementia  paralytica,  desgl.  zuweilen  im  Verlauf  der 
Dementia  senilis.  Eine  primare  Depression,  deren  Intensitiit  und  Irra- 
diation in  der  oben  geschilderten  Weise  in  keinem  Verhaltniss  zu  den 
thatsachlichen  Beschwerden  steht,  findet  sich  namentlich  bei  der  hypo- 
chondrischen  Form  der  Nervositiit.  Auch  finden  sich  bei  der  Neu- 
rasthenic anfallsweise  Angstaffecte  sehr  haufig.  Endlich  existirt  eine 
Psychose,  fiir  welche  primare  Depression  mit  oder  ohne  Angst  das 
Cardinalsymptom  ausmacht:  es  ist  dies  die  Melancholic.  Hier  ist  die 
Stimmungsanomalie  das  friiheste  und  constanteste  Symptom,  welches 
das  ganze  klinische  Bild  dauernd  beherrscht. 

2.  Krankhafte  Exaltation  (Hyperthymie). 

Auch  das  pathologische  Ueberwiegen  positiver  Gefiihlstone,  die 
heitere  Verstimmung  oder  Exaltation  tritt  bald  primar,  bald  secundar 
auf.  Die  secundare  Exaltation  beruht  auf  Wahnvorstellungen  oder 
Sinnestauschungen  entsprechenden  Inhalts.  Die  primare  tritt  motivlos- 
auf.  Der  Verlauf  der  primaren  Exaltation  ist  durchweg  ein  continuir- 
licher,  doch  kommen  Exacerbationen  dfter  vor.  Begleitempfindungen 
spielen  hier  nicht  eine  so  einflussreiche  Rolle  wie  bei  der  primaren 
Depression  und  bei  der  primaren  Angst.  Die  Veranderung  dei  Respi- 
ration und  des  Pulses  hat  selten  etwas  Charakteristisches.  In  lolge 
des  Fehlens  von  Begleitempfindungen  kommt  es  auch  sehr  selten  zu 
einer  bestimmten  Localisation  der  Exaltation.  liochstens  bekommt  man 
gelegentlich  von  den  Kranken  zu  horcn,  „sie  hatten  eine  Unruhe  und 


Storungen  der  intellectuellen  Gefiihlstdne  oder  Affectstdrungen. 


65 


ein  Prickeln  in  alien  Gliedern",  eine  Aeusserung,  welche  im  Folgendeu 
sofort  ikre  Erklarung  finden  wird. 

Der  Einfluss  der  Exaltation  auf  die  Ideenassociation  aussert  sick  in 
der  sog.  Ideenfluclit,  h.  d.  in  einer  krankhaften  Beschleunigung  des  Vor- 
stellungsablaufs.  Sprachlicli  kommt  es  dalier  zu  der  sog.  Logorrkoe, 
d.  li.  einem  hastigen,  fortwakrenden  Sprecken.  Andere  Corollarsymp- 
tome  der  Ideenfluckt,  wie  die  Vorliebe  fiir  Reime,  Assonanzen  und 
Wortspiele , die  Steigerung  der  Aufmerksamkeit  fiir  alle  Sinnesein- 
driicke,  das  Springende  des  Denkens  (die  sog.  secundare  Incokarenz) 
werden  kei  Bespreckimg  der  Storungen  der  Ideenassociation  ausfiikr- 
lick  gesckildert  werden. 

Der  Einfluss  auf  die  Bewegungen  und  Handlungen  der  Kranken 
entsprickt  ganz  dem  Einfluss  auf  die  Ideenassociation.  Die  Uebertra- 
gungen  der  Rindenerregungen  in  das  motoriscke  Gebiet  sind  besckleunigt 
und  vermekrt.  Es  bestekt  die  sog.  kypertkymiscke  Agitation.  Ikrer 
Intensitiit  nack  sckwankt  dieselbe  zwiscken  den  leicktesten  Graden  der 
Uebergesckaftigkeit  und  den  sckwersten  Zustanden  der  Toksuckt. 

Auck  secundare  Waknvorstellungen  erzeugt  die  primare  Exaltation 
ganz  ekenso  wie  die  primare  Depression  und  Angst,  und  zwar  sind  es 
bier  Waknvorstellungen  im  Sinn  eines  gekokenen  Selbstgefiikls,  also 
Grossenideen  im  weiteren  Sinne  des  Wortes,  auf  welcke  der  Kranke  in 
Folge  seiner  Exaltation  verfallt.  Meist  sind  diese  secundaren  kypertky- 
miscken  Grossenideen  entspreckend  der  zugleick  bestekenden  Ideen- 
fluckt sekr  weckselnd  und  fliichtig.  Auf  die  Stimmung  der  Kranken 
iibt  dies  gekobene  Selbstgefiikl  oft  eine  sekr  bemerkenswertke  Riick- 
wirkung  aus.  Es  verleitet  namlick  die  Kranken  zu  allerkand  An- 
spriicken  und  Anmaassungen , welcke  in  der  Umgebung  auf  Wider- 
stand  stossen.  Die  Gefiiklsreaction , mit  welcker  nun  der  exaltirte 

Kranke  auf  den  Widerstand  der  Umgebung  antwortet,  ist  der  Zorn. 
So  kommt  es,  dass  Zornaffecte  sick  mit  der  keiteren  Stimmung  fast 
ekenso  kaufig  verkniipfen  wie  Angstaffecte  mit  der  traurigen  Verstim- 
mung.  Dabei  ist  der  psyckologiscke  Zusammenkang  in  beiden  Fallen 
ein  wesentlick  versckiedener.  Mit  der  Neigung  zu  Zornaftecten  kangt 
sckliesslick  auck  der  aggressive  Ckarakter  der  exaltirten  Kranken,  welcker 
speciell  in  den  kokeren  Graden  der  Exaltation  selten  zu  feklen  pflegt, 
eng  zusammen. 

Das  Vorkommen  der  secundaren  Exaltation  ist  erklarlicker 
Weise  ganz  durck  das  Vorkommen  der  ursacklicken  primaren  keiteren 
Waknideen  und  Hallucinationen  bestimmt.  Primare  Exaltation  flndet 
sick  intercurrent  gelegentlick  bei  jeder  Psyckose.  Im  Verlaufe  der 
Dementia  paralytica  flndet  sick  ungemein  kauflg  vor,  seltener  nack 
dem  oben  erwaknten  depressiven  Stadium  ein  Stadium  leickter  primarer 

Ziehen,  Psychialrie.  5 


66 


Stfirungen  der  intellectuellen  GefUhlstOne  oder  AffectstOrungen. 


Exaltation  (hyperthymisches  Stadium).  Ein  Zustand  primarer  Exal- 
tation scliliesst  sicli  weiterhin  in  der  Reconvalescenz  oft  an  solche 
Psycliosen  an,  welclie  wahrend  ilires  Verlaufes  vorzugsweise  depressive 
Stimmung  darboten,  also  namentlich  an  die  Melancbolie.  Man  be- 
zeicbnet  diese  die  Reconvalescenz  begleitende  primare  Exaltation  als 
reactive  Hyperthymie.  Endlicb  bildet  die  primare  Exaltation  — 
analog  dem  Verbaltniss  der  primaren  Depression  zur  Melancbolie  — 
das  Cardinalsymptom  einer  bestimmten  Psychose,  namlicb  der  Manie. 

Nicbt  selten  beobachtet  man,  dass  Phasen  primarer  Exaltation  und 
Pbasen  primarer  Depression  ganz  regelmassig  abwecbseln.  Es  folgt 
dann  also  z.  B.  auf  ein  primares  Depressionsstadium  ein  ausgesprochenes 
Stadium  primarer  Exaltation,  dessen  Intensitat  iiber  diejenige  einer 
leicbten  reactiven  Hyperthymie  weit  binausgebt.  Nach  kiirzerer  oder 
langerer  Rube  folgt  wiederum  ein  Stadium  primarer  Depression,  dem 
sicb  wiederum  ein  Stadium  primarer  Exaltation  [anscbliesst.  Dieser 
Cyclus  wiederbolt  sicb  nun  unzablige  Male.  In  selteneren  Fallen  bildet 
das  Exaltationsstadium  die  erste,  das  Depressionsstadium  die  zweite 
Phase  eines  jeden  Cyclus.  Ganz  allgemein  bezeicbnet  man  Psycbosen, 
welcbe  in  solcben  Cyclen  verlaufen,  als  circulare  Psycbosen. 

3.  Krankhafte  Reizbarkeit. 

Man  bezeicbnet  als  krankhafte  Reizbarkeit  die  specielle  Tendenz 
zu  den  Affecten  des  Zorns  • und  des  Aergers.  Das  Patbologiscbe  der 
Affectanomalie  liegt  darin,  dass  Zornaffecte  zu  leicht,  d.  b.  scbon 
bei  minimalen  Anlassen,  in  abnormer  Intensitat  und  mit  abnormer 
Nacbhaltigkeit  (als  lange  anbaltender  Aerger)  auftreten.  Der  Zorn  ist 
ein  entscbiedenes  Unlustgefiibl , also  ein  negativer  Affect,  aber  seine 
specielle  Farbung  bezw.  sein  Inbalt  unterscheiden  ibn  total  von  dem 
Typus  der  negativen  Affecte,  der  Trauer  oder  Depression,  vde  wir  sie 
oben  betracbteten.  Gewiss  liegt  bei  dem  Zorn  auch  eine  scbmerzlicbe 
Empfindung  des  eigenen  Korpers  vor ; der  Scblag  z.  B.,  den  icb  empfange, 
erbittert  micb,  aber  die  weiteren  Irradiationen  dieses  Unlustgefubls  be- 
treffen  nicbt  das  Icb,  sondern  den  Gegenstand  oder  die  Person,  auf 
welcbe  wir  unsere  scbmerzlicbe  Empfindung,  z.  B.  den  Scblag,  zui’iick- 
fiibren.  Der  Zorn  kebrt  sicb  wider  den  Scblagenden.  In  den  scbwer- 
sten  Fallen  vergreift  sicb  der  Zornige  in  Folge  immer  weiterer  Irradia- 
tionen aucb  an  der  leblosen  Umgebung,  er  zertrummert  Gegenstand e 
Oder  greift  Unscbuldige  an,  aber  nur  sehr  selten  wendet  er  sicb  gegen 
sicb  selbst.  Das  ;,Icb"  bleibt  von  den  Irradiationen  des  Unlustaftects 
— im  stricten  Gegensatz  zu  der  oben  besprocbenen  Depression  — fast 
vollig  verscbont.  Das  Selbstgefuhl  ist  meist  geboben.  Der  Zorn  ist 
der  An  griffs  affect  xax’  e^oxrjv. 


St5rungGn  dor  intollGctuollGii  GofiililstdnG  odor  -Affectstoruii^Gn.  07 

Die  Begleitempfindungen  des  Zorns  spielen  psychologiscli  keine  er- 
Iiebliche  Rolle.  Wir  wissen  nocli  nicht  einmal  genau,  wie  der  Zorn 
Respiration  und  Circulation  beeinflusst.  Erstere  zeigt  wahrend  des 
Zornaffects  meist  grosse  Unregelmassigkeiten;  speciell  iiberwiegen,  bevor 
die  Entladung  des  Zorns  in  explosiven  Handlungen  stattfindet,  protra- 
bu'te,  leicbt  abgesetzte  Inspirationen  und  Exspirationen.  Die  peripheren 
Arterien  sind  anf  der  Hohe  des  Zornaffects  meist  eng  contrabirt.  Das 
Gesicbt  des  Zornigen  ist  daher  — entgegen  der  gewobnlicben  Ansicht 
— blass.  Nur  im  Anfang  des  Zornanfalls  und  am  Scbluss  desselben 
beobacbtet  man  eine  erbebliche  Gefasserweiterung,  speciell  Congestionen 
zum  Kopf.  Die  Pulswelle  ist  meist  niedrig.  Alle  diese  Veranderungen 
baben  nur  geringe  Riickwirkung  auf  die  psycbologiscbe  Farbung  des 
Affects.  Es  kommt  daber  aucb  selten  zu  einer  Localisation  des  Zorn- 
affects in  eine  bestimmte  Korpergegend. 

Der  Einfluss  des  Zorns  auf  die  Ideenassociation  aussert  sich  meist 
in  einer  anfanglicben  Verlangsamung  des  Vorstellungsablaufs,  auf  welcbe 
bei  weiterem  Anwacbsen  des  Zorns  plotzbch  eine  explosive  Beschleunigung 
des  Vorstellungsablaufs  folgen  kann.  Ganz  abnlich,  aber  in  viel  be- 
deutsamerer  Weise  werden  die  Handlungen  beeinflusst.  Der  Zorn  zeigt 
nicbt  wie  die  beitere  Erregung  von  Anfang  an  gesteigerte  motorische 
Entladungen,  sondern  zunacbst  eine  motorische  Hemmung,  und  erst 
wenn  eine  Summation  der  motoriscben  Erregung  bis  zu  einer  gewissen 
Kobe  stattgefunden  hat,  erfolgen  mit  explosiver  Heftigkeit  jabe,  be- 
scbleunigte  motorische  Actionen.  Das  Gesammtbild  derselben  wil’d  als 
die  Tobsucbt  des  Zorns  bezeicbnet.  Cbarakteristiscb  fiir  die  Zorn- 
handlungen  ist  die  Abkiirzung  des  Spiels  der  Motive.  Die  Empfindungs- 
erregung  setzt  sich  obne  Dazwiscbentreten  von  Vorstellungen  in  die 
motorische  Erregung  um.  Jede  Ueberlegung  fallt  fort.  Speciell  bleiben 
bemmende  Vorstellungen  ganz  aus.  Riicksichtslos,  aucb  mit  Bezug  auf 
das  Wobl  der  eigenen  Person,  erfolgen  die  motoriscben  Entladungen. 
Dabei  ist  die  Energie  der  Bewegungen  zuweilen  maasslos  gesteigert. 
Aucb  bat  man  oft  von  einer  Incoordination  der  Zornbewegungen  ge- 
sprocben.  Dies  ist  ricbtig,  insofern  der  coordinirende  und  regulirende 
Einfluss  von  Vorstellungen  auf  ein  Minimum  reducirt  ist;  eine  wirklicbe 
Ataxie,  aucb  eine  corticale,  im  gewobnlicben  Sinne  kommt  nicbt  vor. 
Man  spricbt  daber  besser  von  einer  Incobarenz  der  Zornbandlungen.*) 
Sebr  baufig  aussert  sicb  diese  Incobarenz  ubrigens  aucb  in  dem  Vor- 
stellungsablauf.  Auf  der  Kobe  des  Zorns  taucben  oft  nur  ganz  abortiv 
einzelne  Vorstellungen,  deren  associatives  Band  kaum  zu  erkennen  ist, 
auf.  Hiermit  bangt  es  aucb,  wie  bei  Besprecbung  der  Amnesie  naber 

*)  So  erklarGn  sich  auch  die  lallende  Sprache  des  Zornigen  und  seine  Anakoluthe 
in  der  Satzbildung. 


5* 


68  Stfirungen  der  intellectuellen  GefUhlstOne  oder  Affectstdrungen. 

zu  erlaiitern  sein  wird,  zusammen,  dass  der  Kranke  fiir  die  Motive 
seiner  Zornhandlimgen  und  niclit  selten  auch  fiir  die  Zornhandlungen 
selbst  eine  liickenliafte  Erinnerung  hat. 

V 0 r k 0 m ra  e n der  krankhaften  Reizbarkeit.  Das  gelegentliche 
Hinzutreten  pathologischer  Zornmiithigkeit  zu  der  heiteren  Verstimmung 
wurde  schon  oben  erwahnt  und  erklart.  Ganz  abzusehen  ist  bier  auch 
von  den  schweren  secundaren  Zornafl'ecten , welche  auf  Grund  von 
Wahnvorstellungen  und  Sinnestauschungen  entsprechenden  Inhalts  auf- 
treten.  Das  Pathologische  liegt  in  diesen  Fallen  in  den  primaren  Wahn- 
ideen  und  Sinnestauschungen,  nicht  in  dem  Zornaffect.  Primare 
Zornaffecte  finden  sich  am  haufigsten  bei  folgenden  Psychosen: 

1.  dem  angeborenen  Schwachsinn; 

2.  den  epileptischen  Psychosen,  namentlich  der  erworbenen  epilepti- 
schen  Demenz; 

3.  bei  anderen  Formen  des  erworbenen  Schwachsinns ; 

4.  dem  neurasthenischen  Irresein. 

Die  schwersten  Zornaffecte  findet  man  bei  der  Epilepsie.  Man  hat 
daher  geradezu  von  einem  Furor  epilepticus  gesprochen.  Die  krank- 
hafte  Zornmiithigkeit  der  Neurasthenie  aussert  sich  ofter  in  der  ab- 
normen  Nachhaltigkeit  der  Zornaffecte  („der  neurasthenische  Aerger“) 
als  in  der  Heftigkeit  des  einzelnen  Affects. 

Sehr  haufig  ist  krankhafte  Reizbarkeit  auch  in  den  Initial-  resp. 
Prodromalstadien  vieler  Psychosen.  So  begegnet  man  derselben  oft 
unter  den  Vorlaufersymptomen  der  Dementia  paralytica,  der  Paranoia  etc. 
Endlich  ist  auch  in  der  Reconvalescenz  mancher  acuter  Psychoseu  krank- 
hafte Reizbarkeit  nicht  selten.  Sie  verbindet  sich  hier  oft  mit  einer 
eigenthiimlichen  Weinerlichkeit.  Diese  weinerliche  Zornmiithigkeit  findet 
sich  z.  B.  auch  in  der  Reconvalescenz  solcher  Manien,  welche  auf  der 
Hbhe  neben  der  heiteren  Verstimmung  gar  keine  oder  nur  geringfiigige 
Zornaffecte  gezeigt  hatten. 

4.  Krankhafte  Apathie. 

Das  pathologische  Fehlen  intellectueller  Gefiihlstone  und  der  zuge- 
hbrigen  reflectirten  sensoriellen  Gefiihlstone  tritt  bald  allgemein  auf 
bald  beschrankt  auf  ganz  bestimmte  Vorstellungs-  und  Empfindungs- 
gebiete. 

Die  allgem  eine  Apathie  entspricht  noch  am  meistem  dem,  was 
man  popular  als  Apathie  bezeichnet.  Alle  intellectuellen  und  reflectirten 
Gefiihlstone  sind  gleichmassig  herabgesetzt  oder  aufgehoben.  Am  ausge- 
sprochensten  findet  sich  eine  derartige  Apathie  bei  manchen  Fallen  der 
Melancholie.  Die  Kranken  geben  ausdriicklich  an , sie  kounten  fiber 


Storungen  der  intellectuellen  Gefiihlstdne  oder  AffectstOrungen.  69 

niclits  mehr  froh  und  iiber  nictits  mehr  traurig  sein,  sie  fiircliteten  und 
liofften,  liebten  und  hassten  nicbt  mehr,  sie  fiililten  statt  des  Herzens 
eiiien  gefiibllosen  Stein  in  der  Brust.  Der  einzige  Affect,  der  bei  diesen 
Kranken  zuweilen  nocb  erhalten  bleibt,  ist  das  scbmerzliche  „Gefiibl 
eben  dieser  Gefiibllosigkeit^^,  wie  gebildete  Kranke  es  direct  selbst  aus- 
driicken.  Alles  sonstige  Affectleben  ist  erlosdien.  Ab  und  zu  kommt 
diese  generelle  Apatbie  aucb  bei  dem  neurastheniscben  Irresein  sowie 
bei  der  Stupiditat  vor.  So  klagen  manche  Neurastheniker,  ibr  Idealismus 
und  ihre  Begeisterungsfahigkeit  seien  dahin,  die  Freude  an  der  Natur, 
die  Liebe  zu  ibren  Angeborigen,  das  Interesse  am  Beruf  seien  ibnen 
verloren  gegangen.  Bei  der  gelegentlicben  Apatbie  der  Stupiditat  feblt 
meist  aucb  das  Depressionsgefiibl  iiber  die  Gefiiblskalte. 

Mit  der  Annabme  allgemeiner  Apatbie  muss  man  im  Allgemeinen 
sebr  vorsicbtig  sein.  Die  Tbeilnabmlosigkeit  vieler  Geisteskranken  an 
den  Vorgangen  in  ihrer  Umgebuug  ist  nur  in  einer  Minderzabl  von  Fallen 
durcb  allgemeine  Apatbie  bedingt.  Haufiger  ist  die  Tbeilnabmlosigkeit 
nur  eine  ausserlicbe,  indem  der  Kranke  entweder  willkiirlicb  — z.  B.  auf 
Grand  von  Wabnideen  oder  Sinnestauscbungen  — alle  Affectausserungen 
unterdruckt  oder  durcb  motoriscbe  Hemmung  an  Affectausserungen  ver- 
bindert  wird. 

Circumscripte  Defecte  der  intellectuellen  (und  reflectirten) 
Gefiiblstone  sind  am  baufigsten  bei  dem  Scbwacbsinn.  Bei  dem  ange- 
borenen  Scbwacbsinn  kommt  es  iiberbaupt  nicbt  zur  Entwicklung  ge- 
wisser  intellectueller  Gefiiblstone,  bei  dem  erworbenen  geben  gewisse 
intellectuelle  Gefiiblstone  allmablicb  verloren.  Bei  den  scbwersten  Formen 
des  angeborenen  Scbwacbsinns  bescbrankt  sicb  das  ganze  Gefiiblsleben 
iiberbaupt  auf  einige  sensorielle  Gefublstbne  (Freude  an  der  Sattigung, 
am  glanzenden  Licbt,  am  flackernden  Feuer  und  sexuelle  Befriedigung), 
und  ganz  dasselbe  finden  wir  in  den  scbwersten  Endstadien  des  er- 
worbenen Scbwacbsinns.  In  diesen  extremsten  Fallen  konnte  man  eventuell 
aucb  von  allgemeiner  Apatbie  reden.  Viel  baufiger  ist  der  Defect,  der 
angeborene  wie  der  erworbene,  ein  circumscripter.  Bei  dem  angeborenen 
Scbwacbsinn  mittleren  Grades  sind  Zorn,  Neid,  Hass,  Liebe,  Dankbarkeit, 
Hoffnung,  Furcbt  u.  s.  w.  oft  wobl  entwickelt,  aber  die  sog.  geistigen 
Interessen  kommen  nicbt  zur  Entfaltung.  Die  sorgfaltigste  Erziebung 
vermag  bei  dem  Kranken,  der  gebildeten  Kreisen  entstammt,  nicbt  das 
Interesse  fur  Kunst  oder  Wissenscbaft,  bei  dem  Landmann  nicbt  das 
Interesse  an  seinen  Berufsgescbaften  zu  erwecken.  Endlicb  existiren 
leicbtere  Formen  des  angeborenen  Scbwacbsinns,  bei  welcben  der  Ge- 
fiiblsdefect  sicb  auf  die  sog.  etbiscben  bezw.  altruistiscben  Gefiiblstone 
bescbrankt.  Bei  diesen  Kranken  sind  die  egoistiscben  Gefiible  sogar 
erbeblicb  gesteigert,  aber  die  Gefiiblstone,  welcbe  die  etbiscben  Vor- 


70 


StOrungen  der  intellectuellen  GefdhlstOne  oder  Affectstdrungen. 


stellungen  begleiten,  sincl  verkiimmert.  Es  wurcle  friiher  erwahnt,  dass 
bei  den  leichten  Graden  des  angeborenen  Scbwacbsinns  oft  nicht  einmal 
die  ethiscben  Vorstellungen  als  solche  gebildet  werden;  der  Kranke  lernt 
wobl  die  Worte:  gut,  bose,  Kecht,  Uurecht  u.  dgl.  aussprechen,  aber 
er  verbindet  keinen  adaquaten  Sinn  mit  denselben.  In  den  allerleichte- 
sten  Graden  des  angeborenen  Scbwacbsinns  sind  sogar  diese  Vorstellungen 
als  solcbe  in  annabernd  normaler  Weise  zur  Ausbildung  gelangt,  aber 
die  normale  Gefllblsbetonung  ist  ausgeblieben.  Der  Kranke  weiss  wobl, 
was  „bose"  und  was  „gut"  bedeutet,  aber  der  negative  Gefiiblston,  der 
bei  dem  Gesunden  sicb  mit  der  ersteren  Vorstellung,  und  der  positive, 
der  sicb  mit  der  letzteren  verkniipft,  feblt  ibm.  Da  nun  der  Einfluss 
einer  Vorstellung  im  Spiel  der  Motive  ganz  wesentlicb  von  der  Intensitat 
ibres  Gefiiblstons  abbangig  ist,  so  baben.  bei  diesen  Kranken  etbiscbe 
Begriffe  so  gut  wie  gar  keinen  Einfluss  auf  die  Handlungen.  So  kommt 
es,  dass  unmoraliscbe  oder  verbrecberiscbe  Handlungen  bei  ibnen  sicb 
fortgesetzt  baufen.  Man  bat  diese  Form  des  Scbwacbsinns  daber  aucb 
geradezu  als  „moraliscbes  Irresein^^  bezeicbnen  wollen. 

Bei  dem  erworbenen  Scbwacbsinn  sind  es  andrerseits  wieder  diese 
etbiscben  Gefliblstbne,  welcbe  dem  Patienten  zuerst  verloren  geben.  Er 
verliert  das  Gefiibl  fiir  Scbicklicbkeit  und  Anstand.  In  seinen  Aeusse- 
rungen  und  Handlungen  wird  er  tactlos  und  cyniscb.  Namentlicb  leidet 
aucb  das  sexuelle  Scbamgefiibl  scbon  friib.  Die  Wabrbeitsliebe  gebt  ver- 
loren. Namentlicb  fiir  die  alkobolistiscbe  Demenz  ist  die  zunebmende 
Unwabrbaftigkeit  bezeicbnend.  Die  Begeisterungsfabigkeit  fiir  das 
Scbone  und  Gute  erliscbt.  Die  Gefiiblsunterscbeidung  zwiscben  Eecbt 
und  Unrecbt  wird  unsicber.  Aucb  bei  dem  erworbenen  Scbwacbsinn 
sind  die  etbiscben  Begriffe  als  solcbe  oft  nocb  lange  erbalten,  aber  ein- 
flusslos  geworden,  well  ibre  Gefiiblstone  zu  Grunde  gegangen  sind.  An 
die  Stelle  des  Mitleids  tritt  die  Schadenfreude,  an  die  Stelle  der  Mit- 
freude  der  Neid.  Selbstverstandlicb  giebt  es  zabllose  gesunde  Individuen, 
welcbe  zu  Schadenfreude  und  Neid  zeitlebens  neigen.  Es  ist  also  nicbt 
die  nackte  Tbatsache  als  solcbe,  welcbe  bei  den  erwabnten  Kranken 
auffallt,  vielmebr  nur  die  Cbarakterver  an  derung.  Fiir  beginnende 
Krankbeit  beweisend  sind  diese  Gefiiblsdefecte  nur,  wenn  sicb  nacbweisen 
lasst,  dass  die  untersucbte  Person  friiher  anders  geartet  war  und  erst 
seit  einer  bestimmten  Epocbe  jene  Verrobung  wabrnebmen  liisst.  Im 
weiteren  Verlauf  des  erworbenen  Scbwacbsinns  kbnnen  diese  Gefiibls- 
defecte fortgesetzt  zunebmen.  Aucb  das  Interesse  an  Beruf,  Familie 
und  Besitz  kann  untergeben  und  es  kann  scbliesslich  zu  jener  oben  er- 
wabnten allgemeinen  Apatbie  kommen , bei  welcber  das  Gefiiblsleben 
auf  einige  wenige  sensorielle  Gefiiblstone  eingeengt  ist. 

Ausser  bei  dem  Scbwacbsinn  kommt  ein  ciixumscripter  Defect 


Storungen  der  intellectuellen  Gefuhlstdne  oder  Affectstdrungen.  71 

der  Gefiililstdne  der  complicirteren  Vorstellungen  auch  bei  manchen 
chronisclien  Psycbosen  olme  Intelligenzdefect  vor.  So  tritt  nament- 
lich  bei  chroniscben  Kranken  mit  Wahnvorstellungen  oder  Zwangs- 
vorstellungen  haufig  eine  solcbe  Einengimg  des  Horizonts  der  geistigen 
Interessen  ein.  Man  bat  diesen  Zustand  auch  als  Pseudodemenz 
(Magnan)  bezeicbnet.  Hier  liegt  keinerlei  Intelligenzdefect  vor,  viel- 
mebr  ist  bier  der  Gefublsdefect  eine  Folge  der  einseitigen,  ausscbliess- 
licben  Beberrscbung  der  Ideenassociation  diircb  einige  wenige  patbo- 
logiscbe  Vorstellungen.  Jabrelang  kommen  andere  Vorstellungsreiben 
letzteren  gegenliber  nicbt  auf,  das  Interesse  an  den  krankbaften  Vor- 
stellungen iiberwiegt  so  sebr,  dass  andere  complicirtere  Interessen  er- 
stickt  werden.  Mangels  jeder  Keproduction  der  zugeborigen  Vorstel- 
bmgen  nebmen  letztere  langsam  ab.  Bei  diesen  Kranken  leidet  weniger 
das  Gefubl  fiir  Anstand  und  Sitte,  Kecbt  und  Unrecbt,  sondern  es 
verkummern  namentlicb  die  socialen  imd  altruistiscben  Gefiible  sowie  die 
Interessen  an  Kimst,  Wissenscbaft,  Politik  u.  s.  w.  Das  Denken  der 
Kranken  wird  durcbaus  egocentriscb,  ibr  Handeln  durcbaus  egoistiscb. 
Aucb  bei  cbroniscber  Neurastbenie  kommt  es  nicbt  selten  zu  diesen 
Gefliblsdefecten.  Selbst  bei  einfacben  cbroniscben  korperlicben  Krank- 
beiten  (obne  ausgesprocbene  Psycbose)  sowie  im  Senium  kann  die  ein- 
seitige  Bescbaftigimg  mit  den  korperlicben  Leiden  bezw.  den  korper- 
licben Gebrecben  ganz  abnlicbe  Defecte  bedingen.  Im  Senium  ist 
geradezu  eine  massige  Einengung  der  intellectuellen  Gefiible  in  dieser 
Ricbtung  nocb  als  pbysiologiscb  anzuseben. 

5.  Krankbafte  Veranderlichkeit  der  Gefiilile  reap.  Stimmungen. 

Die  intellectuellen  und  reflectirten  Gefiiblstone  des  Geistesgesunden 
baben  eine  gewisse  Bebarrlicbkeit.  Auf  Grund  bestimmter  Irradiationen 
resp.  Reflexionen  entstanden,  bleiben  sie  besteben,  bis  im  Lauf  langerer 
Zeit  neue  Sinnesempfindungen  die  alten  associativen  Verknupfungen  und 
damit  aucb  die  fruberen  Irradiationen  zu  Gunsten  anderer  Constellationen 
verscboben  baben.  Bei  Geisteskranken  sind  die  Gefiiblstone  und  ibre 
Resultanten,  die  Stimmungen,  oft  viel  labiler.  Ein  Scberzwort,  gescbickt 
oder  ungescbickt  gewablt,  kann  geniigen,  mancben  Kranken,  der  eben  nocb 
iiber  Vergiftung  oder  Freibeitsberaubung  weint  und  zurnt,  in  die 
beiterste  Stimmung  zu  versetzen.  Der  Gesunde  lacbelt  wobl  gelegent- 
licb  aucb  unter  Tbranen,  diesem  weinenden  Lacbeln  des  Gesunden  liegt 
jedocb  ein  entsprecbend  gemiscbter  Vorstellungsinbalt  zu  Grunde.  Bei 
jenen  Geisteskranken  berubt  die  Labilitat  der  Stimmung  bingegen 
darauf,  dass  der  tram-ige  Vorstellungskreis  des  ersten  Augenblicks  im 
nacbsten  Augenblicke  scbon  dem  Bewusstsein  des  Kranken  verscbwunden 


72 


StOrungen  der  intellectuellen  Geflihlstone  oder  Aflfectstorungen. 


ist.  Dcimit  luingt  es  zusammen,  class  cliese  pathologische  Labilitat  der 
Stimmungen  gaiiz  vorzugsweise  bei  geistigen  Scbwachezustanden,  also 
vergesellscbaftet  mit  Intelligenzdefect  vorkommt.  Die  Lockerung  der 
associativen  Verknlipfungen , welche  fiir  den  Intelligenzdefect  meist 
cbarakteristiscli  ist,  hat  zur  Folge,  class  auch  die  irradiirten  Gefiihls- 
tdne  nicbt  fest  baften.  Daber  kann  eine  neue  Empfindungs-  oder  Vor- 
stellungsreibe,  wie  z.  B.  in  dem  eben  erwabnten  Falle  das  Scberzwort 
cles  Arztes,  scbon  binnen  eines  Augenblicks  neue  Irradiationen 
der  Gefiiblstone  bedingen  und  cladurcb  einen  Stimmungsumscblag  berbei- 
fubren.  Speciell  ist  cliese  Stimmungslabilitat  fiir  Dementia  paralytica 
ungemein  cbarakteristiscli. 

Mit  dieser  Labilitat  der  Stimmung,  welche  soeben  gekennzeicbnet 
worden  ist  und  als  primare  bezeichnet  werclen  kann,  ist  die  secundare 
labile  Stimmung  nicbt  zu  verwecbseln,  welche  ungemein  haufig  in  Folge 
einer  patbologiscb  - gesteigerten  Unbestandigkeit  und  Zusammenbangs- 
losigkeit  des  Vorstellungs-  oder  Empfinclungsinbalts  auftritt.  Das  Krank- 
hafte  liegt  im  letzteren  Falle  gar  nicbt  auf  dem  Gebiet  der  Afifecte. 
Wenn  z.  B.  bei  einem  Kranken,  wie  das  ofter  vorkommt,  Hallucina- 
tionen  traurigen  und  heiteren  Inbalts  im  buntesten,  regellosesten  Wecbsel 
auftreten,  so  ist  der  Stimmungswecbsel  als  solcber  clurcb  den  Wecbsel 
cles  Empfindungsinbalts  vdllig  ausreicbend  motivirt.  Oder,  wenn  Wabn- 
vorstellungen  des  entgegengesetzten  Inbalts  aufeinander  folgen  (z.  B.  bei 
der  Paranoia  simplex  acuta)  oder  sog.  „Einfalle'^  traurigen  und  heiteren 
Inbalts  sicb  jagen  (z.  B.  bei  der  ideenflucbtigen  Form  der  Paranoia  und 
namentlich  bei  bysteriscben  Psychosen*),  so  findet  wieclerum  die  labile 
Stimmung  ibre  ausreicbende  Erklarung  in  dem  jaben  Wecbsel  cles 
Vorstellungsinbalts.  Diese  secundare  Labilitat  der  Stimmung  hat  so- 
nacb  cliagnostisch  keine  erbeblicbere  Bedeutung. 

Die  soeben  besprocbenen  Veranclerlichkeiten  der  Stimmung  waren 
cladurcb  charakterisirt,  class  ein  Minimum  neuer  Empfinclungen  clurcb 
Anregung  neuer  Vorstellungen  geniigt,  die  Stimmung  umzuformen.  An- 
clere  patbologiscb  jabe  Stimmungsanderungen  treten  auf,  obne  class 
iiberhaupt  der  Empfinclungsinbalt  sicb  in  irgend  bemerkbarer  Weise 
andert , vielmebr  sind  dieselben  auf  plotzlicbe  kleine  Scbwankungen 
cles  Vorstellungsinbalts  zm’uckzufiibren.  Eine  Kranke  ist  z.  B.  im 
heiteren  Gespracb  begriffen,  plotzlicb  taucbt  ibr  ein  vereinzeltes,  fiir 
den  Augenblick  ganz  bedeutungsloses  unangenebmes  Erinnerungs- 
bild  auf  und  dies  geniigt  die  gauze  Stimmungslage  umzukebren.  Aucb 

*)  Hier  speciell  oft  mit  einem  eigenartig  theatraliscben  Anstrich.  Bei  der 
hypochondrischen  Form  der  Neurasthenie  ist  der  Nachlass  gewisser  hypochondrischer 
Empfindungen  und  Vorstellungen  oft  geniigend,  um  einen  jahen  Stimmungsumschwung 
in  positiver  Richtung  herbeizufiihren. 


StSrungen  der  intellectuellen  GefdhlstOne  oder  Afifectstdrungen. 


73 


die  reflectirten  Gefiihlstone  der  Empfindimg  wecliseln  plotzlich.  An  die 
Stelle  exaltirter  Liebesversicherungen  treten  Worte  des  Hasses.  Die 
Beschaftigimg,  welclie  die  Kranke  eben  nocli  riibmte,  flosst  ibr  plotz- 
licb  Widerwillen  ein.  Sehr  baufig  deckt  sicb  diese  Anomalie  mit  dem, 
was  man  im  gewolmlicben  Leben  als  Launenbaftigkeit  bezeichnet. 
Patbologiscbe  Steigerungen  dieser  Launenbaftigkeit  sind  namentlicb 
fiir  die  Hysterie  cbarakteristiscb.  Bei  dieser  Psycboneurose  geniigen 
sogar  ofter  Verschiebungen  innerbalb  der  latenten  Erinnerungsbilder, 
also  corticale  Erregungsscbwankungen  der  Ei’s  in  den  Erinnerungs- 
zellen,  welcbe  die  psychiscbe  Scbwelle  nicht  uberscbreiten  d,  b.  dem 
Individuum  nicbt  zum  Bewusstsein  kommen,  jahe  Stimmungsanderungen 
bervorzurufen.  Man  kann  diese  Form  der  Stimmimgslabibtat , welcbe 
durcb  leicbte  Scbwankimgen  des  Vorstellungsinbalts  bedingt  ist, 
wegen  ibrer  ganz  uberwuegenden  Haufigkeit  bei  Hysterie,  ancb  direct 
als  die  „bysteriscbe  Stimmungslabibtat^^  bezeicbnen. 


Die  Zabl  der  patbologiscben  Stimmimgsveranderungen  ist  mit  den 
5 soeben  aufgezablten  und  bescbriebenen  in  keiner  Weise  erscbopft. 
Zwiscben  denselben  kommen  die  mannigfacbsten  Uebergange  und  Combi- 
nationen  vor.  Die  Zornmutbigkeit  des  Epileptikers  verbindet  sicb  mit 
dem  etbiscben  Gefiiblsdefect  der  epileptiscben  Demenz  u.  s.  f.  Die 
angeflibrten  Storungen  sind  nur  die  typiscbsten  und  baufigsten  und 
daber  fur  die  Diagnostik  am  bedeutsamsten.  Bei  Besprecbung  der 
einzelnen  Psycbosen  in  der  speciellen  Patbologie  werden  nocb  viele 
eigentbiimbcbe  patbologiscbe  Veranderungen  der  Stimmung  und  des 
Cbarakters  zur  Spracbe  kommen  mussen, 

Viel  seltener  als  die  allgemeinen  oder  wenigstens  auf  ganze  Vorstel- 
lungsgruppen  sicb  erstreckenden  Anomaben  des  Gefiiblstons  sind  isobrte 
auf  eine  einzige  Vorstellung  bescbrankte  Anomaben  des  Gefiibls- 
tons.  Der  baufigste  Fall  soldier  isobrten  Anomaben  des  intellectuellen 
und  reflectirten  Gefiiblstons  findet  sicb  bei  den  sog.  Intensions- 
psycbosen.  L.  Meyer  erzablt  z.  B.  folgenden  Fall.  Ein  neuro- 
patbiscb  veranlagter  Jurist  gbtt  auf  einer  Erbolungsreise  in  der  Scbweiz 
auf  einem  gepflasterten  Saumpfade  eines  Alpenpasses  aus  und  ver- 
staucbte  sicb  den  Fuss.  Dabei  fiiblte  er  einen  Drang  binzufallen  und 
musste  sicb  auf  den  Fiibrer  stiitzen.  Als  er  nacb  Wiederberstellung 
seines  Fusses  denselben,  ubrigens  ganz  gefabrlosen  Weg  wieder  zuriick- 
legte,  fiiblte  er  eine  solcbe  Unsicberbeit,  dass  er  sicb  wieder  auf  den 
Fiibrer  stiitzen  musste.  Seitdem  iiberfallt  ibn  dieselbe  Angst  und  Un- 
sicberbeit, sobald  er  in  seiner  Heimatbstadt  einen  gepflasterten 
Platz  oder  eine  breite  gepflasterte  Strasse  zu  uberscbreiten  bat. 


74 


Stfirungen  der  Ideenassociation. 


Die  psycliopathologische  Genese  dieser  Angst  ist  offenbar  folgende. 
Die  an  sich  gleichgiiltige  Gesichtsempfindung  des  Pflasters  des  Saum- 
wegs  imd  die  nnangenehme  Empfindung  der  Verstaucbung  fanden  gleich- 
zeitig  statt.  Die  von  beiden  Empfindungen  zuriickbleibenden  Erinne- 
rungsbilder  steben  daber  in  associativer  Verkniipfung,  und  nacb  dem 
Gesetz  der  Irradiation  iibertragt  sich  der  negative  Gefiihlston  der  Vor- 
stellung  der  Verstaucbung  aucb  auf  das  Erinnerungsbild  des  gepflasterten 
Pfades.  Weiterbin  empfangt  aucb  die  spater  sicb  wiederbolende  Em- 
pfindung desselben  gepflasterten  Pfades  vermbge  der  friiber  besprochenen 
Reflexion  einen  negativen  Gefiiblston.  Als  daber  der  Kranke  auf  der 
Riickkebr  den  Weg  wieder  passirt,  wiederbolt  sicb  das  Angstgefiibl. 
So  weit  bleibt  der  ganze  Process  der  Uebertragung  der  Gefiiblstbne 
bei  dem  Kranken  im  Wesentlicben  nocb  innerbalb  pbysiologiscber 
Grenzen.  Aber  die  Irradiation  und  Reflexion  gebt  bei  ibm  weiter. 
Der  negative  Gefiiblston  iibertragt  sicb  auf  die  Vorstellung  und  die 
optiscbe  Empfindnng  jedes  von  dem  Kranken  zu  iiberscbreitenden  ge- 
pflasterten Platzes  und  Weges.  Die  Erinnerung  an  den  friiber 
stattgebabten  Unfall  braucbt  in  solcben  Fallen  kiinftig  gar  nicbt  mebr 
aufzutaucben.  Die  Vorstellung  der  Ueberscbreitung  eines  gepflasterten 
Platzes  mit  der  zugebbrigen  optiscben  Empflndung  ist  an  sicb  direct 
von  einem  negativen  Gefiiblston,  einem  Angstgefiibl  begleitet,  und  letz- 
teres  ist  so  macbtig,  dass  der  Kranke  weite  Umwege  macbt,  um  sicb 
die  Ueberscbreitung  eines  gepflasterten  Platzes  zu  ersparen.*)  Offenbar 
bandelt  es  sicb  bier  um  eine  Ausdebnung  und  Verallgemeinerung  der 
Irradiation  und  Reflexion  fiir  ein  einzelnes  bestimmtes  Erinnerungs- 
bild, welcbe  liber  die  normalen  Grenzen  weit  binausgebt.  Viele  patbo- 
logische  Idiosynkrasien,  Antipatbien  und  Sympatbien  erklaren  sicb  in 
analoger  Weise.  Im  Allgem  einen  tendiren  die  negativen  Gefiiblstbne  viel 
mebr  zu  solcben  isolirten  patbologiscben  Irradiationen  als  die  positiven. 

Einige  andere  gelegentlicb  nocb  vorkommende  Anomalien  isolirter 
Irradiation  und  Reflexion  der  Gefiiblstbne  sind  zu  selten,  als  dass  sie 
bier  eine  besondere  Besprecbung  verdienten.  Aucb  sind  dieselben  Er- 
klarungsprincipien  fiir  alle  diese  Stbrungen  in  ganz  analoger  Weise  an- 
zuwenden. 


d.  Storungen  der  Ideenassociation. 

Die  Ideenassociation  stellt  sicb  als  eine  fortlaufende  Reibe  E Vj 
Vg  V3  V4  . . . . B dar.  Sie  beginnt  mit  der  Empflndung  und  endet 

*)  Hierher  gehoren  auch  viele  Falle  der  spater  zu  erwahnendeii  Platzangst. 
Pathologische  Irradiation  von  Gefuhlstdnen  ist  eine  ziemlich  haufige  Ursache  der- 
selben,  doch  giebt  es  nocb  zahlreicbe  andere  Entstebungsweisen. 


St6ritngen  der  Ideenassociation. 


75 


mit  der  Bewegung.  Dabei  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  wabrend  des 
Ablaiifs  der  Vorstellimgsreiben,  also  intercurrent  noch  weitere  Empfin- 
dimgeu  auftreten.  Dem  successiven  Auftreten  der  Vorstellungen  Vg 
u.  s.  f.  entspricbt  aiif  materiellem  Gebiet  die  mehrfacb  erwabnte  Ver- 
wandlung  der  Ri’s  in  Rv’s.  Die  materiellen  Residuen  frliber  Empfindungs- 
erregungen  werden  durcb  den  in  der  Hirnrinde  fortscbreitenden  Asso- 
ciationsprocess  in  der  Art  verwandelt,  dass  ein  psycbiscber  Parallel- 
process,  eben  die  Vorstellung,  zn  ibnen  hinzutritt.  Dieser  Verwand- 
lungsact  wird  anch  als  Weckung  oder  Reproduction  bezeicbnet.  Man 
denkt  sich,  dass  die  Vorstellungen  virtuell  oder  latent  aucb  schon  die 
Ri’s,  die  materiellen  Residuen  friiberer  Empfindungserregungen,  beglei- 
teten,  und  dass  der  Process  der  Ideenassociation  sie  aus  ibrer  Latenz 
weckt  oder,  wie  man  sich  aucb  ausdriickt,  liber  die  psycbisclie  Scbwelle, 
d.  i.  die  Scbwelle  des  Bewusstseins  bebt. 

Der  Weg  des  Associationsprocesses  in  der  Hirnrinde  oder  — 
psychologiscb  gesprocben  — die  Auswahl  und  Reibenfolge  der  Vor- 
stellungen in  der  Ideenassociation  ist  durch  ganz  feste  Gesetze  bestimmt, 
Diese  Gesetze  sind  folgende, 

Erstens:  auf  eine  Empfindung  E folgt  diejenige  Vorstellung  als 
Vi,  deren  zu  Grunde  liegende  Empfindung  Ef  die  grosste  Aebnlichkeit 
mit  E bat.  Man  nennt  dies  Princip  das  Princip  der  Aebnlicbkeitsasso- 
ciationen.  Wenn  icb  eine  Person  wiedersebe  (E),  welcbe  icb  friiber  be- 
reits  einmal  geseben  babe  (Ef)  und  welcbe  damals  in  mb’  ein  optiscbes 
Erinnerungsbild  Ri  binterlassen  bat,  so  taucbt  zuerst  das  Erinnerungs- 
bild  des  friiberen  Sebens  in  mb  auf:  d.  b.  Ri,  das  latente  Erinnerungs- 
bild, wbd  in  Rv  verwandelt  und  dementsprecbend  tritt  V^  auf.  Oder 
icb  sebe  eine  rosenabnlicbe  Blume:  dasjenige  latente  Erinnerungsbbd, 
dessen  zu  Grunde  liegende  Empfindung  die  grosste  Aebnlicbkeit  mit  der 
jetzigen  Empfindung  bat,  ist  die  Vorstellung  der  Rose.  Daber  ist  die 
erste  Vorstellung,  welcbe  bei  dem  Seben  der  rosenabnlicben  Blume  in 
mb  auftaucbt,  diejenige  der  Rose  oder:  wie  wb  es  gewbbnlicb  aus- 
driicken,  die  neue  Blume  „erinnert"  micb  an  eine  Rose.  Bestebt 
zwiscben  E und  Vj  resp.  dem  Ef,  von  dem  Vi  stammt,  Gleicbbeit,  so 
findet  das  sog.  Wiedererkennen  statt.  Unsere  Ideenassociation  be- 
ginnt  also  zuweilen,  nicbt  stets  mit  einem  Wiedererkennen.*) 

Zweitens:  Die  weitere  Vorstellungsfolge  Vg,  V3,  V4  u.  s.  f.  wbd 
bauptsacblicb  durcb  das  Princip  der  Gleicbzeitigkeitsassociation  bestimmt. 
Dies  Princip  lautet:  Jede  Vorstellung  ruft  als  ibre  Nacbfolgerin  stets 


*)  Streng  genommen  enthalt  jedes  Wiedererkennen  bereits  ein  Urtheil,  indem 
die  neue  Empfindung  ausdrticklich  als  der  friiberen  Empfindimg  gleich  erkannt  wird, 
Vgl.  Ziehen,  Leitfaden,  Vorl.  10. 


76 


Stttrungen  der  Ideenassociation. 


eine  associativ  ver  wan  cite  Vorstellung  hervor;  associativ  verwandt  .1 
sind  aber  solcbe  Vorstellungen,  die  entweder  selbst  oder  deren  zu  Grunde 
liegende  Empfindungen  oft  gleicbzeitig  aufgetreten  sind.  So  babe  ich 
z.  B.  oft  gleicbzeitig  eine  Rose  geseben  und  an  ibr  gerochen.  In  Folge 
dessen  besteht  eine  enge  associative  Verwandtschaft  zwischen  der  Vor-  - 
stellung  des  Rosenduftes  und  der  Vorstellung  der  Rosenforin,  und  in  1 
Folge  dieser  associativen  Verwandtschaft  fallt  mir  der  Duft  der  Rose 
ein,  wenn  ich  an  die  Form  der  Rose  denke,  und  umgekehrt,  oder  mit 
anderen  Worten,  die  Gesichtsvorstellung  der  Rose  Vi  ruft  als  ibre  Nach- 
folgerin  Vg  die  Duftvorstellung  der  Rose  hervor.  Die  physiologische  ^ i 
Erklarung  fiir  dies  Princip  der  Gleicbzeitigkeitsassociation  liegt  auf  der  , ; 
Hand:  bei  clem  ofteren  gleichzeitigen  Auftreten  von  V,  und  V2  (resp.  1 
Rvi  und  R^a)  ist  die  Verbinclungsbahn  der  beiden  Rinclenelemente  G,  | 
und  Gg,  in  welchen  Ryi  und  Ryg  sich  abspielen,  jedes  Mai  miterregt  I 
worclen  und  claher  besonders  leitungsfabig,  oder,  wie  man  auch  sagt,  1 
ausgescbliffen  worden.  Die  Folge  dieses  Ausschleifens  ist,  class  eine  1 
Rindenerregung,  welcbe  in  G,  aufgetreten  ist,  unter  den  zabllosen  Faser-  ■ 
wegen,  welcbe  sicb  ibr  zur  weiteren  Fortpflanzung  offnen,  gerade  den  |C 
nacb  G2  fiibrenden  als  die  Babn  des  geringsten  Leitungswiderstancles  I 
wablt  und  claber  gerade  Rij  in  Rv2  verwandelt  und  clamit  Y-,  iiber  die  | 
psycbiscbe  Scbwelle  bebt.  — Das  eben  angefiibrte  Beispiel  war  insofern  i 
besonders  clurcbsicbtig,  als  es  sicb  um  die  Association  zweier  einfacber  p. 
Vorstellungen  bandelte.  Thatsacblicb  sind  nun  aber  unsere  meisten  I 
Vorstellungen  nicbt  einfacb,  sondern  bocbst  zusammengesetzt.  Wir  if 
saben  ja  aucb,  dass  clementsprecbend  die  meisten  Vorstellungen  nicbt  ; 
an  ein  Rinclenelement  gebunden  sind,  sondern  an  viele  iiber  die  ganze  | 
Hu’nrincle  zerstreute  Elemente.  Demgemass  vollziebt  sicb  aucb  die  i 
Gleicbzeitigkeitsassociation  meist  nicbt  zwiscben  zwei  einfacben  Vor-  i : 
stellungen  V^  und  Vg,  sondern  zwiscben  den  zablreicben  in  V,  und  V2  \ 
entbaltenen  Tbeil vorstellungen  resp.  Tbeilerregungen.  Auch  fiir  diese  ■ 
complexen  Vorstellungen  gilt  das  Gesetz  der  Gleicbzeitigkeitsassociation.  i 
Dabei  erbebt  sicb  die  Frage:  welcbe  von  den  vieleu  mit  V,  oder  seinen  I 
Tbeilvorstellungen  associativ  verknupften  Vorstellungen  wird  nun  that-  | 
sacblicb  auf  Vj  folgen  und  die  Stelle  V2  besetzen,  oder  anders  gefragt: 
warum  folgt  auf  Vi  in  dem  einen  Fall  die  Vorstellung  a,  in  dem  anderen  i 
b u.  s.  f.  ? Warum  scbliesst  sich  an  das  Erinnerungsbilcl  eines  Freuncles  I. 
einmal  die  Vorstellung  einer  Landscbaft,  die  wir  mit  ibm  geseben,  ein  I. 
ander  Mai  die  Vorstellung  der  Stadt,  in  der  er  jetzt  weilt,  ein  drittes  | 
Mai  vielleicbt  die  Vorstellung  des  Amts,  das  er  bekleiclet  u.  s.  w.  ? Es 
findet  gewissermaassen  ein  Wettbewerb  zahlreicher  Vorstellungen  a,  b,  I 
c,  d u.  s.  f.  um  die  Stelle  V2  statt.  Was  giebt  nun  die  Entscbeidung  I 
zu  Gunsten  beute  dieser,  morgen  jener  Vorstellung?  Man  konnte  sicb  I 


StSrungen  der  Ideenassociation. 


77 


denken,  class  einfacli  der  Grad  der  associativen  Verwandtscliaft  ent- 
sclieideiid  ware.  Ware  dieser  Factor  allein  maassgebend,  so  wiirde  auf 
eiue  Vorstellung  V,  stets  diejenige  Vorstellung  als  Vg  folgen,  welche  am 
hiiufigsten  imd  zwar  speciell  neiierdings  am  haufigsten  gleichzeitig  mit 
V,  aufgetreten  ist.  Aber  ausser  der  associativen  Verwandtscbaft  wirken 
nocli  andere  Factoren  auf  den  Verlauf  der  Ideenassociation  ein,  so 
komnit  namentlicb  der  Gefiiblston  der  um  die  Stelle  Vg  sicb  gewisser- 
maassen  bewerbenden  Vorstellungen  in  Betracht.  Vorstellungen,  welcbe 
von  lebbafteren  Gefiihlstoneu,  sie  seien  jDositiv  oder  negativ,  begleitet 
siud,  haben  grossere  Chancen  in  dem  Wettbewerb  der  Ideenassociation 
aus  El’s  Rv’s  zu  werden  und  damit  aus  ibrer  Latenz  berauszutreten. 
Denken  wir  z.  B.  an  eine  Stadt,  in  welcber  wir  friiber  gewesen  sind, 

■ so  erinnert  nns  die  Wortvorstellung  des  Namens  der  Stadt  in  der  iiber- 
. grossen  Mebrzahl  der  Falle  zuerst  an  das  Angenebme  imd  Unangenehme, 
das  wii-  dort  erlebt  haben.  Wir  wenden  nns  denjenigen  Vorstellungen 
zu,  welcbe  nns  die  interessantesten  sind,  oder,  anders  aiisgedriickt,  alle 
von  erbeblicheren  Gefiiblstonen  begleiteten  Erinnerungsbilder  taucben 
zuerst  auf.  — Scbon  durcb  das  Zusammenwirken  dieser  beiden  Factoren, 
der  associativen  Verwandtscbaft  zu  Vj  und  des  Gefliblstons,  ist  unserer 
I Ideenassociation  bei  aller  eindeutigen  Bestimmtbeit  eine  breite  Variabilitat 
. gesicbert.  Aber  es  kommt  nocb  ein  dritter  Factor  hinzu,  den  man  als 
die  Constellation  der  latenten  Erinnerungsbilder  bezeicbnen  kann.  Seien 
a,  b,  c,  d,  e fiinf  latente  Vorstellungen,  die  vor  allem  vermoge  naber 
associative!’  Verwandtscbaft  zu  V,  und  vermoge  starken  Gefiiblstones 
als  Nacbfolgerinnen  von  Vi  in  Betracht  kommen.  Die  Rindenelemente, 
in  denen  die  entsprecbenden  Ri’s  niedergelegt  siud,  • sind  durcb  Associa- 
:tionsbabnen  verkuiipft.  Wir  haben  nun  anzunebmen,  class  durcb  cliese 
Associationsbabnen  die  Efs,  die  latenten  Vorstellungen,  sicb  gegenseitig 
beeinflussen , und  zwar  bald  im  Sinne  einer  gegenseitigen  Hemmung, 

' bald  im  Sinne  einer  gegenseitigen  Anregung.  Diese  gegeuseitige  Hem- 
mung und  Anregung  unter  den  Vorstellungen  a,  b,  c,  d,  e bat  zur  Folge, 
class  eine  vorzugsweise  von  Hemmungen  getroffene  Vorstellung  trotz 
nacbster  associative!’  Verwandtscbaft  zu  V^  und  lebbaftesten  Gefiihls- 
tones  im  Wettbewerb  der  Vorstellungen  unterliegt,  wahrend  eine  andere 
in  diesen  beiden  Punkten  vielleicbt  sogar  ungiinstiger  gestellte  Vor- 
'Stellung  vermoge  der  Abwesenbeit  solcher  Hemmungen  und  begiinstigt 
von  Auregungen  siegt,  d.  b.  als  V2  auf  die  Anfangsvorstellung  V^  folgt. 
lEs  ist  also  die  Vorstellungsfolge  V.2,  V3,  V4  u.  s.  f.  durcb  drei  Momente 
bestimmt : 

1.  Den  Grad  der  associativen  Verwandtscbaft  zur  voraus- 
-gebenden  Vorstellung. 

2.  Den  Gefublston. 


78 


StOrungen  der  Ideenassociation. 


3.  Die  Constellation.  E 

Nur  so  erklart  sicli  die  unerschopfliclie  Variabilitat  unseres  Gedankeu-  il 
ablauts. 

Bei  dem  gesunden  Menscben  beschrankt  sicli  die  Ideenassociation 
in  der  Hegel  nicht  auf  eine  nacb  den  eben  angefiihrten  Gesetzen  vor  i 
sich  geliende  Keihenbildung  der  Vorstellungen.  Auf  einer  hoheren  Stufe 
reiht  die  Ideenassociation  die  Vorstellungen  nicht  einfach  aneinander, 
sondern  sie  verbindet  die  successiven  Vorstellungen  zu  Urtbeilen  und 
Schliissen.  In  dem  Urtheil  „die  Bose  ist  scbbn“  sind  nicbt  drei  Vor-  i 
stellungen  discret  aneinander  gereiht,  sondern  die  Vorstellungen  „Rose“  ; 
„ist^^  „scbon‘^  steben  untereinander  in  durcbgangiger  Beziebung.  Wir ' 
bezeicbnen  diese  Form  der  Ideenassociation  als  Urtbeilsassociation.  ! 
Das  normale  Denken  vollziebt  sicb  ganz  vorwiegend  in  solcben  Urtbeils- 
associationen. 

Die  normale.  Ideenassociation  bat  eine  bestimmte  Gescb\Ndndigkeit,  1 
welcbe  bei  den  verscbiedenen  Individuen  und  zu  verscbiedenen  Zeitenl 
bei  demselben  Individuum  nur  innerbalb  verbaltnissmassig  enger  Grenzen 
scbwankt.  Erbeblicbere  Veranderungen  der  Associationsgescbwiudigkeit 
treten  ein,  sobald  die  Stimmung  des  Individuums  wecbselt.  Fiir  die 
Psycbopatbologie  ist  folgendes  Gesetz  am  wicbtigsten:  Positive  Ge- 
fiiblstone  bescbleunigen,  negative  verlangsamen  den  Vor- 
stellungsablauf. 

Die  patbologiscben  Storungen  der  Ideenassociation  sind  einzu- 
tbeilen  in 

Allgemeine  Associationsstorungen 

a.  Krankbafte  Bescbleunigung  der  Ideenassociation  (Ideenflucbt). 
p.  Krankbafte  Verlangsamung  der  Ideenassociation  (Denk- 
bemmung). 

y.  Stdrung  des  Zusammenbangs  der  Ideenassociation  (Inco- 
barenz). 

Specielle  Associationsstorungen  der  Urtbeilsbildung 

a.  Falscbungen  der  Urtbeilsassociationen  (Wabnideen  und 
Zwangsvorstellungen) . 

p.  Defecte  der  Urtbeilsassociationen  (Urtbeilsscbwacbe). 

Dazu  kommen  nocb  die  speciellen  Storungen,  welcbe  den  ersten 
Act,  mit  welcbem  die  Ideenassociation  iiberbaupt  beginnt,  das  Wieder- 
erkennen  und  das  Aufmerken,  befallen.  Wir  beginnen  die  Be- 
sprecbung  der  Storungen  der  Ideenassociationen  mit  den  Storungen  des 
Wiedererkennens. 


StOrungen  der  Ideenassociation. 


79 


Storungen  des  Wiedererkennens. 

Das  Wiedererkennen  kestelit  darin,  dass  eine  Empfindung  E nacli 
dem  Princip  der  Aehnlichkeitsassociationen  eine  Vorstellung  V hervor- 
ruft,  welche  das  Erinnerungsbild  friiherer  ahnlicher  oder  gleicher 
Empfindungen  ist. 

Das  Wiedererkennen  ist  aufgehoben  resp.  gestort  in  folgenden  Fallen: 

1.  Durcb  Verlust  der  erforderliclien  Erinnerimgsbilder ; 

2.  in  Folge  allgemeiner  bocbgradiger  Verlangsamung  der  corti- 
calen  Associationen ; 

3.  in  Folge  von  Incobarenz  der  Ideenassociation. 

1.  Die  Storung  des  Wiedererkennens  durcb  den  Verlust  von  Er- 
innerungsbildern  kann  sicb  auf  ein  einziges  Sinnesgebiet  bescbranken. 
So  kann  z.  B.  der  Verlust  der  optiscben  Erinnerungsbilder  die  isolirte 
Aufbebung  des  optiscben  Wiedererkennens  zur  Folge  baben:  die  Krankeu 
seben  nocb,  erkennen  aber  nicbt  wieder,  was  sie  seben.  Man  bezeicb- 
net  diese  specielle  Storung  des  Wiedererkennens  als  Seelenblindbeit. 
Von  dieser  sowie  von  den  analogen  Zustanden  der  Seelentaubbeit  etc. 
ist  fruber  bereits  ausfiibrlicb  die  Rede  gewesen.  Aucb  die  allgemeinen, 
d.  b.  alle  Sinnesgebiete  betreffenden  Storungen  des  Wiedererkennens, 
welcbe  durcb  den  dififusen  Verlust  oder  die  mangelbafte  Bildung  der 
sinnlicben  Erinnerungsbilder  bedingt  sind,  wurden  bereits  erwabnt.  Sie 
sind  fiir  den  angeborenen  und  den  erworbenen  Scbwacbsinn  cbarak- 
teristiscb.  Dabei  ist  es  keineswegs  notbwendig,  dass  ein  bestimmtes 
zusammengesetztes  Erinnerungsbild  bis  auf  die  letzte  Spur  zu  Grunde- 
gebt,  '\uelmebr  bandelt  es  sicb  oft  nur  um  eine  patbologiscbe  Ver- 
blassung  desselben. 

2.  Bei  den  bbberen  Graden  der  Denkbemmung,  d.  b.  der  Verlang- 
samung  der  Ideenassociation,  ist  aucb  das  Wiedererkennen  regelmassig 
verlangsamt  und  erscbwert.  In  den  bocbsten  Graden  bleibt  es  vollig, 
aus.  Die  Sinnesempfindung  ist  also  in  solcben  Fallen  vollig  normal  undi 
aucb  das  zugeborige  Erinnerungsbild  gut  erbalten,  aber  die  Erregung 
der  Erinnerungszellen  von  den  Sinneszellen  aus  gebt  so  langsam  von 
statten,  dass  es  gar  nicbt  oder  nur  spat  zu  dem  Act  des  Wieder- 
erkennens kommt. 

3.  Wenn  die  Ideenassociation  uberbaupt  ibren  Zusammenbang  ver- 
loren  bat,  so  spricbt  man  von  Dissociation  oder  Incobarenz  (Verwirrt- 
beit).  Als  Tbeilerscbeinung  der  allgemeinen  Incobarenz  findet  man 
regelmassig  aucb  eine  Storung  des  Wiedererkennens.  Solcbe  Kranke 
verwechseln  die  Personen  ibrer  Umgebung  ebenso  wie  die  einfacbsten 
Gegenstande.  Debnt  sicb  diese  allgemeine  Verkennung  aucb  auf  Auf- 


80 


Stfirungen  der  Ideenassociation. 


entlialtsort  uud  Datum  aus , so  entsteht  das  wiclitige  Symptom  der 
Unorientiertlieit.  Man  konnte  oft  glauben,  dass  solche  Personen- 
verweclislungeu  durcli  Hallucinationen  oder  wenigstens  durch  Illusionen 
bedingt  seiii  miissen.  Dies  ist  unricbtig.  Hallucinationen  und  Illusionen 
konnen  vollig  fehlen.  Ebenso  liegt  oft  die  irrthumliche  Annahme  nahe, 
man  babe  es  mit  einem  Parapbasischen  zu  tbun,  weil  der  Kranke  die 
ibm  vorgelegten  Gegenstiinde  falsch  bezeicbnet.  Dabei  ist  jedoch  eine 
Parapbasie  im  gewobnlicben  Sinne  nicbt  vorbanden.  Der  Kranke  be- 
zeicbnet die  Gegenstande  falscb,  weil  seine  SinnesemjDfindungen  in  Folge 
der  allgemeinen  Incobarenz  aucb  auf  spracblicben  Gebiet  falscbe  Asso- 
ciationen  auslosen.  Will  man  diese  Storung  in  der  Bezeicbnung  der 
Gegenstande  in  das  iiblicbe  Schema  der  apbasiscben  Storungen  ein- 
fiigen,  so  batte  man  sie  als  transcorticale  Parapbasie  zu  bezeicbnen. 
Eine  solcbe  transcorticale  Parapbasie  und  aucb  Apbasie  kann  zuweilen 
aucb  durcb  Heerderkrankungen  hervorgerufen  werden  und  pflegt  sicb 
dann  auf  die  Empfindungen  eines  bestimmten  Sinnesgebietes  zu  be- 
scbranken.  So  bezeicbnet  man  als  optiscbe  Apbasie  einen  Zustand,  in 
welcbem  der  Kranke  Gegenstande,  welcbe  er  siebt,  nicbt  ricbtig  oder 
garnicbt  zu  benennen  vermag ; sobald  er  den  gesebenen  Gegenstand  aucb 
betasten  darf,  fallt  ibm  das  ricbtige  Wort  ein.  Eine  solcbe  isolirte 
oj)tiscbe  transcorticale  Apbasie  bezw.  Parapbasie  berubt  auf  einer  Heerd- 
erkrankung,  welcbe  die  grosse  Associationsbabn  zwiscbeu  der  occipitalen 
Sebspbare  und  den  Spracbcentren  des  Scblafen-  und  Stirnlappens  ganz 
oder  tbeilweise  unterbricbt.  Die  allgem  eine  transcorticale  Parapbasie, 
welcbe  in  dem  oben  angegebenen  Sinn  eine  Tbeilerscbeinung  der  allge 
meinen  Incobarenz  ist,  berubt  wie  diese  letztere  in  der  iiberwiegenden 
Mebrzabl  der  Falle  auf  einer  diffusen  functionellen  Associationsstorung 
der  Hirnrinde. 

Das  Symptom  des  Verkennens  von  Gegenstanden  oder  Personen 
ist  jedenfalls  ein  ungemein  vieldeutiges  und  bedarf  stets  einer  genauen 
Analyse.  Die  verscbiedenen  Moglicbkeiten,  welcbe  fiir  die  letztere  in 
Betracbt  kommen,  sollen  an  einem  bestimmten  Beispiel  von  Personen- 
verwecbslung  dargelegt  werden.  Eine  Kranke  begriisst  den  Arzt  als 
ibren  Ebemann.  Diese  Personenverwecbslung  kann  beruben: 

1.  auf  einer  unvermittelten  Illusion;  d.  b.  die  Kranke  siebt  im 
fraglicben  Augenblick  tbatsacblicb  die  Ziige  des  Arztes  so  verandert, 
dass  sie  denen  ibres  Gatten  gleicben; 

2.  auf  einer  illusionaren  Auslegung  oder  vermittelten  Illusion:  die 
Kranke  siebt  die  Ziige  des  Arztes  ebenso  verandert,  aber  diese  Trans- 
formation der  Empfindung  ist  unter  dem  Einfluss  einer  bestimmten 
Wabnidee  zu  Stande  gekommen;  die  Kranke  wabnt,  der  Arzt  sei  ibr 
Ebemann,  und  dieser  Wabn  bestimmt  die  Illusion; 


Storiingen  cler  Ideenassociation. 


81 


3.  auf  einer  Walmvorstellung  ohne  Illusion:  die  Kranke  sielit  den 
Arzt  so,  wie  er  tliatsachlicli  aussieht,  und  trotzdem*)  erldart  sie  den- 
selben  flir  iliren  Gatten.  Dabei  kann  diese  Wahnvorstellung  in  der 
verschiedensten  Weise  entstanden  sein.  Die  tbatsacblicbe  Unabnlicbkeit 
wil'd  in  solcben  Fallen  von  der  Kranken  ignorirt  oder  durch  allerband 
Hj^potbesen  zu  erklaren  versucbt ; so  giebt  die  Kranke  an,  ihr  Ehemann 
niiisse  sicli  wohl  verkleidet  haben  oder  verwandelt  worden  sein  u.  dgl.  m. 
Ziiweilen  sagt  die  Kranke  aucb  direct,  die  Unabnlicbkeit  sei  ibr  ratbsel- 
baft,  aber  an  -der  Identitiit  konne  sie  nicbt  zweifeln ; 

4.  auf  allgemeiner  Incohilrenz:  Die  Personenverwecbslung  ist  bier 
nur  die  Tbeilerscbeinung  der  allgemeinen  Dissociation.  Dementsprecbend 
wecbselt  sie  von  Minute  zu  Minute,  wabrend  die  unter  1--3  aufgefiibrten 
Persouenverwecbslungen  stabiler  zu  sein  pflegen; 

5.  auf  Undeutlicbkeit  der  in  Frage  kommenden  Erinnerungsbilder : 
Das  Erinnerungsbild  des  Gatten  bat  bei  der  Kranken  so  sebr  an  Deut- 
licbkeit  oder  Scbarfe  eingebusst,  dass  es  in  der  Ideenassociation,  speciell 
bei  dem  Wiedererkennen  falscb  angewandt  wird.  Diese  Form  der 
Personenverwecbslung  ist  bei  dem  Scbwacbsinn  am  baufigsten. 

Endlicb  ist  zu  berucksicbtigen,  dass  viele  Kranke,  wie  sie  bei  ein- 
dringlicbem  Fragen  nacbtraglicb  selbst  zugestehen,  „Tbeater  spielen^^, 
d.  b.  trotz  besseren  Wissens  ibrer  Umgebung  falscbe  Namen  beilegen. 
Namentlicb  bei  der  beiteren  Exaltation  des  Maniakaliscben  ist  dies  recbt 
baufig.  Gelegentlicb  kommt  es  jedocb  aucb  obne  Affectanomalie  auf 
Grund  plotzlicber  Einfillle  oder  auf  Grund  imperativer  Stimmen  („tbu’, 
als  ware  es  der  und  derP^)  vor.  Aucb  wird  man  selbstverstiindlicb 
stets  erwagen  mussen,  ob  die  Sebscbarfe  intact  ist.  Die  Personen- 
verkennungen  mancber  Alkobolisten  beruben  z.  B.  nicbt  auf  Illusionen 
oder  Associationsstorungen,  sondern  auf  Sebstorungen  infracorticalen 
Ursprungs,  sei  es  im  Bereicb  der  Opticusbabn,  sei  es  im  Auge  selbst. 

Eine  eigenartige  Stoning  des  Wiedererkennens  wird  als  „identi- 
ficirende  Erinnerungstauscbung^^  bezeichnet.  Der  Kranke  glaubt 
falscblicb  die  Situation,  in  welcber  er  sicb  jetzt  befindet,  mit  alien 
Details  bereits  fruber  einmal  erlebt  zu  baben.  So  erzablt  ein  cbroniscber 
Alkobolist  kurz  nacb  seiner  Aufnabme,  er  babe  vor  6 Jabren  bereits 
eine  ganz  analoge  Einlieferung  in  dieselbe  Anstalt  erlebt,  er  sei  damals 
in  demselben  Zimmer  untergebracbt , von  demselben  Arzt  untersucbt 
worden  und  mit  denselben  Kranken  zusammengewesen.  Aucb  weiterbin 
blieb  er  fest  bei  dieser  Bebauptung,  die  jeder  tbatsacblicben  Unterlage 

*)  Dass  stets  auch  an  die  Moglichkeit  einer  wirklichen  Aehnlichkeit  gedacht 
werden  muss,  ist  selbstverstandlicb.  — Seltener  kommt  es  vor,  dass  eine  Kranke  ihre 
Angehorigen  auf  Grund  von  Wabnvorstellungen,  bei  Abwesenheit  von  Illusionen,  nicbt 
als  solche  erkennt. 


Ziehen,  Psychiatric. 


6 


82 


StOrungen  der  Ideonassociation. 


entbehrte,  stehen.  Audi  bei  clem  gesunden  Menschen,  namentlicb  in 
der  Jugeiid,  kommen  soldie  ideutificirende  Erinnerungstauschungen  ge- 
legentlicli  in  Zustanden  scbwerer  korperlicher  oder  geistiger  Erschbpfung 
vor.  So  erzablt  z.  B.  Anjel,  class  er  nach  langem  Umberwanclern  in 
einer  Bilclergallerie  scliliesslich  bei  clem  Betreten  eines  noch  nicht  be- 
sucliten  Saales  den  imvviclersteblicben  Eindruck  gebabt  babe,  dass  ibm 
alle  clort  aufgebiingten  Gemalde  scbon  bekannt  seien.  Am  haufigsten 
sincl  cliese  Stonmgen  cles  Wieclererkennens  bei  der  Paranoia  und  zwar 
speciell  bei  der  Paranoia  auf  alkoholistischer  Basis  sowie  iJei  epileptisclien 
Psycbosen.  Mitunter  besteht  die  Tauscbung  auch  clarin,  dass  der  Kranke 
angiebt,  die  Situation,  in  welcber  er  sich  befinclet,  sei  ibm  friiber  scbon 
einmal  erzablt'  worclen  oder  in  einem  Bucbe  vorgekommen. 

Mit  clieser  identificirenclen  Erinnerungstauscbung  baben  die  viel 
baufigeren  Angaben  mancber  Kranken,  namentlicb  vieler  Alkobolisten 
im  Delirium  tremens,  class  sie  iiberall  von  Bekannten  umgeben  seien, 
garnicbts  zu  tbun.  Die  letzteren  Personenverwecbslungen  beruben  viel- 
mebr  fast  stets  auf  wirklicbeu  Blusionen  oder  Wabnvorstelluugen  oder 
Incobarenz  oder  encllicb  uncleutlicben  Sinneswabrnebmungen. 

Stor ungen  cles  Aufmerkens. 

Die  ZabI  der  Reize,  welclie  in  einem  gegebenen  Augenblick  gleicb- 
zeitig  auf  unsere  Sinnesflacben  einwirken  und  Empfinclungen  erzeugen, 
ist  meist  sebr  gross.  Am  augenscbeinlicbsten  tritt  dies  auf  clem  Gebiet 
cles  Gesicbtssinns  zu  Page.  Unser  Gesicbtsfelcl  stellt  eine  grosse  Summe 
zablreicber  einzelner  Gesicbtsempfinduugen  clar.  Von  cliesen  letzteren 
zieben  nur  einige  wenige,  meist  nur  eine  einzige  unsere  Aufmerksamkeit 
auf  sicb.  Dieses  Aufmerken  auf  eine  von  vielen  gleicbzeitigen  Empfin- 
cluugen  ist  nicbt  etwa  als  eine  ganz  ueue,  gebeimnissvolle  Seeleutbiltig- 
keit  aufzufassen,  sonclern  becleutet  einfacb  nur,  class  von  den  vielen 
Empfinclungen  nur  eine  Vorstellungen  enveckt  und  clamit  bestimmend 
auf  den  Gang  unserer  Icleenassociation  einwirkt.  Dies  Aufmerken  ist 
aucli  in  keiner  Weise  in  clem  gewobnlicben  Siune  willkiirlicb,  sonclern 
ganz  bestimmte  Factoren  entscheiclen  fiber  die  Ricbtung  unserer  Auf- 
merksamkeit, cl.  b.  also  clarfiber,  welcbe  von  den  vielen  gleicbzeitigen 
Empfinclungen  den  Vorstelluugsablauf  bestimmt.  Solcber  Factoren 
existiren  vier.  Erstens  ist  die  Intensitat  der  um  die  Aufmerksamkeit 
concurrirenclen  Empfindungen  von  wesentlicber  Bedeutung.  Ein  be- 
sonders  bell-leucbtencler  Gegenstand  im  Gesicbtsfeld  wircl  uns  gewobn- 
licb  besonclers  auffallen  und  unsere  Aufmerksamkeit  auf  sicb  zieben. 
Zweitens  kommt  die  Uebereinstimmung  mit  einem  latenten  Erinnerungs- 
bilcl  in  Frage.  Die  Gegenstiliide  in  der  Peripherie  cles  Gesicbtsfelds 
rufen  Gesicbtsempfinclungen  von  geringer  Deutlicbkeit  bervor;  claber  ist 


Storungen  der  IdeenasBociatioii. 


83 


die  Uebereinstimmimg  mit  den  zugeliorigen  Erinneruugsbildern  gering 
und  ill  Folge  desseu  ist  iinsere  Aiifmerksamkeit  in  der  Kegel  nur  auf 
die  in  der  Mitte  des  Gesichtsfelds  gelegenen,  auf  der  Macula  lutea  ab- 
gebildeten,  deutlicben  Objecte  gerichtet.  Ein  drittes  Moment  ist  der 
Gefiihlston  der  Empfindungen.  Solcbe  mit  starkem  Gefiiblston  erregen 
die  Aiifmerksamkeit  leichter  als  solcbe  mit  scbwacbem.  So  kann  ein 
leiser  Accord  inmitten  zablreicber  lauterer  Gerausche  unsere  Aufmerk- 
samkeit  fesseln.  Als  vierter  Factor  kommt  endlicb  die  Constellation  der 
latenten  Vorstellungen  in  Betracbt.  Icb  gebe  z.  B.  spazieren:  dabei 
werden  fortwiibrend  zabllose  Gesicbtsempfindungen  in  mm  erweckt.  Je 
nacbdem  nun  z.  B.  die  Vorstellung  mir  etwa  begegnender  Spazierganger 
bei  mb’  leicbt  erweckbar  vorbanden  ist  oder  wegen  Ueberwiegens  anderer 
Gedanken  vollig  gebemmt  wird,  wird  die  Gesicbtsempfindung  eines  be- 
gegnenden  Ereundes  oder  Fremden  meine  Aufmerksamkeit  erregen  und 
meine  weiteren  Vorstellungen  und  eventuell  aucb  Bewegungen  bestimmen, 
Oder  icb  werde  zerstreut  und  acbtlos  an  dem  Begegnenden  voriibergeben 
und  z.  B.  der  Gesicbtsempfindung  der  Landscbaft,  welcber  meine  latente 
Vorstellungsconstellation  vielleicbt  giinstiger  ist,  meine  Aufmerksamkeit 
zuwenden.  Die  Gesicbtsempfindung  des  Ereundes  kann  unter  Umstanden 
nocb  so  scbarf  und  intensiv  und  nocb  so  gefiiblsstark  sein:  in  Folge 
einer  ungunstigen  Constellation  der  latenten  Vorstellungen  oder,  anders 
ausgedriickt,  in  Folge  der  geringen  Energie  der  latenten  Vorstellung 
des  Ereundes  iiberwiegen  andere  Empfindungen  und  bestimmen  den 
Ablauf  meiner  Vorstellungen.  Speciell  bei  dem  sog.  „Sucben‘^  und  der 
„gespannten  Erwartung^^  spielt  diese  Constellation  die  Hauptrolle. 

Die  wicbtigsten  ki’ankbaften  Storungen  der  Aufmerksamkeit  sind: 

1.  Die  Herabsetzung  der  Aufmerksamkeit  (Aprosexie). 
Dieselbe  aussert  sicb  darin,  dass  keine  von  den  vielen  gleicbzeitigen 
Empfindungen  des  jeweiligen  Augenblicks  Vorstellungen  in  normaler 
Intensitat  und  Menge  erweckt.  Am  sinnenfalligsten  aussert  sicb  diese 
Aprosexie  darin,  dass  der  Kranke  Fragen,  welcbe  man  ibm  vorlegt, 
nicbt  beantwortet  und  Aufforderungen,  welcbe  man  an  ibn  ricbtet,  nicbt 
nacbkommt:*)  er  beacbtet  dieselben  uberbaupt  nicbt,  sie  regen  keine 
Vorstellungen  und  daber  aucb  keine  Bewegungen  an.  Am  baufigsten 
ist  diese  Aprosexie  bei  der  allgemeinen  Denkbemmung.  Wie  alle 
Associationsacte  ist  aucb  das  Aufmerken  bei  dieser  so  verlangsamt,  dass 
es  vollig  zu  feblen  scbeint.  Aucb  Kranke,  welcbe  ganz  unter  dem  Ein- 
fluss  einer  einzigen  sinnlicb  lebbaften,  gefiiblsstarken  Hallucination  oder 
einer  ubermacbtigen,  von  starken  Gefiiblstonen  begleiteten  Wabnvorstellung 

*)  Dio  Gehorsempfindung  einer  Frage  oder  Aufforderung  ist  bei  dem  Geistes- 
gesunden  im  Wcttstreit  dor  Empfindungen  um  die  Aufmerksamkeit  fast  stets  die 
obsiegende. 


6* 


84 


SWrungen  der  Ideonassociation. 


stehcn,  zeigen  eine  Ajjrosexie  fiir  die  norraalen  Einj)findungen.  Es  er- 
kliirt  sich  dies  nach  dem  Obigen  eben  einfach  daraus,  dass  die  vier  die  l 
Aufuierksamkeit  bestimmenden  Factoren  fiir  die  Hallucination  bezw.  i 
Wabnvorstellimg  giinstiger  liegen  als  fiir  irgend  eine  der  wirklicben, 
d.  b.  der  normalen  Empfindungen.  Ungemein  hilufig  ist  endlich  eine  i 
erliebliche  Aprosexie  bei  vielen  Schwachsinnigen.  Die  Ursache  der  | 
Aprosexie  ist  bier  offenbar  darin  zu  siichen,  dass  die  Zahl  der  verfiigbaren 
Erinnerungsbilder  und  der  abgestimmten  Associationsbabnen  zu  gering  ist.  • 
2.  Die  Steigerung  der  Aufuierksamkeit  (Hyperprosexie). 
Dieselbe  tritt  selten  in  dem  Sinne  auf,  dass  eine  Empfindung  in  ab- 
normem  Umfang,  d.  b.  also  einseitig  zu  lange  und  zu  intensiv  den  Vor- 
stellungsablauf  bestimmt.  Vielmebr  bestebt  dieselbe  meist  darin,  dass 
zu  viele  Empfindungen  Vorstellungen  erwecken,  d.  b.  die  Aufmerksam- 
keit  auf  sicb  zieben.  Wabrend  normaler  'Weise  eine  Empfindung  siegt 
und  fiir  langere  Zeit  den  Vorstellungsablauf  bestimmt,  ist  bei  der  in  ; 
Rede  stebenden  Storung  die  Aufuierksamkeit  zersplittert : Im  ersten 
Augenblick  ziebt  diese  Em]ifindung  die  Aufmerksamkeit  auf  sicb,  im 
niicbsten  'Augenblick  bereits  eine  andere.  Selbst  ganz  scbwacbe  Empfin- 
dungen erregen  die  Aufmerksamkeit.  Es  kommt  in  Edge  dessen  bei 
solcben  Kranken  zu  keiner  vollstandigen,  einbeitlicben  Vorstellungsreibe: 
neue  Empfindungen  erregen  stets  Vorstellungen,  welcbe  die  von  der 
ersten  Empfindung  angeregte  Vorstellungsreibe  unterbrecben.  Ricbtet 
man  an  solcbe  Kranke  eine  Frage,  so  antworten  sie  zuuacbst  der  Frage 
entsprecheud.  Aber  sie  baben  den  antwortenden  Satz  nocb  nicbt  be-  | 
endet,  so  ziebt  eine  beliebige  andere  Gebors-  oder  Gesicbtsemiifindung 
ibre  Aufmerksamkeit  ab.  Sie  lioren  z.  B.  ein  beliebiges  Gerauscb  oder  ij 
ilir  Blick  fiillt  auf  irgend  ein  Detail  der  Umgebung,  sei  es  die  Ubrkette 
des  Arztes  oder  eine  zufallige  Bewegung  desselben,  und  sofort  ist  die  f 
Frage  vergessen  und  oft  mitten  im  Satz  unterbricbt  sicb  der  Kranke,  i| 
um  fiber  die  Kette  oder  die  Bewegung  irgend  eine  Bemerkung  zu  macben.  i 
Die  Aufmerksamkeit  jagt  von  Empfindung  zu  Empfindung,  obne  je  an 
einer  einzelnen  langer  zu  baften. 

Diese  Hyperprosexie  ist  am  baufigsten  eine  Tbeilerscbeinung  der  i 
allgemeinen  Bescbleunigung  der  Ideenassociation  oder  der  Ideenflucbt.  i 
Bei  dieser  jageu  sicb  die  Vorstellungen.  Dementsprecbeud  wecbselt  die 
Constellation  fortwabrend  und  damit  wird  es  uumoglicb,  dass  eine 
Empfindung  langere  Zeit  den  Vorstellungsablauf  bestimmt.  Die  erbobte 
Erregbarkeit  der  latenten  Erinnerungsbilder,  welcbe  der  Ideenflucbt  zu 
Grunde  liegt,  kommt  aucb  scbwacben  Empfindungen  zu  statten.  Kleinig- 
keiten,  welcbe  bei  dem  Gesunden  nie  die  Aufmerksamkeit  zu  erregen 
vermbgen,  werden  fabig  Vorstellungen  zu  erregen  uiid  die  Aufmerksam- 
keit von  starken  Empfindungen  abzuzieben. 


Allgemeine  AssociationssWrungen. 


85 


Uuabhangig  von  irgendwelcher  Beschleunigung  cler  Ideenassociation 
kommt  eine  patliologisclie  Zersplitterung  der  Aufmerksamkeit  zuweilen 
bei  Nenrasthenie  vor.  Die  Kranken  klagen,  dass  ihre  Aufmerksamkeit 
fortwiibrend  abgezogen  werde  imd  so  ibr  Denken  sich  ^verzettele^b  Zu 
irgendwelcher  Concentration  sind  solche  Kranke  zuweilen  ganz  unfahig. 

Endlich  zeigt  der  Schwachsinn  auch  diese  Hyperprosexie  nicbt 
selten,  namentlicb  in  seinen  mittelschweren  und  leichteren  angeborenen 
Formen.  Die  Hyperprosexie  des  Schwachsinnigen  gleicht  durchaus  der 
physiologisclien  Hyperprosexie  mancher  Kinder.  Eine  Fixirung  der  Auf- 
merksamkeit gelingt  bei  dem  Schwachsinnigen  ebenso  wie  bei  dem  Kinde 
oft  kaum.  Wahrend  aber  letzteres  durch  Uebung  seine  Aufmerksamkeit 
allmahlich  concentrire.n  lernt,  ist  die  Hyperprosexie  des  ersteren  in  der 
Regel  unheilbar. 

Ausser  der  Aprosexie  und  Hyperprosexie  kommt  eine  Storung  der 
Aufmerksamkeit  vor,  welche  eine  Theilerscheinung  der  allgemeinen  In- 
coharenz  ist.  Bei  dieser  liegt  die  Storung  nicht  darin,  dass  die  Empfin- 
dungen  in  zu  geringem  oder  zu  grossem  Umfang  Vorstellungen  anregen, 
sondern  das  Krankhafte  liegt  darin,  dass  die  Empfindungen  Vorstellungen 
auslosen,  welche  in  keinem  Zusammenhang  zu  ihnen  stehen.  An  die 
Gesichtsempfindung  einer  goldenen  Kette  reihen  solche  Kranke,  auch 
wenn  sie  die  Kette  dauernd  fixiren,  Vorstellungen  an,  die  zu  der  Kette 
in  gar  keiner  Beziehung  stehen.  Da  diese  Storung  des  Aufmerkens  gan5: 
niit  der  allgemeinen  Associationsstorung  der  Incohiirenz  zusammenfallt, 
wil’d  sie  erst  im  Folgenden  besprochen  werden. 


Allo’emeiiie  Associationsstorunoen. 

a.  Krankhafte  Beschleunigung  der  Ideenassociation 

(Ideenflucht). 

Eine  absolut  scharfe  Grenze  zwischen  normaler  Geschwindigkeit 
und  krankhaft  gesteigerter  Geschwindigkeit  der  Ideenassociation  existirt 
nicht.  Auch  der  Gesunde  denkt  in  der  Erregung,  namentlich  in  der 
heiteren  Erregung  rascher.  Da  auch  psychophysische  Messungen  uns 
hier  im  Stiche  lassen  und  zudem  bei  Geisteskranken  bislang  un- 
liberwindlichen  Schwierigkeiten  begegnen,  so  ist  der  Arzt  bei  Beur- 
theilung  der  Geschwindigkeit  der  Ideenassociation  eines  Kranken  mehr 
Oder  weniger  auf  eine  Schatzung  angewiesen.  Die  hoheren  Grade 
der  Beschleunigung  des  Vorstellungsablaufs  bezeichnet  man  als  Ideen- 
flucht, die  leichteren  als  Ideenfliichtigkeit.  Regelmassig  betrifft  die  Be- 


86 


Allgemeine  AssociationssWrungen. 


schleiinigimg  der  Ideenassociation  nicht  nur  die  Aufeinanderfolge  der 
Vorstelliingen  Vj,  Vg,  V3  etc.  untereinander,  sondern  auch  die  Anreihung 


der  ersten  Vorstellung  (V,)  an  die  Empfindung  (E)  sowie  die  Ueber- 
tragung  der  corticalen  Erregung  in  die  motorisclie  Region.  Diese  beiden 
Tlieilerscheinungen  oder  Corollarsymptome  der  Ideenflucht  bezeiclinet 
man  als  Hyperprosexie  nnd  motorisclie  Agitation  (Bewegungs- 
drang).  Fine  Tlieilerscbeinung  der  letzteren  ist  wiederum  das  rascbe 
Gesticuliren  nnd  das  rascbe  Sprechen  dieser  Kranken.  Letzteres  wird 
speciell  als  Logorrhoe  bezeicbnet. 

Worauf  die  allgemeine  Associationsbeschleunigung  beruht,  lasst  sicb 
nicht  mit  Sicherheit  angeben.  Man  konnte  zunachst  daran  denken, 
dass  der  Leitungswiderstand  in  den  Associationsfasern,  welche  von  den 
Empfindungszellen  zu  den  Vorstellungszellen  fiihren,  welche  die  Vor- 
stelhingszellen  untereinander  verkniipfen  und  schliesslich  von  den  Vor- 
stellungszellen zu  den  Ursprungszellen  der  Pyramidenbahn  leiten,  ver- 
mindert  sei.  Dies  ist  jedoch  kaum  die  einzige  oder  auch  nur  die 
wesentliche  Grundlage  der  Ideenflucht.  Wahrscheinlicher  ist,  dass  die 
Reproduction  der  Vorstellungen  selbst,  also  die  Verwandlung  der  Rds 
in  Rv’s  beschleunigt  ist.  Die  latenten  Erinnerungsbilder  sind  wahr- 
scheinlich  leichter  reproducirbar.  Es  bedarf  eines  geringeren  associativen 
Impulses,  um  sie  aus  ihrer  Latenz  zu  erwecken,  oder,  anders  ausgedriickt, 
sie  iiber  die  psychische  Schwelle  zu  heben,  und  diese  Weckung  oder 
Hebung  vollzieht  sich  rascher  als  bei  dem  Gesunden.  So  wird  es  ver- 
stiindlich,  dass  bei  dem  Ideenfliichtigen  auch  schwache  Empfinduugen  in 
raschestem  Wechsel  Vorstellungen  anregen  (Hyperprosexie),  dass 
die  Vorstellungen  selbst  sich  so  iiberaus  rasch  folgen  (Ideenflucht  s.  str.) 
und  dass  endlich  die  Uebertragungen  in  das  motorisclie  Gebiet  in  ge- 
steigerter  Zahl  und  mit  gesteigerter  Geschwindigkeit  erfolgen  (moto- 
rische  Agitation).  Iliermit  stimmen  auch  die  Angaben  der  Kranken 
liber  ihren  Zustand  iiberein.  Die  meisten  geben  direct  an,  sie  fiihlten 
„ihr  Denken  in  wunderbarer  Weise  erleichtert",  „alles  falle  ihnen  viel 
leichter  ein^^,  „ihre  Glieder  seien  viel  beweglicher  geworden". 

Die  Ideenflucht  ist  zunachst  ausschliesslich  eihe  formale  Stoning 
des  Denkens,  welche  den  Inhalt  des  Denkens  nicht  beeinflusst.  Sobald 
dieselbe  indes  hohere  Grade  erreicht , pflegt  sich  fast  stets  auch 
eiue  Verilnderung  des  Denkiuhalts  eiuzustellen.  Complicirtere  Vor- 
stellungen und  Vorstellungscomplexe  werden  nicht  mehr  oder  nur  spiir- 
lich  reproducirt.  Concrete  BegrifPe,  namentlich  in  unmittelbarer  An- 
kniipfung  an  actuelle  Empfindungen,  iiberwiegen  mehr  und  mehr.  Der 
innere  Zusammenhang  der  aufeinander  folgenden  Vorstellungen  lockert 
sich.  Die  Vorstellungen  folgen  aufeinander  auf  Grimd  einer  ganz  zu- 
falligen  Klangahnlichkeit  der  sie  bezeichnenden  Worte.  Namentlich 


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Allgemeine  AssociationsstOrungen. 


87 


Eeime  mid  Assonanzen  bestimmen  oft  deu  Vorstellungsablauf.  Nimmt 
die  Ideenflucht  nocb  weiter  zu,  so  werden  Zwischenvorstellungen  fort- 
wabrend  iiberspvungen.  Die  Kranben  kommen  vom  Himdertsten  in  das 
Tansendste.  Der  verbindende  Faden  liisst  sicb  oft  kaum  mebr  aiiffinden. 
Schliesslicli  werden  die  Vorstell ungen  obne  Satzverbindung  aneinander 
gereibt:  es  komint  nicht  mebr  zu  Urtbeilsassociationen.  In  rasender 
File  folgen  einzelne  discrete  Vorstellungen  auf  einander,  bald  obne 
jeglicbe  erkennbare  Beziebung  untereinander,  bald  auf  Grund  zufalliger 
Wortabnlicbkeit.  *)  Bei  geistig  bocb  Yeranlagten  Individuen  wecbseln 
die  Vorstellungen  fortwabrend,  bei  wenig  veranlagten  werden  dieselben 
Vorstellungen  fortwabrend  wiederbolt.  Speciell  letztere  Form  der 
Ideenflucbt,  welcbe  sicb  in  dem  rascben  Plappern  zusammenbangs- 
loser  Worte  aussert,  wird  aucb  als  Verbigeration  bezeicbnet.  Die 
Gesammtbeit  der  eben  bescbriebenen  Veranderungen,  welcbe  sicb  secun- 
dar  in  den  boberen  Graden  der  Ideenflucbt  einstellen,  stellt  das  Bild 
der  secundaren  Incobiirenz  dar,  welcbe  spater  nocb  ausfiibrlicber 
besprocben  werden  wird. 

Man  unterscbeidet  2 Hauptformen  der  Ideenflucbt,  die  primare 
Ideenflucbt  und  die  secuudare  Ideenflucbt.  Als  primixr  wird  diejenige 
Ideenflucbt  bezeicbnet,  welcbe  nicbt  auf  ein  anderweitiges  psycbopatbo- 
logiscbes  Symptom  zuriickgefiibrt  werden  kann.  Wenu  ein  Kranker 
gebaufte  rascbwecbselnde  Hallucinationen  bat  und  entsprecbend  diesem 
rascben  Wecbsel  der  Hallucinationen  rascb  denkt  und  spricbt,  so  ist 
eine  solcbe  Ideenflucbt  secundar:  sie  lasst  sicb  eben  auf  die  rascb 
wecbselnden  Hallucinationen  zwanglos  zurlickfiibren.  Das  Krankbafte 
liegt  bier  in  den  Hallucinationen,  nicbt  in  der  Ideenflucbt;  letztere  ist 
vielmebr  nur  die  natiirlicbe,  pbysiologiscbe  Consequenz  der  ersteren. 
Ausser  Hallucinationen  konnen  gelegentlicb  aucb  gebaufte  Wabnideen 
zu  secundarer  Ideenflucbt  fiibren,  und  endlicb  fiibren  aucb  vereinzelte 
Hallucinationen  und  Wabnideen,  wofern  sie  von  starken  positiven  oder 
aucb  negativen  Gefiiblstonen  begleitet  sind,  oft  zu  secundarer  Ideenflucbt; 
so  kann  ein  ballucinatoriscb  gebortes  Scbimpfwort  oder  der  Zorn  iiber 
eine  wabnbafte  Verfolgung  zu  voriibergebender  secundarer  Ideenflucbt 
und  Logorrboe  fiibren.  Aucb  diese  secundare  Ideenflucbt  stellt  kein 
neues  Krankbeitssymptom  dar,  sie  entspricbt  durcbaus  der  durcb  die 
Hallucination  und  Wabnidee  bervorgerufenen  affectiven  Erregung. 

Primare  Ideenflucbt  findet  sicb  weitaus  am  baufigsten  vergesell- 
scbaftet  mit  der  frliber  besprocbenen  beiteren  Verstimmung.  Beide  geboren 

*)  Ein  Beispiel  incoharenter  hochgradiger  Ideenflacht  ist  z.  B.  folgende  Asso- 
ciationsreihe : „20.  September  — Septuagesima  — 20.  Jahrbuiidert  — das  kommt 
davon,  wenn  man  die  Zeit  nicbt  im  Kopfe  hat  — 7 X 8 macbt?  — Grossmacht  — 
Machte  (Magde?)  — Dienstleute“  etc. 


88 


Allgemeine  Associationsstorungen, 


fast  unzertrennlicli  zusammen,  ebenso  wie  Denkbemmung  und  traurige 
Verstimmung.  Ueber  das  gegenseitige  Verhaltniss  der  Ideenflucht  und  \ 
der  beiteren  Verstimmung  ist  viel  gestritten  worden.  Bald  hat  man  die 
Ideenflucht  als  das  Primarsymptom  bezeichnet  und  angenommen,  die  I 
heitere  Verstimmung  erklare  sich  aus  dem  Gefiihl  der  Erleichterung  der  | 
Vorstellungsablaufs , bald  hat  man  die  heitere  Verstimmung  als  das 
Primarsymptom  auffassen  wollen  und  auf  den  oben  erwahnten  psycho- 
logiscben  Satz  hingewiesen,  dass  positive  Gefiihlstone  auch  bei  dem 
Gesunden  den  Vorstellungsablauf  beschleunigen.  Bei  der  letzteren  An- 
nahme  wiirde  eine  primare  Ideenflucht  iiberhaupt  aus  der  allgemeinen 
Psychopathologie  fast  ganz  auszuweisen  sein.  Eine  unbefangene  Be- 
obachtung  derjenigen  Kranken,  welche  beide  Symptome  — Ideenflucht 
und  Exaltation  — gleichzeitig  darbieten,  lehrt,  dass  meist  beide 
Symptome  durchaus  coordinirt  sind.  Gebildete  Kranke  geben  wahrend 
ihrer  Krankheit  und  auch  nach  ihrer  Genesung  retrospectiv  oft  ganz 
unzweideutig  an,  beides  — Ideenflucht  und  Exaltation  — habe  sich 
gleichzeitig  eingestellt.  Im  Folgenden  wird  diese  Auffassung  denn  auch 
stets  zu  Grunde  gelegt  werden  und  demnach  sowohl  die  Ideenflucht  wie 
die  Exaltation  in  alien  diesen  Fallen  als  prim  ares  Symptom  aufgefasst 
werden.  Dabei  muss  bei  dem  jetzigen  Stand  unsrer  Kenutnisse  die 
Frage  offen  bleiben,  worauf  die  Haufigkeit  des  gemeinschaftlichen  Vor- 
kommens  von  Ideenflucht  und  heiterer  Verstimmung  beruht.  Wir  konnen 
einstweilen  nur  sagen,  dass  diejenigen  atiologischen  Krankheitsmomente, 
welche  die  Reproducirbarkeit'  der  Vorstellungen  erhbhen  und  so  zur 
Ideenflucht  fiihreu,  auch  ein  Ueberwiegen  der  positiven  Gefiiblstone  und 
damit  eine  pathologische  Exaltation  bedingen. 

Abgesehen  von  der  oben  beschriebenen  primaren  Ideenflucht,  welche 
sich  mit  heiterer  Verstimmung  vergesellschaftet,  kommt  ab  und  zu  — 
jedoch  erheblich  seltener  — primare  Ideenflucht  auch  ohne  Afiectstbrung, 
speciell  ohne  heitere  Verstimmung  vor.  So  namentlich  bei  der  Nervositat 
oder  Neurasthenie.  Solche  Kranke  klagen  dem  Arzt  geradezu,  dass 
ihr  Denken  sich  in  qualvollster  Weise  iiberhaste.  Bald  sind  es  Reminis- 
cenzen,  die  in  fliegender  Eile  stundenlang  dem  Kranken  durch  den  Kopf 
schwirren  („Reminiscenzenflucht^^),  bald  sind  es  hausliche  Angelegenheiten 
Oder  Tagesfragen,  gleichgiiltige  oder  interessante,  an  welche  die  Ideen- 
flucht ankniipft.  Der  Kranke  empfindet  die  Beschleimigung  der  Ideen- 
association  hier  stets  als  einen  qualvollen  Zwang,  welchem  er  vergeblich 
zu  widerstehen  versucht. 


Allgeraeine  AssociationsstSrungen. 


89 


p.  Krankhafte  Verlangsamung  der  Ideenassociation. 

(D  enkhemmung) . 

Ebenso  wie  die  Beschleunigiing  der  Ideenassociation  beschrankt  sich 
auch  die  Verlangsamung  der  Ideenassociation  nicbt  auf  die  Aneinander- 
reibung  der  Vorstellungen  nnter  sich,  sondern  betrifft  auch  die  An- 
kniipfung  der  ersten  Vorstellung  an  die  Empfindung  (von  V^  an  E) 
nnd  die  Schlussiibertragung  der  corticalen  Erregung  in  die  motorische 
Eegion.  Hieraus  resnltiren  zwei  Theil-  oder  Corollarsymptome  der 
Denkhemmnng,  welche  man  als  Aprosexie  and  als  motorische  Hemmung 
bezeichnet.  Von  der  die  Denkhemmnng  begleitenden  Aprosexie  ist 
bereits  ausfiihrlich  die  Kede  gewesen.  Sie  hiingt  eng  mit  der  gleich- 
falls  bereits  erwahnten  Erschwerung  nnd  Verlangsamung  des  Wieder- 
erkennens  zusammen,  welche  bei  keiner  erheblicheren  Denkhemmnng 
fehlt.  Die  motorische  Hemmung  aussert  sich  vor  Allem  in  der  Ver- 
laugsamung  resp.  Aufhebung  der  sog.  willklirlichen  Bewegungen.  In 
schwereren  Fallen  vermag  der  Kranke  nicht  einmal  die  einfachsten  Be- 
wegungen, zu  denen  er  aufgefordert  wil'd,  auszufiihren.  Soil  er  einen 
vorgehaltenen  Gegenstand  ergreifen,  so  hebt  er  den  Arm  muhsam  ebeu 
von  der  Bettdecke  ab  und  lasst  ihn  dann  wieder  sinken  oder  fiihi’t  ihu 
laugsam,  unter  bfteren  Pausen  in  unverhaltnissmassig  langer  Zeit  zu 
dem  Gegenstand  bin.  Die  Sprache  ist  verlangsamt,  oft  leicht  saccadirt. 
Muhsam  sucht  der  Kranke  die  Worte.  Die  Phonation  ist  besonders  stark 
gehemmt : der  Kranke  fliistert  oder  haucht  die  Worte  kaum  vernehmlich.  In 
den  schwersten  Fallen  beschrankt  sich  das  Sprechen  auf  unverstandliche 
abortive  Mundbewegungen  oder  kommt  es  zu  volligem  Mutismus  (Stumm- 
heit  durch  Hemmung).  Zuweilen  aussert  sich  die  motorische  Hemmung 
auch  darin,  dass  der  Kranke  eine  gewisse  Bewegung  fortwahrend  in 
monotonster  Weise  wiederholt,  also  z.  B.  stundenlang  ein  und  dieselbe 
Schlagbewegung  mit  dem  Arm  ausfiihrt  und  ein  und  dasselbe  Wort 
oder  einen  und  denselben  Satz  wiederholt  (=  stereotype  Bewegungen). 
Die  allgemeine  Kbrpermusculatur  zeigt  abgesehen  von  der  Verlang- 
samung resp.  Aufliebuug  der  Willkiirbewegungen  ein  zwiefaches  Ver- 
halten.  Bald  besteht  eine  vollige  Erschlaffung  aller  Korpermuskeln 
(=  motorische  Hemmung  mit  Resolution),  bald  besteht  eine  allgemeine, 
zuweilen  sehr  intensive  Sj)annung  aller  Muskeln  (=  katatonische 
Hemmung).  Im  ersteren  Falle  begegnen  passive  Bewegungen  keinem 
Widerstand:  der  erhobene  Arm  fallt  schlaff  wie  der  eines  Todten,  ledig- 
lich  der  Schwerkraft  folgend,  auf  die  Unterlage  zuriick.  Im  letzteren 
Fall  begegnet  der  Versuch  zu  passiven  Bewegungen  einem  mehr  oder 
weniger  grossen  Widerstand.  Zuweilen  ist  die  passive  Beweglichkeit 


90 


Allgemeine  Associationsstorungon. 


chirch  die  katatonische  Spannung  fast  ganz  aufgehoben.  Da  die  Span- 
nung  bald  in  dieseu,  bald  in  jenen  Muskeln  iiberwiegt,  so  ist  der  Korper 
bald  in  dieser,  bald  in  jener  Stellimg  fixirt.  Der  Kopf  nimmt  besonders 
baufig  eine  dem  Emprostbotonus  entsprecbeude  Stellung  ein ; bei  liett- 
lagerigen  Kranken  ist  er  daber  von  dem  Kopfkissen  abgeboben  iind  wird 
stunden-  und  selbst  tagelang  im  Scbweben  gebalten.  Seltener  wird  er 
— dem  Opisthotonus  der  tuberculosen  Meningitis  entsprecbend  — tief 
in  die  Kissen  gebobrt.  Die  Zabnreiben  werden  oft  so  energiscb  aufein- 
ander  gepresst,  dass  dem  Unerfabrenen  ein  Trismus  vorgetauscbt  wird. 
Die  Stirn  ist  bald  in  senkrecbte,  bald  in  wagerecbte  Runzeln  gelegt,  die 
Augen  sind  bald  weit  aufgerissen,  bald  fest  zugekniffen,  die  Augenaxen 
meist  parallel  geradeaus  gericbtet.  Die  Extremitaten  befinden  sicb  fast 
ebenso  oft  in  katatoniscber  Flexionsstellung  wie  in  katatoniscber  Exten- 
sionsstellung.  Es  bedarf  oft  grosser  Vorsicbt,  um  die  Verwecbslung  mit 
Contracturen , sowobl  organiscb  bedingten  wie  bysteriscben , zu  ver- 
meiden.  Ausser  Resolution  und  katatoniscber  Spannung  (Attonitat) 
findet  sicb  zuweilen  als  Tbeilerscbeinung  der  allgemeinen  Associations- 
bemmung  aucb  die  sog.  Flexibilitas  cerea  (s.  u.) 

Die  ganze  Trias  der  eben  aufgefiibrten  Symptome,  Aprosexie  -f 
Denkbemmung  motoriscbe  Hemmung,  wird  aucb  als  Stupor*)  be- 
zeicbnet.  Kranke  in  solcbem  Zustand  nennt  man  stupor  os.  Je  nacb 
der  Aeusserungsweise  der  motoriscben  Hemmung  unterscbeidet  man 
daber  aucb  einen  Stupor  mit  Resolution  und  einen  katatoniscben  Stupor. 

Wie  die  Ideenflucbt  ist ' aucb  die  Denkbemmung  und  der  sie  ein- 
scbliessende  Stupor  bald  secundar,  bald  primar. 

Secundare  Denkbemmung  (bezw.  secundarer  Stupor)  ist 
am  biiufigsten  durcb  Ilallucinationen  bedingt  und  zwar  durcb  Hallu- 
cinationen  beiingstigenden  oder  fascinirenden  oder  imperativen  Inbalts. 
So  kannte  icb  eine  Kranke,  welcbe  wochenlang  regungslos  auf  einem 
Fleck  stand:  dieselbe  spracb  kein  Wort,  reagirte  weder  auf  Nadelsticbe 
noch  auf  Anruf,  genoss  spontan  keine  Nabrung,  Hess  Kotb  und  Urin 
unter  sicb.  Der  Speicbel  floss  ibr  aus  den  Mundwinkeln  auf  das  Kleid 
nieder.  Als  sicb  spater  der  Stupor  loste,  gab  sie  an,  sie  babe  ringsum 
statt  des  Zimmerbodens  drobende  Abgriinde  geseben  und  sicb  desbalb 
nicbt  zu  riibren  gewagt  und  aucb  ibr  Denken  sei  durcb  die  scbrecklicbe 
Vision  „vollig  gebunden  und  gebannt  gewesen".  In  diesem  Ealle  Avar 
also  der  Stupor  secundar  durcb  eine  beiingstigende  Hallucination  resp. 
Illusion-  bedingt.  Andere  Kranke  sehen  den  Himmel  offen,  bbren  Engel- 

*)  Wie  viele  Termini  der  Psychiatrie,  ist  anch  der  Terminus  Stupor  von  den 
verschiedenen  Autoren  in  der  verscbiedensten  Bedeutung  angewandt  Avorden.  Wir 
brauchen  diese  Bezeicbnung  ausscbliesslicb  fur  den  durcb  die  oben  aufgefiibrten 
3 Symptome  cbarakterisirten  Krankbeitszustand. 


Allgem eine  AssociationsstOrungen . 


91 


cliore  Oder  die  gottliche  Stirame  mid  sind  durcli  solclie  fascinirende 
Hallucinatiouen  wie  gebannt.  Besonders  bei  Epilepsie  mid  aiich  bei 
Hysterie  konimt  diese  Form  des  secundaren  Stupors  haufig  vor.  In 
einer  dritteu  Reibe  von  Fallen  ist  eine  imperative  Hallucination  als 
Ursaclie  des  Stupors  nachzuweisen : der  Kranke  librt  z.  B.  geradezu 
eine  Stimnie,  welclie  ihm  zuruft,  er  diirfe  sicli  nicbt  rlibren  oder  er  sei 
des  Todes,  und  diese  Stimme  bat  so  viel  Macbt  liber  ibn,  dass  sein 
Vorstellungsablauf  und  sein  Bewegen  und  Handeln  vollig  gebemmt  ist. 
Endlich  ist  aucb  zu  beriicksicbtigen,  dass  eine  auf  das  motoriscbe  Ge- 
biet  bescbrankte  Hemmung  in  der  friiber  erlauterten  Art  und  Weise 
durch  Bewegungshallucinationen  vorgetauscbt  werden  kann.  Aebnlicb  ■vvie 
Hallucinationen  konnen  endlicb  aucb  Wabnvorstellungen  analogen  Inbalts 
zuweilen  einen  secundaren  Stupor  erzeugen.  — Alle  diese  Forinen  des 
secundaren  Stupors  bat  man  aucb  treffend  als  Pseudostupor  bezeicbnet 
und  unterscbeidet  namentlicb  einen  ballucinatoriscben  und  einen  wabn- 
baften  Pseudostup or.  In  der  Regel  ist  der  Pseudostupor  ein  kata- 

toniscber;  Resolution  ist  sebr  selten. 

Der  prim  are  Stupor  (bezw.  die  prim  are  Denkbemmung) 
kommt  baufig  obne  jede  concomitirende  Affectstorung  vor.  In  dieser 
Beziebung  verbalt  sicb  also  die  Denkbemmung  anders  als  die  Ideen- 
flucbt,  deren  Seltenbeit  obne  concomitirende  Affectstorungen  oben  ber- 
vorgeboben  wurde.  Namentlicb  alle  diejenigen  Psycbosen,  in  deren 
Aetiologie  geistige  Erscbopfung  und  Ueberanstrengung  eine  Rolle  spielen, 
zeigen  baufig  dauernd  oder  intercurrent  stuporbse  /ustande  in  den  vei- 
scbiedensten  Graden.  In  den  leicbtesten  Fallen  — z.  B.  einer  auf  dem 
Boden  cerebraler  Erscbopfung  entstandenen  Nervositiit  — iiussert  sicb 
die  Denkbemmung  nur  darin,  dass  der  Kranke  geistige  Arbeiten  etwas 
langsamer  bewaltigt.  Zuweilen  arbeitet  er  anfangs  mit  normaler  Ge- 
scbwindigkeit , aber  nacb  imverbaltnissmassig  kurzer  Zeit  ermiidet  er 
d.  b.  es  stellt  sicb  eben  jene  Denkbemmung  ein,  welcbe  bei  dem  Gesunden 
erst  nacb  viel  langerer  Arbeitszeit  sicb  einzustellen  pflegt.  In  den 
scbwersten  Graden  erscbeint  das  Denken  geradezu  aufgeboben.  Hocli- 
gebildete  Kranke’  vermogen  ein  einfacbes  Beispiel  aus  dem  Einmaleins 
nicbt  mebr  zu  recbnen  und  geben  ibre  eigenen  Personalien  falscb  an.*) 

*)  Speciell  die  complicirteren  Vorstellungscomplexe  pflegeu  bei  dieser  Denk- 
bemmung am  intensivsten  betroffen  zu  sein,  wabrend  einfacbere  Vorstellungen  nocb 
leidlich  reproducirt  werden  konnen.  Dies  filbrt  in  mancben  Fallen  dazu,  dass  die 
Kranken  ein  eigentbiimlich  kindiscbes  und  albernes  Gebabren  zeigen.  Plappernd 
wiederbolcn  sie  immer  dieselben  Phrasen  oder  trillern  dieselben  Melodien.  Wabrend 
complicirtere  Handlungen  vollig  gebemmt  sind,  konnen  einfacbere  Bewegungen  nocb 
ausgiebig  stattfinden:  statt  einer  vdlligen  Kesolutioii  oder  katatoniseben  Spannung 
findet  man  daber  in  solchen  Fallen,  dass  die  Kranken  wenigstens  stundenweise  wie 
Kinder  spielen  und  tandcln. 


92 


Allgemeine  Associationsstflrungen. 


Dass  es  sich  in  solchen  Fallen,  welche  namentlich  bei  der  sog.  Stupiditat 
vorkommen,  niclit  um  einen  Verlust  der  Erinnerungsbilder,  sondern 
lediglicb  mn  eine  Heminung,  d.  b.  eine  Verlangsamung  und  Erschwerung 
der  Reproduction  handelt,  geht  daraus  bervor,  dass  oft  voriibergebend 
wenn  namlicli  die  Hemmung  gelegentlicb  nachlasst  — der  Kranke 
dieselben  Fragen  ricbtig  beantwortet,  ferner  daraus,  dass  bei  sebr  langem 
Zuwarten  zuweilen  dock  scbliesslich  eine  ricbtige  Antwort  auch  in  den 
/eiten  schwerster  Hemmung  erbalten  werden  kann,  und  endlicb  daraus, 
dass,  falls  Genesung  eintritt,  der  Kranke  nicbt  etwa  alle  seine  friiheren 
Kenntnisse  durcli  neues  Lernen  — etwa  wie  ein  Kind  — wieder  er- 
werben  muss,  sondern  mit  dem  allmalilicben  oder  jdotzlicben  Nacblass 
der  Hemmung  ohne  Weiteres  wieder  in  den  Besitz  seines  friiheren 
Wissens  eintritt.  Dabei  ist  jedoch  zu  beriicksichtigen,  dass  bei  sebr 
langer  Dauer  stuporoser  Zustande  scbliesslich  in  Folge  Mangels  jeg- 
licber  Uebung  und  Reproduction  auch  der  Besitzstand  an  Erinnerungs- 
bildern  leiden  kann.  Es  tritt  dann  eben  allmablicb  zu  der  Denk- 
benimung  ein  wirklicber  Verlust  von  Erinnerungsbildern,  ein  sog. 
secundarer  Intelligenz def e ct  (secundare  Demenz)  binzu.  Aus  dem 
scbeinbaren  Scbwacbsinn  wird  ein  wirklicber. 

Ausser  dieser  uncomplicirten  primiiren  Denkbemmung  existirt  eine 
mit  Depression  vergesellscbaftete  Denkbemmung,  welche  in  fast  alien 
Punkten  das  Gegenbild  der  oben  besprocbenen  primaren  mit  Exaltation 
vergesellscbafteten  Ideenflucbt  darstellt.  Man  hat  auch  bier  sich  vielfacb 
gestritten,  ob  bei  dieser  Combination  die  Depression  oder  die  Denk- 
bemmung das  primare  Symptom  sei.  Letztere  Annabme  ist  scbon  des- 
balb  sofort  zu  verwerfen,  weil  wir,  wie  oben  erwabnt,  Denkbemmung 
sebr  oft  auch  ohne  gemiitblicbe  Depression  finden.  Aber  auch  die  erstere 
Annabme,  wonacb  die  Depression  die  zureicbende  und  einzige  Ursacbe 
der  Denkbemmung  ist,  ist  — wenigstens  fiir  viele  Falle  — nicbt  stich- 
baltig.  Dass  im  Allgemeinen  negative  Gefiihlstone  den  Vorstellungsab- 
lauf  bei  dem  Gesunden  ebenso  wie  bei  dem  Kranken  erscbweren  und 
verlangsamen,  ist  allerdiugs  ricbtig,  und  in  vielen  Fallen,  wo  Denk- 
bemmung und  Depression  coexistiren , mag  dies  zur  Erkliirung  der 
Denkbemmung  ausreicben  und  somit  die  Denkbemmung  als  secundar, 
durcb  die  Depression  bedingt,  aufzufassen  sein.  In  vielen  anderen  Fallen 
geben  beide  Symptome  durcbaus  parallel.  Mancbe  Kranke  geben  sogar 
geradezu  an,  dass  die  Denkbemmung  nocb  vor  der  Depression  vorbanden 
gewesen  sei.  Dann  sind  also  beide  Symptome  als  primar  und  coor- 
dinirt  aufzufassen.  Im  Folgenden  wird  im  Allgemeinen  diese  Auffassung, 
wonacb  die  mit  Depression  vergesellscbaftete  Denkbemmung  nocb  als 
primare  aufzufassen  ist,  festgebalten  werden. 

Unter  den  verscbiedenen  depressiven  Affecten  verbindet  sich  weit- 


Allgemoine  Associationsstoriingen. 


93 


aiis  am  liaufigsten  die  Angst  mit  Denkhemmiing.  Die  Denkhemmung 
kann  bei  dieser  fast  ebenso  holie  Grade  erreiclien  wie  bei  der  oben- 
erwabnten  Stupiditiit.  Es  giebt  Kranke,  z.  B.  Melancbolische,  welche 
auf  der  Holie  der  Angst  zu  der  Multiplication  7x8  melirerer  Minuten 
bediirfen,  und  die  Namen  ihrer  Kinder  nur  miihsam  oder  garnicht 
aiifzalilen  konnen.  Man  bezeichnet  diese  Denkhemmung  baufig  aucli 
speciell  als  Scbwerbesinnlicbkeit.  Das  motorisclie  Gebahren  dieser 
Kranken  zeigt  grosse  Verscbiedenheit.  Zuweilen  findet  man  vollige  Re- 
solution, so  bei  der  hiernach  benannten  Melancholia  pas  si  v a.  Haufiger 
sind  katatonisclie  Spannungszustande:  die  Kranken  erscbeinen  wie  „an- 
gedonnert^^,  so  bei  der  sog.  Melancholia  attonita.  Endlich  kann  sehr 
haufig  die  motorische  Hemmung  vollstandig  verdeckt  werden  durch  die 
friiher  besprochenen  Ausdrucksbewegungen  der  Angst,  also  namentlich 
das  Jammern,  das  Zupfen  an  den  Fingerbeeren,  das  Ringen  der  Hande, 
das  Wiegen  des  Oberkorpers,  das  ruhelose  Stossen  der  Beine,  das  angst- 
volle  Umherlaufen.  Die  Melancholie,  welche  fiir  alle  diese  Zustande  das 
reichste  Beohachtungsgebiet  darstellt,  zeigt  gerade  diese  Combination 
von  Denkhemmung,  Angst  und  Angstbewegungeji  (neben  sonstiger  moto- 
rischer  Hemmung)  ausserst  haufig.  Man  bezeichnet  diejenige  Form  der 
Melancholie,  wo  dies  Verhalten  dauernd  vorherrscht,  geradezu  als  agitirte 
Melancholie  (Melancholia  agitata). 

Wahrend  die  Erkennung  der  Ideenflucht  keinerlei  Schwierigkeiten 
darbietet,  ist  die  Diagnose  der  Denkhemmung  oft  sehr  schwierig. 
Die  Thatsache,  dass  ein  Kranker  Fragen  langsam  oder  garnicht  beant- 
wortet,  ist  stets  mehrdeutig.  Es  kann  eine  secundare  Denkhemmung 
hedingt  durch  Hallucinationen  oder  Wahnvorstellungen , es  kann  eine 
prirnare  Denkhemmung  ohne  Affectstorung  (wie  bei  der  Stupiditat),  es 
kann  eine  mit  trauriger  Verstimmung  und  Angst  vergesellschafte  resp. 
von  ihr  abhangige  Denkhemmung  vorliegen  und  es  kann  sich  endlich 
vor  allem  uberhaupt  um  keine  Denkhemmung,  sondern  um  einen  wirk- 
lichen  Intelligenz defect  (also  Schwachsinn)  handeln.  Als  unterscheidende 
Merkmale  kommen  folgende  in  Betracht: 

Die  Denkhemmung  ist  grossen  Schwankungen  unterworfen ; selbst  in 
den  schwersten  Fallen  kommen  gelegentlich  Augenblicke  oder  Stunden, 
in  welchen  die  Hemmung  nachlasst  und  dementsprechend  der  Kranke 
auftallig  richtig  antwortet.  Solcbe  vorubergehcnde  Schwankungen  zeigt 
der  Schwachsinn  niemals:  er  ist  entweder  stabil  oder  progressiv. 

Die  Denkhemmung  betrifit  die  einzelnen  Vorstellungscomplexe  oft 
in  sehr  ungleichmassiger  Weise.  Einzelne  ganz  einfache  Fragen  bleiben 
unbean twortet  und  andrerseits  verrathen  einzelne  Antworten  ein  auf- 
fillliges  Maass  von  Urtheilskraft.  Der  wirkliche  Intelligenzdefect  ist  in 


94 


Allgemeine  Associationsstfirungen. 


cler  Regel  ein  ganz  allgemeiner:  es  lianclelt  sich  meist  uni  eine  zieirilicli 
gleichraiissige  Reduction  des  ganzen  geistigen  Besitzstandes. 

Die  Denkhemmung  betrifft  vorzugsweise  die  einzelnen  Vorstellungen 
und  Voi'stellungscomplexe,  weniger  die  Urtheilsassociationen  der  Vor- 
stellungeii.  So  schwer  es  diesen  Kranken  fallt,  einzelne  Vorstellungen 
und  Hire  Verkniipfung  zu  reproduciren,  so  correct  sind  dock  die  Urtheils- 
associationeii  selbst,  sobald  iiberhaupt  einmal  trotz  der  Heinmung  die 
Vorstellungen  reproducirt  worden  sind.  Der  Scliwachsinn  aussert  sich 
ini  Gegentlieil  ganz  vorwiegend  aucb  in  den  Urtheilsverbindungen  der 
Vorstellungen.  Damit  liangt  es  zusammen,  dass  der  Kranke  init  Denk- 
hemuiung  iiberhaupt  ofter  garnicht  als  falscli  antwortet  und  bei  langem 
Zuwarten  schliesslich  die  Antwort  richtig  findet,  walirend  der  Schwach- 
sinnige  ofter  falscli  als  garnicht  antwortet  und  in  der  Regel  auch  bei 
geduldigstem  Zuwarten  die  richtige  Antwort  niclit  trilft. 

Endlich  ist  die  Denkhemmung  fast  ausnahmslos  auch  mit  moto- 
rischer  Hemmung  verkniipft.  Speciell  aussert  sich  dies  fast  stets  in 
sehr  sinnenfalliger  Weise  in  deni  Sprechen  des  Kranken.  Miihsam  und 
langsam  kommen  die  Worte  iiber  die  Lippen  Bei  deni  Schwachsinn 
fehlt  die  motorische  Heinmung  meist  ganz:  das  rasche  Sprechen  der 
Kranken  contrastirt  oft  in  auffalliger  Weise  mit  ihrem  langsam en 
Denken. 

So  werthvoll  diese  Kriterien  im  Allgemeinen  sind,  so  reichen  sie 
dock  im  Einzelfall  zuweilen  zm  einer  sicheren  Entscheidung,  ob  Hemmung 
Oder  Defect  vorliege,  niclit  aus.  Namentlich  bei  einer  einmaligen  Unter- 
suchung  kann  man  mit  der  Diagnose,  ob  Hemmung  oder  Defect,  niclit 
vorsiclitig  genug  sein.  Vollends  ist  es  nicht  selten  ganz  unmoglich 
zu  entsclieiden , ob  bezw.  wann  eine  liingere  Zeit  bestehende  Denk- 
liemmung  in  dem  oben  aiigeflibrten  Sinn  zu  einem  secundaren  Defect 
gefiihrt  hat. 

Hat  man  den  Intelligenzdefect  ausgesclilossen,  so  bleibt  die  weitere 
Frage  zu  entsclieiden,  welche  Form  der  Denkhemmung  vorliegt.  Der 
friiher  beschriebene  charakteristische  Habitus  des  Hallucinauten  verriith 
den  hallucinatoriscben  Stupor  resp.  die  hallucinatorische  Denkhemmung, 
der  traurige  oder  iingstliche  Gesichtsausdruck  die  mit  Depression  ver- 
kniipfte  Denkhemmung.  Bei  der  primaren  Denkliemmung  ohne  Affect- 
anomalie,  wie  sie  bei  der  Nervositiit,  der  Stupiditat  und  der  stuporoseii 
Paranoia  vorkommt , filllt  der  leere  oder  kindische  Gesichtsausdruck 
auf.  In  leicliteren  Fallen  fiihrt  aucli  das  directe  Befragen  zum  Ziel. 
Dabei  ist,  wie  aus  den  fruheren  Ausfulirungen  sich  ergiebt,  namentlich 
auf  Hallucinationen,  Walinideen  und  Angst  zu  priifen.  Kranke,  welche 
an  uncomplicirter,  primarer  Denkliemmung  leiden,  geben  — wenigstens 


Allgemeine  AssociationsstOrungen. 


95 


ill  clen  leicliten  iind  mittelscliweren  Fallen  — oft  direct  an,  sie  „hatten 
eine  solche  Leere  im  Kopf".*) 


y.  Storungen  des  Zusammenhangs  des  Vorstellungsablaufs 
(Incoharenz  oder  Dissociation). 

Bei  dem  Geistesgesunden  folgt  auf  eine  Vorstellung  stets  eine 
solche  Vorstellung  Vg,  welche  zu  V^  in  einer  engen  associativen  Verwandt- 
schaft  steht.  Bei  vielen  Geisteskranken  andert  sich  dies,  Auf  eine  Vor- 
stellung Vj  folgt  eine  Vorstellung  Vo,  welche  zu  V^  in  gar  keiner  er- 
kennbaren  Beziehung  steht.  Wo  diese  Anomalie  durchgangig  auftritt, 
spricht  man  von  Dissociation  oder  Incoharenz  der  Ideenassociation.  Ein 
einfaches  Beispiel  fiir  solche  Dissociation  ist  folgendes:  ich  frage  eine 
Kranke  nach  der  jetzigen  Jahreszahl,  und  sie  antwortet  mir  darauf 
^,blau^^  Die  Vorstellung  ^,blau“  hat  gar  keine  erkennbare  Beziehung 
zu  der  Vorstellung  „der  jetzigen  JahreszahF',  welche  ich  durch  meine 
Frage  angeregt  babe, 

Auch  die  Incoharenz  der  Ideenassociation  betrifft  nicht  nur  die  Ver- 
kniipfung  der  Vorstellungen  untereinander,  sondern  auch  die  Anknupfung 
der  ersten  Vorstellung  an  die  Empfindung  und  die  Uebertragung  der 
corticalen  Erregung  in  das  motorische  Gebiet  des  Gr'osshirns.  In 
ersterer  Beziehung  kommt  es  zu  der  bereits  friiher  besprochenen  Storung 
des  Wiedererkennens.  Die  Kranken  verkennen  alle  Gegenstande  und 
Personen  ihrer  Uingebung.  Die  einfachsten  Objecte  werden  falsch  be- 
zeichnet  (Pseudoparaphasie)  und  falsch  gebraucht  (Parapraxie).  Der 
Arzt  wil’d  bald  fiir  diesen,  bald  fiir  jenen  gehalten.  Alle  diese  Ver- 
kennungen  wechseln  Minute  fiir  Minute.  Dabei  bestehen  keinerlei  Illu- 
sionen  oder  Hallucinationen.  Gegenstande  und  Personen  werden  in 
normaler  Weise  empfunden,  nur  die  associative  Verarbeitung  der  Empfin- 
dungen  (der  gesehenen  Personen,  der  gehorten  Fragen  etc.)  ist  eine  pa- 
thologische.  Statt  derjenigen  Vorstellungen,  welche  sich  bei  dem  nor- 
malen  Menschen  associativ  an  eine  Empfindung  anreihen  und  so  das 
Wiedererkennen  und  iiberhaupt  die  Orientirung  ermoglichen,  werden  bei 
diesen  Kranken  entsprechend  der  allgemeinen  Incoharenz  ganz  ungehorige 
Vorstellungen  angereiht.  So  kommt  es  auch,  dass  die  Kranken  auf  die 
einfachsten  Fragen  fiber  ihre  Personalien,  das  heutige  Datum,  ihren 
Aufenthaltsort,  ihre  letzten  Erlebnisse  falsch  antworten.  Diese  Theil- 


*)  Nebenbei  sei  bier  erwahnt,  class  auch  bei  organischen  Psycbosen  gelegentlicb 
neben  den  Ausfallserscheinungen  der  Intelligenz  Hemmungen  auftreten  konnen.  So 
fuhrt  z.  B.  die  Steigerung  des  Hirndrucks  bei  Hirntumoren  fast  ausnahmslos  zu 
intercurrenten  Zustanden  von  Dciikbemmung. 


9G 


Allgemoine  Associationsstorungen. 


ersclieinung  der  allgemeinen  Incoliarenz  wird  speciell  alsUnorientirt-  1 
he  it*)  hezeiclinet.  ] 

Ganz  regelmassig  aussert  sich  die  Incoharenz  der  Association  auch  !■ 
in  den  Bewegungen  der  Kranken.  Dieselben  entsprechen  weder  den  yn 
vorliegenden  Empfindungen  noch  den  vorausgelienden  Vorstellungen. 
Die  Kranken  greifen  haufig  fehl.  Handarbeiten  misslingen  ihnen.  Der 
Gang  kann  geradezu  Ataxie  vortauschen.  In  den  leichteren  Fallen  be- 
scbrankt  sich  die  Storung  auf  ein  planloses  Urnlierwandern.  Die  succes- 
siven  Bewegungen  des  Kranken  entbehren  des  inneren  Zusainmenbangs. 
Zielvorstellungen,  welcbe  eine  grossere  Reibe  von  Bewegungen  zu  einer  i 
complicirten  Handlung  vereinigen,  treten  nicbt  auf.  In  den  schwersten 
Graden  kommt  es  zu  ganz  sinnlosen  Bewegungen,  die  Kranken  greifen 
in  die  Luft,  werfen  sich  riicksichtslos  umher  (Jactationen),  verzerren  ii 
das  Gesicht.  Auch  in  der  einzelnen  B'ewegung  ist  kein  Zweck  raehr 
erkennbar.  Haufig  wird  das  Bild  der  Chorea  vorgetauscht,  und  friiher  .1 
hat  man  solche  Falle  geradezu  als  „Chorea  magna"  beschrieben.  7 

Am  augenscheinlichsten  tritt  die  allgemeine  Incoharenz  in  dem  1 
Mienenspiel,  dem  Sprechen  und  Schreiben  der  Kranken  hervor.  Das  ■ 
Mienenspiel  passt  nicht  zu  dem  Inhalt  der  jeweiligen  Vorstellungen  und  j- 
Empfindungen  des  Kranken.  Zu  den  schreckhaftesten  Vorstellungen  I 
kann  sich  z.  B.  ein  lachendes  Verzerren  des  Gesichtes  gesellen.  Man  I; 
hezeiclinet  diese  Storung  der  mimischen  Innervation  als  Paramimie.  = 
Die  transcorticale  allgemeine  Parajihasie  oder  Pseudoparapbasie,  ; 
welcbe  im  Gefolge  der  allgemeinen  Incoharenz  auftritt,  ist  bereits  mehr- 
fach  erwahnt  worden.  Die  Kranken  bezeichnen  die  Gegenstande,  welcbe 
sie  sehen,  fiihlen  etc.  falsch  und  auch  bei  dem  Spontansprechen  (ohne  1^ 
Anlebnung  an  Empfindungen)  versprechen  sie  sich  oft.  Eine  Verwechs- 
lung  dieser  dissociativen  Paraphasie  mit  der  durch  Heerderkrankungen 
bediugten  Paraphasie  lasst  sich  nur  vermeiden,  indem  man  feststellt, 
ob  die  paraphasische  Storung  die  Theilerscheinung  einer  allgemeinen 
Incoharenz  ist  oder  nicht. 

Ueberhaupt  spiegelt  die  Sprache  die  verschiedenen  Grade  der  In- 
coharenz des  Vorstellungsablaufs  am  treuesten  wieder.  In  den  leich- 
testen  Graden  ist  lediglich  der  Zusammenhang  der  Satze  untereinander 


*)  Aeltere  und  auch  viele  neuere  Psychiater  fiibren  diese  Unorientii'theit 
auf  eine  sog.  Bewusstseinsstdrung  oder  Storung  des  Selhstbewusstseins  zuriick.  T. 
Diese  Einfuhrung  eines  neuen  Seelenvermdgens  („Selbstbewusstsein“)  ist  ganz  un- 
gerecbtfertigt.  Die  Unorientirtheit  beruht  lediglich  auf  einer  Associationsstdrung 
und  erklart  sich  ohne  Zuhiilfenahme  einer  neuen  Seelenthatigkeit.  Die  Bezeich-  ^ 
nung  „Bewusstseinsstdrung“  ist  schon  deshalb  unzweckmassig , weil  der  Vorgang  1. 
der  Orientirung  in  keinem  hdheren  Grade  bewusst  ist,  als  jeder  psychische  Vorgang  ! 
iiberhaupt. 


Allgemeine  AssociationsstSrungen. 


97 


gestort.  In  den  scliweren  Graclen  leidet  auch  der  Zusammenhang  der 
Worte  innerhalb  des  Satzes.  Die  Kranken  brechen  mitten  im  Satz 
ab  Oder  fallen  aiis  der  Construction  (Agrammatismus  s.  Akatapbasie). 
Scbliesslicb  werden  die  Vorstellungen  iiberbaupt  nicbt  mebr  zu  Urtbeilen 
verkniipft,  imd  spracblicb  aussert  sicb  dies  darin,  dass  die  Worte  nicbt 
mebr  zu  Satzen  verbunden  werden:  Wort  wird  an  Wort  obne  erkenn- 
baren  Zusammenbang , bald  langsam,  bald  rascb  angereibt.  Haufig 
kebren  dabei  dieselben  Worte  in  rascber  Folge  immer  wieder  und  es 
entstebt  dann  das  bereits  friiber  erwabnte  Symptom  der  Verbigeration. 
In  den  scbwersten  Fallen  endlicb  leidet  aucb  der  Zusammenbang  der 
Silben  und  Bucbstaben  innerbalb  des  Wortes.  Die  Kranken 
brechen  mitten  im  Wort  ab  oder  combiniren  Tbeile  verscbiedener  Worte 
zu  eineni  Wort;  baufig  kommt  es  zu  volligen  Wortneubildungen. 
Selbst  die  Articulation  der  Bucbstaben  kann  scbliesslicb  leiden. 

Ebenso  wie  die  Spracbe  ist  auch  die  Scbrift  durcb  die  Incoharenz 
des  Kranken  verandert.  Aucb  im  Schreiben  stellen  sicb  Anakolutbe 
ein,  Worte  und  Silben  werden  ausgelassen,  unpassende  schieben  sicb 
dafiir  ein,  die  Scbriftziige  tauscben  geradezu  Ataxie  vor. 

Der  Gesammtzustand,  welcber  durcb  die  Trias  der  jetzt  aufgefiibrten 
Symptome:  Unorientirtbeit,  Incoharenz  des  Vorstellungs- 
ablaufs  und  motorise  be  Incoharenz  ebarakterisirt  ist,  wird  aucb 
als  Verwirrtbeit  bezeiebnet.  Dabei  ist  jedocb  im  Auge  zu  bebalten, 
dass  es  sicb  nicbt  etwa  um  3 disparate  Symptome  handelt,  sondern  urn 
Tbeilerscheinungen  eines  und  desselben  Grundsymptoms,  namlicb  der 
allgemeinen  Incoharenz  der  Ideenassociation  oder  der  Dissociation.  Im 
Folgenden  wird  daber  oft  der  Ausdruck  Incoharenz  ganz  gleichbedeutend 
mit  dera  Ausdruck  Verwirrtbeit  gebrauebt  werden. 

Man  untersebeidet  eine  primare  und  eine  secundare  Incoharenz. 

Die  primare  Incoharenz  tritt  autochthon,  unabbangig  von 
irgend  welcben  anderen  psyebopatbiseben  Symptomen  auf.  Sie  ist 
das  dominirende  Cardinalsymptom  einer  bestimmten  Psyebose,  der  sog. 
incoharenten  Form  der  Paranoia. . 

Die  secundare  Incoharenz  ist  eine  Folgeerscbeinung  bestimmter 
anderer  psyebopathiseber  Symptome.  Dieselbe  kann  bedingt  sein 
durcb 

1.  boebgradige  Ideenflucht:  wenn  die  Bescbleunigung  des 
Vorstellungsablaufs  sicb  mebr  und  mebr  steigert,  so  werden  mebr  und 
mebr  Zwiscbenvorstellungen  iibersprungen  und  damit  stellt  sicb  eine 
zunehmende  secundare  Incoharenz  ein  (ideenfliicbtige  Incoharenz). 

2.  Haufung  disparater  Wabnideen  oder  Hallucinationen: 
wenn  inbaltlich  sebr  versebiedene  Wabnideen  oder  Hallucinationen  in 
grosser  Zabl  auftreten,  so  werden  so  versebiedene,  z.  Tb.  unvereinbare 

Ziehen,  Psychiatrie.  7 


98 


Allgemeine  AssociationsstOrungen. 


II 


Vorstellungsreihen  angeregt,  dass  gleichfalls  eine  secundare  Incoharenz 
entstelit  (walmbafte  and  haliucinatorisclie  lucoliarenz).  Die  Association 
als  solclie  ist  liier  normal,  aber  sie  arbeitet  init  einem  pathologisch 
veriinderten  Vorstellungs-  und  Empfindungsinaterial,  dessen  Bewaltigung 
sie  nicht  gewacbsen  ist. 


3.  Starke  Affectsteige  rungen:  namentlich  Angst-  und  Zorn-  5 

affecte  bedingen  gelegentlicb  auch  bei  dem  Gesunden,  haufiger  bei  dem  l 
Kranken  eine  secundare  Incoharenz.  . 

4.  Intelligenzdefect:  das  Denken  des  Scbwachsinnigen  wird  ! 
incoharent,  tbeils  weil  es  ihm  an  associativen  Verkniipfungen  fehlt,  I 
tbeils  weil  Vorstellungen,  welche  Verbindungsglieder  darstellen  konnten, 
nicht  vorhanden  sind  (Incoharenz  des  Schwachsinns). 

Die  diagnostische  Unterscheidung  der  soeben  aufgefiihrten  Formen 
der  Incoharenz  begegnet  bfter  grossen  Schwierigkeiten. 

Die  secundare  ideeufliichtige  Incoharenz  liegt  nicht  etwa 
liberall  da  vor,  wo  ein  Kranker  rasch  und  zugleich  zusammenhangslos 
spricht.  Es  kommt  namlich  nicht  selten  vor,  dass  zu  einer  primaren 
Incoharenz  eine  primare  Ideenflucht  hinzutritt,  Viehnehr  ist  ein  sicherer 
Nachweis , dass  es  sich  in  einem  gegebenen  Fall  um  eine  secundare 
ideenfliichtige,  d.  h.  aus  Ideenflucht  hervorgegangene  Incoharenz  handelt, 
stets  aus  der  Anamnese  zu  fiihren : diese  muss  ergeben,  dass  im  Be- 
ginn  der  Krankheit  nur  Beschleunigung  des  Vorstellungsablaufs  ohne 
Incoharenz  bestand  und  dass  erst  allmahlich  parallel  der  Steigerung 
der  Ideenfiucbt  eine  zunehmende  Incoharenz  sich  eingestellt  hat. 

Die  secundare  hallucinatorische,  wahnhafte  und  affective  Incoharenz 
ist  meist  an  dem  Gesichtsausdruck  der  Kranken  und  an  dem  Inhalt 
der  zusammenhangslosen  Vorstellungsreihen  zu  erkennen. 

Am  schwierigsten  gestaltet  sich  die  Unterscheidung  der  primaren 
Incoharenz  von  der  Incoharenz  des  Schwachsinns.  Eine  sichere  Ent- 
scheidung  ist  zuweilen  kaum  moglich.  Am  werthvollsten  sind  im  Ganzen 
noch  folgende  Merkmale: 


1.  Die  motorische  Incoharenz  ist  in  der  Regel  bei  der  primaren 
Incoharenz  viel  ausgesprochener  als  bei  der  Incoharenz  des  Schwach- 
sinns. Speciell  sind  paraphasische  Storungen  und  auch  Parapraxie  bei 
letzterer  selten. 

2.  Sehr  bezeichnend  sind  oft  zusammenhangende  Urtheilsassocia- 
tionen,  welche  gelegentlich  in  klareren  Momenten  inmitten  der  inco- 
harenten  Vorstellungsreihen  auftreten:  bei  dem  Schwachsinn  tragen  diese 
Urtheilsverbindungen  das  deutliche  Geprage  des  Intelligenzdefects,  wahrend 
man  bei  der  primaren  Incoharenz  oft  iiber  die  logische  Schiirfe  soldier 
gelegentlichen  Urtheilsassociationen  tiberrascht  ist. 


Specielle  Associationsstorungen. 


99 


3.  Die  incoharenten  Vorstellungsreihen  cles  Scliwachsimiigen  sind 
luonotoner:  dieselben  Worte  and  Vorstellungen  kehren  immer  wieder. 
Dem  gegeniiber  ist  die  primare  Incobarenz  viel  productiver,  es  kommt 
nicbt  zur  Ausbildung  eines  bestiimnten  Typus,  die  dauernde,  vollige 
Regellosigkeit  ist  cbarakteristiscb. 

Dabei  ist  stets  auch  zu  erwagen,  dass  ebenso,  wie  die  Denkhemmung, 
aiich  die  primare  Incobarenz  scbliesslicb  bei  langer  Dauer  zu  secun- 
diirem  Intelligenzdefect  (sekundarer  Scbwacbsinn)  fiihren  kann. 


Specielle  Associationsstoruug*en. 

a.  Inhaltliclie  Storungen  der  Urtheilsassociationen 
(Wahnideen  und  Zwangsvorstellungen). 

Der  Geistesgesunde  verbindet  seine  Vorstellungen  zu  Urtbeilen.  Diese 
Urtbeilsverbindungen  entsprecben  im  Allgemeinen  den  Verbindungen,  in 
welcben  die  den  verkniipften  Vorstellungen  entsprecbenden  Empfindungen 
thatsacblicb  vorgekommen  sind,  und  somit  aucb  den  tbatsacblicben 
Verbindungen  der  Objecte  resp.  ibrer  Eigenscbaften  in  der  Aussenwelt, 
Das  Urtbeil:  „Die  Rose  ist  rotb^^  entbalt  zwei  Vorstellungen  „Rose“ 
und  ;,rotb^^,  welcbe  in  einer  Urtbeilsassociation  verkniipft  sind.  Diese 
Verknupfung  berubt  darauf,  dass  die  zugeborigen  Empfindungen  oft  ge- 
meinsam  aufgetreten  sind:  icb  babe  oft  rotbe  Rosen  geseben.  Wir 
nennen  das  Urtbeil  ricbtig,  insofern  es  einer  tbatsacblicben  Empfin- 
dungsverbindung  und  somit  aucb  den  wirklicben  Verbiiltnissen  der  Aussen- 
welt entspricbt.  Aucb  die  Ricbtigkeit  unserer  abstractesten  Urtbeile 
berubt  in  letzter  Linie  darauf,  dass  die  den  im  Urtbeil  entbaltenen 
Vorstellungen  zu  Grunde  liegenden  Empfindungen  coexistirt  haben. 

Die  Ideenassociation  wird  von  dem  Princip  der  Aebnlicbkeit  und 
Gleicbzeitigkeit  beberrscbt.  Beide  Principien  sind  wohl  im  Allgemeinen 
geeignet  zu  richtigen  Urtbeilsassociationen  zu  fubren,  beide  entbalten 
jedocb  aucb  scbon  in  ibrem  ganzen  Wesen  die  Gefabr  des  Irrtbums. 
Die  Aebnlicbkeit  wird  mit  Gleicbbeit,  die  oft  ere  Gleicbzeitigkeit  mit 
ausnabmsloser  Gleicbzeitigkeit  verwecbselt.  Ein  Kind  bat  eine  einer 
Rose  abnelnde  Georgine  geseben  und  bildet  das  Urtbeil:  ,, diese  Blume 
(naralicb  die  Georgine)  ist  eine  Rose".  Oder  icb  werde  gefragt:  wie 
bliibt  die  Rose  in  jenem  Garten,  und  icb  antworte,  obne  sie  geseben 
zu  baben,  mit  dem  Urtbeil  „sie  bliibt  rotb".  Dabei  setze  icb  micb 
dem  Irrtbum  aus.  Es  giebt  weissbliibende  Rosen,  und  die  Rose  in 
jenem  Garten  bliibt  weiss.  Icb  babe  oft  den  Empfindungscomplex 
;,Rose"  (Form,  Duft)  zusammen  mit  der  Empfindung  rotb  gebabt  und 

7* 


100 


Speciello  AssociationsstOrungen. 


cliese  oftere  Gleichzeitigkeit  fiihrt  raich  zu  dem  im  Specialfall  falschen  H; 
Urtheil:  die  Rose  bluht  rotli.  So  entstelien  die  Ir rthiimer,*)  d.  h.  ^ 
Urtheilsassociationen , die  den  Thatsachen  des  Empfindungslebens  und  | 
damit  den  Thatsacben  der  Aussenwelt  nicht  entsprechen.  ^ 

Dem  Irrtbum  ist  auch  der  Geistesgesunde  ausgesetzt,  aber  bei  dem  j 
Geistesgesunden  sind  dem  Irrtbum  bestimmte  Grenzen  gesteckt.  Das  ] 
Kind  iiberzeugt  sich  durcb  wiederholtes  Seben,  dass  die  Georgine  trotz 
der  Aebnlicbkeit  von  der  Rose  verscliieden  ist,  und  ich  tiberzeuge  mich  : 
durcb  den  Augenscbein,  dass  die  specielle  Rose  in  jenem  Garten  weiss  | 
bliibt.  So  werden  irrtbiimlicbe  Vorstellungen  nacbtraglicb  corrigirt.  j 
Das  Vorstellungsleben  stebt  unter  der  fortwabrenden  Controle  der  j 
Empfindungen  und  wird  bierdurcb  vor  einem  erbeblicberen  langeren  Ab  - 
weicben  von  den  tbatsacblicben  Verbilltnissen  der  Aussenwelt  bewabrt. 
Gewiss  giebt  es  aucb  Irrtbumer  (Vorurtbeile,  Recbtbaberei,  Aberglauben) 
bei  dem  Geistesgesunden,  welcbe  mit  grosser  Hartnackigkeit  jeder  Cor-  ' 
rectur  durcb  die  Erfabrung  widerstreben.  Die  Hartnackigkeit  solcber 
IrrHiiimer  des  Gesunden  erklart  sicb  jedocb  in  ganz  naturlicher  Weise  i 
aus  den  Umstanden  des  einzelnen  Falles.  Michael  Koblbas,  der  ein  i 
Mai  tbatsacblicb  Unrecbt  erlitten  bat  und  nun  sicb  von  der  ganzen  i 
Welt  gekrankt  glaubt  und  zablreicbe  Unscbuldige  opfert,  zeigt  das  i 
Prototyp  eines  solcben  bartniickigen  Irrtbums.  Tausend  Erfabrungen  li 
sollten  ibn  belebren,  dass  er  sein  Urtbeil  uber  die  Ungerecbtigkeit  J 
seiner  Umgebung  in  irriger  Weise  verallgemeinert  bat,  trotzdem  I 
bleibt  er  bei  seinem  Irrtbum.  Der  Gefublston  der  Vorstellung  des 
ibm  ein  Mai  tbatsacblicb  widerfabrenen  Unrecbts  ist  zu  macbtig. 
Den  spateren  Erfabrungen  stebt  diese  eine  friibere  Erfabrung  gegen- 
iiber  und  gestattet  denselben  nicbt,  eine  Correctur  an  dem  Urtbeil  vor- 
zunebmen.  In  vielen  Fallen  von  Aberglauben  ist  es  die  Autoritat  irgend 
einer  Personlicbkeit  oder  Gottes,  welcbe  gegentbeiligen , aufklarenden 
Erfabrungen  keinen  Einfluss  auf  das  Urtbeilen  einraumt.  Wabrend  in 
den  ebengenannten  Fallen  eine  bervorragende  Gefiiblsbetonung  die  Hart- 
nackigkeit des  Irrtbums  erklart,  ist  es  in  anderen  Fallen  lediglich  die 
Macht  der  Gewohnheit,  die  Enge  der  associative!!  Verknupfung,  welcbe 
die  Correctur  des  irrigen  Urtbeils  verbindert.  | 

Dies  der  pbysiologiscbe  Irrtbum.  Der  patbologiscbe  | 
Irrtbum,  die  Wabnidee  bat  mit  dem  pbysiologiscben  Irrtbum  ge-  I 
mein,  dass  ibre  Vorstellungsverkniipfung  den  Tbatsacben  der  Aussen-  | 
welt  nicbt  entspricbt.  Sie  unterscbeidet  sicb  von  dem  Irrtbum  des  I 
Geistesgesunden  durcb  folgende  Hauptpunkte:  I 

*)  Weiter  entstehen  Irrthtimer  auch  dadurch,  dass  unsere  Empfindungen  den  1 
Reizen  der  Aussenwelt  oft  nicht  genau  entsprechen. 


Specielle  Associationsst6rungen. 


101 


1.  Die  Wahnidee  stiitzt  sich  anf  ein  ganz  unzureichendes , oft 
illusionar  gefalsclites  oder  direct  liallucinatorisches  Empfindungsmaterial. 

2.  Die  Correctur  der  walinhaften  Urtheilsassociationen  durch  neue 
Empfindungen  bleibt  vbllig  aus,  obne  dass  dies  Ausbleiben  jeglicber 
Correctur  in  der  oben  fur  den  pbysiologischen  Irrtbum  auseinander- 
gesetzten  Weise  sicb  erklaren  lasst;  vielmebr  beeinflusst  umgekebrt 

3.  die  Wahnidee  das  Empfindungsleben,  indem  die  Empfindungen 
nicht  nur  im  Sinn  der  Wabnideen  gedeutet,  sondern  scbliesslicb  auch 
im  Sinn  einer  Illusion  transformirt  werden.  Weiterbin  kann  die  Wahn- 
idee sogar  Empfindungen  aus  sich  heraus  erzeugen,  d.  h.  mit  andern 
Worten  zu  entsprechenden  Hallucinationen  fiihren. 

Wie  sich  aus  dieser  Darlegung  sofort  ergiebt,  ist  die  Grenze  zwischen 
dem  pbysiologischen  Irrthum  und  der  Wahnidee  keine  scharfe.  Zwischen 
der  pbysiologischen  Rechthaberei  des  Processkramers  und  dem  Verfol- 
gungswahn  des  Querulanten,  zwischen  dem  pbysiologischen  Diinkel  und 
der  Grbssenidee,  zwischen  der  pbysiologischen  Eifersucht  und  dem  patho- 
logischen  Eifersuchtswahn  existiren  die  fliessendsten  Uebergange.  So 
leicht  die  Entscheidung,  ob  krankhafte  Urtheilsassociationen  vorliegen 
oder  nicht,  in  den  ausgesprochenen  Fallen  ist,  so  schwierig  und  selbst 
unmoghch  kann  sie  in  halbentwickelten  Zustanden  geistiger  Veranderung 
werden. 

Die  Wahnidee  ist  nur  eine  Form  des  pathologischen  Irrthums. 
Fine  zweite  Form  ist  die  Zwangsvorstellung.  Wahrend  bei  der 
Wahnidee  corrigirende  Urtheilsassociationen  gar  nicht  oder  nur  als  ganz 
vorubergehende  Zweifel  auftreten,  treten  bei  der  Zwangsvorstellung  be- 
richtigende  Urtheilsassociationen  in  iiberlegener  Zahl  auf.  Der  Kranke 
ist  daher  von  der  Unrichtigkeit  und  Krankhaftigkeit  seiner  unrichtigen 
Vorstellungen  vollig  iiberzeugt,  wird  dieselben  aber  trotzdem  nicht  los. 
Daher  auch  die  Bezeichnung  Zwangsvorstellung.  Im  Allgemeinen  sind 
Wabnideen  viel  haufiger  als  Zwangsvorstellungen  und  sollen  daher  auch 
an  erster  Stelle  besprochen  werden. 

W ahnideen. 

Die  Definition  der  Wahnidee  ist  bereits  oben  gegeben  worden. 
Die  Entstehung  der  Wabnideen  ist  eine  sehr  verschiedene.  Man  hat 
folgende  Entstehungsweisen  zu  unterscheiden : 

1.  Die  Wahnidee  taucht  ganz  primar,*)  haufig  im  Anschluss 
an  eine  ganz  normale  Empfindung  auf.  So  geht  z.  B.  ein  jugendlicher 
Kranker  durch  die  Ahnengallerie  des  Residenzschlosses  in  seiner  Heimath- 


*)  Die  Franzosen  bezeichnen  seiche  Wahn vorstellungen  zweckmassig  als  Delire 
d’embl^e. 


I 


102 


Specielle  AssociationsstOrungen. 


stadt.  Vor  dem  Bild  eines  Fursten  taucht  pldtzlich  — trotz  Mangels 
jeder  Aelinlichkeit  und  ohne  jeden  vorbereitenden  Gedanken  — die 
Wahnvorstellung  in  ihm  aiif:  der  Fiirst,  der  auf  dem  Gemalde  darge- 
stellt  ist,  ist  dein  Vater.  Seitdem  ist  er  von  dieser  Wahnvorstellung 
nicbt  wieder  frei  geworden,  Sie  ist  ihm  unumstbssliche  Gewissheit.  Seit 
dem  ersten  Auftaucbien  ist  niemals  der  leiseste  Zweifel  in  ihm  rege 
geworden. 

2.  Die  Wahnidee  ist  logisch  aus  anderen  Wahnideen  er- 
schlossen.  So  hat  z.  B.  der  eben  erwahnte  Kranke  sofort  aus  seiner 
primaren  Wahnidee  weiter  geschlossen,  dass  sein  wirklicher  Vater  nur 
sein  Pflegevater,  er  selbst  ein  untergeschobenes  Kind  sei  und  dass 
feindliche  Personen  am  Hofe  ihn  seinen  fiirstlichen  Eltern  gestohlen 
und  zii  niedrigen  Leuten  gebracht  hiitten.  Hier  hat  sich  also  aus 
einer  primaren  Grbssenidee  durch  logische  Schliisse  und  phantastisches 
Weiter- Ausdenken  eine  Verfolgungsidee  entwickelt.  Noch  viel  haufiger 
ist  das  umgekehrte  Verhalten;  zuerst  tritt  eine  primare  Verfolgungsidee 
auf,  und  an  diese  kniipft  der  Kranke  weiterhin  durch  mehr  oder  weniger 
logische  Schlussfolgerungen  Grossenideen  an.  Der  Kranke  glaubt  sich 
von  alien  Seiten  angefeindet;  er  kann  sich  dies  nur  dadurch  erklaren, 
dass  er  seiner  Persbnlichkeit  eine  grossere  Bedeutung  zumisst,  als  sie 
seiner  socialen  Stellung  und  iiberhaupt  den  wirklichen  Verhaltnissen 
entspricht.  Ein  Kranker  citirte  mir  geradezu  das  Goethe’sche  Wort: 
„Die  Hunde  bellen,  das  ist  mir  ein  Beweis,  dass  ich  reite^^  In  der 
iiberwiegenden  Mehrzahl  der  Falle  kommt  es  zu  dieser  Weiter ent wick- 
lung  der  Verfolgungsideen  zu  Grossenideen.  Dabei  ist  diese  Weiterent- 
wicklung  jedoch  durchaus  nicbt  stets  das  Product  eines  bewussten  logi- 
schen  Schlussprocesses.  Haufig  reiht  sich  die  Grbssenidee  an  die  Ver- 
folgungsidee an,  ohne  dass  der  Kranke  sich  des  logischen  Zusammen- 
hangs  bewusst  wird.  Nicht  seiten  bringen  ihn  erst  die  Fragen  des 
Arztes  („Wie  kommen  Sie  zu  dieser  Selbstiiberschatzung?^^)  zum  Bewusst- 
sein  des  Zusammenhangs  beider.  Man  bezeichnet  alle  derartigen  Wahn- 
vorstellungen,  durch  welche  andere  primare  Wahnvorstellungen  weiter 
ausgebaut  und  erganzt  werden,  als  complementare  Wahnideen. 

3.  Die  Wahnidee  ist  auf  Grund  von  Hallucinationen  entstanden 
(hallucinatorische  Wahnideen).  So  sagt  z.  B.  eine  Stimme  dem 
Kranken:  „Du  sollst  sterben,  im  Essen  ist  Gift^^,  und  auf  Grund  dieser 
Hallucination  bildet  der  Kranke  die  Wahnvorstellung,  in  seinen  Speisen 
sei  wirklich  Gift.  Dabei  ist  zu  beachten,  dass  haufig  auch  das  umge- 
kehrte Verhiiltniss  vorkommt,  d.  h.  dass  zuerst  eine  primare  Vergiftungs- 
idee  auftritt  und  spater  secundiir  im  Sinne  derselben  Hallucinationen 
auftreten.  Im  Grunde  genommen  muss  man  sogar  zugeben,  dass  selbst 
in  den  Fallen,  wo  die  Hallucination  der  bewussten  Wahnvorstellung 


^ . 

t: 


1 


I 


I 


1 


Specielle  Associationsstorungen. 


103 


vorausgelit,  die  latente  Disposition  fiir  letztere  eben  scbon  bei  der  spe- 
ciellen  Gestaltung  der  Hallucination  mitgewirkt  hat.  Am  klarsten  tritt  dies 
bei  den  friiher  erwiihnten  illusionaren  Aiislegungen  hervor.  Halliicinato- 
rische  Falschung  der  wirklichen  Empfindungen  (d.  h.  eben  Illusion)  und 
Wahnvorstellung  sind  bier  oft  geradezu  gleicbzeitig.  Ein  leises  an  sich 
unverstandliches  Gefllister  wird  zu  verstandlichen  Schimpfworten  trans- 
formirt  unter  dem  Einfluss  der  gleicbzeitig  auftaucbenden  oder  unmittel- 
bar  vorher  aufgetaucbten  Wahnvorstellung,  dass  die  fliisternden  Men- 
schen  mich  scbimpfen  oder  verspotten  konnten.  Die  Eeibenfolge  ist  also 
bier:  normale  Empfindung  (Gefluster),  dann  primare  Wahnvorstellung 
(„ich  werde  verspottet^^)  und  mit  letzterer  fast  gleicbzeitig  die  Illusion, 
d.  b.  die  Transformation  des  Gefliisters  in  bestimmte  Scbimpfworte. 

4.  Die  Wabnidee  ist  aus  einem  Traum  in  das  wache  Leben  bin- 
iibergenommen.  Geisteskranke  unterscheiden  Traum  und  Wirklicbkeit 
oft  nicbt.  Ein  Traumeiiebniss  wird  bald  unmittelbar  nach  dem  Er- 
wacben  bald  einige  Stunden  oder  Tage  und  selbst  Wochen  spater  mit 
den  Ereignissen  des  wachen  Lebens  verwecbselt  und  fiibrt  nun  ganz  in 
derselben  Weise,  wie  unter  3 die  Hallucination,  zu  einer  Wahnvorstellung. 
So  traumte  z.  B.  ein  Kranker,  er  babe  Nacbts  ein  Duell  mit  einem 
Mitkranken  gebabt,  und  ist  seitdem  fest  davon  iiberzeugt,  dass  er  wirk- 
licb  mit  diesem  Kranken  gefocbten  bat  und  dieser  Kranke  sein  Tod- 
feind  ist.*) 

5.  Die  Wabnidee  ist  das  Secundarsymptom  einer  Affectstbrung, 
oder,  wie  man  baufig  sagt,  ein  Erklarungsversucb  einer  Affectstbrung. 
So  treten  Grbssenideen  z.  B.  als  Folgeerscbeinung  der  beiteren  Ver- 
stimmung  auf.  Dieser  Zusammenhang  ist  keineswegs  so  zu  denken,  als 
zbge  in  den  meisten  Fallen  der  Kranke  den  bewussten  Scbluss:  Icb  bin 
so  beiter  und  fiible  micb  so  glucklicb,  also  muss  icb  etwas  Besonderes 
(Kaiser  etc.)  sein.  Vielmebr  entspricbt  nur  der  Gang  der  Ideenasso- 
ciation  der  Stimmungslage.  Wie  alle  Vorstellungen  und  Empfindungen, 
so  sind  namentlicb  aucb  die  des  eigenen  Icb  in  krankbafter  Weise  mit 
gesteigerten  Lustgefiihlen  verkniipft,  und  daber  werden  nun  aucb  aus- 
scbliessbcb  oder  fast  ausscbliesslicb  dementsprecbende  Vorstellungen  mit 
dem  Icb  verkniipft.  Umgekebrt  treten  auf  dem  Boden  der  Depression 
die  Wabnvorstellungen  der  Versundigung,  der  Verarmung,  der  kbrper- 

*)  Ein  franzosischer  Psycholog  berichtet  iiber  ein  interessantes  Beispiel,  welches 
auch  fiir  den  Gesunden  einen  Einfluss  des  Traumlebens  auf  die  Association  des 
wachen  Lebens  beweist.  Er  war  gewohnt,  fast  taglich  einem  Herrn  zu  begegnen, 
dessen  Namen  er  kannte,  den  er  aber  niemals  grusste.  Eines  Pages  fiel  ihm  auf, 
dass  er  bei  der  Begegnung  den  Herrn  griisst.  Er  besann  sich  und  stellte  fest, 
dass  er  in  der  vergangenen  Nacht  von  einem  sehr  vertrauten  Gesprach  mit  dem  be- 
treifenden  Herrn  getraumt  hatte. 


104 


Specielle  AssociationsstOrungen. 


lichen  Krankheit  unci  zuweilen  auch  der  Verfolgung  auf.  Namentlich  die  | 
Angst  fiihrt  ungemein  oft  zu  solchen  secundilren  Wahnvorstellungen.  ^ 
Der  psychopathologische  Verlauf  liisst  sich  hier  geradezu  in  die  logische  || 
Reihe  bringen:  ich  babe  Angst,  also  babe  icb  ein  scblecbtes  Gewissen,  S 
also  babe  ich  ein  Verbrecben  begangen.  Nun  martert  der  Kranke  sich  | 
ab,  bis  ibm  irgend  eine  barmlose  Handlung  oder  ein  kleines  Vergeben, 
oft  aus  langstvergangener  Zeit,  einfallt.  Dies  wird  nun  zu  einem  scbweren 
Verbrecben  ausgedeutet  und  aufgebauscbt.  In  anderen  Fallen  lautet  ' 
die  Scblussreibe : Ich  bin  so  traurig,  also  muss  icb  korperlicb  elend 
sein,  folglich  babe  icb  ein  scbweres  kdrperlicbes  Leiden.  Nun  unter- 
sucbt  der  Kranke  seinen  ganzen  Korper  und  deutet  eine  leicbte  Ver- 
farbung  der  Zunge  als  Zungenkrebs  oder  einen  harmlosen  Auswurf  als 
Symptom  einer  fortscbreitenden  Pbtbise.  Audi  bier  ist  es  meist  nur 
die  Analyse  des  Arztes,  welche  den  psychopatbologiscben  Vorgang  in  ■ 
die  Form  eines  solchen  Scblussverfahrens  bringt.  Dem  Kranken  selbst  ? 
kommt  dieser  logische  Zusammenbang  fast  niemals  zum  Bewusstsein, 
bdcbstens  nacbtraglicb  kann  ibn  das  eingehende  Fragen  des  Arztes  oder  ! 
spater  die  Genesung  auf  eine  Vermutbung  dieses  Zusammenbangs  i 
bringen.  Die  Gesammtheit  aller  dieser  aus  Affectstorungen  entsprin-  I 
genden  Wahnideen  bezeichnet  man  als  affective  Wahnvorstellungen. 

Die  Unterscheidung  dieser  5 in  ibrer  Entstebung  verscbiedenen  f 
Formen  der  Wabnidee  ist  diagnostiscb  und  prognostiscb  von  der  grossten  j, 
Tragweite,  wie  weiter  unten  ausfiibrlicb  zu  erortern  sein  wu*d.  Dem- 
gegeniiber  ist  der  Inbalt  der  Wabnvorstellung  erst  von  secundarer  Be- 
deutung.  Hinsicbtlicb  dieses  Inbalts  der  Wahnideen  fallt  nun  zunacbst 
auf,  class  alle  Wahnvorstellungen  sich  fast  ausnabmslos  auf  das  Icb  des 
Kranken  bezieben.  Ganz  objective  Wahnvorstellungen,  die  in  gar  keiner 
Beziehung  zu  dem  Kranken  steben,  sind  sebr  selten.  Selbst  wenn  eine 
Kranke  die  Berge,  welche  die  Anstalt  umgeben,  auf  Grund  ibrer  beite- 
ren  Verstimmung  fiir  die  Riviera  erklart  oder  eine  Mitkranke  fiir  die 
Grossfiirstin  bait,  so  scbleicbt  sich  in  solcbe  scheinbar  ganz  objective 
wabnbafte  Verkennungen  fast  stets  der  Gedanke  ein,  dass  diese  Ver- 
wandlungen  in  bestimmter  Beziehung  zu  dem  Icb  des  Kranken  steben. 
Weitaus  baufiger  ist  das  Icb  direct  das  Subject  der  Wabnvorstellung. 
Ausser  dem  Bezug  auf  das  Icb  ist  fur  die  meisten  Wabnvorstelbmgen 
aucb  die  starke  Gefiiblsbetonung  charakteristiscb ; es  banclelt  sich  s e b r 
selten  um  gleichgultige  Yorstellungen.  Die  Icb- Wahnvorstellungen  [ 
tbeilt  man  je  nacb  ibrem  speciellen  Inbalt  entsprechend  den  beiden 
Hauptricbtungen  unseres  Affectlebens  in  megalomaniscbe  und  mikro- 
manische  ein  (Grbssenwabn  und  Kleinbeitswabn).  I 

Der  Grbssenwabn  aussert  sich  bald  in  einfacber  allgemeiner  I 
Selbstiiberscbatzung,  bald  in  bestimmt  formulu’ten  einzelnenVorsteU ungen.  i 


Specielle  AssociationsstOrungen. 


105 


In  den  einfachsten  Fallen  bezieht  sicli  cler  Grossenwahn  auf  die  korper- 
liclie  Gesundheit,  Sckonheit  imd  Leistungsfahigkeit  oder  auf  die  geistige 
Gesnndheit  und  Begabung.  Der  Kranke  glaubt  ewig  zu  leben.  Er 
prablt  mit  seiner  Muskelkraft  und  seiner  Potenz.  Er  beliauptet,  sein 
Blick  und  seine  Stimme  reicbe  viele  Meilen  weit.  Er  halt  sick  fiir  ein 
Genie  oder  fiir  ein  berufenes  Werkzeug  Gottes.  So  entstehen  Propheten, 
Erfinder  und  Eeformatoren.  In  anderen  Fallen  betrifft  die  Selbstiiber- 
scbatzung  vorzugsweise  friihere  Erlebnisse  und  Leistungen  sowie  die 
sociale  Stellung.  Der  Kranke  bat  zabllose  Keisen  (bis  auf  andere 
Planeten)  gemacbt,  grosse  Jagden  mitgemacbt,  Scblachten  gescblagen  etc. 
Ein  anderer  nennt  sicb  unermesslich  reicb,  prablt  mit  der  Scbonbeit 
seiner  Frau,  der  Zabl  seiner  Kinder,  seinem  politiscben  Einfluss  und 
allerband  Titeln  und  glaubt  sicb  von  bocbstebenden  Personen  (Furstinnen) 
geliebt;  baufig  fiibrt  aucb  der  Kranke  seine  Abstammung  auf  Fiirsten 
zuruck,  er  ist  ein  untergescbobenes  Flirstenkind,  seine  „sogenannten 
Eltern^^  sind  seine  Pflegeeltern.  Bald  schreibt  er  ein  „von^^  vor  seinen 
Namen,  bald  bebauptet  er  Feldmarscball,  Kaiser,  Cbristus  oder  Gott 
oder  gar  „Obergott^^  zu  sein  („Gottnomenclatur^Q.  Mcbt  selten  uber- 
tragt  sicb  der  Grossenwabn  des  Kranken  aucb  auf  seine  Umgebung. 
Alles  erscbeint  ibm  wunderbar  verscbont  und  unendlicb  viel  bedeutsamer 
als  fruber.  Aucb  in  seiner  Umgebung  vermutbet  er  verkleidete  Fursten. 
Die  Zelle  wird  ibm  zum  Palastzimmer,  das  aufgelesene  Glimmersteincben 
zum  Diamanten,  die  Eisse  im  Strobbut  zu  den  „Zacken  eines  Diadems^''. 

Je  nacb  Stand,  Begabung  etc.  wecbselt  der  lubalt  dieser  Grossen- 
ideen  ausserordentlicb.  Am  wicbtigsten  fiir  die  diagnostiscbe  Ver- 
wertbung  des  Grossenwabns  ist  die  eigentbiimlicbe  Farbung  des  In- 
balts,  welcbe  die  Grossenideen  durcb  einen  gleicbzeitigen  Intelbgenz- 
defect  erfabren.  Man  bezeicbnet  solcbe  Grossenideen  aucb  kurz  als 
;,scbwacbsinnige  Grossenideen".  Namentlicb  im  Exaltationsstadium  der 
Paralyse  sind  dieselben  sebr  baufig.  Der  Scbwacbsinn  verratb  sicb 
bauptsacblicb  durcb  die  Maasslosigkeit  der  Grossenvorstelbmgen  bei 
diirftiger  psycbologiscber  Motivirung.  Wenn  demand  auf  Grund  einer 
Gebbrstauscbung  glaubt,  ein  Scbatz  von  Millionen  sei  irgendwo  fiir  ibn 
verborgen,  so  entbalt  die  Hallucination  wenigstens  nocb  eine  Motivirung 
dieser  Grossenvorstellung  und  ist  letztere  daber  nicbt  scbwacbsinnig. 
Wenn  demand  unter  einer  Volksmenge  stebt  und  den  Gruss  des  vor- 
iiberreitenden  Kaisers  speciell  auf  sicb  beziebt  und  sicb  desbalb  fiir  den 
Sobn  des  Kaisers  bait,  so  liegt  wiederum  wenigstens  eine  Motivirung 
vor,  und  aucb  diese  Grossenidee  kann  nicbt  als  scbwacbsinnig  bezeicbnet 
werden.  Wenn  bingegen  ein  Kranker  lediglich  auf  Grund  krankbafter 
beiterer  Verstimmung  Kiesel  fiir  Diamanten  und  sicb  fiir  den  Obergott 
bait,  wenn  er  nocb  dazu  den  scbneidenden  Widersprucb  zwiscben  seiner 


106 


Speciello  Associationsstorungen. 


Lage  imd  den  Grossenideen  nicht  bemerkt  und  durch  Suggestivfragen  y| 
(Sie  besitzen  doch  nocb  mebr  wie  zwei  Millionen?  etc.)  sicb  zu  beliebigen  ] 
Steigerungen  seiner  Grossenideen  hinreissen  lasst,  so  handelt  es  sicb  um  I 
schwachsinnige  Grossenideen.  [ 

Der  Kleinheit  swabn  verkniipft  mit  dem  Ich  allerband  Vor-  j 
stellimgen,  welcbe  mit  Unlustgefiiblen  verkniipft  sind.  Die  wichtigsten  , 
dieser  Vorstellungen  sind:  1 

1.  Der  Versiindigungswahn. 

2.  Der  Krankheitswabn  (hypocbondriscber  Wahn). 

3.  Der  Verarmungswabn. 

4.  Der  Verfolgungswabn. 

Andere  Formen  des  Kleinbeitswabns  sind  seltener.  Der  Wabn  i 

b ass  lie b oder  entstellt  zn  sein  findet  sicb  gelegentlich  neben  hypo-  «i 
chondriseben  Wabnideen  und  Versundigungsvorstellungen,  ab  und  zu  aucb  ! ‘ 
combinirt  mit  Verfolgungswabn  (,,man  bat  durcb  Gifte  meinen  Kbrper  : 
entstellt,  damit  icb  Niemandem  mebr  gefallen  kann^^).  Der  Ver-  ■ 

siindigungswahn  ist  meist  affectiven  Ursprungs,  d.  b.  also  ein  Er-  p 
klarungsversucb  der  primaren  Depression  und  Angst  (s.  o.).  Sebr  viel  | 
seltener  ist  er  primar  oder  ballucinatoriscb.  | 

Zu  dem  Versundigungswabn  tritt  zuweilen  eine  eigenartige  Form  t 
des  complementaren  Grossenwabns  binzu:  um  seine  jetzige  Scblecbtig- 
keit  und  Nicbtigkeit  in  nocb  grelleres  Licbt  zu  setzen  und  die  Tiefe 
seines  Falles  zu  steigern,  spriebt  der  Kranke  in  ganz  libertreibender 
Weise,  also  im  Sinne  eines  Grossenwabns,  von  seiner  Unscbuld  und 
seinem  Gluck  in  der  Vergangenbeit.  So  erzablte  ein  Melancboliscber, 
der  sicb  sonst  stets  in  den  typisebsten  Selbstanklagen  erging,  eines 
Tages:  „Icb  war  der  beilige  Geist.  Hatte  icb  meine  Allmacbt  benutzt, 
waren  wir  jetzt  alle  glucklicb.  So  bin  icb  verfluebt.  Icb  babe  den 
beiligen  Geist  getodtet.  Die  ganze  Welt  ist  durcb  micb  in  Ungluck  und 
Entsetzen^^  Man  bezeiebnet  diese  Form  der  complementaren  Grossen- 
idee,  welcbe  sicb  zu  dem  Versundigungswabn  binzugesellen  kann,  als  I 
contra  stir  end  e Grossenidee. 

Der  by poebo ndr isebe  Wabn  oder  Kranbeit  swabn  beziebt 
sicb  zuweilen  auf  die  geistige  Gesundbeit:  die  Kranken  klagen,  dass  ibr 
Gebirn  zerstbrt  und  ibre  Denkfabigkeit  zu  Grunde  geriebtet  sei,  obwobl 
dieses  Urtbeil  in  den  Tbatsacben  und  aucb  in  den  Empfindungen  der 
Kranken  keine  oder  wenigstens  keine  ausreicbende  Begrundung  findet. 
Viel  baufiger  nocb  wabnen  die  Kranken  eine  bestimmte  unbeilbare 
korperlicbe  Krankbeit  zu  baben.  Syphilis,  „Gebirnerweicbung“,  „Riicken- 
marksdarre^^,  „Scbwindsucht“,  Krebs  werden  am  baufigsten  vom  Kranken 
angenommen.  Fiir  den  speciellen  Inbalt  dieser  bypoebondriseben  Wabn-  I 


Specielle  Associationsstdrungen. 


107 


vorstellungen  ist  oft  ein  Ziifall  entscheidend : der  Kranke  hat  gerade 
einen  Fall  tddtlich  verlaufener  Syphilis  vor  Kurzem  erlebt  oder  be- 
richten  horen  imd  dank  dieser  Constellation  nimmt  sein  Krankheitswahn 
die  specielle  Form  der  Syphilidophobie  an.  Oder  der  Kranke  bat  zu- 
fallig  gerade  einen  harmlosen  Broncbialkatarrb  and  geratb  so  speciell 
anf  den  Wabn  tuberkulds  zu  sein.  Mitunter  beziebt  sicb  der  Krank- 
beitswabn  anch  nicbt  anf  ein  bestimmtes  Leiden,  sondern  anf  den  ver- 
meintlicben  Ausfall  einer  bestimmten  Function.  So  tritt  z.  B.  der 
Wabn  sexueller  Impotenz  (bei  Masturbanten),  der  Wabn  nicbt  geben 
und  steben  zu  konnen,  nicbt  sprecben  zu  kbnnen  anf.  Wegen  der 
spater  zu  erwabnenden  Klickwirkung  gerade  dieser  Wabnvorstellungen 
auf  die  beziiglicben  Functionen  baben  dieselben  besondere  Wicbtigkeit. 
Endlicb  tritt  der  bypocbondriscbe  Wabn  nocb  in  einer  besonderen  Form 
auf,  welcbe  man  aucb  als  den  mikr omaniscben  Wabn  im  engeren 
oder  wortlicben  Sinn  bezeicbnet  bat.  Die  Kranken  bebaupten  namlicb, 
sie  batten  dieses  oder  jenes  Organ  verloren,  sie  batten  keine  Lunge, 
keinen  Magen  mebr  etc.,  in  ibren  Adern  fliesse  Spulwasser,  das  Blut 
sei  weg,  der  After  sei  verscblossen,  der  Schlund  verwacbsen,  der  ganze 
Kbrper  auf  Millimetergrbsse  reducirt.  Am  haufigsten  kommen  diese 
eigenartigen  bypocbondriscben  Wabnvorstellungen  im  depressiven  Stadium 
der  Dementia  paralytica  vor. 

Eng  verwandt  mit  den  bypocbondriscben  Wabnvorstellungen  ist  der 
Schwangerscbaftswabn,  wie  er  bald  bei  verbeiratbeten,  bald  bei  ledigen 
weiblicben  Individuen  gelegentlicb  auftritt.  Bald  bandelt  es  sicb  dabei 
nur  um  einen  dem  krankbaften  Uebermutb  oder  dem  Bestreben  sicb 
interessant  zu  macben  entsprungenen  Scberz,  bald  griindet  er  sicb  auf 
die  Selbstanklage  straflicben  sexuellen  Verkebrs.  Endlicb  wird  in  vielen 
Fallen  die  Wabnidee  oder  ballucinatorische  Empfindung  der  Cohabitation 
(z.  B.  des  Stuprums)  von  der  Pbantasie  der  Kranken  weiter  fortgebildet 
zu  dem  in  Rede  stebenden  Schwangerscbaftswabn.  Dabei  wirken  baufig 
illusionar  transformirte  Abdominalempfindungen  mit.  Aucb  bei  Mannern 
bat  man  in  seltenen  Fallen  solcben  Schwangerscbaftswabn  beobacbtet. 

Die  Entstebung  der  ilbrigen  bypocbondriscben  Wabnvorstellungen 
ist  sebr  verscbieden.  Viele  entsteben  als  Erklarungsversucbe  der  De- 
pression und  Angst,  ahnlicb  wie  die  meisten  Versiindigungsvorstellungen, 
und  nur  der  specielle  Inbalt  wird  durcb  zufallige  wirklicbe  Empfin- 
dungen  beeinflusst.  In  vielen  anderen  Fallen  tritt  die  bypocbondriscbe 
Wabnvorstellung  ganz  primar  auf,  meist  angelebnt  an  irgend  eine  tbat- 
sacbliche  (nicbt  ballucinatorische)  Empfindung.  Der  Kranke  empfindet 
ein  leicbtes  Stecben  fiber  dem  Schlfisselbein  und  knfipft  hieran  direct 
— obne  Dazwiscbentreten  oder  Mitwirkung  irgend  welcber  Depression 
oder  Angst  — die  Wabnvorstellung,  Lungenscbwindsucbt  zu  baben. 


108 


Specielle  Associationsstdrungen. 


Erst  secundar  fiilirt  diese  Wahnvorstellung  nun  zu  einer  — bei  ge- 
gebenen  Prilmissen  — durchaus  pbysiologischen  Depression  und  Todes- 
angst.  Namentlicli  die  sog.  Organempfindungen,  welcbe  unsere  Einge- 
weidenerven  uns  zufiibren,  sind  gerade  wegen  ihrer  Unbestimmtheit  zu 
hypochondrischen  Ausdeutungen  sehr  geeignet.  Noch  baufiger  als  an 
normale  Empfindungen  sind  es  die  krankliaften  Empfindungen  der  sog. 
Nervositat  oder  Neurastbenie,  an  welcbe  die  bypocbondriscben  Wabn- 
vorstellungen  ankniipfen.  So  kann  die  Empfindung  des  Kopfdrucks, 
uber  welcbe  zabllose  Neurastbeniker  klagen,  zu  der  primaren*)  Wabn- 
vorstellung  fiibren,  unter  den  Scbadelknocben  sitze  ein  Gescbwur  oder 
im  Gebirn  sei  eine  Gescbwulst.  Man  nennt  alle  diejenigen  Symptome 
irgend  welcber  korperlicber  Krankbeit  — es  sei  ein  Herpes -Blascben 
auf  der  Gians  penis  oder  ein  neurastbeniscbes  Symptom  — , an  welcbe 
der  Kranke  bypocbondriscbe  Wabnvorstellungen  kniipft,  bypocbondriscbe 
Anknupfungssymptome.  Der  Herpes  praeputiabs  ist  z.  B.  das  An- 
kniipfungssymptom  fiir  die  bypocbondriscbe  Vorstellung  des  Sypbilido- 
pboben,  der  Kopfdruck  das  Anknupfungssymptom  fiir  die  bypocbon- 
driscbe Wabnvorstellung  eines  Hirnabscesses. 

Sebr  viel  seltener  als  die  affective  und  primare  Entstebung  ist  eine 
ballucinatoriscbe  Entstebung  bypocbondriscber  Wabnvorstellungen.  Nur 
die  Hallucinationen  auf  dem  Gebiet  der  Berubrungsempfindungen  und 
namentlicb  der  Organempfindungen  geben  baufiger  zu  bypocbondriscben 
Walmideen  Anlass.  So  fiiblt  ein  Kranker  eigentbiimlicbe  Bewegungen 
im  binteren  Tbeil  seiner  Scbadelboble  und  kniipft  an  diese  Organ- 
ballucinationen  die  bypocbondriscbe  Vorstellung,  sein  Kleinbirn  sei  zer- 
stort.  Praktiscb  lassen  sicb  diese  ballucinatoriscben  Krankbeitswabn- 


1 

1 

I 

1 

i 


4 

i 


I 


vorstellungen  ubrigens  gar  nicbt  von  den  an  krankbafte  wirklicbe  Organ- 
empfindungen angelebnten  primaren  Krankbeitswabnvorstellungen,  welcbe 
soeben  erortert  wurden,  trennen;  denn  wu’  sind  nicbt  im  Stande  zu 
sagen,  ob  z.  B.  jene  eigentbiimlicbe  Empfindung,  welcbe  unser  Kranker 
in  seine  Scbadelboble  verlegt , scblecbtbin  Hallucination  oder  eine 
neurastbeniscbe,  nicbt  in  der  Hirnrinde,  sondern  in  der  Peripherie  wirk- 
licb  ausgeloste  Empfindung**)  oder  endlicb  ein  Mittelding  zwiscben 
beiden,  eine  illusionar-transformirte  neurastbeniscbe  Empfindung,  d.  b. 
also  eine  Illusion  ist. 

Die  Entstebung  bypocbondriscber  Wabnvorstellungen  aus  Traumen 


*)  Man  nennt  auch  diese  Wahnvorstellungen  noch  primar,  weil  kein  psycho-  r 
pathisches,  sondern  ein  korperliches  Symptom  (der  Kopfdruck)  die  Wahnvorstellung 
hervorruft. 

**)  Dabei  wird  also  die  Annahme  zu  Grunde  gelegt,  dass  die  krankhaften  Sen-  | 
sationen  der  Neurastbenie  eben  keine  Hallucinationen  sind,  sondern  peripher  aus- 
geldst  werden. 


Specielle  AssociationsstOrungen. 


109 


oder  durcli  logisclie  Schliisse  aiis  anderen  Walinideen  ist  so  selten,  dass 
sie  hier  libergangen  werden  kann. 

Der  Verarmiingswalin  ist  meist  ahnlicli  wie  der  Versiindigungs- 
walin  affectiveu  Ursprungs.  Haufig  kommen  beide  nebeneinander  vor. 
So  sagte  eiue  Kranke  aiif  der  Holie  der  Angst:  entweder  sterbe  icli  als 
Bettlerin  auf  der  Landstrasse  oder  als  Verbrecherin  im  Zuchthaus. 

Die  vierte  Form  des  Kleinlieitswahns  ist  der  Verfolgungswahn. 
Derselbe  untersclieidet  sich  von  den  drei  erstgenannten  ganz  wesentlicli 
dadurch,  dass  fiir  die  tbatsachliclien  oder  vermeintlicken  Beschwerden 
des  Icb  feindlicbe  Personen  als  Urheber  angenommen  werden.  Der 
Kranke  mit  Versiindigungswahn,  Verarmungswabn  und  Krankkeitswabn 
entwickelt  seine  Wabnvorstellungen,  als  ob  andere  Mensclien  niclit 
existirten.  Der  Verfolgungswahn  betrifft  gerade  die  Beziehungen 
des  Kranken  zu  den  Personen  seiner  Umgebung.  Die  Entstehiingsweise 
des  Verfolgungswahns  ist  sehr  mannigfach.  Sehr  haufig  tritt  er  pri- 
mar,  angelehnt  an  wirkliche  Empfindungen  auf.  So  kann  die  natiir- 
liche  Mudigkeitsempfindimg,  welche  eine  Kranke  nach  einem  Glas  Bier 
fiihlt,  zur  Entwicklimg  der  Verfolgungsidee  fiihren,  das  Bier  sei  ver- 
giftet  gewesen,  Feinde  hatten  sie  betauben  wollen,  um  irgend  welches 
Verhrechen  an  ihr  zu  begehen  oder  man  babe  sie  aus  der  Feme 
;^magnetisirt  oder  hypnotisirt".  Ungemein  haufig  ist  die  Entstehung 
aus  Hallucinationen  oder  Blusionen.  Hallucinatorische  Schimpf-  und  Droh- 
worte  sind  besonders  fruchtbar  in  der  Erzeugung  von  Verfolgungs- 
ideen.  Auch  Traume  geben  nicht  selten  Anlass  zu  Verfolgungsideen. 
Sehr  selten  tritt  ein  Verfolgungswahn  affectiven  Ursprungs  auf.  Die 
Erklarungsversuche  der  Depression  und  Angst  ignoriren  in  der  Regel 
die  umgebenden  Personen  zunachst  vollig  und  beschriinken  sich  auf  das 
Ich  des  Kranken.  Sehr  viel  haufiger  ist  die  complement  are  Ver- 
folgungsidee. Der  Verfolgungswahn,  welcher  im  Anschluss  an  Grossen- 
wahn  auftritt,  wurde  oben  schon  erwiilint.  Sehr  haufig  schliesst  sich 
ein  complementarer  Verfolgungswahn  auch  an  hypochondrische  Wahn- 
vorstellungen  und  zwar  namentlich  gerade  an  primare  hypochondrische 
Wahnvorstellungen  an.  Der  Kranke,  der  zunachst  allerhand  hypo- 
chondrische Vorstellungen  sich  gebildet  hat,  verfallt  schliesslich  dem 
Causalitatsbedurfniss,  welches  jedem  Menschen  innewohnt:  er  sucht  nach 
einer  Ursache  seiner  vermeintlichen  Leiden  und  findet  sie  schliesslich  in 
irgend  welchen  Beeinflussungen  (z.  B.  Vergiftung)  durch  eine  feindliche 
Umgebung.  Auch  der  Versiindigungswahn  kann  zu  Verfolgungsideen 
complementaren  Charakters  fiihren:  der  Kranke,  der  sich  imaginarer 
Verhrechen  zeiht,  glaubt,  dass  seine  Umgebung  ihn  verachtlich  ansieht, 
dass  man  ihm  scheu  ausweicht,  dass  Hascher  ihm  auf  der  Ferse  sind. 
Der  Gedankengang  dieses  secundaren  Verfolgungswahns  ist  also  von 


no 


Specielle  Association  sstOrun  gen. 


clem  des  primaren  total  verschieden.  Letzterer  lautet:  >,man  verfolgt  j 
mich,  aber  ich  bin  unschuldig'^,  wahrend  ersterer  lautet:  „icb  babe  ein 
Verbrechen  begangen,  desbalb  verfolgt  man  micb,  und  icb  babe  diese 
Verfolgung  und  die  drobende  Strafe  verdient". 

Der  Inbalt  des  Verfolgungswabns  wecbselt  im  Einzelnen  ausser-  i 
ordentlicb,  Er  kann  sicb  auf  ein  ganz  unbestimmtes  ^GefiibF  des  : 
Unbeimlicben  oder  der  Beeinflussung  oder  der  Beeintracb- 
tigung  oder  aucb  der  Beacbtung  bescbranken.  In  vielen  Fallen 
nimmt  er  bestimmtere  Gestalt  an.  Bald  beziebt  er  sicb  auf  die  sociale  i 
Stellung  und  das  Eigentbum  des  Kranken.  Der  Kranke  glaubt  sicb 
veracbtet,  klagt  seine  Frau  obne  Grund  der  Untreue  an  (Eifersucbts-  ■ 
wabn),  wabnt  sicb  bestoblen,  bebauptet,  seine  Kleider  wiirclen  beimlicb 
von  anderen  getragen  und  ruinirt  u.  dgl.  Bald  beziebt  sicb  der  Ver- 
folgungswabn  vorwiegend  auf  den  Korper  des  Kranken.  Er  bebauptet, 
dass  man  durcb  giftige  Diinste  oder  Beimengungen  zu  den  Speisen  ; 
seine  korperlicbe  Gesundbeit  irgendwie  beeintracbtige.  Die  nervose  Un-  .. 
rube  des  eigenen  Korpers  wird  auf  unsicbtbare  elektriscbe  Mascbinen,  j 
die  Mattigkeit  auf  magnetiscbe  Einfliisse  zuriickgefiibrt.  Pollutionen  f 
sollen  von  den  Macbinationen  unsicbtbarer  Feinde  berriibren,  welcbe 
ibm  den  „Samen  abzieben^^,  um  ibn  impotent  zu  macben  oder  iiber- 
baupt  korperlicb  zu  scbwacben.  Bleiben  die  Pollutionen  langere  Zeit 
aus,  so  scbleicbt  sicb  die  Wabnvorstellung  ein,  kiinstlicbe  Impotenz  sei 
bereits  durcb  irgendwelcbe  „Quacksalberei^^  bervorgerufen  worden.  Die 
Verfolgungsvorstellung  einer  gewaltsamen  Bedrobung  des  Lebens  oder 
der  sexuellen  Ebre  (Stuprum)  scbliesst  sicb  bier  weiter  an.  Fine  andere 
Variante  des  Verfolgungswabnes  gebt  dabin,  dass  der  Kranke  eine  tbat- 
sacblicb  vorbandene  patbologiscbe  Hemmung  des  Denkens  oder  krank- 
bafte  anderweitige  Gedanken  und  Begungen , deren  Abnormitiit  er 
selbst  fublt,  auf  die  Beeinflussung  durcb  Feinde  zuriickfiibrt.  Solcbe 
Kranke  klagen,  dass  man  ibnen  ibre  Gedanken  steble  und  ibnen  falscbe 
unterscbiebe. 

Als  Urbeber  der  wabnbaften  Verfolgung  bezeicbnet  der  Kranke  bald 
bestimmte  Personen  seiner  Umgebung,  bald  nimmt  er  unsicbtbare  un- 
bestimmte  Gegner  an.  Als  letztere  erscbeinen  besonders  baufig  die 
Freimaurer,  die  Jesuiten,  die  Anarcbisten  u.  s.  w.  In  der  Regel  gelangt 
der  Kranke  scbliesslicb  zu  der  Ueberzeugung,  dass  ein  grosses  Complott 
gegen  ibn  bestebt.  Sein  Verfolgungswabn  ziebt  immer  weitere  Kreise. 
Scbliesslicb  ist  der  Kranke  der  Mittelpunkt  eines  weitverzweigten  Ge- 
triebes.  Jedes  Tagesereigniss  stebt  in  Beziebung  zu  seiner  Person. 
Diese  egocentriscbe  Gestaltung  des  Verfolgungswabnes  tritt  meist  um 
so  scbarfer  bervor,  je  cbroniscber  und  langsamer  seine  Entwickluug  sicb 
vollziebt. 


Specielle  Associationsstfirungen. 


Ill 


Bei  der  Besprechung  des  Grossenwahnes  wurde  oben  bemerkt,  dass 
derselbe  gelegentlich  aucli  auf  die  Umgebung  iibertragen  wird.  Bei  dem 
Kleinheitswahn  kommt  dies  erbeblicli  seltener  vor.  So  hort  man  z.  B. 
in  seltenen  Fallen  Kranke  mit  Versiindigungswahn  nebenbei  aucb  aussern: 
^jDurch  mich  ist  Gott  aus  der  Welt  gekommen,  durcb  micb  sind  alle 
Menscben  schleclit  geworden^^  „Alles  ist  verddet  und  verarmt^^  ausserte 
dieselbe  Kranke  ofter.  Aucb  der  Krankheitswabn  kann  in  dieser  Weise 
nacb  aussen  projicirt  werden:  „Alle  Menscben  seben  so  krank  aus'^,  bdrt 
man  zuweilen  aussern.  Ueberbaupt  ist  der  Wabn,  dass  anderen  Men- 
scben, speciell  den  eigenen  Angeborigen  ein  Ungliick,  sei  es  Verarmung 
Oder  Krankbeit  oder  Verfolgung,  zugestossen  sei,  unter  den  nacb  aussen 
projicirten  Kleinbeitswabnvorstellungen  nocb  die  baufigste.  Meist  berubt 
er  direct  auf  Hallucinationen  entsprecbenden  Inbalts.  — 

Fine  ganz  eigenartige  objective  Weiterbildung  und  Verallgemeine- 
rung  erfabrt  der  Kleinbeitswabn  in  dem  sog.  „allgemeinen  Verneinungs- 
wabn^^  (Delire  de  negation  generalise  franzosiscber  Autoren).  Derselbe 
knupft  meist  an  Versundigungsideen  an:  der  Kranke  findet  seine  Scbuld 
so  scbwer,  dass  er  sicb  mit  dem  Teufel  identificirt.  Er  scbliesst  weiter, 
dass  er  diese  Scbuld  nur  in  einer  unendlicben  Zeit  abblissen  kann  und 
wabnt  sicb  daber  unsterblicb.  Damit  kann  sicb  der  weitere  Gedanke 
associativ  verkniipfen,  dass  aucb  sein  Korper  im  Kaum  ebenso  wie  in 
der  Zeit  unendlicb  sei  (Delme  d’enormite).*)  Die  librige  Welt, 
entwickelt  der  Kranke  seinen  Wabn  weiter,  existirt  nicbtmebr, 
alle  anderen  Menscben  sind  nur  Scbatten,  selbst  Gott 
existirt  nicbt  mebr.  „Alle  Menscben  sind  verbungert,  die  Welt  ist 
ausgestorben,  die  Sonne  ist  fort'^,  sagte  eine  andere  Kranke.  In  mancben 
Fallen,  so  namentlicb  aucb  bei  der  senilen  Demenz,  gebt  der  allge- 
meine  Verneinungswabn  von  bypocbondriscben  Wabnvorstellungen  aus: 
der  Kranke  behauptet  zunacbst,  er  babe  keinen  Magen  oder  keine  Leber 
Oder  keine  Lunge  mebr.  Daran  scbliesst  sicb  einerseits  der  Wabn 
unsterblicb  zu  sein  und  andererseits  gleicbzeitig  trotz  des  offenbaren 
Widersprucbs  der  Wabn : icb  existire  gar  nicbt  mebr.  Weiterbin  wird 
dann  wie  in  dem  zuerst  bescbriebenen  Fall  aucb  die  Existenz  der  Mit- 
menscben,  der  Welt  und  selbst  Gott  geleugnet. 

Art  des  Auftretens  und  weitere  Scbicksale  der  Wabn- 
idee.  Viele  Wabnideen  treten  ganz  plotzlicb  auf,  bald  im  Anschluss 
an  eine  Hallucination,  bald  im  Anschluss  an  eine  normale  Empfindung, 
zuweilen  aucb  vollig  frei  als  sogenannte  Einfalle.  Andere  entwickeln 


*)  Eine  haufigere  Variante  dieser  Gedankenkette  geht  aiich  dahin,  dass  der 
Kranke  unendliche  Massen  Koth  zu  entleeren  und  in  denselben  die  ganze  Welt  zu 
erstickeu  wahnt. 


112 


Specielle  Associationsstfirungen. 


sich  schleichend  aus  den  unbestimmtesten  Vermutliungen  zu  immer  be- 
stimmteren  Umrissen.  Das  weitere  Schicksal  ist  je  nach  der  Ent- 
stebungsweise  sebr  verscbieden.  Enter  den  affectiven  Wabnideen  sind 
die  hyper thymischen,  d.  h.  die  aus  einer  primaren  beiteren  Verstimmung 
entsprungenen  durch  grosse  Fliicbtigkeit  und  raschen  Wecbsel  ausge- 
zeicbnet.  Die  Bestandigkeit  der  ballucinatorischen  Wahnurtheile  hangt 
ganz  und  gar  von  der  Bestandigkeit  der  zu  Grunde  liegenden  Sinnes- 
tauscbungen  ab.  Wechseln  jene  rasch,  so  kommt  es  meist  nicbt  zu  einer 
Fixirung  der  hallucinatoriscbeu  Wabnideen.  Die-  primaren  Wabnideen 
zeichnen  sicb  meist  durcb  scbleicbende  Entwicklung  und  Neigung  zur 
Fixirung  aus.  Nur  bei  einer  einzigen  uberdies  ziemlicb  seltenen  Psycbose, 
der  acuten  einfachen  Paranoia,  iindet  man  ein  massenbaftes  Auftreten 
sebr  wecbselnder,  zum  Tbeil  widersprecbender,  jedenfalls  sebr  fliicbtiger 
primarer  Wahnvorstellungen.  In  alien  anderen  Fallen  sind  die  primaren 
Wabnideen  durcb  grosse  Stabilitat  ausgezeicbnet  und  geben  daber  eine 
sebr  ungunstige  Prognose. 

Mit  der  Fixirung  der  Wabnvorstellungen  ist  sebr  baufig  ein  zweiter 
Vorgang  verknupft,  welcben  man  als  System  at  isirung  der  Wabn- 
ideen bezeicbnet.  Diese  bestebt  darin,  dass  der  Kranke  zu  seinen  ein- 
zelnen  Wabnideen  complementare  Wabnideen  zufugt,  welcbe  einen  logi- 
scben  Zusammenhang  mit  den  ursprunglicben  Wabnvorstellungen  zeigen. 
Mitunter  bestebt  die  Systematisirung  aucb  lediglicb  in  einem  pbanta- 
stiscben  Ausbauen  und  Ausscbmiicken  der  ursprunglicben  Wahnvor- 
stellimgen.  Letzteres  liegt  z.  B.  vor,  wenn  ein  Kranker  zunacbst  die 
primare  Wabnidee  concipirt,  er  sei  ein  untergescbobenes  Kind,  und 
diese  dann  weiterbin  — zuweilen  im  Verlauf  von  Jabren  — dabin  aus- 
scbmuckt,  dass  er  auf  einem  anderen  Planeten  geboren,  von  dort  ge- 
stoblen  und  zu  seinen  „sogenannten^^  irdiscben  Eltern  gebracbt  worden 
sei.  Bei  dieser  Ausscbmiickung  werden  oft  aucb  Erlebnisse,  welcbe  weit 
vor  dem  Beginn  der  Erkrankung  liegen,  im  Sinne  der  jetzigen  Wabn- 
ideen aus-  und  umgedeutet.  Die  retr ospectiven  Auslegungen 
tauscben  daber  oft  eine  erbeblicb  langere  Krankheitsdauer  vor,  als  sie 
den  Tbatsacben  entspricht.  Je  nacb  Pbantasie,  Bildung,  logiscber  Be- 
gabung  und  socialer  Stellung  fallt  dieser  Ausbau  natiirlicb  sebr  ver- 
schieden  aus.  Die  systematiscbe  Entwicklung  complementarer  Wabn- 
vorstellungen ist  bereits  oben  mebrfacb  beriibrt  worden.  Am  baufigsten 
ist  die  Erganzung  des  Verfolgungswabns  durcb  einen  secuudaren  Grossen- 
wabn.  Seltener  treten  zuerst  Grossenideen  auf  und  fubren  spater  zu 
complementaren  Verfolgungsideen.  Der  Versiindigungswabn  bleibt  in 
den  meisten  Fallen  isolirt;  die  gelegentlicbe  Weiter entwicklung  zu  Ver- 
folgungswabn  oder  contrastirendem  Grossenwabn  oder  allgemeiuem  \ er- 
neinungswahn  wurde  scbon  erwabnt.  Prognostiscb  sebr  bedeutsam  ist 


Specielle  Associationsstoningen. 


113 


die  Tendeuz  der  h3^pocliondrischen  Wahnvorstellungen  sich  zu  coraple- 
mentiiren  Verfolgungsideen  weiter  zu  entwickelu. 

Diese  systematisirten  Walinvoi’stellungen  oder  Walinsysteme  dauern 
meist  so  lange  als  das  Leben  der  Kranken.  Sie  sind  es,  welche  der 
Laie  als  „fixe  Ideen"  xax’  bezeichnet.  Eine  genauere  Beob- 

aclitiing  lehrt  freilicb,  dass  im  Laufe  der  Jahre  auch  diese  systemati- 
sirteii  Wahnvorstellungen  leichte  Verscbiebungen  und  Abiinderungen  er- 
fahren. 

Vorbedingung  fiir  jede  Systematisirung  von  Wahnvorstellungen  ist 
eine  gewisse  Hohe  der  geistigen  Entwicklung.  Schwachsinnige  con- 
cipiren  wohl  auch  Wahnvorstellungen,  aber  ihr  Intelligenzdefect  hindert 
meist  jede  Systematisirung  derselben.  Bei  dem  Vollsinnigen*)  ist  man 
oft  erstaunt,  wie  er  die  scheinbaren  Widerspriiche  seiner  Wabnideen  unter 
sich  und  mit  der  Wirklichkeit  durch  scharfsinnige  Hypothesen  auszu- 
gleichen  oder  zu  beseitigen  versuclit.  Der  Schwachsinnige  bemerkt 
diese  Widerspriiche  gar  nicht  oder  steht  ihnen  rathlos  gegeniiher. 

Das  gerade  Gegentheil  zu  den  systematisirten  Wahnideen  (z.  B. 
einer  Paranoia  completa)  stellen  die  ahrupten  und  incoharenten  Einfalle 
anderer  Kranken  dar.  So  reiht  z.  B.  ein  Kranker  in  einem  Athem 
folgende  Urtheile  aneinander:  „Das  Weltall  wird  fest  — schwarz  ist 
weiss  — ich  hahe  9 Hauser  in  Constantinopel  in  Japan  gehaut  — ich 
hahe  vor  9 Millionen  Jahren  die  Welt  geschaffen^h  Eine  solche  Inco- 
harenz  der  Wahnideen  kommt  keineswegs  ausschliesslich  hei  Schwach- 
sinnigen,  sondern  auch  bei  Vollsinnigen  zumal  auf  dem  Boden  schwerer 
erblicher  Belastung  meist  vergesellschaftet  mit  einem  leichteren  Grad 
allgemeiner  Incoharenz  des  Vorstelhmgsablaufs  vor. 

Zeitliche  Beziehungen  der  Wahnvorstellungen.  Bisher 
war  im  Wesentlichen  nur  von  solchen  Wahnvorstellungen  die  E,ede, 
welche  inhaltlich  sich  direct  auf  die  Gegenwart  heziehen.  Nicht  selten 
treten  jedoch  auch  Wahnvorstellungen  auf,  welche  nur  auf  die  Zukunft 
Oder  die  Vergangenheit  sich  beziehen.  Die  auf  die  Zukunft  sich  be- 
ziehenden  Wahnvorstellungen  sind  ohne  Weiteres  verstandlich.  Der 
Kranke,  der  an  Grossenwahn  leidet,  iiberschatzt  nicht  nur  sein  augen- 
hlickliches  Ich,  sondern  auch  seine  kiinftigen  Leistungen  und  Geschicke. 
lEr  ergeht  sich  in  grossen  Pliinen,  welche  seine  Fahigkeiten  und  seine 
soCiale  Stellung  weit  iiherschreiten.  Er  plant  Geschaftsvergrosserungen, 
weite  lleisen,  kostspielige  Bauten,  reiche  Heirathen  u.  dgl.  mehr.  Der 
: Krankheitswahn  ergeht  sich  in  wahnhaften  Todeshefiirchtungen ; all- 
nachtlich  ruft  cTer  Kranke  seine  Familie  zusammen,  um  sein  Testament 

*)  Vollsinnig  bedeutet  nicht  geistesgesund , sondern  nicht-schwachsinnig,  d.  b- 
ohne  Intelligenzdefect.  ' 

Ziehen,  Psychiatrie. 


8 


114 


Specielle  Associationsstorungen. 


zu  maclien.  Ich  kenne  einen  Kranken,  der  auf  Grand  seiner  hypo- 
cliondrisclien  Vorstellungen  sicli  bereits  mehrfach  als  Leiche  aufljahren 
Hess.  Audi  der  Wabn,  in  eine'r  naheren  oder  ferneren  Zukunft  werde 
den  Angeborigen  ein  Ungliidc  zustossen,  geliort  bierber. 

Praktiscb  weit  wicbtiger  und  von  den  friiber  besprocbenen  Wabn- 
ideen  weit  verscbiedener  sind  mancbe  auf  die  Vergangenbeit  be- 
ziiglicben  Wabnvorstellungen.  Es  kominen  namlicb  bier  namentlicb  fol- 
gende  beide  Formen  retrospectiver  Wabnvorstellungen  in  Betracbt; 

1.  Die  Erinnerungsentstellungen.  Es  bandelt  sicb  bei  diesen 
um  wabnbafte  Entstellungen  wirklicber  Erlebnisse  der  Vergangenbeit. 
Am  baufigsten  finden  sie  sicb  bei  den  bysteriscben  Psycbosen  und  dein 
Scbwacbsinn  und  zwar  speciell  bei  den  leicbteren  Formen  des  letzteren. 
Wenn  eine  Hysteriscbe  irgend  einen  Vorgang,  z.  B.  den  Besucb  eines 
Arztes,  erlebt  bat,  so  scbmuckt  ibre  Pbantasie  nacbber  in  einer  mebr 
oder  weniger  bewussten  Weise  diesen  Vorgang  z.  B.  dabin  aus,  dass  der 
Arzt  einen  Stuprumversucb  gemacbt  babe.  Bald  kann  die  Kranke  Wirk- 
licbkeit  und  Pbantasie  nicbt  mebr  unterscbeiden  und,  soil  sie  den  Vor- 
gang spater  wiedererzablen,  so  reproducirt  sie  ibn  bona  fide  in  ganz 
entstellter  Weise.  Dabei  ist  die  Kranke  bereit,  jedes  Detail  ibrer  ent- 
stellten  Erzablung  zu  bescbworen.  Audi  das  Liigen  mancber  Scbwacb- 
sinnigen  berubt  zuweilen  auf  einer  solcben  unbewussten  oder  vom  Kranken 
spater  vergessenen  Entstellung  der  Erinnerungsbilder  durcb  die  Pbantasie. 
Bei  dem  Scbwacbsinn  komnit  binzu , dass  aucb  eine  merklicbe  Ge- 
dacbtnissscbwacbe  bestebt  und  dass  scbon  desbalb  die  Reproductions- 
treue  mangelbaft  ist. 

2.  Erinne rung stauscbun gen.  Sie  unterscbeiden  sicb  von  den 
Erinnerungsentstellungen  in  abnlicber  Weise  wie  die  Hallucinationen 
von  den  Illusionen.  Wiibrend  den  Erinnerungsentstellungen  wirklicbe 
Erlebnisse  zu  Grunde  liegen,  welcbe  nur  in  der  Reproduction  verandert 
werden,  liegen  den  Erinnerungstauscbungen  iiberbaupt  gar  keine  wirk- 
licben  Erlebnisse  (aucb  keine  Traume  oder  Hallucinationen)  zu  Grunde. 
Dieselben  sind  vollig  freie  Erfindungen  der  krankbaft  erregten  Pban- 
tasie, welcbe  vom  Kranken  optima  fide  als  wirklicbe  Erlebnisse  bericbtet 
werden.  Den  Hauptformen,  welcbe  wir  bei  den  Wabnideen  iiberbaupt 
unterscbieden,  begegnen  wir  bier  wieder.  Wir  kennen  namlicb; 

a)  Erinnerungstauscbungen  in  Folge  von  Affectsto- 
r ungen.  Der  Maniakaliscbe  fabelt  in  seiner  beiteren  Exaltation  deifi 
Arzte  allerband  grosse  Tbaten,  die  er  ausgefiibrt,  und  grosse  Erleb- 
nisse, die  er  durcbgemacbt  baben  will,  vor.  Der  Melancbolikei  eifindet 
in  dm-  Angst  zuweilen  Verbrecben,  die  er  begangen  baben  will,  und 
scbildert  die  Ausfiibrung  niit  alien  Details.  Beides  ist  iibrigens  selten 
als  Erinnerungstauscbung  im  eigentlicben  Sinne  zu  betiacbten.  Dei 


Specielle  Associationsstorungen. 


115 


Maniakiis  ist  sich  meist  der  Unwirldichkeit  seiner  Miinchhausiaden  be- 
wusst,  und  bei  beui  Melauclioliker  liaudelt  es  sicli  meist  um  Ausdeutungen 
und  Eriunerungs entstell ungen  wirklicber  Erlebnisse.  Die  Erinnerungs- 
tauscbimgen  der  progressiven  Paralyse  im  maniakaliscben  Stadium  ge- 
lioreu  zum  Theil  gleichfalls  hierher. 

b)  Eriuneruugstauschungen  im  Zusammenhang  mit 
auderen  auf  die  Gegenwart  sich  beziehenden  Wahnvor- 
stellungen.  Eine  Walinvorstellung  wird  mit  angeblichen  Erlebnissen 
in  der  Vergangenheit  motivirt  und  ausgeschmiickt.  Diese  Form  der 
Erinneruugstauschung  ist  bei  der  progressiVen  Paralyse  und  bei  der 
chronischen  Paranoia  (namentlich  bei  der  originaren  Form  derselben) 
besonders  haufig.  Der  Paranoiker  ist  auf  einem  anderen  Planeten  ge- 
boren.  Er  beschreibt  mit  alien  Details  „aus  seiner  eigen en  Erinnerung^^, 
wie  er  als  Kind  geraubt  wurde.  Er  hat  auf  zahlreichen  Universitaten 
studirt  und  in  vergangenen  Jahrhunderten  gelebt.  Er  giebt  detaillirte 
Mordversuche  an,  die  schon  in  friiher  Kindheit  gegen  ihn  unternommeu 
worden  sind.  Haufig  ist  in  diesen  Erinnerungstauschungen  sehr  wohl 
noch  ein  gewisses  System  zu  erkennen.  Der  Paralytiker  ist  in  seinen 
Erinnerungstauschungen  viel  zusammenhaugsloser.  Er  beschreibt  Jagden, 
auf  denen  er  „ Adler  von  15,000  Decillionen  Centner  Gewicht^'  geschossen 
hat,  er  hat  unzahlige  Schlachten  geschlagen,  in  seinem  Urin  die  ganze 
Welt  ersauft,  den  Satan  gefressen  u.  dgl.  Auch  bei  dem  Altersblodsinn 
finden  sich  oft  ahnliche  zusammenhangslose  und  maasslose  Grossenideen. 
Durch  vorsichtige  Suggestivfragen  kann  man  auch  den  Paranoiker  zu 
weiterer  Ausschmiickung  seiner  Erinnerungstauschungen  und  Bildung 
neuer  Erinnerungstauschungen  veranlassen.  Der  Paralytiker  lasst  sich 
meist  sofort  jede  beliebige  neue  Erinneruugstauschung  einreden.  Die 
Erinnerungstauschungen  des  Paralytikers  sind  ausserordentlich  wechselnd, 
diejenigen  des  Paranoikers  pflegen  constanter  zu  sein.  Bei  den  ersteren 
wirken  meist  Affectanomalien  mit,  bei  den  letzteren  sind  solche  bedeu- 
tungslos. 

c)  Erinnerungstauschungen  ohne  erkennbaren  Zusam- 
menhang mit  anderen  Wahnvorstellungen  oder  Affect- 
anomalien. Dieselben  treten  meist  ganz  unvermittelt  auf.  Der  Kranke 
behauptet  mit  grosster  Bestimmtheit,  dies  oder  jenes  vor  einigen  Stimden, 
Tagen  oder  Wochen  erlebt  zu  haben.  Er  ist  von  der  Kealitat  des  ver- 
meintlichen  Erlebnisses  so  fest  iiberzeugt,  wie  ein  anderer  Kranker  von 
der  Realitat  einer  Hallucination  oder  der  Gesunde  von  der  Realitat 
eines  wirklichen  Erlebnisses.  Dabei  lasst  sich  der  exacte  Nachweis  er- 
bringen,  dass  eine  irgendwie  entsprechende  Hallucination  oder  ein  ent- 
sprechendes  Erlebniss  nie  stattgefunden  hat.  Es  haftet  diesen  Erinue- 
rungstauschungen  geradezu  noch  eine  gewisse  sinnliche  Lebhaftigkeit 

8* 


116 


iSpecielle  Associationsstorungen. 


an.  Man  bezeiclinet  sie  daher  auch  als  Er inner ungshallucina- 
tionen.  Durcli  Suggestion  diese  Erinnerungshallucinationen  irgendwie 
zu  modificiren,  ist  ganz  unmdglich.  Der  Inhalt  dieser  Erinnerungs- 
tauscliungen  ist  mitunter  ein  ganz  gleicligiltiger.  So  behauptet  der 
Kranke,  vor  einigen  Stunden  mit  dem  Arzte  diesen  oder  jenen  Besucli 
gemacht  und  dieses  oder  jenes  Gesprach  gefiilirt  zu  haljen.  In  anderen 
Fallen  ist  der  Inhalt  der  Erinnerungstauschungen  durch  gleichzeitige 
Wahnideen  gefarbt  oder  mitbedingt:  so  erzahlt  ein  Kranker  mit  alien 
Details,  wie  er  gestern  als  Feldherr  auf  den  nahegelegenen  Bergen  eine 
Schlacht  geliefert  habe.  Jiuf  die  offenkundige  Unmoglichkeit  aufmerk- 
sam  gemacht,  stutzt  er  einen  Augenblick,  kehrt  aber  im  nachsten 
Augenblick  wieder  dazu  zuriick  oder  behauptet  — in  seltenen  Fallen  — 
man  miisse  ihn  vergiftet  haben,  dass  er  solche  Einbildungen  bekommen 
habe,  „jetzt  miisse  er  aber  daran  glauben^^  Am  haufigsten  sind  diese 
Erinnerungstauschungen  bei  der  progressiven  Paralyse  und  bei  der 
acuten  Paranoia.  Bei  letzterer  kommen  sie  oft  zugleich  mit  dem 
Symptom  der  Ideenflucht  oder  demjenigen  der  „Einfalle“  vor.  Zuweilen 
setzen  sie  sich  noch  bis  in  die  Reconvalescenz  lange  fort  und  erregen 
dann  das  grosste  Befremden  bei  dem  Kranken  selbst. 

Einfluss  der  Wahnvorstellungen  der  Kranken  auf  ihre 
Em  p find  ungen.  Wahnvorstellungen  konnen  in  grosser  Zahl  ein 

gauzes  Menschenleben  hindurch  bestehen,  ohue  dass  je  die  Empfindungen 
des  Kranken  qualitativ  in  irgend  einer  Weise  beeiutlusst  werden.  Die 
normalen  werden  allerdiugs  falsch,  uamlich  im  Sinne  der  Walmvor- 
stellungen,  ausgelegt,  aber  bleiben  selbst  dabei  unverandert.  In  einer 
grosseren  Zahl  von  Fallen  gewinnt  die  Wahnvorstellung  auch  Einfluss 
auf  das  Empfindungsleben.  Die  Empflndungen  werden  im  Sinne  der 
Wahnvorstellungen  transformirt.  So  kommt  es  zu  den  friiher  be- 
sprochenen  illusionaren  Auslegungen.  Der  Kranke  deutet  ein  that- 
sachlich  stattfindendes  Gesprach  seiner  Nachbaren  nicht  nur  als  Schmieden 
eines  Complotts,  sondern  er  hbrt  aus  demselbeu  auch  eutsprechende 
Drohworte  her  aus.  Auch  unvermittelte  Illusioneu,  welche  zwar  nicht 
dem  augenblick  lie  hen  Vorstellungskreis  des  Patienten  entsprecheu, 
aber  doch  zu  den  ihn  sonst  erfiillenden  Wahnvorstellungen  in  Be- 
ziehung  stehen,  kommen  weiterhin  hinzu.  In  einer  grossen  Zahl  von 
Fallen  kommt  es  zu  echten  IPallucinatiouen.  Der  Einfluss  des  krauk- 
haften  Vorstellungslebens  auf  die  Empfindungszelleu  hat  damit  seine 
Hohe  erreicht.  Die  Wahnvorstellung  erzeugt  ohne  Mitwirkuug  liusserer 
Reize  krankhafte  Empfindungen,  welche  ihrerseits  zur  Befestiguug  und 
zum  Ausbau  der  Wahnvorstellungen  heitragen. 

Eine  specielle  Bedeutung  erlangt  diese  Riickwirkung  der  Wahnvor- 
stellungen  auf  das  Empfindungsleben  bei  dem  hypochondrischen  Krank- 


Specielle  Associationsstorungen. 


117 


heitswahn.  Es  kommt  hier  oft  zii  einem  vollstandigen  Zirkel:  Zunachst 
liegt  eine  iieurastlieuische  Parasthesie,  das  Ankniipfungssymptom,  vor. 
Au  diese  kniipft  der  Kranke  eine  hypochondrisclie  Wahnidee,  welche  er 
weiter  ausbaut.  Im  Sinne  dieser  Wahnidee  wird  nun  die  Parasthesie 
modificirt  und  verstarkt,  welche  nun  ihrerseits  zur  Fixirung  und  zum 
Ausbau  der  Wahnidee  beitragt.  Besonders  wichtig  ist,  dass  sich  diese 
Riickwirkung  auch  auf  die  Motilitiit  erstrecken  kann.  Die  Wahnidee 
einer  Lahmung  kann  zu  einer  Lahmung  fiihren.  Bei  der  Hypochondrie 
werden  diese  „psychischen  Lahmimgen^^  noch  ausfiihrlich  besprochen 
werden. 

Einfluss  der  Wahnvorstellungen  auf  die  Bewegungen 
und  Handl ungen.  Als  ein  Hauptmerkmal  der  Wahnidee  gegeniiber 
der  Zwangsvorstellung  wurde  oben  angegeben,  dass  dem  Kranken  fiir 
die  Wahnidee  Krankheitsbewusstsein  fehlt  oder,  anders  ausgedriickt, 
dass  berichtigende  Urtheilsassociationen  ganz  oder  fast  ganz  fehlen.  Dies 
schliesst  nicht  aus,  dass  wenigstens  gelegentlich  dem  Kranken  unbe- 
stimmte  Zweifel  auftauchen.  Es  gilt  dies  namentlich  von  den  aus 
Hallucinationen  oder  aus  Traumen  hervorgegangenen  Wahnideen.  Hier 
kann  man  beobachten,  dass  der  Kranke  stundenweise  zweifelt,  ob  die 
Hallucinationen  Wirklichkeit  und  somit  seine  Wahnvorstellungen  be- 
griindet  sind.  In  noch  hoherem  Maass  gilt  dies  von  vielen  hyper- 
thymischen,  d.  h.  aus  pathologischer  Exaltation  hervorgegangenen  Wahn- 
vorstelhmgen.  Bei  dieser  ist  es,  wofern  kein  Intelligenzdefect  besteht, 
geradezu  Hegel,  dass  der  Arzt  durch  energisches  Anfahren  und  Auf- 
forderung  zur  Selbstbesinnung  den  Kranken  zu  momentanem  Aufgeben 
seiner  Wahnideen  bringen,  also  den  berichtigenden  Urtbeilsassociationen 
das  Uebergewicht  verschaffen  kann.  Bei  den  depressiven  Wahnvor- 
stellungen gelingt  dies  weit  seltener.  Vollends  kritiklos  stehen  die 
Kranken  fast  ausnahmslos  den  primaren  und  complementaren  Wahnvor- 
stellungen gegeniiber.  Die  Periode  des  Zweifels  ist,  wenn  iiberhaupt 
vorhanden,  fast  stets  sehr  kurz.  Die  ganze  Personlichkeit  erscheint  mit 
der  primaren  Wahnidee  umgewandelt.  Kritik  und  Krankheitsbewusstsein 
schweigen  bald  vbllig.  Damit  hiingt  es  zum  Theil  zusammen,  dass 
gerade  diese  Wahnvorstellungen  in  der  Regel  unheilbar  sind,  also  der 
Psychose  eine  ganz  ungiinstige  Prognose  aufdriicken.  Zuweilen  beob- 
■achtet  man  auch  ein  eigenthiimlich  verschobenes  Krankheitsbewusstsein 
bei  diesen  Patienten.  Fiir  manche  ihrer  Wahnvorstellungen,  die  zu 
handgreiflich  der  Wirklichkeit  und  der  Logik  widersprechen,  giebt  der 
Kranke  die  Unrichtigkeit  zu,  kniipft  aber  daran  sofort  die  weitere 
Wahnvorstellung , dass  seine  Verfolger  ihm  durch  „heimliche  Ein- 
spritzungen  von  Gift‘d  oder  durch  „Besprechen"  oder  durch  „Suggestion" 
solclie  „widersinnigen  Gedanken  beibrachten".  In  der  grossen  Mehrzahl 


118  Specielle  AssociationsstSrungen. 

der  Falle  stehen  die  Kranken  diesen  Wahnvorstellungen  ganz  einwand- 
los  gegeniiber. 

Der  Einfluss  der  Wahnvorstellungeii  auf  die  Handlungen  hangt  in 
erster  Linie  von  deni  Girad  des  Krankheitsbewusstseins  ab.  In  zweiter 
Linie  kommen  die  Affecte,  welcbe  die  Wabnidee  begleiten,  in  Betracht. 
Je  lebliafter  diese  sind,  um  so  rascber  und  ausgiebiger  setzen  sich  — 
ceteris  paribus  — die  Wahnvorstellungen  in  Handlungen  um.  Endlich 
ist  sebr  wesentlich,  ob  die  Wahnvorstellungen  acut  in  grosser  Zabl  auf- 
treten  oder  allmahlich  in  das  Denken  des  Kranken  sich  einscbleichen. 
In  letzterem  Fall,  welcher  gei’ade  fiir  viele  primare  Wahnvorstellungen 
zutrifft,  gewinnen  oft  hemmende  Vorstellungen  Zeit,  eine  Beeinfliissung 
des  Handelns  durch  die  Wahnvorstellungen  zu  verhiiten.  Diese  Kranken 
lernen  sich  zu  beherrschen  und  oft  auch  ihre  krankhaften  Vorstellungen 
zu  dissiniuliren,  d.  h.  zu  verbergen.  So  konnen  solche  Kranke 
jahrelang  fiir  geistesgesund  gelten,  bis  bei  einer  besonderen  Constellation 
plotzlicb  einmal  die  Selbstbeherrschung  versagt  und  der  Kranke  fast 
explosiv  in  erregten  Worten  und  Handlungen  seine  Wahnideen  kundgiebt. 

Eine  besondere  Wichtigkeit  haben  diejenigen  Handlungen,  welcbe 
unter  dem  Einfluss  plotzlicb  auftauchender  Wahnvorstellungen  oder 
Einfalle  (s.  o.)  zu  Stande  kommen.  So  kann  in  einem  Kranken  plotz- 
lich  der  Einfall  auftauchen , er  sei  Soldat , und  alsbald  macht  er 
militarische  Bewegungen,  oder  plotzlicb  fallt  ihm  ein,  sein  Kaffee  sei 
vergiftet,  und  jahlings  begeht  er  eine  schwere  Gewaltthat  gegen  die 
Person,  welche  ihm  denselben  gebracht  bat.  Man  bezeichnet  diese  auf 
Grund  plotzlicb  aufschiessender  Vorstellungen  zu  Stande  kommenden 
Handlungen  auch  als  impulsive  Handlungen.  Es  giebt  Kranke,  deren 
Bewegungen  Stunden  und  Tage  lang  sich  aus  lauter  incoharenten 
derartigen  Handlungen  zusammensetzen. 

Diagnose  der  Wahnideen.  Nicht  jede  irrig  erscheinende  Be- 
hauptung  einer  im  Verdacht  der  Geistesstorung  stehenden  Person  ist 
eine  Wabnidee,  vielmehr  ist  stets  auch  an  folgende  Moglichkeit  zu 
denken : 

1.  Die  Bebauptung,  so  wahnhaft  sie  scheint,  berubt  doch  auf 
Thatsachen  und  ist  sonach  richtig.  In  jedem  einzelnen  Fall,  selbst  weun 
die  Bebauptung  ganz  exorbitant  scheint,  hat  der  Arzt  die  Pflicht,  nach- 
zuforscben,  ob  und  wieweit  nicht  derselbeu  vielleicnt  doch  Thatsachen  zu  ' 
Grunde  liegen.  Specielle  Vorsicht  ist  selbstverstiindlich  in  solcben  Fallen 
geboten,  wo  der  Arzt  den  Ivi-anken  nicht  selbst  zu  befragen  Gelegenheit 
hat,  sondern  auf  Bericbte  von  Personen,  deren  Unparteilichkeit  zweifel- 
haft  ist,  angewiesen  ist. 

2.  Die  Bebauptung  kann  irrig  sein  nnd  ist  doch  nicht  wahnhaft, 
oder  mit  auderen  Worten,  es  konnen  Thatsachen  vorliegen,  welche  zwar 


Specielle  Associationsstorungen . 


119 


7,um  Beweise  der  fraglichen  Behauptung  durchaus  nicht  ausreichen,  ims 
iiber  ausreiclieud  erklaren,  dass  die  betreffende  Person  zu  der  beziig- 
licben  Beliauptung  gekommen  ist.  Audi  der  Geistesgesunde  verfallt  in 
zablreiche  Irrthiinier,  zii  weldien  ilm  einerseits  die  Thatsachen  selbst, 
andererseits  Yorsdinelle,  liidcenhafte  Associationen,  Affectsteigerungen  und 
scbliesslich  gewisse  Charaktereigenschaften  verfiihren.  Speciell  die  letz- 
teren,  wie  Mistrauen,  Dlinkel  etc.,  kdnnen  gelegentlicb  zu  Vorstellungen 
und  Urtbeilen  fiihren,  die  inhaltlidi  sich  fast  vollig  mit  Verfolgungsideen 
resp.  Grossenideen  decken.  Der  Arzt  hat  daher  stets  die  Pflicht,  neben 
denr Inhalt  der  fraglichen  VVahnvorstellung  und  neben  ihrer  Begriindung 
in  den  Thatsachen  der  Aussenwelt  auch  ihre  psychologische  Ent- 
stehung  festzustellen. 

Schhesslich  wird  der  Arzt  stets  auch  zu  beriicksichtigen  haben,  dass 
die  Grenzen  zwischen  Irrthum  und  Wahnvorstellung  — ebenso  wie 
iiberhaupt  zwischen  geistiger  Gesundheit  und  Geisteskrankheit  — keine 
scharfen  sind.  Der  Arzt  kann  daher  in  die  Lage  komraen,  erklaren  zu 
miissen,  dass  eine  Beantwortung  der  Frage,  ob  eine  bestimmte  Urtheils- 
association  wahnhaft  sei  oder  nicht,  unangiingig  sei,  dass  somit  ein 
Grenzfall  zwischen  Irrthum  und  Wahnvorstellung  vorliege.  Verlangt 
das  Gesetz,  welches  scharfe  Grenzlinien  zu  ziehen  gezwungen  ist,  in 
solchen  Fallen  doch  eine  bestimmte  Entscheidung,  so  ist  dem  subjectiven 
Ermessen  des  Arztes  ein  weiter  Spielraum  gelassen. 

Fast  noch  grosser  ist  oft  die  Gefahr,  eine  Wahnidee  zu  iiber sehen. 
Dies  ist  namentlich  in  folgenden  Fallen  zu  fiii’chten: 

1.  Der  Kranke  dissimulirt,  d.  h.  er  verheimlicht  seine  Wahn- 
vorstellungen.  So  ist  namentlich  bei  den  chronischen  Paranoikern  mit 
complementaren  oder  primaren  Grossenideen  Dissimulation  haufig.  In 
Ermangelung  miindlicher  Aeusserungen  ist  man  hier  sehr  haufig  auf 
Schliisse  aus  dem  ganzen  Gebahren  der  Kranken  angewiesen.  Das 
suffisante  Gesicht,  die  hochmiithige  Kopfhaltung,  der  majestiitische  Schritt, 
die  Fernhaltung  von  den  „plebejischen  Mitkranken" , die  gewahlte 
Toilette,  die  Beanspruchung  besserer  Verpflegung,  die  verschnorkelte 
Schrift,  der  gewahlte  oder  geschraubte  Stil  in  gewohnlichen  Briefen 
lassen  oft  zuerst  an  verheimlichte  Grossenideen  denken.  Haufig  verriith 
sich  dann  bei  liingerer  Beobachtung  der  Kranke  einmal  in  einem  ge- 
legentlichen  Affectausbruch  oder  er  schiebt  einmal  in  seinen  Namen 
(Machdeleid  statt  Machleid)  oder  vor  seinen  Namen  ein  „von"  ein  u.  dgl. 
Der  Verfolgungswahn  aussert  sich  zuv/eilen  nur  darin,  dass  der  Kranke 
sich  von  seiner  Umgebung  ganz  zuriickzieht,  harmlose  Aeusserungen 
auf  sich  hezieht  u.  dgl.  m.  Viele  dieser  Kranken  wechseln  fortwahrend 
ihre  Wohnung  und  selbst  ihren  Wohnort,  um  ihren  vermeintlichen  Ver- 
folgern  zu  entgehen.  Andere  beschriinken  sich  darauf,  taglich  in  anderen 


120 


Specielle  Associationsstdrungen. 


Restaurants  zii  essen.  Mauclie  bringen  die  seltsamsten  Scliutzvorrich- 
timgen  vor  Fenstern  und  Tliuren  an,  urn  die  Eindringlinge  fernzuhalten. 
So  verrathen  sicb  viele  Kranke,  welclie  auf  Befragen  sich  jahrelang 
niclit  zu  einem  Gestiindniss  ihrer  Wahnvorstellungen  lierbeilassen. 

2.  Der  Kranke  liat  fiir  seine  Bebauptungen  gewisse  objective  Grund- 
lagen,  und  dock  sind  die  Bebauptungen  als  Wabnvorstellungen  zu  be- 
zeicbnen.  So  bebauptet  ein  Kranker,  ein  barmloser  Racbenkatarrh  sei 
sypbibtiscb,  und  die  Anamnese  ergiebt  in  der  That,  dass  fruher  eine 
sypbilitiscbe  Infection  wirklicb  stattgefunden  hat.  Es  liegt  nahe,  in 
einem  solcbem  Fall  anzunebmen,  dass  ein  Irrtbum,  welcher  sich  aus  der 
Besorgniss  des  Kranken  in  ausreicbender  Weise  erklart,  vorliegt  und 
keine  Wabnvorstellung.  An  sicb  ist  aucb  in  der  That  eine  solche  Be- 
bauptung  nocb  nicbt  obne  Weiteres  als  wabnbaft  zu  bezeichnen.  Erst 
wenn  der  Kranke  trotz  der  gegentbeiligen  Versicberungen  aller  Aerzte 
und  trotz  Ausbleibens  aller  weiteren  ibm  bekannten  sypbilitiscben  Er- 
scbeinungen  mit  einer  ibm  sonst  nicbt  eigenen  Hartniickigkeit  bei  seiner 
Bebauptung  bleibt  und  immer  mebr  harmlose  Erscbeinungen  an  seinem 
Korper  im  Sinne  seiner  falscben  Vorstellung  deutet,  darf.  man  von  einer 
Wabnvorstellung  sprecben:  dann  aber  mit  Recbt;  denn  nicbt  der  Inhalt 
und  der  zu  Grunde  liegende  Tbatbestand  ist  allein  entscbeidend  fiir  die 
Diagnose  Wabnidee,  sondern  namentlicb  das  Verbalten  der  fraglicben 
Vorstellung  gegenliber  neuen  Empfindungen  und  neuen  Vorstellungen. 
Es  kann  also  sebi  wobl  ein  Sypbilitiscber  eine  wabnhafte  Sypbilisfurcbt 
baben  oder  allgemein:  eine  Wabnidee  braucbt  nicbt  immer  jeder  tbat- 
sachlichen  Unterlage  vollig  zu  entbehren,  sie  kann  an  Tbatsacben  „an- 
kniipfen"  und  docb  pathologiscb  die  voile  Dignitat  einer  Wabnidee 
besitzen. 


Z wan  gs  vorstellungen. 

Die  Zwangsvorstellung  ist  eine  unricbtige  Vorstellungsverbindung, 
welcbe  trotz  iiberwiegender  bericbtigender  Urtbeilsassociationen  sicb  dem 
Kranken  immer  wieder  aufdrangt.  So  wird  z.  B.  ein  Kranker  fort- 
wabrend  von  dem  unricbtigen  Gedanken  gequalt,  an  seinen  Hiindeu 
bafte  Scbmutz.  Er  bericbtigt  diesen  Gedanken  selbst,  er  weiss,  dass  er 
unricbtig  und  grundlos  ist,  und  trotz  dieses  Ueberwiegens  der  bericb- 
tigenden  Vorstellungsverbiudungen  wird  er  den  unricbtigen  Gedanken 
nicbt  los.  Daber  aucb  die  Bezeicbnung  Zwangsvorstellung.  Wir 
miissen  voraussetzen,  dass  die  Vorstellungsverbindung,  welcbe  den  Inbalt 
der  Zwangsvorstellung  ausmacbt,  durcb  irgendwelcbe  patbologiscbe  Um- 
stande,  z.  B.  eine  abnorme  Constellation  (s.  o.),  eine  abnorme  Inten- 
sitat  Oder  Energie  erlangt  bat  und  daber  immer  wiederkebrt.  Alle 


Specielle  Associationsstorungon . 


121 


Zwaugsvorstellimgeu  siud  fast  ausnalmislos  von  intensiv  negativen  Ge- 
fiililstouen  begleitet.  Die  Kranken  empfiuden  den  Zwang , dem  sie 
luiterliegen,  als  eine  Qual.  Viele  sprechen  direct  von  den  „Storungen^S 
welclie  sicli  in  ihr  gesundes  Denken  sclieinbar  unvermittelt  hinein- 
driingen. 

Zwangsvorstellungen  treten  nicbt  nur  in  der  Urtheilsform  auf, 
sondern  auch  in  Gestalt  einzelner  Erinnerimgsbilder.  Auch  der  Ge- 
sunde  ist  gelegentlich  solchen  Zwangsvorstellungen  unterworfen.  So 
kann  das  optiscbe  Erinnerungsbild  eines  schreck lichen  Erlebnisses 
oder  das  akustiscbe  einer  einschmeichelnden  Melodie  sich  stunden- 
imd  tagelang  aufzwangen.  In  noch  hoherem  Maasse  findet  dies  bei  ge- 
wissen  Psychosen  statt.  Wahrend  bei  dem  Gesunden  solche  Vorkomm- 
nisse  sich  auf  Erinnerimgsbilder  beschranken,  welche  von  sehr  lebhaften 
Gefiihlstonen  begleitet  sind,  nehmen  bei  dem  Kranken  auch  ganz  gleich- 
giiltige  „triviale'^  Erinnerimgsbilder  den  Charakter  einer  Zwangsvor- 
stellung  an.  Namentlich  bei  der  sog.  Neurasthenie  ist  dies  oft  eines 
der  quiilendsten  Symptome.  Die  akustischen  Zwangsvorstellungen  dieser 
Kategorie  bestehen  zuweilen  aus  ganz  sinn-  und  zusammenhangslos  an- 
einandergereihten  Worten  und  Satzen.  So  klagte  z,  B.  eine  Neura- 
sthenische,  dass  sich  ihr  stundenlang  folgende  Wortklangbilder  auf- 
drangten:  „Letztes  Jahr  6 Monate  weniger  — sei  doch  unvollstiindig 
ruhig  — ein  weiss  und  blaugetupftes  Kleid  — ich  finde  den  Stein  so 
beschiidigt,  dass  man  eben  schwer  — “ Dieselbe  bezeichnete  diese  sinn- 
losen  Vorstellungen,  denen  keinerlei  thatsachliche  Beziehung  zu  Grunde 
lag,  selbst  als  „Zwangsdenken'h  Von  den  friiher  — im  Kapitel  der 
Wahnideen  — beschriebenen  Einfallen  unterscheiden  sich  diese  „abge- 
rissenen  Zwangsvorstellungen dadurch,  dass  der  Kranke  keinen  Augen- 
blick  unter  der  Herrschaft  dieser  Vorstellungen  in  dem  Sinne  steht, 
dass  er  ihnen  irgendwelchen  Glauben  oder  irgendwelches  Gewicht  bei- 
masse.  Er  ist  vielmehr  trostlos  iiber  diese  „sinnlosen  Zwischengedanken", 
die  ihm  jede  concentrirte  und  zusammenhangende  geistige  Thatigkeit 
unmbglich  machen,  Besonders  haufig  sind  es  Zahlenreihen  und  Eigen- 
namen  (Personennamen,  geographische  Worter  etc.),  welche  in  der  be- 
schriebenen Weise  als  Zwangsvorstellungen  in  immerfort  sich  wieder- 
holenden  Reihen  auftreten.  Die  franzosischen  Psychiater  reden  in  alien 
diesen  Fallen  in  sehr  bezeichnender  Weise  von  der*,, Obsession  par  un 
mot“  (=  Wortbesessenheit). 

Eine  weit  grossere  Bedeutung  kommt  denjenigen  Zwangsvor- 
stellungen zu,  welche  in  die  Urtheilsform  gekleidet  sind  und  somit 
direct  zu  den  Wahnvorstellimgen  in  Parallele  gesetzt  werden  konnen. 
Diese  Zwangsvorstellungen  im  engeren  Sinne  entwickeln  sich  fast  stets 
chronisch,  meist  auf  dem  Boden  einer  angeborenen  oder  erworbenen 


122 


Specielle  AssociationsstSrungen. 


neuro-  unci  psychopathisclien  Constitution.  Mit  clieser  chronischen  Ent- 
wicklung  liiingt  auch  ihre  ungemeine  Hartniickigkeit  zusammen.  Vo llige 
Heilungen  von  solchen  Zwangsvorstellungen  sind  selten. 

Ihre  Entsteliungsweise  ist  sehr  verschieden.  Viele  kniipfen 
direct  an  einen  Sinneseindruck  an.  So  sieht  z.  B.  ein  Kranker  ein 
abgebranntes,  von  einem  Auderen  oder  auch  von  ihm  selbst  weggewor- 
fenes  Streichholz  liegen.  Alsbald  steigt  der  Gedanke  in  ihm  auf:  ^Das 
Streichholz  konnte  noch  nicht  ganz  erloschen  sein  und  einen  gefahr- 
lichen  Brand  verursachen".  Dieser  Gedanke  ist  zunachst  noch  ein  ganz 
physiologischer,  wie  ihn  auch  eine  vollig  normale  Ideenassociation  im 
Anschluss  an  die  beziigliche  Empfindung  bilden  konnte  und  oft  genug 
auch  bildet.  Nun  iiberzeugt  sich  der  Kranke,  class  das  Streichhdlzchen 
thatsachlich  vollig  abgebrannt  und  somit  unschadlich  ist.  Der  Gesuncle 
wiircle  sich  mit  einer  solchen  einmaligen,  event,  auch  zweimaligen  Con- 
trole  zufrieclen  geben  und  beruhigt  weiter  gehen.  Der  Kranke  sieht 
zwar  auch  ein,  dass  er  sich  nun  zufrieclen  geben  s o 1 1 1 e und  beruhigt 
weiter  gehen  konnte : seine  gesunden  berichtigenclen  Urtheilsassocia- 
tionen  iiberwiegen,  er  weiss,  class  sein  Gedanke,  das  Streichholz  kbnne 
doch  noch  brennen  und  einen  Brand  erregen,  unrichtig  und  grundlos  ist, 
aber  trotzclem  zwangt  sich  ihm  der  Gedanke,  die  Zwangsvor- 
s tel  lung,  immer  wiecler  auf:  das  Streichholz  kbunte  doch  noch 
brennen  und  doch  zu  einem  Brand  Anlass  geben.  Diesen  Gedanken 
wircl  er  nun,  so  oft  er  sich  auch  von  seiner  thatsachlichen  Unrichtigkeit 
durch  neues  Nachsehen  iiberzeugt,  so  sehr  er  auch  die  Unrichtigkeit 
seiner  Befiirchtung  sich  selbst  vorhillt,  nicht  wiecler  los.  Trotz  besseren 
Wissens  misstraut  er  seinen  Empfinclungen  und  will  sich  immer  wieder 
iiberzeugen.  Nun  kommt  ein  neues  Moment  hinzu.  Bis  jetzt  konnte 
dies  ganze  Geclaukenspiel  sich  fast  affectlos  abspielen.  Jetzt  kommt 
die  Angst  hinzu:  „wenn  clu  nicht  nachsiehst,  so  entsteht  ein  Brand". 
Diese  Angst  kann  die  typischen  Merkmale  einer  Pracorclialangst  an 
sich  tragen.  In  ancleren  Fallen  verlauft  sie  rein  psychisch,  cl.  h.  ohne 
alle  korperlichen  Begleitempfindungen.  Dieser  Gefiihlston  der  Angst, 
welcher  zu  der  Zwangsvorstellung  hinzutritt,  ist  von  grosster  Becleut- 
samkeit.  Es  giebt  jetzt  fiii-  den  Kranken  nur  ein  Mittel,  die  qualvolle 
Angst  und  die  Zwangsvorstellung  los  zu  werden:  er  muss  sich  immer 
wieder  iiberzeugen,*  dass  das  Streichholz chen  thatsachlich  verglommen 
ist.  Es  giebt  Kranke,  welche  eine  ganze  Nacht  hindurch  — bis  zur 
absoluten  korperlichen  Erschopfung  — immer  wieder  nachsehen,  immer 
wiecler  zweifeln  und  immer  wieder  zu  clem  Streichholz  zuriickkehren. 
Die  Zwangsvorstellung  fiihrt  zur  Zwangshancllung.  Trotz 
cles  Ueberwiegens  der  berichtigenden  Urtheilsassociationen  gewiunt  also 
die  Zwangsvorstellung  einen  dominirenclen  einseitigen  Einfluss  auf  das 


Specie! le  Association sstSrun gen . 


123 


Haudelu  der  Krankeu.  Spater  entwickelt  sich  die  Zwangsvorstellung  oft 
in  der  Riclitung  weiter,  dass  sie  von  der  speciellen  Sinnesempfindung, 
an  welche  sie  zuerst  ankniipfte,  unabhiingig  wird.  Der  Kranke  brauclit 
spater  gar  kein  Streicbbblzchen  mebr  zu  selien,  die  Zwangsvorstellung 
niinmt  den  Inbalt  an : es  konnte  irgendwo  ein  Streicbholzchen,  das  noch 
glimmt,  liegen  geblieben  sein  imd  zu  einem  Brand  fiihren.  Der  Kranke 
sucht  nun  allenthalben,  ob  nicbt  irgendwo  ein  Streichholz  liegen  ge- 
blieben ist.  In  seltenen  Fallen  gelit  die  Entwicklung  sogar  noch  einen 
Schritt  weiter:  der  Kranke  liallucinirt  im  Sinne  seiner  Zwangsvorstellung. 
So  kannte  ich  einen  Kranken,  der  die  eben  bescbriebene  Entwicklung 
durcbgemaclit  batte  und  scbliesslicb  auf  der  Strasse  allenthalben  einen 
Feuerschein  zu  sehen  glaubte.  Die  Zwangsvorstellung  des  Brandes  batte 
bier  also  bereits  Einfluss  auf  die  Einpfindungszellen  gewonnen.  Der 
Kranke  war,  wie  von  der  Unricbtigkeit  seiner  Zwangsvorstellung  selbst, 
so  aucb  von  der  Irrealitat  der  unter  ibrem  Einfluss  entstandenen  Hallu- 
cination resp.  Illusion  vollig  uberzeugt,  und  trotzdem  stand  sein  Handeln 
haufig  vollstiindig  unter  dem  Einfluss  seiner  „Feuerscbeinigkeit“,  wie  er 
den  ganzen  Zustand  zu  bezeicbnen  pflegte. 

Die  eben  bescbriebene  Entstebung  der  Zwangsvorstellung  in  An- 
kniipfung  an  eine  wirklicbe  Empfindung  ist  weitaus  am 
baufigsten.  *)  Der  Inbalt  dieser  an  Empfindungen  anknupfenden  Zwangs- 
vorstellungen  iSt  iin  Einzelnen  sebr  mannigfaltig.  Weiter  unten  sowie  in 
der  speciellen  Patbologie  werclen  diese  einzelnen  Formen  genauer  be- 
sprocben  werden.  Die  Entstebungsweise  ist  allenthalben  eine  analoge. 

Bei  vielen  Zwangsvorstellungen  koinmt  zu  der  Objectempflndung 
als  auslosendes  Moment  eine  Korperempflndung  des  Kranken  binzu. 
Ein  Kranker  sieht  von  einer  steilen  Hobe  binunter.  Zuweilen  geniigt 
diese  optiscbe  Empfindung,  die  ZwangSYorstellung  auszulosen:  „du  musst 
dicb  bier  binuntersturzen^^  In  anderen  Fallen  kommt  das  Scbwindel- 
gefiibl  des  eigenen  Korpers,  welches  ja  aucb  den  Gesunden  am  Rand 
eines  steilen  Absturzes  befallen  kann,  als  unterstutzendes  Moment  binzu. 
Aucb  in  diesem  Fall  kann  die  Zwangsvorstellung  so  macbtig  werden, 
dass  der  Kranke  seine  Angehorigen  bittet,  ibn  festzubalten  oder  fort- 
zufiihren,  weil  er  sonst  seiner  Zwangsvorstellung  nacbgeben  und  sicb 
binunterstlirzen  werde. 

In  einer  anderen  Gruppe  von  Fallen  wirken  bei  der  Entstebung  der 
Zwangsvorstellung  von  An  fang  an  Angstaffecte  mit.  Gleicbzeitig 
mit  der  Zwangsvorstellung  tritt  ein  beftiges  Angstgefubl  auf,  welches  meist 


*)  Bei  dieser  associativen  Ankiuipfung  spielen  haufig  auch  Irradiationen  und 
Refiexionen  der  Gefuhlstdne  im  Sinne  der  friiher  erwahnten  Intentionspsychosen 
eine  wichtige  Rolle. 


124 


Specielle  Associationsstorungen. 


von  einei  im  Abdomen  odor  in  der  Herzgegend  beginnenden  und  zum  Koj)f 
aufsteigenden  Empfindung  der  Oppression  und  Warme,  zuweilen  auch 
von  allgemeinem  Zittern  begleitet  ist.  Der  Verlauf  ist  also  z.  B.  fol- 
geuder:  der  Kranke  will  iiber  einen  breiten  Platz  gehen.  Im  Augen- 
blick,  wo  er  den  Platz  vor  sicli  sielit,  taucht  ihm  die  Vorstellung  auf, 
der  Platz  sei  ungeheuer  gross  und  er  kbnne  nicht  iiber  den  Platz  hin- 
iiberkommen,  und  zugleich  iiberfallt  ihn  ein  furchtbares  Angstgefiihl 
init  ausgesprocbenen  Pracordialsensationen.  Bei  der  Entstebung  der 
Zwangsvorstellungen,  welcbe  wir  oben  an  erster  Stelle  besprachen,  spielte 
die  Angst  nui  eine  secundare  Rolle : der  Inbalt  der  Zwangsvorstellung 
bedingte  eine  secundare  Angst.  Bei  der  Entstebung  der  Zwangsvor- 
stellung, welcbe  wir  jetzt  bescbrieben  baberi,  stebt  der  Angstaffect 
durcbaus  coordinirt  neben  der  Zwangsvorstellung.  Er  tritt  gewsser- 
maassen  direct  als  ibr  Gefublston  auf. 

In  einer  dritten  Gruppe  von  Fallen  gebt  der  Angstaffect  der  Zwangs- 
vorstellung voran.  Letztere  entstebt,  wie  man  aucb  sagen  kann,  auf 
dem  Boden  der  ersteren.  Oft  erscbeint  die  Zwangsvorstellung  geradezu 
als  nacbtraglicber  Erklarungsversucb  der  Angst,  abnlicb  wie  dies  friiber 
fiir  eine  bestimmte  Gruppe  der  Wabnvorstellungen  erlautert  worden  ist. 
So  giebt  es  Kranke,  die  nur  in  Augstanfallen  Zwangsvorstellungen 
haben.  Im  Ganzen  ist  diese  Entstebung  seltener. 

Den  seitber  besprocbenen  Entstebungsweisen  war  die  Ankniipfung 
an  eine  normale  Sinnesempfindung  gemeinsam ; verscbieden  war  nur  die 
Rolle,  welcbe  die  Angst  bei  dem  Zustandekommen  der  Zwangsvorstellung 
spielte.  In  einer  weiteren  Reibe  von  Fallen  entstebt  die  Zwangsvorstellung 
obne  jede  Anlebnung  an  eine  Sinnesempfindung.  So  kannte  icb  einen 
jugendlicben  Kranken,  dem  sich  fortwabrend  obscone  Vorstellungen  gauz 
widersinnigen  Inbalts  beziiglicb  der  Person  Gottes  aufdrangten.  So 
konnte  er  z.  B.  den  Gedanken  nicbt  loswerden:  „Gott  masturbirt  mit 
einem  Elepbanten".  Er  war  emport,  dass  er  auf  solcbe  Gedanken 
kommen  konne,  und  war  aucb  von  der  Sinnlosigkeit  dieser  Vorstellung 
durcbaus  iiberzeugt , vermocbte  diese  Zwangsvorstellung  aber  nicbt 
wieder  los  zu  werden.  Aucb  bei  diesen  von  Sinnesempfindungen  ganz 
unabbaugig  aufscbiessenden  Zwangsvorstellungen  wirken  * Angstaffecte 
bald  mit  bald  nicht.  So  feblten  z.  B.  in  dem  soeben  erwiibnten  Falle 
Angstaffecte  vollstandig.  In  anderen  Fallen  spielen  Angstaffecte  eine 
dominirende  Rolle.  So  kommt  z.  B.  einer  Kranken  in  ibren  Angst- 
anfallen  ofter  der  Gedanke,  „sie  babe  in  sexuellen  Beziebungen  zu 
Jesus  Christus  gestanden^^  Die  Angst  ging  bier  der  Zwangsvorstellung 
stets  voraus.  Von  der  thatsacblicben  Unricbtigkeit  der  Vorstellung  war 
die  Kranke  stets  iiberzeugt.  Sie  warf  sicb  nicbt  etwa  im  Sinn  der 
friiher  besprocbenen  Wabnvorstellungen  der  Angst  sexuellen  Verkebr 


Specielle  Associationsstorungen. 


125 


mit  Cliristus  vor,  soncleru  der  Gedanke  zwaugte  sick  ilir  trotz  besseren 
Wissens  in  der  Angst  immer  wieder  auf.  Was  sie  sich  vorwarf,  war 
hdcbstens  dies,  dass  sie  iiberbaupt  auf  solcbe  sinnlosen  iind  scblecbten 
Gedanken  kommen  konne.  — Im  Allgemeineu  ist  diese  Entstehungs- 
weise  der  Zwangsvorstellungen  obue  Anlebnung  an  Empfindungen  — 
sei  es  mit  sei  es  obue  Angst  — erbeblicb  seltener. 

Der  In  bait  der  Zwangsvorstellungen  ist  fast  ebenso  mannicbfacb 
wie  derjeuige  der  Wabnvorstellungen.  Die  Beziebung  auf  das  Icb  feblt 
sebr  selten.  Fast  ausnabmslos  ist  der  Inbalt  ein  ganz  trivialer  oder 
ansgesprocbeu  unangenebmer.  Angenebme  Zwangsvorstellungen  — etwa 
im  Sinne  einer  Grdssenidee  — sind  ausserordentlicb  selten.  Speciell 
fiir  die  an  eine  bestimmte  Empfindung  angelebnten  Zwangsvorstellungen 
bat  man  eine  grosse  Zabl  specieller  Bezeicbnungen  je  nacb  dem  be- 
sonderen  Inbalt  aufgestellt.  So  bezeicbnet  man  als  Claustropbobie  die 
von  Angst  begleitete  Zwangsvorstellung,  welcbe  von  der  optiscben  Empfin- 
dung eines  gescblossenen  Raumes  (Theater,  Eisenbabncoupe  etc.)  aus- 
gelost  wird.  Dabei  ist  im  Eiuzelnen  der  Inbalt  einer  solcben  Zwangs- 
vorstelbmg  des  Claustropboben  nocb  weiterbin  sebr  variabel.  Bei  dem 
einen  Kranken  ist  es  der  Gedanke,  ein  Feuer  konne  ausbrecben  uud 
der  Ausweg  versperrt  sein,  bei  dem  anderen  ist  es  der  Gedanke,  eine 
plotzlicbe  Notbdurft  konne  ibn  liberkommen  nnd  er  sei  nicbt  in  der 
Lage,  dieselbe  zu  befriedigen.  Gemeinsam  ist  alien  diesen  claustro- 
pboben Zwangsvorstellungen  der  Gedanke,  der  Ausweg  aus  eiuem  ge- 
scblossenen Raume  sei  iinmbglicb  nnd  daber  der  Aiifeutbalt  darin 
mit  Gefabr  verkniipft.  Als  Aicbmopbobie  bezeicbnet  man  die  Zwaugs- 
vorstelbmg,  welcbe  an  die  optiscbe  Empfindung  eines  spitzen  Gegen- 
standes  ankniipft  nnd  in  dem  Gedanken  gipfelt,  der  bez.  spitze 
Gegenstand  konne  irgendwie  dem  Kranken  selbst  oder  seiner  Umgebuug 
scbaden  (z.  B.  eine  Nadel  konne  in  das  Essen  geratben  nnd  verscbluckt 
werden).  Der  Mysopbobe  wird  von  der  Zwangsvorstellung  beberrscbt, 
an  seinem  Kbrper  oder  an  den  Gegenstiinden  seiner  Umgebung  bafte 
Scbmutz.  Stundenlang  wascbt  er  sicb  daber  immer  wieder  nnd  ent- 
weder  biirstet  nnd  putzt  er  obne  Aufboren  alle  Gegenstande  seiner  Um- 
gebung, oder  er  vermeidet  angstlicb  jede  Beriibrung  mit  irgend  einem 
Gegenstand,  aus  Furcbt  sicb  zu  bescbmutzen.*)  Der  Agorapbobie  oder 
Platzaugst  wurde  bereits  oben  gedacbt.  Anderer  einzelner  Zwaugsvor- 
stellungen  wird  spater  bei  Besprecbung  des  „Irreseins  aus  Zwangsvor- 
stellungen"  zu  gedenken  sein. 

Nicbt  selten  treten  die  Zwangsvorstellungen  aucb  in  Frageform 
auf.  Meist  ganz  plotzlicb  scbiesst  dem  Kranken  beim  Anblick  eines 


*)  Ddlire  du  toucher  der  franzosischen  Autoren. 


126 


Specielle  Associationsstor ungen. 


einfuclien  Gegeustandes  der  Gedanke  auf:  wunim  ist  derselbe  so  be-  ; 
schaffen,  wie  er  ist,  uud  uicht  anders?  warum  lieisst  er  so,  wie  er 
heisst,  und  nicht  anders?  warum  liat  z.  lb  der  Tisch  4 Ecken,  warum 
siud  die  Blatter  griin  u.  s.  w.  Eiue  unwiderstehliche  Angst  treibt  den  [ 
Kranken  imnier  wicder  zu  diesem  Fragen  und  Griibeln  zuriick.  Das  un- 
riclitige  Urtheil,  welches  dieser  sog.  Griibelsucht  *)  dunkel  zu  Grunde  liegt, 
besteht  darin,  dass  fiir  das  Viereckigsein  des  Tisches,  die  griine  Farbe 
der  Blatter  u.  s.  w.  eine  besondere  bedeutsame  Ursache  vorausgesetzt  wird. 
Dabei  ist  der  Kranke  sich  liber  die  Irrthiimlichkeit  dieser  Voraus- 
setzung  vdllig  klar,  er  argert  sich  selbst  liber  die  Sinnlosigkeit  und 
Trivialitat  der  sich  ihm  in  monotonster  Weise  aufdrangenden  Fragen, 
und  doch  wird  er  dieselben  nicht  los.  Die  allgemeinen  Kriterien  jeder 
Zwangsvorstellung  linden  sich  also  auch  hier,  das  Besondere  dieser 
Zwangsvorstellungen  ist  nur  die  Frageform.  Die  Anknlipfung  an  eine 
Empfindung  kann  auch  hier  fehlen.  So  giebt  es  z.  B.  Kranke,  welchen 
sich  fortwahrend  die  trivialsten  metaphysischen  Fragen  („was  ist  nichts? 
wann  ist  die  Welt  erschaffen  worden?''  u.  s.  w.)  aufdrangen.  **) 

Sehr  charakteristisch  ist  fiir  die  meisten  Zwangsvorstellungen  die 
Neigung  zu  stereotypen  Wiederholungen.  Mit  der  grossten  Mouotonie 
kann  Jahrzehnte  lang  eine  und  dieselbe  Zwangsvorstellung  den  Kranken 
qulilen.  Wechselvoller  kann  der  Inbalt  der  oben  erwlihnten  einzelnen 
Zwangsvorstellungen  (ohne  Urtheilsform)  sein. 

Einfluss  der  Zwangsvorstellungen  auf  die  Beweguugen 
bezw.  Handlungen.  Es  ist  schon  hervorgehoben  worden,  dass  die 
Zwangsvorstellung  trotz  des  sie  begleitenden  Krankheitsbewusstseins  auf 
(las  Handeln  des  Kranken  einen  liberwiegenden  Einfluss  auslibt.  Sie  ver- 
dankt  denselben  theils  ihrer  abnorinen  Intensitat,  theils  ihrer  steteu 
Wiederkehr,  theils  eudlich  nameutlich  dem  begleitenden  Augstgefllhl. 
Die  Zwangsvorstellung  selbst  ist  dem  Kranken  qualvoll,  und  doch  treibt 
ihn  seine  Angst,  im  Sinne  der  Zwangsvorstellungen  zu  handeln.  Die 
Angst  llisst  ihm  keine  Ruhe,  bis  er  nachgegeben  hat.  In  diesem  Sinne 
kann  sogar  zuweilen  das  Nachgeben  mit  einem  eigenartigen  Geflihl 
fast  wolllistiger  Befriedigung  verknlipft  sein.  Die  Zwangsvorstellung 
fllhrt  zur  Zwangshandlung.  In  vielen  Fallen  enthalt  die  Zwangsvor- 
stellung bereits  ein  motorisches  Element.  Die  Zwangsvorstellung 
kann  geradezu  in  der  immer  wiederkehrenden , abnorm  inten- 
siven  Vorstellung  bestehen,  eine  bestimmte  Bewegung  oder  Hand- 

*)  Folie  de  doute  der  franzosischen  Autoren. 

**)  Eine  Fragesucht,  d.  h.  ein  Ueberwiegen  der  Associationen  in  Frageform, 
kommt  auch  obne  Krankheitsbewusstsein,  also  einer  Wabnidee  vergleichbar,  gelegent- 
lich  vor,  so  namentlich  in  den  Erregungszustanden  des  angeborenen  und  erworbenen 
Schwachsinns  (z.  B.  der  Dementia  paralytica). 


Specielle  Associationsstorungen. 


127 


luug  ausfiiliren  zu  miissen.  Der  Kranke  hat  z.  B.  die  qualende  Vor- 
stelliiug,  er  raiisse  eineu  bestimmten  Gegenstand  beriihren,  sonst 
geschehe  ein  Uugliick.  Er  ist  sich  des  Widersinuigen  und  Krankhaften 
dieser  Vorstellung  vollig  bewusst,  er  weiss,  dass  er  den  Gegenstand 
nicht  beriihren  muss,  dass  die  Unterlassung  der  Beriihrung  kein  Un- 
gliick  nach  sich  ziehen  kann,  und  doch  siegt  die  Zwangsvorstellung : er 
beriihrt  den  beziiglichen  Gegenstand  immer  wieder.  In  diesem  Falle 
und  in  vielen  ahnlichen  liegt  die  motorische  Tendenz  der  Zwangsvor- 
stellung auf  der  Hand.  Es  kann  sogar  zuweilen  auch  noch  die  Vor- 
stellung, im  Falle  der  Unterlassung  der  Bewegung  geschehe  ein  Un- 
gliick,  fehlen:  dann  beschrankt  sich  die  Zwangsvorstellung  einfach  auf 
die  unmotivirte,  auch  einer  Scheinmotivirung  entbehrende  Vorstellung,  eine 
bestimmte  Handlung  oder  Bewegung  ausfiihren  zu  miissen.  Bei 
manchen  Kranken  ist  die  Zwangshandlung  das  gerade  Gegentheil  dessen, 
was  sie  im  Augenblick  zu  thun  beabsichtigten.  Bei  jedem  Versuch  eine 
beabsichtigte  Bewegung  auszufiihren  tritt  die  Zwangsvorstellung  auf,  die 
entgegengesetzte  Bewegung  ausfiihren  zu  miissen. 

Je  nach  dem  Inhalt  der  Zwangsvorstellung  ist  uatiirlich  die  re- 
sultirende  Zwangshandlung  sehr  verschieden.  Am  leichtesteu  ist 
die  motorische  Entladung  derjenigen  Zwangsvorstellungen  zu  iibersehen, 
welche  nicht  in  Urtheilsform,  sondern  in  Gestalt  e in  z einer  Erinuerungs- 
bilder  sich  dem  Kranken  aufdrangen.  Wenn  dem  Kranken  sich  Wort- 
klangbilder  oder  Erinnerungsbilder  von  Melodien  aufdrangen,  so  fiihlt 
er  meist  zugleich  auch  den  Drang  oder  Zwang,  die  beziiglichen 
Worte  auszusprechen  oder  die  Melodie  mitzusummen.  Zu  dem  Zwangs- 
denken  kommt  das  Zwangsreden  hiuzu.  Nicht  selten  iibersieht  dabei 
der  Kranke  das  Zwangsdenkeu  selbst  vollstandig  iiber  dem  Zwangs- 
reden und  berichtet  dem  Arzt  nur,  dass  ihm  immer  unwillkiirlich 
Worte  auf  die  Zunge  kameu.  Dann  scheint  die  Zwangsvorstellung  ganz 
auf  das  motorische  Gebiet  der  Sprache  beschrankt.  Doch  ist  es  aus 
manchen  Griinden  wahrscheinlich,  dass  auch  in  diesen  Fallen  wenigstens 
das  akustische  Wortbild  miterregt  wird.  In  einer  ganz  eigenthiimlichen 
Vergesellschaftung  tritt  uns  dies  Zwangssprechen  und  zwar  speciell  das 
Zwangssprechen  obsconer  Worte*)  bei  der  sog.  Maladie  des  tics  ent- 
gegen:  es  besteht  hier  gleichzeitig  sog.  Echolalie,  d.  h.  eine  Neigung 
zum  unwillkiirlichen  Nachsprechen  gehorter  Worte,  sowie  eine  Neigung 
zu  unwillkiirlichen  coordinirten  Bewegungen  der  Gesichtsmuskeln 
(Grimassiren). 

Erheblich  complicirter  gestalten  sich  die  motorischen  Effecte  der- 
jenigen Zwangsvorstellungen,  welche  in  Urtheilsform  auftreten.  Die 


*)  Die  sog.  Koprolalie. 


128 


Spocielle  Associationsstorungen . 


BeeinHussung  cles  Ilandelns  wurde  oben  bereits  in  mebreren  Beispielen 
hervorgehoben  und  der  psychologische  Mechanismus  dieser  Zwangs- 
baiidlungen  dargelegt.  Viele  Zwangsvorstellungen  haben  geradezu  ver- 
suclienden,  imperativeu  oder  prohibitivon  Inbalt.  Andere  haben  vor- 
zugsweise  einen  heinmenden  Einfluss,  Der  Kranke  mit  Platzangst  meidet 
alle  freien  Platze.  Aiis  Angst  vor  der  Platzangst  wagt  er  sich  schliess- 
licli  oft  kaum  mehr  aus  seiner  Wohnung  beraus.  Ein  anderer  Kranker 
wil’d  von  der  Zwangsvorstellung  beherrsclit,  er  iniisse  alle  Personennamen, 
die  er  sielit  oder  hort,  sich  merken;  er  verbringt  seinen  ganzen  Tag 
damit,  dass  er  alle  ihm  aufstosseuden  und  friiher  aufgestossenen  Namen 
von  beliebigen  Personen  auf  Zettelchen  schreibt  und  auswendig  lernt. 
Iin  ersteren  Fall  ist  der  Einfluss  der  Zwangsvorstellung  vorwiegend 
prohibitiv,  im  letzteren  vorwiegend  imperativ. 

Wenn  der  Kranke  der  motorischen  Versuchung  der  Zwangsvorstellung 
nachgegeben  hat,  so  pflegt  momentan  die  Zwangsvorstellung  und  die 
sie  begleitende  Angst  nachzulassen.  Sobald  er  sich  jedoch  wieder  zu 
anderer  Thatigkeit  wenden  will,  erhebt  sich  die  Zwangsvorstellung  und 
mit  ihr  die  Angst  wieder.  Haufig  misstrauen  die  Kranken  der  Realitat 
ihrer  eigenen  Handlungen  und  Empfindungen.  Sie  haben  z.  B.  eben 
eine  Thiir  verschlossen,  aber  sofort  quixlt  sie  der  Gedanke : habe  ich  die 
Thiir  auch  wirklich  verschlossen  oder  den  Gashahn  auch  wirklich  vollig 
umgedreht  und  dergl.  mehr. 

Schon  oben  wurde  erwillint,  dass  in  selteneren  Fallen  die  Zwangs- 
vorstellungen  auch  zu  hallucinatorischen  oder  illusionaren  Tiluschungen 
fiihreu  konnen.  Eine  andere  Wirkung  mancher  Zwangsvorstellungen 
besteht  in  einer  motorischen  Lahmung,  welche  ganz  der  durch  hypo- 
chondrische  Wahnvorstellungen  bedingten  Lahmung  (s.  o.)  entspricht. 
So  kommt  es  vor,  dass  der  Agoraphobe,  welcher  trotz  seiner  Zwangs- 
vorstellung sich  auf  einen  freien  Platz  wagt,  plotzlich  solchen  Schwindel 
und  solche  Scliwache  in  den  Beinen  fiihlt,  dass  er  sich  nicht  mehr  auf- 
recht  zu  erhalten  vermag : eine  psychisch  bedingte  Ataxie  oder  Paraparese 
ist  eingetreten,  oder,  mit  anderen  Worten,  die  Vorstellung  nicht  gehen 
zu  konnen  hat,  obvvohl  der  Kranke  sie  fiir  uurichtig  hiUt,  doch  seine 
Motilitiit  beeinflusst. 

In  manchen  Fallen  liisst  sich  sogar  ein  Einfluss  der  Zwangsvor- 
stellung auf  die  glatte  Musculatur  des  Korpers  nachweisen.  Die  Zwangs- 
vorstellung „errothen  zu  iniisseiP^  fiihrt  z.  B.  meist  secundar  zu  eiiiem 
wirklichen  Errothen.  Ein  Lehrer,  der  von  der  Zwangsvorstellung  be- 
herrscht  wurde,  eine  plotzliche  Nothdurft  kcinne  ihn  ankommen,  sobald 
er  in  der  Kirche  oder  im  Schulzimmer  oder  in  der  Gemeinderathssitzung 
sich  befande,  also  kurz  in  einem  Augenblick,  avo  er  nicht  sofort  ab- 
kommen  und  einen  etwaigen  Stuhldrang  befriedigen  kann,  In  bite  regel- 


Specielle  Associationsstorungen. 


129 


milssig,  wenn  er  trotz  seiner  Angst  sich  an  seiche  Orte  wagte,  ausge- 
sprochenen  Stiililclrang  und  wurde  hiinfig  thatsiichlich  von  heftigen 
Diarrlioen  befallen,  welclie  bei  anderen  Gelegenbeiten  nie  auftraten  und 
aucb  bald  nacb  dem  Verlassen  des  bez.  Platzes  aufborten. 

Vorkoininen  nnd  Diagnose  der  Zwangsvorstellungen. 
Vereinzelte  Zwangsvorstellungen  finden  sicb  aucb  bei  dem  Gesundeu. 
Der  Hartnackigkeit , mit  welcber  ziiweilen  einschmeicbelnde  Melodien 
und  scbrecklicbe  Bilder  sicb  dem  Gesunden  aufdrangen,  wurde  obeu 
bereits  gedacbt.  Ganz  gesunde  Individuen  konnen  mitunter  den  Ge- 
danken  nicbt  loswerden,  unter  ibrem  Bett  — namentlicb  in  fremdem 
Hause  — babe  sicb  demand  versteckt,  und  misstrauen  ihren  eigenen 
Empfindungen,  insofern  sie  sicb  mit  einmaligem  Nacbseben  unter  dem 
Bett  nicbt  begniigen,  sondern  „um  ihrer  Rube  willen^^  trotz  des  Ein- 
sprucbs  ibres  Verstandes  das  Nacbseben  drei-,  viermal  wiederboleu. 
Wie  uberall  sind  aucb  bier  die  Grenzen  zwiscben  geistiger  Gesundbeit 
und  geistiger  Krankheit  keine  scbarfen. 

Ausgesprocbene  Zwangsvorstellungen  kommen  namentlicb  bei 
folgenden  Krankbeiten  vor: 

1.  Neurastbenie; 

2.  Melancbolie  und 

3.  namentlicb  bei  dem  „Irresein  aus  Zwaugsvorstelbmgeu^b 

Bei  letzterem  spielen  die  Zwangsvorstellungen  die  Rolle  des  domi- 

nireuden  Hauptsymptoms.  Bei  der  Melancbolie  finden  sie  sicb  nebeu 
den  typiscb-melancboliscben  W a b n vorstellungen  der  Selbstanklage.  Das 
neurastbeniscbe  Irreseiu  verbindet  sicb  fast  in  einem  Drittel  aller  Falle 
mit  mebr  oder  weniger  deutlicb  ausgepragten  Zwangsvorstellungen  irgend- 
welcber  Art.  Endlicb  ist  zu  erwahnen,  dass  gelegentlicb  Zwaugsvor- 
stelluugen  und  speciell  aucb  impulsive  Zwangsbandlungen  bei  erblicb 
belasteten  Individuen  plotzlicb  isolirt  auftreten,  um  dann  lange  Zeit 
wieder  vollig  auszubleiben.  Gerade  diese  Falle  sind  durcb  ibren  un- 
widersteblicbeu  Einfiuss  auf  das  Flandelu,  die  „ obsession  irresistible^^  aus- 
gezeicbnet.  — In  selteneren  Fallen  beobachtet  man  Zwangsvorstellungen 
als  Vorlaufersymptome  schwerer  organischer  Hirnerkrankuugen,  so  nament- 
licb der  Dementia  i^aralytica. 

Sebr  auffallig  ist,  wie  selteu  sich  aus  Zwangsvorstellungen  wirklicbe 
AA  abnvorstellungen  entwickeln.  So  sebr  die  meisten  Kranken,  welcbe 
an  Zwangsvorstellungen  leiden,  furcbten  geisteskrank  zu  werden,  so 
selten  verwirklicht  sich  diese  Befurcbtuug.  Die  Wabnidee  berubt  stets 
auf  einer  scbweren  allgemeineren  Denkstorung,  die  Zwangsvorstelluug 
ist  in  der  That  nur  eine  parti  el  le  Denkstorung.  Aucb  das  gleicb- 
zeitige  Vorkommen  von  Zwangsvorstellungen  und  Wahnideen  bei  ein 
und  demselbeu  Individuum  ist  selten, 

Zielien,  Psycbiatrie. 


9 


130  Specielle  Associationsstorungen. 

pie  Erkeunung  von  Zwangsvorstellungen  bietet  oft  grosse 
bchwierigkeit.  /unachst  iiliersieht  man  dieselben.  selir  haufig,  weil 
die  Kranken  dissimulii’en.  Die  Furcht  geisteskrank  zu  scheinen  macht 
die  meisten  Kranken  mit  Zwangsvorstellungen  ungemein  sclieu  und 
zui  iickbaltend , selbst  deni  Arzt  gegeniiber.  Auch  gelingt  es  ilinen 
ofters,  in  Gegenwart  Fremder  voriibergehend  den  Einfluss  der  Zwangs- 
vorstellungen auf  ihr  Handeln  abzuwehren.  Der  Arzt  ist  gerade  in 
diesen  Fallen  oft  auf  eine  Befragung  der  xiugeborigeu  angewiesen. 

Verwechselt  kann  die  Zwangsvorstellung  werden  mit  der  lYahn- 
vorstellung.  Zwar  scbeint  in  dem  mangelnden  Krankheitsbewusstsein 
der  letzteren  ein  leiclites  Unterscheidungsmerkmal  gegeben,  aber  dieses 
versagt  ab  und  zu.  Audi  der  Kranke  mit  Wabnvorstellungen  bat  zu- 
weilen  ein  gewisses  Krankheitsbewusstsein.  Er  schwankt,  ob  er  die 
primar  auftauchenden  oder  von  Hallucinationen  ihm  suggerirten  Wahn- 
vorstellungen  acceptiren  soil  oder  nicht.  Diesem  Kampf  gegen  die 
Walinidee  begegnen  wir  in  unzahligen  Fallen.  Das  Zweifeln  des 
Kranken  spricht  durchaus  nicht  gegen  das  Bestehen  wu’klicher  Wahn- 
vorstellungen.  Ein  Kranker,  der  gegeniiber  seinen  unrichtigen  Urtheils- 
associationen  z we  if  e It,  hat  keine  Zwangsvorstellung.  Fiii’  diese  ist  es 
gerade  charakteristisch,  dass  der  Kranke  keinenAugenblick  zweifelt, 
sondern  stets  ohne  weitere  Ueberlegung  die  vollige  Unrichtigkeit  seiner 
Vorstellung  zugiebt.  Er  fiihlt  selbst  durchaus  klar,  dass  die  Zwaugs- 
vorstellung  sich  als  ein  fremdes,  krankhaftes  Element  in  sein  Denken 
eingedrangt  hat.  Selbst  bei'  ungebildeten  Kranken  ist  man  haufig  iiber- 
rascht,  wie  klar  dieselben  dies  Krankheitsbewusstsein  festhalten  und 
iiiissern,  so  sehr  sie  auch  in  ilireni  Handeln  von  denselben  Zwangs- 
vorstellungen beherrscht  werden.  „Ich  iiiuss^',  aussern  alle  diese  Kranken 
auf  Vorhalt  dem  Arzt  gegeniiber.  Nun  kommt  es  ja  allerdings  vor, 
dass  auch  Kranke  mit  Wahnvorstellungen  gelegentlich  aussern:  „man 
macht  mir  diese  oder  jene  absonderlichen  Gedanken“  oder  „man  giebt 
mir  dies  oder  jenes  in  die  Gedanken,  man  zwingt  iiiich,  dieses  oder 
jenes  zu  denken".  Aber  diese  Kranken  weisen  solche  Gedanken,  wenn 
sie  dieselben  auch  als  aufgezwungen  bezeichneu,  nicht  a limine  ab;  sie 
zweifeln,  und  meist  endet  der  Zweifel  nach  langeni  Kampf  schliesslich 
doch  mit  einer  Niederlage,  d.  h.  mit  einer  Anerkennung  der  wahnhaften 
Gedanken.  Der  Zweifel  verriith  uns  auch  in  diesen  Fallen,  dass  keine 
Zwangsvorstellung,  sondern  eine  aufkeimende  Wahnidee  vorliegt.  Auch 
kommt  uns  meist  ein  weiteres  Merkmal  zu  Hiilfe.  Diejenigen  Kranken, 
welche  ihre  Wahnvorstellungen  zunachst  noch  als  ein  fremdes,  aufge- 
zwungenes  Element  Hires  Denkens  betrachten,  kniipfen  meist  hieran  so- 
fort  wieder  eine  ueue  Wahuvorstellung,  insofern  sie  behaupten,  Persouen 
ihrer  Umgebung  hiitten  durch  irgendwelche  Einfiiisse,  Gift  oder  Mague- 


Specielle  Associationsstoriingen. 


131 


tismus  orler  gelieimnissvolle  Gedankeniibertragiing  irgenclwelcher  Art, 
eben  diese  imricbtigen  oder  absonderlichen  Vorstellungen  in  ihneii  er- 
regt.  Indem  sie  also  die  eine  Wahnidee  zum  Theil  corrigiren,  bilden 
sie  eine  iieiie  ebenso  wabnhafte  Vorstellung  (den  „Wabn  der  Zwangs- 
vorstellnng").  Bei  der  echten  Zwangsvorstellung  ist  dies  niemals  der 
Fall.  Hier  bezeicbnet  der  Kranke  den  Zwang,  dem  er  unterliegt,  fast 
ausnabinslos  selbst  als  einen  krankbaften. 

Besonders  scliwer  kann  gelegentlich  die  Unterscbeidung  einer  Zwangs- 
vorstellung von  einer  bypochondrischen  Wahnvorstellung  werden,  da 
beide  unter  ganz  ahnlichen  Umstanden  aiiftreten  und  zu  ganz  ahnlichen 
motoriscben  Folgeerscbeinungen  fiibren  konnen.  So  kann  z.  B.  der 
ganze  Symptomencomplex  der  oben  erwabnten  Agoraphobie  oder  Platz- 
angst  gelegentlich  aucli  in  Abhangigkeit  von  einer  bypochondrischen 
Wahnvorstellung  auftreten,  d.  h.  den  Kranken  befallt  bei  dem  Anblick 
eines  grosseren  Platzes,  den  er  liberschreiten  soil,  plotzlich  — entweder 
ohne  oder  haufiger  mit  Angst  — die  Wahnvorstellung:  Du  kannst  den 
Platz  nicht  liberschreiten,  deine  Beine  werden  versagen,  der  Schlag  rlihrt 
dich  u.  dgl.  m.  Dabei  zweifelt  jedoch  der  Kranke  an  der  Kichtigkeit  dieser 
bypochondrischen  Wahn vorstellungen  keinen  Augenblick,  wahrend  der 
Kranke,  dessen  Agoraphobie  auf  Zwangsvorstellung  beruht,  die 
absolute  Unrichtigkeit  und  Grundlosigkeit  der  sich  ihm  aufdrangenden 
Vorstellungen  keinen  Augenblick  in  Frage  zieht.  Der  motorische  Effect 
hingegen  kann  in  beiden  Fallen  ganz  derselbe  seiu.  Auch  der  Kranke 
mit  der  bypochondrischen  Wahnvorstellung  versucht  vergebens  iiber  den 
Platz  zu  kommen  und  macht  oft  weite  Umwege,  um  solche  Platze  zu 
vermeiden.  Auch  bei  ihm  kann  die  unrichtige  Vorstellung  sogar  ge- 
legentlich zu  einer  psychischen  Lahmung  fiihren:  d.  h.  es  kann  dahin 
kommen,  dass  der  Kranke  schwankt  oder  wirklich  zusammenbricht  oder 
auch  keinen  Fuss  mehr  vorwarts  zu  setzen  vermag  und  wie  festgebannt 
stehen  bleiben  muss. 

Auch  die  Unterscbeidung  mancher  Zwangsvorstellungen  *)  von  den 
friiher  erwabnten  incoharenten  Einfallen  wahnhaften  bezw.  ganz  sinn- 
losen  Inhalts  kann  zuweilen  Schwierigkeit  machen.  Auch  hier  ist  ent- 
scheidend,  ob  der  Kranke  die  abgerissen  sich  ihm  aufdrangenden  Ge- 
danken  bezw.  einzelnen  Vorstellungen  von  Anfang  an  und  durchaus  als 
seinem  gesunden  Denken  widersprechend  und  aufgezwungen  betrachtet 
oder  ob  sein  Denken  in  diesen  Einfallen  aufgeht,  diese  somit  als  be- 
rechtigter  und  integrirender  Theil  des  ersteren  anerkannt  werden.  Im 
ersteren  Fall  liegt  eine  Zwangsvorstellung,  bezw.  Zwangsdenken,  im 
letzteren  ein  wahnhafter  Einfall  bezw.  eine  Wahnidee  vor.  Uebrigens 

*)  Namentlich  jener  seltenen  Zwangsvorstellungen,  welche  inhaltlich  wechseln 
und  ott  auf  einzelne  Erinnerungsbilder  ohne  Urtheilsverbindung  sich  beschranken. 

9* 


132 


Specielle  Associationsstorungen. 


kommeu  zwisclieu  diesen  einzelnen  Zwangsvorstellungen  und  diesen  wahri- 
liafteu  Einfalleu  weit  ofter  Uebergangc  vor  als  zwischen  den  complicirten 
Zwangsvorstellungen  (in  Urtheilsform)  und  den  complicirten  Walui- 
vorstellungen.  ' 

Defecte  der  Urtlieilsassociationen  (Urtlieilsschwache). 

Jedes  Urtheil  ist  das  Ergebniss  des  Zusammcnwirkens  einer  grossen 
Zalil  einzelner  Associationen.  Schon  bei  dem  Urtheil:  „Die  Rose  blUht 
roth“  betheiligen  sich  zahllose  einzelne  Erinnerungsbilder  mit  zabllosen 
associativen  Verkniipfungen.  Der  Inhalt  des  Urtheils  ist  von  der  Con- 
stellation aller  dieser  Erinnerungsbilder  und  ihrer  associativen  Ver- 
knilpfungen  abhangig.  Die  Richtigkeit  des  Urtheils  leidet,  sobald  die 
fiir  das  Urtheil  in  Betracht  kommenden  Erinnerungsbilder  und  deren 
associative  Verkniipfungen  eine  erheblichere  Veranderung  erleiden.  Bei 
der  Wahnvorstellung  und  bei  der  Zwangsvorstellung  wird  die  Unrichtig- 
keit  der  Urtheile  dadurch  bedingt,  dass  einzelne  associative  Verkniipfungen 
und  einzelne  Erinnerungsbilder  einen  abnormen  Einfluss  auf  die  Ideen- 
association  gewinnen  und  letztere  der  Controle  und  der  Re^dsion  durch  die 
Empfindungen  entziehen.  Unrich tige  Urtheile  konnen  jedoch  auch  da- 
durch zu  Stande  kommen,  dass  einzelne  Erinnerungsbilder  und  einzelne 
associative  Verkniipfungen  feblen,  entweder  weil  sie  nie  gebildet 
Oder  weil  sie  im  Verlauf  einer  Psychose  zerstort  worden  sind.  Es  ist 
friiher  erwahnt  worden,  dass  man  diesen  Mangel  an  Erinnerungsbildern 
und  associativen  Verkniipfungen  — er  sei  augeboren  oder  erworben 
— auch  als  I ntelligenz defect  oder  Schwachsinn  bezeichnet  und 
dementsprechend  einen  angeborenen  und  einen  erworbenen  Intelligeuz- 
defect  oder  Schwachsinn  unterscheidet.  Dieser  Intelligenzdefect  iiiissert 
sich  nicht  nur  in  dem  Mangel  an  einzelnen  Erinnerungsbildern  und 
associativen  Verkniipfungen,  sondern  regehniissig  auch  in  unrichtigen 
Urtheilen,  welche  eben  durch  den  Mangel  an  Erinnerungsbildern  und 
associativen  Verkniipfungen  bedingt  werden.  Dies  zweite  Symptom  des 
Schwachsinns  bezeichnet  man  auch  kurz  als  Urtheilsschwiiche. 
Armuth  an  V orstellungen  und  assoc'iativen  Verkniipfungen 
sowie  Urtheilsschwache  machen  das  Wesen  des  Intelli- 
genzdefectes,. des  erworbenen  wie  des  angeborenen  Schwach- 
sinns a us.  Die  Urtheilsschwache  hat  mit  der  Wahnidee  die  sachliche 
Unrichtigkeit  der  Urtheile  gemein,  aber  beide  unterscheiden  sich  in  der 
Eutstehung:  das  unrichtige  Urtheil  des  Intelligenzdefects  kommt  durch 
Defecte  der  Erinnerungsbilder  und  associativen  Verkniipfungen  zu 
Stande,  dasjenige  der  Wahnidee  durch  einseitiges  Ueberwiegen  einzelner 
Erinnerungsbilder  und  associative!’  Verkniipfungen. 


Specielle  AssociationsstOrungen. 


133 


Die  Urtheilsscliwache,  die  angeborene  wie  die  erworbene,  kommt  in 
den  verscliiedensten  Graden  vor,  von  der  leichtesten  Kritildosigkeit  bis 
zur  Yolligen  Urtlieilslosigkeit.  Erstere  ist  bedingt  durcb  das  Felden 
eiuiger  weniger  complicirter  Vorstellungen  imd ' Associationen,  letztere 
beruht  auf  einem  Feblen  der  einfacbsten  nnd  alltaglicbsten  Vorstellungen 
imd  Associationen.  Am  sinnenfalligsten  zeigt  sicli  diese  Urtbeilsschwacbe 
bei  dem  erworbenen  Schwacbsinn,  weil  bier  der  Vergleicb  mit  den 
frilheren  normalen  Urtbeilsleistiingen  moglicb  ist.  Bei  dem  Gelebrten, 
welclier  in  irgend  eine  Form  des  erworbenen  Schwacbsinns  verfallen  ist, 
fiillt  auf,  dass  seine  wissenscbaftliclien  Arbeiten  zusebends  gedanken- 
armer  werden:  handgreifliche  Widerspriiche  und  nabeliegende  Ein- 
wande  werden  iiberseben,  weil  eben  gewisse  Vorstellungen  und  Associa- 
tionen ausbleiben.  Der  Kaufmann  versieht  sich  in  seinen  Speculationen 
und  Einkaufen;  wichtige  Factoren  bleiben  bei  seinen  Ueberlegungen 
unbeacbtet  und  die  wirklicb  beacbteten  Factoren  kommen  nicht  in  dem 
richtigen  Starkeverhiiltniss  zur  Geltung.  Der  Handwerker  versieht  sich 
in  seinen  Arbeitsplanen : wenn  der  Tiscbler  die  einzelnen  Theile  zu  dem 
Schrank,  den  er  herstellen  soli,  fertiggestellt  hat  und  nun  zusammen- 
setzen  will,  so  ergiebt  sich,  dass  die  Theile  nicht  zu  einander  passen; 
er  hat  sich  irgendwie  verrechnet  und  daher  das  unrichtige  Ergebniss. 
Ebenso  wie  in  dem  Berufsleben,  aussert  sich  die  Urtheilsschwache  in 
dem  taglichen  Verkehr.  Der  Kranke  vermag  selbst  einfachere  Situa- 
tionen  nicht  mehr  durch  seine  Ueberlegung  zu  beherrschen.  Allent- 
halben  iibersieht  er  wichtige  Punkte  und  Beziehungen.  In  den  schwersten 
Graden  des  Schwachsinns  misslingen  die  einfachsten  Urtheilsassociationen. 
Das  Urtheil:  „Die  Rose  hat  gezahnte  Blatter"  kommt  trotz  seiner  Ein- 
fachheit  (es  kommen  nur  2 Erinnerungsbilder  und  deren  eine  associa- 
tive Verkniipfung  in  Frage)  nicht  mehr  richtig  zu  Stande.  Die  Begriffe 
Oder  uoch  ofter  die  associative  Verkniipfung  ist  verloren  gegaugen.  Die 
complicirteren  Urtheile,  welche  ein  sehr  verwickeltes  z.  Tb.  unter  der 
psychischen  Schwelle  sich  abspielendes  Einwirken  zahlreicher  latenter 
Erinnerungsbilder  voraussetzen , unterbleiben  ganz.  Grobe  Verstosse 
gegen  die  Logik  haufen  sich.  Schliesslich  schwindet  mit  der  letzten 
associativen  Verkniipfung  auch  die  letzte  Urtheilsassociation : der  Kranke 
bringt  kein  Urtheil  mehr  zu  Stande  und  ausserlich  giebt  sich  dies  darin 
kund,  dass  er  Siitze  nicht  mehr  zu  bilden  vermag.  Es  werden  die 
wenigen  Erinnerungsbilder,  welche  noch  erhalten  geblieben  siud,  zu- 
sammenhanglos  an  einander  gereiht.  Die  Urtheilsschwache  fiihrt  somit 
in  ihren  schwersten  Graden  gleichfalls  zu  der  sog.  IncohiLrenz,  welche 
wir  friiher  bereits  als  Folgeerscheinung  schwerer  Ideenflucht  oder  ge- 
hiiufter  Hallucinationen  und  als  primare  Associationsstorung  kenneu 
lernten.  Diese  Incoharenz  des  Schwachsinns  resp.  der  Urtheils- 


134 


Specielle  Associationsstorungen . 


scliwiiclie  ist  von  cler  Incoharenz  der  Ideenfluclit,  der  hallucinatorischen 
lucohiirenz  und  der  priniaren  Incoharenz  oder  Dissociation  vdllig  zu 
trennen.  Die  Incoharenz  des  Scliwachsinns  beruht  auf  dem  Nicht- 
vorhandensein  bezw.  dem  Verlust  einzelner  Erinnerungsbilder  und  asso- 
ciativer  Verkniipfungen , die  Incoharenz  der  Ideenflucht  hingegen  auf 
dem  im  Gefolge  der  abnormen  Beschleunigung  der  Ideenassociation  ein- 
tretenden  Auslassen  verbindender  Zwischenvorstelluugen,  die  hallucina- 
torische  Incoharenz  auf  dem  massenhaften  Einstiirmen  disparater  Sinnes- 
eindriicke  und  endlich  die  primare  Incoharenz  oder  Dissociation  auf 
einer  allgemeinen  formalen  Storung  im  Ablauf  der  Ideenassociation 
(ohne  inhaltlichen  Defect). 

Pathologisch-anatomische  Grundlage.  Wahrend  die  Wahn- 
vorstellungen  und  Zwangsvorstellungen  ausnahmslos  auf  functionellen 
Veranderungen  der  Hirnriude  und  ihrer  Associationsbahnen  beruhen, 
beruht  die  Urtheilsschwache  meist  auf  organischen  Lasionen.  Bei  dem 
angeborenen  Schwachsinn  sind  die  Associationsfasern  und  Ganglienzellen 
der  Hirnrinde  nicht  in  normaler  Zahl  zur  Entwicklung  gelangt  oder 
durch  einen  in  den  ersten  Lebensjahren  resp.  intrauterin  aufgetretenen 
Krankheitsprocess  (diffuse  secundare  Skier ose  nach  infautilen  Gehirn- 
hamorrhagien,  Thrombosen  u.  dgl.)  schon  friih  wieder  in  erheblicher  Zahl 
zu  Grunde  gegangen.  Bei  dem  erworbenen  Schwachsinn  weist  das 
Mikroskop  schwere  Veranderungen  sowohl  in  den  Ganglienzellen  der 
Hirnrinde  wie  namentlich  an  den  Associationsfasern  nach,  die  theils 
innerhalb  der  Hirnrinde,  theils  auf  der  Grenze  von  Hirnriude  und  Mark- 
lager  in  der  sog.  Markleiste  verlaufen. 

Verlauf  der  Urtheilsschwache.  Wahn-  und  Zwaugsvorstel- 
lungen  sind  in  vielen  Fallen  heilbar,  d.  h.  das  einseitige  Ueberwiegen 
gewisser  einzelner  Vorstellungen  und  Associationsverkniipfungen  bildet  sich 
oft  allmahlich  zuriick.  In  noch  hoherem  Maass  gilt  dies  von  den  friiher 
besprochenen  formalen  oder  allgemeinen  Storungen  der  Ideenassociation, 
also  der  Ideenflucht,  Denkhemmung  und  Dissociation.  Die  Urtheils- 
schwache ist  hingegen  fast  ausnahmslos  unheilbar  und  im  Gauzen 
daher  stets  ein  ominoses  Symptom  ganz  ebenso  wie  der  Defect  an  Vor- 
stellungen und  Associationen,  auf  welchen  sie  beruht.  Allerdings  vermag 
eine  arztlich  geleitete  Erziehung  bei  dem  Congenital-Schwachsiuuigeu 
bei  Aufwendung  grosser  Miihe  schliesslich  die  Zahl  der  Vorstellungen 
und  Associationen  etwas  zu  vergrossern  und  damit  auch  die  Urtheils- 
schwache etwas  zu  bessern,  aber  diese  Resultate  bleiben  stets  sehr 
diirftig.  Die  Hirnrindenentwicklung  dieser  Individuen  ermoglicht  die 
Bildung  complexerer  Vorstellungen  und  Associationen  nicht.  Dadurch 
unterscheidet  sich  der  Angeboren-Schwachsinnige  von  dem  mangelhaft 
Erzogeueu;  ersterer  ist  trotz  aller  erziehlicher  Versuche  begriffs-  und 


Specielle  Associationsstorungen . 


135 


associationsarm  imd  clalier  urtlieilsscliwach,  letzterer  ist  wegen  Mangels 
an  Erzieliung  begriffs-  unci  associationsarm  und  urtheilsschwacb.  Noch 
ungiinstiger  ist  die  Prognose  des  erworbenen  Scliwachsinns,  sowohl  der 
Begriffs-  und  Associationsverarmung  wie  der  daraus  sicli  ergebenden 
Urtbeilsscbwache.  In  der  Regel  ist  dieser  Process  ein  fortschreitender, 
welclier  in  der  friiher  bescbriebenen  gesetzmassigen  Reihenfolge  Erinne- 
rungsbild  auf  Erinnerungsbild,  associative  Verkniipfung  auf  associative 
Verkniipfung  zerstort  und  so  scbliesslich  zu  einer  volligen  Urtbeilslosig- 
keit  fiilirt.  Alle  Versucbe  des  Arztes,  dies  Fortscbreiten  zu  hemmen 
Oder  die  verlorenen  Erinnerungsbilder  und  Associationen  z.  B.  durcli 
Unterricbt  clem  Kranken  wieclerzugeben,  sind  fast  stets  erfolglos.  Der 
Kranke  ist  nicbt  melir  fiibig  in  irgencl  erbeblicherem  Umfang  neue  Vor- 
stellungen  und  Associationen  zu  erwerben  und  so  sein  Urtbeil  wiecler 
zu  scbarfeu,  und  wenn  es  gelingt,  einzelne  Associationen  und  Vor- 
stellungen  v^deder  neu  einzupragen,  so  sind  geracle  cliese  neuerworbenen 
Associationen  und  Vorstellimgen,  wie  friiber  erortert,  binneu  kiirzester 
Frist  wieder  dem  Untergang  verfallen  (Ribot’scbes  Gesetz).  Dies  unauf- 
haltsame  und  unwieclerbringliche  Verarmen  des  intellectuellen  Besitz- 
standes  erklart  sicb  genugsam  daraus,  class  der  gauze  Process  auf 
einer  organiscben  Grundlage,  clem  Untergang  von  Ganglienzellen  und 
Associationsfasern,  beruht. 

Die  Erkennung  der  Urtbeilschwache  ist  oft  mit  grossen  Schwierig- 
keiten  verkniipft.  Zunacbst  ist  die  Abgr euz ung  der  krankbaften  an- 
geborenen  Urtbeilsscbwache  von  einer  n’ocb  im  Bereicb  des  Nor- 
malen  liegenclen  Bescbranktbeit  des  Urtbeils  oft  sebr  scbwierig. 
Erne  scharfe  Grenze  giebt  es  iiberbaupt  zwiscben  beiclen  nicbt.  Es  er- 
giebt  sicb  dies  obne  Weiteres  aus  clem,  was  friiber  iiber  die  ffiessenclen 
Uebergange  zwiscben  krankbaften  Defecten  der  Begriffsbilcluug  und  der 
nocb  im  Bereicb  des  Normalen  gelegenen  Einscbrankung  der  Begriffs- 
bilclung  gesagt  wurcle.  Jecleufalls  ist  zum  Beweis  der  patbologiscben 
Natur  einer  angeborenen  Urtbeilsscbwacbe  stets  erforderbcb  nacbzu- 
weisen,  class  trotz  zweckentsprecbender  Erziebungsversucbe 
die  Bilclung  von  Begriffen  und  Associationen  im  normalen  Umfang  und 
die  Reifung  der  Urtheilskraft  zu  der  durcbscbnittlicben  Kobe  der  Um- 
gebung  ausgeblieben  ist. 

Bei  der  erworbenen  Urtbeilsscbwacbe  liegt  in  vielen  Fallen  die 
Verwecbslung  mit  „Denkbemmung'^  oder  mit  „Incoharenz^'  sebr  nabe. 
Differentialcliagnostisch  kommen  bier  alle  Merkmale  in  Betracbt,  welcbe 
fruber  bei  Besprechung  der  Denkbemmnung  und  der  Incobarenz  er- 
wahnt  wurden.  Am  wichtigsten  sind  fiir  die  Urtbeilsassociationen  fol- 
gende  Punkte; 

1.  Der  Kranke  mit  Hemmung  urtbeilt  langsam  oder  garnicbt,  der 


136 


Storungen  des  Ilandelns. 


Krauke  mit  primarer  Incoharen.  fugt  in  seinem  Urtheil  ganz  unzu- 
samraengehorige  Vorstelliingen  zusammen,  tier  Schwachsinnige  urtlieilt 
falsch:  die  Vorstelliingen,  welclie  er  in  seinem  Urtheil  verkniipft,  gehoren 
in  gewissem  Sinne  zusammen,  aber  bei  ibrer  Verkniipfung  sind  erbeb- 
licbe  einschlagige  Vorstellungen  (Einwande  u.  dgl.)  iiberseben  worden.  Nur 
in  den  scbwersten  Graden  des  erworbenen  Schwachsinns  kommt  es, 
wie  oben  erwahnt,  zu  einer  Zusammenhangslosigkeit  der  Urtheilsasso- 
ciationen,  welcbe  ganz  derjenigen  der  primaren  Incobarenz  entspricbt. 
Der  Unterscbied  lasst  sicb  auch  folgendermaassen  veranscbaulicben : der 
Kranke  mit  Denkbemmung  spinnt  seine  Ideenassbciation  sebr  langsam 
iind  mit  vielen  Pausen  weiter,  der  Kranke  mit  Dissociation  verliert 

den  Faden  fortwabrend,  der  Kranke  mit  Urtbeilsscbwacbe  kniipft  die 
Faden  falscb. 

2.  Der  Kranke  mit  Hemmimg  und  derjenige  mit  Incobarenz  be- 
antwortet  gerade  aucb  ganz  einfacbe  Fragen  garnicbt  oder  sebr  lang- 
sam resp.  mit  ganz  unzusammenbangenden  Urtbeilen,  und  andrerseits 
gelingt  ibm  gelegentlicb  — dank  einem  vorubergehenden  Nacblass  der 
Heramung  lesp.  Incobarenz  — die  Beantwortung  sebr  scbwieriger  Fragen. 
Der  Kranke  mit  Urtbeilsscbwacbe  beantwortet  gleicbmassig  zu  alien 
Zeiten  sammtliche  Fragen  um  so  unricbtiger,  je  complicirter  sie  sind. 

3.  Die  Affecte,  welcbe  die  Hemmung  begleiten,  sind  depressiver 
Natur ; in  anderen  Fallen  ist  die  Hemmung  mit  Apatbie  vergesellscbaftet. 
Bei  der  Incobarenz  fallt  die  Regellosigkeit  der  Affecte  auf.  Die  Ur- 
tbeilsscbwache  ist  durcb  den  ungeniigend  motivirten,  kritiklosen  Ueber- 
gang  von  Weinerlicbkeit  zu  alberner  Ileiterkeit  und  umgekelu-t,  ausge- 
zeicbnet. 

4.  Die  Denkbemmung  aussert  sicb  aucb  in  den  Handlungen:  alle  Be- 
wegungen  sind  gebemmt,  d.  b.  entweder  verlangsamt  oder  aufgeboben. 
Die  Handlungen  resp.  Bewegungen  des  Kranken  mit  Dissociation  fallen 
durcb  ihre  vbllige  Regel-  und  Zusammenbangslosigkeit  auf.  Die  ein- 
zelnen  Bewegungen  und  Handlungen  des  Urtbeilsschwacben  sind  aller- 
dings  durcb  Motive  verkniipft,  aber  diese  Motive  sind  unvollstiindig  und 
unzureicbend : es  verrath  sicb  in  ibnen  der  Intelligenzdefect.  .v 

Auf  die  speciellen  Schwierigkeiten , welcben  diese  wicbtige  Diffe- 
rentialdiagnose  zwischeu  Denkbemmung,  Dissociation  und  Urtbeils- 
scbwacbe bei  den  einzelnen  Krankbeitsformen  begegnet,  wird  im  sjie- 
ciellen  Tbeil  zuriickzukommen  sein. 

e.  Storungen  des  Handelns. 

Unsere  Handlungen  sind  die  notbwcndigen  Consequenzen  der  Ideen- 
association.  In  die  Ideenassociation  tritt  eine  gewisse  Zabl  von  Fmpfin- 


Stornngen  cles  Handelns. 


137 


diingeii  uud  Erinuerungsbildern  (oder  Vorstellimgen)  ein  und  aus  deren 
Zusammenwirken  resultirt  ohne  Dazwischentreten  irgend  einer 
neuen  Seelentliatigkeit  die  Handlimg.  Ein  besonderes  Willens- 
vermbgen  existirt  nicht.  Daher  kennt  die  Psycbopathologie  auch  keine 
eigenen  Will ens stornngen.  Die  Handlungen  der  Geisteskranken 
sind  nur  insofern  gestort,  als  in  der  der  Handlung  vorausgebenden 
Ideenassociation  patliologiscbe  Elemente  vorlianden  waren.  Die  anf- 
fiillige  Handlung  eines  Geisteskranken  ist  daber  stets  nicbt  einfacli  als 
solcbe  zu  registriren,  sondern  muss  stets  analysirt  werden,  d.  h.  auf 
Stbrungen  der  Empfindungen  oder  der  Gefiihlstone  oder  der  Vorstel- 
lungen  oder  der  Thatigkeit  der  vorausgegangenen  Ideenassociation  selbst 
zuriickgefiibrt  werden. 

Die  krankbaften  Handlungen  lassen  sicb  somit  auf  Grund  ihrer 
verschiedenen  Entstebungsweise  eintheilen  in: 

a.  Handlungen  bedingt  durch  Empfindungsstorungen ; 

[3.  Handlungen  bedingt  durch  Stornngen  in  der  Bildung  oder 
Erhaltung  der  Erinnerungsbilder ; 
y.  Handlungen  bedingt  durch  Affectstorungen ; 

§.  Handlungen  bedingt  durch  Stbrungen  der  Ideenassociation. 

Dieselben  sollen  im  Folgenden  der  Beihe  nach  besprochen  werden. 
\ orauszuschicken  ist  nur,  dass  man  Zustande  vermehrter  und  gesteigerter 
motorischer  Action  im  Allgemeinen  als  mo  to  rise  he  Agitation,  und 
Zustande  verminderter  und  herabgesetzter  motorischer  Action  im 
Allgemeinen  als  motorischen  Stupor  bezeichnet. 

a.  Handlungen  bedingt  durch  Empfindungsstorungen. 

Enter  den  Empfindungsstorungen  kommen  namentlich  die  Hallu- 
cinationen  und  Illusionen  in  Betracht.  Der  Einfluss  derselben  auf  das 
Handeln  ist  frliher  bereits  ausfubrlich  besprochen  worden.  In  weitaus 
den  meisten  Fallen  hat  die  Hallucination  bezw.  Illusion  fiir  den  Kranken 
durchaus  die  Dignitat  einer  normalen  Empfindung,  und  wo  sich  etwa 
Hallucination  und  normale  Empfindung  widersj^rechen,  iiberwiegt  der 
Einfluss  der  Hallucination  auf  das  Handeln.  Ganz  ebenso  sind  in 
der  Regel  auch  die  hemmendeu  V orstell ungen,  welche  im  Verlauf  der 
Ideenassociation  auftauchen  und  dem  Einfluss  der  Hallucination  auf  das 
Handeln  entgegentreten,  machtlos.  Die  Sinnestauschung  siegt  und  be- 
stimmt  das  Handeln.  Dieser  Einfluss  ist  um  so  erlieblicher,  je  massen- 
hafter  die  Hallucinationen  auftreten  und  namentlich  je  rascher  sie  sich 
baiifen.  Hallucinationen,  welche  allmahlich  im  Laufe  von  Wochen  und 
'Monaten  sich  hauten,  unterliegen,  wenn  auch  keiner  Correctur,  so  doch 
hiiuflg  einer  gewissen  Beherrschung  durch  normale  hemmende  Vox-- 


138 


StSrungen  des  Handelns. 


stelluugeu:  der  Kranke  zweifelt  nicht  an  der  Realitat  der  Sinnes- 
tauschuugen,  aber  er  vermag  ibren  Einfluss  auf  sein  Handeln  wenigstens 
einzuscliranken.  Wo  hingegen  Siunestauschungeu  in  rascbern  Anstieg 
sich  liaufen  und  auf  den  Kranken  einstiirmen,  versagt  die  Selbst- 
beberrschung  meist  sebr  rascb. 

Bei  jabrelangem  Besteben  von  Sinnestauscbungen  findet  man  nicbt 
selten,  dass  allmaldicb  ibr  Einfluss  auf  die  Handlungeu  wieder  nacblasst. 
Cbroniscbe  Hallueinanten  lernen  mitunter  ibre  Hallucinationen  trotz 
ibres  gebauften  Auftretens  ignoriren.  Sie  sind  nacb  wie  vor  von  der 
Realitat  derselben  liberzeugt,  vermogen  aber  den  Einfluss  derselben  auf 
ibr  Bewegen  und  Handeln  zu  unterdrlicken.  Namentlicb  bei  langjabrigen 
Anstaltsinsassen  kommt  es  unter  der  fortgesetzten  Einwrkung  der  An- 
staltsdisciplin  oft  scbliesslicb  zu  dieser  motoriscben  Actionstragbeit  gegen- 
iiber  den  Hallucinationen.  Die  Kranken  reagiren  hochstens  noch  durch 
einige  stereotype  Scbimpfwbrter  auf  die  sie  belastigenden  Stimmen  und 
verricbteii  dabei  ibre  Haus-  und  Feldarbeit  gleicbmassig  weiter. 

Eine  allgemeine  Bescbreibung  des  ballucinatoriscben,  d.  b.  des  durcb 
Hallucinationen  bedingten  Handelns  zu  geben  ist  scblecbterdings  unmbg- 
licb.  Dasselbe  ist  ebenso  wecbselnd  und  mannigfaltig  wie  der  Inbalt 
der  Hallucinationen  selbst.  Praktiscb  wicbtig  ist  namentlicb  eine  Eigen- 
scbaft,  welcbe  dem  ballucinatoriscben  Handeln  meist  zukommt:  es  ist 
dies  seine  Unberecbenbarkeit.  Eine  plotzlicbe  unvermittelte  Hallucination 
kann  zu  eiuer  unerwarteteu  Gewalttbatigkeit  des  Kranken  gegen  sicb 
oder  seine  Umgebung  flihren.  Hallueinanten  bediirfen  daber  im  All- 
gemeinen  stets  genauer  Ueberwacbung. 

Von  dem  bemmenden,  bescbleunigenden  und  verwirrenden  Einfluss, 
welchen  die  Hallucinationen  je  nacb  ibrem  Inbalt  auf  das  Handeln 
baben,  wird  unten  zu  spreeben  sein. 

p.  Handlungen  bedingt  durch  Defecte  der  Erinnerungsbilder. 

Eine  Handlung  kann  dadurch  zu  einer  patbologiscben  werden,  dass 
Vorstellungen,  welcbe  bei  dem  gesuuden  Menseben  stets  vorbanden  sind 
und  das  Handeln  beeinflussen,  feblen,  sei  es,  dass  sie  iiberbaupt  niemals 
gebildet  warden  (angeborener  Scbwacbsiun),  sei  es,  dass  sie  im  \ erlauf 
einer  Psyebose  verloren  gegangen  sind  (erworbener  Scbwacbsinn).  ^\ir 
wollen  solcbe  Handlungen  ganz  allgemein  als  „Defectbandlungen“ 
bezeiebnen.  Diese  Defectbaudlungen  sind  dadurcb  ausgezeicbnet,  dass 
sie  patbologiscb-einfacb  sind.  Das  Handeln  des  Scbwacbsinnigeu  wird 
fast  aussebliesslieb  durcb  seine  actuellen  Empfindungen  und  einige  wenige 
concrete  Begriffe  bestimrat,  wiibrend  bei  dem  Gesunden  abstracte  Be- 
griffe  in  complicirter  Weise  in  das  Spiel  der  Motive  eingreifen.  Das 


Stdrimgen  dos  Handelns. 


139 


Handeln  kanu  clabei  docli  hochst  schlau  und  listig  sein:  eine  Straf- 
handlung  kann  z.  B.  den  ausseren  Umstanden  vorziiglicli  angepasst  sein 
und  doch  kann  die  Defecthandlung  eines  Schwachsinnigen  vorliegen, 
indem  abstracte  Begriffe  bei  ihrem  Zustandekommen  fehlten.  Die  Be- 
wegungen  und  Handlungen  eines  Thieres,  welches  seiner  Beute  nachgeht 
Oder  vor  deni  Jager  flielit,  sind  in  diesem  Sinne  gleichfalls  schlau,  in- 
sofern  alle  actuellen  Einpfindungen  in  sehr  zweckentsprechender  Weise 
die  Bewegungen  beeinflussen.  Die  Handlung  des  Schwachsinnigen  und 
diese  Handlung  des  Thieres  haben  gemeinsam,  dass  coniplicirtere,  ab- 
stractere  Begriffe  im  Spiel  der  Motive  nicht  auftreten,  weil  sie  iiberhaupt 
nicht  vorhanden  sind.  Der  Schwachsinnige  sieht  z.  B.  eine  Uhr  liegen 
und  nimmt  sie  an  sich.  Ein  solcher  Diebstahl  eines  Schwachsinnigen 
beruht  in  vielen  Fallen  darauf,  dass  der  Schwachsinnige  den  complicir- 
teren  Begriff  „Eigenthum'^  nicht  gebildet  oder  eingebiisst  hat.  Er  er- 
kennt  die  Uhr  als  solche:  die  einfachen  concreten  Begriffe  sind  ihm 
erhalten  gebheben;  nur  der  abstracte  Begriff  des  Eigenthums,  die  Unter- 
scheidung  zwischen  Mein  und  Dein  fehlt  ihm,  und  weil  diese  com- 
plicirtere  Vorstellung  in  das  Spiel  der  Ideenassociation  nicht  eingreift, 
kommt  die  krankhafte  Handlung,  der  Diebstahl,  zu  Stande. 

y.  Handlungen  bedingt  durch  Affectstorungen. 

Der  wichtigste  Satz,  welcher  flir  die  Einwirkung  der  Affecte  auf 
die  Handlungen  in  Betracht  kommt,  lautet : Positive  Geftihlstone  be- 
fordern  und  beschleunigen  das  Handeln,  negative  hemmen  und  verlang- 
samen  das  Handeln.  Am  klarsten  tritt  dies  bei  der  einfachen  Depression 
oder  traurigen  Verstimmung  und  bei  der  einfachen  Exaltation  oder 
heiteren  Verstimmung  hervor.  Der  Depression  geht  motorische  Hemmung, 
der  Exaltation  motorische  Erregung  parallel.  Diese  motorische  Hemmung 
der  Drepression  ist  nur  .eine  Theilerscheinung  der  allgemeinen  Triigheit 
der  corticalen  Associationen,  welche  wir  oben  als  Stupor  kennen 
lernten,  und  ebenso  ist  die  motorische  Erregung  nur  eine  Theilerschei- 
nung der  allgemeinen  Beschleunigung  der  corticalen  Associationen, 
welche  wir  oben  als  Agitation  kennen  lernten.  Diese  formalen  Sto- 
rungen  des  Handelns  durch  pathologische  Affecte  werden  unten  aus- 
fiihrlicher  zu  besprechen  sein,  da  die  Anomalien  des  Handelns  bier  auf 
eine  allgemeine  Associationsstorung  zuriickzufiihren  sind;  meist  bleibt 
es  geradezu  unentschieden,  ob  der  Affect  (Depression  bezw.  Exaltation) 
die  motorische  Hemmung  bezw.  Erregung  auslost  oder  letztere  der 
Affectstorung  coordinirt  sind.  An  dieser  Stelle  ist  nur  noch  hervorzu- 
heben,  dass  lediglich  die  einfache  Depression  und  die  einf ache Exalta- 
tation  in  so  einfacher  Weise  das  Handeln  beeinflussen.  Sobald  zu 


140 


StOrungen  des  Handelns. 


ersterer  *der  Angst  affect  unci  zu  letzterer  der  Zornaffect  hinzutritt, 
wird  der  Einfliiss  ein  viel  complicirterer.  Die  Angst  wirkt  allerdings 
zuiuiclist  und  in  erster  Linie  auch  hemmend  auf  die  corticalen  Associa- ' 
tionen  imd  somit  auch  auf  das  Handeln,  aber  mit  der  zunehmenden 
Angst  stellt  sich  auch  lulufig  die  Vorstellung  der  Flucht  ein:  der 
Kranke  sucht  sich  um  jedeu  Preis  seiner  Angst  zu  erledigen.  Der 
Kranke  findet  im  Angstaffect  keine  lluhe.  Er  wandert  Tag  und  Nacht 
umher  und  jammert  Tage  und  Wochen  lang.  Man  bezeichnet  dies  als 
ilie  motorische  Agitation  der  Angst.  Oft  kommt  es  zu  sinnlosen  Flucht- 
versuchen.  Uugemein  haufig  versucht  der  Kranke  durch  Selhstmord 
seine  Qual  zu  beeuden.  Eine  scheinbar  vollige  motorische  Hemraung 
eines  geiingstigten  Kranken  kann  plotzlicb  von  einem  rascben  Selbst- 
mordversucb  unterbrocben  werden.  In  anderen  Fallen  entladt  sich  die 
Angst  in  Gewaltthaten  gegen  die  Umgebung,  so  namentlich  in  plotz- 
licher  Brandstiftung  oder  auch  in  Todtung  der  eigenen  Kinder.  Andere 
Kranke  versuchen  durch  Ahioholexcesse  ihre  Angst  zu  betauben.  Auch 
excessive  Onanie  wird  — namentlich  bei  weiblichen  Kranken  — in  Zu- 
standen  heftigster  Angst  beobachtet. 

Die  Wirkung  der  Apathie  auf  das  Handeln  ist  sehr  verschieden, 
je  nachdem  es  sich  um  ein  generelles  oder  um  ein  partielles  Fehlen  der 
Gefiihlstone  handelt.  Sind  alle  Gefiihlstone  gleichmassig  ausgeblieben 
bezw.  verloren  gegangen,  so  ist  das  Handeln  auf  ein  Minimum  reducirt. 
Handlungen  kommen,  wie  die  normale  Psychologie  lehrt,  nur  dann  zu 
Stande,  wenn  Bevvegungsvorstellungen  mit  positiveu  Gefiihlstonen  vor- 
handen  sind.  Bei  der  Depression  bleiben  Handlungen  deshalb  aus,  weil 
in  Folge  der  allgemeinen  Irradiation  negativer  Gefiihlstone  alle 
oder  fast  alle  Bewegungsvorstellungen  von  negativen  Gefiihlstonen  be- 
gleitet  sind,  bei  der  allgemeinen  Apathie  bleiben  sie  aus,  weil  alle  oder 
fast  alle  Bewegungsvorstellungen  iiberhaupt  jedes  Gefiiblstons  ent- 
bebren.  Man  kann  die  Bewegungstragbeit  der  Apathie,  da  sie  sich 
fast  stets  auch  mit  einer  allgemeinen  Associationstriigbeit  verkniipft, 
auch  als  a p a t b i s c b e n motoriscben  Stupor  bezeicbnen. 

Ganz  anders  wirkt  das  partielle  Fehlen  der  Gefiihlstone,  wde  wu* 
es  in  typischer  Form  bei  dem  angeborenen  und  erworbenen  Scbwacb- 
sinn  finden.  Hier  sind  speciell  die  Gefiihlstone  der  complicirteren,  d.  b. 
der  abstracteren  Begriffe  nicbt  zur  Ausbildung  gelangt  (angeborener 
Scbwacbsinn)  oder  verloren  gegangen  (erworbener  Schwacbsinn).  Fiir 
die  Handlungen  der  Kranken  kommt  am  moisten  das  Fehlen  der 
Gefiihlstone  der  ethiscben  Begriffe  in  Betracbt.  Wo  diese 
fehlen,  ist  das  Handeln  ganz  auf  egoistiscbe  Interesseu  eiugeengt  und 
Strafhandlungen  Thiir  und  Thor  geoffnet.  Oben  wurde  das  Beispiel 
eines  Kranken  angefiibrt,  welcber  eine  Ubr  stieblt,  weil  ibm  der  Begriff 


Storungen  des  Handelns. 


141 


des  Eigen thiims  iiberhaupt  fehlt:  es  kommt  ihm  gar  niclit  zum  Bewusst- 
sein,  dass  er  an  fremdem  Eigenthum  sicli  vergreift.  Es  giebt 
andere  Kranke,  welcbe  man  ebenfalls  zii  den  Scliwacbsinnigen  recbnet, 
welcbe  den  Begriff  des  ,,Mein  imd  Dein^^  sehr  wobl  besitzen,  aber  diesen 
Eigentbumsbegriff  mit  keinem  der  normalen  Gefliblstone  begleiten.  So 
geht  diesen  Kranken  z.  B.  das  Gefiihl  der  Acbtung  vor  fremdem  Eigen- 
thum vollig  ab,  und  dieser  Defect  der  complicirten  ethischen  oder,  wie 
man  auch  sageu  konnte,  altruistischen  oder  socialen  Gefiiblstone  fiihrt 
ganz  ebenso  zum  Diebstahl  wie  der  Defect  der  beziiglichen  Begriffe 
selbst.  Diese  ludividuen  wissen  wobl,  dass  sie  sich  an  fremdem  Eigen- 
thum vergreifen,  aber  sie  fiihlen  nicht  und  konnen  nicht  fiihlen,  dass 
dies  Unrecht  ist.  Hieraus  erhellt  auch,  wodurch  sich  diese  Individuen 
yon  dem  geistesgesunden  Verbrecher  unterscheiden.  Der  letztere  stiehlt, 
obwohl  er  weiss,  dass  er  sich  an  fremdem  Eigenthum  vergreift,  und 
obwohl  er  fiihlt,  dass  dies  Unrecht  ist. 

Des  Einflusses  der  pathologischen  Zornmiithigkeit  auf  das  Handeln 
wurde  schon  friiher  gelegentlich  gedacht.  Der  Zornige  ist  zunachst  wie 
gebunden:  sprachlos  und  bewegungslos  starrt  er  uin  sich.  Auf  diese 
anfangliche  Hemmung  erfolgt  dann  eine  urn  so  jiihere,  geradezu  explo- 
sive motorische  Entladung.  Die  schwersten  Gewaltthatigkeiten  gegen  die 
Umgebung  Ibsen  plotzlich  die  anfangliche  Hemmung  ab.  Diese  motorische 
Agitation  des  Zorns  kann  sich  schliesslich  auch  gegen  leblose  Gegen- 
stande  richten  und  in  blindem  Zerstbren  aussern. 

Die  pathologische  Labilitat  der  Stimmung  bedingt  eine  ganz 
aualoge  Labilitat  der  Handlungsweise.  Der  Kranke  geht  mitunter 
binnen  wenigen  Minuten  — auf  ein  Scherzwort  des  Arztes  bin  — aus  huitem 
Jammern  in  ein  iibermuthig  lustiges  Gebahren  liber.  Auch  die  L a u n e n - 
haftigkeit  der  Stimmung,  welcbe  friiher  geschildert  wurde,  fiihrt  in  ganz 
analoger,  leicht  verstandlicher  Weise  zu  entsprechenden  Schwankungen 
des  Handelns  des  Kranken. 

Einen  ganz  speciellen  charakteristischen  Einfluss  haben  endlicli  alle 
Affecteund  namentlich  die  pathologischen  Aifecte  auf  die  Gesticulation,  das 
Mienenspiel  und  die  Sprechweise,  kurz  auf  die  sogenannten  Ausdrucks- 
bewegungen.  Speciell  das  Mieneuspiel  oder  der  Gesichtsausdruck  des 
Geisteskranken  bietet  oft  die  wichtigsten  diagnostischen  Anhaltspunkte, 
so  namentlich  in  alien  denjenigen  Fallen,  wo  die  Kranken  sich  sprach- 
lich  fast  garnicht  aussern.  Da  jedem  Affect  und  jeder  Aifectstbrung 
i eine  ganz  bestimmte  Gesticulation,  ein  bestimmter  Gesichtsausdruck  und 
' eine  bestimmte  Sprechweise  zukommt,  so  gewahrt  das  Studium  der  Aus- 
drucksbewegungen  dem  Erfahrenen  einen  ungemein  sicheren  Einblick  in 
die  psychischen  Vorgiinge  des  Kranken  und  giebt  die  besten  Fingerzeige, 

! in  welcher  Richtung  Fragen  an  den  Kranken  zu  stellen  sind.  Im  Fol- 


142 


Stfirungen  des  Handelns. 


genflen  sollen  die  Ausdrucksbewegungen  der  wiclitigsten  Affecte  kurz 
aufgefiihrt  werden. 

1.  Ausdrucksbewegungen  der  Depression.  Die  Gesticu- 
lation der  einfachen  Depression  ist  auf  ein  Minimum  reducirt.  Die 
Musculatur  des  Kumpfes  und  der  Extremitaten  Imfindet  sich  meist  in 
volliger  Resolution.  Die  Arme  liiingen  sclilaff  an  der  Seite  lierunter, 
die  Hilnde  sind  oft  schlaff  auf  dem  Scboosse  gefaltet.  Der  Kopf 
folgt  der  Schwere:  sitzt  der  Kranke,  so  ist  er  auf  die  Brust  berabge- 
sunken;  liegt  er,  so  rubt  er  schwer  auf  den  Kissen.  Alles  Mienenspiel 
ist  erloschen.  Die  Augen  sind  gesenkt.  Hire  Achsen  convergiren  meist 
ziemlich  stark.  Der  Unterkiefer  bangt  schlaff  herab.  Die  Mundwinkel 
sind  durch  den  Musculus  triangularis  menti  (depressor  anguli  oris)  ab- 
warts  gezogen.  Die  Augeuspalteu  sind  etwas  verengert  durch  Contrac- 
tion des  M.  orbicularis  oculi.  Im  Ganzen  sind  die  Augenbrauen  daher 
etwas  nach  unten  verschoben.  Nur  ihre  medialen  Enden  sind  meist 
stark  in  die  Kobe  gezogen.  Es  berubt  dies  darauf,  dass  an  der  all- 
gemeinen  Contraction  des  M.  orbicularis  oculi  sich  aucb  diejenigen 
seiuer  Fasern  betbeiligen,  welcbe  in  medialer  Ricbtung  aus  dem  Ver- 
band  des  Ringmuskels  austreten  und  sich  mit  den  Urspriingen  des 
M.  frontalis  verflechten,  und  dass  zugleicb  der  M.  frontalis  in  seinen 
mittleren  Abscbnitten  stark  contrahirt  ist.  Man  bezeicbnet  die  eben 
erwabnten  Fasern  des  Orbicularmuskels  aucb  als  M.  corrugator  super- 
cilii.  Die  Wirkung  des  Corrugator  gebt  dahin,  die  Haut  der  Nasen- 
wurzel  in  senkrecbte  Falten  zu  legen  und  das  mediale  Ende  der  Augen- 
braue  der  Nasenwurzel  zu  nabern.  Die  gleicbzeitige  Contraction  des 
M.  frontalis  legt  die  Stirn  in  senkrecbte  Falten.  Dabei  wird  die  Augen- 
braue  im  Ganzen  nicbt  aufwarts  gezogen,  da  die  Contraction  des  Orbi- 
cularis oculi,  wie  erwabnt,  entgegenwirkt  und  sogar  eine  leichte  \er- 
scbiebung  nacb  abwarts  bedingt.  Nur  das  mediale  Ende  der  Augenbraue 
vermag  in  Folge  des  abweicbenden  Verlaufs  der  Corrugatorfasern  des 
Orbicularis  dem  Zug  des  M.  frontalis  nacb  oben  zu  folgen.  So  entstebt 
die  fiir  den  Gesicbtsausdruck  der  Depression  cbarakteristiscbe  aufwarts 
gericbtete  Abbiegung  der  Augenbrauen  an  ibren  medialen  Enden. 
Mitunter  ist  die  Contraction  des  Musculus  frontalis  auf  die  medialen 
Bundel  bescbrankt;  dann  erscheint  die  iibrige  Stirn  ungefurcbt,  und  nur 
in  der  Stirnmitte  sieht  man  iiber  den  seukrecbten  von  der  Nasenwurzel 
aufsteigenden  Runzeln  4 — 5 borizontale  burcben.  In  auderen  Fallen 
ist  er  in  seiner  ganzen  Breite  contrahirt : dann  durcbzieben  borizontale 
leicbt  gescbwungene  Furcben  die  ganze  Stirn.  In  der  Mittellinie  sind 
dieselben  oft  unterbrocben  und  gewdbnlicb  biegen  ihre  medialen  Enden 
bier  nach  unten  etwas  ab. 

Die  Augen  sind  meist  tbraueulos.  Vbele  soldier  Krauken  klagen 


Storungen  des  Handelns. 


143 


o'eradezu,  class  sie  niclit  weinen  konnten.  Die  Secretion  cler  Thranen- 
driisen  ist  in  vielen  Fallen  geradezu  patliologisch  lierabgesetzt.  Die 
Augen  ersclieinen  dalier  eigentliiimlicli  glanzlos. 

Auf  diese  Storungen  der  Driisensecretion,  sowie  auf  die  Storungen 
der  Respiration  und  Circulation  wire!  an  anderer  Stelle  zuriickzu- 
kommen  sein. 

Die  Sprecliweise  der  Depression  ist  ebenfalls  meist  sebr  ebarakte- 
ristisch  veraudert.  Die  Kranken  sind  stuinm  oder  sprechen  unbdrbar 
leise.  Die  Phonation  ist  so  abgescbwacbt,  class  ein  Kehlkopfleiden  vor- 
getauscht  werden  kaun.  Zwiseben  den  einzelnen  Worten  und  zuweilen 
aucb  zwiseben  den  einzelnen  Silben  macben  die  Kranken  lange  Pausen. 
Zuweilen  kommt  es  nur  zu  abortiven  lautlosen  Lippenbeweguugen. 
Wenn  eine  Kranke  laut  jammert,  so  deutet  dies  stets  darauf,  dass  nocb 
mebr  vorliegt  als  eine  einfacbe  Depression. 

2.  Ausdrucksbewegungen  der  Angst.  In  der  Angst,  ist  die 
gesainmte  Korpermusculatur  mebr  oder  weniger  gespannt.  Diese  Span- 
nung  kann  eine  ganz  gleicbmassige  sein:  die  Kranken  sitzen,  liegen 
oder  steben  dann  Page  und  Monate  ganz  regungslos.  Haufiger  treten 
in  der  gespannten  Korpermusculatur  die  Gesticulationen  der  Angst,  die 
sogenannten  Angstbewegungen  auf:  die  Beine  werden  bald  angezogen, 
bald  gestreckt.  Der  Leib  ist  oft  tief  eingezogen.  Der  Oberkorper  wircl 
bald  in  frontaler,  bald  in  sagittaler  Ricbtiing  bin-  und  bergewiegt.  Die 
Arme  sind  meist  in  alien  Gelenken  gebeligt.  Seltener  sind  die  Hiinde 
starr  gefaltet.  Oefter  ringen  die  Kranke  die  Hande  oder  zupfen  an 
den  Fingerbeeren.  Viele  nagen  aucb  ■ in  ibrer  Angst  an  den  Fiugern 
und  Nageln.  Andere  zerkratzen  sicb  am  ganzen  Korper  (ohne  Pariistbe- 
sien).  Die  Mannicbfaltigkeit  dieser  Angstbewegungen  der  Hande  ist  ausser- 
ordentlicb  gross.  Im  Gesiebt  fallen  die  weit  aufgerisseuen  Augen  auf. 
Die  Bulbi  treten  weit  vor.  Die  Stirn  ist  tief  borizontal  gefurebt;  an 
cler  Nasenwurzel  vermisst  man  selten  einige  senkreebte  Furcben.  Die 
meclialen  Enclen  cler  Augenbrauen  sind  nacb  oben,  die  Mundwinkel  nacb 
unten  gezogen  abnlicb  wie  bei  cler  einfacben  Depression.  Der  Kopf 
ist  baufig  leiebt  riickwarts  gebogen.  Die  Nasenlocber  sind  meist  er- 
weitert,  die  Nasenflugel  geboben.  Die  Atbmung  ist  ausserst  unregel- 
massig:  rasebe  oberflacblicbe  Atbemziige  werden  ab  und  zu  von  volligem 
Atbemstillstand  oder  einem  tiefen  langgezogenen  Aufatbmen  nnterbroeben. 
Die  Spracbe  ist  abgesetzt,  mitnuter  fast  skandirencl.  In  den  Fallen, 
wo  aucb  bez.  cler  iibrigen  Korpermusculatur  cler  einfacb  bemmende 
Einfluss  der  Angst  vorberrsebt,  also  einfacbe  Spannung  cler  Korper- 
muskeln  obne  Agitation  bestebt,  pflegt  aucb  die  Spracbe  vollig  gebemmt 
zu  sein:  cler  Kranke  antwortet  gar  niebt  oder  mit  abortiven  Lippen- 
bewegungen.  Wo  cler  agitirende  Einfluss  cler  Angst  vorberrsebt,  kommt 


144 


Storungen  des  Handelns. 


es  zu  stundenlangem,  meist  selir  monotouem  Jammern.  Zu  Thranen 
koramt  es  aucli  bei  der  Angst  in  der  Kegel  niclit.  Ab  und  zu  fallt  in 
dem  Jammern  ein  leiclit  singender  Tonfall  auf.  In  der  liochsten  Angst 
folgen  die  mit  explosiver  Gewalt  die  Hemmung  durcbbrechenden  spracli- 
lichen  Aeusserungen  sehr  rascb  aufeinander  und  werden  scbreiend  laut. 

Bisher  war  nur  von  solclien  Angstzustiinden  die  Rede,  bei  welchen 
der  Kranke  wenigstens  liegen  oder  sitzen  zu  bleiben  vermag.  Bei  den 
lieftigeren  Formen  der  agitirten  Angst  irrt  der  Kranke  ruhelos  umber, 
Stundenlang  lauft  er  bald  an’s  Fenster,  bald  kniet-er  nieder,  bald  driingt 
er  zur  Thiir.  Dabei  reisst  er  sich  die  Haare  aus,  wiiblt  die  Betten 
auf,  verstellt  die  Mobel  u.  dgl.  mehr.  Diese  complicirteren  Ausdrucks- 
bewegungen  der  Angst  geben  ganz  fliessend  in  die  Angstbandlungen 
(sinnlose  Flucbt,  Selbstmord,  Gewalttbat  gegen  die  Umgebung,  z.  B. 
Brandstiftung  u.  s.  w.)  iiber,  welcbe  oben  bereits  erwabnt  warden. 

3.  Aus  d ruck  shew  eg  ungen  der  Heiterkeit.  Der  Heitere 
ist  in  Bewegung.  Er  gestikulirt  lebbaft.  Die  Stirn  ist  glatt.  Der 
M.  orbicularis  oculi  ist  namentlicb  in  seinem  unteren  Abscbnitt  stark 
contrabirt,  sodass  die  Haut  auf  der  Scblilfe  in  Falten  gelegt  ist,  welcbe 
strablenformig  vom  lateralen  Augenwinkel  divergiren.  Die  medialen 
Enden  der  Augenbrauen  weicben  eber  etwas  nacb  unten  ab.  Der  reicb- 
licberen  Thranensecretion  verdanken  die  Augen  ibren  Glanz.  Die  Mund- 
winkel  sind  lateral-  und  aufwarts  verzogen,  die  Nasolabialfalten  vertieft, 
die  Waugen  starker  vorgewolbt.  In  Folge  der  Hebung  der  Oberlippe 
wil’d  zuweilen  die  obere  Zabnreibe  etwas  entblosst.  Das  gauze  Gesicbt 
bekommt  so  einen  lacbelnden  Ausdruck.  Oft  kommt  dazu  ein  wirk- 
1 idles  Lacben  d.  b.  eine  Reibe  kurzer  kloniscber  Zwercbfellcontractionen 
im  Anscbluss  an  eine  tiefe  Inspiration.  Die  Sprecbweise  der  beitcren 
Exaltation  ist  ebenfalls  eine  ganz  typiscbe.  Die  Worte  fliegen  rascb 
(Logorrboe) ; oft  lliessen  gewablte  Ausdriicke  oder  Reime  mit  unter. 
Die  Interpunktionen  werden  oft  garnicbt  durcb  entsprecbende  Pausen 
markirt. 

4.  Aus  d rue  ksbeweg  ungen  des  Zorns.  Dieselben  sind  niebt 
so  constant  wie  diejenigen  der  Depression,  der  Angst  und  der  Exal- 
tation. In  der  Regel  ist  die  gesammte  Kbrpermusculatur  gespannt. 
Die  Zabne  sind  fest  aufeinander  gescblossen.  Zuweilen  kommt  es  zu 
Zabneknirseben.  Ober-  und  Unterlippe  wird  oft  leiebt  zuruckgezogen, 
so  dass  die  Zilbne  entblosst  werden.  Auf  der  Stirn  berrseben  senk- 
reebte  Falten  — in  der  Gegend  der  Nasenwurzel  — vor.  Der  Orbi- 
cularis oculi  wird  namentlicb  in  seinem  oberen  Tbeile  contrabiert.  Der 
Kopf  wird  bald  zuriickgeworfen , bald  aucb  stark  vorgebeugt.  Die 
Anne  sind  meist  in  alien  Gelenken  gebeugt,  die  Hande  biiubg  zur 
Faust  geballt.  Die  ganze  Stellung  vernibt  die  Bereitsebatt  zum  .Angriil, 


Sf6rnngen”cles  Handelns. 


145 


In  clen  scliwersten  Graden  des  Zorns  kommt  es  entweder  zu  wirldichen 
Angrilfen,  also  zu  den  oben  erwalinten  Zornliandlungen  des  Zerstorens, 
welclie  man  aucli  als  Tobsiicbt  bezeiclinet,  oder  es  kommt  zu  einer 
krampfartigen  Steigerung  der  Ausdrucksbewegungen  des  Zorns,  der 
Kranke  wirft  sicb  zu  Boden,  schlagt,  tritt  und  beisst  riicksiclitslos  um 
sicli  und  stbsst  gellende  unarticulirte  Scbreie  aus.  Man  bezeichnet  der- 
artige  „Anfalle^^  gesteigerter  Ausdrucksbewegungen  auch  als  Affect- 
krisen.  Die  Erinnerung  der  Kranken  fiir  solche  Afiectkrisen  ist  oft 
nacbtraglicb  sebr  liickenbaft  oder  auch  ganz  aufgehoben. 

5.  Fiir  die  Apathie  ist  die  vbllige  Eesolution  sammtlicher  Korper- 
muskeln  einschliesslich  der  Muskeln  des  Gesichts  charakteristisch.  Die 
Wangen  scheinen  schlaff  herunter  zu  hangen.  Die  Haltung  von  Kopf 
und  Gliedern  ist  wesentlich  durch  die  Schwerkraft  bestimmt.  Der  Rumpf 
erscbeint  zusammengesunken.  Der  Mund  ist  oft  halb  geoffnet,  da  der 
Unterkiefer  schlaff  herabhangt.  Das  Herabhangen  der  oberen  Eider 
kann  geradezu  eine  Ptosis  vortauschen.  Am  liebsten  lie  gen  die 
Kranken.  In  vielen  Fallen  ist  der  Kranke  zunachst  von  einem  Schlafen- 
den  kaum  zu  unterscheiden.  Erst,  indem  man  vorsichtig  die  oberen 
Augenlider  emporhebt,  lasst  sich  unterscheiden,  ob  Schlaf  oder  die 
schlafife  Haltung  der  Apathie  vorliegt.  Bei  dem  Schlafenden  sind  die 
Pupillen  stark  verengt  und  erweitern  sich,  sobald  bei  dem  Oeffnen  des 
Auges  der  Kranke  erwacht.  Bei  dem  Scheinschlaf  des  Apathischen 
findet  man  die  Pupillen  meist  mittelweit  und  beobachtet  eine  deutliche 
Verengerung,  *)  sobald  bei  dem  Oeffnen  des  Auges  Licht  in  dasselbe  fallt. 

6.  Bei  der  Labilitat  der  Affecte  beobachtet  man  ab  und  zu, 
dass  der  Gesichtsausdruck  den  Schwankungen  der  Affecte  nicht  mit 
gleicher  Geschwindigkeit  zu  folgen  vermag.  Es  kommt  dabei  zu  einem 
eigenartigen  gemischten  Gesichtsausdruck,  den  man  als  Lachweinen 
bezeichnet.  Oefter  entspricht  iibrigens  diesem  sog.  Lachweinen  auch 
eine  thatsachliche  Coexistenz  heiterer  und  trauriger  Vorstellungen. 

0.  Handlungen,  bedingt  durch  Storungen  der  Ideenassociation. 

Weitaus  am  wichtigsten  ist  der  Einfluss  der  allgem einen  oder 
formal  en  Storungen  der  Ideenassociation,  also  der  Beschleunigung, 
Verlangsamung  und  Incoharenz  der  Association  auf  die  Bewegungen 
bezw.  das  Handeln.  Die  Uebertragung  der  corticalen  Erregung  aus  den 
Gebieten  der  Empfindungs-  und  Vorstellungselemente  in  die  motorische 
I Region  ist  nur  eine  Theilerscheinung,  nur  das  Schlussglied  des  ganzen 
Associationsvorgangs  und  folgt  denselben  Gesetzen  und  zeigt  dieselben 
Storungen  wie  die  ganze  iibrige  Ideenassociation. 

*)  Bei  dem  ScUafenden,  den  man  weckt,  tritt  diese  auf  die  Belichtung  zurllck- 
:Zuflihrende  Verengerung  erst  nach  der  anfanglichen  Erweiterung  ein. 

Ziehen,  Psychiatrie.  -in 


14G 


Storungen  des  Handelns. 


1.  Beschleunigung  dor  motorischen  Actionen. 

Die  Besclileimigung  der  motorischen  Actionen  ist  eine  Theiler-  I 
sclieinung  der  allgeineinen  Beschleunigung  der  corticalen  Association  t 
und  sonach  ein  coordinirtes  Symptom  oder  Corollarsymptom  der  friiher  I 
besprochenen  Ideenducht.  Wie  diese  heruht  sie  wahrscheinlich  weniger  I 
auf  einer  Steigerung  der  Leituugsfahigkeit  der  in  Betracht  kommenden  I 
Associationsbahnen  als  auf  einer  Steigerung  der  Erregbarkeit  der  in  ^ 
Betracht  kommenden  Zellen  selbst.  Man  bezeicbnet  die  Beschleunigung 
der  motorischen  Entladungen  auch  kurz  als  ,,motorische  Agitation^  oder 
auch  als  „krankhaften  Bewegungsdrang",  In  den  leichtesten  Graden 
aussert  sich  derselbe  in  einer  abnormen  Gesprachigkeit  und  einem  ge- 
steigerten  Mienenspiel.  In  den  hoheren  Graden  kommt  es  zu  einem 
ununterhrochenen,  oft  enorm  raschen  Sprechen,  welches  man  als  Logorrhoe  i 
bezeicbnet.  Die  Stimme  wird  oft  schre'ieud  laut.  An  Stelle  der  ein- 
fachen  Steigerung  des  Mienenspiels  tritt  oft  ein  excessives  Grimassiren  , 
(namentlich  bei  jugendlicben  Kranken).  Ebenso  ist  die  Gesticulation  ab- 
norm  gesteigert.  Die  Kranken  fabreu,  wiibrend  sie  sprechen,  rubelos 
mit  den  Armen  umber.  Nocb  ausgesprocbener  als  auf  dem  Gebiet 
dieser  Ausdrucksbewegungen  zeigt  sich  der  Einfluss  der  allgemeinen  ; 
Beschleunigung  der  corticalen  Associationen  auf  dem  Gebiet  der  sog. 
willkurlicbeu  Beweguugen.  Die  Kranken  konnen  nicbt  still  sitzen.  i 
Immer  wieder  springen  sie  auf  und  wandern  umber.  Der  Scbritt  nimmt 
oft  eiuen  leicbt  biipfenden,  tiinzelnden  Cbarakter  an,  namentlich  bei  weib-  i 
lichen  Individuen.  Ausserbalb  der  Anstalt  streifen  die  Kranken  tage-  ' 
king  umber.  Mitunter  kommt  es  zu  ausgesprocbener  Vagabundage.  Die 
Kranken  sind  ubergescbaftig\  Sie  beginneu  tausenderlei  Arbeiten  mit  |i 
grossem  Uebereifer  und  patbologiscber  Hast,  um  eine  jede  nacb  kurzer  ! 
Zeit  wieder  liegen  zu  lasseu.  Ein  willkommenes  keld  fiir  den  Bewegungs-  i 
drang  der  Kranken  — namentlich  weiblicber  Individuen  — bictet  auch 
die  Toilette.  Die  Kranken  nesteln  viel  in  ibrem  Haar,  drei-,  viermal  a 
taglicb  wecbseln  sie  die  Frisur,  fortwabrend  zieben  sie  sich  an  und  aus.  | 

Die  scbwersten  Grade  der  motorischen  Agitation  bezeicbnet  man  t 
auch  als  Tobsucbt.  Aebnlicb  wie  die  Ideenflucbt  in  ibren  bocbsten  f 
Graden  zu  der  friiher  bescbriebenen  secuudaren  lucobarenz  fiilirt,  so  i 
verlieren  auch  die  Beweguugen  der  Kranken  scbliesslicb  ibren  Zu-  I 
sammenbang  sowobl  unter  sich,  wie  mit  den  gleicbzeitigen  und  voraus-  f 
gegangenen  Vorstellungen.  Es  kommt  zu  unarticulirtem  Scbieieu  und  j 
sinnlosem  Grimassenscbneiden.  Die  Kranken  laufeu  ziellos  umber,  I 
scbiessen  Purzelbiiume,  springen  in  die  Luft,  tanzen,  wiilzen  und  werfen  I 
sich  auf  dem  Boden  biu  und  her.  Weiter  iiussert  sich  der  patbologiscbe  j 
excessive  Bewegungsdrang  darin,  dass  die  Kranken  sich  eutkleiden,  ibie  I 


Stfirungen  des  Handelns. 


147 


Kleider  zerreissen,  die  Betteii  ausriiumen,  Mdbel  zertriimmerii,  an  den 
Thiiren  poltern  n.  dgl.  inelir.  Im  Verkelir  init  anderen  Personen  werden 
die  Kranken  jetzt  sehr  leiclit  liandgreiflicli  und  selbst  aggressiv.  Eiu 
kleiuer  Keiz  geniigt,  urn  eine  scbwere  Gewalttbat  bervorzurufen. 

Man  imtersclieidet  — ganz  entsprecbend  der  Eintheilung  der  Be- 
scbleunignng  der  I d e e n association  — folgende  Formen  der  Bescbleu- 
nignng  der  motorisclien  Actionen: 

1.  Den  prim  Lire  n Bewegungsdrang ; derselbe  entspricbt  der  pri- 
miiren  Ideenflncbt  imd  kommt  fast  stets  zusammen,  init  ihr  vor.  Nur 
bei  organiscben  Riudenerkrankungen  (Dementia  paralytica  etc.)  findet 
man,  wabrsclieiulich  entsprecbend  der  vorwiegenden  Localisation  des  als 
Reiz  wirkenden  Krankbeitsprocesses  in  der  motoriscben  Region,  of  ter 
aucb  Agitation  o b n e entsprecbende  Rleenflucbt.  Er  ist  dadurcb  definirt, 
dass  er  Tbeilerscbeinung  einer  allgemeinen  Bescbleunigung  der  corticalen 
Associationen  ist,  welcbe  auf  andere  psycbopatbiscbe  Symptome  nicbt 
zuriickgeflibrt  werden  kann.  Zuni  p rim  are  n Bewegungsdrang  recbnet 
man  aucb  den  Bewegungsdrang,  welcber  vergesellscbaftet  mit  beitrer 
Verstimmung  und  in  einer  gewissen  Abbiingigkeit  von  derselben  bei 
vielen  Psycbosen  (Manie,  ideenfllicbtige  Form  der  Paranoia,  Exaltations- 
stadium  der  Dementia  paralytica)  vorkommt. 

2.  Den  secundilren  Bewegungsdrang.  Dieser  kann  seinerseits 
die  Folge  sein: 

a.  gebaufter  Hallucinationen  (ballucinatoriscbe  Agitation), 
seltener  gebaufter  Wabnvorstellimgen, 

b.  gesteigerter  Affect e (affective  Agitation).  Es  Avurde  scbon 
mebrmals  erwabnt,  dass  die  Affecte  mit  positivem  Vorzeicben  im  Allge- 
meinen die  corticalen  Associationen  und  somit  aucb  die  motoriscben 
Entladungen  bescbleunigen , vermebren  und  steigern.  Besonders  gilt 
dies  von  der  einfacben  Exaltation.  Allerdings  wurde  scbon  oben  ber- 
vorgeboben,  dass  die  motoriscbe  Agitation,  Avelcbe  Avir  so  oft  neben 
einer  ausgesprocbenen  primaren  Exaltation  finden,  in  vielen  Fallen  auf 
Grund  des  ganzen  Krankbeitsverlaufs  nicbt  einfacb  als  Secundarsymptom 
auf  die  Exaltation  zuruckgefiibrt  werden  kann,  sondern  der  Exaltation 
coordinirt  ist  und  somit  ebenfalls  als  prim  ares  Krankheitssymptom 
angeseben  Averden  muss.  In  anderen  Fallen  ist  unzAveifelbaft  die 
motoriscbe  Agitation  eine  directe  Fol g eerscbeinung  der  beiteren  Ver- 
stimmung : sie  entstebt  im  Gefolge  der  letzteren,  nimmt  parallel  mit  der- 
selben zu  und  ab  und  scbwindet  zugleicb  mit  ibr.  Aucb  Zorn  und 
Angst  konnen,  Avie  die  frliberen  Erbrterungen  ergeben,  gelegentlicb  zu 
motorischer  Agitation  Anlass  geben.  Docb  bandelt  es  sich  bei  diesen 
Affecten  nicbt  um  eine  all  gem  eine  Bescbleunigung  der  motoriscben 
Entladungen,  sondern  um  eigenartig  gemiscbte  Beeinflussungen  des 

10* 


148 


Stornngen  des  llandelns. 


llandelns.  Bei  tier  Angst  findet  man  neben  den  Angstbewegungen  und 
Angstbandlungen,  deren  Schnelligkeit  und  Lebhaftigkeit  oft  eine  allge- 
meine  motorische  Agitation  vortauschen  kann,  im  Uebrigen  die  der 
Angst  zukommende  motorische  Hemmung.  Ebenso  ist  bei  dem  Zorn 
die  schliessliche  Entladung  bez.  ihrer  Schnelligkeit  und  Intensitat  von 
den  Entladungen  der  einfachen  allgemeinen  motorischen  Agitation,  wie  wir 
dieselben  oben  beschrieben  haben,  oft  kaum  verschieden;  aber  aus  der 
Hemmung,  welche  der  explosiven  Entladung  des  Zorns  vorangeht,  und 
aus  der  eigenartigen  Resolution,  welche  ihr  nachfolgt,  lasst  sich  leicht 
erkennen,  class  die  einfache  allgemeine  Beschleunigung  der  motorischen 
Actionen,  welche  wir  jetzt  im  Auge  haben,  nicht  vorliegt. 

Die  Unterscheidung  der  primaren  und  secundaren  Agitation  ist  nur 
auf  Grund  genauer  Beobachtung  moglich.  Man  wire!  sich  bei  jedem 
motorisch  erregten  Kranken  vor  allem , zunachst  die  Frage  vorlegen 
miissen: 

a.  Bestehen  Hallucinationen  und  Wahnideen? 

b;  Bestehen  Affectstbrungen  ? 

und  wenn  these  Fragen  zu  bejahen  sind,  wird  man  sich  weiter  fragen; 
Erklart  sich  die  zur  Zeit  bestehende  motorische  Agitation  in  ausreichen- 
der  Weise  aus  den  bestehenden  Hallucinationen,  Wahnideen  oder  Affect- 
storungen?  Dabei  ist  namentlich  das  Stilrkeverhaltniss  der  Agitation 
einerseits  und  der  Hallucinationen,  Wahnideen  bezw.  Affectanomalien 
andrerseits  in  Riicksicht  zu  ziehen.  Auch  die  Reihenfolge  der  Ent- 
wicklung  der  Symptome  ist  ’ zu  beachten.  Ergiebt  sich,  class  die  nach- 
gewiesenen  Hallucinationen,  Wahnvorstellungen  resp.  Affectanomalien 
nicht  zur  Erklarung  der  clerzeit  bestehenden  motorischen  Agitation  aus- 
reichen,  so  ist  letztere  als  ganz  oder  theilweise  primar  anzusehen. 
Dabei  ist  im  Auge  zu  behalten,  dass  Exaltation  und  Agitation  oft  in 
hohem  Grade  parallel  gehen  und  doch  coordinirt  sein  kbnnen.  Man 
wil'd  bier  also  trotz  grosser  und  entsprechencler  Intensitat  der  Affect- 
storung  die  Agitation  sehr  oft  als  primar  bezeichnen  miissen.  Reichen 
die  Hallucinationen  und  Wahnvorstellungen  bezw.  die  Affectstbrungen  zur 
Erklarung  tier  bestehenden  Agitation  aus,  so  ist  letztere  als  secundiir 
anzusehen:  der  Kranke  ist  „hallucinatorisch  erregt"  oder  „affectiv  er- 
regt^%  aber  nicht  primar  motorisch  erregt.  Die  weitere  Frage,  ob 
hallucinatorische,  wahnhafte  oder  affective  motorische  Erregung  vorliegt, 
bietet  gemeinhin  keine  neuen  Schwierigkeiten.  Hiiufig  erweist  sich  auch, 
dass  die  secuncllire  motorische  Erregung  gemischt  ist:  die  Hallucinationen 
wirken  erregend  auf  das  Handeln  tier  Kranken,  insofern  sie  ihrem  Inhalt 
entsprechend  von  lebhaften  Affecten  begleitet  sind  oder  zahlreiche  Wahn- 
vorstellungen anregen. 


Storungen  des  Handelns. 


149 


2.  Verlangsamung  der  motorisohen  Actionen. 

Die  Verlangsamung  der  motorisclien  Actionen  ist  eine  Theilerschei- 
nung  der  allgemeinen  Verlangsamung  der  corticalen  Associationen  und 
sonach  ein  Corollarsymptom  der  friilier  besproclienen  Denkhemmung. 
Den  Gesammtzustand  corticaler  Hemmung,  welcker  sich  aus  der  moto- 
rischen  Hemmung,  der  Denkhemmung  und  der  friiher  erwahnten  Apro- 
sexie  zusammensetzt,  bezeichnet  man  auch  als  Stupor.  In  den  leich- 
testen  Graden  aussert  sich  derselbe  in  einer  gewissen  Schwerfalligkeit 
und  Langsamkeit  der  Bewegungen.  Es  dauert  nicht  nur  langer,  bis  der 
Kranke  eine  Frage  oder  einen  Befehl  (z.  B.  eine  Bewegung  auszufuhren) 
richtig  auffasst  (==■  Aprosexie  und  Denkhemmung),  sondern  die  Worte 
der  Antwort  werden  auch  langsamer,  oft  wie  abgesetzt  gesprochen  und 
die  befohlenen  Bewegungen  langsamer,  wie  zbgernd,  ausgefiihrt.  Mienen- 
spiel  und  Gesticulation  unterbleiben  fast  ganz.  In  dem  Handeln  des 
taglichen  Lebens  erscheinen  die  Kranken  willensschwach  und  unschliissig 
(Abulie),  oft  geradezu  rathlos.  Die  Denkhemmung  erschwert  schon  das 
Zustandekommen  eines  Entschlusses  im  hochsten  Maass,  aber  selbst 
wenn  der  Kranke  diese  gliicklich  iiberwunden  hat,  kommt  er  in  Folge 
der  motorischen  Hemmung  kaum  iiber  die  ersten  Anfange  der  Ausfuh- 
rung  seines  Entschlusses  hinaus. 

In  seinen  hoheren  Graden  weist  der  motorische  Stupor  zwei  ver- 
schiedene  Formen  auf,  deren  Unterscheidung  praktisch  zweckmassig  ist, 
wenn  auch  Uebergangsformen  ofter  beobachtet  werden.  Entweder  namlich 
aussert  sich  die  motorische  Hemmung  in  einer  volligen  Resolution 
der  Korpermusculatur  oder  in  einer  gleichmassigen  sog.  katatonischen 
Spannung  derselben,  welche  man  auch  als  Attonitiit  bezeichnet. 
Endlich  beobachtet  man  zuweilen  als  Ausdruck  der  motorischen  Hemmung 
auch  die  Einschrankung  der  willkiirlichen  Bewegungen  auf  einige  wenige 
stunden-,  tage-  und  monatelang  stereotyp  sich  fortwahrend  wieder- 
holende  Bewegungen.  Man  bezeichnet  solche  Bewegungen  auch  als 
katatonische.  Alle  3 Formen  der  motorischen  Hemmung  sollen  im 
Folgenden  getrennt  besprochen  werden. 

Die  Resolution  kann  solche  Grade  erreichen,  dass  der  Kranke 
monatelang  kein  Glied  riihrt.  Der  Unterkiefer  hangt  meist  schlaff 
herab.  Passive  Bewegungen  der  Extremitaten  stossen  auf  keinen  Wider- 
stand.  Erhebt  man  den  Arm  und  lasst  ihn  wieder  los,  so  fallt  er 
schwer,  wie  leblos,  auf  die  Unterlage  zuriick.  Die  Augen  sind  meist 
geschlossen,  doch  begegnet  die  Hebung  des  oberen  Lids  keinem  Wider- 
stand:  auch  der  Levator  palpebrae  ist  an  der  allgemeinen  Resolution 
betheiligt.  Mitunter  unterbricht  die  Nahrungsaufnahme  vorlibergehend 
die  Resolution,  d.  h.  der  Kranke  isst  wenigstens  spontan.  In  anderen 


150 


Stfirungen  des  Ilandelns. 


Fallen  Icommt  es  zu  Abstinenz : der  Kranke  sitzt  nicht  anfreclit,  und  wenn 
man  ilm  stiitzt  und  ihm  eine  Fliissigkeit  einflosst,  lasst  er  dieselbe  aus 
den  Mimdwinkeln  wieder  ausfliessen.  Auch  Koth  und  Urin  lassen  viele 
Kranke  unter  sich.  Sie  waseben  und  kiimmen  sich  nicht  selbst.  Audi 
Starke  Schmerzreize  losen  oft  kaum  ein  Blinzeln  aus. 

Die  einfache  katatonische  Spannuug  fixirt  den  Rumpf  und 
die  Extremitiiten  des  Kranken,  je  naebdem  diese  oder  jene  Muskel- 
gruppe  besonders  stark  contrabirt  ist,  in  den  versebiedensteu  Stellungen. 
Raid  berrsebt  der  Flexionstypus,  bald  der  Extensionstypus  vor,  bald  sind 
Flexionen  und  Extensionen,  Pronationen  und  Supinationen  und  Rota- 
tionen  in  sebr  complicirter  Weise  gemisebt,  so  dass  die  eigentblimlicb- 
sten  bizarren  Stellungen  entsteben.  So  ist  z.  B.  auf  Fig.  4 (Tafel  am 
Scbluss  des  Buebes)  eine  solcbe  katatonisebe  Stellung  abgebildet,  welcbe 
die  Kranke  monatelang  fast  ununterbroeben  beibebielt.  Die  Augen  sind 
bald  fest  gescblossen,  bald  oifen  und  dann  entweder  mit  den  Axen 
parallel  gestellt  oder  auch  auf  einen  Punkt  in’s  Deere,  seltener  auf  ein 
wirklicbes  Object  gerichtet.  Die  Kiefer  sind  oft  fest  aufeinander  ge- 
presst.  Alle  passiven  Bewegungen  stossen  auf  erheblicben  Widerstand. 
Meist  bat  man  bei  dem  Versuch,  eine  passive  Bewegung  auszufiibren, 
direct  das  Gefubl,  dass  die  Spannung  der  Musculatur  um  so  grosser  wird, 
je  mebr  Kraft  man  aufwendet,  die  Lage  und  Stellung  der  Glieder  zu 
verandern.  Hat  man  sebliesslieb  docb  gewaltsam  eine  passive  Bewegung 
durcbgesetzt  und  lasst  nun  los,  so  kebren  die  Glieder  bald  ruckweise, 
bald  langsamer  in  ihre  urspriinglicbe  Stellung  zuriick.  Aucb  bier  kommt 
es  oft  zu  Abstinenz,  Einnassen  und  Kotbverunreinigung.  Schmerzreize, 
z.  B.  tiefe  Nadelstiche,  losen  meist  hoebstens  ein  momentanes  Z^viukern 
der  Augenlider  aus.  Selbst  auf  lauten  Anruf  reagiren  die  Kranken 
nicht,  gesebweige  denn  auf  gewobnlicbes  Fragen.  Es  bestebt  also  ebenso 
wie  bei  der  Resolution  „Mutismus^^ 

Nabe  verwandt  mit  der  einfacben  katatoniseben  Spannung  ist  die  sog. 
Flexibilitas  cere  a.  Aucb  bier  nimmt  der  Korper  des  Kranken  eine 
gewisse  Dauerstellung  ein,  die  Spannung  der  Korpermusculatur  ist  eine 
sebr  unerbeblicbe.  Passive  Bewegungen  begegnen  keinem  grosseren 
Widerstand  als  die  Hand  des  Kiinstlers,  der  Thon  oder  Wacbs  zu  Figuren 
knetet.  Hat  man  durcb  passive  Bewegung  den  Gliedern  des  Kranken 
eine  neue  Stellung  gegeben,  so  verbarren  dieselben  nun  in  dieser  neuen 
Stellung  so  lange,  bis  eine  neue  passive  Bewegung  vorgenommeu  wird 
Oder  Ermudung  eintritt.  Letzteres  pflegt  zuweileii  selbst  bei  unbe- 
quemer,  die  Muskelkriifte  in  bohem  Maasse  in  Ansprucb  nebmender 
Stellung  erst  nach  3—4  Stunden  einzutreten.  Zeiebnet  man  die  myo- 
grapbisebe  Curve  eines  in  soldier  Sebwebe  befindlicben  Armes  auf  eiuer 
rotirendeu  Trommel  auf,  so  fallt  oft  die  Abwesenbeit  aller  erbeblicbereu 


StOriingen  des  Ilandelns. 


151 


Zitterbewegungen  auf.  Gegeniiber  Siraulatiousversuchen  llisst  sich  diese 
Tliatsaclie  oft  mit  Erfolg  verwerthen.  — Nicht  verwechselt  werden  darf 
die  ebeii  bescliriebenc  Flexibilitas  cerea  mit  der  katatonischen  Stellung 
mancber  Kranken,  welche  willkiirlich,  d.  li.  auf  Grimd  bestimmter  Vor- 
stelluugen,  den  passiven  Bewegimgen  laugsam  nacbgeben  iind  willkiirlich 
die  durcli  die  passive  Bewegung  herbeigefiihrte  Haltimg  beibehalten. 
ilan  erkennt  diese  ,,Pseudoflexibilitas  cerea^'  meist  leicht  daran,  dass  die 
Kranken  die  passive  Bewegung  nicht  einfach  initmachen,  sondern  — in 
Folge  des  willkiirlichen  Mitinnervirens  — der  passiven  Bewegung  etwas 
vorauseilen  nnd  zuweilen  auch  dieselbe  etwas  modificiren. 

Die  stereotypen  oder  katatonischen  Bewegungen  bestehen, 
soweit  sie  auf  motorische  Hemmung  zm’uckzufiihren  sind,  bald  in  ein- 
fachem  Wiegen  des  Bumpfes  (in  frontaler  oder  sagittaler  Ebene)  oder 
in  fortwiilirenden  Drehungen  des  Kopfes  oder  Bumpfes.  Mituuter  kommt 
es  zu  stundenlangem  Kreisdrehen  oder  auch  zu  stundenlangen  Beitbahn- 
bewegungen.  Dieselben  sind  mit  den  friiher  erwahnten  Angstbewegungen 
oder  mit  den  spiiter  zu  erwahuenden  Zwangsbeweguugen,  welchen  sie 
in  hohem  Maasse  ahneln  und  zu  welchen  fliessende  Uebergange  existiren, 
nicht  zu  verwechseln.  Dass  diesen  Wiege-  und  Drehbewegungen  wirklich 
Hemmungen  zu  Grunde  liegeu,  ergiebt  sich  daraus,  dass  auch  bei  Nach- 
lass  der  stereotypen  Bewegungen  anderweitige  willkiirliche  Bewegungen 
garnicht  oder  nur  ausserst  langsam  vollzogen  werden. 

Hinsichtlich  der  Genese  unterscheidet  man  folgende  Formen  der 
motorischen  Hemmung : 

1.  Die  primare  motorische  Hemmung  (Hemmung  s.  str.). 
Dieselbe  entspricht  der  primaren  Denkhemniung  und  kommt  fast  stets 
zusammen  mit  ihr  vor.  Sie  ist  die  Theilerscheinung  einer  allgemeinen 
Verlangsamung  der  corticalen  Associationen,  welche  auf  andere  psycho- 
pathische  Symptome  nicht  zurlickgefiihrt  werden  kann.  Oft  tritt  sie 
vergesellschaftet  und  coordinirt  mit  Depression  und  Angst  auf  (so  z.  B.  bei 
der  Melancholie,  bei  der  stuporosen  Form  der  Paranoia,  im  Depressions- 
stadium  der  Dementia  paralytica).  Da  sich  meist  die  Hemmung  nicht 
ausreichend  als  einfache  Folgeerscheinung  der  Depression  und  Angst 
erklaren  lasst , viehnehr  zwischen  beiden  eine  eigenartige  Wechsel- 
beziehung  besteht,  rechnet  man  diese  Hemmung  noch  zur  primaren 
Hemmung.  --  Die  primare  Hemmung  aussert  sich  meist  in  einfacher 
Besolution  oder  sehr  einfachen  katatonischen  Spannungszustanden ; 
zuweilen  findet  sich  Flexibilitas  cerea. 

2.  Die  secundare  motorische  Hemmung  (unechte 
Hemmung,  Pseud  os  tup  or).  Diese  kann  die  Folge  seiu 

a.  bestimmter  Hallucinationen,  so  uanientlich  imperativer 
Akoasmen  — eine  Stiuime  ruft  dem  Kranken  zu:  riihre  dich  nicht  — 


152 


Storungen  des  Ilandolns. 


ferner  fascinirender  Hallucinationen  - der  Pdick  des  Kranken  wird 
durch  liimndisclie  Visioneu  gefesselt  — , desgl.  gewisser  sclireckhafter 
Hallucinationen  — der  Kranke  sielit  aufgethiirmte,  sturzdrohende  i\la- 
scliinen  oder  jalie  Abgriinde  um  sicli  — , endlich  namcntlich  aucli  ge- 
wisser Bewegungshallucinationen  — der  Kranke  sucht  vermeintliclie, 
liallucinatoriscli  empfundene  Bewegiingen  durcli  Einnehmen  bestiinmter 
Stellungen  zii  compensiren. 

b.  bestinimter  W a bn  v or  stellungen.  So  kann  die  Wahnvor- 
stellung:  „wenn  icb  mich  riibre,  muss  icb  sterben^^  oder  „wenn  ich  mich 
riihre,  kommen  1000  Seelen  um  ibre  bimmliscbe  Seligkeit^^  und  abnlicbes 
zu  einer  ausgesprocbenen  secundaren  motoriscben  Gebundenbeit  — aucb 
obne  Eingreifen  irgend  einer  Hallucination  — fiibren. 

c.  bestimmter  Affect e.  Es  wurde  scbon  mebrfacb  bervorge- 
boben,  dass  Affecte  mit  negativen  Vorzeicben  und  zwar  speciell  die  ein- 
facbe  Depression  und  die  Angst  im  Allgemeinen  die  corticalen  Associa- 
tionen  verlangsamen,  vermindern  und  abscbwiicben.  Aucb  wurde  bereits 
erwiibnt,  dass  die  Angst  ausser  motoriscber  Hemmung  zuweilen  aucb 
motoriscbe  Agitation  bervorrufen  kann.  Dabei  wurde  jedocb  aucb  betont, 
dass  in  vielen  Fallen  die  motoriscbe  Hemmung  nicbt  einfacb  abbangig 
ist  von  der  Affectstorung,  sondern  ibr  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
coordinirt  ist,  und  dass  man  in  solcben  Fallen  die  motoriscbe  Hemmung 
nocb  als  primar  auffasst.  Aucb  die  Hemmung,  welcbe  der  Zorn  voi- 
der explosiven  Entladung  zeigt,  fand  bereits  Erwabnung. 

d.  des  angeborenen  und  erworbenen  Scbwacbsinns.  Der 
Defect  an  Erinnerungsbildern  und  associativen  Verknupfungen  bedingt 
bei  dem  Scbwacbsinnigen  nicbt  nur  eine  patbologiscbe  Langsamkeit  der 
Ueberlegung,  sondern  aucb  eine  patbologiscbe  Langsamkeit  des  Handelns. 

Die  Unterscbeidung  der  primaren  und  secundaren  motoriscben 
Hemmung  erfolgt  nacb  ganz  denselben  Principien  wie  die  Unterscbeidung 
zwiscben  primarer  und  secundarer  Agitation.  Im  Besonderen  ist  nocb 
zu  bemerken,  dass  diejenige  Hemmung,  welcbe  sicb  in  Kesolution  aussert, 
fast  stets  entweder  primar  oder  affectiven  Ursprungs  ist,  und  zwar 
bandelt  es  sicb  in  letzterem  Falle  meist  um  einfacbe  Depression,  nicbt 
um  Angst.  Die  Hemmung  der  Angst  ist  meist  katatoniscb.  Die 
ballucinatoriscbe  Hemmung  aussert  sicb  zuweilen  aucb  in  einfacben 
katatoniscben  Spannungen,  ofter  jedocb  in  sebr  complicirten  „katato- 
niscben  Attituden",  wie  sie  aucb  z.  B.  die  obenerwabnte  Figur  dar- 
stellt.  Praktiscb  ist  von  grosster  Bedeutung,  dass  sowobl  die  secundare 
Hemmung  der  Angst  wie  die  secundare  ballucinatoriscbe  Hemmung 
ganz  plotzlicb  und  mitunter  nur  fiir  einige  Minuten  oder  Stuuden  von 
Erregungsanfallen  unterbrocben  werden  konnen.  Namentbcb  auf  plotz- 
licbe  Suicidversucbe  und  plotzlicbe  Gewalttbiitigkeiten  muss  man  bei 


Sterungen  des  Handelns. 


153 


dieseu  pseudostuporoseu  Zustanden  stets  gefasst  sein.  Diese  plotzlichen 
Agitationsziistande  liefern  zugleich  den  besten  Beweis,  dass  diese  secun- 
dilren  Hemmnngen  nicht  echte  primare  allgemeine  Hemmungen 
sind,  sondern  auf  dem  einseitigen  Dominiren  bestimmter  pathologiscber 
Affecte,  Empfindimgen  oder  Wahnvorstelliingen  beruben:  eine  leichte 
Verscbiebimg  dieser  Primarstorungen  geniigt,  die  motorische  Hemmung 
zu  losen  bezw.  aiicb  in  ibr  Gegentbeil,  in  Agitation  zu  verwandeln. 

Pseud oflexi bilitas  cerea  deutet  fast  stets  auf  eine  durcb 
Wabnvorstellungen  oder  Hallucinationen  erzeugte  secundare  Hemmung. 
Eclite  Flexibi litas  cerea  ist  bei  primarer  Hemmung  haufiger. 

Differentialdiognostiscb  kommt  namentlicb  aucli  die  Unter- 
scbeidung  der  Kesolution  von  dem  natiirlicben  Scblaf,  dem  beabsicb- 
tigten  Scbeinscblaf  vieler  Kranken  und  endlich  dem  bysterischen  und 
epileptiscben  Scblaf  sowie  von  den  Zustanden  volliger  Bewusstlosigkeit 
in  Betracbt.  Die  Miosis  des  naturlicben  Scblafs  wurde  als  Unter- 
scbeidungsmerkmal  bereits  oben  genannt.  Im  beabsicbtigten  Scbein- 
scblaf verratben  sicb  die  Kranken  meist  durcb  ein  leicbtes  Blinzeln, 
eine  leicbte  Unregelmassigkeit  der  Kespiration  oder  ein  leicbtes  Mit- 
innervu’en  bei  passiven  Bewegungen.  Bei  dem  bysteriscben  Scblaf  vermag 
genauere  Beobacbtung  fast  stets  einzelne  convulsiviscbe  Contractionen 
zu  entdecken.  So  sind  namentlicb  die  Kaumuskeln,  aucb  wenn  die 
ganze  sonstige  Korpermusculatur  vollig  erscblafft  ist,  fast  stets  stark 
contrabirt.  Die  Dauer  des  bysteriscben  Scblafanfalls  libersteigt  selten 
48  Stunden.  Sebr  baufig  liefert  die  Unterbrecbung  durcb  einen  typiscben 
bysteriscben  Krampfanfall  oder  aucb  durcb  einfacbe  kloniscbe  Krampfe 
voUige  diagnostiscbe  Klarbeit.  Meist  gelingt  es  aucb  im  bysteriscben 
Scblafe  trotz  sonstiger  Keactionslosigkeit  auf  Scbmerzreize  einen  oder 
den  anderen  Punkt  (an  der  Wirbelsaule,  unter  den  Klavikeln,  in  der 
Iliacalgegend  etc.)  zu  finden,  welcber  intensiv  druckempfindlicb  ist: 
zuweilen  lost  Druck  auf  eine  solcbe  Stelle  sogar  einen  bysteriscben 
Anfall  aus  („bysterogene  Zone^^).  Bei  der  einfacben  Resolution  erleidet 
die  allgemeine  Keactionslosigkeit  fast  niemals  solcbe  Ausnabmen.  — 
Ecbter  epileptiscber  Scblaf  ist  sebr  selten.  Die  scblafabnlicben  Zustande, 
welcbe  bei  Epileptiscben  oft  vorkommen,  sind  in  der  Regel  wirklicb 
stuporbse  Zustande  im  Sinne  der  oben  angegebenen  Definition.  Endlicb 
ist  die  Verwechslung  der  Resolution  mit  Zustanden  der  Bewusstlosigkeit, 
wie  solcbe  z.  B.  bei  organiscben  Hirnerkrankungen  und  Meningitis  ge- 
legentlicb  vorkommen,  durcb  eine  genaue  korperlicbe  Untersucbung  zu 
vermeiden. 

Die  Differentialdiagnose  zwiscben  der  katatoniscben  Hemmung 
und  mancben  anderweitigen  Zustanden  allgemeiner  oder  sebr  verbreiteter 
Muskelcontractionen  bietet  erbeblicb  mebr  Scbwierigkeiten.  Zunacbst 


154 


SWrungen  des  Handelns. 


wilre  auch  hier  die  Verweclislung  mit  liysterischem  Sclilaf  moglich,  da 
letzterer  niclit  nnr  in  der  oben  erwiilinten  schlaffen  Form,  sondern  auch 
in  der  Form  eines  sehr  ausgebreiteten  tonischen  Krampfes  auf'tritt.  Audi 
Flexibilitas  cerea  (Katalepsie)  wird  gelegentlicb  im  hysterischen  Schlaf- 
anfall  beobaditet.  Differentialdiagnostisch  ist  man  — abgeseben  von 
anamnestiscben  Erbebungen  — namentlich  auf  das  Aufsuchen  hystero- 
gener  Zonen  angewiesen.  Beziiglich  der  Feststellung  bysterischer  Ante- 
cedentien  oder  Symptome  ist  jedocb  besonders  zu  erwiiliuen,  dass  bei 
der  Hysterie  neben  den  in  Rede  stehenden  .ecbten  Scblafanfallen 
auch  typiscbe  Stnporzustande  mit  katatonischer  Spannung  vorkommen. 
Zwiscben  diesen  hysterischen  Stuporzustanden  und  den  hysterischen 
Scblafzustanden  existiren  fliessende  Uebergange,  so  dass  die  in  Rede 
stebende  Differentialdiagnose  oft  gegenstandslos  wird.  Viel  belangreicher 
ist  die  Unterscbeiduug  der  katatoniscben  Zustande  von  den  allgemeinen 
Contracture  n,  wie  sie  gelegentlicb  bei  organise  ben  Erkrankungen 
des  Centralnervensystems  beobaebtet  werden.  Eolgende  Gesiebtspunkte 
kommen  bierbei  in  Betracbt:*)  die  organiscb  bedingten  Contracturen 
losen  sicb  im  Scblaf  gar  niebt  oder  wenigstens  niebt  vollstaudig,  die 
katatoniscben  Spannungen  Ibsen  sicb  im  Scblaf  vollstaudig.  Die  orga- 
niscb bedingten  Contracturen  balten  stets  einen  sebr  einfacben  Typus 
(Elexionstypus,  Extensionstypus  u.  s.  w.)  ein,  wiilirend  selbst  die  einfaebsten 
katatoniscben  Stellungen  eine  complicirtere  Combination  nnd  Auswabl 
von  Muskelcontractionen  aufweisen.  Audi  giebt  eine  genaue  korperlicbe 
Untersuebung  weitere  Anbaltspunkte,  ob  eine  orgauisebe  Lasion  vorliegt 
oder  niebt.  Nur  darf  man  daraus,  dass  uberbaupt  Symptome  einer 
organiseben  Erkrankung  des  Centralnervensystems  vorliegen , niebt 
sofort  sebliessen,  dass  bestebende  tonisebe  Muskelcontractionen  Contrac- 
turen seieu.  Es  giebt  namlicb  Psyebosen,  welcbe  auf  einer  organiseben 
Erkrankung  des  Centralnervensystems  beruben,  wie  z.  B.  die  Dementia 
paralytica,  Dementia  senilis  etc.,  und  bald  ecbte  stuporbse  Zustande  in 
katatonischer  Form,  bald  Contracturen  zeigen.  Man  wird  also  docb 
stets  gezwuugen  sein,  aus  der  Bescbalfenbeit,  dem  Verbalten  und  der 
Combination  der  Muskelcontractionen  selbst  die  Entsebeidung,  ob  Con- 
tractur  oder  katatonisebe  Spannung,  herziileiten. 

*)  In  manclien  Fallen  genugt  natiirlicli  einfach  die  Aufforderung,  Bewegnngen 
aiiszufuhren,  urn  Klarbeit  zu  schaffen : der  Kranke  mit  Contractur  maebt  dann  sichtlicb 
Versuebe,  die  aufgetragene  Bewegung  anszufubren,  und  iiussert  sicb  dabin,  dass  er 
niebt  kdnne,  wabrend  die  Katatoniscben  sebweigen  und  niebt  einmal  cinen  Versucb 
macben,  die  Bewegung  auszufiibren.  In  vielen  Fallen  versagt  diese  Probe,  da  Kranke 
mit  Contractur  baufig  zugleicb  psyebiseb  krank  sind  und  aus  irgend  eineiu  krank- 
baften  Motiv  Befeblen  niebt  geborcben  und  sicb  spraebUeb  niebt  aussern,  imd  da  ge- 
legentlicb aucb  Katatonisebe  sicb  zu  bewegen  versueben  und  durch  Lispcln  odor 
Mienenspiel  zu  versteben  geben,  es  sei  ibnen  unmdglicb. 


Storungen  des  Handelns. 


155 


3.  Incoharenz  der  motor ischen  Aetionen. 

Die  Incoluireuz  der  motorisclien  Aetionen  ist  eine  Theilerselieiuimg 
der  allgemeinen  Dissociation,  d.  li.  der  allgenieinen  Incoharenz  der  corti- 
calen  Associationen  imd  sonach  ein  Corollarsymptom  der  friiher  besproche- 
uen  Incoharenz  des  Vorstelhmgsablaufs.  Man  bezeichnet  den  daraus  resul- 
tirenden  Gesammtzustand  auch  kurz  als  „Verwirrtheit^h  Die  Hand- 
lungen  des  gesunden  Menschen  erfolgen  in  strenger  Abhangigkeit  von 
seinen  vorausgegangenen  resp.  gegenwartigen  Empfindungen  und  Vor- 
stellungen,  nnd  die  aufeinander  folgenden  Einzelhandlungen  stehen  ver- 
nioge  gemeinsamer  Abhangigkeit  von  gewissen  dominirenden  Empfin- 
dungen und  Vorstellungen  auch  untereinander  in  erkennbarem  Zusam- 
menhang.*)  Diese  hochste  Coordination,  welche  den  psychisch  moti- 
virten  Handlungen  des  Geistesgesunden  zukommt,  ist  bei  vielen  Geistes- 
krankheiten  gestort,  und  eben  diese  Stoning  wird  als  motorische  Inco- 
harenz bezeichnet.  In  ihren  leichtesten  Graden  verrath  sich  dieselbe 
darin , dass  die  zusammengesetzten  Handlungen  der  Kranken  eigen- 
thiimlich  planlos  ausfallen.  Auf  ihren  Spaziergangen  irren  die  Kranken 
plan-  und  ziellos  umher.  Ihr  Wandern  steht  nicht  in  Einklang  mit  den 
Motiven  und  Zielen,  welche  ihnen  zunachst  vorschwebten.  Im  Hause  wenden 
sie  sich  von  einer  Beschaftigung  zur  andern.  Auf  dem  Gesicht  malt 
sich  eine  zunehmende  Rathlosigkeit.  In  den  hoheren  Graden  der  Inco- 
harenz erscheint  auch  die  einzelne  Handlung  fiir  sich  betrachtet  sinn- 
los,  insofern  sie  nicht  in  normalem  Zusammenhang  mit  dem  Empfindungs- 
und  Vorstellungsleben  steht.  Da  der  Kranke  an  seine  Sinnesempfin- 
dungen  ganz  falsche  Vorstellungen  kniipft  und , selbst  w e n n er  rich- 
tige  Vorstellungen  ankniipft,  doch  falsche,  d.  h.  in  gar  keiner  Beziehung 
zu  den  Vorstellungen  stehende  Bewegungen  ausfiihrt,  so  kommt  es  zu 
der  sog.  Parapraxie.  Der  Kranke  gebraucht  die  einfachsten  Gegen- 
stande  falsch:  er  urinirt  in  seinen  Pantoffel,  versucht  die  Milch  mit  der 
Gabel  zu  essen,  kaut  Fliissigkeit  im  Munde,  beisst  in  den  eigenen 
Finger  statt  in  den  Bissen,  welchen  der  Finger  halt  u.  s.  f.  Auch 
sprachlich  werden  die  Gegenstande  falsch  bezeichnet.  So  kommt  es  zu 
Paraphasie  und  Paragraphic.  Schliesslich  ist  auch  die  Coordination 
d.  h.  der  associative  Verband  innerhalb  der  einzelnen  Bewegungen  gestort. 
Der  Gang  der  Kranken  wird  taumelnd ; sie  konnen  die  gerade  Linie 
nicht  mehr  einhalten.  Bei  ihren  Armbewegungen  greifen  sie  haufig  fehl. 
Kurzum  es  kann  das  Bild  einer  ausgesprochenen  Ataxie  (einschliesslich 
des  sog.  Pto  mb  er  g ’schen  Schwankens)  oder  auch  eine  Chorea  vorge- 


*)  Man  kann  dies  auch  so  formuliren:  die  Handlungen  des  Geistesgesunden 
haben  Motive,  Plan  und  Ziel. 


156 


Storungen  des  Handelns. 


tauscht  werclen.  Die  Silben  werden  nicht  mehr  richtig  zum  Wort,  die 
Worter  nicht  mehr  richtig  zum  Satz  zusammengefiigt.  Die  Kranken 
versclireiben  sich  fortwahrend.  Auch  die  mimischen  Ausdrucksbewegungen 
werden  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Der  Gesichtsausdruck  entspricht 
dem  Affect  nicht  mehr.  Es  kommt  zu  einem  sinnlosen  Grimassiren. 
Die  Kranken  lachen  und  jammern  ohne  Zusammenhang  mit  Empfin- 
dungen  oder  Vorstellnngen  von  entsprechender  Gefiihlsbetonung,  ja  sogar 
haufig  in  directem  Widerspruch  mit  den  sprachlich  geausserten  Empfin- 
dungen  und  Vorstellungen.  Man  bezeichnet  diese  Theilerscheinung  der 
allgemeinen  motorischen  Incoharenz  auch  als  Paramimie. 

Besonders  deutlicli  springt  dies  ganze  Bild  in  die  Augen,  wenn, 
wie  dies  haufig  der  Fall  ist,  zu  der  Zusammenhangslosigkeit  der  moto- 
rischen Actionen  noch  eine  pathologische  Beschleunigung  derselben  hin- 
zukommt  oder  umgekehrt  jene  zu  dieser.  Diesen  gemischten  Zustand 
bezeichnet  man  als  incoharente  Agitation.  Sinnlose  Spriinge  wech- 
seln  mit  riicksichtslosem  Hinundherwalzen  und  ziellosem  Hinundherlaufen. 
Die  Kranken  greifen  in  die  Luft,  schlagen  um  sich,  verschranken  die 
Arme  in  regellosem  Wechsel.  Man  bezeichnet  diese  excessiven  inco- 
harenten  Bewegungen  auch  als  Jactationen  (friiher  auch  zuweilen  als 
„Chorea  magna^^).  Mit  schreiender  Stimme  und  in  raschem  Tempo 
werden  zusammenhangslos  einzelne  Worte,  z.  T.  selbstgemachte  sinnlose 
Silbenzusammenstellungen  aneinander  gereiht  (Verbigeration).  Zu  dem 
Grimassiren  kommt  Zahneknirschen  hinzu.  Nicht  selten  beobachtet  man 
auch  Fieberbewegungen  und  bezeichnet  in  solchen  Fallen  den  ganzen 
Zustand  (Incoharenz  + Agitation  -f-  Temperatm’steigerung)  als  „Deli- 
rium*)  acutum^^ 

Man  unterscheidet  folgende  Formen  der  motorischen  Incoharenz; 

1.  Die  prim  are  motorische  Incoharenz.  Dieselbe  lasst  sich  eben- 
so  wie  die  analoge  primare  Incoharenz  des  Vorstellungsablaufs  auf  kein 
anderweitiges  psychopathisches  Symptom  zuriickfiihren.  Sie  findet  sich 
am  haufigsten  bei  der  sog.  incoharenten  Form  der  Paranoia  und  bei 
dem  epileptischen  Irresein  sowie  gelegentlich  bei  der  Dementia  para- 
lytica**) und  senilis. 


*)  Der  Ausdruck  „Delirium“  (ddlire)  ist  in  der  Psychiatrie  in  sehr  verschiedenen 
Bedeutungen  angewendet  worden  und  wird  daher  besser  vermieden.  Meist  bezeichnet 
man  als  Delirium  einen  Zustand  der  Unorientirtheit  und  Incoharenz  mit  nachfolgender 
Amnesie. 

**)  Dass  hier  die  Incoharenz  zuweilen  primar  und  nicht  stets  auf  Schwachsinn, 
d.  h.  also  auf  den  definitiven  Verlust  von  Erinnerungsbildern  und  associativen  Ver- 
knupfungen  zuriickzufuhren  ist,  geht  daraus  hervor,  dass  eine  solcbe  Incoharenz  oft 
nur  6—12  Stunden  anhalt,  und  dann  der  Status  quo  ante  in  jcder  Beziehung  wiederkehrt; 


Stfirungen  cles  Handelns. 


157 


2.  Die  se  cun  cl  are  motorische  Incoharenz.  Diese  ist  eutwecler 
die  Folge  von 

a.  Hallucinationen  oder  Walinideen,  welclie  in  raschem 
Anstieg  massenhaft  auf  den  Kranken  einstlirmen.  Jede  Hallucination 
und  jede  Wahnidee  tendirt  eine  bestiminte  Handlung  auszulosen.  Haufen 
sicli  nun  disparate  Hallucinationen  oder  Walinideen  in  kurzer  Frist 
an,  so  miissen  selbstverstandlicli  die  motorisclien  Actionen  ibren  Zu- 
saminenhang  vollig  verlieren.  Die  motorischen  Associationen  als  solche 
siud  bier  nicbt  krankbaft  verandert,  sondern  das  Empfindungsmaterial 
und  Vorstellungsmaterial,  welcbes  sie  auslbst,  ist  patbologiscb,  und  nur 
desbalb  fallen  die  Handlungen  patbologiscb  aus; 

oder  b)  von  bocbgradiger  Bescbleunigung  der  corticalen 
Associationen.  Wie  die  Ideenflucbt  zu  secundarer  Incobilrenz  des 
Vorstellungsablaufs  fiibrt,  so  fiibrt  bocbgradige  Agitation  zu  secundarer 
motoriscber  Incobarenz.  Am  baufigsten  wird  diese  Agitation  init  secun- 
darer motoriscber  Incobarenz  bei  der  Manie  und  im  Exaltationstadium 
der  Dementia  paralytica  sowie  bei  der  ideenfliicbtigen  Form  der  Para- 
noia beobacbtet; 

oder  c)  von  mancben  Affectstor ungen.  So  wissen  wir  nament- 
licb,  dass  Angst  und  Zorn  baufig  nicbt  nur  den  Vorstellungsablauf, 
sondern  aucb  die  Uebertragungen  in  das  motoriscbe  Gebiet  des  Zusam- 
menbangs  berauben; 

oder  endlicb  d)  von  Scbwacbsinn.  Aucb  der  Scbwacbsinnige  — 
der  Scbwacbsinn  sei  erworben  oder  angeboren  — bandelt  oft  motivlos, 
planlos  und  ziellos.  Die  Ursacbe  ist  bier  in  dem  angeborenen  Feblen 
oder  in  dem  Verlust  von  Erinnerungsbildern  und  associativen  Ver- 
kniipfungen  zu  sucben.  Diese  Form  der  motoriscben  Incobarenz  findet 
ibi’e  Besprecbung  daber  an  anderer  Stelle. 

Beziiglicb  der  Unterscbeidung  der  eben  aufgefiibrten  Formen  der 
motoriscben  Incobarenz  von  einander  kann  in  jeder  Beziebung  auf  das 
verwiesen  werden,  was  friiber  iiber  die  Diagnose  der  Incobarenz  des 
Vorstellungsablaufs  gesagt  worden  ist. 


An  die  patbologiscben  Handlungen,  welcbe  durcb  allgemeine  oder 
formale  Stbrungen  der  Ideenassociationen  zu  Stande  kommen,  sind 
nunmebr  diejenigen  anzureiben,  welcbe  durcb  specielle  oder  inbalt- 
licbe  Stbrung  der  Ideenassociation,  also  durcb  Wabnvorstellungen, 
Zwangsvorstellungen  und  Urtbeilsscbwacbe  zu  Stande  kommen.  Begreif- 
licber  Weise  ist  die  Mannigfaltigkeit  dieser  patbologiscben  Handlungen, 
der  Wabnbandlungen,  Zwangsbandlungen  und  Defectbandlungen,  unend- 


158 


Storungen  des  Handelns. 


lich  gross.  Es  konnen  dalier  iin  Folgeiulen  nur  einige  allgemeine  Ge- 
siclitspimkte  besproclieii  werden. 


1.  Wahnhandlungen. 

Der  Einfluss  der  Wahnvorstellungen  auf  die  Ilaudlungen  ist  friilier 
bereits  besproclien  worden.  Je  nacb  dcm  Inbalte  der  Wabnvorstelluiig 
fallen  die  Wahnhandlungen  natiirlich  sehr  verschiedeu  aus.  Der  Grbssen- 
wahn  malt  sich  schon  in  dem  Gesichtsausdruck  des  Kranken:  der  Mund 
ist  meist  fest  geschlossen,  die  Augeu  sehen  bald  hoch  iiber  die  Kbpfe 
der  andereu  Meuschen  hinweg,  bald  sind  die  Augenaxeu  leicht  sowie 
die  Augenlider  stark  gesenkt.  In  letzterem  Ealle  ist  stets  zugleich  der 
Kopf  in  den  Nacken  zuriickgebogen.  *)  Bald  sclnvebt  ein  suftisantes, 
bald  ein  verachtliches  oder  geheimnissvolles  Lacheln  um  die  Lippen.  Die 
Streckmnskeln  des  Piiickeus  sind  contrahirt,  so  dass  der  Korper  hoch 
aufgerichtet  erscheint.  Der  Schritt  ist  abgeinessen,  eher  langsam.  Die 
Schrift  ist  oft  verschnorkelt.  Haufig  fiuden  sich  grosse  Anfaugsbuch- 
stabeu.  Der  Kranke  driickt  sich  gewiihlt  aus;  oft  verschmaht  er  den 
ihm  friiher  gewohnten  Dialekt  und  spricht  hochdeutsch.  Dabei  streut 
er  gern  Eremdwbrter  ein.  Mitunter  spricht  er  direct  in  einer  fremden 
Sprache.  Mitunter  geniigen  ihm  anch  die  fremden  Sprachen  niclit  und 
er  schafft  sich  eine  eigene  Sprache.  Ueberhaupt  zeigt  das  ganze  Ge- 
bahren  des  Kranken  das  Streben  nach  Apartem  und  nach  Absonderuug. 
Frisur  und  Toilette  sind  in  dieser  Beziehung  besonders  verratherisch. 
Je  nach  Stand  und  Intelligenz  briugt  der  Kranke  in  beideu  sein  Selbst- 
bcwusstsein  ziim  Ausdruck.  Die  Kranken  sind  unsocial:  sie  wollen  mit 
ihren  plebejischen  Mitkranken  nichts  zu  thun  haben.  Das  weitere  Ge- 
bahreu  des  Kranken  hiingt  im  Einzelneu  ganz  von  der  speciellen  Rich- 
tuug  und  dem  speciellen  luhalt  des  Grossenwahus  ab.  Der  Messias 
predigt,  der  General  commandirt,  die  fiirstliche  Geliebte  kokettirt  am 
Feuster  u.  s.  w.  Haufig  verletzt  der  Kranke  auf  Grund  seiner  vermeiut- 
licheu  Auspriiche  die  Rechte  der  ihn  umgebenden  Personen.  So  kann 
es  zu  Diebstahlen,  Majestatsbeleidigungen  u.  dgl.  kommen.  Selbst  schwere 
Gewaltthatigkeiten  (Attentate  n.  ahnl.)  sind  nicht  ausgeschlossen.  Gewalt- 
acte  gegen  die  eigene  Person  sind  selteuer.  Doch  hat  man  \ersnche 
zur  Selbstkreuzigung  bei  Kranken,  welche  sich  den  Messiastitel  beilegten, 
beobachtet.  Erotische  Grossenideen  fiihreu  haufig  zur  Masturbation. 
Anch  Urinsalben,  Uriutrinken  und  Koprophagie  (Kothesseu)  kann  anf 

*)  1st  zugleich  mit  clcr  Senkung  der  Augenaxen  und  der  Augenlider  der  Kopf 
auf  die  Brust  gesenkt,  so  driickt  das  Gesicht  Demuth  oder  Schuldbewusstsein  aus. 
Meist  ist  auch  bei  diesen  depressiven  Affecten  die  Senkung  der  Augenaxen  eine 
erheblichere. 


Storungen  des  Handelns. 


159 


Grosseiiideeii  uud  zwar  namentlich  auf  sclmaclisinnigen  Grossenideen  be- 
ruhen : der  Kranke  beliaiiptet,  sein  Urin  babe  lieilkraftige  Eigenschaften,  sei 
^jCliampagner^',  sein  Kotb  sei  „ein  ideales  NabrungsmitteE^  u,  s.  w.  Bei 
Besprecliung  der  Paranoia  in  der  speciellen  Pathologie  werden  zahl- 
reiche  Varianten  dieser  Walmvorstellimgen  und  der  sicli  aus  ilinen  er- 
gebenden  Wahnhandlungen  nocb  anzufiibren  sein. 

Unter  den  verscbiedenen  Formen  des  Kleinbeitswahns  ist  der 
Einflnss  des  Versundigungswalins  auf  das  Handeln  praktiscb  be- 
sonders  wiclitig,  insofern  er  ungemein  oft  zu  Selbstmordversnchen  fiilirt. 
In  vielen  Fallen  ist  allerdiugs  der  Selbstmordversucb  bier  direct 
aiif  die  Angst  zuriickzufubren,  als  deren  Erklarungsversucb,  wie  friiber 
erortert,  der  Versiindigimgswabn  auftritt.  In  andereu  Fallen  ist  jedocb 
der  Versiindigimgswabn  eiii  unentbebrlicbes  Zwiscbenglied.  Die  Kranken 
geben  nacb  eiuem  missbmgenen  Selbstmordversucb  direct  an,  sie  batten 
geglanbt  und  glaubten  nocb,  nur  durcb  den  Tod  ibre  scbwere  Scbuld  bussen 
zu  konnen.*)  Andere  Kranke  begnugen  sicb  mit  Selbstverstiimmelungen. 
Der  Kranke,  der  sicb  sexuelle  Vergebungen  vorwirft,  verstummelt  seine 
Genitalien  u.  s.  f.  Sebr  baufig  fiibrt  der  Versundigungswabu  aucb  zur 
Nabrungsverweigerung:  der  Kranke  bebauptet,  er  sei  nicbt  wertb  zu 
essen,  er  sei  zu  scblecbt.  Ebenso  fiibrt  aucb  der  Verarmung  swabn 
zur  Abstinenz:  der  Kranke  bebauptet,  er  diirfe  nicbt  essen,  er  konne 
das  tbeure  Essen  nicbt  bezableu.  Aucb  Gewalttbaten  gegen  die  Uni- 
gebuug  konnen  aus  Versundigungswabu  bervorgeben.  Ganz  abgesebeu 
von  dem  Kindermord,  den  Brandstiftungen,  welcbe  wu’  friiber  als  Augst- 
handbingen  aufiibrteu  und  welcbe  den  Versiindiguugsideen  mebr  coordi- 
uirt  sind,  begebt  der  Kranke  oft  scbwere  Strafliaudlungen  mit  der 
Motivirung:  da  man  ibm  alle  Mittel,  sicb  selbst  fiir  die  scbwere  Scbuld 
zu  strafen,  eutziebe  und  seine  Scbuld  in  Abrede  stelle,  miisse  er  ein 
Verbrecben  begeben,  welcbes  aucb  der  Arzt  als  solcbes  anerkenneu  musse, 
um  so  endlicb  die  verdieute  Strafe  zu  finden. 

Der  bypocbondriscbe  Wabn  oder  Krankbeitswabn  beeinflusst 
das  Handeln  gleicbfalls  ini  bocbsten  Maasse.  Entsprecbend  der  Einenguug 
der  Interessen  auf  die  Zustande  des  eigenen  Korpers  veruacblassigt  der 
Kranken  iiber  der  Beobacbtung  seines  Korpers  alle  anderen  Pflicbten.  Es 
giebt  Kranke,  die  tiiglicb  einen  vollstiindigen  kbrperlicben  Status  prasens 
bei  sicb  aufuebmen.  Icb  kenne  einen  Hypocbonder,  der  krebskrank  zu 
sein  wiibnt,  welcber  taglicb  die  Kunzeln  seiner  Fingerbeeren  mit  der 
Loupe  untersucbt  in  der  Erwartung,  beginnende  Krebsgescbwulste  oder 

*)  Dabei  ist  bemerkenswertb,  dass  solcbe  Kranke  oft  nacb  einem  misslungenen 
Suicidversiicb  sicb  nun  diesen  als  „Scbuld“  vorwerfen.  Die  Wabnbandlung  wird  zum 
Gegenstand  einer  neuen  Versundigungsidee. 


160 


Storungen  des  Handelns. 


KrebsgescliwUre  zu  finden.  Zu  dieser  abnorm  gesteigerten  Selbstbeob- 
achtuug  tritt  nun  eine  abnorm  gesteigerte  Fursorge  fiir  den  eigenen 
Kbrper.  Immer  neue  Aerzte  werden  consultirt,  allerhand  medicinisclie 
Bucher  durchstudirt,  allenthalben  Erkundigungen  eingezogen.  Der  eine 
verlasst  sein  Bett  nicht,  weil  er  vom  Aufstehen  einen  Herzschlag  er- 
wartet  oder  seinem  Korper  nicht  die  Kraft  zutraut  aufzustehen.  So 
kommt  es  zu  der  sogenannten  Atreinie  oder  Bettsucht.*)  Kin  anderer 
lebt  Monate  und  Jahre  lang  im  Dunkelzimmer,  weil  er  von  dem  Licht 
des  Tages  Erblindung  seiner  vermeintlich  staarkranken  Augen  erwartet. 
Ein  dritter  hiillt  sich  in  zahllose  Decken  und  Tiicher,  lasst  Monate 
lang  kein  Wasser  an  seinen  Korper  kommen  und  umgiebt  sich  init 
Warmsteinen,  weil  er  lungenleidend  zu  sein  glaubt  und  eine  todtliche 
Erkaltung  fiirchtet.  Ein  vierter  schleicht  auf  der  Strasse  angstlich 

langst  der  Hauser  hin,  indem  er  sich  an  den  Mauern  festhiilt: 
er  fiirchtet  jeden  Augenblick  einen  Schlaganfall.  Das  ganze  Han- 
deln  geht  in  einem  engen  kbrperlichen  Egoismus  auf.  Dazu  kommt 
noch  der  friiher  bereits  gestreifte  lahmende  Einfluss  der  hypochon- 
drischen  Vorstellungen  auf  die  motorischen  Functionen.  Der  Hj^m- 
chonder,  welcher  anfangs  absichtlich  d.  h.  auf  Grrund  hypochondrischer 
Motivvorstellungen  das  Gehen  vermeidet  und  immer  mehr  in  dem  Ge- 
danken  aufgeht,  er  konne  nicht  mehr  gehen,  vermag  entweder  allmahlich 
oder  plotzlich  eines  Tages  in  der  That  nicht  mehr  zu  gehen,  auch 
wenn  er  den  Versuch  macht,  d.  h.  also  wenn  er  seine  hypochondrische 
Wahnvorstellung  iiberwindet<  Es  ist  zu  einer  „hypochondrischen  Lah- 
mung"  gekommen.  Diese  Lahmungen  siud  meist  dadurch  ausgezeichuet, 
dass  sie  nicht  eine  bestimmte  Extremitat  und  auch  nicht  eine  bestimmte 
Muskelgruppe  betreffen,  sondern  eine  bestimmte  complicirtere  Bewegung. 
So  ist  in  dem  eben  angefiihrten  Falle  einer  hypochondrischen  Geh- 
lahmung  (Abasie)  die  Bewegungsfahigkeit  der  Beine  im  Liegen  vollig 
erhalten , nur  die  eine  co  mplicirte  Bewegung  des  Gehens  ist  dem 
Kranken  in  Folge  seiner  hypochondrischen  Wahnvorstellung  abhanden 
gekommen.  Dies  geht  zuweilen  so  weit,  dass  solche  Kranke  mit  Abasie 
noch  sehr  gut  laufen , auch  Treppen  hinauf-  und  heruntergehen  und 
sogar  riickwarts  gehen  konnen,  nur  das  gewohnliche  Vorwartsgehen  auf 
ebener  Erde  versagt  ihnen ; sie  bleiben,  wenn  sie  den  Versuch  macheu, 
hilflos  auf  einem  Fleck  stehen  und  ruder n vergebens  mit  den  Armen 
und  bewegen  den  Rumpf  hin  und  her:  die  Fiisse  bleiben  wie  fest- 
gebannt  am  Boden  kleben.  Andere  Kranke  haben  eine  hypochon- 


*)  Gelegentlich  kommt  Atremie  auch  dadurch  zu  Stande,  dass  thatsachlich 
schwere  Storungen  der  llerzinnervation  eintreten,  sobald  der  Kranke  die  Euckenlage 
aufgiebt  und  sich  aufrichtet. 


Stoi'ungen  des  Haudelns. 


161 


drische  Stelilalmiiing  (Astasie).  Audi  liypodioudrisdie  Spredilalimungen 
koniineu  vor.  Dieselben  beschranken  sicli  zuweileu  aiif  einzelne  Con- 
sonanten.  So  kannte  idi  eiuen  Patieuten,  der  kein  r auszuspredieu 
vermodite,  uud  eine  Patientin,  welcbe  eiue  bypochondrisdie  Labmung 
fiir  z liatte.  Letztere  sprach  z.  B.  wei  witsdiernde  Scbwalben, 
so  oft  ihr  vorgesagt  wurde  „zwei  zwitschernde  Scbwalben".  Gerade 
diese  Kranken  sind  oft  in  ganz  imgerecbtfertigter  Weise  als  Simu- 
lanten  verdiicbtigt  worden.  Sehr  haufig  kniipfen  auch  gerade  diese  bypo- 
cbondriscben  Labmungen  im  Sinn  der  friiber  erwabnten  sogenannten 
Iiitentionspsycbosen  an  ein  einzelnes  Vorkommniss  an:  Ein  Patient  ist 
auf  einem  glatt  gepflasterten  Weg  gestraucbelt , daran  kniipft  er  die 
hypocbondriscbe  Wabnvorstellung,  seine  Beine  versagten  den  Dienst,  und 
kiinftig  versagen  ibm  seine  Beine  tbatsacblicb,  sobald  er  einen  abn- 
licben,  d.  b.  gepflasterten  Weg  betritt,  den  Dienst.  Hier  ist  also  die 
bypocbondriscbe  Geblabmung  sogar  an  eine  bestimmte  Situation  ge- 
kniipft : sie  tritt  nur  auf  gepflasterten  Wegen  ein.  Bei  anderen  Kranken 
tritt  sie  nur  auf  freien  Platzen  auf  (bypocbondriscbe  Form  der  Agora 
pbobie)  u.  s.  f.  Von  den  byste  rise  ben  Labmungen  sind  diese  bypo- 
ebondriseben  Labmungen  sebarf  zu  trennen.  Letztere  entwickeln  sicb 
auf  Grund  bewusster  Vorstellungen,  erstere  entsteben  obne  solcbe.  *) 
Die  bysterisebe  Labmung  ist  eine  Complication  der  Psyebose,  welcbe 
mit  dem  psyebopatbiseben  Process  selbst  niebts  zu  tbun  bat:  plbtzlicb 
ist  z.  B.  eine  bysterisebe  Hemiplegie  da,  obne  dass  die  Kranke  je  an 
der  Bewegungsfiibigkeit  ibres  Amies  oder  Beines  bypocbondriscbe  Zweifel 
gebegt  batte.  Die  bypocbondriscbe  Labmung  ist  bingegen  stets  eine 
Folge  bypoebondriseber  Urtbeilsassociationen.  — Ausser  bypoebondri- 
seben  Labmungen  beobaebtet  man  ab  und  zu  aucb  bypocbondriscbe  Ataxie 
und  namentlicb  bypocbondriscbe  Krampfbewegungen.  Die  letzteren 
sind  stets  in  boebstem  Maass  coordinirt  und  in  ibrer  Ersebeinungsform 
ausserst  mannigialtig.  Am  biiuflgsten  beobaebtet  man  eigenartige 
Scbiittelbewegungen  der  Arme  und  der  Beine.  Oft  ist  ibre  specielle 
Form  durcb  irgendwelcbe  Parastbesien  oder  'anderweitige  patbologiscbe 
Empflndungen  bestimmt.  Der  psycbologiscbe  Entstebungsmodus  lasst  sicb 
durcb  folgendes  Schema  ausdriicken:  die  patbologiscbe  Empflndung  lost 
die  bypocbondriscbe  Wabnvorstellung  aus:  icb  verfalle  in  Kriimpfe,  und 
diese  bypocbondriscbe  Wabnvorstellung  lost  nun  die  Krampfe  aus. 

*)  Oder,  wie  eine  neuerdings  vielfach  beliebte  Hypothese  es  ausdriickt,  auf  Grund 
nunbewusster  Vorstellungen".  Ausdriicklich  ist  iibrigens  hervorzuheben,  dass  gelegent- 
lich  auch  bei  der  Hysteric  bypocbondriscbe  Labmungen  vorkommen.  Fiir  die  Iden- 
titilt  der  bystcrischen  und  der  hypoebondriseben  Labmungen  beweist  dies  natiirlich 
cbensowenig  wie  das  Vorkommen  epileptiseber  Krampfanfalle  bei  Hysteric  die  Identitiit 
dieser  mit  bystcrischen  Krampfanfallen  beweist. 

Ziehen,  I’syeliiatrie. 


11 


162 


Storungcn  des  Handel  ns. 


Unterstiitzt  wire!  die  Entstehung  der  Wahnvorstellung  sowohl  wie  der 
entsprechenden  Krampfbewegungen  dadurch,  dass  die  Pariisthesien  haufig 
zunaclist  gewisse  Abwehrbewegungen  auslosen,  welche  der  Kranke  nun 
als  die  Anfangssymptome  des  beginnenden  Krampfanfalls  auffasst  und  ent- 
sprechend  dieser  bypochondrischen  Vorstellung  nun  zu  einem  wirklichen 
Krampfanfall  ausgestaltet.  Die  hypochondrisebe  Wabnidee  wirkt  bier 
gewissermaassen  als  Multiplicator.  Den  typiseben  Verlauf  eines  bysteri- 
seben  Krampfanfalls,  also  namentlicb  eine  typisebe  Folge  einzelner 
Stadien  (kloniscber  Krampf  — toniseber  Krampf  — grands  mouve- 
ments)  zeigen  diese  sog.  bypoebondriseben  Anfalle  niemals.  Sebr  baufig 
treten  Angstbewegungen  zu  den  Krampfbewegungen  binzu  oder  ent- 
wickeln  sicb  letztere  durcb  Ausgestaltung  ersterer.  So  entsteben  Bilder, 
welcbe  zwiseben  den  friiber  besebriebenen  Affeetkrisen  und  den  bypoebon- 
driseben Krampfbewegungen  alle  nur  denkbaren  Uebergange  darstellen. 

Ueberbaupt  bedarf  es  nunmebr  nocb  der  Hervorbebung,  dass  die 
Handlungen  des  Hypoebonders  baufig  niebt  einfacb  durcb  den  Inbalt 
der  bypoebondriseben  Wabnvorstellung,  sondern  sebr  oft  aucb  durcb 
die  der  Wabnvorstellung  zu  Grunde  liegende  oder  sie  begleitende  De- 
pression und  Angst  bestimmt  werden.  Der  Kranke  jammert  mitunter 
Tag  und  Nacbt.  Trotz  seiner  bypoebondriseben  Besorgnisse  treibt  ibn 
die  Angst  zu  Suicidversueben ; mitunter  ist  es  aucb  geradezu  der  Ge- 
danke,  unbeilbar  zu  sein,  welcber  die  Kranken  zum  Selbstmord  veran- 
lasst.  Gelegentlicb  kommen  ■ — namentlicb  wenn  zugleicb  ein  gewisser 
Intelligenzdefect  bestebt  — , Selbstverstiimmlungen  vor.  Um  z.  B.  eine 
wabnbafte  Verengerung  des  Afters,  welcbe  der  Kranke  vielleicbt  in  An- 
lebnung  an  eine  liingere  Obstipation  annimmt,  zu  beseitigen,  treibt  er 
einen  Stock  tief  in  den  Mastdarm  ein  oder  scblitzt  den  After  mit  einem 
Messer  auf.  Aucb  zur  Nabrungsverweigerung  kommt  es  ofter,  indem 
der  Kranke  wiibnt,  seine  Speiserobre  sei  verstopft  oder  seit  Monaten 
sei  kein  oder  wenigstens  kein  ausreicbender  Stublgang  erfolgt. 

Der  Verfolgungswabn  beeinflusst  die  Handlungen  der  Kranken 
zuniicbst  im  Sinn  der  Abwebr.  Die  Kranken  verriegeln  und  ver- 
barrikadiren  sicb  in  ibrem  Zimmer.  Sie  meideu  jede  Gesellscbaft. 
Speisen  geniessen  sie  nur,  wenn  andere  bereits  von  denselben  gekostet 
baben;  baufig  bereiten  sie  sicb  aucb  alle  ibre  Nabruugsmittel  selbst, 
um  den  vermeintlicben  Vergiftungsversueben  sicber  zu  eutgeben.  Die 
Dienstboten  werden  fortwiibrend  gewecbselt.  Gelegentlicb  erstattet  der 
Kranke  der  Polizei  oder  dem  Staatsanwalt  oder  dem  Fiirsten  Anzeige 
fiber  die  Verfolgungen,  welcben  er  vermeintlicb  ausgesetzt  ist.  \iele 
wecbseln  den  Wobnsitz  immer  wieder,  um  ibren  Verfolgeru  zu  eut- 
geben. Sind  zugleicb  beftige  Angstaffecte  vorbauden,  so  kommt  es  zu 
lantern  Jammern  und  zu  ungestfimen  Fluebtversuebeu.  In  der  Angst 


Stoi’ungen  clcs  Handclns. 


163 


Yor  ihreii  Verfolgeni  spriugeu  solclie  Kraiike  oft  riicksiclitslos  aus  clem 
Fenster,  zuweilen  sogar  durcli  die  Glassclieiben  liindurcli ; naclilier  geben 
sie  selbst  an,  sie  batten  lieber  sterben  als  ibren  Verfolgern  oder  dem 
Scbarfrichter  in  die  Hande  fallen  wollen.  Bisher  war  der  Kranke  nur 
der  Verfolgte.  Haufig  wird  er  spiiter  zum  Verfolger.  Er  gebt  von 
der  Vertbeidigung  zum  Angriff  iiber,  tlieils  weil  er  fiir  die  friiheren  and 
noch  fortdauernden  Verfolgungen  Raclie  nehmen  will,  tlieils  weil  er  in 
dem  Angriff  die  beste  Vertbeidigung  sielit.  So  wird  der  Kranke  gemein- 
gefabrlich.  Mitunter  weiss  er  jabrelang  sich  zu  beherrschen,  bis  dann 
plotzlicli  bei  einer  zufalligen  Constellation  der  Umstande  und  der  Vor- 
stellungen  die  Selbstbeherrschung  versagt  und  die  Verfolgungsidee  die 
That  auslbst.  Bei  giinstiger  Constellation  genugt  dann  oft  ein  kleiner 
Aulass.  Der  Kranke  legt  eine  harmlose  Geste,  ein  beliebiges  Wort,  eine 
Verziehung  der  Miene  bei  einer  Person  der  Umgebung  als  ein  Signal 
der  Verschworer  oder  eine  directe  Drohung  gegen  sein  Leben  aus,  und 
aus  Notbwebr  kommt  er  durch  einen  Mordversuch  der  vermeintlicben 
Gefabr  zuvor.  In  anderen  Fallen  handelt  es  sich  einfach  um  einen 
Racheact.  Der  Kranke  wahnt  sich  von  seiner  Frau  hintergangen : auf 
Grund  dieses  Wahns  ehelicher  Untreue  kommt  es  zu  brutalen  Miss- 
handlungen  und  selbst  zu  Morel  oder  Todtschlag.  Oder  der  Kranke 
glaubt  sich  in  einem  vermeintlicben  Recht  gekrankt  oder  in  einer  ver- 
meintlichen  politischen  oder  religibsen  Mission  behindert:  so  kommt  es 
zu  schweren  Gewaltthaten  gegen  die  Personen,  welche  vermeintlich  dem 
Kranken  im  Wege  stehen.  Zahlreiche  politische  Attentate  sind  hierauf 
zuriickzufiihren.  Grossenidee  und  Verfolgungsidee  wirken  bier  bei  der 
Erzeugung  der  Handlung  zusammen.  Im  Gebiet  der  speciellen  Patho- 
logic wird  das  Studium  der  Paranoia  uns  einen  genaueren  Einblick  in 
die  Casuistik  der  Handlungen  des  Verfolgungswahns  sowie  auch  des 
Grossenwahns  gestatten. 

Grosse  praktische  Bedeutung  haben  auch  diejenigen  Handlungen, 
welche  auf  Grund  ganz  plotzlich  aufschiessender  und  ebenso  rasch 
wieder  sich  verfliichtigender  Wahnvorstellungen,  der  friiher  erwahnten 
Einfalle,  erfolgen.  Man  bezeichnet  dieselben  als  „Einfallshandlungen^^ 
oder  wegen  ihrer  Plotzlichkeit  auch  als  impulsive  Handlungen, 
So  kann  ganz  plotzlich  in  dem  Kranken  die  Wahnvorstellung  auf- 
schiessen,  der  Kaffee,  den  er  gerade  trinkt,  sei  vergiftet  und  eine  im- 
pulsive Gewaltthat  gegen  die  Person,  welche  den  Kaffee  zubereitet  oder 
eingegossen  hat,  auslosen.  Nach  wenigen  Minuten  ist  die  Wahnvor- 
stellung verschwunden  und  haufig  sogar  vergessen;  ebenso  besteht  fiir 
die  impulsive  Handlung  selbst  meist  Amnesic.  Mitunter  ist  der  Einfall, 
welcher  die  impulsive  Handlung  bedingt , noch  rudimentarer.  Dem 
Kranken  „fallt"  plotzlich  und  voriibergehend  ein,  er  sei  wieder  Soldat 


164 


Storungen  des  Ilandcins. 


imd  alsbalcl  iiimmt  er  militarisclie  Stellung  ein  uud  raacht  niilitarische 
IJewegimgen.  /uweilen  treten  solclie  Einfillle  mit  den  entsprecheiiden 
Liidallsliandlungen  in  grosser  Zahl  uumittelbar  liiutereinauder  und  olme 
erkeniibaren  Zusammeuliang  untereinander  auf. 

2.  Zwangshandlungen. 

Die  Zwangshandlungen  gehen  aus  Zwangsvorstellungen  hervor.  Es 
ist  daher  fiir  sie  selir  cliarakteristisch , dass  der  Kranke  der  Krank- 
haltigkeit  seiner  Handlungsweise  sich  wohl  bewusst  ist.  Er  liandelt 
wider  sein  besseres,  d.  h.  sein  gesundes  „Wissen  und  Wollen“.  Es  ist 
bereits  trlilier  hervorgehoben  worden,  dass  fast  alien  Zwangsvorstellungen 
eine  sehr  lebliafte  motorische  Tendenz  innewohnt.  Nicbt  stets  siegt 
diese  motorische  Tendenz.  Es  giebt  manche  Zwangsvorstellungen, 
welche  sich  zwar  trotz  alien  Widerstrebens  immer  wieder  aufdrangen, 
aber  doch  nicht  das  Handeln  des  Kranken  in  entscheidender  Weise  be- 
einflussen.  So  kann  z.  B.  die  Zwangsvorstellung  auftreten;  „Du  musst 
zum  Fenster  hinausspringen"  oder  „du  musst  in  einer  grossen  Gesell- 
schaft  plbtzlich  diesem  oder  jenem  dieses  oder  jenes  Schimpfwort  laut 
zurufen^^  oder  „das  Fleisch,  das  du  zerschneidest,  ist  dein  Bruder;  in- 
dem  du  schneidest,  todtest  du  ihn^^  Der  Kranke  steht,  wie  man  zu 
sagen  pflegt,  iiber  diesen  Vorstellungsverkniipfungen,  d.  h.  seine  berich- 
tigenden  Urtheilsassociationen  iiberwiegen:  er  sieht  die  Unrichtigkeit 
seiner  Vorstellungen  ein.  Dies  schiitzt  ihn  zwar  nicht  gegen  ein  fort- 
wiihrendes  Wiederkehren  der  • Zwangsvorstellung,  aber  doch  in  manchen 
Fallen  gegen  ein  Handeln  im  Sinne  der  Zwangsvorstellung.  Es  ge- 
lingt  ihm  den  Drang,  im  Sinn  der  Zwangsvorstellung  zu  handeln,  doch 
unter  hartem  Kampfe  zu  unterdriicken : er  springt  nicht  zum  Fenster 
hinaus,  er  ruft  das  Schimpfwort  oder  die  Zote  nicht  aus,  er  schneidet 
und  verspeist  sein  Fleisch  trotz  der  Zwangsvorstellung.  In  der  Mehrzahl 
der  Fiille  siegt  jedoch  auch  im  Spiel  der  Motive  die  Zwangsvorstellung,  d.  h. 
sie  bestimmt  oder  moditicirt  wenigstens  die  Handlungsweise  des  Kranken. 
Ueber  die  Einzelheiten  dieser  motorischen  Eft'ecte  der  Zwangsvorstel- 
lungen ist  bei  Gelegenheit  der  Besprechung  der  letzteren  schon  aus- 
reichend  gesprochen  worden.  Die  Kranke,  welche  die  Zwangsvorstellung 
nicht  los  wil’d,  dass  sie  ein  brennendes  Streichholz  babe  liegen  lassen, 
sucht  Nachte  lang  unter  alien  Betten  und  Schriinken  und  zwingt  oft 
genug  auch  ihre  Familie,  immer  wieder  an  denselben  Stellen  nachzu- 
sehen,  ob  nicht  irgendwo  noch  ein  Streichholzchen  glimme.  Auch  wurde 
erwahnt,  dass  es  geradezu  zu  psychischeu  Lahmuugeu  kommen  kann, 
und  endlich,  dass  auch  die  glatte  Musculatur  des  Kbrpers  dem  Eintluss 
der  Zwangsvorstellungen  ofter  unterliegt. 

Scheinbar  ganz  unabhangig  von  dem  Vorstellungsleben  stehen  die- 


Storungen  clos  Handelns. 


165 


jenigen  Zwungsluindlungeii  da,  bei  welclien  dein  Kniuken  sick  nur  die 
^^ol•stellung  eiiier  bestimmteu  Uewegimg  aufdrangt  imd  vermdgo  ilirer 
grosseii  lutensitiit  die  Bewegung  auch  tkatsachlicli  auslost.  So  kann 
dem  Kranken  sick  plotzlick  die  Vorstellung  des  Grimassirens  aufdrangen 
and  zwar  so  lebkaft,  dass  sick  sein  Gesickt  tkatsacklick  zur  Grimasse 
verziekt,  so  sekr  der  Kranke  seine  Gesicktsziige  zu  bekerrscken  suckt. 
Die  Z^Yangsvorstelkmg  ist  in  diesen  Fallen  auf  das  Auftaucken  eines 
einzigen  Erinnerungsbildes  (namlick  des  optiscken  oder  motoriscken 
einer  Grimasse)  und  dementspreckend  die  Zwangskandlung  auf  eine  ein- 
zige  Bewegung  besckrankt.  Sekr  oft  ist  dies  einzelne,  dem  Kranken 
sick  aufzwangende  Erinnerungsbild  das  motoriscke  und  akustiscke  Er- 
innerungsbild  eines  sckimpfenden  oder  obsconen  Wortes:  zuweilen  ver- 
mag  der  Kranke  das  Aussprechen  des  Wortes  zu  unterdriicken,  kaufiger 
unterliegt  er,  und  plotzlick,  fast  mit  explosiver  Heftigkeit  fakrt  ikm  das 
Wort  zum  Munde  keraus  (Koprolalie).  Dabei  feklt  die  Beziekung  auf 
eine  bestimmte  Person,  welcke  in  dem  oben  angefiikrten  Beispiel  einer 
Zwangsvorstellung  mit  Zwangskandlung  vorlag,  oft  vollstandig.  Es 
kandelt  sick  nur  um  das  jake  Auftaucken  der  einzelnen  Wortvorstelkmg 
okne  jede  Urtkeilsassociation.  Meist  kommt  das  Strauben  des  Kranken 
zu  spat.  Zwangsvorstellung  und  Zwangsbewegung  fallen  zeitlick  zu- 
sammen.  Dabei  ist  voiles  Krankkeitsbewusstsein  vorkanden.  Hierker 
gekoren  auck  die  meisten  Eiille  der  sog.  Maladie  des  tics  Guinon’s: 
dieselben  gekoren  z.  Tk.  sekr  versckiedenen  Psyckosen  an,  kaben  aber 
das  zwangsweise  Auftaucken  gewisser  Bewegungen,  namentlick  zwangs- 
weises  Grimassiren  und  zwangsweises  Aussprecken  sckimpfender  und 
obsconer  Worte  gemein. 

Sekr  kaufig  kniipfen  auck  diese  isolirten  Zwangsbewegungen  an 
Empfindungen  an.  Der  Kranke  siekt  eine  Bewegung,  und  diese  optiscke 
Bewegungsempfindung  lost  alsbald  eine  aknlicke  Bewegung  aus.  Es 
kommt  zu  einem  zwangsweisen  Nackakmen  oder,  wie  man  meist  sagt, 
zu  Eckokinese.  Eine  leickte  Neigung  zu  Eckokinese  oder,  anders 
ausgedriickt,  ein  leickter  Nackakmungstrieb  auf  motorisckem  Gebiete, 
kommt  auck  den  Geistesgesunden  zu.  Fiir  die  geistige  Entwicklung  des 
Kindes  ist  derselbe  sogar  von  grbsster  Bedeutung.  Bei  Tkieren  und 
bei  uncivilisirten,  d.  k.  vorstellungsarmen  Volkersckaften,  bleibt  auck  in 
kokerem  Alter  dieser  Nackakmungstrieb  oft  sekr  ausgesprocken.  Bei 
dem  Geistesgesunden  in  civilisirten  Liindern  wird  dieser  Nackakmungs- 
trieb durck  die  Erziekung  allmaklick  unterdriickt:  zaklreicke  complexe 
Vorstellungen  interveniren  und  unterdriicken  die  directe  Nackakmung 
einer  gesekenen  Bewegung ; so  kommt  es , dass  der  geistesgesunde 
Erwacksene  die  Bewegungen,  welcke  er  bei  anderen  siekt,  nur  absickt- 
lick,  d.  k.  auf  Grund  besonderer  Motivvorstellungen  — z.  B.  um  eine 


166 


Storungen  ties  Ilandelns. 


Bewegimg  zu  erlernen  — nachahmt.  Anders  bei  vielen  Geisteskranken. 
riier  erhalt  sich,  namentlich  bei  Angeboren-Schwachsinnigen,  eine  solclie 
Echokinese  dauernd,  und  andererseits  tritt  Ecbokinese  nicht  selten  als 
Krankheitssymptom  einer  erworbenen  Psychose,  auch  unabhangig  von 
jedem  Intelligenzdefect,  plbtzlicli  jenseits  des  Kindesalters  auf.  Im 
letzteren  Falle  ist  sie  den  soeben  ausfiibrlicher  erdrterten  Zwangsbe- 
wegungen  zuziirechnen.  Eine  besondere  Form  der  Ecbokinese  1st  die 
Echolalie:  der  Kranke  hort  ein  Wort  aussprechen,  und  diese  Gebbrs- 
empfindung  lost  ein  Nacbsprecben  des  gebbrten  Wortes  aus.  Wie  die 
Ecbokinese  ist  aucb  die  Ecbolalie  baufig  ein  Symptom  des  Scbwacb- 
sinns,  des  erworbenen  sowobl  wie  des  angeborenen.  In  anderen  Fallen 
aber  zeigt  sie  alle  Merkmale  einer  ecbten  Zwangsbewegung ; ibre  Eigen- 
tbiimlicbkeit  bestebt  darin,  dass  sie  stets  an  die  Gebbrsempfindung 
eines  Wortes  das  Aussprecben  desselben  Wortes  ankniipft. 

3.  Defecthandlungen. 

Die  Defecthandlungen,  welcbe  in  Folge  krankbafter  Urtbeilsscbwacbe 
entsteben,  decken  sicb  im  Wesentlicben  mit  den  friiber  bescbriebenen 
Handlungen,  welcbe  durcb  Defecte  der  Erinnerungsbilder  bedingt  sind. 
Sie  sind  cbarakteristiscb  fiir  den  angeborenen  und  erworbenen  Scbwacb- 
sinn.  Der  Scbwacbsinnige  begebt  nicbt  nur  desbalb  abnorme  Hand- 
lungen,' well  gewisse  complexere  Vorstellungen  ibm  feblen  und  daber  im 
Spiel  der  Motive  nicbt  eingreifen,  sondern  aucb  desbalb,  well  zwiscben 
den  vorbandenen  Vorstellungen  nur  ganz  sparlicbe  und  nur  die  ein- 
facbsten  Urtbeilsassociationen  zu  Stande  kommen.  Der  Scbwacbsinnige 
vermag  oft  alien  Einzelbeiten  einer  Situation,  welcbe  ibn  zum  Handeln 
driingt,  sebr  gut  Kecbnung  zu  tragen,  er  vermag  aucb  an  jede  einzelne 
Empfindung  in  annabernd  ricbtiger  Weise  eine  Reibe  von  Vorstellungen 
anzukniipfen,  bingegen  sind  die  Verkniipfungen,  welcbe  er  zwiscben  den 
verscbiedenen  Vorstellungsreiben  berstellt,  meist  mangelbaft  und  un- 
ricbtig.  Berecbnung  und  Ueberlegung  in  diesem  Sinne  feblen.  In  der 
speciellen  Patbologie  wird  bei  Besprecbung  der  verscbiedenen  Formen 
des  Scbwacbsinns  bierauf  ausfiibrbcb  zuruckzukommen  sein. 

f.  Soniatische  Begleitsymptome  der  Psychoseu. 

Bisber  wurde  nur  solcber  Symptome  gedacbt,  welcbe  psycbiscber 
Natur  sind  (Empfindungsstorungen,  Vorstellungsstorungen,  Associations- 
storungen , Afiectstdrungen)  oder  den  directen  Ausdruck  psycbiscber 
Processe  darstellen  (Storungen  des  Handelus  einscbliesslicb  der  Aus- 
drucksbewegungen).  Hiermit  sind  jedocb  die  Symptome  der  Psycbosen 
nicbt  erscbdpft.  Es  kommen  vielmebr  nocb  folgende  Symptome  binzu: 


Somatisclie  Begloitsymptome  der  Psychoson. 


167 


a.  Storungeu  der  Motilitat , welche  von  psychischen  Processen 
nicht  abhangig  siud,  mithiu  den  Storungen  des  Plandelns  niclit  zusju- 
rechnen  sind. 

Storungen  der  automatischen  Acte. 

y.  Storungen  der  Reflexe  und  Sehnenplianomene. 

S.  Storungen  der  Sensibilitat , welcPe  von  psychischen  Processen 
unabhangig  sind. 

£.  Storungen  der  secretorischen,  trophischen,  vasoinotorischen  und 
splanchnischen  Innervationen. 

Alle  diese  kdrperlichen  Begleitsymptome  beruhen  theils  auf  gleich- 
zeitiger  coordinirter  Erkrankung  solcher  Gebiete  des  Cen trainer ven- 
systems,  welche  mit  psychischen  Processen  nichts  zu  thun  haben,  theils 
auf  dem  stbrenden  Einfluss,  welchen  die  erkrankte  Hirnrinde,  die 
Tragerin  der  psychischen  Processe,  auf  die  iibrigen  Theile  des  Central- 
nervensystems  und  auf  die  iibrigen  Organsysteme  (durch  Vermittlung 
des  Sympathicussystems)  hat,  Erstere  kann  man  auch  als  Compli- 
cationen  der  Psychosen,  letztere  als  Fernwirkungen*)  bezeichnen. 
Zu  den  complicirenden  Begleitsymptomen  gehoren  z.  B.  die  inannig- 
fachen  Motilitats-  und  Sensibilitatsstdrungen,  welche  wir  bei  Dementia 
paralytica  in  Edge  gleichzeitiger  Erkrankung  des  Riickenmarks  vor- 
finden.  Es  ergiebt  sich,  dass  derselbe  Krankheitsprocess,  welcher  in  der 
Hirnrinde  die  Psychose  erzeugt,  im  Riickenmark  und  in  den  peripheren 
Nerven  „complicirende“  Symptome  hervorruft.  So  kann  das  typische 
Krankheitsbild  der  Tabes  neben  dem  eigentlichen  Krankheitsbild  der 
Dementia  paralytica  bestehen.  Zu  den  complicirenden  Symptomen  sind 
auch  die  Lahmungen  und  Coordinationsstoruugen  zu  rechnen,  welche  bei 
Erkrankung  der  motorischen  Rindem-egion  auftreten,  Dieselben  sind  von 
irgendwelchen  Storungen  im  Bereiche  der  psychischen  Parallelprocesse 
unabhangig  und  nicht,  wie  die  Storungen  der  Handlungen,  auf  patho- 
logische  Veranderungen  der  Empfindungen  oder  Vorstelluugen  zuriickzu- 
fiihren,  sondern  lediglich  auf  pathologische  Veranderungen  der  Ursprungs- 
zellen  der  grossen  Pyramidenbahn  und  der  diese  Zellen  verkniipfenden 
Associationsfasern.  Gerade  solche  corticomotorische  Lahmungen  und 
Coordinationsstorungen  kommen  — neben  den  eben  erwahnten  spinalen 
— bei  der  vielfach  genannten  Dementia  paralytica  sehr  haufig  vor. 
Auch  der  Symptomencomplex  der  Hysterie,  der  Epilepsie  u.  s.  w.,  sowie 
endlich  der  Symptomencomplex  jeder  Herd  erkrankung  des  Gehirns 
kann  die  Psychose  compliciren:  haufig  lasst  sich  dann  zeigen,  dass  die 
Psychose  auf  dem  Boden  der  Hysterie,  Epilepsie,  des  Plirntumors  u.  s.  w. 


*)  Die  Handlungen  selbst  sind  als  directe  Wirkungen  dcr  Psychose  auf- 
zufassen. 


168 


Somatische  BeglGitsymptome  der  Psychosen. 


siuli  entwickelt  luit.  Die  letzteren  Krankheiteu  ersclicinen  von  cliesem  ' 
Stanclpuuktc  geradezii  als  die  G r u n d kranklieit  und  die  Psychose  als 
die  Complication.  Naheres  hicruber  wird  in  der  allgeineinen  Aetiologie 
angegeben  werden. 

Anders  sind  die  Fernwirkungen  aiifzufassen.  Wir  wissen,  dass 
die  Processe  in  der  liirnrinde  den  Stoffwecbsel,  den  Schlaf,  die  Driisen- 
secretionen,  die  Peristaltik  der  Eingeweide,  die  Contraction  des  Herzens 
imd  der  Blutgefasse,  die  Entwickelung  und  das  Wachstbum  der  Or- 
gane  u.  dgl.  m.  beeinflussen.  Wenn  in  Folge  der  Psycbose  die  corticalen 
Processe  verandert  sind,  so  erleiden  aucb  diese  Einfliisse  mancbe  krank- 
bafte  Veranderungen,  deren  Kenntniss  namentlicb  fiir  die  Diagnose  und 
Tberapie  der  Psycbosen  von  erbeblicbster  Bedeutung  ist. 

Zur  Erleicbterung  der  Uebersicbt  werden  aus  praktiscben  Grunden 
im  Folgenden  die  somatiscben  Begleitsymptome  der  Psycbosen  in  der 
oben  angegebenen  Reibenfolge  a bis  e besprocben  werden,  gleicbgiiltig 
ob  sie  Complicationen  oder  ob  sie  Fernwirkungen  in  dem  eben  be- 
sprocbenen  Sinne  darstellen. 


a.  Storungen  der  Motilitat. 

1.  Lahmungen. 

Die  Labmungen,  welcbe  wir  bei  Psycbosen  beobacbten,  sind  nainent- 
licb  folgende : *) 

I.  Hysteriscbe.  Ibre  Patbogenese  ist  nocb  nicbt  sicber  festgestellt. 

II.  Corticale.  Dieselben  beruben  auf  einer  organiscben  Erkrankung 
der  motoriscben  Abscbnitte  der  Hirnrinde.  Seltener  bandelt  es  sicb  urn 
eine  circumscripte  makroskopiscbe  Herd  erkrankung,  bilufiger  urn  diffuse 
mikroskopiscbe  Rindenveranderungen  (Dementia  paralytica.  Dementia 
senilis). 

HI.  Fasciculare.  Die  Pyramideubabn  ist  auf  der  grossen  Strecke 
von  der  Hirnrinde  bis  zu  den  motoriscben  Hirnnervenkernen  resp.  den 
diesen  iiquivalenten  Vorderbornganglieuzellengruppen  des  Riickenmarks 
an  irgend  einer  Stelle  unterbrocben ; meist  bandelt  es  sicb  um  eine 
bamorrbagiscbe  Zerreissung  oder  eine  tbrombotiscbe  oder  emboliscbe 
Erweicbung. 

IV.  Nucleiire.  Der  Ursprungsort  der  Labmung  ist  bier  in  den 
motoriscben  Hirnnervenkernen  resp.  in  den  diesen  aquivalenten  Gang- 
lienzellengruppen  der  Vorderbbrner  des  Riickenmarkes  zu  sucben. 


*)  Von  den  hypochondrischen  Lahmungen  wird  bei  dieser  Zusammenstellung 
abgesehen,  da  sie  durch  Vorstellungen  oder  Empfindungeu  bedingt  sind. 


Somatische  Begleitsymptome  der  Psychosen. 


169 


V.W. 


V.  Peripherc.  Meist  luindelt  es  sicli  mn  die  sog.  niidtiple  Neuritis, 
wie  sie  bei  Alkoliolisten,  Sypliilitikeru  etc.  beobachtet  wird. 

Auf  der  beistebenden  Figur  ist  der  scliematisclie  Verlauf  jeder  moto- 
risclien  Bahn  dargestellt ; aus  den  bei- 
gesetzten  Zahlen  ist  ersiclitlich , wo 
die  soeben  aufgezLihlten  Lahmungen 
ihren  Sitz  baben. 

Welclie  von  diesen  5 Labmungen 
im  einzelnen  Falle  vorliegt,  bat  selbst- 
verstandlicb  die  neuropatbologiscbe 
Untersiicbung  festzustellen.  Die  wicb- 
tigsten  Anbaltspunkte  — namentlicb 
aucb  zur  Unterscbeidung  von  der 
friiber  besprocbenen  bypocbondriscben 
Liibmung  — sind  in  dem  nacbfolgen- 
den  Schema  (S.  170)  kurz  zusammen- 
gestellt. 

Hiermit  sind  selbstverstandlicb 
nur  die  ersten  Anbaltspunkte  ge- 
geben.  Der  Psychiater  muss  die  ganze 
neuropatbologiscbe  Diagnostik  beherr- 
scben,  um  die  Labmungen  seiner 
Geisteskranken  ricbtig  zu  beurtbeilen. 

Im  Einzelnen  ist  speciell  nocb  Fol- 
gendes  zu  bemerken.  Die  corticalen 
Labmungen  sind  bei  den  sogenannten 
functionellen  Psycbosen  bocbst  selten, 
nur  ganz  ausnabmsweise  findet  man  gelegentlicb  bei  functionellen 
Psycbosen  mit  scbweren  Erscbopfungserscbeinungen  auf  der  Kobe  der 
Krankbeit  eine  leicbte  Parese,  z.  B.  eines  Mundfaciabs.  Sonst  deutet 
das  Vorhandensein  einer  corticalen  Labmung  stets  auf  eine  organiscbe 
Psycbose  (Dementia  paralytica,  Dementia  senilis  u.  s.  w.).  Die  motoriscbe 
Scbwacbe  und  krankbafte  Ermiidbarkeit  der  motoriscben  Actionen,  welcbe 
wir  dynamometriscb  bei  functionellen  Psycbosen  mitunter  nacbweisen 
kbnnen,  unterscbeidet  sicb  schon  dadurcb,  dass  sie  gleicbmassig  die 
Muskulatur  beider  Korperbalften  betritft.  Nicbt  zu  verwechseln  mit  den 
corticalen  Labmungen  sind  aucb  die  angeborenen  asymmetriscben  Inner- 
vationen,  welcbe  bei  Geisteskranken  nocb  erbeblich  baufiger  vorkommen, 
als  bei  Geistesgesunden.  Namentlicb  im  Gebiete  der  Mundfacialismusku- 
latur  ist  eine  solcbe  Verwecbslung  sehr  folgenscbwer.  Einseitiges  Ueber- 
wiegen  der  activen,  mimischen,  spracblicben  oder  Bube-Innervationen 
des  Mundfaciabs  ist  congenital  so  baufig  bei  Geistesgesunden  und  erst 


Cort.  cer.  Hirnrinde,  C.  i.  Capsula  interna, 
D.  p.  Decussatio  pyrainidum,  Vh.  Vorder- 
horn,  V.  W.  vordere  Wurzel. 


■ 1-70  Soniatischc  Bcgleitsymptorne  der  Psychosen. 


Localisation 

Ernahrungs- 

Reizerschei- 

C/> 

<D  r- 

-s  s 

:05 

2 

o 

storungen 

nungen 

*co 

M 2 

C 

- 

cc 

1.  Hypochon- 
drischo 

Moist  beschrankt 
sich  die  Lah- 

Keine  Atrophie 

Selten 

Normal 

Normal 

Norma 

Lahmung 

mung  auf  eine 
bestimmte  Be- 

wegungsform 

• 

2.  Hysterische 

Bald  mono-,  bald 

Entweder  rapide 

In  den  ge- 

• Normal 

Gemischte 

Norma 

Lahmung 

hemi-,  bald  para- 

einfacheAtrophie 

lahmtenGlie- 

Hemian- 

piegisch 

Oder  sehr  spat 

dern  haufig 

asthesie 

Inactivitats- 

Contractur 

atrophie 

3.  Corticale 

Bald  mono-,  bald 

In  der  Regel  nur 

Oft  klonische 

In  der 

Hbchstens 

Norma 

Lahmung 

hemiplegisch. 

eine  sehr  spat 

Krampfe  in 

Regel 

Par- 

Oder  g€ 

Wechselnd 

eintretende  In- 

den  gelahm- 

normal 

asthesien 

steigeri 

activitats- 

atrophie 

ten'  Gliedern 

4.  Fasciculare 

Meist  hemiple- 

In  der  Regel  nur 

Nach  3 — 4 

In  der 

Hbchstens 

Gcsteige 

Lahmung 

gisch,  zuweilen 

eine  sehr  spat 

Wochcn  oft 

Regel 

bei  schwe- 

— Itei  Sitz  un- 

eintretende  In- 

zunehmende 

normal 

ren  Fallen 

terhalb  der 

activitats- 

Contractur 

auch  eine 

Hirnschenkel  — 

atrophie 

voriiber- 

paraplegisch 

gehende 

Hemian- 

asthesie 

5.  Nucleare 

Oft  progressiv*) 

Degenerative 

Keine 

Leichte 

Intact 

Meist 

Lahmung 

Atrophie 

Ent- 

herabge 

artungs- 

setzt 

reaction 

6,  Periphcre 

Bald  sehr  zer- 

Degenerative 

Keine 

Schwere 

Stets 

Erlosche 

Lahmung 

streut,  bald  auf 
einen  periphe- 

Atrophie 

Ent- 

Hyper- 

artungs- 

asthesien 

ren  Nerv  be- 

reaction 

schrankt 

1 

reclit  bei  Geisteskrankeu  imd  ist  so  scliwer  von  ervvorbenen  Lahmungen 
des  Mundfacialis  zu  trennen,  dass  man  im  Allgemeinen  eine  Minder- 
innervation  eines  Mundfacialis  nnr  dann  diagnostiscb  veiuverthen  soil, 
wenn  der  ervvorbene  Charakter  feststeht,  wenn  also  sicher  beobaclitet 
ist,  dass  die  bez.’  Parese  vor  Ausbrucli  der  Psycbose  nicbt  bestand. 


2.  Motorische  Beizerscheinungen. 

Scbon  mebrfach  wurde  erwahnt,  dass  Epilepsie,  Hysterie,  Chorea 
mit  Psycbose  zusammen  auftreten  konnen.  So  beobaclitet  man  denn 
aucli  epileptiscbe  und  hysterische  Anfalle,  sowie  choreatiscbe  Bewegun- 

*)  Die  acutcn  P'ormen  (essentielle  Kinderlahmung  etc.)  sind  haufig  mono- 
plegisch. 


Somatische  Begleitsymptome  der  Psychoson.  171 

geu*)  iu  solchen  Fallen.  Gelegentlich  fiiiclet  man  aiich  vereinzelte,  durcli 
jahrelange  Zwisclienraume  getrennte  epileptische  Anfalle  bei  solchen 
Geisteskranken,  bei  welchen  von  geniiiner  Epilepsie  — eben  wegen  der 
imgemeinen  Seltenheit  der  Anfalle  — nicht  wohl  die  Rede  sein  kann. 
Namentlich  bei  sog.  originaren  Psychosen,  d.  h.  in  Fallen,  wo  neuro- 
pathische  oder  psychopathische  Symptome  sich  bis  auf  die  fiiihe  Kind- 
heit  zuriickverfolgen  lassen,  ist  dies  Vorkommniss  nicht  selten.  Symp- 
tomatische  epileptische  Anfalle,  welche  denjenigen  der  genuinen 
Epilepsie  diirchaus  gleichen,  kommen  gelegentlich  bei  alien  organischen 
Hiruerkrankungen  und  daher  denn  aiich  bei  den  auf  organischer  Basis 
beruhenden  Psychosen  (Dementia  paralytica  u.  s.  w.)  vor. 

Von  den  typisch-epileptischen  Anfallen,  fiir  welche  ausser  der  Aut- 
hebung  des  Bewnsstseins  der  Ablauf  in  zwei  Stadien,  einem  tonischen 
und  einem  klonischen,  und  die  allgemeine  annahernd  symmetrische  und 
gleichzeitige  Betheiligung  der  ganzen  Korpermuskulatur  charakteristisch 
ist,  sind  die  sog.  epi  leptifo  rmen  Anfalle  oder  Ri  ndencou  vul- 
sionen  durchaus  zu  trennen.  Bei  diesen  ist  der  Krampf  vorwiegend 
klonisch;  auch  treten  die  verschiedenen  Mu^celgruppen  in  einer  be- 
stimmten  zeitlichen  Reihenfolge  in  den  Krampf  ein,  welche  der  raum- 
lichen  Reihenfolge  der  motorischen  Centren  in  der  Hirnrinde  entspricht. 
Am  haufigsten  sind  diese  Rindenconvulsionen  bei  der  Dementia  paralytica. 
Dieselben  werden  daher  auch  in  der  speciellen  Pathologie  bei  Bespre- 
chung  dieses  Leidens  ausfiihrlicher  zu  beschreiben  sein.  Gelegentlich 
beobachtet  man  sie  bei  alien  corticalen  und  subcorticalen  Herderkran- 
kungen. 

Unter  den  isolirten  Krampferscheinungen  beobachtet  man  bei 
Geisteskranken  besonders  haufig  Zahneknirschen  (Mastication).  Das- 
selbe  kommt  namentlich  bei  organischen  Psychosen  (Dementia  paralytica. 
Idiotic  u.  s.  w.)  vor,  nicht  selten  aber  auch  bei  den  schweren  Erregungs- 
zustanden,  wie  sie  im  Verlaufe  der  Mania  gravis,  der  ideenfliichtigen 
und  der  incoharenten  Paranoia  beobachtet  werden.  Insbesondere  neigen 


*)  Von  den  frixher  beschriebenen  Jactationen  der  motorischen  Incoharenz  unter- 
scheiden  sich  die  choreatischen  Bewegungen  dadurch,  dass  sie  ohne  Stoning  der  Ideen- 
association  resp.  ganz  unabhangig  von  einer  solchen  auftreten.  Bei  der  choreatischen 
Bewegungsstorung  handelt  es  sich  um  eine  von  Vorstellungen  und  Vorstellungsstorungen 
ganz  unabhangige  oder,  wie  man  auch  sagt,  „unwillkurliche“  Stoning  der  beabsichtigten 
normalen  Bewegung  oder  auch  der  Riihe  durch  Zwischenbewegungen.  Bei  der  motori- 
! schen  Incoharenz  ist  die  Ideenassociation  iiicoharent  und  dementsprechend  auch  der 
Ablauf  der  Bewegungen  seines  Zusammenhanges  beraubt:  die  normalen  Bewegungen  sind 
durch  pathologische  ersetzt ; das  ilussere  Bild  kann  fast  ganz  dasselbe  sein.  Die  Aus- 
kiinft  der  Kranken  und  die  Beobachtung  der  Entstehung  der  Bewegungsstorung  fiihrt 
oft  allein  zu  einer  sicheren  Diagnose.  Ist  die  Chorea  mit  Psychose  complicirt,  so 
kann  die  Unterschoidung  oft  sehr  schwer  oder  iinmdglich  werden. 


172  Somatische  Begleitsymptome  der  Psychosen. 

jugeiidlioliG  Individuen  in  den  Ictztcrwalmten  Krunkheiten  zu  Zulme- 
kuii’sclieu. 

Die  lauger  aulialtenden  tonischen  Krampferscheinungen  bezeichnet 
man  als  Contracturen.  Passive  Contracturen,  d.  h.  Contrac- 
turen,  welche  niclit  auf  einer  pathologisch  gesteigerten  Innervation,  sou- 
dein  auf  Schrumpfung  der  Muskelu  berulien,  sind  bei  Geisteskranken, 
welche  auf  Grund  bestimmter  Vorstellungen  oder  Empfindungen  jahre- 
lang  dieselbe  Stellung  einnehmen,  ab  und  zu  beobachtet  worden.  Die- 
selben  sind  theils  als  Inactivitats-,  theils  als  Gewohnheitscontracturen 
aufzufassen.  Unter  den  activen  Contracturen  kommen  fiir  die 
psychiatrische  Diagnostik  namentlich  die  hysterischen  Contracturen  so- 
wie  die  in  Folge  organischer  Erkrankung  der  Pyramidenbahn  — an 
iigend  einer  Stelle  ihres  ganzen  Verlaufs  von  der  Hirnrinde  bis  zu  den 
Vorderhbrnern  des  Riickenmarks  excl.  — auftretenden  Contracturen  in 
Betracht.  Diese  hysterischen  und  organischen  Contracturen  konnen  zu- 
weilen  den  friiher  erwahnten  katatonischen  Stellungen  in  hohem  Maasse 
ahneln.  Differentialdiagnostisch  kommt  namentlich  fiir  die  hysterischen 
Contracturen  der  Nachweis  der  hysterischen  Sensibilitatsstorung,  fiir  die 
organischen  die  Steigerung  der  Sehnenphanomene  in  den  betreffenden 
Gliedern  in  Betracht. 

Unter  den  klonischen  Kriimpfen  ist  namentlich  des  sog.  Tic  convulsif 
zu  gedenken,  welcher  als  complicirendes  Symptom  des  sogenannten  neu- 
rasthenischen  Irreseins  und  als  Zeichen  einer  neuro-  resp.  psycho- 
pathischen  Constitution  bfter  zur  Beobachtung  gelangt. 


3.  Storungen  im  Ablauf  der  willkurlichen  Bewegungen. 

Es  handelt  sich  hier  namentlich  um  die  Coordinationsstorungen  und 
die  als  Intentionstrenior  bezeichneten  rhythmischen  Unter brechungen  des 
Ablauts  der  Bewegung.*)  Erstere  bezeichnet  man  auch  ganz  allgemein  als 
Ataxie  und  unterscheidet  spinale,  cerebellare  und  corticale  Ataxien,  AUe 
diese  Ataxien  konnen  als  complicirende  Symptome  bei  Psychosen  vor- 
kommen.  So  kann  z.  B.  bei  einer  Dementia  paralytica  eine  typische 
spinale  Ataxie  in  Folge  der  Complication  mit  Hinterstrangserkrankung 
des  Riickenmarks  auftreten.  Am  wichtigsten  sind  die  corticalen  Ataxien. 
Bei  denjenigen  Psychosen,  welche  auf  organischer  Rindenerkrankung 
beruhen,  — also  wiederum  namentlich  bei  der  Dementia  paralytica  — . 
geht  in  Folge  der  Zerstorung  der  motorischen  Rindenelemente  und  der 
sie  verkniipfenden  Associationsfasern  die  Coordination  der  willkurlichen 
Bewegungen  und  zwar  gerade  zuerst  die  fiir  die  complicirter en  Be- 


*)  Der  chorcatischen  Eewcgungsstorung  wiirde  schon  obeu  gedacht. 


Somatisclio  Beglcitsymptome  der  Psyclioscn. 


173 


wegiiugeu  erforderliclie  feinere  Coordination  verloren.  Am  friiliesten 
niacht  sicli  dies  in  der  Regel  auf  dem  Gebiet  der  Spracharticulation 
a-eltend.  Es  komint  bei  diesen  Kranken  zu  Consonanten-  und  Silben- 
versetzungen  und  -verweclislungen.  Je  mehr  Rindenfasern  und  Rinden- 
eleinente  zii  Grimde  geben,  nm  so  defector  wird  die  Spracbe.  Scliliess- 
licb  leidet  ancb  die  Articulation  des  einzelnen  Buchstabens,  d.  b.  die 
Coordination  von  Lippen-,  Gauinen-,  Zungen-  und  Ivehlkopfbewegungen, 
■welche  zu  seiner  Hervorbringuug  erforderlich  ist,  ist  gestort.  Sind  alle 
Rinden-  und  Associationsfasern , welcbe  bei  dem  Aussprecben  eines 
Wortes  mitwirken,  zu  Grunde  gegangen,  so  wird  aus  der  spracblicben 
Coordinationsstorung  eine  apbasische  Stbrung : der  Kranke  bat  wobl 
noch  den  Begriff  des  beziiglicben  Gegenstandes,  aber  er  kann  das  Wort 
fiir  denselben  niclit  mehr  aussprecben.  So  kann  aus  der  ataktisclien 
Spracbstorung  allmablich  eine  motorische  Aphasie  sicb  entwickeln.  Bei 
, anderen  Kranken  sind  es  namentlich  die  Coordinationen  fiir  das  Scbreiben 
■ Oder  Geben  oder  Steben  oder  Greifen,  welcbe  in  Folge  einer  Mitbe- 
tbeiligung  der  motoriscben  Zonen  an  dem  organiscben  Krankbeitsprocess 
gestort  sind. 

Die  Gefabr,  diese  organiscb  bedingten  Spracbstbrungen  u.  s.  w.  mit 
bysterischen  oder  mit  den  fruber  erwahnten  bypochoudrischen  Spracb- 
stbrungen zu  verwecbseln , ist  zuweilen  recbt  gross.  Der  bysteriscbe 
Cbarakter  einer  Spracbstorung  wird  sicb  namentlich  durcb  genaue 
Priifuug  auf  bysteriscbe  Sensibilitatsstorung  feststellen  lassen.  Die 
bypocbondriscben  Spracbstbrungen  verratben  sicb  durcb  ibre  Abhaugig- 
keit  von  einer  bestimmten  Vorstellung.  Wenn  eine  Kranke  regebnassig 
und  ausscbliesslicb  einen  bestimmten  Buchstaben,  z.  B.  z,  in  alien 
Wbrtern  weglasst,  so  ist  dies  kaum  anders  zu  erklaren  als  dadurcb, 
dass  die  Kranke  die  Vorstellung  bat,  z nicbt  aussprecben  zu  kbnnen; 
denn  es  lasst  sicb  gar  nicbt  abseben,  wie  ein  organischer  Process  in 
alien  Wortcoordinationen  gerade  dies  eine  Element  zerstbren  kbnnte. 
Nocb  erheblicb  scbwerer  ist  die  Verwecbslung  einer  organiscben  Spracb- 
ataxie  mit  der  Spracbstbrung,  wie  sie  durcb  Verlangsamung  und  In- 
cobarenz  der  corticalen  Associationen  bedingt  wird,  zu  vermeiden.  Die 
Affecte  des  Zorns  und  der  Angst  kbnnen  selbst  bei  dem  Geistesge- 
sunden,  namentlich  aber  bei  dem  Geisteskranken  Spracbstbrungen  er- 
zeugen,  welcbe  der  organiscben  ataktiscben  Spracbstbrung  sebr  abnlicb 
sind.  Aucb  die  Ermiidung  oder  Erscbbpfung  kann  Verlangsamung  und 
Incoharenz  der  spracblicben  Associationen  bedingen.  Endlicb  wurde 
scbon  friiher  die  Spracbstbrung  als  eine  Theilerscbeinung  der  sog.  pri- 
maren  Incoharenz  bescbrieben;  aucb  diese  abnelt  zuweilen  der  organi- 
schen  Spracbstbrung  in  bobem  Maasse.  Um  sicb  vor  solcben  Vcr- 
wechslungen  zu  scbiitzen,  wird  man  stets  bedenken  miissen,  dass  die 


174 


Sonititischc  BGglcil8yinj)tomG  (iGr  Psycho  sen. 


aul  Verhingsiimung  uiid  Incoliareiiz  der  Association  beruhende  Sprach- 
stdiiing  stets  eine  1 heilerscheiming  eiuer  allgeineinen  Verlangsamung 
resp.  Incoluirenz  aller  corticalen  Associatioueu  ist.  Man  findet  daher 
neben  der  Sprachstorung  stets  aucli  Ilemmung  resi).  Incohilrenz  des 
Denkens,  wiilirend  die  organisclie  Sprachstorung  isolirt  dasteht  oder 
init  Symptomen  des  Intelligenzdefectes , d.  h.  des  dauernden  Ausfalls 
von  Vorstellungen  und  Vorstellungsassociationen  verkniipft  ist.  Bei  Be- 
sj^iechiing  der  Dementia  paralytica  in  der  speciellen  Pathologic  wird 
auf  diese  Differentialdiagnose  zuriickzukommen  sein. 

Tremor-Erscheinungen  sind  bei  Psychosen  sehi-  hiiufig.  So  kann 
die  Complication  der  Psychose  mit  multipler  Sklerose,  Morbus  Base- 
dowii,  Paralysis  agitans  u.  dgl.  das  Vorhandensein  dieser  oder  jener  Form 
des  Tremors  bedingen.  Ein  typischer  Intentionstremor  findet  sich  hiiufig 
bei  Dementia  i)aralytica.  Auf  dem  Gebiet  der  Augenbewegungen  wird  er 
als  Nystagmus  bezeichnet,  auf  dem  Gebiet  der  Sprache  fiihrt  er  zu  einer 
tremulirenden  Aussprache  der  Vokale.  Enter  den  Intoxicationspsy- 
chosen  kommen  uamentlich  die  durch  chronischen  Missbrauch  von  Al- 
kohol,  Morphium,  Nicotiana  und  Quecksilber  hervorgerufenen  Geistes- 
stbi  ungen  in  Betracht.  Das  Zittern  tritt  ebensowohl  bei  activen  Be- 
wegungen  (als  Intentionstremor)  auf  wie  bei  statischen  Innervationen,  d.  h. 
bei  dem  activen  Einnehmen  bestimmter  Ruhe-  und  Schwebehaltungen,  so 
z.  B.  bei  dem  freien  Spreizen  der  Finger.  Bei  chronischen  Alkoho- 
listen  kann  dasselbe  so  heftig  werden,  dass  Gehen  und  Stehen  dem 
Kranken  unmoglich  wird.  Dem  alkoholistischen  Tremor  nahe  verwandt 
ist  der  epileptische  Tremor,-  welcher  besonders  bei  statischen  Innerva- 
tionen deutlich  hervorzutreten  pflegt.  Audi  der  hysterische  Tremor  in 
seinen  verschiedeuen  Formen  complicirt  ofters  eine  Psychose.  Endlich 


kommt  im  Alter  bei  geisteskranken  Greisen  noch  ofter  als  bei  Geistes- 
gesunden  ein  eigenartiges  Zittern  vor,  welches  durch  die  starke  Mit- 
betheiligung  des  Kopfes  ausgezeichnet  ist.  Alle  diese  Tremorformen 
sind  bald  mit  einer  Lahmung  bezw.  Schwache  der  zitternden  Muskeln 
verbunden,  bald  nicht. 

Eine  besondere  Stellung  in  der  Reihe  der  Tremorformen  nehmen 
das  Affeetzitter n und  das  Erschdpfungszittern  ein.  Beide  sind 
gerade  bei  Geistesstorungen  sehr  haufig  und  stets  mit  motorischer 
Schwache  verkniipft.  Enter  den  Affecten  fiihren  namentlich  Angst 
und  Zorn,  zuweilen  auch  freudige  Erwartung  zu  Tremor.  Am 
starksten  ist  er  in  den  Handen  ausgesprochen.  Meist  ist  er  leicht  arhyth- 
misch  und  stets  diu’ch  Geschwindigkeit  und  Kleinheit  der  Oscillationen 
ausgezeichnet.  Er  iiussert  sich  ebensowohl  bei  activen  Bewegungen 
wie  bei  statischen  Innervationen.  In  der  aussereii  Erscheinung  ist 
das  Erschdpfungszittern  dem  Alfectzittern  sehr  ilhnlich.  Bei  alien  sog. 


Somatische  Begleitsymptomc  der  Psychosen. 


175 


Erschopfuugspsyclioseu,  also  denjeuigen  Geistesstorungen,  welche  auf  dem 
Boden  iibertriebener  Inauspruchnahme  des  Centralnervensystems  bei  un- 
geuiigeuder  Erliolimg  bezw.  Ernalmmg  desselben  aiiftreten,  begegnen  wir 
demselben  sehr  liaiifig. 

AbnorniG  Mitb6\v6guiig6ii  sind  glGiclifalls  bGi  GGistGskianlcGii 
niclit  SGltGD.  Am  liaufigstGn  bGobachtGt  man  siG  bGi  angcborGnGn  odGr 
in  friiliGstGr  Kiudlmit  GrworbGnGn  organiscliGn  HirnGrkranlmngGn.  Audi 
diG  InuGi-vationGU  parGtiscliGr  MuskGln  bGi  dGr  DGmGntia  paralytica  und 
senilis  sind  oft  mit  Mitbewegungen  verkniipft.  So  kaun  bei  dem  Aus- 
spreclien  eines  etwas  schwierigen  Wortes  fast  die  ganze  Gesichtsmuscu- 
latur  in  heftige  Mitbewegungen  gerathen.  Mitunter  nehmen  diese  Mit- 
bewegungen geradezu  einen  spastisclien  Cbaraktei  an.  Eine  eigenaitige 
Form  spastischer  Mitbewegungen  im  Bereicli  der  Phonationsmusculatur 
stellt  auch  das  Stottern  dar. 

p.  Storungen  der  automatischen  Akte. 

Bei  dem  Menschen  sind  die  meisten  automatischen  Akte  aus  Haud- 
lungen  entstanden.  Der  Klavierspieler  spielt  eiu  Musikstlick,  welches  er  oft 
geiibt  hat,  schliesslich  automatisch,  d h.  ohne  dass  psychische  Parallelpro- 
cesse  vorhanden  sind.  Diese  aus  Handluugeu  hervorgegangeneu  automa- 
tischen Akte  konnen  bei  dem  Geisteskranken  dieselben  Storungen  zeigen 
wie  die  Handlungen  selbst.  Es  kann  daher  einfach  auf  die  Storungen  des 
Handelns  zuriickverwiesen  werden.  Nur  ist  hervorzuhebeu,  dass  zuweileu 
die  automatischen  Akte  vor  den  Handlungen  dem  Kranken  verloren 
gehen.  So  kommt  es  vor  (bei  Dementia  paralytica,  bei  Erschopfimgs- 
psychosen  u.  s.  w.),  dass  der  Kranke  Bewegungen,  welche  er  friiher  automa- 
tisch ausfiihrte,  jetzt  nur  bei  Anspannung  aller  Aufmerksamkeit  auszufiihren 
vermag.  Seltener  beobachtet  man,  dass  umgekehrt  der  Kranke  auto- 
matische  Bewegungen  noch  auszufiihren  vermag,  welche  ihm  bei  Hin- 
lenkung  oder  Anspannung  der  Aufmerksamkeit  nicht  gelingen. 

y.  Storungen  der  Reflexe  und  Sehnenphanomen-Reflexe. 

Eine  Herabsetzung  oder  Aufhebung  der  PI  an  tar  reflexe  ist  so- 
wohl  bei  functionellen  wie  bei  organischen  Psychosen  haufig.  Grossere 
Bedeutung  kommt  diesem  Symptom  in  diagnostischer  Hinsicht  nicht  zu, 
wofern  es  doppelseitig  ist ; denn  auch  bei  Gesunden  trifft  man  gelegent- 
lich  sehr  schwache  Plantarrefiexe.  In  stuporosen  Zustanden  ist  Flerab- 
setzung  der  Sohlenreflexe  fast  stets  zu  constatiren.  Einseitige  Herab- 
setzung oder  Aufhebung  der  Sohlenreflexe  ist  stets  pathologisch  und 
flndet  sich  weitaus  am  hautigsten  bei  den  verschiedeneu  Eormen  des 
hysterischen  Irreseins  und  bei  solchen  orgauisch  - bedingten  Psychosen, 


176 


Somatische  Begleitsymptome  der  Psychosen. 


welclie  niit  Ixilckenmarkserkrankuug  comi)licirt  sind.  Voriibergeliend 
tritt  sie  in  den  paralytisclien  Anfallen  der  Dementia  ijaralytica  auf  der 
Seite  der  Liilimimg  auf.  Steigerung  der  Plantarreflexe  und  zwar  doppel- 
seitige  ist  ein  haufiges  Begleitsymptom  der  allgemeinen  Hyperasthesie 
und  oline  besondere  diagnostische  Bedeutuug.  Halbseitige  Steigerung 
fiudet  sicli  am  haufigsten  })ei  hysterischen  Psychosen,  seltener  bei  or- 
ganisch-bedingten. 

Die  epigastrisclien  Beflexe  sowie  die  Cremasterreflexe  sind 
bei  dem  Gesunden,  wofern  nur  die  Bauchmuskelu  resp.  der  Cremaster 
geniigend  erschlafft  sind,  stets  zu  erzielen.  Bei  Geisteskranken  fiihrt 
die  mit  Spinalerkrankung  complicirte  Dementia  paralytica  sehr  oft  zu 
einseitiger  oder  doppelseitiger  Herabsetzung  oder  Aufhebung  dieser  Beflexe. 
Bei  der  Hysteric  fallt  die  halbseitige  Differenz  der  Beflexe  ofter  auf. 

Der  Conjunctival-,  Palpebral-  und  Co  rnealreflex  ist  bei 
den  stupordsen  Zustanden  in  der  Begel  erhalten,  wahrend  bei  den  sopo- 
rosen  Zustanden  diese  Beflexe  in  der  Begel  herabgesetzt  oder  aufge- 
hobeu  sind. 

Der  Wiirg-  oder  Gaumenreflex  ist  am  haufigsten  bei  der  Hy- 
steric, seltener  bei  organisch-bedingteu  Psychosen  herabgesetzt  und  zwar 
bald  einseitig  bald  doppelseitig. 

Von  grosster  Bedeutiing  fiir  die  psychiatrische  Diagnostik  ist  die 
Untersuchimg  der  P upillarr ef lexe.  Es  ist  stets  die  Promptheit, 
die  Ausgiebigkeit  und  die  Nachhaltigkeit  der  Pupillenreactionen 
zu  priifen  und  zwar  sowohl  der  directen  und  synergischen  Lichtreaction 
wie  der  Convergenzreaction.  Mangel  an  Promptheit  der  Licht- 
reactionen  (=  Lichttragheit)  ist  fast  stets  gleichbedeutend  mit  Auf- 
hebiing  der  Lichtreactionen  (=  Lichtstarrheit)  und  weist  wie  diese 
auf  eine  organisch-bedingte  Psychose  hin,  und  zwar  kommen  namentlich 
Dementia  paralytica.  Dementia  senilis.  Lues  cerebri  und  die  alkoholisti- 
schen  Psychosen  in  Betracht.  Auch  bei  chronischeu  Morphinisten  wird 
Puiiillentragheit  und  selbst  Pupillenstarre  beobachtet.  Die  Complication 
einer  Psychose  mit  Tabes  bedingt  selbstverstandlich  ebenfalls  das  Auf- 
treten  von  Pupillentragheit  resp.  Pupillenstarre.  Ein  neues  diagnostisches 
Moment  ist  insofern  damit  nicht  gegeben,  als  in  der  iibergrossen  Mehr- 
zahl  dieser  Falle  die  mit  der  Tabes  vergesellschaftete  Psychose  die 
Dementia  paralytica  ist,  deren  Beziehung  zu  der  Pupillentragheit  schon 
erwahut  wurde.  Voriibergehende  Pupillenstarre  beobachtet  man  ab  und 
zu  in  schwersten  epileptischen  Anfallen,  sowie  sehr  selten  in  epilep- 
tischen  Dammerzustanden.  Mangel  an  Ausgiebigkeit  der  Licht- 
reactionen ist  diagnostisch  bedeutungslos.  Er  findet  sich  — meist  zu- 
gleich  mit  Mydriasis  — ungemein  haufig  bei  alien  Erschopfungspsychosen, 
ferner  l)ei  dem  epileptischen  und  hysterischen  Irresein,  endlich  bei  den 


Soiuatisclie  Bcgleitsymptomc  tier  Psychoscn. 


177 


Verscliiecleusteii  organisclieu  Psycliosen.  Es  bedarf  nameutlicli  bei  wider- 
strebendeu  Krauken  oft  eiuer  grosseu  Geduld  und  scliarfer  Beobachtuug, 
urn  diesen  Mangel  an  Ausgiebigkeit  mit  der  eben  erwlilinten  Tragheit 
iiicht  zu  verwecliselu : die  imausgiebige,  aber  trotzdem  prompte  Reaction 
Avird  sehr  leicbt  iibersehen.  Mit  der  Uiiausgiebigkeit  der  Lichtreaction 
verbindet  sich  oft  ein  weiteres  Symptom:  immittelbar  nach  der  Veren- 
gerung  tritt  sofort  wieder  eine  Erweiterimg  ein  (Mangel  anNaclibaltig- 
keit).  Diese  Wiedererweiterimg  ist  baulig  von  sog.  elastischen  oder 
liydraulischen  Schwankungen  der  Pupillenweite  (Hippus)  begleitet.  Mit- 
unter  kann  aucli  die  secundare  Erweiterung  ausgiebiger  als  die  primtire 
Verengerung  sein.*)  Alle  diese  Begleiterscheinimgen  der  Unausgiebigkeit 
haben  diagnostische  Bedeutung  bis  jetzt  nicht  erlangt.  Sie  finden  sicli 
bei  mancben  functionellen  Psychosen  sogar  liaufiger  als  bei  organiscben, 
Storungen  der  C on v ergenzreaction  sind  erheblicli  seltener:  Aufhebung 
und  Triigbeit  sind  bei  organiscben  Psycbosen  sowie  bei  Complicationen 
mit  Tabes’  am  baufigsten,  Unausgiebigkeit  und  rascbe  Ermiidung  kommen 
aucb  bei  functionellen  Psycbosen  vor. 

Der  Blinzel reflex  bei  plotzlicber  Belicbtung  des  Auges  oder 
brusker  Annaberung  eines  Fingers  ist  in  stuporosen  Zustandeu  oft 
iiusserst  scbwacb,  bei  organiscben  Psycbosen  kann  er  aufgeboben  seiu. 
Seine  Prufung  ist  desbalb  von  Wertb,  weil  wir  bei  soporosen  oder 
scbwacbsinnigen  Kranken  mittelst  desselben  bfters  eine  Hemianopsie 
feststellen  kbnnen,  welcbe  sonst  gar  nicbt  zu  constatiren  ware.  Fabren 
wir  z.  B.  rascb  mit  dem  Finger  von  der  recbten  Seite  auf  das  linke 
oder  recbte  Auge  zu  und  bleibt  das  Blinzeln  aus,  wahrend  es  bei  An- 
naberung von  bnks  prompt  eintritt,  so  ist  eine  recbtsseitige  Hemianopsie 
sebr  wabrscbeinlicb.  Fiir  die  Diagnose  ist  mit  dieser  Feststellung  oft 
ein  wicbtiger  Anbaltspunkt  gewonnen. 

Sehnenphanomene . 

Ilerabsetzung  oder  Aufbebuug  eines  oder  beider  Kuiepbii- 
nomene  bei  einem  Geisteskranken  deutet  meist 
1.  auf  Dementia  paralytica 
oder  2.  auf  Complication  mit  Tabes 
oder  8.  auf  Complication  mit  multipler  Neuritis. 

Die  seltenen  Fillle,  in  welcben  eine  Complication  der  Psycbose  mit  pro- 
gressive!’Muskelatr  opine,  Poliomyelitis  u.  dgl.  Herabsetzung  oder  Aufbebung 
der  Kniepbanomene  bedingt,  kommen  praktiscb  kaum  in  Betracbt.  Sebr 


*)  So  kann  die  Tansdinng  entstehen,  — wenn  nilinlich  die  primare  Verengerung 
sebr  unausgiebig  ist  — als  rule  die  Belicbtnng  eine  Erweiterimg  der  Pupille  hervor. 

12 


Ziehen,  Paychiatrie. 


178 


Sonmtischc  Bcgleitsynii)tome  der  Psychosen. 


wiclitig  ist,  class  das  Felilen  der  Kniepliaiioinene  bei  Dementia  paralytica 
iiicht  stets,  aber  dock  haulig  auf  die  Complication  mit  einer  typisclien 
Tal)es  zuriickzufiiliren  ist.  Der  unter  1 und  der  unter  2 angefubrte  Fall 
decken  sicli  also  tlieilweise.  Auch  bei  Syphilis  des  Centralnervensystems 
beobachtet  man  zuweilen  Fehlen  der  Kniephanomene  (mitunter  zugleich  mit 
ein-  Oder  doppelseitiger  Lichtstarre  der  Pupillen).  Insbesondere  kommt 
bier  aiicli  der  angeborene  Schwachsinn  bei  hereditar-syphilitischen  Kindern 
in  Betraclit. 

Vor ilbergehendes  Fehlen  der  Kniephanomene  kommt  in  tiefem 
Coma  vor,  so  z.  B.  auch,  wenn  auch  selten,  im  epileptischen  Coma.  Auch 
bei  schweren  Collapszustanden,  mit  und  ohne  Coma,  gehen  die  Kniepha- 
nomene zuweilen  verloren.  Namentlich  gilt  dies  von  den  Collapszustanden, 
welche  man  bei  den  schwersten  Formen  des  in  Irrenanstalten  recht  haufigen 
acuten  Darmkatarrhs  beobachtet.  Unter  8 Fallen  solchen  Darmkatarrhs, 
welche  das  Westphal’sche  Zeichen,  d.  h.  Aufhebung  der  Kniephanomene 
zeigten,  endeten  7 todtlich. 

Dass  gerade  bei  Geisteskranken  die  Priifung  des  Kniephanomens 
besondere  Vorsicht  erheischt,  ist  selbstverstiindlich.  In  vielen  Fallen  hat 
man  mit  mangelhafter  Erschlafiung  der  Beinmuskeln,  welche  bekannt- 
lich  zum  Erzielen  des  Phiinomens  unerlasslich  ist,  zu  kiimpfen.  Der 
Jendrassik’sche  Kunstgriff  (Ballen  der  Fauste)  oder  auch  der  Schreiber’sche 
(Reibung  der  Innenflache  der  Oberschenkel)  sind  sehr  haufig  erforderlich, 
um  das  Kniephanomeu  zu  erzielen.  Sehr  empfehlenswerth  ist  gerade 
bei  Geisteskranken  auch  eine  von  Buzzard  empfohlene  Methode:  man 
lasst  den  Kranken  sitzend  die  Fussspitze  des  Beins,  welches  man  priifen 
will,  fest  auf  den  Boden  aufdriicken  und  beklopft  die  Quadricepssehne 
wiihrend  dieses  Aufstemmens  der  Fussspitze. 

Doppelseitige  Steigerung  der  Kniephanomene  hat  fiir  die  psy- 
chiatrische  Diagnose  keine  Bedeutung,  einseitige  wie  iiberhaupt  jede 
halbseitige  Differenz  der  Kniephanomene  ist  am  haufigsten  auf  eine 
Herderkrankung  im  Verlauf  der  Pyramidenbahn  (z.  B.  auf  eine  voraus- 
gegangene  Hamorrhagie  im  Bereich  der  inneren  Kapsel)  oder  auf  De- 
mentia paralytica  oder  Dementia  senilis  zu  bezieheu. 

Fehlen  der  Achillessehnenphanomene  hat  dieselbe  schwer- 
wiegende  Bedeutung  wie  das  Fehlen  der  Kniephanomene.  Nur  bei 
Frauen,  die  geboiAn  haben,  beobachtet  man  gelegentlich  Fehlen  der 
Achillessehnenphanomene,  ohne  dass  eine  der  oben  angefiihrten  Krank- 
heiten  und  auch  ohne  dass  Syphilis  vorliegt.  Die  Steigerung  der  Achilles- 
sehnenphanomene gewinnt  nur  dann  einige  Bedeutung,  wenn  zugleich 
Fus  ski  onus  zu  erzielen  ist.  Dieser  kommt  namentlich  vor  bei: 

1.  Dementia  paralytica: 

2.  Dementia  senilis; 


Somatische  Bcgleitsymiitomc  cler  Psychosen. 


179 


3.  Multipier  Sklerose,  welclie  selir  liaufig  Denkhemmung  und 
aucli  lutelligenzdefect  bediugt; 

4.  Hysterie; 

5.  Epilepsie; 

6.  scliweren  Fallen  des  neurastlienisclien  Irreseius. 

Halbseitiger  Fiissklonus  findet  sich  bei  den  sub  1 — 3 genannten 
Krankheiten  sowie  bei  Herderkrankungen  des  Geliirnes  auf  der  Seite  der 
Lalimung.  Selir  selten  beobachtet  man  balbseitigen  Fussklonus  aucb  bei 
den  unter  4 — 6 aufgezahlten  functionellen  Neurosen. 

Das  Anconeuss  ehnenp  banonien  ist  in  diagnostiscber  Beziebung 
weit  weniger  werthvoll.  Sebr  selten  fehlt  es  ganz.  Es  hangt  dies  wahr- 
scheinlicli  damit  zusammen,  dass  die  Beklopfung  der  Anconeussebnen 
stets  aucb  eine  idiomusculare  Contraction  auslost.  Die  einzigen  Fade, 
in  welcben  es  vollig  feblte,  betrafen  Paralytiker,  bei  welchen  die  Sec- 
tion bocbgradige  graue  Degeneration  im  Gebiet  der  binteren  Wurzel- 
zonen  des  Buckenmarks  ergab. 

Anbangsweise  sei  bier  aucb  nocb  kurz  der  sog.  idiomuscularen 
Erregbarkeit  gedacbt.  Dieselbe  aussert  sicb  darin,  dass  bei  Beklopfung 
eines  Muskels  (nicbt  einer  Sebne)  erstens  eine  Gesammtcontraction  des 
Muskels  und  zweitens  local  — d.  b.  an  der  Stelle  der  Beklopfung  — die 
Bildung  eines  Querwulstes  eintritt.  Diese  idiomusculare  Erregbarkeit  ist 
bei  Geisteskranken  sebr  baufig  gesteigert.  Bei  epileptiscben  sowie  in 
den  „paralytiscben  Anfallen^^  der  Dementia  paralytica  beobacbtet  man 
zuweilen  einen  Querwulst,  der  uber  10  Secunden  sicbtbar  bleibt.  Sonst 
ist  die  Steigerung  der  mecbanicben  Muskelerregbarkeit  bei  Geisteskranken 
wie  bei  Geistesgesunden  am  baufigsten  einerseits  bei  jugendlicben,  sebr 
muskelkraftigen,  und  andrerseits  bei  senilen  und  kacbektiscben  Individuen. 
Zuweilen  beobacbtet  man  sogar  ein  Ueberspringen  der  Contraction  auf 
benacbbarte  Muskeln. 

5.  Sensible  und  sensorielle  Storungen. 

Der  Hypastbesien  und  Hyperastbesien  sowie  der  Hypalgesien  und 
Hyperalgesien  wurde  bereits  friiber  gedacbt.  Es  erubrigt,  bier  nocb 
kurz  der  Parastbesien  zu  gedenken,  soweit  sie  nicbt  den  friiber  be- 
sprocbenen  Illusionen  oder  Hallucinationen  angebdren,  soweit  sie  also 
nicbt  durcb  eine  Erkrankung  der  Hirnrinde,  sondern  durcb  eine  Er- 
krankung  der  cerebralen,  spinalen  und  peripberen  Leitungsbabnen  bedingt 
sind.  So  kdnnen  die  Parastbesien  der  Tabes  und  der  multiplen  Neu- 
ritis eine  Psycbose  compliciren.  Bei  der  Dementia  paralytica  sind  Par- 
astbesicn  aucb  in  solcben  Eiillen  bilufig,  wo  das  typiscbe  Bild  der 
T-abes  ganz  feblt.  Es  bleibt  dann  zweifelbaft,  ob  dieselben  anf  der 

12* 


180 


Somatische  Begleitsymptomc  der  Psychosen. 


Rindenerkrankung  selbst  oder  aiif  einer  nicht  genauei-  festgestellten  ]\ritbe- 
tlieiligimg  des  TUickeamarks  oder  der  periplieren  Nerven  am  Kranklieits- 
process  berubeii.  Ganz  abnliche  Parastliesien  linden  sicb  auch  bei  der 
Hysterie  nnd  bei  der  Neurastlienie  imd  kbnnen  daber  als  complicirende 
Symptome  des  neurastbeniscben  oder  bysterischen  Irreseins  auftreten. 
Bei  beiden  Krankbeiten  sind  wir  noch  nicht  im  Stande  mit  Sicherheit 
anzugeben,  ob  die  beziiglicben  Pariisthesien  auf  autochtbonen  Erregungs- 
processen  der  corticalen  Empfindungselemente  beruben  und  somit  als 
eleinentare  Plalliicinationen  anzuseben  sind  oder  ob  sie  abnormen,  in 
den  periplieren  Leitungsbabnen  gelegenen  Reizen  entsprecben.  Fiir 
die  Neurastlienie  ist  das  letztere  wabrscbeinlicber.  Audi  das  Augen- 
flimmern  und  Obrensausen  und  -klingen  der  Neurastlienie  ist  in  vielen 
Fallen  wabrscheinlicb  auf  peripbere  Reizziistande  im  Gebiet  des  Opticus 
resp.  Acusticus  zuriickzufubren. 

Die  Parastliesien,  welcbe  soeben  erwabnt  wurden,  sind  von  leicbten 
negativen  Gefiiblstonen  begleitet.  Der  Kranke  klagt  wobl  iiber  die 
Liistigkeit  derselben,  aber  diese  berubt  mebr  auf  der  Bebarrlicbkeit 
dieser  Pariistbesien  und  ibrem  storenden  Einfluss  auf  die  Ideenasso- 
ciation  als  auf  der  Intensitat  des  negativen  Gefublstons.  Anders  bei 
den  sog.  „spontanen  Scbmerzen^G  es  sind  dies  Empfindungen,  welcbe 
auf  Reizen  innerbalb  der  periplieren  Leitungsbabnen  beruben  und  von 
intensiv  negativem  Gefiiblston  begleitet  sind.  Der  negative  Gefiiblston 
ist  meist  so  stark,  dass  die  Qualitiit  der  Empfindung  ganz  in  demselben 
aiifgebt  bezw.  iiber  demselben  unbemerkt  bleibt.  Spontane  Scbmerzen 
kommen  bei  den  verscbiedensten  Psycbosen  vor.  Man  unterscbeidet 
zweckmiissig  folgende  Hauptformen: 

1.  Organise!!  bedingte  sp  o n t an e S cbm  er z en : bierber 
geboren  z.  B.  die  lancinirenden  Scbmerzen  der  mit  Tabes  complicirten 
Dementia  paralytica,  die  Kopfscbmerzen,  welcbe  die  auf  einer  Herd- 
erkrankiing  des  Gebirns  berubenden  Psycbosen  begleiten,  endlicb  die 
bartniickigen  Kopfscbmerzen,  welcbe  namentlicb  im  Beginn  der  De- 
mentia paralytica  und  senilis  Tag  und  Nacbt  den  Kranken  qualeii. 

2.  Functionelle,  dem  Ausbreitungsgebiet  eines  bestimmten  Nerven 
entsprecbende  spontane  Scbmerzen  = Neuralgic n.  Ausser  der  brtlicben 
Umgreiizung-  ist  die  Druckeinpfindlicbkeit  der  fraglicben  Nerveustamme 
fiir  die  Neuralgien  sebr  ■ cbarakteristiscb.  Am  biiiifigsten  ist  das  Yer- 
biiltniss  zwiscben  Neuralgic  und  Psycbose  ein  causales ; nicbt  selten 
beobacbten  wir,  dass  beftige  Neuralgien  zu  Psycbosen  — zuweilen  ganz 
voriibergebenden,  sog.  transitoriscben  Geistesstorungen  — fiibren. 

3.  Topalgien,  d.  b.  functionelle  spontane  Scbmerzen,  deren  Aus- 
breitung  der  anatomiscben  Ausbreituug  eiues  bestimmten  Nerven  nicbt 
entspricbt.  Druckempfindlicbkeit  der  zugeluirigcn  Nervenstamme  leblt 


Somatische  Begieitsymptome  der  Psychosen. 


181 


Oder  ist  imerheblich.  Hierlier  gehdren  die  meisten  Schmerzen  des  neur- 
iistheniselien  Irreseins.  Bei  Besprechimg  des  letztereu  wird  cauf  diese 
Topalgien  zurilckgekommeu  werden  milssen.  Eine  der  liaiifigsten  dieser 
Topalgien  ist  z.  B.  ein  anf  der  Scheitelhohe  des  Kopfes  etwa  den  Um- 
fang  eines  Kartenblattes  einnehmender  fressender  Sclimerz,  den  die 
Kra'uken  bald  uuter  die  Haut,  bald  in  den  Knochen,  bald  imter  den 
letzteren,  bald  direct  in  das  Gebirn  verlegen.  Gerade  diese  Topalgien 
sind  hanfig  die  frucbtbarsten  Ankniipfungssymptome  fiir  bypochondrische 
Wahnvorstellungen. 

4.  VasomotoriscbeFormen.  Fiir  die  psychiatriscbe  Diagnostik 
sind  die  sog.  Migranezustande  am  wichtigsten.  Man  begegnet  den- 
selben  in  der  Anamnese  von  Geisteskranken  sebr  baufig,  und  ancb  als 
complicu’ender  Symptomencomplex  der  Psycbose  wiibrend  ibres  Verlaiifs 
ist  Migrane  nicbt  selten.  Ausser  der  gewobnbcben  Migrane  spielt  nanient- 
licb  die  sog.  Augenmigrane  eine  bedeutsame  Robe.  Diese  ist  dadurcb  aus- 
gezeicbnet,  dass  zu  der  Symptomtrias  (Kopfscbmerz,  Erbrecben,  balb- 
seitiger  Stoning  der  Gefassinnervation)  Flimmerskotom  binzutritt.  Man 
beobacbtet  dieselbe  einerseits  als  Vorlaufersymptom  der  Dementia  para- 
lytica und  andererseits  aiicb  bei  functionellen  Psycbosen,  so  namentlicb 
bei  dem  bysteriscben  und  ancb  bei  dem  epileptiscben  Irreseiu.  Bei  der 
„complicirten  Augenmigrane"  (Migraine  opbtbalmique  compliquee)  konimt 
zn  den  erwabnten  Symptomen  nocb  eine  gemiscbte  Hemiamistbesie  oder 
Hemibypastbesie  binzu.  Diese  Form  ist  bei  dem  bysteriscben  Irreseiu 
und  bei  den  Intoxicationspsycbosen  am  baiifigsten. 

Bei  der  Darstellung  der  einzelnen  Psycbosen  wird  aid  zablreicbe 
specielle  sensible  und  sensoriscbe  Stornngen  genauer  eingegangen  werden 
mussen. 

£.  Storungen  der  secretorischen,  trophischen,  vasomotorischen 
und  splanchnischen  Innervationen. 

Seer  etionss  toning  eu. 

Speicbelsecretion.  Steigerung  der  Speicbelsecretion  oder 
Salivation  ist  bei  Psycbosen  imgemein  baufig.  Oft  kommt  dieselbe  rein 
meebaniseb  zii  Stande,  indem  unwillkiirlicbe  Kaubewegungen  (Mastication) 
die  Speicbeldriisen  zii  einer  fortwabrenden  Secretion  erregen.  So  findet 
man  dies  Verbalten  z.  B.  bei  organiseben  Hirnkraukbeiten,  namentlicb 
bei  der  Dementia  paralytica,  andererseits  jedocb  ancb  bei  den  mit  Masti- 
cation verlaufenden  functionellen  Psycbosen,  insbesondere  denjenigen 
jugendlicber  Individuen.  In  anderen  Fallen  bandelt  es  sicb  um  Reiz- 
ersebeinungen  im  Gebiet  der  Secretionsnerven  der  Speicbeldriisen,  welcbe 
in  directerer  Abbangigkeit  von  der  Psycbose  steben.  So  findet  man 


182 


SoiDiitischG  IJcglcitsymptomc  dcr  Psychoscn. 

z.  i;.  bei  den  aeuten  Formen  der  Paranoia  niclit  selten  cine  ausge- 
spioehene  Salivation.  In  einer  dritten  Reilie  von  Fallen  ist  die  Salivation 
durch  Halliieinationeu  oder  Wahnvorstellungen  bedingt.  So  kbnnen  Ge- 
selimaekstauschungen  ein  fortgesetztes  Speicheln  bedingen.  Auch  Ver- 
giftungswahn  ohne  Hallneiuationen  kann  zu  abnormem  Speicheln  fiihrcn. 
Das  Speicheln  ist  in  den  letztgenannten  Fallen  willkiirlich,  insofern  sich 
damit  raeist  bei  den  Kranken  die  Absieht  verknupft,  durch  das  Speicheln 
den  hallucinatorischen  Geschmack  oder  das  vermeintliche  Gift  zu  ent- 
ternen.  Endlich  kann  auch  die  Zwangsvorstellung  ^speicheln  zu  mussen" 
zu  abnormem  Speichelfluss  fiihren. 

Zuweilen  wird  eine  Steigerung  der  Speichelsecretion  auch  nur  vor- 
getauscht  durch  eine  Lahmung  des  Orbicularis  oris  oder  der  Schling- 
muskulatur.  In  diesen  Fallen  trauft  der  Speichel  aus  dem  Munde  hervor, 
weil  die  normale  Schluckbewegung  ausbleibt  oder  der  Schluss  des  Mundes 
unvollkommen  ist.  Gelegentlich  konnen  auch  hierbei  Wahnvorstellungen 
eine  Rolle  spielen:  der  Kranke  glaubt  den  Speichel  nicht  herunter- 
schlucken  zu  diirfen  und  sammelt  daher  grosse  Mengen  in  seinem  Mund 
an.  Man  gelangt  dann  leicht  zu  der  iiTthiimlichen  Annahme,  die  Secre- 
tion selbst  sei  gesteigert.  Mitunter  ist  auch  die  allgemeine  motorische 
Hemmung  die  Ursache  dieses  Speichelsammelns : der  Kranke  schluckt 
nicht,  weil  alle  sog.  willkiirlichen  Bewegungen  auf  das  Hochste  gehemmt 
sind.  Sowohl  die  i^rimare  wie  die  secundare  motorische  Hemmung  kann 
zu  solcher  scheinbaren  Salivation  fiihren. 

Pathologische  Herabsetzung  der  Speichelsecretion  beobachtet  man 
ofter  bei  Melancholic,  seltener.  in  Fallen  von  Paranoia. 

Magensaftsecretion.  Genaueres  wissen  wir  nur  iiber  dieSalz- 
Sciur e abscheidung  des  Magens.  Bei  dem  Gesunden  enthalt  ein  2 — 3 
Stunden  nach  einer  Fleischmahlzeit  ausgeheberter  Mageninhalt  1,5 — 2,5 
Salzsaure.  Am  zweckmassigsten  bestimmt  man  dieselbe  mittelst  der 
Sjoquist’schen  Methode.  Bei  Psychosen  findet  sich  oft  eine  Herabsetzung 
oder  eine  Steigerung  der  Salzsauresecretion.  Erstere,  die  sog.  Hypo- 
chlorhydrie,  ist  namentlich  bei  dem  angeborenen  sowie  bei  dem  erworbe- 
nen  Schwachsiim  hiiufig.  In  den  Terminalstadien  der  Dementia  para- 
lytica ist  oft  Salzsaure  in  dem  Ajisgeheberten  iiberhaupt  nicht  mehr 
nachzuweisen.  Hyperchlorydrie,  d.  h.  Steigerung  der  Salzsauresecretion, 
beobachtet  man  bei  manchen  cardialgischen  Anfallen  (bis  zu  7%o),  zu- 
weilen aucii  nach  epileptischen  Anfallen.  Auch  in  schweren  katatonischen 
Zustiinden  besteht  im  Allgemeinen  eine  Tendenz  zu  Hyperchlorhydrie, 

Ueber  die  Storungen  in  der  Secretion  des  Darmsaftes  wissen  wir 
noch  nichts.  Wahrscheinlich  ist,  dass  die  schweren  Verdauungsstorungen, 
welche  wir  olt  bei  der  Melancholic,  im  Depressionsstadium  der  Dementia 
paralytica  u.  s.  w.  beobachten,  z.  T.  auch  auf  solchen  Storungen  beruhen. 


Somatischo  Eegloitsyraptomc  der  Psycbosen. 


183 


Audi  die  Galleuabsoiideruug  ist  zuweilen  gestort;  in  solclien  PAilleii 
beobaclitet  man  gelegeutlidi  eine  typisdie  Urobilinurie.  ^ 

Tliranensecretion.  Auffallig  geringfiigig  ist  dieselbe  im  Allge- 
ineiiieu  bei  den  patbologisdien  Depressionsznstanden.  Der  sebnlicbste 
Wunsdi  vieler  Melancholisdier  ist:  „nur  wieder  einmal  ordentlich  weinen 
zu  konnen«.  Eine  starke  Tbranensecretion  bei  primaren  Depressions- 
oder  Angstziistiinden  recbtfertigt  geradezu  einen  gewissen  Verdacht 
aiif  einen  coexistirenden  Intelligenzdefect. 

Urinsecretion.  Die  Quantitilt  des  Urins  ist  bei  den  func- 
tionellen  Psycbosen  in  der  Regel  an  sidi  normal.  Eine  Verringerung 
der  24stiindigen  Urinmenge  findet  man  trotz  reichlicber  Fliissigkeits- 
aufjiabme  und  ohne  aeqnivalente  Steigernng  der  Scbweisssecretion  in 
Depressions-  und  Stuporzustanden.  Eine  auffallige  Vermehrung  der 
24stiindigen  Urinmenge  (Polyurie)  findet  sicb  oline  qualitative  Veran- 
derung  des  Urins  bei  organisch  bedingten  Psycbosen,  so  namentlicli 
bei  der  Dementia  paralytica,  der  Lues  cerebri,  sowie  Herderkrankungen 
des  Gebirns.  Bei  dem  bysteriscben  Irresein  beobacbtet  man  oft  einen 
eigentbiimlicben  Wecbsel  von  Oligurie  und  Polyurie.  In  vielen  Fallen  ist 
die  Polyurie  nur  die  secundare  Folgeerscbeinung  einer  primaren  Polydipsie. 

Das  specifiscbe  Gewicbt  des  Urins  ist  bei  Oligurie  bilufig  entsprecbend 
gesteigert,  bei  Polyurie  verringert.  Diaguostiscbe  Bedeutuug  baben  diese 
Veriinderungen  bis  jetzt  nicbt  erlangt. 

Die  cbemiscbe  Zusammensetzung  des  Urins  ist  bei  Psycbosen  baufig 
veriindert.  So  kann  die  absolute  Menge  der  innerbalb  24  Stunden  aus- 
gescbiedenen  Cbloride,  der  Pbospbate  und  Urate  sowie  des  Harnstoffs 
vermebrt  oder  vermindert  sein.  Wertb  und  Bedeutuug  erlangen  solcbe 
zablenmassigen  Feststelbmgen  im  Allgemeinen  erst  danu,  wenn  zugleicb 
festgestellt  wird,  wieviel  Cblor,  Pbospbor  und  Stickstoff  in  derselben 
Zeit  in  der  Nabrung  dem  Korper  zugefiibrt  wird  und  wieviel  in  den 
Facalien  den  Korper  verlassen  bat.  Umfanglicbere  zuverlassige  Unter- 
sucbungen  in  dieser  Ricbtung  stebeu  uocb  aus.  Bei  Erregungszustiinden 
ist,  wie  dies  a priori  zu  erwarten  war,  der  Eiweiss-  und  Cblorumsatz 
gesteigert.  Diese  Steigerung  ist  wabrscbeinlicb  bauptsacblicb  auf  die 
vermebrte  Aluskelarbeit  zuruckzufiibren. 

Haufig  entbiilt  der  Urin  von  Geisteskranken  aucb  abnorme  Bestand- 
tbeile.  llierber  gebort  zunacbst  das  Auftreten  voii  Albumen  und  Pro- 
pep  ton  bezw.  Pepton,  obne  dass  eine  Erkrankuug  des  Nierengewebes 
nacbweisbar  ist.  Man  beobacbtet  dasselbe  am  baufigsten  bei  acuten 
scbweren  Verwirrtbeitszustanden  mit  starkerer  motorischer  Erregung. 
Gerade  bei  diesen  beobacbten  wir  aucb  in  anderen  Beziebungen  eine 
auffallig  erbeblicbe  Riickwirkuug  der  Psycbose  auf  die  somatiscben  Func- 
tionen.  So  ist  z.  B.  bei  dem  Delirium  tremens  Albuminurie  sebr 


184 


Somatische  Begleitsyrnptome  dcr  Psychosen. 

hautig.  Ilier  iiinimt  geradezu  der  Eiweissgelialt  des  Urins  mit  dem 
Grad  der  Iiicoliareiiz  und  Unorientirtlieit  al)  und  zu.  Audi  in  epilep- 
tisdieu  Damnierzustcinden  sowie  nadi  gehauften  epileptisdien  Anfiillen 
findet  man  ofters  Eiweiss  im  Urin.  Die  Propeptonurie  geht  meist  der 
Albuminurie  voran  und  iiberdauert  dieselbe  eine  kurze  Zeit.  Die  erstere 
vernitb  sich,  wo  sie  ohne  Albuminurie  auftritt,  meist  schon  dadurch, 
dass  der  mit  Salpetersaure  versetzte,  gekochte  Urin  klar  bleibt,  nach 
dem  Erkalten  aber  sich  triibt  und  nach  einigen  Stunden  einen  deutlichen 
Niederschlag  absetzt.  — Die  Albuminurie  bei  Geisteskranken  mit  Arterio- 
sklerose  ist  in  der  Regel  auf  eine  organische  Nierenerkrankung  und 
nicht.  auf  eine  Beeinflussung  der  Nieren  durch  das  Hirnleiden  zuriickzu- 
fiihien.  Bei  Dementia  paralytica  findet  man  neben  Albuminurie  und 
Propeptonurie  ofter  auch  Peptonurie. 

Auch  hya-line  Cylinder  hat  man  ofter  im  Urin  Geisteskranker 
gefunden  und  zwar  vorwiegend  bei  heftigen  Erregungszustanden. 

U r 0 b i 1 i n u r i e und  auch  B i 1 i r u b i n u r i e ist  — ohne  Lebererkran- 
kung  gelegentlich  bei  Dementia  paralytica  ziir  Beobachtung  gekommen. 

Glycosurie  — mit  oder  ohne  Polyurie  — ist  bei  organischen 
Psychosen  ofters  beobachtet  worden.  Dabei  soli  von  denjenigen  Psy- 
chosen, welche  in  Folge  eines  echten  Diabetes  auftreten,  ganz  abge- 
sehen  werden,  vielmehr  nur  diejenige  Glycosurie  Erwahnung  finden, 
welche  in  directer  Abhangigkeit  von  der  Psychose  steht.  Eine  solche 
findet  sich  nicht  selten  tage-  oder  wochenweise  im  Verlaufe  einer 
Dementia  paralytica  oder  einer  Hirulues.  Mitunter  ist  das  Auftreten 
ein  intermittirendes. 

Acetonurie  findet  sich  ofter  bei  solchen  Geisteskranken,  deren 
Ernahrung  aus  irgend  einem  Grunde  darniederliegt.  Sie  ist  daher  z.  B. 
bei  nahrungsverweigernden  Melancholikern  nicht  selten.  Unabhangig 
von  Storungen  in  der  Nahrungsaufnahme  kommt  Acetonurie  bei  den 
verschiedenen  Eormen  des  epileptisdien  Irrseins  sowie  bei  Dementia 
paralytica  vor. 

Die  Storungen  in  der  Blutbildung  der  Geisteskranken  sind  noch 
sehr  wenig  untersucht.  Auf  der  Hohe  schwerer  acuter  Psychoseu  ist 
oft  der  Hamoglobingehalt  und  das  specifische  Gewicht  des  Blutes  ver- 
mindert.  Ebenso  findet  man  eine  Verminderung  dieser  beiden  Blutwerthe 
bei  der  Dementia  paralytica  parallel  dem  fortschreitenden  kbrperlichen 
Verfall.  ImBeginne  der  Melancholie  soil  eine  Steigerung  beider  Werthe 
vorkommeu. 


Trophische  Storungen. 

Stoftwechseluntersuchungen,  welche  uns  Auskunft  zu  gebeu  ver- 
mbchten  iiber  den  gesammten  Chemismus  des  Korpers  wahrend  der 


Somatischo  Begleitsymptomc  dor  Psychosen. 


185 


Psychose,  liegen  bislang  fiir  keiue  ein/igc  Psychose  vor.  Uusere  Kennt- 
nisse  bescbrankeu  sich  anf  das  Wenige,  was  oben  beziiglicli  der  Aiis- 
scbeidung  des  Stickstoffes  imd  der  Chloride  im  Urin  angegeben  wurde. 

Einen  gewissen  Ersatz  gewahrt  eine  genaue  Beobacbtung  des  Korper- 
gewicbtes.  Bei  acuten  Psychosen  sollte  dasselbe  jedenfalls  wochentlich 
festgestellt  werden.  Die  wichtigste  Regel  beziiglich  des  Korpergewicbtes 
bei  acuten  Psycbosen  lautet  dahin,  dass  mit  der  Entwickelimg  der  Krank- 
heit  das  Korpergewicht  rascb  sinkt,  auf  der  Hohe  der  Krankheit  ein 
Minimum  erreicbt  und  dann  entsprechend  der  Genesung  sich  wieder 
hebt.  Mitunter  ist  im  sonstigen  Zustand  des  Kranken,  namentlich  in 
den  psychischen  Symptomen,  eine  Besserung  noch  nicht  zu  erkennen  und 
nur  das  Einsetzen  einer  leichten  Gewichtszunahme  nach  langem  Sinken 
bezw.  langem  stationarem  Tiefstand  des  Gewichtes  kiindigt  die  bevor- 
stehende  Genesung  an.  Die  Gewichtszunahme  in  der  Reconvalescenz  ist 
oft  eine  ausserst  rapide  (bis  zu  15  Pfund  in  einer  Woche).  Nicht  immer  ist 
jedoch  die  Gewichtszunahme  auf  der  Hobe  einer  acuten  Psychose  von 
giinstiger  Vorbedeutung.  Wenn  eine  acute  Psychose  nach  langerem  Sinken 
bezw.  Tiefstand  des  Korpergewicbtes  plotzlich  oder  allmahlich  eine  er- 
hebliche  Zunahme  desselben  zeigt,  ohne  dass  gleichzeitig  oder  unmittelbar 
danach  eine  Besserung  auf  psychischem  Gebiet  bemerklich  wird,  ist  im 
Gegentheil  ein  ungiinstiger  Verlauf  in  secundare  Demenz  als  wahrschein- 
lich  anzunehmen. 


Vasomotorische  Storungen, 

Storungen  der  Innervation  des  Herzens  und  der  i\.rterien  sind  bei 
Geisteskranken  auch  in  solchen  Eiillen  nicht  selten,  wo  das  Herz  und 
die  Arterien  selbst  durchaus  normal  sind.  Die  Herz thiitigkeit  ist  selten 
in  abnormer  Weise  beschleunigt  (am  haufigsten  noch  bei  dem  neurasthe- 
nischen  Irresein  und  zwar  hier  bald  dauernd,  bald  anfallsweise),  hin- 
gegen  sehr  oft  abnorm  verlangsamt.  *)  Herabsetzung  der  Herzaction 
auf  50  und  weniger  Schlage  pro  Minute  wird  bei  stuporoseu  Zustanden 
nicht  allzu  selten  auch  beiAbwesenheit  jeglicher  Arteriosklerose  beobachtet. 

Wichtiger  noch  sind  die  Storungen  jn  der  Innervation  der  arteriellen 
Gefasse.  Haufig  lehrt  schon  das  Eiihlen  des  Pulses  mit  der  Hand,  dass 
entweder  die  Art.  radialis  in  abnormem  Grade  contrahirt  ist,  oder  dass 
umgekehrt  die  Wandspannung  abnorm  gering  ist.  In  letzterem  Falle 
besteht  haufig  eine  gleichfalls  schon  fiir  den  tastenden  Finger  erkenn- 
bare  Steigerung  der  normalen  Dicrotic.  Die  sphygmographische  Unter- 
suchung  bestatigt  dies.  Die  abnorme  Steigerung  der  Wandspannung, 

*)  Bei  organischen  Psychosen,  namentlich  bei  der  sog.  Taboparalyse  ist  Puls- 
beschleunigung  und  Pulsverlangsamung  oft  direct  auf  eine  Degeneration  des  Vagus- 
kernes  oder  der  peripheren  Vagusfasern  zu  beziehen. 


186 


bornatischc  Begleitsyniptorne  der  Psychoscn, 


cler  sog.  peripherische  arterielle  Gefasskrarnpf,  giebt  sicli  rlurcb  eine 
Verrainderuug  cler  Riickstosselevation  zu  erkennen ; zugleich  pfiegt  die 
erste  Elasticitatselevation  auf  dem  absteigenden  Schenkel  der  Welle 
etwas  libber  nach  oben  gerlickt  und  deutliclier  ausgepragt  zu  sein.  Die 


imtere  der  vorstehenden  Curven  giebt  ein  Beispiel  eines  solclien  Gefiiss- 
krampfes ; das  obere  stellt  ein  normales  Pulsbild  dar.  Die  abnorme 
Schlaffheit  der  Gefasswande,  die  peripheriscbe  Gefassparese,  aussert 
sicli  in  einer  Verkleinerung  oder  einem  vblligen  Verscbwinden  der  ersten 
Elasticitatselevation  und  einer  erbeblicben  Vergrbsserung  der  Riick- 
stosselevation;  durcb  letzteren  Umstand  ist  die  oben  erwalinte  Dicrotie 
bedingt, 

Der  arterielle  Gefasskrarnpf  kommt  gelegentlich  bei  jeder  Psychose 
vor.  Am  liaufigsten  ist  er  bei  der  Melancbolie,  bei  der  stuporbsen 
Paranoia  und  im  Depressionsstadium  der  Dementia  paralytica.  Arterielle 
Gefassparese  ist  am  liaufigsten  in  den  spateren  Stadien  der  Dementia 
paralytica.  Hier  erfahrt  das  - Pulsbild  oft  eine  weitere  Veranderung  da- 
durch,  class  es  scbliesslich  zu  einer  fast  vblligen  Gefassparalyse  kommt, 
sowie  cladurch,  class  die  Contraction  des  Herzens  selbst  abnorm  lang- 
gezogenist:  spbygmographiscli  giebt  sicli  dies  in  cler  sog.  tar  den  Puls- 


8. 


9. 

curve  kund,  bei  welcher  cler  aufsteigencle  Pulssclienkel  eine  sebr  schrag 
ansteigende  leicht  gekriimmte  Linie  clarstellt  und  cler  Wellengipfel  abge- 
flacbt  ist.  Die  beistehenclen  Curven  geben  eine  Veranscliaulichung  der 
in  Rede  stehenden  Gefassparese  bezw.  Gefassparalyse. 


Somatische  Begleitsymptomc  ilcr  Psychosen. 


187 


Walirend  die  soeben  beschriebenen  Verilnderungen  des  Contriictions- 
zustandes  von  der  Bescbaffenheit  der  Affecte  im  Weseiitlicheu  unab- 
haiigig  sind,  kennen  wir  eine  andere  Veranderung  des  Pulses,  welclie 
direct  von  Affectstorungen  abbiingig  ist.  Intellectuelle  Processe  als 
solche  obne  begleitenden  Gefiihlston  beeinflussen  das  Pulsbild  nicbt. 
Ebensowenig  sind  die  einfacben  leicbteren  Stiinmungsanonialien , wie 
z.  B.  die  einfacbe  Depression  oder  die  einfacbe  Exaltation  spbygmogra- 
pbiscb  wirksam.  Niir  die  sog.  Erregungsaffecte,  d.  b.  diejenigen  Affecte, 
welcbe  aucb  auf  dem  Gebiete  der  willklirlicben  Korpermusculatur 
einen  erregenden  Einfluss  ausliben,  wirken  verandernd  auf  die  Pulskurve 
und  zwar  ausnahmslos,  es  mag  sicb  um  positive  oder  urn  negative 
Affecte  bandeln,  in  dem  Sinn,  dass  die  erste  Elasticitatselevation  nacb 
oben  geriickt  und  vergrossert  wird.  Die  Rlickstosselevation  bleibt  dabei 
fast  unverandert.  Die  beistebende  Curve  stellt  die  Pulswelle  eines  Kranken 
mit  beftiger  primarer  Angstagitation  dar.  Ganz  abnlicbe  Pulsbilder 
findet  man  bei  beiterer  Erregung,  ballucinatoriscber  Erregung  u.  s.  f. 
Es  ist  wahrscbeinlicb,  dass  diese  auf  Erregungsaffecten  berubende  Ver- 


10. 

iinderung  der  Pulskurve  der  Ausdruck  einer  leicbten  Steigerung  der 
Wandspannung  der  Arterien  ist.  Sebr  baufig  beobacbtet  man,  z.  B.  bei 
Melancbolie,  ein  Zusammentreffen  des  oben  erwabnten  Gefasskrampfes 
mit  der  jetzt  besprocbenen  affectiven  Veranderung  der  Gefasscontraction. 
Es  kommt  dann  geradezu  zu  einer  Summation  der  beiden  Storungen. 
Den  oben  erwabnten  Gefasskrampf  ebenfalls  durcbweg  auf  Affecteinfllisse 
zuriickzufiibren  ist  desbalb  nicbt  angangig,  weil  er  sicb  einerseits  oft 
aucb  obne  jede  Affecte  vorfindet  und  andererseits  ofters  beftige  Er- 
regungsaffecte  obne  die  fiir  den  Gefasskrampf  cbarakteristiscbe  erbeb- 
liche  Verminderung  der  Rlickstosselevation  vorkommen. 

Eine  genaue  Beobacbtung  des  Contractionszustandes  der  peripberen 
Arterien  ist  desbalb  wicbtig,  weil  derselbe  bei  mancben  Psycbosen  einen 
vorziiglicben  Maassstab  fiir  die  Krankbeitsintensitat  abgiebt  und  weil  er. 
wie  in  der  Folge  sicb  ergeben  wird,  mancbe  tberapeutiscbe  Indicationen 
an  die  Hand  giebt. 

Wie  die  Innervation  des  Herzens  und  der  peripberen  Arterien  die 
centrale  Temperatur,  die  Hauttemperatur  und  die  Circulationsverbaltnisse 
des  Korpers  sowie  seine  WiLrmebilanz  beeinflusst,  ist  bei  den  Psycbosen 
nocb  nicbt  griindlicb  untersucbt.  Die  spbygmomanometriscbe  Unter- 
sucbung  (nacb  Bascb)  kann  oft  die  spbygmograpbiscbe  Aufnabme  in 


188 


Somatische  Begleitsymptome  dcr  Psychosen. 


willkommencr  Weise  l)estatigeii.  Ein  Riickschluss  von  dcm  Contractions- 
zustand  dcr  periiiheren  Korperarterien  auf  einen  almlichen  oder  gar  auf 
cinen  entgegengesetzten  der  Gehirnarterien  ist  zur  Zeit  nocli  nicht  ge-  [ 
stattet.  I 

Die  t a g 1 i c h e Bestimmung  der  centralen  Korpertemperatur 
sollte  bei  keinem  Geisteskranken  unterlassen  werden.  Zuriaclist  zeigt  die 
Eigenwarme  bei  Geisteskranken  insofern  Abweicbungen,  als  die  Schwan-  j 
kungen  der  Temperatur  innerhalb  24  Stunden  erheblicli  grosser  und  j 
unregelmassiger  sind  als  bei  dem  Gesunden.  Ziim  Theil  sind  diese  un-  ■ 
regelmassigen  Schwankungen  auf  Affectstbrungen  zu  beziehen. 

Abnorme  Herabsetzung  der  Korpertemperatur  ist  sehr  ’ 
haufig  und  zwar  sowobl  bei  stuporosen  Zustanden,  wie  in  tobsiichtigen  i 
Erregungszustanden.  In  letzteren  kiinden  sie  oft  den  bevorstehendeu  i 
Collaps  an.  Die  tiefsten  Temperaturen  findet  man  zuweilen  bei  Dementia 
paralytica.  Das  Herabgehen  der  Temperatur  ist  bier  zuweilen  ein  pro- 
gressives. Scbliesslicli  werden  Temperaturen  von  weniger  als  30“  erreicht. 
Fast  stets  enden  diese  eigenthiimlichen  Anfiille  uacb  einigen  Tagen 
tbdtlich. 

Temperatur  Steiger  ungen  sind  gleicbfalls  bei  Geisteskranken 
sehr  haufig.  Zuniichst  ist  zu  beachten,  dass  leichte  Brouchialkatarrhe, 
leichte  Magenkatarrhe  und  namentlich  Urinretentionen  und  Obstipationen 
bei  Geisteskranken  nicht  selten,  jedenfalls  viel  haufiger  als  bei  Geistes- 
gesunden,  schwere  Temperatursteigerungen  bedingen  (bis  fiber  39,5°). 
Dass  in  solchen  Fallen  in  der  That  die  Obstipation  ffir  die  Temperatur- 
steigerung  verantwortlich  zu  machen  ist,  ergiebt  sich  daraus,  dass  ein 
erfolgreiches  Klysma  nicht  selten  binnen  2 — 3 Stunden  die  Temperatur 
um  2%°  herabsetzt  und  damit  zur  Norm  zurfickffihrt. 

In  anderen  Fallen  ist  die  Temperatur steigerung  direct  durch  das 
Hirnleiden  bedingt.  Man  unterscheidet  zweckmassig: 

1 . Die  hysterischeTemper  at  ur  steigerung;  Bei  Hysterischen 
beobachtet  man  bald  kurze  Anfalle  von  Temperatursteigerung,  bald 
wochenlang  auhaltende  Temperatursteigerungen.  Dieselbeu  kbnnen  bis 
zu  40°  und  mehr  betragen.  Eine  Beziehung  der  Temperatursteigerung 
zu  Krampfanfallen  oder  motorischen  Erregungszustanden  ist  oft  nicht 
nachweisbar.  Zuweilen  bestehen  zugleich  schwere  fieberhafte  Allgemeiu- 
erscheinungen.  Da  Hysterische  haufig  Temperatur erhohuugen  simuliren, 
so  ist  bei  der  Hysterie  eine  Temperatursteigerung  nur  dann  anzuuehmen, 
wenn  der  Arzt  selbst  wiihrend  der  ganzen  Procedur  der  Temperatur- 
messung  zugegen  gewesen  ist. 

2.  Die  auf  excessive  motorische  Entladungen  zurfick- 
z u f fi  h r e n d e T e m p e r a t u r s t e i g e r u n g.  Nach  schweren  und  nament- 
lich nach  gehauften  epileptischen  und  auch  nach  hysterischen  Krampf- 


Somatischc  Begleitsymptomo  cler  Psychoscn.  18‘J 

iiufilllen  siud  liolie  Teinperatiireu  selir  liaiifig.  Iiii  sog.  Status  epilep- 
ticiis  felilen  sie  clalier  selteu.  Aber  aucli  schwere  motorisolie  Agitation 
als  solche  fiibrt  oft  zu  liolien  Temperatursteigerungeu.  Nameutlicb 
stellen  sicli  solclie  selir  hautig  da  ein,  wo  die  motoriscbe  Agitation 
die  Begleiterscheinung  einer  scliweren  allgem einen  Incoharenz  in  deni 
friilier  erorterten  Sinne  ist.  Sowohl  die  primare  Incoharenz  (z.  B.  bei 
der  incoharenten  Form  der  Paranoia)  wie  die  secundare  ideenfliicbtige 
und  die  secundare  hallucinatorische  Incoharenz  (z.  B.  bei  der  sog. 
Mania  gravis,  der  peracuten  und  acuten  hallucinatorischen  Paranoia) 
zeigen  diese  Neigiing  zu  Temperatursteigerungeu,  sobald  motoriscbe 
Agitation  hinzutritt.  Mitunter  dauern  solche  Anfalle  agitirter  Incoharenz 
nur  einige  Stunden;  dann  kann  man  feststellen,  dass  mit  dem  Abidin  gen 
des  Anfalls  die  Temperatur,  welche  auf  der  Kobe  des  Anfalls  bis  zu 
39,5"  gestiegen  war,  binnen  Vs  Stunde  zur  Norm  zuriickkehrt.  In 
anderen  Fallen  erstreckt  sich  die  Temperaturerhohung  entsprechend  der 
langeren  Dauer  der  agitirten  Incoharenz  iiber  Page  und  Wochen.  Gerade 
in  letzteren  Fallen  kommt  es  haufig  zu  todtlichem  Ausgang.  Man  hat 
solche  Zustiinde  auch  als  „Delirium  acutum^'  bezeichnet. 

3.  Organisch  bedingte  Temperatursteigerungeu.  Am 
haufigsten  sind  solche  bei  der  Dementia  paralytica,  gelegentlich  finden 
sie  sich  auch  bei  alien  anderen  organischen  Gehirnerkrankungen.  Fine 
besondere  Stelhmg  nehmen  die  Temperatursteigerungeu  ein,  welche  in 
den  sogenannten  paralytischen  Anfilllen  der  Dementia  paralytica  beob- 
achtet  werden.  Es  sind  dies  eigenartige  Zustande  des  Sopors  oder 
Comas,  welche  sich  iiber  mehrere  Page  erstrecken  konnen  und  mit  halb- 
seitigen  Lahmungs-  und  Krampferscheinungen  einhergehen.  Bei  diesen 
beobachtet  man  fast  stets  Temperatursteigerungen,  zuweilen  bis  iiber 
40".  Nicht  selten  bestehen  dabei  erhebliche  Differenzen  zwischen  der 
rechten  und  linken  Axillartemperatur.  Bei  Besprechung  der  Dementia 
paralytica  in  der  specielleu  Pathologic  wird  eingehend  auf  diese  Anfalle 
zuriickzukommen  sein. 

Selbstverstandlich  wird  man  sich  zu  der  Annahme  einer  der  drei  soeben 
angefiihrten,  mit  der  Psychose  selbst  in  directerem  Zusainmeuhang  steheii- 
den  Temperaturerhohungen  nur  dann  entschliessen,  wenn  eiue  peinlich 
genaue  Untersuchung  aller  Korperorgane  keine  geniigende  Erklarung 
fiir  die  Temperatursteigerung  ergeben  hat. 

Splanchnische  Storungen. 

Stbrungen  in  der  Innervation  der  Baucheingeweide  sind  sebr 
haufig.  Die  Storungen  der  Motilitilt  des  Magens  sind  noch  weuig  unter- 
sucht.  In  den  terminaleii  Stadien  der  Dementia  paralytica  leidet  jeden- 


190 


bomatischc  Bogleitsymptome  der  Psycliosen. 

lalls  sehr  olt  ausser  der  sccretorisclieu  Function  aucli  die  niotorische 
r’unction  des  Magens  erheblicli. 

Abnorme  motorische  Reizzustande  des  Magens  sind  gleiclifalls  nicbt 
selten.  Erbrechen  kommt  bei  Geisteskranken  aus  den  verscliiedensten 
Ursacheii  vor.^  Sehr  liaufig  berulit  es  auf  einem  Magenkatarrh.  Bei 
dem  morgendlichen  Erbrechen  des  Trinkers  handelt  es  sicli  um  eine 
Abstinenzerscheinung.  Zuweilen  Ijeruht  das  Erbrechen  auch  darauf,  dass 
die  Kranken  die  Speisen  zu  hastig  und  kaum  zerkleinert  in  grosser 
Menge  hiniinterschlucken.  Namentlich  bei  Schwachsinnigen  beobachtet 
man  dies.  Gerade  bei  diesen  kommt  es  zuweilen  auch  zu  einem  regel- 
niiissigen  Wiederkauen  des  durch  Erbrechen  in  die  Mundhbhle  zuruck- 
gelangten  Mageninhalts  (Merycismus,  Rumination).  In  einer  weiteren 
Reihe  von  Fallen  beruht  das  Erbrechen  auf  einer  organischen  Reizung  der 
centralen  Vagusbahnen,  so  bei  der  Dementia  paralytica,  bei  Hirntumoren 
u.  s.  f.  Weiterhin  ist  das  hysterische  Erbrechen  zu  erwahnen.  Bei 
diesem  kaun  die  Empfindung  der  Uebelkeit  vollig  fehleu.  Meist  tritt  es 
schon  eine  Viertelstunde  nach  Aufnahme  der  Nahrung  ein.  Auch  die 
Vorstellung  erbrechen  zu  miissen  kann  zuweilen  zu  wirklichem  Erbrechen 
liihren.  Zuweilen  ist  das  Erbrechen  auch  auf  eine  Hj^perasthesie  oder 
riyperalgesie  der  sensiblen  Magennerven  zuriickzufuhren.  In  diesen 
Fallen  pflegt  zugleich  ein  intensiver  Magenschmerz  nach  jeder  Nahrungs- 
aufnahme  sich  einzustellen.  Endlich  ist  bei  vielen  Geisteskranken  das  Er- 
brechen eine  Theilerscheinung  der  sog.  Migrane. 

. Kr ampf zu st ande  der  Pharynxmusculatur  liegen  oft  dem 
sog.  Globus  hystericus  zu  Grimde.  Stunden  und  Tage  lang  kann  durch 
dieselben  jedes  Schluckeu  unmoglich  werden.  Auch  bei  schweren  acuteu 
nichthysterischen  Psychosen,  namentlich  bei  den  acuten  Formen  der 
Paranoia,  beobachtet  man  solche  Schlingkriimpfe.  In  seltenen  Fallen  ist 
der  Oesophagus  selbst  Sitz  des  Krampfes:  die  Nahrung  wird  dann  er- 
brochen,  bevor  sie  den  Magen  erreicht. 

Von  noch  grosserer  Bedeutung  sind  die  Storungen  der  D arm- 
innervation  bei  den  Geisteskranken.  Bei  manchen  Psychosen,  so 
z.  B.  bei  der  Melancholie,  ist  fast  stets  die  Darmperistaltik  abnorm 
triige.  So  kommt  es  gelegentlich  zu  schweren  Obstipationen.  Ueber 
14  Tage  kann  in  den  schwersten  Fallen  jede  Defacation  ausbleiben. 
Mangelhafter  Tonus  der  Darmmusculatur  bedingt  nicht  selten  ausge- 
priigten  Meteorismus.  Letzterer  gewinnt  nicht  selten  dadurch  eine 
specielle  Bedeutung,  dass  die  Kranken  allerhand  Wahnideen  an  ihn 
kniipfen,  so  z.  B.  den  Wahn  schwanger  zu  seiu  oder  den  Wahu  „niouate- 
langer  Anhaufung  von  Kothmassen  im  Darm^^  — Eine  Steigerung  der 
Darmperistaltik  ist  erheblich  seltener.  Ist  dieselbe  mit  einer  Steigerung 
der  Secretion  der  Darmwandungen  resp.  mit  einer  Verringerung  der 


Soniatische  Begleitsymptome  cler  Psychosen. 


191 


Rcsorptionstaliigkeit  verknupft,  so  kommt  es  zu  schweren  Diarrlioen. 
Namentlicli  bei  clem  sog.  neiirastlienischen  Irreseiu  beobacbtet  man  solcbe 
neuropatbisclien  Durcbfalle  nicbt  selten.  Dass  Affecte  uud  Vorstelluugen 
zmveilen  aucb  hierbei  mitwirkeu  konnen,  wurde  frilber  bereits  erwtibnt. 

An  dieser  Stelle  soli  aucb  der  Storimgen  in  der  Function  cler 
Gcnitalorgane  gedacbt  werden. 

Menstruations  storungen  sind  ungemein  baufig.  In  vielen  Fallen 
beruben  dieselben  allerdings  auf  einer  nacbweisbaren*)  Erkrankung  der 
Genitalieu  oder  auf  einem  constitutionellen  Allgem einleiden  (Anamie). 
In  andereu  steben  sie  in  directem  Zusammenbange  mit  der  Psycbose. 
So  beobacbtet  man  im  Verlauf  der  Melancbolie  ofters  eine  erbeblicbe 
Verspatung  cler  Menses  unci  selbst  eine  langclauerncle  Amenorrboe.  Mit 
cler  Genesung  pflegt  in  solcben  Fallen  die  Menstruation  wiecler  regel- 
miissig  einzutreten.  Aucb  bei  mancben  Intoxicationspsycbosen  kommt 
es  zu  Amenorrboe,  so  z.  B.  bei  clem  alkobolistiscben  Irresein  sowie  bei 
-cbroniscbem  Morpbinismus.  Zuweilen  verknupft  sicb  cliese  Amenorrboe 
mit  einer  Atropbie  cles  Uterus, 

Seltenere  Erscbeinungen  sind  abnorm  profuse  Vaginalsecretiouen, 
Vaginismus  u.  clgl. 

Bei  clem  mannlicben  Gescblecbt  ist  die  Impotenz  unci  zwar  spe- 
ciell  die  Erectionsunfabigkeit  praktiscb  am  wicbtigsteu.  In  vielen  Fallen 
ist  clieselbe  psycbiscb  beclingt.  Die  Vorstellung  impotent  zu  sein  ruft 
eine  factiscbe  Impotenz  bervor.  In  ancleren  Fallen  berubt  letztere  auf 
einer  Erscbopfung  cler  centralen  Centren  cler  Erection,  so  z.  B.  bei  lang- 
jabrigen  Masturbanten,  oder  auf  organiscber  Zerstorung  clerselben  Centren 
oder  cler  zugeborigen  Leitungsbabnen,  so  z.  B.  bei  Dementia  paralytica 
(namentlicb  bei  der  mit  Tabes  complicirten  Form  cler  letzteren). 

Storungen  cler  Blaseninnervation  aussern  sicb  bald  als  In- 
continenz,  bald  als  Urinretention,  bald  als  patbologiscber  Urindrang. 
Incontinenz  weist  fast  stets,  wofern  ein  locales  Leiden  feblt,  auf  eine 
organiscb  beclingte  Psycbose  bin.  Oft  ist  sie  mit  Incontinentia  alvi 
verknupft.  Urinretention  berubt  bald  auf  einer  Labmung  cles  Detrusor 
vesicae  (so  bei  Dementia  paralytica) , bald  auf  einem  Krampf  cles 
Spbincter  vesicae  (so  meist  bei  cler  Hysterie).  Nicbt  selten  unterdriicken 
Geisteskranke  aucb  auf  Gruncl  von  Wabnicleen  das  Uriniren  tagelang. 
In  solcben  Fallen  kann  mitunter  geraclezu  aucb  eine  Incontinenz  vor- 
getiiuscbt  werden,  inclem  trotz  aller  Macbt  cler  Wabnvorstellung  ab 
und  zu  etwas  Uriu  aus  cler  iiberfullten  Blase  abtrauft.  Patbologiscber 


*)  Die  Exploration  per  vaginam  ist  bei  Geisteskranken  mir  claim  vorzunehmen, 
wenn  eine  erbeblicbe  Wahrsch  ein lichkeit  fiir  eine  Erkranknng  cler  Genitalien 
vorliegt.  In  vielen  Fallen  beeinflnsst  sie  clen  psychiseben  Znstand  dnrebans  iingiinstig. 


192 


Soinatisclic  Bcglcitsyuiptomc  dcr  Psyclioscri. 


Uiincliang  beruht  iiieist  aul  einer  abiioriuen  llyperasthesie  der  Blaseu-  . 
schleimliaut.  Er  fiudet  sicli  uamentlicli  bei  dem  hystcrischen  und  neu-  ^ 
rastbeniscbeii  Irresein.  Olt  beruht  die  llyperasthesie  auf  excessiv  ge-  * 
triebener  Onauie. 


Eudlich  sei  hier  auch  anhaiigsweise  der  Stbruiigeu  des  Schlafes 
gedacht.  Dieselbeu  sind  bei  Psychosen  sehr  liiiufig.  Paid  beruhen  sie  auf 
affectiven  Erregungen  (primare  Affectstorungen,  erregende  Wahnideeu 
oder  Halluciuatiouen),  bald  auf  gesteigertem  Bewegungsdrang,  bald  eiidlich 
finden  wir  eine  primare  Agrypnie  (Schlaflosigkeit),  fiir  welche  specielle 
Ursacheu  sich  nicht  nachweisen  lassen.  In  der.  speciellen  Pathologic 
werden  diese  Schlafstorungen  noch  ofter  zu  erwahnen  sein. 


i 


rl 


Wa chs thu m s s 1 0 r u ng e n oder  Entwickl ungshemniungen. 

Wie  in  der  allgemeinen  Aetiologie  ausfiihrlicher  zu  erortern  sein  ij 
wil’d,  entwickeln  sich  viele  Psychosen  in  einem  Kbrper,  dessen  erste  I 
Anlage  und  dessen  Wachsthum  in  den  ersten  Lebensmonaten  und  Lebens-  I 
jahren  von  der  Norm  abwich.  Die  korperlichen  Zeichen,  in  welchen  sich  | 
eine  solche  Stoning  der  Anlage  und  Entwicklung  verrath,  bezeichnet  I 
man  auch  kurz  als  „kbrperliche  Degenerationszeichen^’.  Die  wichtigsten  i 
derselben  sind 

1.  Abnorme  Schadelbildungen.  In  vielen  Fallen  beruhen  dieselben 
nicht  auf  einfachen  Entwickluugshemmnngen,  sondern  auf  angeboreneu  i 
constitutionellen  Krankheiten  (Syphilis,  Rachitis)  oder  auf  Traumeui  ( 
(Zangengeburt).  Wo  einfache  Eiitwickhmgshemmung  vorliegt,  handelt  es  | 
sich  meist  um  Asymmetrien.  Am  Gesichtsschiidel  beobachtet  man  Pro- 
geneitat, 

2.  Abnorme  Gaumenbildiing : gespaltene  Uvula,  Hasenscharte,  Wolfs- 
rachen. 

3.  Verbiegungen  der  Wirbelsaule,  angeborene  Liixationen,  mangel- 
hafte  Extendirbarkeit  der  Endphalangen  der  fiinften  Finger,  Polydaktylie 
und  Syndaktylie. 

4.  Unregelmassige,  weite  Stellung  der  Zahne,  partielle  Persistenz  des 
Milchgebisses,  Fehlen  der  Eckzahne  oder  der  lateralen  Schneidezahne. 

5.  Angeborenes  Colobom,  asymmetrische  Farbung  oder  Fleckung 

der  rechten  und  linken  Iris,  ovale  Form  und  excentrische  Lage  der 
Pupille,  langliche  Verziehung  der  Papille,  abnorme  Lage  des  Austritts 
der  Art.  centralis  retinae.  | 

6.  Mangelhafte  oder  abnorme  Differenzirung  der  charakteristischen 
Erhebungen  und  Vertiefungen  des  liusseren  Ohres:  Verkumnieruug  der 
Crura  anthelicis,  Verengung  der  Fossa  helicis,  Defecte  oder  iibermilssige  ! 
Umschlagiing  dcs  Helix  am  freien  Raude,  Spina(^  helicis,  Qiierbalkeu  in 


Lelire  vom  allgemeinen  Verlauf  der  Psychosen. 


193 


der  Fossa  helicis,  tliigelformiges  Abstelien  der  Ohren  vom  Kopf,  Ueber- 
gang  des  Olirlappcliens  mittels  lauger  Haiitfalte  in  die  Wangenbaut. 

7.  Abnorme  Bildimg  der  Genitalien:  Epispadie,  Hypospadie,  Krypt- 
orchismus,  abnorme  Kleinlieit  der  Hoden,  abnorme  Insertion  des  Fre- 
nulum praeputii,  Azoospermie,  Aspermie;  infantiler  Uterus,  Atresie  der 
Vagina,  partielle  oder  vollstilndige  Verdoppelung  des  Scheidenuterus- 
kanals. 

8.  Haarwucbs  von  abnormer  Localisation  (so  bei  Spina  bifida),  Ver- 
doppelung des  Haarwirbels. 

Von  mancben  Autoren  sind  auch  Hernien,  Plattfuss,  Mammahyper- 
tropbie,  Pbimose  u.  a.  m.  als  Zeicben  der  Entwicklungsbemmung  ange- 
sprocben  worden. 

Wenn  die  Entwicklungsbemmung  das  Centralnervensystem  selbst, 
oder  einen  Tbeil  desselben  betrifft,  so  findet  man  allerband  Innervations- 
storungen.  Besonders  baufig  sind  z,  B.  congenitale  Asymmetrien  der 
Facialisinnervation.  Audi  mancbe  Falle  von  congenitalem  Strabismus, 
Nystagmus,  Stammeln  u.  dgl.  geboren  bierber. 

Auf  die  Bedeutung  dieser  „Degenerationszeicben^^  wird  in  der  allge- 
meinen Aetiologie  sowie  bei  Besprecbung  des  sog.  „degenerativen  Irre- 
seins^^  ausfiibrbcber  zm’uckgekommen  werden. 


II.  Lelire  vom  allgemeinen  Verlauf  der  Psj chosen. 

Die  psycbopatbiscben  Symptome  treten  zu  einem  psycbopatbiscben 
Zustand  zusammen.  Solcber  psycbopatbiscber  Zustiinde  giebt  es  sebr 
viele.  Die  wenigsten  derselben  sind  mit  eigenen  Namen  belegt  worden. 
Unter  den  Symptomen,  welcbe  einen  bestimmten  einzelnen  psycbopatbi- 
scben Zustand  zusammensetzen,  unterscbeidet  man  zweckmassig  Primar- 
symptome  und  Secund a r symptome.  Die  letzteren  sind  dadurcb  aus- 
gezeicbnet,  dass  sie  nur  Folgeerscbeinungen  der  ersteren  sind.  Die 
Primarsymptome  sind  das  eigentlicb  Patbologiscbe,  die  Secundarsymptome 
stellen  nur  die  Eeactionen  dar,  mit  welcben  die  verscbiedenen  psycbiscben 
Functionen  auf  erstere  antworten.  In  diesen  Eeactionen  an  sicb  liegt 
nicbts  Patbologiscbes,  sie  stellen  vielmebr  nur  die  natlirlicbe  Consequenz 
der  Primarsymptome  dar.  So  ist  z.  B.  der  sog.  „ballucinatoriscbe 
Stupor"  ein  bestimmter,  sebr  baufiger  psycbopatbiscber  Zustand.  Der- 
selbe  setzt  sicb  im  Wesentlicben  aus  folgenden  Symptomen  zusammen: 

1.  Hallucinationen. 

2.  Illusionen. 

3.  Wabnideen. 

4.  Aprosexie. 


Ziehen,  Psychiatrie. 


13 


194 


Lelirc  vom  allgeiueiiieu  Veilauf  der  Psychosen. 


5.  Deukliemmiing.  ■ 

C.  Motorischer  Hemmung,  i 

7.  Affectverauclerimgen,  z.  B.  Angst. 

Von  diesen  Symptomen  sind  nur  die  beiden  erstgenannten,  also  die 
Hallucinationen  und  Illusionen,  Primarsymptome.  Alle  anderen  sind 
Secundarsymptome.  So  entstelit  z.  B.  die  Wabnidee  direct  auf  Grund 
der  Sinnestauschungen.  Stimmen  rufen  dem  Kranken  zu,  wenn  er  sich 
riilire,  sei  er  des  Todes,  und  es  ist  eine  erklarlicbe,  kein  neues  patlio-  i 
logisches  Moment  involvirende  Folgeerscbeinung,  wenn  der  Kranke  | 
sich  auf  Grund  dieser  Stimmen  verfolgt  w a h n t.  Ebenso  leuchtet  sofort 
ein,  dass  die  Angst  eines  solchen  Kranken  lediglich  ein  Secundar-  i 
symptom  ist,  und  auch  die  verschiedenen  sub  4 — 6 aufgezahlten 
Hemmungserscheinungen , also  die  3 Corollarsymptome : *)  Aprosexie , 
Deukhemmung  und  motorische  Hemmung,  sind,  wie  aus  friiheren  Erbr- 
terungen  bervorgeht,  als  Folgeersclieinungen  der  primilren  Halluci- 
nationen Oder  Illusionen  und  der  diese  begleitenden  Affecte  aufzu- 
fassen. 

Diese  Zerlegung  eines  jeden  psychopathischen  Zustandes  in  seine 
Primar-  und  Secundarsymptome  ist  von  der  grossten  Wichtigkeit  fiir  die 
Diagnose  und  iiberhaupt  fiir  die  Beurtlieilung  einer  Geistesstorung  im 
Einzelfall.  Dabei  muss  man  stets  im  Auge  behalten,  dass  fast  jedes 
Symptom  sowobl  als  Primar-  wie  als  Secundarsymptom  auftreten 
kann.  So  ist  z.  B.  die  Angst  oft  Primar  symptom  und  fiihrt  zu 
s e c u n d a r e n Wa  h n V 0 r s t e 1 1 u n g e n **)  der  V erschuldung,  Verarmuug, 
Verfolgung  u.  s.  w.  In  anderen  Fallen  ist  die  Wabnidee  der  Verschuldung, 
Verarmung  oder  Verfolgung  das  Primarsymptom,  und  die  Angst  ist  nur 
eine  secundare,  bei  aller  praktischen  Wichtigkeit  doch  kein  neues  patho- 
logisches  Moment  darstellende  Folgeerscbeinung  der  Wabnidee.  Es  ist 
daber  immer  eine  der  ersten  Aufgaben  des  untersucbenden  Arztes,  fest- 
zustellen , ob  die  einzelnen  Symptome  eines  psychopathischen  Zu- 
standes Primar-  oder  Secundarsymptome  sind.  Durch  aufmerksame 
Beobachtung  und  geschickte  Fragestellung  gelingt  diese  Feststellung 
fast  stets.  Oft  geniigt  z.  B.  die  directe  Frage:  Kommen  Ihnen  diese 
Gedanken  nur  in  der  Angst?  (d.  h.  sind  die  Wahnideen  secundar  und 
die  Angst  primar?)  und  die  correspondirende  Frage:  Haben  Sie  nur 
deshalb  solche  Angst,  weil  Sie  glauben,  dass  . . . u.  s.  f.?  (d.  h.  ist  die 
Wabnidee  primar  und  die  Angst  secundar?).  Die  meisten  Kranken 
geben  hierauf  eine  dem  thatsachlichen  Sachverhalt  entsprechende  Ant- 


*)  d.  h.  coordinirte  Theilsymptome  ein  und  derselben  Stoning. 

**)  Wir  bezeichneten  diese  seeundaren  Wahnvorstellungen  daher  auch  als  Er- 
klarungsversuche  der  Angst. 


Lehre  vom  allgeineinon  Vcrlauf  dor  Psycliosen. 


195 


wort.  Vielfach  giebt  das  zeitliclie  Verbal  ten  der  Symptome  eineu 
weiteren  Anbalt  fiir  die  Bestimmimg  ibres  causalen  Zusammenbangs. 
Ersteus  sind  namlicb  die  Primarsymptome  die  contiuuirlicberen,  die 
Secimdarsymptome  treten  meist  mebr  als  g elegentlicbe  Zugaben  auf. 
Ist  z.  B.  die  Angst  priinar,  so  wird  es  zuweilen  vorkommen,  dass  Angst 
obne  Wabnideen  bestebt,  und  iimgekebrt  werden  wir,  wenn  die  Wahnidee 
primar  ist,  zuweilen  Wabnideen  obne  Angst  finden.  Zweitens  treten  die 
Primarsymptome  gewbbnlicb  aucb  zeitlicb  v o r den  Secimdarsymptomen 
auf.  Dies  zeitbcbe  Verbiiltniss  ist  baufig  aucb  auf  der  Krankbeitsbobe 
nocb  leicbt  zu  constatiren.  Man  fragt  den  Kranken:  „Was  kommt  zu- 
erst,  die  Angst  oder  die  angstigenden  Gedanken?^^  Antwortet  der  Kranke, 
zuerst  trete  die  Angst  auf,  so  ist  sebr  wabrscbeinlicb  die  Angst  aucb 
primar,  wabrend  im  umgekebrten  Fall  die  Wabnidee  das  Primarsymptom 
ist.  Nocb  weit  wicbtiger  ist  die  Feststellung,  welcbes  Symptom  im 
ganzen  Krankbeitsverlauf,  also  nicbt  im  einzelnen  Augenblick  auf  der 
Kobe  der  Krankbeit,  sondern  bei  der  Krankbeitsent  wick  lung  zuerst 
aufgetreten  ist.  Die  Primarsymptome  sind  meist  zugleicb  F r ii  b - 
symptome,  die  Secundarsymptome  Spatsymptome  der  Psycbose. 
Die  scbematiscbe  Frage,  welcbe  der  Arzt  in  dieser  Kicbtung  an  den 
Kranken  zu  stellen  bat,  lautet:  Womit  bat  die  Krankbeit  begonneu,  mit 
Beangstigungen  oder  mit  dem  Gedanken,  dass  . . . u.  s.  w.  ? Die  Secuudar- 
symptome  sind  aucb  zeitlicb  secundar,  oft  stellen  sie  sicb  erst  W ocben 
und  Monate  nacb  dem  Auftreten  der  Primarsymptome  ein. 

Das  causale  Verbiiltniss  zwiscben  den  Primarsymptomen  und  den 
Secimdarsymptomen  muss  nicbt  wabrend  des  ganzen  Krankbeitsverlaufs 
in  alien  Fallen  besteben  bleiben.  Bei  cbroniscbem  Verlauf  findet 
man  nicbt  selten,  dass  sicb  scbliesslicb  die  Secundarsymptome  von  den 
Primarsymptomen  unabbangig  macben  oder  loslosen.  Am  baufigsten  ge- 
scbiebt  dies  mit  den  Wabnvorstellungen,  welcbe  secundar  aus  primaren 
Aifectanomalien  bervorgeben.  So  kann  z.  B.  eine  Psycbose  mit  primarer 
Traurigkeit  und  Angst  beginnen.  Spater  treten  secundare  Wabnvor- 
stellungen der  Verscbuldung  binzu.  Nimmt  nun  die  Psycbose  einen 
ungunstigen  Verlauf,  so  findet  man  oft,  dass  die  Affecte,  also  Traurig- 
keit und  Angst,  abklingen,  aber  die  Wabnvorstellungen  bleiben.  Die 
Wabnideen  sind  unabbangig  von  den  Affectanomalien  geworden,  oder, 
* mit  anderen  Worten,  sie  baben  sicb  mit  dem  Abklingen  der  Affecte 
selbstilndig  gemacbt  und  zum  Kang  von  Primarsymptomen  erboben. 
Die  Feststellung  eines  solcben  Tbatbestandes  triibt  die  Prognose  erbeblicb. 

Umgekebrt  findet  man  in  anderen  Fallen  baufig,  dass  bei  cbro- 
niscbem Verlauf  die  auf  der  Krankbeitsbobe  binzugetretenen  Secundar- 
symptome sicb  wieder  verlieren.  Am  Scbluss  des  Krankbeitsverlaufes 
steben  die  Primarsymptome  wiederum  isolirt  da.  So  beobacbtet  man 

13* 


196 


Lehrc  vom  allgeraolnen  Verlauf  der  Psychosen. 

dies  namentlicli  selir  haiifig  bei  primaren  Walmvorstelluugen.  Auf  der 
Krankbeitsholie  fiiliren  dieselben  zu  lieftigen  secundaren  Affectanomalien 
uud  demeutsprechenden  liandlungen.  Bei  chrouiscbem  Krankbeitsverlauf 
ist  man  oft  erstauut  scliliesslich  zu  l^eobacliten,  dass  der  Kranke  seine 
Walmvorstellungen  fast  affectlos  aussert  und  fur  sein  Handeln  keine 
Consequenzen  mehr  aus  denselben  ziebt.  Der  Kranke  bat  sicb  an  seine 
Wabnvorstellungen  gewobnt,  die  Secundarsymptome  auf  dem  Gebiete  der 
Affecte  und  des  Handelns  sind  abgeblasst.  Aebnlicb  verbalten  sicb 
baubg  die  Aifectstorungen  und  Anomalien  des  Handelns,  welcbe  secundiir 
zu  primaren  Hallucinationen  binzugetreten  sind.  Bei  cbroniscbem  Ver- 
lauf klingen  sie  allmablicb  ab.  Der  Kranke  lernt  nicht  selten  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  seine  Hallucinationen  und  die  aus  ibnen  entsprungenen 
Wabnideen  ignoriren.  Die  Secundarsymptome  auf  dem  Gebiete  der 
Affecte  und  des  Handelns  sind  aucb  bier  verscbwunden.  Aucb  dies 
Verbalten  ist  prognostiscb  meist  von  ungiinstiger  Vorbedeutung. 


Mebieie  psycbopatbiscbe  Zustande  treten  zu  einer 
Psycbose  in  bestimmter  Reibenfolge  zusammen.  Sebr  wenige 
Psycbosen  bieten  wabrend  ibres  ganzen  Verlaufes  stets  nur  ein  einziges 
Zustandsbild,  d.  b.  einen  einzigen  Complex  von  Hauptsymptomen  dar. 
Die  meisten  Psycbosen  durcblaufen  eine  Reibe  von  Zustiinden  in  regel- 
massigei  Reibenfolge.  Bei  der  Darstellung  der  einzelnen  Psycbosen  wird 
fur  jede  einzelne  genau  angegeben  werden,  welcbe  Zustande  und  in  welcber 
Reibenfolge  sie  dieselben  durcblauft.  Hier  sollen  nur  einige  allgemeinere 
Gesicbtspunkte  erwabnt  werden. 

Zunacbst  baben  viele  Psycbosen  ein  Prodromal  stadium.  So 
gebt  z.  B.  der  Manie,  welcbe  auf  der  Krankbeitsbobe  nur  einen  ein- 
zigen Zustand  mit  den  beiden  Hauptsymptomen  der  Exaltation  und 
Ideenflucbt  darstellt,  fast  stets  ein  Stadium  krankbafter  Depression  vor- 
aus.  In  diesen  Prodromalstadien  sind  meist  die  intellectuellen  Syin- 
ptome,  also  die  Storungen  der  Ideenassociation  und  die  Empfindungs- 
falscbungen  (Hallucinationen  u.  s.  w.)  nocb  wenig  ausgesprocben,  und  nur 
affective  Anomalien  kiindigen  die  bevorstebende  Krankbeit  an.  Aucb 
ein  affectives  Nacbstadium,  d.  b.  ein  Nacbstadium  mit  Krankbeits- 
erscbeinungen  vorwiegend  auf  dem  Gebiet  der  Affecte,  ist  sebr  baufig. 
So  scbliesst  die  ebengenannte  Manie  z.  B.  sebr  baufig  mit  einem  Nacb- 
stadium einer  eigenartig  weinerlicb  - reizbaren  Verstimmung  ab.  Nocb 
regelmassiger  ist  ein  solcbes  Nacbstadium  bei  der  Melancbolie.  Diese 
zeigt  auf  der  Krankbeitsbobe  einen  einzigen  psycbopatbiscben  Zustand, 
dessen  Hauptsymptome  Denkbemmung  und  krankbafte  Depression  sind. 
Gebt  die  Psycbose  in  Heilung  liber,  so  scbliesst  sicb  an  das  Haupt- 


Lehre  vom  allgemeinen  Verlauf  der  Psychosen, 


197 


stadium  eiu  eigenartiges  Nachstadium,  dessen  Haiiptsymptom  eine  krank- 
liafte  Heiterkeit  ist.  Der  Krauke  fiillt  scheinbar  in  das  entgegengesetzte 
Extrem.  Man  bezeicbnet  diese  kraukbafte  Exaltation  der  Eeconvalescenz 
aiicb  kurz  als  reactive  Hyperthymie.  In  analoger  Weise  kann  man 
die  eben  erwiibnte  Weinerlicbkeit  der  genesenden  Manie  als  eine  reac- 
tive Depression  bezeicbnen.  Alle  psycbopatbiscben  Zustiinde,  deren 
Haiiptsymptom  eine  einseitige  Affectstorung,  Exaltation  oder  Depression 
ist,  baben  eine  solcbe  Neigimg,  bei  ibrem  Verscbwinden  einer  entgegen- 
gesetzten  Zustandspbase , also  einer  reactiven  Depression  oder  einer 
reactiven  Hypertbymie  Platz  zu  macben.  Meist  ist  die  Intensitiit  der 
reactiven  Affectanomalie  erbeblicb  geringer  als  diejenige  der  urspriing- 
licben.  Mitunter  wird  jedocb  die  gegensinnige  Affectscbwankung  so 
stark,  dass  sie  ein  neues  Hauptstadium  der  Psycbose  darstellt.  Zwei 
derartige  coordinirte  gegensinnige  Pbasen  bilden  zusammen  einen  sog. 
Cyclus.  In  der  Regel  ist  der  weitere  Verlauf  einer  solcben  Psycbose 
der,  dass  nacb  einem  kiirzeren  oder  langeren  Intervall  derselbe  Cyclus 
sicb  wiederbolt,  und  in  vielen  Fallen  kebren  diese  Cyclen  das  ganze 
Leben  bindurcb  immer  wieder.  Das  allgemeine  Schema  eines  solcben 
Verlaufs  wurde  somit  sein 

entweder:  Depression,  Exaltation,  Intervall,  Depression,  Exaltation,  Inter- 
vall, Depression,  Exaltation  u.  s.  f. 

oder:  Exaltation,  Depression,  Intervall,  Exaltation,  Depression,  Intervall, 

Exaltation  Depression  u.  s.  f. 

Das  psycbiscbe  Gleicbgewicbt  und  zwar  speciell  das  Gleicbgewicbt 
der  Affecte  kebrt  bier  niemals  wieder  dauernd  zuriick,  sondern  es  findet 
ein  fortwilbrendes  Oscilliren  um  die  normale  Affectlage  statt.  Man  be- 
zeicbnet einen  derartigen  Verlauf  als  circularen  Verlauf.  Besonders 
die  Psycbosen  scbwer  erblicb  belasteter  Individuen  neigen  zu  diesem 
cu-cularen  Verlauf.  Aebnlicb  wie  die  Affectstorungen  konnen  aucb  Be- 
scbleunigung  und  Verlangsamung  der  Ideenassociation  sicb  in  regel- 
massigen  Cyclen  ablosen. 

In  anderen  Fallen  beobacbtet  man,  dass  die  Psycbose  nur  ein  Haupt- 
zustandsbild  mit  wenig  ausgesprocbenem  Vor-  und  Nacbstadium  durcb- 
lauft,  dass  sie  aber  in  gewissen  Zwiscbenraumen  wiederkebrt.  Man 
spricbt  in  solcben  Fallen  von  einem  recidivirenden  Verlauf.  Sind  die 
Zwiscbenraume,  in  welcben  die  Psycbose  sicb  wiederbolt,  regelmassige 
d.  b.  stets  annabernd  gleicb  lang,  so  bezeicbnet  man  die  Gesammtbeit 
dieser  Einzelerkrankungen  als  periodiscbes  Irresein.  Zwiscben  dem 
periodiscben  und  dem  recidivirenden  Verlauf  bestebt  eine  principielle 
Verscbiedenbeit,  insofern  bei  ersterem  fiir  jedes  neue  Recidiv  eine  Ge- 
legenbeitsveranlassung  sicb  nacbweisen  lasst,  wabrend  bei  letzterem  in 
bestimmten  Intervallen  die  Psycbose  wiederkebrt,  obne  dass  fiir  d^jj 


198 


Lehre  vom  allgemeinen  Verlaiif  cler  Psychosen. 

jeweiligen  Wiederausbruch  eine  Ursache  sich  ausfinclig  macheu  lasst.  | 
Bei  ersterem  liandelt  es  sich  daher  aucli  nicht  eigentlich  um  eine  beson- 
dcie  Weise  des  Verlaufs,  sondern  um  wirkliche  Neiierkrankungen,  wiih- 
rend  bei  dem  periodischen  Verlauf  die  Einzelerkrankungeu  in  der  That  I 
niir  einzelne  Phasen  im  Verlauf  einer  Gesainmtpsycbose,  eben  des  sog  I 
periodischen  Irreseins,  siud.*  Bei  dem  letzteren  ist  mit  der  ersten  Er-  ■ 
krankuug  schou  die  ganze  Pieihe  der  folgenden  Erkrankungen  gegeben,  .j 
wahrend  das  Eintreten  der  Recidive  im  ersterwahnten  Falle  von  bestimmten  1 
Gelegeuheitsursachen  abhangig  ist.  Man  hat  die  Bezeichnung  „periodisches  I 
Irresein^''  weiter  auch  auf  solche  Falle  ausgedehnt,  in  welchen  die  psychi-  ^ 
schen  Erkrankungen  in  regelmassigen  Intervallen  auftreten,  aber  unter  sich  j 
sehr  verschieden  sind.  So  kann  z.  B.  die  erste  Erkrankung  eine  Manie,  die 
zweite  eine  hallucinatorische  Paranoiaj  die  dritte  und  vierte  wieder  eine  jj 
Manie  darstellen  u.  s.  f.  Wir  sprechen  dann  von  einem  polymorphen  I 
periodischen  Verlauf.  Die  Ursache  dieser  eigenthiimlichen  Periodicitat  | 
im  Verlauf  mancher  Psychosen  ist  noch  ganz  unaufgeklart.  Eine  Be-  -i 
ziehung  zu  Malaria  ist  sehr  selten.  Bei  weiblichen  Individuen  stehen  die  I 
einzelnen  Anfalle  nicht  selten  mit  der  Menstruation  in  Zusammenhang.  Wir  1 
wissen  sonst  mit  Sicherheit  nur,  dass  im  Ganzen  auch  hier  besonders  schwer  | 
erblich  belastete  Individuen  zu  Psychoseu  mit  periodischem  Lauf  neigen. 

Von  dem  periodischen  Verlauf  ist  der  remittireude  Verlauf  I 
scharf  zu  unterscheiden.  Letzterer  ist  dadurch  ausgezeichuet,  class  das  - 
Hauptstadium  der  Psychose  in  regelmassigen  oder  uuregelmassigen  Inter-  • 
vallen  Remissionen  zeigt.  Zuweilen  sind  dieselben  so  erheblich,  dass  ; 
eine  wirkliche  Inter missiou  vorgetauscht  wird.  Remittirender  Verlauf  I 
ist  bei  den  verschiedenen  Formen  der  Paranoia  am  haufigsten,  doch  i 
findet  man  ihn  auch  bei  organischen  Psychosen  (Dementia  paralytica).  L 
Bei  Erblichbelasteten  ist  er  nicht  hiiufiger  als  bei  Unbelasteten.  I 

Psychosen,  welche  wahrend  ihres  ganzen  Verlaufs  — abgeseheu  i 
von  dem  eben  erwahnten  Vor-  und  Nachstadium  sowie  von  etwaigem  |i 
circuUiren,  periodischen  oder  remittirenden  Verlauf  — nur  ein  Haupt-  k 
stadium  durchmachen,  bezeichnet  man  als  einfache  Psychosen.  Als  zu-  • 
sammengesetzte  oder  polymorphe  Psychosen  bezeichnet  man  i 
solche,  welche  wahrend  ihres  Verlaufes  mehrere  verschiedene  Haupt- 
stadien  durchlaufen.  Die  Erforschung  dieser  polymorphen  Psychosen  ist  I 
noch  in  hohem  Maasse  riickstandig.  Wir  kounen  heute  nur  soviel  sagen,  ' 
dass  die  polymorphen  oder  zusammengesetzten  Psychosen  besonders  fol- 
genden Verlauf  zu  bevorzugen  scheinen: 

1.  Depressives  Stadium. 

2.  Hyperthymisches  Stadium. 

3.  Stadium  der  Verwirrtheit.  ! 

4.  Schwachsinn.  < 


Lehre  vora  allgemeinen  Verlauf  tier  Psychosen. 


199 


Im  Stadium  der  Verwirrtheit  ist  meist  der  beginneiide  Schwach- 
sinn  bereits  deutlich  nacbzuweisem  Man  bat  alle  in  dieser  Weise  ver- 
laufenden  Psychosen  aucb  als  „Vesania  typica“  (Kahlbanm)  bezeicbnet. 
Sehr  hiinfig  zeigt  aucb  die  Dementia  paralytica  oder  progressive  Para- 
lyse der  Irren  einen  ansgesprochen  polymorpben  Verlaut, 


Je  nacb  der  Gescbwindigkeit,  mit  welcber  die  einzelnen  psycbo- 
patbiscben  Symptome  und  Zustande  im  Verlaufe  der  Psycbose  aufein- 
ander  folgen,  bezeicbnet  man  die  Psycbose  als  acut,  subacut  oder 
cbroniscb.  Diese  Begriffe  werden  jedoch  in  der  Psycbiatrie  nicbt  in 
ganz  derselben  Bedeutimg  wie  in  der  inneren  Medicin  gebraucht.  Zn- 
niicbst  ist  vor  allem  zwiscben  acnter  und  cbroniscber  Entstebung 
und  acutem  und  cbr oniscbem  G e s a m m t v e r 1 a u £ zu  unterscbeiden . M an 
scbreibt  in  der  Psycbiatrie  solcben  Psycbosen  acute  Entstebung  zu, 
deren  H a u p t symptome  innerbalb  kurzer  Erist  — bdcbstens  binnen 
einiger  Wocben  — im  Wesentlicben  zur  vollen  Entwicklung  gelangt  sind, 
und  siebt  dabei  von  den  obenerwabnten  Prodromalstadien,  welcbe  sicb 
oft  iiber  mebrere  Monate  erstrecken,  vollig  ab.  So  wird  die  Manie  z.  B. 
in  der  Kegel  als  eine  acute  Psycbose  aufgefasst,  obwohl  die  prodromale 

Depression  wocbenlabg  vorhergebt. 

Es  kommt  eben  bei  der  Entscbeidung,  ob  acute  Entstebung  oder  nicbt, 
lediglicb  auf  die  Entwicklung  der  primaren  Hauptsymptome  an. 
Das  beste  Beispiel  einer  chroniscben  Entstebung  liefert  die  sog. 
Paranoia  chronica  simplex.  Das  primare  und  einzige  Hauptsymptom  dieser 
Psycbose  ist  die  Bildung  von  Wabnvorstelbmgen.  Diese  Psycbose  ent- 
wickelt  sicb  nun  in  der  Kegel  nicbt  so,  dass  plotzlicb  eines  Tages  eine 
oder  mebrere  Wabnideen  auftaucben,  sondern  meist  zeigt  der  Kranke 
zunacbst  monatelang  ein  eigentbumlicbea  Misstrauen:  seine  Umgebung 
erscbeint  ibm  unbeimlicb  und  veriindert,  und  allmablicb  erst  nimmt 
dieses  unbestimmte  Misstrauen  bestimmtere  Gestalt  an  und  wu’d  scbliess- 
licb  in  bestimmten  Verfolgungsideen  formulirt.  In  dem  initialen  Miss- 
trauen dieser  Kranken  ist  das  Hauptsymptom  der  Krankheit  bereits 
entbalten.  Das  patbologiscbe  Misstrauen  entbalt  gewissermaassen  schon 
die  Keime  zu  alien  spateren  Verfolgungsideen.  Im  Verlauf  von  Monaten 
und  selbst  von  Jabren  reifen  die  letzteren  allmablicb  aus.  Eine  solcbe 
Entwicklung  ist  eine  cbroniscb e. 

Von  der  acuten  und  chroniscben  Entstebung  der  Psycbosen  ist 
der  acute  und  cbroniscbe  Gesammtverlauf  zu  unterscbeiden.  Eine  Psy- 
chose,  welcbe  sebr  acut  eingesetzt  hat,  kann  weiterhin  einen  chroniscben 
Verlauf  nebmen;  dagegen  kommt  es  allerdings  im  Allgemeinen  nicbt  vor,  dass 
eine  Psycbose,  deren  Entwicklung  in  dem  oben  angegebenen  Sinne  eine 


200 


Lehro  vom  allgemeinen  Verlauf  der  Psychosen. 


chronische  war,  spaterliin  ausgesprochen  acut  verlauft.  Ein  allgemeinsil 
tiges  Merkmal  ...zuge],en,  welches  clen  chronischen  Verlauf an^gt  ilt 
nicht  nioglich  Em  solclies  existirt  nicht.  Viclmehr  wire!  fiir  jede  einzeliie 
JLl  entwickelt,  anzugeben  seiu,  an  welchen  Merk- 

Sn  Ip  chronisclieu  Cliarakter  annimmt 

So  deutet  z.  B bei  vielen  Psychosen  der  Eintritt  eines  Intelligenz- 
defects  (Gedaebtniss-  und  Urtbeilsscbwaclie)  auf  einen  UebergLg  in 
ebromseben  Verlauf.  Bei  anderen  Psyebosen  bat  die  ausgfebige!" 

deutiiL“'''B eine  soicbe  omindse  Be- 
deutung.  Bei  Psyebosen  mit  secundaren  affectiven  Wabnvorstellungen 

IS  em  chromscher  Verlauf  dann  wabrscbeinlicb,  wenn  in  der  oben  L- 

scbiiebenen  Weise  die  Wabnvorstellungen  sicb  von  den  primaren  Affecten 

aus  denen  sie  entsprungen  sind,  iinabbangig  inacben  und  gelegentlich  aucb 

0 me  solche  auftreten.  Im  Allgemeinen  spricht  es  aucb  fiir  chronischen 

^ f motorisebe  Reaction  auf  Wabnvorstellungen 

Oder  Hallucmationen  allmablich  nacblasst,  wenn  also  der  Kranke  gleich- 
gultiger  gegen  seine  Wabnideen  und  Sinnestausebungen  wird.  Ganz 
a Igemem  muss  scbbesslich  hervorgeboben  werdeu,  dass  die  Geisteskrank- 
heiten  uberbaupt  diirchscbnittlicb  erbeblicb  langsamer  verlaiifen  als  die 
meisten  somatiscben  Krankheiten.  Es  giebt  allerdings  Geistesstorungen 
welcbe  m eimgen  Tagen,  und  selbst  solche,  welcbe  in  einigen  Stunden  ab- 
laufen;  man  bezeichnet  dieselben  als  „tran  sit  oris  dies  Irresein".  Dies 
Sind  jedocb  seltene  Aiisnahmen.  Diejenigen  Psyebosen,  deren  Entwicklung 
m dem  oben  erorterten  Sinn  im  bochsten  Alaass  als  acut  zu  bezeiebnen 
ist,  dauern  bis  zur  Heilung  selbst  im  giinstigsten  Fall  docb  mindestens 
2—3  Monate  und  ziiweilen  6-9  Monate  und  mehr.  Aucb  bei  solcben 
spiicbt  man  trotz  der  langeren  Dauer  nicht  von  einem  chronischen  Ver- 
lauf. Psyebosen  konnen  Monate  lang  ibren  aciiten  Cbarakter  bewabren. 
Chronische r Verlauf  bedeutet  also  nicht  einfacb  niir  langsamen 
Verlauf,  — ein  soldier  kommt  in  gewissem  Maasse  aucb  den  Psyebosen 
nut  aciitem  Verlauf  zu  — sondern  bedeutet  in  der  Psyebiatrie  direct 
daiiernde  Fixirung  der  Krankbeitssymptome  und  ist  somit  in  uocb  weit 
boherem  Maasse  als  in  der  inneren  Medicin  mit  Unbeilbarkeit  identiseb. 

In  der  speciellen  Psyebiatrie  wird  im  Folgenden  die  Bezeicbnimg 
acut  stets  mit  Bezug  auf  die  Entstebung  der  Psyebose,  also  im 
Sinn  von  „acut  entstanden"  angewandt  werden.  Die  Bezeiebnung 
chronisch  soli  analog  iuiFolgenden  bedeuten  „chroniscb  entstanden^. 
Bei  den  Psyebosen,  welcbe  acut  entstanden  imd  uacbtriiglicb  in  ebro- 
nischen  Verlauf  iibergegangen  sind,  soli  fiir  das  chronisebe  Scbluss- 
stadium  das  Adjectiv  chronisch  gelegentlich  aucb  gebraiicbt  werden, 
docb  hat  man  meist  fur  diese  Schlussstadien  eigene  Bezeiebnuugen, 
welcbe  die  Anwendung  des  Wortes  ,„cbroniscb"  uberfliissig  macben.  So 


Allgemeine  Diagnostik. 


201 


verbiudet  sicli,  wie  bereits  oben  erwabnt,  mit  dem  clironischen  Verlauf 
oft  ein  zunelimender  Intelligenzdefect ; man  bezeichnet  daher  dies  chro- 
niscbe  Scblussstadium  der  Krankbeit  meist  als  ,,secimdare  Demenz^^  und 
sagt  daher  nicht:  „die  Psychose  ist  chrouisch  geAvorden",  sondern  „die 
Psychose  ist  in  secundare  Demeuz  iibergegangen^h  Von  einem  Ueber- 
gang  in  chronisclien  Verlauf  pflegt  man  nur  dann  zu  spreclien, 
Avenn  der  klinisclie  Symptomencomplex  im  Wesentlichen  imverandert 
bleibt,  Avenn  also  z.  B.  die  Wahnideen  sich  fixiren  und  systematisirt 
AA^erden,  olme  dass  ein  Intelligenzdefect  hinzutritt. 


III.  All  P’emeine  Diaonostik. 

o o 

Die  allgemeine  Diagnostik  hat  das  Schema  anzugeben,  nach  Avelchem 
I der  Arzt  bei  der  Feststelhmg  und  VerAA^erthung  der  Symptome  behufs 
der  Diagnose  am  zAveckmassigsten  vorgeht.  Die  erste  Aufgabe  des  Arztes 
Avdrd  die  Feststelhmg  des  gegenAvartigen  Zustandes,  des  Status  praesens 
seiu.  Hierfiir  beAvahrt  sich  folgendes  Schema. 

A.  Korperlicher  Zustand. 

Grosse.  GeAvicht.  Knochenbau.  Schadelconfiguration ')  (Lange,  Breite, 
Umfang,  Symmetrie).  Muskelentwicklung.  Fettpolster.  Hautelasticitat. 
HaarAvuchs.  Aeussere  Ohren.  Iris  (Arcus  senilis  u.  s.  av.).  Gaumen,  Zahne. 
Zunge  (belegt?  unbelegt?  Narben?). 

Herztdne.  Herzdampfung.  Hautfarbe  des  Gesichts.  Farbung  der 
Conjunctiva.  Farbe  und  Temperatur  der  Haut  in  den  peripheren 
Korpertheilen.  Vasomotorisches  Nachrothen.  Centrale  Korpertemperatur. 
Beschaffenheit  der  x\rterienAvandungen  (geschlaugelt?  rigid?),  Contrac- 
tionszustand  der  Arterien.  Kobe,  Unterdriickbarkeit,  Regelmassigkeit, 
Form®)  der  BlutAvelle.  ScliAveisssecretion. 

Lungenspitzen.  Verschieblichkeit  der  unteren  Lungengrenzen.  Re- 
spiration. Leberdampfung.  DriisenschAvellungen.  Beschaffenheit  der 
medialen  Tibiaflachen  (Rauhigkeiten!).  Genitalien  (Narben !).  Menstrua- 
tion. Urin  (Reaction,  EiAveiss-  und  Zuckergehalt  u.  s.  av.).  Stuhlgang. 

Pupillen  (Aveit  oder  eng,  gleich,  rund  oder  oval  oder  verzogen?). 
Directe  und  synergische  Lichtreactionen.  Convergenzreactionen. 


‘)  Vorziigliche  Dienste  zur  genaueren  Feststellung  der  Schadelconfiguration 
leistet  die  craniographische  Methode  Rieger’s. 

*)  Eventuell  Blutkorperchenzahlung. 

3)  Eventuell  sphygmographische  Darstellung  (Dudgeonscher  Sphygmograph)  und 
sphygmomanometrische  Feststellung  des  Blutdrucks  (nach  Basch). 


202 


Allgemeine  Diagnostik. 


Augenbewegimgen.  Secimdare  Innendeviation.  Doppelbilder. 

Weite  der  Augenspalte.  Stirnrunzeln.  Augenzukneifen. 

Mundfacialisiimervationen  in  Rube,  mimisch,  beim  Sprechen,  beim 
/uugenvorstrecken,  activ  (Mundspitzen,  Zabnefletschen). 

Gaumenbebung  bei  Pbonation  (Deviationen  der  Uvula  sind  bedeu- 
tungslos). 

Ziingenvorstrecken  (gerade  oder  mit  Deviation? ‘)  unter  ataktiscbem 
Scbwanken  oder  bbrillar  zitternd  oder  rubig?). 

Grobe  motoriscbe  Kraft  und  Coordination  der  Arm-  und  Bein- 
bewegungen.  Zittern  der  Extremitaten  bei  activer  Einnabme  von  Rube- 
stellungen  (statiscber  Tremor  z.  B.  beim  Spreizen  der  Finger)  oder 
bei  willkiirlicben  Bewegungen  (Intentionstremor)  oder  bei  scblaffer 
Rube.  — Romberg’scbes  Scbwanken.  Gang. 

Spracbarticulation : Spontansprecben.  Nacbsprecben.  Bezeicbnen 
von  Gegenstanden  (nacb  dem  Gebor,  dem  Gefiibl,  dem  Seben  u.  s.  w.). 
Scbrift:  Dictatscbreiben,  Spontanscbreiben,  Nacbscbreiben,  scbriftlicbes 
Benennen  von  Gegenstanden. 

Kniepbiinomen.  Acbillessebnenpbanomen.  Fussclonus.  Anconeus- 
sebnenpbanomen.  Idiomusculare  Erregbarkeit  (im  Allgemeinen  am 
besten  am  Biceps  des  Armes  zu  priifen). 

Plantarreflexe.  Cremasterreflexe.  Epigastriscbe  Reflexe.  Gaiimen- 
reflexe. 

Sebscbarfe.  Gesicbtsfelder.''^)  Opbtbalmoskoi3iscber  Refund.  Lese- 
probe. 

Horscbarfe  resp.  Horweite.  Otoskopiscber  Refund.  Craniotympanale 
Leituug. 

Werdeu  Perubalsam  und  Ac.  aceticum  recbts  und  links  gleicb  stark 
gerocben  oder  nicbt? 

Beriibrungsempfindlicbkeit.  Scbmerzempfindlicbkeit  (berabgesetzt 
oder  gesteigert?  werden  symmetriscbe  Sticbe  symmetriscb  empfunden?). 
Localisationsfebler  fiir  Beriibrungen.  Muskelgefiibl. 

Spontane  Scbmerzen.  Parastbesien. 

Druckpunkte  (Kopfpercussion,  Gesicbtsnervenaustritte,  Dorufortsatze 
der  Wirbelsaule,  lutercostalraume,  Iliacalgegend,  Mammae  u.  s.  w.). 

Scblaf.  Hunger,  Durst. 

B.  Psy cbiscber  Zustand. 

I.  Gesicbtsausdruck.  Gesticulation.  Sprecbweise  (rascb  oder  langsam, 
laut  oder  leise,  in  Satzen  oder  obne  Satzzusammenbang,  mit  oder  obne- 


*)  Bekanntlich  liegt  die  Lahmung  auf  der  Seite  der  Deviation  vor. 

*)  Eventuell  perimetrische  Untersuchung,  namentlich  auch  fiir  Farben. 


Allgemeine  Diagnostik. 


203 


affective  Betonnng  u.  s.  w).  Hancllimgen : spontane  Bewegimgen  (liegt,  sitzt, 
geht  der  Krauke?  AViisclit,  kammt,  kleidet  und  nahrt  sich  der  Kranke 
spoutan  und  in  normaler  Weise?  Befriedigt  er  seine  Bediirfnisse  in 
nornialer  Weise?  Sexnelles  Verhalten.  Verkehr  mit  den  Angehdrigen. 
Benifstluitigkeit.  Beschaftigung  ausserhalb  der  letzteren.  Schlaf) ; aufge- 
tragene  Bewegungen  (Vorstrecken  der  Zunge,  Greifen  nach  Gegenstanden : 
werden  solclie  iiberliaupt  ansgeflilirt,  langsam  oder  rasch  u.  s.  w.?).  Reac- 
tion auf  passive  Bewegungen. 

II.  Empfindungen : Secundarempfindungen,  Illusionen,  Hallucinationen. 

III.  Gefiiblstone  und  Affecte;  Welches  ist  die  Grundstimmung  ? 
Traurigkeit,  Reizbarkeit,  Heiterkeit,  Angst?  Bestehen  diese  Verstim- 
mungen  continuirlicb  oder  treten  sie  anfallsweise  auf  oder  wechseln  die 
Stimmungen  auffallig  rasch?  Welches  ist  ihr  Inhalt,  welches  ihre  Motive? 
Kbrperliche  Begleitempfindungen  dieser  Verstimmungen.  Oder  ist  das 
Gefuhlsleben  herabgesetzt  (Gleichgliltigkeit  gegen  Beruf  und  Angehorige, 
gegen  Naturschbnheiten,  Lecture  u.  s.  w.)?  Ethische  Geflihlstone. 

IV.  Erinnerungsbilder : Fahigkeit,  abwesende  Personen  und  Oertlich- 
keiten  sich  vorzustellen.  Sind  auch  complicirtere  Begriffe  vorhanden 
(Was  ist  Dankbarkeit?  Wie  nennt  man  es,  wenn  demand  schlecht  gegen 
einen  Wohlthater  handelt  u.  s.  w.)?  Erhaltung  der  Erinnerungsbilder  in 
ihren  associativen  Verknlipfungen  und  in  ihrer  chronologischen  Ordnung. 
Fragen  nach  den  Schulkenntnissen,  entsprechend  dem  Bildungsgange 
(7x8?  7xl8?^)  7x188?)  geographische,  historische  Fragen:  Hauptstadt 
von  Deutschland,  von  Schweden?  Deutsch-franzosischer  Krieg?  Aufzahlen 
der  Wochentage,  der  Himmelsrichtungen,  der  Monate  u.  s.  f.).  Fragen 
nach  den  jetzigen  Verhaltnissen  des  Kranken  (Aufzahlen  der  Kinder, 
Angabe  ihrer  Geburtstage,  Jahr  der  Verheirathung,  Einwohnerzahl  des 
Wohnorts,  Biirgermeister , Abgeordneter  des  Wohnorts,  Vermogensver- 
haltnisse  des  Kranken  u.  dgl.).  Fragen  nach  den  friiheren  und  namentlich 
nach  den  jiingsten  Erlebnissen  (wie  haben  Sie  den  gestrigen,  den  vor- 
gestrigen  Tag  zugebracht,  welche  Besuche  empfangen,  was  zu  Mittag 
gegessen?).  Fahigkeit,  Neues  zu  merken  (wie  lange  wird  z.  B.  eine 
3 — 5 stellige  Zahl  behalten  u.  s.  f.) 

V.  Ideenassociation : 

Orientirung  liber  die  Personalien,  das  heutige  Datum,  den  augen- 
blicklichen  Aufenthaltsort,  die  Personen  der  Umgebung.  Werden  Gegen- 
stande  durch  Betasten,  Sehen  u.  dgl.  richtig  wiedererkannt? 

‘)  So  wird  man  z.  B.  den  Deprimirten  fragen:  Konnen  Sie  zuweilen  auch  noch 
heiter  sein? 

2)  Insofern  die  meisten  Menschen  7 X 18  = 126  nicht  als  fertige  Association  bereit 
liegen  haben,  sondern  aus  Theilassociationen  (7  X 10  und  7X8)  comhiniren  miissen, 
greift  diese  Frage  bereits  in  die  V.  Gruppe  ..Ideenassociation"  hinein. 


204 


Allgemeine  Diagnostik. 


Aufmeiksamkeit : beachtet  cler  Kranke  die  Vorgange  in  seiner  Um- 
gebung?  haftet  die  Aufmeiksamkeit  lilnger  an  einem  Gegenstand  oder 
eilt  sie  von  einem  zum  andern? 

Gescliwindigkeit  der  Ideenassociation. 

Zusammenbang  der  Ideenassociation. 

Inbalt  del  Ideenassociation;  bestebenWalinvorstellungen  oder  Zwangs- 
vorstelliingen  ? ist  die  Urtlieilskraft  intact?  wie  weit  ist  speciell  Krank- 
heitsbewusstsein  vorhanden?  Wie  urtbeilt  der  Kranke  iiber  seine  Ver- 
gangenbeit,  iiber  seine  aiigenblicklicbe  Lage?  Welcbe  Plane  bat  er  fiir 
die  Ziikunft?  Wie  beurtbeilt  er  speciell  das  Verbaltniss  zu  seiner  Urn 
gebung,  seine  Vermogensverbaltnisse,  seinen  sittlicben  Wertb  (macben 
Sie  sicb  selbst  Vorwiirfe?),  seinen  Gesimdbeitszustand,  seine  beruflicbe 
Leistungsfabigkeit?  Wie  beurtbeilt  er  die  Verbaltnisse  seiner  Umgebung  ? 

Oder  klagt  der  Kranke  uber  Mangel  an  Gedanken  (^^Kopfleere^)? 

Die  Beziebungen  des  soeben  gegebenen  Schemas  zu  der  fruber  in 
der  allgemeinen  Symptomatologie  gegebenen  Eintbeilung  und  Darstellung 
der  Symptome  liegen  auf  der  Hand.  Selbstverstiindlicb  ist  dies  Schema 
jedocb  nicbt  erscbbpfend.  Dasselbe  zeicbnet  nur  die  Grundlinicu  des 
Untersucbungsganges  vor.  Im  Einzelfall  wird  dieser  oder  jener  Befund 
sebr  baufig  speciellere  weitere  Untersucbungen  in  dieser  oder  jener 
Bicbtung  nahelegeu  oder  notbwendig  macben.  So  wird  z.  B.  die  Fest- 
stellung  einer  atropbiscben  Labmung  sebr  oft  zu  einer  Priifung  der  elek- 
triscben  Erregbarkeit  der  paretiscben  Muskelu  Anlass  geben  miissen.  Zu 
der  Gerucbspriifung  wird  zuweilen  eiue  Gescbmackspriifung  hinzukommen 
musseu.  Der  Nacbweis  von  Eiweiss  im  Urin  wird  eine  genaue  mikro- 
skopiscbe  Untersucbung  des  Urinsediments  nacb  sicb  zieben,  durcb 
Avelcbe  festzustellen  ist,  ob  eine  Nephritis  vorliegt  oder  lediglicb  die 
fruber  erwabnte  symptomatiscbe  Albuminurie,  wie  sie  bei  Zustiindeu 
der  Erregung  und  Verwirrtbeit  vorkommt.  So  wird  also  die  Uuter- 
sucbung  je  nacb  den  einzelnen  Ergebnissen  in  dieser  oder  jener  Ricb- 
tung  ausgedebnt  werden  miissen.  In  ganz  besonderem  Maasse  gilt  dies 
von  dem  2.  Tbeil  der  Untersucbung,  dem  psycbischen  Status  praesens. 
Es  ist  zweckmassig,  wie  dies  in  dem  Schema  geschehen,  bier  mit  den 
motoriscben  Reactionen  (Ausdrucksbewegungen,  Handlungen)  zu  beginneu, 
weil  sie  sicb  meist  dem  arztlicben  Beobacbter  zuerst  darbieten  und  die 
besten  Fiugerzeige  geben,  in  welcher  Ricbtung  die  Fragen  nacb  Storungen 
des  Empfindungslebens , Affectlebens  und  Vorstellungslebens  sicb  am 
zweckmassigsten  bewegen.  Desbalb  empfieblt  es  sicb  aucb  so  sebr,  dass 
der  Arzt  den  Kranken  nicbt  sofort  mit  allerband  Fragen  bestiirmt,  son- 
dern  zunachst  in  seinem  spontanen  Thun  und  Treiben  beobacbtet. 

Die  Fragen,  welcbe  in  dem  Schema  des  psycbischen  Status  an- 
gegeben  sind,  sind  ebensowenig  erscbopfeud.  Nur  die  Hauptricbtun- 


Allgemoine  Diagnostik. 


205 


geu,  in  welclien  die  Fragestellung  sicli  zii  bewegen  hat,  sollen  damit 
bezeichnet  sein.  Dem  Geschick  iind  der  Erfahnmg  und  namentlicb  einem 
gewissen  psycbologisclien  Mitfiililen  des  Arztes  muss  die  specielle  Aus- 
wahl  dei’Fragen  iiberlasseu  bleibeu.  EinenKranken  mit  dem  strahlenden 
Gesiclitsausdruck  der  Exaltation  wird  man  nicht  nach  Versiindigungsideen 
ansforsclieu  u.  s.  f.  Ebenso  wird  man  sich  auch  nicht  an  eine  bestimmte 
Reihenfolge  der  Eragen  binden.  Eine  spontane  Aeussenmg  des  Kranken, 
welche  eine  Wahnidee  vermuthen  liisst,  wird  nicht  selten  Veranlassung 
geben,  die  Untersuchnng  des  Empfindimgs-  und  Affectlebens  einstweilen 
anfzuschieben  und  zimachst  der  aufgefundenen  Spur  nachzugehen  und 
die  bez.  Wahnidee  zu  verfolgen.  Man  tragt  dann  jeden  psychopathischen 
Befund  in  die  entsprechende  Rubrik  des  Schemas  ein  und  fiillt  die 
schliesslich  noch  iibrig  gebliebenen  Liicken  durch  nachtragliche  specielle 
Fragen  aus. 

Auch  die  Frage,  ob  die  korperliche  oder  die  psychische  Untersuchung 
voranzuschicken  ist,  liisst  sich  nicht  allgemein  beantworten.  Keinesfalls 
ist  jemals  erstere  zu  unterlassen.  Gerade  eine  genaue  korperliche 
Untersuchung  weckt  in  vielen  Fallen  das  Vertrauen  zum  Arzt  am  leich- 
testen  und  viele  Kranke  schenken  einem  auf  korperliche  Symptome 
gestiitzten  Urtheil  und  Rath  des  Arztes  weit  eher  Glauben  als  einem 
lediglich  auf  psychische  Symptome  gestiitzten  Urtheil  und  Rath,  weil  sie 
oft  den  pathologischen  Charakter  der  psychischen  Symptome  nicht  zu- 
geben.  Unendlich  viel  wichtiger  ist  aber,  dass  nur  die  korperliche  Unter- 
suchung in  vielen  Fallen  iiberhaupt  eine  sichere  Diagnose  ermoglicht.  Der 
heilbare  Melancholiker  und  der  unheilbare  Paralytiker  im  Depressionssta- 
dium  konnen  selbst  flir  den  erfahrenen  Psychiater  annahernd  die  gleichen 
psychischen  Symptome  darbieten;  erst  die  korperliche  Untersuchung 
gestattet  diesen  von  jenem  zu  unterscheiden.  Haufig  ist  es  geradezu 
zweckmassiger,  die  korperliche  Untersuchung  voranzuschicken,  namentlich 
bei  solchen  Kranken,  bei  welchen  in  Folge  ihres  Charakters  oder  ihrer 
Krankheit  ein  lebhaftes  Misstrauen  oder  Scheu  vor  der  psychischen 
Untersuchung  zu  gewartigen  ist. 

Ausser  dem  Status  praesens  ist  zur  Diagnose  stets  eine  genaue 
Anamnese  erforderlich.  Viele  Psychosen  durchlaufen  eine  ganze  Reihe 
verschiedener  Zustande  und  andererseits  kommt  ein  und  derselbe  psycho- 
pathische  Zustand  im  Verlauf  verschiedener  Psychosen  vor.  Erst  die 
Anamnese  gestattet,  von  der  Diagnose  des  Zustandes  zu  der  Diagnose 
der  Krankheit  fortzuschreiten.  Die  Anamnese  ist  eine  doppelte, 
erstens  kommt  die  objective  in  Betracht,  welche  die  Umgebung  des 
Kranken  uns  giebt,  und  zweitens  die  subjective  oder  Autoanamnese, 
welche  der  Kranke  selbst  uns  giebt.  Erstere  ist  im  Allgemeinen  die  ver- 
lasslichere,  wenn  auch  Uebertreibungen  und  Beschonigungen,  irrthlim- 


206 


Allgomeinc  Diagnostik. 


liche  Deutimgen  und  absichtliche  Entstellungen  der  beobacliteten  Krank- 
beitsvorgange  gelegentlich  vorkoramen.  Letztere,  die  Autoanamnese, 
ist.  im  Ganzeu  nicbt  so  verlasslich : Erinnerungsfalschungen  und  Er- 
innerungsentstellimgen,  retrospective  Deutungen  und  auf  die  Vergangen- 
beit  beziigliclie  Wahnvorstellungen  und  endlich  Gedachtnissdefecte  tragen 
dazu  bei , die  Autoanamnese  unzuverlassig  zu  macben.  Aucb  die 
Dissimulationsversucbe  und  sog.  „rasonnirenden"  Bescbonigungsversucbe 
vieler  Kranken  kommen  binzu.  Dafiir  bat  andererseits  die  Autoanam- 
nese den  grossen  Vorzug  einen  Einblick  in  die  psycbologiscbe  Genese 
und  den  psycbologiscben  Zusammenliang  der  successiven  psycbopatbiscben 
Symptome  und  Zustiinde  zu  gewabren. 

Die  Anamnese  einer  Psycbose  muss  in  mancben  Beziebungen  viel 
mebi  entbalten  als  die  Anamnese  einer  gewobnlicben  korperlicben  Krank- 
beit,  z.  B.  einer  Lungenentzundung.  Vor  allem  bedurfen  zunacbst  die 
Hereditatsverlialtnisse  einer  viel  genaueren  Feststellung.  Speciell 
ist  festzustellen,  ob  bei  Vater,  Mutter,  Grossvater  und  Grossmutter 
viiter-  und  rniitterlicberseits,  Gescbwistern  des  Vaters  oder  der  Mutter, 
endlicb  bei  Gescbwistern  und  Ivindern  des  Kranken  selbst  irgendwelcbe 
belastende  Krankbeiten  (Psycbosen , anderweitige  Erkrankungen  des 
Nervensystems,  auffallige  Cbaraktere,  Selbstmorde,  Verbrecben,  Truuk- 
sucbt  u.  dgl.)  vorgekommen  sind.  In  den  meisten  Fallen  gelingt  es  aucb 
nocb,  iiber  die  Kinder  der  Gescbwister  des  Kranken  und  die  Kinder  der 
Gescbwister  seiner  Eltern  Einiges  zu  erfabren.  Die  personlicben 
Antecedentieu  des  Kranken  selbst  sind  stets  zunacbst  aucb  beziiglicb 
der  ciusseren  Lebensscbicksale  und  der  geistigen  Entwicklung  genau 
aufzunebmen.  Die  meisten  Psycbosen  iiberfallen  den  Menscben  nicbt 
jiiblings  wie  etwa  eine  Lungenentzundung,  sondern  sie  erwacbsen  oder 
brecben  bervor  auf  dem  Boden  eines  ganzen  Lebens.  Wir  konnen  den 
Inbalt  vieler  Wabnvorstellungen  u.  s.  w.  mit  den  zabllosen  Beziebungen  auf 
friibere  Erlebnisse  nur  dann  ricbtig  versteben  und  wiirdigen,  wenn  letz- 
tere uns  genau  bekannt  sind.  Wir  miissen  wissen,  was  der  gesunde 
Menscb  war,  um  zu  beurtbeilen,  was  die  Krankbeit  aus  ibm  gemacbt 
bat.  Wie  die  Lunge  vor  einer  Lungenentzundung  ausgeseben  baben 
muss,  wissen  wir  obne  besondere  Nacbforscbung.  Ob  aber  die  Takt- 
losigkeiten  eines  Geisteskranken  auf  eine  mangelbafte  Erziebung  bezw. 
scblecbte  Gesellscbaft  zuruckzufiibren  oder  als  patbologiscbes  Symptom 
zu  deuten  sind,  — eine  Entscbqjdung,  von  der  oft  Diagnose,  Prognose 
und  Bebandlung  ganz  und  gar  abbangen  — kann  nur  eine  genaue 
Anamnese  lebren. 

Im  Folgenden  werden  kurz  die  Hauptpunkte  zusammengestellt, 
welclie  bei  Erbebiing  der  Anamnese  besonders  zu  berlicksicbtigeu  sind: 


Allgemeine  Diagnostik. 


207 


1.  Hereditiit. 

2.  Verlief  die  Geburt  des  Kranken  selbst  normal? 

3.  Wann  lernte  er  gehen,  wann  spreclien? 

4.  Traten  in  der  Kindbeit  Krankjieiten  des  Nervensystems  auf 
(„Hirnentzundung^^,  „Krampfe^^  u.  dgl.)? 

5.  Welcbe  Schnlbildung  genoss  der  Kranke?  Fiel  das  Lernen  ibm 
■schwer?  Wie  waren  seine  Schnlleistungen  ? 

6.  Cliarakter  imd  Temperament  in  der  Kindbeit. 

7.  Pnbertatsentwicklimg.  Erstes  Aiiftreten  der  Menstruation.  Mastur- 
bation. 

8.  Spatere  beruflicbe  Thiitigkeit. 

9.  Spatere  geistige  Interessen.  Religiose  Interessen. 

10.  Spatere  Cbarakterentwicklung. 

11.  Heirath.  Eheliche  Verbiiltnisse.  Sonstiger  sexiieller  Verkebr. 
: Sypbilitiscbe  Infection.  Puerperien. 

12.  Aufzablung  der  wicbtigsten  korperlicben  Krankbeiten  und  ibrer 
letwaigen  Folgeerscbeiniingen  und  Residuen.  Hierbei  wird  speciell  auf 
: gynakologiscbe  Leiden,  Infectionskrankbeiten , Kopfverletzungen  zu 
:acbten  sein. 

13.  Geistige  oder  korperlicbe  Ueberanstrengung  ? Gemiitbserregungen? 
Abusus  spiritubsorum  ? Abusus  Nicotianae?  Ernabrungsverbaltnisse  ? 

14.  Neuropatbiscbe  Symptome  und  Erkrankungen  jenseits  der  Pu- 
Ibertat;  friibere  Psycbosen. 

Erst  nacb  Erledigung  dieser  Punkte  kann  zur  Erbebung  der  Krank- 
' beitsgescbicbte  selbst  iibergegangen  werden.  In  vielen  Fallen  wird  man 
ifinden,  dass  die  jetzt  vorliegende  Krankheit  sich  allmablicb  aus  den 
:soeben  unter  14  erwabnten  neuropatbiscben  Symptomen  entwickelt  bat. 
In  anderen  Fallen  lasst  sicb  nacbweisen,  dass 

15.  Besondere  Gelegenbeitsursacben  fiir  den  Ausbrucb  der  Psycbose 
• entscbeidend  waren  (z.  B.  ein  Typbus,  eine  beftigere  Gemiitbserscbutterung, 

I ein  starkerer  Alkobolexcess,  ein  starker  Blutverlust  bei  einer  Entbindung, 

I eine  Kopfverletzung  u,  dgl.), 

16.  Entwicklung  der  Psycbose  selbst:  d.  b.  Bescbreibung  der  bis 
jetzt  aufgetretenen  psycbopatbiscben  Symptome  und  Zustande  unter 
besonderer  Berucksicbtigung  ibrer  Reibenfolge. 

Wie  oben  in  dem  Schema  des  Status  praesens,  so  sind  aucb  bier 
in  dem  Schema  der  Anamnese  keineswegs  alle  in  jedem  Einzelfall  in 
Betracbt  kommenden  Momente  aucb  nur  annabernd  erscbopfend  aufge- 
; zalilt.  So  sei  z,  B.  nur  erwabnt,  dass  es  in  vielen  Fallen  fur  die  Auf- 
I fassung  und  Bebandlung  eines  Geisteskranken  von  der  grbssten  Wicbtig- 
Ikeit  ist,  das  soziale  Milieu  zu  kennen,  in  dem  er  gelebt  bat  und  auf 
i dessen  Boden  die  Psycbose  sicb  entwickelt  bat.  Eine  Lungenentzundung 


208 


Allgcmeine  Aetiologie. 


ist  bei  clem  Vagabunclen  dieselbc  wie  bei  clem  Gelehrten.  Pline  Psy- 
chose  erleiclet  je  nacb  clem  Stand,  der  Umgebung  u.  s.  w.  des  Kranken 
ganz  erbebliche  Moclificationeu.  — Aber  auch  im  Leben  des  Kranken 
selbst  ergeben  sicli  oft  cliese  ocler  jene  wicbtige  anamnestiscbe  Momente, 
welclie  in  clem  Schema  nicht  enthalten  sind.  Ausser  Alkobol  und  Nico- 
tiana  existii-en  z.  B.  noch  zahlreiclie  anclere  toxische  Sul)stanzen,  welche 
gelegentlich  Psychosen  hervorrufen  konnen.  Obiges  Schema  giebt  also 
nur  die  Gruncllinien  fiir  die  anamnestischen  Erhebungen  an.  Im  Einzel- 
fall  bedarf  es  oft  vielfacher  Erganzimgen.  Den  sichersten  Wegweiser 
fiir  diese  letzteren  gibt  die  allgemeine  Aetiologie  (s.  n.)  ab. 

Mit  der  Feststellung  des  Status  praesens  lind  der  Erhebung  der 
Anamnese  ist  die  Diagnose  vorbereitet.  Die  specielle  Pathologie  wird 
uns  lehren,  bei  gegebenem  Status  praesens  und  bei  gegebener  Anamnese 
die  richtige  Diagnose  zu  stellen.  In  die  specielle  Pathologie  verweisen 
wir  auch  die  Classification  der  Psychosen,  deren  Kenntniss  die  Stellung 
der  Diagnose  einer  Geistesstorung  selbstverstandlich  ebenso  erleichtert, 
wie  z.  B.  die  Kenntniss  des  naturlichen  Eintheilungssystems  der  Pflanzen 
die  Bestimmung  der  Pflanzenart. 


IV.  All  g’emeine  Aetiologie. 

Haufigkeit  der  Psychosen  iiberhaupt.  Eine  zuverlassige 
Statistik  ist  fiber  cliesen  Punkt  schwer  zu  gewiunen.  Wie  schon  ofter  er- 
wahnt,  sind  die  Grenzen  zwischen  Geisteskrankheit  und'  Geistesgesundheit 
fliessende.  Zwischen  der  sogenannten  Neurasthenie  und  clem  spater  zu 
beschreibenclen  neurasthenischen  Irreseiu,  zwischen  der  physiologischen 
Beschranktheit  und  clem  pathologischen  Schwachsinn,  zwischen  dem 
physiologischen  Misstrauen  und  Hochrnuth  und  clem  pathologischen  Ver- 
folgungs-  und  Grossenwahn  bestehen  zahlreiche  Uebergange.  Dazu 
kommt,  class  aus  ausseren  Grfinden  eine  Zahlung  der  ausserhalb  der 
Irrenanstalt  befincllichen  Geisteskranken  kaum  einigermaassen  exact  aus- 
geffihrt  werden  kann.  Im  Allgemeinen  clfirfte  auf  300  Geistesgesuncle 
mindestens  1 Geisteskranker  zu  rechuen  sein. 

Eine  genauere  Zahlenangabe  der  psychischen  Morbiclitat  im  Allge- 
meinen ist  auch  schon  deshalb  vbllig  zwecklos,  weil  die  Haufigkeit  der 
Psychosen  zu  verschiedenen  Zeiten  und  in  verschieclenen  Lanclerh  sich  sehr 
verschieden  erweist.  Es  ist  namlich  unzweifelhaft,  dass  im  Lauf  der 
Jahrhunclerte  die  Procentzahl  der  Geisteskranken  im  Ganzen  zuge- 
nommen  hat.  Wenn  auch  in  frfiheren  Jahrhunclerten  die  Aufmerk- 
samkeit  auf  geistige  Storungen  weniger  scharf  gewesen  und  daher 
mancher  P'all  der  Beobachtung  ganz  entgangen  sein  mag,  und  wenn  auch 


Allgenieine  Actiologie. 


209 


in  friilieren  eTalirliimderten  manclier  Geisteskranke  als  Werkzeug  Gottes 
Oder  des  Teufels  (Heilige,  Hexen  u.  s.  \v.)  gegolten  haben  mag,  so  reichen 
diese  l)eiden  Umstande  dock  uiclit  aiis,  die  thatsachlick  erlieblicke  Zu- 
uakme  der  Psyckosen  zu  erklaren,  zumal  in  mancken  Liindern  eine 
solcke  Zimakme  sogar  innerkalb  des  jetzigen  Jakrkunderts  nackweisbar 
ist.  Ganz  besonders  sckeinen  3 Forinen  der  Geistesstorung  kaufiger 
geworden  zii  sein,  das  alkokolistiscke  Irresein,  die  Dementia  paralytica 
nud  endlick  das  nenrastkeniscke  Irresein.  Die  Ursacke  dieser  kistori- 
•scken  Vernieknmg  der  Psyckosen  ist  zii  sucken: 

1.  In  dem  zunekmenden  Alkokolmissbrauck ; 

2.  in  der  zunekmenden  Verbreitung  der  Syphilis ; 

3.  in  der  geistigen  Ueberbiirdimg  der  keutigen  Erziekung; 

4.  in  der  Ersckwerung  des  Kampfes  urns  Dasein,  welcke  das  Nerven- 
' system  dem  gefakrlicken  Affecte  der  „Sorge^^  in  viel  kokerem  Maasse 
aussetzt  und  zu  intensiveren,  lilngeren  und  kastigeren  Leistungen  bei 
. geringerer  Puke  bezw.  Erkolungszeit  zwingt.  Hieraus  erklart  sick  auck, 
'Warum  gerade  jene  drei  Psyckosen  ganz  besonders  an  der  allgemeinen 
-Zunakme  tkeilkaben.  Denn  bei  diesen  spielen  gerade  jene  vier  Factoren 
:eine  Hauptrolle  in  der  Aetiologie  (bei  der  Dementia  paralytica  die  Syphilis). 

Die  geograpkiscke  Verbreitung  der  Psyckosen  zeigt  gleickfalls  er- 
Ikeblicke  Ungleickkeiten.  Wenigstens  sckeint  kaum  zweifelkaft,  dass  bei 
. uncivilisirten  Vblkern  — aknlick  wie  in  friikeren  Jakrkunderten  — Geistes- 

• storungen  im  Ganzen  seltener  sind,  und  zwar  sckeinen  es  wiederum  die  drei 
oben  erwiiknten  Formen  der  Geistesstorung  zu  sein,  welcke  fiir  dies  Ke- 

• sultat  namentlick  in  Betrackt  kommen.  Auck  die  Erklariing  diirfte  sick 
lim  Wesentlicken  mit  der  soeben  fiir  die  kistoriscke  Versckiedenkeit  der 
ipsyckiscken  Morbiditat  gegebenen  decken.  Fiir  detaillirtere  und  defini- 
tive Sckliisse  reickt  das  statistiscke  Material,  welches  bislang  vorliegt, 
:nickt  aus.  Die  Versucke,  fiir  eine  bestimmte  Nationalitat  oder  fiir  eine 
bestimmte  Passe  oder  fiir  ein  besonderes  Klima  eine  kokere  Ziffer  der 
ipsyckiscken  Morbiditat  auszurecknen , sind  grosstentkeils  gesckeitert. 
’Wo  freilick  bestimmte  einzelne  iitiologiscke  Sckadlickkeiten  unter  der 
-grossen  Zakl  der  spater  aufzufiikrenden  atiologiscken  Momente  in  einem 
-geograpkisck  mekr  oder  weniger  sckarf  abgegrenzten  Bezirk  besonders 
igekiluft  sick  vorfinden,  wird  man  die  von  diesen  atiologiscken  Sckad- 
lickkeiten abkangigen  Psyckosen  selbstverstiindlick  auck  kaufiger  finden 
als  an  anderen  Orten,  und  kierdurck  kann  wiederum  unter  Um- 
-stiinden  die  Gesammtziifer  der  psyckiscken  Morbiditat  eine  Erkokung 
erfakren.  So  ist  z.  B.  der  Alkokolmissbrauck  entsckieden  in  den  nord- 
licken  Culturlandern  starker  verbreitet,  dementspreckend  finden  sick 
denn  auck  kier  mekr  alkokolistiscke  Psyckosen,  und  die  koke  Morbidi- 
tatsziffer  mancker  dieser  nordlicken  Culturlander,  in  welcken  der  Weg- 

Ziehen,  Psychiatrie.  14 


210 


Allgomeinc  Actiologio. 


fall  anderer  atiologischer  Scliadliclikeiten  einen  Ausgleich  niclit  herbei- 
filhrt,  diirfte  sich  hieraus  erldaren  lassen,  Bei  der  Betrachtung  der 
einzeluen  atiologisclien  Momente  wird  liierauf  zuriickzukommen  sein. 

Das  Gesclileclit  iibt  gleiclifalls  keinen  erheblicben  Einfluss  auf 
die  Morbiditatsziffer  im  Ganzen  aus.  Manclie  der  spater  aufzufiihrenden 
einzelnen  atiologisclien  Momente  iiberwiegen  bei  dem  inannlicben  Ge- 
scblecht  (Ueberarbeitiing  und  Sorge  im  Kampf  umsDasein,  sexuelle  Excesse, 
Trunksucht,  Syphilis),  andere  iiberwiegen  beim  weiblicben  Gescblecht  oder 
beschriinken  sicb  sogar  auf  dieses  (sexuelle  Unbefriedigung,  Graviditiit, 
Puerperium,  Lactation  u.  dgl.),  Im  Ganzen  balten  sich  die  bier  und  dort 
iiberwiegenden  Scbadlicbkeiten  etwa  die  Waage,  sodass  der  Procentsatz 
der  geisteskranken  Manner  ungefabr  ebenso  liocb  ist  wie  derjenige  der 
geisteskranken  weiblicben  Individuen,  Hochstens  ist  der  letztere  in 
einigen  Landern  um  ein  Geringes  grosser  als  der  erstere, 

Weit  erbeblicher  ist  der  Einfluss  des  Alters  auf  die  Morbiditat. 
Auf  jeder  Altersstufe  treffen  eine  Reihe  atiologischer  Scbadlicbkeiten 
zusammen,  und  von  der  Gesammtbeit  dieser  atiologischen  Scbadlicbkeiten 
ist  die  Morbiditat  einer  jeden  Altersstufe  abbangig.  Im  Ganzen  nehmen 
diese  atiologischen  Scbadlicbkeiten  bis  zum  Eintritt  der  Pubertat  nur 
sehr  langsam  zu.  Mit  dem  Eintritt  der  Pubertat  tritt  eine  jahe  Zu- 
nabme  derselben  und  damit  der  psycbischen  Erkrankungen  auf.  Ibren 
hochsten  Werth  erreicht  — entsprechend  der  maximalen  Haufung  der 
atiologischen  Scbadlicbkeiten  — die  psychische  Morbiditat  im  mittleren 
Lebensalter,  bei  dem  Weibe  im  25. — 35.,  bei  dem  Manne  im  30. — 50. 
Lebensjahre.  Dann  nimmt  dieselbe  wieder  ziembch  rasch  ab,  um  im 
hochsten  Greisenalter  jenseits  des  70.  Lebensjahres  nochmals  einen 
leichten  Anstieg  zu  zeigen.  Enter  den  atiologischen  Einzelfaktoren, 
welcbe  die  Morbiditat  einer  jeden  Altersstufe  bestimmeu,  spielen  eiuige 
eine  besondere  Robe,  nambch  die  physiologiscben  Umwalzungen,  welcbe 
in  einem  bestimmten  Lebensalter  regelmassig  eintreten.  Es  sind  dies 

1.  die  Pubertatsentwickelung  im  14. — 20.  Lebensjahre; 

2.  die  senile  Involution  im  7.  Lebensjabrzebnt. 

Bei  dem  Weibe  kommt  hierzu  nocb  die  Involution  der  Genital- 
organe,  wie  sie  ibren  Ausdruck  in  dem  Aufhoren  der  Ovulation  und 
Menstruation  flndet,  das  sog.  Kbmakterium.  An  diesen  physiologiscben 
Wendepunkten  der  menschbchen  Entwickelung  flnden  sicb  regelmassig 
Maxima  der  Morbiditiitscurve.  Bei  Besprecbung  der  speciellen  litiolo- 
giscben  Momente  wird  anf  den  Einfluss  dieser  Altersetappen,  auf  die 
psychische  Morbiditat  und  auf  das  psychische  Krankheitsbild  zuriickgc- 
kommen  werden. 

Auch  der  Beruf  und  die  sociale  Lage  ist  von  erbeblichem  Einfluss 
auf  die  Morbiditat,  insofern  beide  oft  eine  Vereinigung  zablreicher  iitio- 


I 

I 


Allgenieine  Aetiologie. 


211 


logisclier  Schiidliclikeiten  in  sicli  scliliessen.  So  ist  z.  B.  erfalirungs- 
gerniiss  cler  Beruf  des  Officiers  i)sycliischen  Erkrankungen  in  besonderem 
Maasse  ausgesetzt,  insofern  Alkoliolmissbraucb,  sexnelle  Excesse,  korper- 
licbe  iind  geistige  Anstrengungen,  Syphilis  und  Gemiitbsbewegimgen  bei 
dieseni  Stand  sehr  hiinfig  zusammentreffen. 

Weit  wicb tiger  als  das  Stiidinm  der  bis  jetzt  angefiibrten  sehr  com- 
plexen  atiologischen  Momente,  deren  jedes  zahlreiche  einzelne  atio- 
logische  Factoren  in  sicli  einschliesst,  ist  eine  eingehende  Betrachtung 
der  Bedentimg  und  Wirkungsweise  der  einzelnen  atiologischen  Factoren. 

Einzelne  atiologische  Factoren. 

1.  Erblichkeit. 

Die  Hauptthatsache,  welclie  den  Einfluss  der  Erblichkeit  auf  die 
ipsychische  Morbiditat  zu  erkennen  giebt,  ist  folgende: 

Psychische  Erkrankungen  sind  bei  solchen  Individuen,  in  deren 
IFamilie  psychische  Erkrankungen  bereits  vorgekommen  sind,  haufiger 
;als  bei  solchen,  in  deren  Familie  psychische  Erkrankungen  noch  nicht 
'vorgekommen  sind.  Erstere  bezeichnet  man  als  erblich  belastet,  letztere 
als  erblich  unbelastet.  Dem  Vorkommen  psychischer  Erkrankungen  in 
(der  Familie  gleichwerthig  ist  das  Vorkommen  von 

1.  Erkrankungen  des  Nervensystems  (ohne  psychopathische  Sym- 
iptome),  also  z.  B.  von  Neurasthenie,  Epilepsie,  Hysterie,  Migrane,  Riicken- 
imarkskrankheiten  u.  s.  f. 

2.  Auffalligen  Charakteren  und  Begabungen,  also  z.  B.  von  Excen- 
;tricitat,  Genialitat,  Hang  zum  Verbrechen,  ungeniigend  motivirten  Selbst- 
;morden  u.  s.  f. 

3.  Trunksucht. 

Die  Eeststellung  der  Hereditat  eines  Kranken  wird  also 
ausser  auf  Psychosen  selbst  auch  noch  auf  die  unter  1 — 3 aufgefiihrten 
'Momente  in  der  Ascendenz  fahnden  miissen.  Dabei  geniigt  die  einfache 
lErage:  „sind  Geisteskrankheiten,  Nervenkrankheiten,  Verbrechen  u.  dgl.  in 
Ilhrer  Familie  vorgekommen?^^  nicht.  Bei  einer  solchen  Fragestellung 
ifallt — von  geflissentlichem  Verschweigen  ganz  abgesehen  — dem  Kranken 
■und  auch  seinen  Angehorigen  meistens  nur  eiu  geringer  Theil  der  that- 
'Sachlich  vorgekommenen  Eiille  von  Geistesstorung,  Nervenkrankheit  u.  s.  w. 
ein.  Man  muss  daher  sich  einzeln  die  Eltern,  Grosseltern,  Geschwister 
'der  Eltern  u.  s.  f.  aufzahlen  lassen  und  bei  jedem  einzelnen  Familienglied 
ifragen,  ob  Geistesstorung,  Verbrechen  u.  dgl.  vorgekommen  sind.  Nur  auf 
idiesem  Wege  lasst  sich  ein  sicheres  Urtheil  iiber  das  Vorhandensein 
I und  den  Grad  der  erblichen  Belastung  gewinnen.  Sehr  vortheilhaft  ist 
tes,  in  einem  Stammbaum  die  diesbeziiglichen  Erhebungen  iibersichtlich 
/zusammenzustellen.  Der  beistehende  Stammbaum  stellt  z.  B.  die  erbliche 
i Belastung  eines  Paranoikers  dar: 


14* 


212 


Allgeineino  Actiologie. 


Grossvater  Grossmutter 


jahzornig 


niclits 

bekannt 


Urgrossmutter 

jahzornig 

Grossvater  Grossmutter 

Trunksucht  Alters- 

schwachsinn 


Onkel 


Onkel 


Vater 


Apoplexie  jahzornig  jahzornig 


Mutter 

Migrane 


Tante 

Epilepsie 


Bruder 

(Hermann) 

jahzornig 


Patient  Schwester 


(Otto) 


Paul 


Hermann 


(Anna) 
Selbstmord 
wegen  unehel. 
Niederkunft 


Bruder 

(Carl) 

Hypochonder 


Bruder 

(Max) 

jahzornig 


Bruder 

(Friedrich) 

gesund 


cerebrale  gesund 

Kinder- 

lahmung 


Alle  cliejenigen  Glieder  der  Familie,  bei  welchen  Psychose,  Neurose 
u,  s.  w.,  kurz  irgend  ein  belastendes  Moment  vorliegt  oder  vorgelegen 
hat,  sind  unterstrichen. 

V erschiedene  Formen  der  Belastung.  In  dem  durch  den  Stamm- 
baum  dargestellten  Fall  liegen  Belastungsmomente  sowohl  vaterlicherseits 
wie  iniitterlicberseits  vor.  Man  spricht  alsdann  von  cumulativer  oder 
couvergenter  Belastung  (im  Gegensatz  zu  einseitiger  Belastung).  In 
manchen  Fallen  sind  bei  den  Eltern  selbst  Belastungsmomente  nicht 
nacbzuweisen,  sondern  nur.  bei  den  Geschwisteru  der  Eltern.  In  der 
Hegel  findet  man  danu  bei  weiterer  Nachforschung,  dass  bei  den  Gross- 
eltern  ein  Belastungsmoment  vorgelegen  bat.  Der  folgende  Stammbaum 
stellt  ein  einfaches  Beispiel  dieser  Art  dar. 


Grossvater 

Trunksucht 


Grossmuttor 

gesund 


Grossvater 

gesund 


Grossmutter 

gesund 


Onkel 

Psychose 


Vater  . 
gesund 


Mutter 


Onkel 


gesund  gesund 


Bruder  Patient  Bruder 
gesund  Psychose 


Tante 

gesund 


Die  Eltern  des  Kranken  sind  bier  beide  gesund,  desgleicben  die 
Gescbwister  der  Mutter,  sowie  die  Grosseltern  iniitterlicberseits.  Ein 
Bruder  des  Vater s bingegen  ist  geisteskrank,  und  genauere  Nacbfor- 
scbung  ergiebt,  dass  der  Grossvater  vaterlicherseits  ein  Trinker  gewesen 
ist.  Es  liegt  somit  eine  oinseitige  Belastung  vor  und  zwar  bat  der  be- 


Allgemeine  Aetiologie. 


213 


lasteude  Eiufliiss  cles  Grossvaters  sich  nin-  bei  einem  Kind,  namlicli 
dem  Onkel  des  Kranken  gelteud  gemacbt,  bingegen  das  andere  Kind, 
den  Vater  des  Kranken  verscbont.  Erst  bei  den  Kindern  dieses  Vaters, 
also  bei  dem  Patieuten  selbst  und  einem  Bruder  des  Patienten,  ist  der 
Einlluss  der  Trunksiicbt  des  Grossvaters  wieder  zu  erkennen. . Dass  bier 
uicbt  etwa  ein  zufalliges  Ziisammentreffen  vorliegt,  gebt  aus  der  sta- 
tistiscben  Tbatsacbe  bervor,  dass  Individuen,  deren  Eltern  zwar  normal 
waren,  deren  Grossvater  oder  Grossmntter  aber  abnorm  war,  eine  viel  bobere 
’ Morbiditiitsziffer  zeigen  als  Individuen,  deren  Eltern  und  Grosseltern 
normal  waren.  Wir  miissen  also  annebmen,  dass  die  Belastung  bei  dem 
■Sobn  in  Folge  des  Ausbleibens  von  scbadlicben  Gelegenbeitsursacben 
Dank  giinstigen,  compensirenden  Umstanden  (z.  B.  einer  verstandigen 
lErziebung)  latent  geblieben,  bingegen  bei  dem  Enkel  in  Folge  ungiin- 
jstigerer  Umstiinde  wieder  zur  Wirksamkeit  gelangt  ist.  Die  Lehre  von 
der  Aetiologie  der  Syphilis  bietet  analoge  Beispiele:  das  sypbilitiscbe 
’Virus  kann  ein  Zwiscbenglied  iiberspringen  in  dem  Sinne,  dass  dies 
/ Zwiscbenglied  die  Uebertragung  vermittelt  obne  selbst  zu  erkranken. 
lln  den  eben  dargestellten  Fallen  spricbt  man  von  indirect er  erb- 
licber  Belastung. 

Hauptgesetze  der  erblicben  Belastung.  Die  zwei  wicbtig- 
■sten  ergeben  sicb  bereits  aus  dem  Obigen,  namlicli  erstens,  dass  die 
IKinder  eines  psycbopatbischen  oder  neuropatbiscben  Individuums  meist 
inicbt  alle,  sondern  nur  zum  Tbeil  selbst  an  Psycbopatbien  (oder 
INeuropatbien)  erkranken,  und  zweitens,  dass  die  Enkel  eines  psycho- 
jpatbiscben  oder  neuropatbiscben  Individuums  alle  oder  (baufiger)  zum 
Tbeil  aucb  dann  an  Psycbopatbien  erkranken  kbnnen,  wenn  ibr  Vater 
(oder  ibre  Mutter  verscbont  geblieben  ist.  Im  einzelnen  Fall  lasst  sicb 
ikeineswegs  stets  nacbweisen,  warum  das  e i n e Individuum  verscbont  und 
Mas  andere  dem  belastenden  Einfluss  unterlegen  ist.  Im  Allgemeinen 
Ikann  man  sagen,  dass  die  Belastung  eben  nur  eine  Pradisposition 
/ zu  psycbiscber  Erkrankung  scbafft  und  dass  immer  nocb  besondere  intra 
'vitam  wirkende  Scbadlicbkeiten  binzukommen  miissen,  um  aus  dieser 
1 Pradisposition  oder  latenten  Belastung  eine  wu’klicbe  Psycbose  bervor- 
. zubringen.  Das  Ausbleiben  bezw.  Eintreten  dieser  Scbadlicbkeiten  wiirde 
■ es  bedingen,  dass  das  eine  Individuum  erkrankt  und  das  andere,  gleicber- 
:maassen  belastete,  gesund  bleibt.  Indessen  versagt  diese  Erklarung 
inicbt  selten,  und  es  bleibt  dann  nur  iibrig  anzunebmen,  dass  die  ver- 
•scbiedenen  Keimzellen  der  Erzeuger  in  ungleicbem  Maasse  von  der  Er- 
krankung der  Erzeuger  in  Mitleidenscbaft  gezogen  worden  sind.  Vielfacb 
bat  man  aucb  bebauptet,  dass  im  Ganzen  die  weiblicbe  Nacbkommen- 
scbaft  von  dem  belastenden  Einfluss  in  weiterem  Umfang  und  grosserer 
Intensitat  betroffen  wird  als  die  mannlicbe, 


214 


Allgemeine  Aetiologic. 


Verschieclene  Grade  der  erblichen  Belastung.  Fiir  den 
Grad  der  erblichen  Belastung,  welcbe  von  einer  bestimmten  Psycbose  oder 
Neill  ose  oder  der  Irunksiicbt  oder  einer  Cbai’akteranomalie  aiisgebt,  bietet 
sicb  als  geeignetster  Maassstab  ziinacbst  die  Procentzabl  der  psychi- 
scben  Erkrankiingen  unter  den  Nacbkommen.  Niicbstdem  wird  man  die 
Scbwere  der  psychischen  Erkrankiingen  der  Nacbkommen  beriicksichtigen. 
Dabei  ergiebt  sicb,  dass  in  der  That  der  belasteude  Einfluss  der  ver- 
scbiedenen  oben  angefiibrten  Belastiingsmomente  sebr  verscbieden  gross 
ist.  Eine  einfache  Neurastbenie,  eine  Charakterabsonderlicbkeit , eine 
senile  Demenz  iind  eine  einmalige  Puerperalpsycbose  in  der  Ascendenz 
sind  weniger  belastend  als  chronischer  Alkobolismiis,  Epilepsie,  Hysterie, 
Schwacbsinn  ii.  s.  w.  Man  hat  geradezu  eine  bestimmte  Scala  der  ver- 
scbiedenen  Neiiroseu  iind  Psychosen  nacb  dem  Grad  ibres  belastenden 
Einflusses  aufstellen  wollen.  Solcbe  Aiifstelliingen  entbebren  jedoch  jeder 
Allgemeingiiltigkeit.  Eine  acute  Paranoia,  welcbe  sicb  in  Folge  einer 
zufalligen  Haufung  vieler  Scbadlicbkeiten-  entwickelt  bat,  hat  eine  ganz 
andere  Bedeutung  bei  Feststellung  der  erblichen  Belastung  der  Descen- 
denten  als  eine  Paranoia,  zu  deren  Entwickeluug  ein  geringer  Anstoss 
geniigte.  Im  ersteren  Fall  wird  man  im  Allgemeinen  eine  viel  geringere 
Belastung  anzunebmen  baben  als  im  letzteren.  Bei  der  Abwagung  der 
erblichen  Belastung  wird  man  also  stets  ganz  iudividuell  Fall  fiir  Fall 
vorgeben  miissen.  Einen  besonders  scbwereu  belastenden  Einfluss  iiben 
selbstverstiindlicb  diejenigen  Psychosen  aus,  welcbe  die  alsbald  naber  zu 
bescbreibende  „erblicb  degenerative  Modification'^  zeigen. 

Die  Scbwere  der  erblichen  Belastung,  welcbe  auf  einem  Individuum 
rubt,  ist  nun  durcbaus  nicht  allein  nacb  dem  belastenden  Einfluss  zu 
bemessen,  welcber  in  dem  eben  besprocbenen  Sinn  der  Psycbose  bezw. 
Neurose  u.  s.  w.  des  Vaters  oder  der  Mutter  oder  des  Grossvaters  u.  s.  w. 
zukommt.  Die  kliniscbe  Betracbtung  lebrt,  dass  eine  Belastung  im  Allge- 
meinen aucb  als  um  so  scbwerer  anzuseben  ist,  je  niebr  Glieder  der 
Familie  (einscbliesslicb  der  Gescbwister,  Neffen  und  Nicbten  des  Kranken) 
an  Psycbosen  oder  Neurosen  u.  dgl.  gelitten  baben.  Wenn  ich  zwei 
Kranke  bebandle,  deren  Grossvater  vaterlicberseits  Trinker  war,  und 
wenn  sicb  ergiebt,  dass  bei  dem  Kranken  A der  Vater  und  die  Ge- 
schwister  des  Vaters  sowie  die  Gescbwister  des  Kranken  selbst  und 
deren  Kinder  gesund  geblieben  sind,  dass  hingegen  bei  dem  Kranken  B 
z.  B.  der  Vater  excentriscb  veranlagt,  ein  Bruder  desselben  psycbiscb 
erkrankt  und  zwei  Gescbwister  des  Kranken  selbst  epileptiscb  waren, 
so  wird  man  trotz  der  Gleicbheit  des  e r s t e n Anstosses  zur  erblichen 
Belastung  scbliessen,  dass  A weniger  belastet  ist  als  B,  Man  muss  eben 
annebmen,  dass  die  Keimzellen  im  ersten  Fall  weniger  in  Mitleideuscbaft 
gezogen  worden  sind  oder  durcb  giinstige  aussere  Umstande  die  heredi- 


Allgemeine  Aetiologie. 


215 


tiirc  Praclisposition  lierabgeminclert  worcleu  ist.  Besonclers  scbwere  Be- 
lastimg  wire!  man  weiter  stets  clauu  anzunebmen  baben,  wenn  die  oben 
erwabute  convergeute  Belastimg  vorliegt,  d.  b.  also,  wenn  vaterlicberseits 
und  miitterlicberseits  belastende  Abnormitaten  vorgekomraen  sind.  Durcb 
die  gescblecbtlicbe  Kreuzimg  mit  gesunden  Individuen  des  anderen  Ge- 
scblecbts  ist  die  Gelegenbeit  zn  einer  Elimination  oder  Abscbwacbung 
der  bereditaren  Disposition  gegeben.  Wo  convergirende  Belastung  vor- 
liegt, addiren  sicb  uingekebrt  die  bereditaren  Dispositionen.  Ganz  be- 
sonders  unbeilvoll  wirkt  convergirende  Belastimg  dann,  wenn  die  belasten- 
den  Eltern  zugleicb  blutsverwandt  sind.  Blutsverwandtscbaft  der  Eltern 
als  solcbe,  d.  b.  bei  Abwesenbeit  belastender  Abnormitaten  in  der  Ascen- 
denz,  sebeint  keine  Belastung  der  Descendenten  zu  involviren. 

Specielle  Einfllisse  der  erblichen  Belastung  auf  die 
Psychose  des  Descendenten.  Erblicbe  Belastung  giebt  fiir  alle 
Psyebosen  ein  sebwerwiegendes  atiologiscbes  Moment,  fiii*  die  meisten 
das  einflussreiebste  ab.  ImAllgemeinen  untersebeidet  sicb  nun  ein 
Fall  einer  einfacben  Psyebose,  welcber  auf  Grand  erblicber  Belastung 
sicb  entwickelt  bat,  von  einem  Fall  derselben  Psyebose,  welcber  obue 
erblicbe  Belastung  auf  Grand  anderer  Scbadlicbkeiten  zu  Stande  §o- 
kommen  ist,  in  den  Symptomen  niebt.  Anders  bei  sebr  sebwerer 
Belastung.  Hier  findet  man  oft  (niebt  stets),  dass  die  erblicbe  Be- 
lastung das  Symptomenbild  der  Psyebosen  in  ganz  eigentbiimlicber  Weise 
modificirt.  Man  bezeiebnet  diese  Modification  des  kliniseben  Bildes  als 
die  erblicb-degenerative  Modification.  Dieselbe  kann,  da  sie 
auf  Grund  anderer  atiologiscber  Momente  nur  selten  vorkommt,  in 
diesem  Sinne  als  specifiscb  bezeiebnet  werden.  Die  Wirkung  sebwerer 
erblicber  Belastung  wird  aucb  kurz  als  erblicbe  Degeneration 
bezeiebnet.  Selbst  bei  sebr  sebwerer  erblicber  Belastung  findet  man, 
dass  keineswegs  alle  Glieder  der  belasteten  Familie  an  einer  solcben 
degenerativ-modifiemten  Psyebose  erkranken.  Vielmebr  findet  man  in 
der  Kegel,  dass  aucb  einige  Familienglieder  gesund  bleiben  und  andere 
nur  eine  gewobnlicbe  Psyebose  (obne  erblicb-degenerative  Modification) 
acquiriren , dass  also  nur  ein  gewisser  Brucbtbeil  den  Einfluss  der 
sebweren  erblicben  Belastung  zeigt,  indem  eine  degenerativ-modificirte 
Psyebose  sicb  entwickelt.  Der  Einfluss  der  sebweren  erblicben  Belastung 
ist  mit  dieser  eigentbumlicben  symptomatiseben  Farbung  der  gewobn- 
licben  Psyebosen,  welcbe  soeben  als  degenerative  Modification  bezeiebnet 
wurde,  niebt  ersebopft.  Haufig  erzeugt  derselbe  namlicb  keine  vollent- 
wickelte  Psyebose,  sondern  nur  eine  Reibe  somatiseber  und  psyebiseber 
sogenannter  Degenerationszeicben , d.  b.  eine  Reibe  somatiseber  und 
psyebiseber  Merkmale,  welcbe  bei  sebwer  erblicb  belasteten  Individuen 
viel  baufiger  sind  als  bei  erblicb  niebt  belasteten  oder  bei  erblicb  leiebt 


216 


Allgemeine  Aetiologie. 


belasteten.  Dabei  ist  selbstverstancllich,  das  dicse  sog.  Degenerations- 
zeiclien  oft  bei  Erl)liclibelasteten  aucli  neben  einer  vollentwickelten 
Psychose,  sie  sei  einfach  oder  degcnerativ  modificirt  — vorkonimen 
konnen.  Endlicli  zeigt  sicli  in  vielcn  Fallen  der  l^linHiiss  scliwerer  erb- 
liclier  Belastnng  aucli  darin,  dass  bei  der  Descendenz  vorwiegend  gewisse 
Psycliosen  auftreten,  oder  init  anderen  Worten,  es  giebt  einige  Psychosen 
welclie  zwar  aucli  bei  erblicli  niclitbelasteten  und  crblich  leichtbelasteten 
Individiien  in  gauz  derselben  Form  gelegentlicli  auftreten,  bei  erblicb 
scbwerbelasteten  Individuen  jedocb  imgleich  haufiger  sind.  Solche  Psy- 
chosen bezeichnet  man  als  „vorzugsweise  degenerative  Psychosen^^. 

Die  degenerativen  Modificationen  der  gewohnlieben  Psychosen  werden 
in  der  speciellen  Pathologic  bei  Bespreclmng  der  einzelnen  Psychosen  aiif- 
gefiihrt  werden.  Die  ;,vorzugsweise  degenerativen  Psychosen^  werden 
gleichfalls  in  der  speciellen  Pathologic  besprochen  werden  imd  zwar  eine 
jede  an  derjenigen  Stelle,  welche  ihr  aiif  Grund  des  klinischen  Symptomen- 
complexes  imd  Verlaufes  zukommt;  es  wird  dann  jedesmal  die  besondere 
Wichtigkeit,  welche  in  iitiologischer  Beziehimg  der  schweren  erblichen 
Belastnng  zukommt,  gebiihrend  hervorgehoben  werden.  Zu  diesen  vor- 
zugsweise  degenerativen  Psychosen  gehoren  z.  B.  die  verschiedeneu  Formen 
des  Schwachsiuns,  die  meisten  Formen  des  sog.  periodischen  und  circu- 
liiren  Irreseins,  die  acute  einfache  Paranoia,  das  Irresein  aus  Zwangs- 
vorstelhingen,  das  hysterische  Irresein,  das  polymorphe  Irresein  u.  s.  f. 
Fine  scharfe  Grenze  zwischen  den  vorzugsweise  degenerativen  Psychosen 
und  den  anderen  Psychosen  existirt  iibrigens  nicht.  Man  kanu  geradezu 
eine  Scala  der  Psychosen  aufstellen,  je  nachdem  in  ihrer  Aetiologie  die 
einfache  oder  schwere  erbliche  Belastnng  eine  kleinere  oder  grossere 
Rolle  spielt.  So  ist  z.  B.  bei  der  Manie  und  Melaucholie  die  erbliche 
Belastnng,  namentlich  die  schwere  erbliche  Belastnng,  von  der  geringsteu 
iitiologischen  Bedeutsamkeit,  die  intra  vitam  einwirkenden  iitiologischen 
Schadlichkeiten  iiberwiegen  durchaus.  Bei  der  chronischen  einfachen 
Paranoia  ist  schwere  erbliche  Belastnng  schon  erheblich  dfter  nach- 
weisbar  und  gewisse  Formen  derselben  (so  namentlich  die  sog,  originare 
Paranoia)  wareu,  wofern  man  sie  nicht  besser  als  degenerative  Modi- 
ficationen ansieht,  geradezu  zu  den  vorzugsweise  degenerativen  Psychosen 
zu  rechnen.  Bei  den  periodischen  Irreseinsformen  (Folie  intermittente 
der  Franzosen)  ist  der  Einfluss  der  schweren  erblichen  Belastnng  be- 
reits  so  bedeutsam,  dass  sie  zu  den  vorzugsweise  degenerativen  Psycliosen 
gerechnet  werden  miissen.  Noch  iiberboteu  wird  das  periodische  Irre- 
sein hierin  von  den  Formen  des  angeborenen  Schwachsi  ms,  welche  daher 
in  noch  hoherem  Maasse  als  „ vorzugsweise  degenerative  Psycliosen^*  zu 
bezeichnen  sind.  Hand  in  Hand  niit  dieser  steigenden  Beziehimg  zu 
schwerer  erblicher  Belastnng  geht  auch  das  zunehmende  Vorkommen 


Allgemeiiie  Aetiologie. 


217 


cler  bereits  erwalinten  unci  unten  noch  nalier  zu  besprechenden  soma- 
tiscjben  und  psycliischen  Degeuerationszeichen. 

Audi  das  zeitlidie  Auftreten  der  Psydiosen  bei  Erblidi-Degeuerirten 
hat  liaufig  etwas  selir  Charakteristisdies.  Entweder  tritt  die  Psychose 
sdion  in  den  Kiiiderjahreu  auf  (angeborener  Schwachsinn,  originare 
Paranoia),  oder  sie  bricht  znm  ersteu  Male  in  der  Pnbertat  aus.  Wenige 
Degenerirte  iiberwinden  die  letztere  ohne  ausgepragtere  psycbische 
Stoning.  Im  weiteren  Leben  genligen  oft  anffallig  geringe  Anlasse,  um 
schwere  Psychosen  hervorznbringen.  Im  Ganzen  iiberwiegt  ein  poly- 
morpher  Verlanf,  d.  h.  in  unregelmassigen  Zwischenraumen  treten  die 
verschiedensten  Psychosen  auf.  Mitunter  stellt  das  gauze  Leben  eines 
Degenerirten  eiue  Kette  psychopathischer  Znstande  und  Psychosen  dar. 
In  anderen  Fallen  kommt  es  zu  clem  oben  aufgeflihrten  perioclischen 
oder  circularen  Verlanf. 

Finer  genaueren  Betrachtung  bediirfen  die  Degeuerationszeichen. 
]\Ian  unterscheidet  somatische  und  psychische  Degeuerationszeichen. 

a.  Somatische  Degeuerationszeichen.  Dieselben  decken  • 
sich  vollstanclig  mit  den  in  der  allgemeinen  Symptomatologie  aufgezahlten 
Wachsthumsstorungen  oder  Entwicklungshemmungen.  Hinzuzufiigeu  ist 
noch  die  Neigung  zu  gelegentlichen  epileptischen  Insiilteu  (so  z.  B.  bei 
heftigen  Affecten,  starken  Schmerzen,  sexuelleu  oder  alkoholischen 
Excesseu,*)  Dentition  u.  s.  w..),  Neigung  zu  halbseitigen  vasomotorischen 
Differenzen  (Migrane,  mitunter  schon  im  frlihesten  Kiuclesalter),  bis  in 
spatere  Knabenjahre  sich  fortsetzende  Enuresis,  Verzogerung  des  Gehen- 
und  Sprechenleruens  u.  a.  m. 

Beziiglich  des  Vorkommens  dieser  Degenerationszeichen  ergiebt  die 
Statistik,  class  Falle  mit  einem  einzigen  dieser  Degenerationszeichen 
sich  bei  den  nicht  belasteten  und  leicht  belasteten  Geisteskranken  in 
fast  cler  gleichen  procentualischen  Haufigkeit  finden,  wie  bei  den  schwer 
belasteten  Kranken.  Hingegen  ist  das  Zusammentreffen  mehrerer  cler 
genannten  Degeuerationszeichen  bei  leichter  oder  mangelnder  erblicher 
Belastung  selten  (c.  10  %),  bei  schwererer  haufig  (c.  80 ‘’,'0). 

b.  Psychische  Degenerationszeichen.  Auf  clem  Gebiete  cler 
Empfinclungen  fallt  haufig  die  abnorm  lebhafte  Phantasie  des  Herecli- 
tariers  auf.  Schon  in  den  Kinclerjahren  ist  das  Traumleben  abnorm 
gesteigert.  Nicht  selten  kommt  es  schon  in  friiher  Jugend  ab  und  zu 
zu  einzelnen  Illusionen  und  Hallucinationen.  In  cler  Kegel  bleibt  sich 
clabei  cler  Hereclitarier  cler  Unwirklichkeit  dieser  Sinnestauschuiigen  be- 
wusst.  Auch  Neigung  zu  den  sog.  secundaren  Sinnesempfinclungen  wircl 

*)  Resistenzlosigkeit  gegen  Alkohol  ist  uberhaiipt  bei  erblicher  Degeneration 
haufig. 


218 


Allgemeine  Aetiologie. 


oft  beobachtet.  Nur  bei  den  scliwersten  vollentwickelten  degenerative!! 
1 sycliosen  (Idiotie)  niacbt  diese  patliologische  Phantasiesteigerung  einem 
pathologisclien  Phantasiemangel  Platz.  Der  Hereditarier  diclitet  ver- 
moge  seiner  lebliaften  Phantasie  oft  in  die  Wirkliclikeit  hinein.  Daher 
auch  oft  ein  krankhaftes  Renommiren  und  Ijiigen.  Die  sexuellen  Em- 
jjfindiingen  sind  bald  gesteigert,  bald  anffallig  wenig  ansprucbsfahig 
Die  Pubertcit  tritt  zuweilen  verspiltet,  seltener  verfriiht  aiif.  Auf  deni 
Gebiete  der  Affecte  ist  die  Labilitat  des  Gefiililslebens  am  bezeicbnend- 
sten.  Sclion  bei  dem  Kinde  fallen  motivlose  Zornausbriiche  und  ebenso 
motivlose  oder  auf  Hallucinationen  oder  Illusionen  beruliende  Angst- 
anfiille  auf  (Pavor  nocturnus).  In  den  Pubertatsjabren  wechseln  oft 
sentimentale,  weltschmerzliche  Verstimmungen  mit  bizarrer  Exaltation. 
Erstere  konnen  zu  Selbstmordversucben  in  friihesten  Jahren,  letztere  zu 
periodisclien  Excessen  (Spielsuclit)  fiihren.  Die  Liebbabereien  haben 
meist  eineu  absonderlicben  Anstrich  (tolle  Sportleistungen).  Bei  aller 
Begeisterungsfabigkeit  fiir  allerliand  Ideale  sind  die  meisten  Degenerirten 
im  Grunde  Egoisten.  Dem  entspricbt  nicht  selten  ein  unertraglicher 
Hochmuth. 

Auch  fiir  das  Vorstellimgsleben  ist  „der  Mangel  an  Ebenmaass'^, 
die  „desequilibration^^  der  franzbsischen  Autoren,  charakteristisch. 
Die  Begabung  des  Degenerirten  ist  fast  stets  einseitig.  Kiinstlerische 
Talente  sind  haufig.  Am  ungeuiigendsten  bleibt  immer  die  Entwickeluug 
des  logischen  Denkens.  Die  Denkweise  ist  sprunghaft  und  widersprucbs- 
voll.  Paradoxe  Einfalle  driingen  sich  allenthalben  in  den  Vorstellungs- 
ablauf  ein.  Zuweilen  haben  dieselben  schon  eine  gewisse  Aehulichkeit 
mit  den  spiiter  zu  beriihrenden  Zwangsvorstelhmgen,  indem  sie  mit  einer 
den  Belasteten  selbst  befremdenden  Hartnackigkeit  liingere  Zeit  sein 
Denken  beherrschen.  Sein  Deuken  von  heute  steht  mit  seinem  Denken 
von  gestern  in  Widerspruch.  Das  Lernen  auf  der  Schule  ist  oft  ein 
ausgezeichnetes ; bier  gelten  viele  Degenerirte  als  Wunderkinder.  Zur 
Zeit  der  Pubertiit  erfolgt  oft  ein  plotzlicher  Stillstand  der  intellectuellen 
Entwickelung. 

Die  Handlungen  des  Degenerirten  entsprechen  dieser  geistigen  Ver- 
fassung.  Mit  Recht  hat  man  den  Satz  Stifter’s  auf  ihu  angewendet: 
„Es  waren  in  seinem  Leben  nur  Anfange  ohne  Fortsetzung  und  Fort- 
setzungen  ohne  Anfang.^^  Der  Beruf  wird  haufig  gewechselt.  Aus- 
schweifende  Geselligkeit  und  eremitische  Zuriickgezogenheit  konnen  sich 
ablosen.  Viele  bevolkern  als  Vagabunden  die  Landstrasse.  Ihr  that- 
sachliches  Leben  entspricbt  nie  dem  theoretischen,  welches  ihre  Phan- 
tasie sich  vortraumt.  Bizan’e  Einfalle  bestimmen  oft  mit  impulsiver 
Macht  die  Handlungen  des  Degenerirten.  Dieser  Umstand,  sowie  die 
Labilitat  der  Alfecte  machen  die  Handlungsweise  desselben  ganz  unbe- 


Aligemeine  Aetiologie. 


219 


rechenbar.  Ethiscbe  Begriffe  imd  Affecte  haben  aiif  das  Verbalten  des* 
Degenerirteii,  aiicb  wenii  eine  voile  Entwickelimg  derselben  eiutreten 
kouute,  bezw.  die  intellectuelle  Debilitiit  die  Entwickelimg  derselben  nicbt 
binderte  (Moral  insanity),  sebr  geringen  Eintluss.  Anderen  Lenten  gegen- 
iiber  streuge  Sittenricbter  nnd  von  einer  an  Qnerulantenwabn  erinnern- 
den  Empbndlicbkeit,  sind  sie  selbst  ganz  ibren  egoistiscben  Trieben 
imterworfen. 

Man  kann  den  gesamniten  psycbischen  Zustand  dieser  Degenerirten 
(der  sogenannten  Degeneres  superienrs  der  franzbsiscben  Antoren)  imter 
den  verscbiedensten  Bezeichniingen  ziisammenfassen.  Die  franzosischen 
Antoren  sprecben  meist  von  der  psycbischen  Deseqnilibration,  in  Dentscb- 
land  werden  nenerdings  diese  Znstiinde  als  „angeborene  andanernde 
psycbopatbiscbe  Minderwerthigkeiten'^^  beschrieben.  Niemals  wird  man 
ans  dem  Vorbandensein  von  einem  oder  zweien  der  genannten  Merkmale 

— ebensowenig  wie  ans  ein  oder  zwei  korperlichen  Degenerationszeicben 

— anf  Degeneration  scbliessen  diirfen.  Es  bedarf  stets  der  Beriicksicb- 
tignng  des  Gesainmtbildes  nnd  vor  Allem  der  Beriicksicbtigimg  der  Ent- 
wickelnng  dieser  psycbischen  Besonderbeiten.  Nnr  wo  die  Keime  der- 
selben sicb  bis  in  die  Kindbeit  oder  wenigstens  bis  in  die  Pnbertat  zn- 
riickverfolgen  lassen,  wird  man  mit  geniigender  Sicherbeit  erblicbe  De- 
generation annebmen  diirfen.  Ancb  eine  eigentbiimlicbe  Periodicitiit  in 
den  absonderlicben  Stimmnngen  nnd  Handlnngen  verriltb  oft  in  Vorge- 
riicktem  Alter  nocb  den  Einflnss  scbwerer  erblicher  Belastnng. 

Die  Gesammtbeit  einer  grosseren  Zabl  psycbiscber  nnd  somatiscber 
Degenerationszeicben  wird  ancb  als  die  degenerative  psycho-  nnd  nenro- 
patbische  Constitution  bezeicbnet.  Im  Folgenden  werden  wir  nocb  eine 
grosse  Reibe  verscbiedener  psycho-  nnd  nenropatbiscber  Constitntionen 
kennen  lernen,  welcbe  sicb  anf  Grnnd  anderer  atiologiscber  Schadlicb- 
keiten  entwickeln.  Die  anf  scbwerer  erblicher  Belastnng  bernbende, 
degenerative  psycbopatbiscbe  nnd  nenropatbiscbe  Constitntion  bat  so 
viele  cbarakteristiscbe  Eigentbiimlicbkeiten,  nnd  kommt  so  selten  anf 
Grnnd  anderer  atiologiscber  Scbadbcbkeiten*)  vor,  dass  meist  ans  ibrer 
Anwesenbeit,  d.  b.  also  ans  dem  Vorbandensein  zablreicberer  psycbiscber 
nnd  somatiscber  Degenerationszeicben  ein  Rlickscblnss  anf  das  Vor- 
bandensein scbwerer  erblicher  Belastnng  gestattet  ist.  In  Fallen,  wo 
eine  genane  Anamnese  beziiglicb  der  Hereditat  nicbt  zn  erbeben  ist,  so 
z.  B.  bei  nnebelich  geborenen  Individnen,  ist  dies  von  grosster  prak- 
tiscber  Bedentnng. 

Progressive  erblicbe  Degeneration.  Znweilen  beobacbtet 

*)  Am  hiiufigsten  findet  man  eine  der  degenerativen  psychopathischen  Con- 
stitution ahniiche  constitutionelle  Veranderung  bei  solcben  unbelasteten  Individnen, 
welcbe  in  friihester  Jiigend  eine  Gehirnkrankheit  iiberstanden  haben. 


220 


Allgemeine  Aetiologie. 


fnau,  class  bei  clem  Kincle  clieselbe  Psycbose  ocler  Neurose  wieclerkehrt 
wie  bei  clem  Vater  ocler  cler  Mutter,  Man  bezeicbnet  dies  als  gleicb- 
artige  Vererbung.  Selir  viel  hilufiger  ist  die  Vererbung  ungleichartig? 
cl,  b,  die  Psycliosen  unci  Neurosen  cler  Dcscendenz  sincl  von  clenen  cler 
Eltern  verscbieclen,  Daher  kann  z,  B,  aucli,  wenn  cler  Vater  an  Para- 
noia gelitten  hat,  bei  clem  einen  Kind  eine  Epilcpsie,  bei  dem  anderen 
eine  Manie,  bei  dem  drittcn  ein  periocliscbes  Irresein  auftreten,  Man 
bezeicbnet  dies  aucb  als  den  Polymorpbismus  cler  erblicben  Uebertra- 
gung,  Bei  scbwerer  erblicher  Belastung  findet  man  nicht  selten,  class 
Generation  fiir  Generation  ein  grosserer  Procentsatz  cler  Eamilienglieder 
psychiscb  erkrankt  unci  class  die  Scbwere  cler  psychiscben  Erkrankungen 
Generation  fiir  Generation  zunimmt.  So  kann  z,  B,  die  Trunksuclit  des 
Urahns  in  cler  nachsten  Generation  vielleicht  noch  vorwiegend  acute 
beilbare  Psychosen  (Manie,  Melancbolie  u,  s,  w,)  beclingen;  in  cler  zweiten 
Generation  treten  — vielleicht  unter  clem  cumulirenden  Einfluss  scblechter 
Erziebung'  Ebescbliessungen  innerbalb  cler  Eamilie  u,  clgl.  — bereits 
schwerere  Psycbosen  auf  (chronische  Paranoia,  epileptiscbes,  bysteriscbes, 
periocliscbes  Irresein),  Encllicb  in,  cler  dritten  Generation  begegnen  wir 
clem  angeborenen  Scbwachsinn , unci  die  Eamilie  erliscbt,  Zu  letzterem 
Ausgang  tragt  baufig  aucb  die  friiber  unter  den  Degenerations  zeicben 
erwiibnte  Azoospermie  bei, 

2,  Meehanisehe  (traumatische)  Lasionen  des 
Centralnervensystems. 

Soweit  Kopfverletzungen  eine  Zerstorung  des  Gebirns  an  mebr 
ocler  weniger  umscbriebener  Stelle  bewirken,  wire!  bei  Bespreebung  des 
Einflusses  der  Heerclerkrankungen  des  Gebirns  clerselben  zu  geclenken 
sein.  An  clieser  Stelle  hanclelt  es  sicb  um  die  feineren  molekularen 
Veranclerungen,  welclie  eine  Commotio  cerebri  berbeifiibrt,  Ueber  die 
Natur  clieser  Veranclerungen  wissen  wir  nocb  niebts.  Die  Gesammtbeit 
cler  nacb  Commotionen  (es  sei  clurcb  direkten  Seblag  auf  den  Kopf  ocler 
schweren  Fall)  auftretenclen  Psycbosen  bezeicbnet  man  als  „Commotions- 
Irresein^C  Dasselbe  sebliesst  sicb  zuweilen  clirekt  an  die  Commotion  an, 
Neben  den  bekannten  Commotionsersebeinungen  beobaebtet  man  in 
solcben  Fallen  allerbancl  Sensationen,  welcbe  in  das  Innere  des  Kopfes 
verlegt  werclen,  „Es  ist,  als  ob  sicb  im  Kopfe  alles  rundum  clrebt", 
geben  die  Kranken  baufig  an,  Aucb  Sebeinbewegungeu  cler  Objecte  ! 

sincl  niebt  selten,  Viele  klagen  direct  fiber  ein  „TrunkenbeitsgeffibP^, 
andere  lecliglicb  fiber  Scbwindel,  Der  Gang  des  Kranken  kann  dem 
eines  Betrunkenen  vollstanclig  gleichen,  Haufig  ist  eine  allgemeine  sen-  * f 
sible  unci  sensorielle  Hyperastbesie  und  Hyperalgesie,  In  an- 
cleren  Fallen  bestebt  umgekebrt  fiir  Sticbe  eine  ausgepragte  Hypal- 


Allgcmoiiie  Aetiologie. 


221 


gcsie.  Unter  den  sonstigen  psycliisclien  Symptomen  stehen  Halliicina- 
tionen  iiud  Augstaffecte  oben  an.  Seltener  ist  das  plotzliche  Aufschiessen 
prinnirer  Wahnvorstellungen.  Sowohl  die  Ilallncinationen  wie  die  etwaigen 
Wahnideen  sind  dnrcli  schreckbaften  Inbalt  ausgezeichnet.  Die  Associa- 
tion ist  baufig  vollig  gebemmt.  Daraus  resultirt  oft  eine  bocbgradige  Scbwer- 
besinnlicbkeit  imd  Unorientirtbeit.  Ancb  eine  ecbte  primare  Incobarenz 
ist  nicbt  selten.  Mit  der  Associationsstorung  biingt  ancb  der  bocbgra- 
dige amnestiscbe  Defect  zusammen,  welcber  gewobnlicb  nacb  Abklingen 
der  acuten  Krankbeitserscbeinungen  zu  besteben  pflegt.  Ancb  die  Hand- 
lungen  baben  meist  eine  ganz  cbarakteristiscbe  Farbung:  neben  katato- 
niscben  Zustiinden  kommen  scbwere  impulsive  Gewalthandlungen  und  ein 
planloses  Fort-  und  Umberlaufen  vor.  In  anderen  Fallen  vergeben  nacb 
dem  Trauma  zunacbst  einige  Stunden  oder  Tage  und  selbst  einige 
Wocben  obne  erbeblicbere  Stoning,  bis  plotzlicb  eine  traumatiscbe  Psy- 
cbose  mit  den  eben  bescbriebenen  Symptomen  ausbricbt.  Nicbt  selten 
entwickelt  sicb  im  Anschluss  an  ein  acutes  Stadium  weiterbin  eine  cbro- 
niscbe  geistige  Veranderung,  welcbe  der  sogen.  secundilren  Demenz  ent- 
spricbt.  Haufig  tauscbt  diese  traumatiscbe  secundare  Demenz,  vrenn  sie 
progressiv  zunimmt,  geradezu  das  Bild  der  Dementia  paralytica  vor; 
denn  ancb  Labmungserscbeinungen  und  Coordinationsstorungen  (z.  B. 
der  Spracbe)  werden  ab  nnd  zu  beobacbtet.  Aucb  der  Sectionsbefund 
kann  demjenigen  der  Dementia  paralytica  in  solcben  Fallen  ab  und  zu  sebr 
iibnlicb,  sein.  In  anderen  Fallen  bleibt  die  secundare  Demenz  auf  einer 
gewissen  Stufe  stationar:  bis  auf  eine  massige  UrtbeilsscbwacKe,  eine 
Verarmung  an  complexen  und  namentlicb  an  abstracten  Begriffen  und 
den  Untergang  der  complicirteren  Gefiiblstone  ist  der  Kranke  normal. 

In  einer  letzten  Keibe  jon  Fallen  bleibt  der  Getroffene  Monate  und 
Jabre  lang  geistig  gesund.  Hocbstens  fallt  denjenigen,  welcbe  den 
Getrolfenen  fruber  sebr  genau  kannten,  auf,  dass  er  reizbarer  ist, 
rascber  geistig  ermiidet,  eine  leicbte  Einbusse  an  Vielseitigkeit  der 
Interessen  und  an  Scbnelligkeit  und  Weitsicbtigkeit  des  Urtbeils  erfabren 
bat  und  resistehzloser  gegen  Alkobol  ist.  Damit  ist  eine  Pradispo- 
sition  gescbaffen,  welcbe  fur  die  Einwirkungen  anderer  atiologiscber 
Scbadlicbkeiten  den  Boden  vorbereitet.  Eine  geringfugige  Scbadlicbkeit, 
welcbe  vor  dem  Trauma  obne  patbologiscbe  Keaction  ertragen  wurde, 
fubrt  nacb  dem  Trauma  in  Folge  der  durcb  das  Trauma  gescbaffenen 
neuro-  bezw.  psycbopatbiscben  Constitution  zum  Ausbrucb  einer  scbweren 
Psycbose.  Mitunter  entwickelt  sicb  aucb  aus  dieser  Pradisposition  eine 
sog.  traumatiscbe  Neurastbenie  oder  — in  anderen  Fallen  — eine  trau- 
matiscbe Hysteric. 

Aebnlicb  wie  die  Commotio  cerebri  wirken  nicbt  selten  aucb  scbwere 
caloriscbe  Insulte  (Insolation  u.  dgl.). 


222 


Allgeineinc  Aetiologie. 


3.  Toxische  Einfliisse. 

Die  Intoxicationeu  wirken  selir  verscliieden,  je  naclidem  sie  acut 
oder  chrouisch  sind.  Inir  einzelue  Stoife  kennen  wir  nur  Psycliosen  in 
Lolge  chronischer  Einwirkung  auf  das  Nervensystem,  fiir  andere  nur 
Psycliosen  in  Folge  einmaliger  (acuter)  Einwirkung,  fiir  die  nieisten 
sind  Psycliosen  aus  beiderlei  Ursaclien  bekannt. 

a.  A 1 k 0 b 0 1. 

Nacbst  der  Erblichkeit  ist  der  Alkoliolmissbraucli  die  wicbtigste 
Ursacbe  von  Psycbosen.  Die  acute  Alkoholintoxication  ist  praktiscli  fiir 
den  Psychiater  weniger  wichtig:  gelegentlicli  kommen  freilich  sog.  patho- 
logische  Rausclizustande  vor,  welche  durcli  Unorientii’theit,  Incoharenz, 
vereinzelte  Hallucinationen  (seltener  Wahnvorstellungen)  und  tobsiiclitige 
motoriscbe  Entladungen  mit  naclifolgender  Amnesie  ausgezeicbnet  sind. 
Um  so  grossere  Bedeutung  hat  die  chronische  Alkoholintoxication,  der 
chronische  Alkoholismus.*) 

Man  fasst  unter  diesem  Sammelnamen  alle  diejenigen  Organerkran- 
kungen  zusammen,  welche  auf  Grund  eines  excessiven,  jahrelaug  betrie- 
benen  Alkoholgenusses  sich  entwickeln.  Als  besonders  deletar  ist  der 
Amylalkohol  (Fuselol) , sowie  der  sog.  Absinthliqueur  zu  bezeichnen. 
Audi  Eau  de  Cologne  ist  — z.  B.  bei  Dainen  aus  besseren  Stiinden  — 
schon  als  spirituoses  Gewohnheitsgetriink  gefunden  worden.  Behufs 
Festste^ung  des  chronischen  Alkohohiiissbrauches  ist  von  den  Angaben 
des  Patienten  selbst  fast  stets  abzusehen,  da  Unwahrhaftigkeit  eines  der 
constantesten  Symptome  der  sog.  alkoholistischen  Charakterdegeneration 
ist.  Ausser  den  Angaben  der  Umgebung,  namentlich  der  Ehefrau,  ist 
der  Arzt  daher  darauf  angewiesen,  den  Alkohol  aus  seinen  Wirkungen 
auf  die  verschiedensten  Organsysteme  (chronischer  Magendarmcatarrh, 
fettige  Degeneration  des  Herzmuskels  und  der  Leber,  Lebercirrhose, 
chronische  Nephritis,  Atheroniatose  der  Gefasse,  multiple  Alkohohieu- 
ritis,  Alkoholepilepsie)  nachzuweisen.  Doch  ist  zu  bemerken,  dass 
zuweilen  bei  ausgesiirochenen  alkoholistischen  Psychosen  die  patholo- 
gischen  Veranderuugen  der  Korperorgane  relativ  geringfiigige  sein  kbnnen. 
Als  besonders  sinnfalliges  Merkmal  des  chronischen  Trinkers  sei  speciell 
noch  die  gedunsene,  fahle,  von  Gefassektasien  durchsetzte  kiilile  Haut 
angefiihrt.  Besonders  wichtig  sind  fiir  die  Diagnose  die  alkoholistischen 
Storungen  im  Gebiete  des  Nervensystems.  Fiir  einen  grossen  Theil 
dieser  Storungen  ist  die  pathologisch-anatoinische  Grundlage  noch  gar 
nicht  ermittelt.  Hierher  gehoren  namentlich  folgende  Symptome: 


D Dabei  kann  die  Psycbose,  welche  auf  dem  Boden  der  chronischen  Intoxica- 
tion ausbricht,  sehr  wohl  peracut  entstehen  und  verlaufen  (wie  z.  B.  das  Delirium  tremens). 


Allgemcine  Aetiologie. 


223 


1.  Allgemeine  Pare  sen.  Der  Handedruck  sinkt  bei  dynamome- 
trischer  Messuug  bis  auf  30“  (also  etwa  ein  Viertel  der  Norm)  berab, 
der  Gang  wird  scblotternd , die  Mundfacialismuskulatur  erscblaift  bald 
eiuseitig,  bald  doppelseitig  (daber  das  ausdruckslose  Gesicht  der  meisten 
Trinker),  die  Zunge  weicht  imter  starkem  SchwankerT  und  fibrillarem 
Zittern  nach  einer  Seite  ab. 

2.  Der  sogenannte  Tremor  alkoli olicus.  Derselbe  pflegt  in 
Armen  imd  Beinen  am  starksten  zu  sein.  Aucb  Mimdmnskeln  und 
Zunge  sind  oft  betbeiligt;  es  kommt  dann  zu  entsprecbender  Spracb- 
storung.  Er  verstarkt  sicb  bei  jeder  willkiirlicben  Innervation.  Er  ist 
nicbt  auf  die  paretiscben  Muskeln  bescbrankt.  Meist  bestebt  er  aus 
kleinen  rbytbmiscben  Oscillationen.  Zuweilen  steigert  er  sicb  — na- 
nientlicb  im  Gefolge  langerer  Entziebung  des  Alkobols  — zu  allge- 
meinen,  Geben  und  Steben  bebindernden  Scbiittelkrampfen.  Erwabnens- 
wertb  ist,  dass  der  Tremor  alkobolicus  durcbaus  nicbt  patbognomoniscb 
ist,  er  feblt  ab  und  zu  bei  ausgesprocbenen  Trinkern  und  findet  sicb 
ab  und  zu  mit  alien  seinen  Merkmalen  bei  Nicbttrinkern  (Epilepsie, 
Meningitis).  Von  dem  Tremor  alkobolicus  zu  unterscbeiden  sind  die 
isolirten  oder  cloniscben  Zuckungen,  sowie  die  toniscben 
Krilmpfe  (namentlicb  in  den  Waden),  welcbe  sicb  ofter  bei  Trinkern 
finden.  Ataxie  s.  str.  ist  selten,  Bomberg’scbes  Scbwanken  baufig. 

3.  S ens  ibilit  at  ss  tor  ungen.  Am  baufigsten  sind  Parastbesien, 
Hyperastbesien  und  Neuralgien.  Der  Localisationsfebler  ist  meist,  na- 
mentlicb an  Vorderarmen  und  Handen,  sowie  Unterscbenkeln  und  Fussen 
trotz  der  Hyperastbesie  vergrossert.  Die  Aniistbesien,  welcbe  in  spateren 
Stadien  zur  Beobacbtung  kommen,  beruben  meist  auf  einer  binzuge- 
gekommenen  Alkobolneuritis  oder  auf  der  nicbt  gerade  seltenen  Com- 
plication mit  Hysteric. 

4.  Sensor ielle  Stor ungen.  Subjective  Empfindungen,  bezw. 
elementare  Hallucinationen  der  boberen  Sinne,  feblen  selten,  so  nament- 
licb Funkenseben,  Moucbes  volantes,  Obrenklingen  u.  s.  w. ; Amblyopien 
sind  baufig.  Die  opbtbalmo'skopische  Untersucbung  vermag  ofter  eine 
temporale  Abblassung  der  Papille  oder  aucb  eine  diffuse,  leicbte,  aber 
deutlicbe  patbologiscbe  Triibuug  derselben  zu  constatb-en. 

5.  Hautreflexe  und  Sebnenphanomene  sind,  wofern  nicbt 
eine  Complication  mit  multipier  Neuritis  vorliegt,  meist  gesteigert. 
Licbttragbeit  oder  Licbtstarre  der  Pupillen  ist  selten. 

Sebr  wicbtig  fiir  die  allgemeine  Diagnose  des  cbroniscben  A.  ist 
endlicb  die  sogenannte  alkobolistiscbe  psycbiscbe  Degenera- 
tion (obne  ausgepragte  Psycbose).  Dieselbe  ist  cbarakterisbt  durcb 
eine  zunebmende  Scbwiicbe  des  Gedacbtnisses,  Verlangsamung  der  Auf- 
fassung  und  des  Urtbeils  und  Verlust  der  etbiscben  und  iistbetiscben 


224 


Allgcmciiic  Aotiologie. 


Vorstcllimgen  imd  Gefiihle.  Liigenliaft  imcl  verleumclerisch  (VVahn  ehe- 
hcher  Untreue!),  jahzornig  and  docli  feig  siml  fast  alle  Alkoholisten. 
Besondere  Beaclituug  verdienen  die  gelegentlichen  Bepressiouszustiinde 
imd  Angstanfalle.  Das  abschweifende,  aiisraalende,  an  den  Biertiscli 
erinnernde  Eedeti  des  Trinkers  verratli  gleichfalls  die  sinkende  Intelli- 
genz.  Der  iinauflialtsame  Niedergang  der  Willenskraft  liisst  alle  Besse- 
riingsvoi'satze  zu  Sclianden  werden. 

Die  vollentwickelten  Psychosen,  welche  auf  dem  Boden  des  Alko- 
holismus  zu  Stande  kommen,  werden  in  der  speciellen  Pathologie  aus- 
fiihrlicb  besprochen  werden.  Besonders  sei  auch  auf  die  in  der  speciellen 
Pathologie  eingefiigte  iitiologische  Classification  der  Psychosen  ver- 
wieseu.  Gemeinschaftliche  Ziige,  welche  der  chronische  Alkoholismus 
den  gewbhnlichen  Psychosen  da,  wo  er  atiologisch  eine  erheblichere 
Rolle  spielt,  meist  aufpragt,  sind 

1.  Eine  Neigung  zu  Illusionen  und  Hallucinationen,  zumal  bunten, 
plastischen,  in  grosser  Zahl  auftretenden  Gestalten, 

2.  Eine  schwachsinnige  Farbung  der  auftretenden  Wahnvorstellungen. 

Dazu  kommen  weiter  alle  jene  Ziige,  welche  oben  als  „alkoholistische 

psychische  Degeneration^^  beschrieben  warden. 

Ueber  die  Art  und  Weise,  in  welcher  der  Alkoholmissbrauch  das 
Centralnervensystem  und  speciell  die  Grosshiimrinde  schiidigt,  ist  Fol- 
gendes  zu  bemerken.  Zuniichst  bediugt  der  Alkoholabusus  eine  indirekte 
Schadigung  der  Hirnrinde,  insofern  er  fettige  Degeneration  zahlreicher 
fiir  den  Gesammtstoffwechsel  wichtiger  Organe  (Leber,  Nieren,  Magen- 
driisen)  hervorruft:  unter  der  so  entstandenen  allgemeinen  Stoffwechsel- 
stbrung  muss  selbstverstlindlich  auch  die  Ernahruug  und  damit  die 
h unction  des  Centralnervensy stems  leiden.  Eine  weitere  indirecte  Scha- 
digung kommt  dadurch  zu  Stande,  dass  der  in  Edge  des  Alkoholabusus 
fettig  degenerirte  Herzmuskel  die  Blutcirculation  in  unausreichender 
Weise  besorgt.  Wichtiger  noch  sind  die  localen  Einwirkungen  des 
Alkohols  auf  die  Blutgefasse.  Die  Waudungen  derselben  verfallen,  wie 
im  iibrigen  Kbrper,  so  auch  in  der  Hirnrinde,  einer  atheromatosen  De- 
generation. Durch  diese  werden  neue,  schwere  Schiidigungen  der  Rinden- 
ernahrung  bedingt.  Endlich  kommt  noch  der  direkte  deletare  Einfluss  des 
Alkohols  auf  die  nervosen  Elemente  hiuzu.  In  vielen  Fallen  mag  der- 
selbe,  ebenso  wie  die  erwahnten  trophischen  Storungen,  ein  functioneller 
bleiben,  d.  h.  unsere  mikroskopischen  Untersuchungsmethoden  vermogen 
Veriinderungen  an  den  Ganglienzellen  und  Nervenfasern  der  Hirnrinde 
nicht  nachzuweisen.  In  vielen  anderen  Fallen  lassen  sich  makroskopisch 
Oder  wenigstens  mikroskopisch  schwere  Veranderungen  in  der  Hirnrinde 
erkennen.  Ebenso  wie  bekanntermaassen  der  Alkoholabusus  nicht  selten 
in  den  peripheren  Nerven  die  Fasern  zerstort  (multipl.  Alkoholneuritis), 


Allgemeine  Aetiologie. 


225 


ebenso  beobacbtet  man  einen  Faserschwimd  in  der  Markleiste  der  Hirn- 
rinde  imd  in  der  Hirnrinde  selbst.  Ausserdem  zeigt  der  Kbrper  der 
corticalen  Ganglienzellen  sowie  der  Axencylinderfortsatz  in  den  schwe- 
reren  Fallen  nicbt  selten  erbeblicbe  krankbafte  Veranderungen.  Alle 
diese  organisclien  Veranderungen  beobacbtet  man  namentlicb  in  den- 
jenigen  Fallen,  welcbe  mit  einem  erbeblicberen  Intelligenzdefect  einher- 
gingen,  speciell  anch  bei  der  sogenannten  Alkoholparalyse,  d.  li.  einer 
auf  dem  Boden  des  cbronischen  Alkobolismus  auftretenden,  in  dem 
kliniscben  Symptomenbild  mit  der  Dementia  paralytica  iibereinstim- 
menden  Psychose. 

b.  M e t a 1 1 g i f t e. 

Obenan  stehen  die  Blei-  und  Quecksilbervergiftimg.  Beide  sind  fast 
ausscbliesslicb  als  cbronisclie  Intoxicationen  bekannt.  Die  Psychose, 
welcbe  auf  dem  Boden  dieser  cbronischen  Intoxication  ausbricbt  (meist 
im  Anschluss  an  eine  accidentefte  Gelegenheitsveranlassung)  hat  bald 
cbronischen,  bald  acuten  Charakter. 

Wie  der  Alkohol  erzeugt  auch  das  Blei  bei  chronischer  Ein- 
wirkung  oft  eine  psycho-  und  neuropathische  Constitution,  welcbe  in 
der  Kegel  einige  eigenartige  Symptome  zeigt.  Bekanntlich  sind  An- 
streicher,  Schriftgiesser,  Schriftsetzer,  Topfer,  Glasarbeiter  und  Berg- 
leute  der  Bleivergiftung  am  meisten  ausgesetzt.  In  seltenen  Fallen  hat 
auch  Verunreinigung  des  Trinkwassers  durch  Bleirohren  zu  Bleipsychosen 
gefiihrt.  Die  kbrperlichen  Symptome  sind  auch  bei  ausgesprochenen 
Bleipsychosen  mitunter  relativ  schwach  entwickelt,  so  die  Bleianiimie; 
der  blaulich-schwarze  Saum  am  Zahnfleisch,  die  Kolik,  die  falschlich  so 
genannte  saturnine  Arthralgie,  der  Tremor,  die  cerebrale,  spinale  und 
periphere  Lahmung,  die  saturnine  Neuritis  optica,  die  Bleiskotome,  die 
tonischen  und  klonischen  Krampfanfalle  u.  s.  w.  Die  psychischen  Symptome 
bestehen  in  Schlaflosigkeit,  Schwindel,  elementaren  Gehorstauschungen, 
leichter  motorischer  Agitation;  ab  und  zu  treten  auch  Angstaffecte, 
vereinzelte  Hallucinationen  oder  unbestimmte  Wahnvorstellungen  auf. 
Mitunter  beschrankt  sich  zeitlebens  die  psychische  Veranderung  auf 
diese  „saturnine  psychopathische  Constitution'^  Haufiger  kommt  es  zu 
schweren  acuten  oder  cbronischen  Psychosen.  Allen  ist  fast  ausnahmslos 
das  Auftreten  massenhafter  Hallucinationen  gemeinsam.  Dieselben  be- 
dingen  in  der  Kegel  eine  schwere  hallucinatorische  Incoharenz  und 
Unorientirtheit.  Auch  primare  Angstaffecte  sind  haufig.  Die  Wahn- 
vorstellungen sind  inhaltlich  meist  als  Verfolgungsideen  zu  bezeichnen. 
In  den  schweren  cbronischen  Fallen  kommt  es  meist  zu  Intelligenz- 
defecten. 

Auch  das  Blei  schadigt  die  Hirnrinde  ahnlich  wie  der  Alkohol  theils 
Ziehen,  Psychiatrie.  15 


226 


Allgemeino  Aetiologie. 


in  directer,  tlieils  in  indirecter  Weise.  Bald  ist  die  Schadigung  lediglich 
eine  functionelle,*)  bald  makroskopiscli  oder  mikroskopisch  nachweisbar. 
Unter  den  indirekten  Scbadigungen  spielt  die  Bleierkrankung  der  Nieren 
ofters  eine  grosse  Rolle.  In  anderen  Fallen  iiberwiegen  die  Verande- 
rungen  an  den  kleinen  und  kleinsten  corticalen  Gefassen.  Endlicb  ist 
aucli  eine  directe  Einwirkung  des  Bleies  auf  die  Ganglienzellen  und 
basern  der  Hirnrinde  wahrscheinlicb ; dieselbe  ist  derjenigen  analog, 
welcbe  wir  bei  den  gewbbnlicben  Bleilabmungen  in  den  Ganglienzellen 
des  Riickenmarks  sowie  in  den  peripberen  Nervenfasern  (periaxiale  Neu- 
ritis) finden. 

Das  Quecksilber  erzeugt  zuweilen  ganz  abnlicbe  psychisclie 
Veranderungen  wie  das  Blei.  Man  wird  namentlich  bei  Arbeitern  in 
Quecksilberminen,  Spiegelarbeitern,  Thermometer-  und  Barometerarbeitern, 
Filzhutmacbern  und  Pelzbandlern  an  eine  Quecksilberintoxication  denken 
miissen.  Stomatitis  (Salivation),  Gastrointestinalkatarrb  und  namentlich 
der  Quecksilbertremor  sind  die  cbarakteristiscbsten  korperlicben  Begleit- 
symptome. 

Anzureiben  sind  bier  aucb  die  Vergiftungen  mit  gewissen  Gasen, 
so  mit  Kohlenoxyd  (meist  acut)  und  mit  Scbwefelkoblenstoff  (meist 
cbroniscb,  namentlich  bei  Arbeitern  in  Gummifabriken). 

c.  A 1 k a 1 0 i d e. 

Weitaus  am  wicbtigsten  sind  unter  diesen  die  Narcotica,  speciell 
das  Morpbin.  Letzteres  bat  auf  das  Centralnervensystem  ganz  ebenso 
deletaren  Einfluss  wie  der  Alkohol.  Nur  der  cbroniscbe  Missbraucb  bat 
j)raktiscbe  Bedeutung  fiir  den  Psychiater.  Die  Kranken  gelangen  zu  dem- 
selben  meist  bei  einem  scbmerzbaften  Leiden  (Pleuritis,  Gelenkrbeumatis- 
mus,  Neuralgien  u.  dgb).  Andere  wenden  das  Morpbium  zum  ersten  Male 
gegen  qualende  Scblaflosigkeit  an.  Mancbe  greifen  zum  Morpbium, 
um  irgendwelcbe  Affecte  (Aerger  u.  dgl.)  zu  betauben.  Aucb  die  Notb- 
lage  des  Arztes,  der  nacb  einer  in  Alkobolexcessen  oder  aucb  in  auf- 
regender  Tbatigkeit  verbracbten  Nacbt  am  Morgen  sicb  unwobl  und 
erregt  fiiblt,  verfiibrt  nicbt  selten  zu  der  ersten  Morpbiumdosis.  Solcbe 
Gelegenbeiten  wiederbolen  sicb.  Der  Kranke  verliert  seine  Wider- 
standskraft  und  seine  Rube  gegeniiber  Scbmerzen  und  Affecten  immer 
mebr.  Er  muss  ofter  zum  Morpbium  greifen  und,  da  alsbald  eine  Ge- 
wobnung  eintritt,  zu  bbberen  Dosen.  Nun  kommt  binzu,  dass  mit  der 
Gewobnung  aucb  das  Bedurfniss  sicb  einstellt.  Aucb  obne  Scbmerzen 
oder  irgend  einen  anderen  Anlass  greift  der  Kranke  zum  Morpbium, 

*)  Wie  die  chronische  Alkoholintoxication  kann  aucli  die  chronische  Blei-  und 
die  chronische  Quecksilbervergiftung  z.  B.  zuweilen  das  klinische  Bild  der  Ilysterie 
hervorrufen. 


Allgemeine  Aetiologie. 


227 


weil  die  mit  der  Enthaltimg  verkniipfte  „Unruhe“  sich  einstellt,  Diese 
qualvolle  Unruhe  der  Abstinenz  beberrsclit  fortan  die  weitere  Entwicke- 
lung.  Sie  besteht  erstens  in  einer  Empfindung  der  Unrube,  welcbe 
der  Kranke  meist  in  den  ganzen  Kbrper  verlegt,  zweitens  in  einer  „Unruhe 
der  I deen association,'^  d.  b.  in  einer  leichten  Bescbleunigung  und 
Incobareuz  des  Gedaukenablaufs,  welcbe  dem  Kranken  jede  Concentration 
and  jedes  zusammenbangende  Arbeiten  auf  das  Hocbste  erscbwert,  und 
drittens  in  einer  motor iscben  Unrube,  d.  b,  einem  fortwabrenden 
Bewegungsdrang,  welcber  den  Kranken  auf  keinem  Platz  langer  bleiben 
lasst;  ofters  koinmen  ancb  Angstaffecte  binzu,  Der  Scblaf  scbwindet. 
Diese  Abstinenzerscbeinungen  treiben  den  Kranken  zu  immer  boberen 
Dosen.  Von  der  Ursacbe,  welcbe  anfanglicb  die  Morpbiumverwendung 
bedingte,  bat  sicb  der  Morpbiumgebraucb  nunmebr  unabbangig  gemacbt. 
Erst  von  diesem  Augenblick  an  darf  man  von  Morpbinismus  im  engeren 
Sinne  sprecben. 

Wenn  anfangs  nocb  der  Arzt  das  Morpbium  verscbrieb  und  die  Dosis 
bestimmte,  so  sucbt  jetzt  der  Kranke  auf  eigene  Faust  sicb  Morpbium 
zu  verscbaffen  und  nimmt  das  Morpbium  nacb  eigenem  Gutdunken,  d,  b. 
entsprecbend  dem  wacbsenden  Abstinenzbedurfniss.  Scbliesslicb  gelangt 
er  auf  Tagesdosen  von  1 — 3 Gramm  und  mebr.*)  Die  Anwendungs- 
weise  ist  meist  eine  subciitane.  Oefters  wird  ancb  statt  des  Morpbium- 
missbraucbs  Opiummissbrancb  **)  (Opiopbagie)  beobacbtet.  Viele  Opio- 
pbagen  geben  iibrigens  spater  docb  zu  dem  Alkaloid  uber. 

Die  wicbtigsten  korperlicben  Veranderungen,  welcbe  der  Morpbium- 
missbrancb  nacb  sicb  ziebt,  sind 

1 . Scbwere  Stoffwecbselstorung : bierber  gebort  namentbcb  ancb  die 
kacbektiscbe  Anamie  des  Morpbinisten.  Aiicb  Hamopbilie  wird  ab  und 
zu  beobacbtet.  Neigung  zu  Hautpblegmonen  und  Zabncaries  ist  baufig. 

2.  Stbrungen  des  Digestionstracts : Herabminderung  der  motoriscben 
und  secretoriscben  Leistungsfabigkeit  des  Magenmuskels  resp.  der  Magen- 
scbleimbaut,  bocbgradige  Anorexie,  Obstipation. 

3.  Vasomotoriscbe  Stbrungen  und  Stbrungen  der  Herzinnervation 
(Bradykardie  und  Pulsarbytbmie). 

4.  Die  Pupillen  sind  im  Anfang  des  cbroniscben  Morpbiummiss- 
braucbs  eng.  Spater  stellt  sicb  oft  eine  abnorme  Mydriasis  eiu.  Die 
Beactionen  werden  nacb  und  nacb  trager  und  weniger  ausgiebig.  Ancb 
die  Accommodation  leidet  nicbt  selten. 

5.  Die  grobe  motoriscbe  Kraft  der  Extremitaten  und  Rumpfmuskeln 
nimmt  ab.  Jede  Einspritzung  belebt  dieselbe  nur  fur  kurze  Zeit  wieder 

*)  Die  liocliste  bis  jetzt  beobacbtete  Tagesdosis  ist  5,5  g. 

**)  Aucb  opiumhaltige  Arzneien  (Pulvis  Doweri,  sogenannte  Choleratropfen  u.  dgl.) 
konnen  den  ersten  Anstoss  zu  Morphinismus  geben. 


15* 


228 


Allgenieine  Aetiologie. 


etwas.  Namentlich  die  motorisclie  Ermiidung  tritt  immer  rascher  ein. 
Die  Schlaftheit  der  Gesiclitsziige  uud  die  Triigheit  des  Mienenspiels  ver- 
rathen,  dass  aiich  die  Facialismusculatur  sicli  au  der  allgemeinen  Herab- 
setzung  der  motorischen  Innervation  betlieiligt.  Hilufig  beobacbtet  man 
statisclien  pder  Intentionstremor.  Aucb  wirklicbe  Ataxie  und  Romberg- 
sches  Schwanken  findet  sicb  ofters. 

6.  Auf  sexuellem  Gebiet  besteht  Impotenz,  zuweilen  ist  aucli  bei  er- 
baltener  Erectionsfabigkeit  die  sexuelle  Libido  erloscben.  *)  Der  Scblaf 
ist  aiifgehoben. 

7 . Sensible  und  sensorielle  liypasthesien  und  Hypalgesien  sind  baufig. 
Das  Gesicbtsfeld  ist  concentrisch  eingeengt.  Ringfdrmige  und  andere 
Skotome  sind  nicbt  selten.  Seltener  ist  eine  iiber  das  ganze  Gesichts- 
feld  sicb  erstreckende  Amblyopie  oder  Amaurose.  Nicbt  selten  entwickelt 
sicb  auf  dem  Boden  des  cbroniscben  Morpbinismus  aucb  der  typiscbe 
neuropatbologiscbe  Symptomencomplex  der  Hysterie. 

Kopfscbmerzen  (oft  balbseitig),  lancinirende  Scbmerzen  in  den  Ex- 
tremitaten,  circumscripte  Neuralgien  sind  sebr  baufig. 

Die  psycbiscben  Symptome  des  cbroniscben  Morpbinismus  sind 

1.  Hallucinationen  und  Illusionen:  dieselben  sind  — wenigstens  in 
complicirterer  Form  — nicbt  baufig.  Meist  bandelt  es  sicb  nur  urn 
sebr  einfacbe,  elementare  Hallucinationen,  wie  Funkenseben,  Obrenklingen 
u.  dgl.  Sebr  viel  baufiger  sind  Parastbesien  der  Haut,  namentlicb  in 
den  unteren  Extremitaten.  Die  eigenartigen  Kalteempfind ungen,  fiber 
welcbe  die  meisten  Morpbinisten  klagen,  sind  vielleicbt  aucb  bierber  zu 
recbnen. 

2.  Associationsstorungen : scbon  nacb  kurzer  geistiger  Arbeit  tritt 
Ermiidung  ein.  Die  Association  wird  trage  und  leicbt  incobarent.  Die 
Kranken  vermogen  eine  langere  und  verwickeltere  Vorstellungsreibe  nicbt 
mebr  in  ibrem  Zusammenbang  zu  verfolgen.  Zu  ernsterer  geistiger  Arbeit 
sind  sie  daber  unfabig.  Haufig  bestebt  zugleicb  eine  abnorme  Reiz- 
barkeit.  Die  korperbcben  Empfindungen  der  Unrube  tragen  dazu  bei, 
den  Vorstellungsablauf  fortwabrend  zu  storen.  Das  Gedacbtniss,  d.  b. 
der  Scbatz  an  Erinnerungsbildern,  bleibt  in  der  Regel  intact. 

3.  Affectstdrungen.  Der  Angstanfalle  wurde  bereits  gedacbt.  Sebr 
wicbtig  ist  aucb  die  morpbinistiscbe  Cbarakterdegeneration , welcbe  der 
alkobolistiscben  nabe  verwandt  ist.  Sie  berubt  wie  letztere  auf  dem 
Untergang  der  complicirteren,  namentlicb  aucb  der  etbiscben  Geffibls- 
tdne.  Wie  der  Alkobolist  Ifigt  der  Morphinist.  Da  der  Intelligenzdefect 
viel  unerbeblicber  ist,  Ifigt  er  meist  mit  viel  mebr  Gescbick.  Zur  Lfige 
kommt  baufig  die  Intrigue  binzu.  Alle  Pflicbtgeffible  gebeu  nacb  und 


*)  Atroi)liie  des  Uterus  ist  gleichfalls  beobacbtet.  Sebr  baufig  ist  Amenorrhoe. 


Allgemeine  Aetiologie. 


229 


nacli  verloren,  ebenso  alle  boheren  Interessen.  Damit  liangt  es  auch 
zusammen,  dass  fast  alle  Morpliinisten  nacb  jeder  Entziehung  binnen 
Kiirzem  wieder  riickfallig  werden:*)  die  ethischen  Vorstellungen  haben 
ilireu  Gefiiblston  eingeblisst  und  damit  ibren  Einfluss  aiif  das  Handeln 
verloren.  Die  „Willenskraft^^  der  Kranken  bat  unbeilbar  gelitten. 

Vollentwickelte  acute  Psycbosen  sind  auf  dem  Boden  des  Morpbi- 
uismus  selten.  Nur  bei  plotzlicber  Entziebiing  des  Morpbiums  oder  plbtz- 
licber  erbeblicber  Verminderimg  der  gewobnten  Dosis,  also  in  der  sog. 
Abstinenz,  kommt  es  neben  den  cbarakteristiscben  somatiscben  Abstinenz- 
symptomen  (gefabrlicbe  Collapse,  profuse  Diarrboen,  Erbrecben,  Gabnen, 
scbwerer  Tremor  und  Ataxie  — aucb  der  Spracbbewegungen  — , mul- 
tiple Scbmerzen  u.  s.  w.)  zu  beftigen  acuten  psycbopatbiscben  Symptomen. 
Scbwere  Angsteffecte  und  massenbafte  Hallucinationen  (vorzugsweise  des 
Gesicbts)  spielen  unter  denselben  die  Hauptrolle.  Hallucinatoriscbe 
Incobarenz  und  ballucinatoriscbe  Wabnvorstelluugen  treten  baufig  bin- 
zu.  Mitunter  kommt  es  zu  ausgesprocbener  Tobsucbt. 

Aucb  der  Cocainmissbraucb  ist  neuerdings  baufiger  geworden. 
Meist  bandelt  es  sicb  um  Individuen,  welcbe  urspriinglicb  Morpbinisten 
waren  und,  um  das  Morpbium  loszuwerden,  dasselbe  durcb  Cocain  zu 
ersetzen  versucbten.  Dieser  Versucb  scbeitert  in  der  Regel  vbllig:  die 
IG’anken  erzielen  bdcbstens  eine  geringe  und  nocb  dazu  nur  voruber- 
gebende  Verminderung  ibi’er  taglicben  Morpbiumdosis  und  verfallen 
obendrein  dem  Cocainismus.  Letzterer  verbalt  sicb  insofern  umgekebrt 
wie  der  Morpbinismus , als  die  Cocainabstinenz  in  der  Regel  obne 
scbwerere  psycbopatbiscbe  Erscbeinungen  verlauft,  vielmebr  gerade  der 
cbroniscbe  Cocamgebraucb  an  sicb  scbwere  Psycbosen  bedingt.  Die- 
selben  geboren  grosstentbeils  der  in  der  speciellen  Patbologie  ausfiibrlicb 
bebandelten  ballucinatoriscben  Paranoia  an. 

Erbeblicb  seltener  sind  psycbopatbiscbe  Erscbeinungen  oder  Psy- 
cbosen nacb  dem  acuten  oder  cbroniscben  excessiven  Gebraucb  des 
Atropins,  Hyoscins  u.  s.  w. 

Grbssere  Bedeutung  besitzt  der  Nicotinmissbraucb  fiir  die  Aetiologie 
der  Psycbosen.  Speciell  scbadigt  das  excessive  Raucben  scbwerer,  im- 
portirter  Cigarren  das  Centralnervensystem  in  ganz  erbeblicber  Weise. 
Neben  scbweren  Storungen  der  Herz-  und  Gefassinnervation  (Angina 
pectoris)  und  der  Darminnervation,  sowie  neben  Amblyopieen  und  subjec- 
tiven  Gerauscben  beobacbtet  man  aucb  das  Auftreten  vollentwickelter 
Psycbosen  (Zwangsvorstellungen , neurastbeniscbes  Irresein).  Aucb  bei 
der  Entwickelung  der  Dementia  paralytica,  also  einer  Psycbose  auf  orga- 
niscber  Grundlage,  scbeint  dem  Nicotinmissbraucb  eine  gewisse  atiolo- 
giscbe  Bedeutung  zuzukommen. 


*)  Oder,  was  ebenfalls  nicbt  selten  ist,  dem  Alkobolismus  verfalleq, 


230 


Allgemeine  Aetiologie. 


Ergotismus,  d.  li,  chronische  Vergiftung  durch  Ergotin,  ist 
bei  Verunreinigung  des  Brotes  durch  Mutterkorn  al)  und  zu  epidemiscli 
beobaclitet  worden.  Auf  kbi’iierlichem  Gebiete  sind  die  Hauptsymptome : 
epileptische  Anfalle,  Parastbesieu,  Hypalgesie,  Ataxie,  Fehlen  des  Knie- 
pbanomens.  Auf  psychischem  Gebiet  ist  das  hervorstecbendste  Symptom 
eine  erhebliche  Denkhemmung  und  ein  Defect  der  Intelligenz. 
Letzterer  ist  nicht  progressiv.  Die  Section  ergiebt  namentlich  eine 
schwere  Erkrankung  der  Burdach’schen  Strange  des  Ruckenmarks. 

Eine  Verunreinigung  des  Mais,  welcbe  noch  nicht  naber  bekannt 
ist,  bedingt  die  sog.  Pellagra.  Dieselbe  kommt  fast  nur  in  Nordita- 
lien  vor,  ausserdem  in  vereinzelten  Gegenden  Spaniens,  Siidfrankreicbs 
und  Rumaniens.  Das  Leiden  erstreckt  sich  oft  iiber  10—15  Jahre;  in 
jedem  Friibling  stellt  sich  eine  Exacerbation  ein.  Die  Hauptsymptome 
sind  Veranderungen  der  Haut  und  schwere  Durchfalle,  Parasthesien,  dif- 
fuse Lahmungen,  Tremor,  Opticusatrophie,  Retinitis  pigmentosa.  Dazu 
kommt  auf  psychischem  Gebiet  ein  merklicher  Defect  der  Intelligenz, 
sowie  namentlich  depressive  Affectstorungen. 

4.  Physiologische  Entwiekelungsvorgange. 

Die  wichtigsten  Etappen  der  normalen  Entwickelung  sind  die  Puhertat 
und  das  Senium.  Wie  schon  oben  erwahnt,  bedingen  beide  einen  An- 
stieg  der  psychischen  Morbiditatscurve. 

a.  DiePubertat. 

Mit  der  Geschlechtsreife,  im  13. — 20.  Lebensjahre  findet  eine  vollige 
Umwalzung  der  korperlichen  und  psychischen  Lebensvorgange  statt. 
Aus  den  Genitalorganen  strbmen  dem  Gehirn  zahlreiche  neue  Reize  zu. 
So  entstehen  auf  psychischem  Gebiet  ganz  neue  Organempfindungen 
und  ganz  neue  Vorstellungskreise,  die  von  machtigen  Geflihlstbnen  be- 
gleitet  sind.  Gerade  die  letzteren  geben  den  neuen  Empfindungen  und 
Vorstellungen  einen  gewaltigen  Einflus^  auf  das  Denken  und  Handeln. 
Auch  bei  dem  normal  veranlagten  Individuum  vollzieht  sich  diese  korper- 
liche  Umwalzung  nicht  ganz  ohne  psychische  Reactionen.  Das  Gehirn 
iiberwaltigt  die  neuen  Reize  nicht  sofort  und  verarbeitet  sie  daher  in 
unausreichender  Weise.  Der  Trotz  und  der  ungeschlachte  Uebermuth 
der  Flegeljahre  wird  oft  von  unmotivirt  — sentimentalen  und  weltschmerz- 
lichen  Stimmungen  abgelbst.  In  der  Lecture  werden  die  Indianer-  und 
Kriegsgeschichten  von  dem  Roman  verdrangt.  Zahlreiche  halbverstandene 
Begriffe  mit  wenigen  inhaltgebenden  Partialvorstellungen , aber  sehr 
lebhafter  Gefiihlsbetonung,  werden  aufgenommen.  Der  Hang  zur  Strasse 
und  zu  der  derben  Ausdrucksweise  der  Flegeljahre  weicht  einem  Hang 
zur  Einsamkeit  und  zu  einem  phrasenhaften  Pathos.  Das  Individuum, 


Allgemeine  Aetiologie. 


231 


das  in  den  Flegeljahren  nicM  wusste,  wo  es  mit  seinen  Extremitaten 
bleiben  sollte,  vermag  jetzt  sein  Ich  niclit  in  die  allgemeine  Ordnung 
seiner  Umgebung  einzufligen.  Die  logiscbe  Fortbildung  des  Denkens 
scheint  einige  Jabre  vbllig  stillzustehen.  Gesteigert  wird  der  Einfluss 
dieser  Umwalzung  in  vielen  Fallen  noch  durch  onanistische  Excesse,  oder 
in  anderen  Fallen  durch  Stoffwechselstorungen  (Pubertatschlorose  u.  dgl.). 
Wenn  diese  Umwalzung  schon  an  dem  normal  veranlagten  Individuum 
nicht  spiu'los  voriibergeht,  so  wird  begreiflich,  dass  ein  pathologisch 
veranlagtes  (z.  B.  erblich  belastetes)  Individuum  durch  dieselbe  schwere 
psychische  Schadigungen  erfahren  kann.  So  entstehen  die  sog.  Pubertats- 
psychosen.  Diese  konnen  unter  den  verschiedensten  klinischen  Bildern 
auftreten.  Die  Pubertatspsychose  kann  eine  Manie,  eine  Melancholie,  eine 
Paranoia  sein  u.  s.  f.  In  vielen  Fallen  findet  man,  dass  diese  unter  dem 
Einfluss  der  Pubertat  entstandenen  Psychosen  einige  eigenartige  gemein- 
same  Ziige  zeigen.  Man  hezeichnet  die  Gesammtheit  dieser  Ziige  als  die 
„hehephrene  Modification^^  der  Psychosen.  So  kennen  wir  eine  hebe- 
phrene  Manie,  Melancholie  u.  s.  f.  In  anderen  Lebensaltern,  auf  Grund 
anderer  atiologischer  Schadlichkeiten  sind  diese  hebephrenen  Ziige  in 
ihrer  charakteristischen  Beschaffenheit  und  Combination  nur  sehr  selten 
zu  beobachten.  Dieselben  bestehen  wesentlich  in  Folgendem.  Die  Affecte 
wechseln  auffallig  rasch.  Die  Stimmungsstbrungen  sind  zudem  nicht 
einheitlich.  In  der  ausgelassensten  Heiterkeit  aussert  der  Kranke  hypo- 
chondrische  oder  weltschmerzliche  Vorstellungen,  in  der  schwersten  De- 
pression macht  er  alberne  Scherze.  Paramimie  und  Lachweinen  sind 
sehr  haufig.  Die  Kranken  ergehen  sich  unter  unzahligen  Wiederholungen 
in  hochtrabenden , gewahlten  Redensarten.  Unverstandene  Sentenzen 
werden  altklug  immer  wieder  eingestreut.  Auffallige  Widerspriiche  bleiben 
unbemerkt.  Logiscbe  Verbindungen  von  Urtheilen  zu  Schliissen  kommen 
kaum  zu  Stande.  Die  Ki’anken  lieben  bizarre  Satzconstructionen.  Stunden- 
lang  stehen  sie  lachelnd,  tanzelnd  und  selbst  grimassirend  vor  dem  Spiegel. 
Ihr  ganzes  Thun  und  Treiben  scheint  auf  Zuschauer  berechnet.  Die 
Beziehung  der  successiven  Bewegungen  und  Handlungen  auf  eine  Ziel- 
vorstellung  wird  vblhg  vermisst.  Etwaige  Wahnideen  fallen  durch  ihre 
Albernheit  und  Abenteuerlichkeit  auf.  Wie  aus  dieser  kurzen  Schilde- 
rung  sich  ergieht,  handelt  es  sich  bei  den  meisten  dieser  Merkmale  um 
pathologische  Verzerrungen  gewisser  Ziige,  die  auch  der  normalen  Puber- 
tat eigen  sind. 

b.  Das  Senium. 

Der  Einfluss  des  Seniums  auf  die  psychische  Entwickelung  ist  weit 
durch sichtiger.  Er  beruht  oifenbar  auf  der  Abnahme  der  Leistungs- 
fahigkeit  der  Hirnrinde.  Auch  bei  den  meisten  normalen  Individuen 


232 


Allgemeine  Aetiologie. 


macht  sich  dieser  Emfluss  geltend.  Der  egocentrisohen  Einengung  des 
Gefuhlslebens  wui-de  bereits  frilher  gedacht.  Die  Fahigkeit  fiii-  fremde 
Sclucksale  imcl  fremde  Gedankenkreise  mitzufiilden,  oder  auch  nur  die- 
selben  zu  verstehen,  geht  mehr  und  mehr  verloren.  Das  Interesse  des 
Kranken  engt  sich  auf  seine  kdrperlichen  Bedilrfnisse  und  Annehmlicli- 
keiten  ein.  Hdchstens  einige  wenige  Lieblingsgedanken  und  Lieblings- 
bescbaftigungen  bleiben  erhalten.  Da  diese  nun  abcr  ganz  isolirt  auf- 
treten  und  der  Kranke  sie  nicht  mehr  zu  motiviren  oder  den  veranderten 
Umstanden  anzupassen  vermag,  ist  ihnen  oft  der  Stempel  eines  starren 
Eigensmns  aufgedriickt.  Mit  dem  Verlust  des  Verstandnisses  und  des 
Mitgefiihls  fur  die  Gegenwart  geht  oft  eine  Neigung,  die  vergangenen 
Zeiten  zu  riihmen  und  fast  geschwatzig  von  ihnen  zu  erziihlen,  Hand 
in  Hand.  Die  Productivitat  der  Ideenassociation  hat  aufgehort.  Neue 
associative  Verkniipfungen  kommen  nicht  mehr  zu  Stande  oder  haften 
nicht  mehi.  Das  Gedachtniss  fiir  das  Jiingstvergangene  nimmt  langsam 
aber  stetig  ab,  ’ 

In  der  Noim  tritt  diese  noch  als  physiologisch  anzusehende  senile 
Involution  des  Seelenlebens  erst  nach  dem  70.  Jahre  ein.  In  manchen 
Fallen  — z.  B.  auf  Grund  von  Atheromatose  — kdnnen  entsprechend 
den  kdrperlichen  Symptonien  des  Senium  praecox  auch  die  psychischen 
Symptome  der  senilen  Involution  verfriiht  auftreten. 

Es  ist  ohne  Weiteres  verstandlich , dass  die  senile  Involution  in 
hohem  Maasse  geeignet  ist,  bei  pradisponii’ten  (also  z.  B.  erblich 
belasteten  oder  durch  intra  vitam  stattgehabte  Schadigungen  der 
Widerstandskraft  beraubten)  Individuen  vollentwickelte  Psychosen  zum 
Ausbruch  zu  bringen.  Diese  senilen  Psychosen  treten  in  den  verschie- 
denstenFormen  (hallucinatorische  Paranoia,  incoharente  Paranoia,  Melan- 
cholie  u.  s.  w.)  auf.  Die  oben  beschriebene  senile  Charakterveriinderung 
modificirt  das  klinische  Bild  oft  in  ausgesprochener  Weise.  Schreck- 
hafte  Hallucinationen  (auch  bei  Psychosen,  welche  sonst  gewdhnlich  ohne 
Hallucinationen  verlaufen)  und  primare  Angstaffecte  (auch  bei  den  sog. 
nicht-aifectiven  Psychosen)  sind  fast  alien  senilen  Psychosen  gemeinsam, 
desgl.  Schwindelanfalle.  Oft  findet  sich  eine  schwere  Unorientirtheit 
und  Incoharenz.  Nicht  selten  kommen  im  Senium  auch  bei  functionellen 
Psychosen  leichte  Paresen,  namentlich  der  Mundfacialismuskeln  vor. 
Eine  ganz  specielle  Form  stellt  endlich  die  sog.  senile  Demenz  dar: 
bei  dieser  fiihrt  der  Untergang  der  Rindenelemente  zu  einem  fort- 
schreitenden  Intelligenzdefect.  Diese  senile  Demenz  wird  in  der  speciellen 
Pathologic  eingehend  besprochen  werden. 


Allgemeine  Aetiologie. 


233 


5.  Korperliche  Krankheiten. 
a.  Acute  Krankheiten. 

Sieht  man  von  den  Erkrankungen  des  Nervensiy stems  ab,  so  sind 
es  fast  ausschliesslich  die  acuten  fieberhaften  Infectionskrankheiten, 
welche  ofter  psychopathische  Erscheinimgen  oder  auch  vollentwickelte 
Psychosen  hervorrufen.  Auf  der  Hohe  der  Krankheit,  sowie  im  Stadium 
der  Abuahme  der  Krankheit  (seltener  im  Beginn)  treten  ungemein 
haufig  Illusionen,  Hallucinationen  und  Stdrungen  des  Vorstelhmgsablaufs 
(primare  und  hallucinatorische  Incoharenz)  auf.  Auf  der  Hohe  der 
Krankheit  stehen  diese  psychischen  Symptome  in  directer  Abhangigkeit 
von  der  Fieberhohe ; d.  h.  ceteris  paribus  sind  sie  um  so  ausgesprochener, 
je  hoher  das  Fieber  ist.  Man  bezeichnet  sie  daher  auch  als  Fieber- 
delirien.  Im  Stadium  der  Abnahme  der  Krankheit  stehen  die  psychischen 
Symptome  in  Abhangigkeit  von  der  allgemeinen  Ernahrungsstorung  und 
Schwiiche.  Man  bezeichnet  sie  auch  als  I n a n i t i o n s d e 1 i r i e n.  Sie  unter- 
scheiden  sich  von  den  Fieberdeluien  namentlich  durch  die  ausgiebigere 
Verarbeitung  der  Sinnestauschungen  zu  Wahnideen  und  durch  gelegent- 
hches  Auftreten  primarer  Wahnideen.  Ausser  der  Fieberhohe  und  der 
Ernahrungsstorung  scheinen  iibrigens  auch  die  im  Blut  kreisenden  infec- 
tiosen  Microorganismen  bezw.  die  von  diesen  gebildeten  Toxine  fiir  das 
Auftreten  dieser  Delirien  von  Belang  zu  sein. 

Ausser  diesen  ,jDelirien^^  kommt  es  nicht  selten  sowohl  auf  der 
Krankheitsholie  wie  im  Stadium  der  Krankheitsabnahme  zu  vollent- 
wickelten,  abgeschlossenen  Psychosen,  welche  auf  dem  Boden  der  Er- 
nahrungsstorung, der  toxischen  Veranderung  des  Bluts  und  der  Tempe- 
ratursteigerung  entstehen,  aber  im  Gegensatz  zu  den  oben  besprochenen 
Delirien  eine  gewisse  Selbstandigkeit  gegeniiber  diesen  ihren  Ursachen 
erlangen.  Typhus,  Malaria,  acuter  Gelenkrheumatismus  und  Pneumonie 
rufen  am  haufigsten  solche  Psychosen  hervor.  Die  meisten  derselben 
gehoren  in  das  Gebiet  der  hallucinatorischen  Paranoia ; bald  iiberwiegen 
agitirte,  bald  stuporose  Zustande.  Verfolgungs-  und  Verslindigungs- 
ideen  sind  haufiger  als  Grossenideen.  Hemmung  und  Incoharenz  des 
Vorstellungsablaufs  ist  sehr  haufig,  Ideenflucht  seltener.  Eeine  Manie 
und  Melancholie  sind  nicht  so  haufig.  Stupiditat  — oft  mit  Ausgang 
in  unheilbare  secundare  Demenz  — ist  etwas  haufiger.  Plotzliche  Selbst- 
mordversuche  kommen  sowohl  bei  den  sog.  Delirien,  wie  bei  den  Psy- 
chosen nicht  selten  vor.  Die  Intermittenspsychosen  verlaufen  nicht  selten 
in  periodischen  Anfallen,  welche  den  Fieberanfallen  entsprechen,  oder 
diese  auch  geradezu  vertreten  konnen.  Haufig  lasst  sich  bei  alien 
diesen  Psychosen  nachweisen,  dass  durch  andere  atiologische  Schadlich- 
keiten  (Hereditat,  Potus  u.  s.  w.)  bereits  vor  der  fieberhaften  Erkrankung 


234 


Allgemeine  Aetiologie. 


eiue  Praclisposition  fiir  psycliisclie  Erkrankung  bestand.  Die  Psychose 
iiberdauert  die  ursaclilicbe  fieberliafte  Erki’ankung  oft  um  Monate  und 
selbst  um  ein  Jalir  (von  dem  ungiinstigen  Ausgang  in  secundare  Demenz 
ganz  abgesehen). 


b.  Chronische  Krankbeiten. 

Syphilis.  Die  Syphilis  ist  eines  der  wicbtigsten  atiologischen 
Momente  der  Psychopathologie.  Ganz  abgesehen  von  der  schweren 
Ernahrungsstorung , welche  die  SyphiHs  haufig  hervorruft,  erzeugt  die 
Syphilis 

1.  umschriebene,  geschwulstartige  Processe  ini  Centralnervensystem 
in  Gestalt  gummbser  Meningitiden  und  einzelner  Gummiknoten,  und 

2.  diffuse  Veriinderungen  in  den  Gewebsbestandtheilen  des  Cen- 
tralnervensystems ; letztere  spielen  sich  theils  direct  an  den  nervosen  Ele- 
menten  ab  (Degeneration  der  markhaltigen  Nervenfasern  und  Unter- 
gang  der  Ganglienzellen) , theils  am  Zwischengewebe  (Gliawucherung) 
und  namentlich  an  den  Gefasswanden  (End-  und  Periarteriitis  mit  Aus- 
wanderung  weisser  und  rother  Blutkorperchen). 

Die  unter  2 angefiihrten  Einwirkungen  sind  wahrscheinhch  z,  Th. 
gar  nicht  direct  auf  die  Mikroorganismen  der  Syphilis  zuriickzufiihren, 
sondern  auf  die  von  den  letzteren  gebildeten  Toxine.  Hiernach  er- 
scheint  die  Psychose  oft  als  eine  Nachkrankheit  der  Syphilis,  etwa  in 
ahnlichem  Sinne,  wie  die  postdiphtherische  Lahmung  eine  durch  Toxine 
bedingte  Nachkrankheit  der  Diphtherie  ist. 

Die  beiden  wicbtigsten  Psychosen,  fiir  welche  die  syphilitische  In- 
fection die  einzige  oder  die  erheblichste  atiologische  Bedeutung  hat, 
sind  die  Syphilis  des  Gehirns  und  die  Dementia  paralytica. 

Die  anamnestische  Feststellung  einer  stattgehabten  syphilitischen 
Infection  ist  oft  nicht  leicht.  Zunachst  hat  man  mit  der  bewussten 
Unwahrhaftigkeit  der  Kranken  zu  kampfen.  In  anderen  Fallen  lasst 
sich  nicht  bestimmen,  ob  ein  Ulcus  molle  oder  durum  vorgelegen.  End- 
lich  ist  nicht  selten  ein  intraurethraler  barter  Schanker  unter  dem  Bilde 
einer  Gonorrhoe  verlaufen.  Am  sichersten  deutet  auf  einen  syphilitischen 
Primaraffect  (also  harten  Schanker)  Einzahl  des  Geschwurs  und  schmerz- 
lose  Schwellung  der  Lymphdriisen.  Die  secundaren  syphilitischen  Erschei- 
nungen  entgehen  der  Beobachtung  sehr  oft.  Wichtige  Fingerzeige  geben 
auch  Aborte  bei  den  Ehefrauen  der  Kranken.  Mindestens  ein  Drittel  aller 
Aborte  ist  auf  Syphilis  des  Ehemannes  zuriickzufuhi’en.  Ferner  wu’d 
man  sich  nach  etwaigen  Zeichen  hereditarer  Syphilis  bei  den  Kindern 
erkundigen.  Endlich  vermag  die  objective  Untersucbung  Aufklarung 
zu  verschaffen.  Fiir  diese  kommen  natiirlich  namentlich  diejenigen 
syphilitischen  Symptome  in  Betracht,  welche  fiir  immer  oder  wenigstens 


Allgemeine  Aetiologie. 


235 


lan^ere  Zeit  persistiren.  Es  sind  dies  namentlich  folgende:  die  Lympli- 
idi-usenschwelkingen,  das  Leiicoderma,  die  Narben,  die  Perforationen  des 
Gaumens  imd  der  Naseiisclieidewand  imd  die  periostitiscben  Belege  und 
die  bockerigen  Auftreibungen  (Topbi)  der  Knochen,  so  z.  B.  der  medialen 
Tibiaflachen  u.  s.  w.  Man  wkd  daber  bei  der  Aufnabme  des  Status 
praesens  stets  aiif  diese  Zeicben  acbten  miissen. 

Der  Zeitraum , welcber  zwiscben  deui  Primaraffect  und  deni  Aus- 
brucb  der  Psycbose  liegt,  scbwankt  innerbalb  weiter  Grenzeu.  Gerade 

20  Jabre  nach  der  Infection  beobacbtet  man  oft  den  Ausbiucb 

-scbwerer  organiscber  Psycbosen,  bei  denen  Syphilis  die  einzige  oder 

•wichtigste  atiologiscbe  Kobe  spielt. 

Sebr  wicbtig  ist  aucb  die  bereditare  Syphilis.  Viele  Falle  kindbcber 
1 Psycbosen,  namentlich  aucb  viele  Falle  von  angeborenem  Scbwacbsinn, 
-sind  auf  dieselbe  zuriickzufubren.  Ab  und  zu  beobacbtet  man  aucb 
. einen  verspateten  Einfluss  dieser  bereditaren  Syphilis.  So  kann  dieselbe 
z.  B.  in  den  zwei  ersten  Lebensjabrzebnten  vollig  latent  verlaufen  und 
, erst  im  dritten  oder  gar  im  vierten  scbwere  sypbilitiscbe  Erscbeinungen 
■von  Seiten  des  Centralnervensystems  bedingen. 

Das  Ulcus  molle  und  die  acute  Gonorrhoe  spielen  seiten 
,eine  atiologiscbe  Kobe.  Die  chroniscbe  Gonorrhoe  bedingt  zuweilen 
: scbwere  melancboliscbe  Verstimmung  mit  oder  obne  neurastbeniscbe 
: Symptome ; oft  bildet  sie  die  Ankniipfungskrankbeit  fiir  hypocbondrische 
■ Wabnvorstebungen. 

Tuberkulose.*)  Meist  beobacbtet  man  bei  Tuberkulosen  eine 
Neigung  zu  optimistiscber  Auffassung  ibres  Leidens  (Eupborie  der  Tuber- 
kulosen). In  seltenen  Fallen  kommt  es  zu  entwickelten  Psycbosen  und 
zwar  entweder  zu  Melancbolien  oder  zu  babucinatoiiscben  Erregungs- 
zustanden  im  Sinne  der  bereits  gelegentlicb  erwabnten,  unten  ausflihi- 
licber  zu  besprecbenden  sog.  Erscbopfungs-  oder  Inanitionsdelirien. 

Carcinose.  Die  Carcinose  kann  direct  das  Centralnervensystem 
befallen,  indem  carcinomatose  Wucberungen  in  den  Meningen  oder  car- 
cinomatbse  Heerde  im  Innern  des  Gebbns  sicb  entwickeln.  Diese  locale 
Metastase  ist  bei  dem  Carcinom  fast  nocb  baufiger  als  bei  der  Tuber- 
kulose (wenigstens  derjenigen  des  Erwacbsenen).  Die  Carcinommeta- 
stasen  erzeugen  dieselben  psycbopatbiscben  Erscbeinungen  wie  jeder 
andere  Hirntumor.  Ausserdem  wirkt  die  Carcinose  indirect,  indem  sie 
eine  progressive  Kacbexie  bedingt.  So  kommt  es  abnlicb  wie  bei  der 

*)  Weit  haufiger  spielt  umgekehrt  die  Psycliose  eine  atiologiscbe  Rolle  bei  Ent- 
stebnng  der  Tuberkulose;  die  ungeniigende  Ernahrung,  die  mangelbafte  Respiration 
(namentlicb  in  stuporosen  Zustanden),  endlicb  leider  aucb  die  unzureicbende  bygie- 
niscbe  Einricbtung  und  Fiirsorge  mancber  Anstalten  erklart  die  auflallig  bobe  Morbi- 
ditat  und  Mortalitat  an  Tuberkulose  unter  den  chroniscben  Geisteskranken. 


236 


Allgemeine  Aetiologie. 


Tiiberkulose  zu  den  sog.  Erschopfungsdelirien.  Auch  schwere  Melancho- 
Iien  werden  ab  und  zu  beobaclitet. 

Magenerkrankungen  geben  ofters  zu  hypocbondriscben  Melan- 
cliolieu  Anlass.  Die  clironiscben  functionellen  Magenstbrungen , welche 
man  als  nervbse  Dyspepsie  bezeichnet,  konnen  meist  nicht  als'ursaclie 
fiir  eine  etwa  bestebende  Psycbose  angeseben  werden,  sondern  sind 
der  letzteren  coordinirt.  (Vgl.  neurastbeniscbes  Irresein  in  der  spe- 
ciellen  Patbologie.)  Cbroniscbe  Darmkatarrbe  fubren  gleicbfalls 
mitunter  zu  bypocbondriscben  Melancbolien ; docb  muss  man  sicb  buten, 
jede  bartnackige  Obstipation  obne  Weiteres  auf  cbronischen  Darmkatarrb 
und  welter  auf  einen  solcben  bypotbetiscben  cbroniscben  Darmkatarrb 
die  Melancbolie  oder  Neurastbenie  zuruckzufubren.  Viel  baufiger  ist  die 
Obstipation  lediglicb  auf  eine  Innervationsstbrung  des  Darms  zuriick- 
zufiibren,  welcbe  selbst  eine  Tbeilerscbeinung  der  allgemeinen  Psycbo- 
neurose  ist. 

H ei  zki  a nkb ei t en.  Das  Verbiiltniss  derselben  zu  den  Psycbosen 
ist  in  atiologiscber  Beziebung  sebr  complicirt.  Sicber  scbeint,  dass 
Herzkrankbeiten , insofern  sie  Circulationsstbrungen  bedingen,  eine  Pra- 
disposition  fiir  psycbiscbe  Erkrankung  scbaffen  kbnnen.  Bestimmte 
Beziebungen  zwiscben  einzelnen  Psycbosen  und  einzelnen  Herzleiden,  wie 
man  sie  z.  B.  zwiscben  Tabes  und  Aorteninsufficienz  gefiinden  bat,  bat 
man  nocb  nicbt  feststellen  kbnnen.  Nur  ist  wobl  begreiflicb,  dass  bei 
Herzkranken  Pracordialaugstanfiille  ceteris  paribus  baufiger  auftreten. 
Insofern  zablreicbe  Heerderkrankiingen  des  Gebirns  (Embolie  ii.  dgl.)  von 
Herzleiden  abbiingig  sind,  ist  ein  weiterer  Weg  gegeben,  auf  welcbem 
ein  Herzleiden  indirect  psycbiscbe  Veriinderungen  berbeifiibren  kann. 

Atheromatose  und  and  ere  cbroniscbe  Erkrankungen  der  Gefass- 
wande  sind  sebr  baufig  ein  wicbtiger  atiologiscber  Factor  fiir  psycbiscbe 
Erkrankung.  Dieselben  bedingen  schwere  Gefahren  fiu-  das  Central- 
nervensystem , indeni  sie  zu  Heerderkrankungen  Anlass  geben  kbnnen 
(Miliaraneurysmen  — Hirnbiimorrliagie,  sypbilitiscbe,  nepbritiscbe,  senile, 
kacbektiscbe  Veranderiingen  der  Gefasswiinde  — Hirntbrombose),  welcbe 
ibrerseits  psycbiscbe  Veranderiingen  nacb  sicb  zieben  kbnnen  (s.  ii.). 
Auf  die  Bedeiitsamkeit  der  sypbilitiscben  und  senilen  Gefasserkrankungen 
fiir  die  Dementia  paralytica  bezw.  Dementia  senilis  ist  scbon  oben  bin- 
gewiesen  worden.  In  vielen  anderen  Fallen  ist  es  lediglicb  eine  fiinc- 
tionelle  Ernahrungsstbrung,  diircb  welcbe  die  cbroniscbe  Erkrankung  der 
Hirngefasswandungen  den  Boden  fiir  Psycbosen  vorbereitet. 

Nephritis.  Die  Nephritis  erzeugt  Psycbosen  auf  doppeltem  Wege, 
erstens  durcb  Vermittlung  der  zuletzt  besprocbenen  Veranderiingen  der 
Gefasswande , welcbe  bekanntlicb  die  cbroniscbe  Nephritis  ungemein 
baufig  begleiten,  zweitens  aber  durcb  die  uramiscbe  Veranderung  des 


Allgemeine  Aetiologie. 


237 


Blutes.  Seitdem  wir  wissen,  dcass  Kreatin,  Kreatinin,  doppeltphosphor- 
saiires  Ivalium  u.  s.  f.,  aiif  die  freigelegte  Hirnrinde  des  Thieres  aufge- 
trageu,  scliwere  motorische  Reizersclieinimgen  hervorrufen,  ist  es  leicht 
begreiflich , dass  psychopatliologische  Erscheinimgen  in  Folge  einer  ura- 
roisdien  Verandenmg  des  Blutes  sich  einstellen  konnen.  Die  meisten 
dieser  nepbritisclien  Psyclioseu  verlaufen  imter  dem  Bilde  der  hallucina- 
torisclien  Paranoia. 

Diabetes.  Die  Stoffwechselstorung , welcbe  das  Wesen  des  Dia- 
betes mellitus  ansmacht,  bedingt  nicht  selten  psychische  Veranderungen. 
'Namentlicli  beobachtet  man  reizbare  und  traurige  Verstimmimg  sehr 
oft.  Aucb  apathische  Ziistande  kommen  ofter  vor.  Seltener  sind  voll- 
entwickelte  Psychosen. 

Erkrankungen  der  Genitalorgane.  Nur  die  Erkrankungen  der 

■ weiblichen  Genitalien  spielen  in  der  Aetiologie  der  Psychosen  eine 
.grbssere  Rolle.  Namentlich  Lageveranderimgen  des  Uterus,  Endome- 
:tritiden,  Para-  und  Perimetritiden , sowie  die  Geschwiilste  des  Uterus 

und  der  Ovarien  kommen  in  Betracht.  Seltener  sind  es  in  diesen  Fallen 
• die  bewussten  Beschwerden,  welche  die  Psyche  beeinflussen;  meist 
haudelt  es  sich  um  Einfliisse,  welche  unterhalb  der  psychischen  Schwelle 
bleiben.  Man  hat  deshalb  geradezu  in  solchen  und  ahnlichen  Fallen 
’von  Reflexpsychosen  gesprochen.  Im  Allgemeinen  hat  man  den  Ein- 
: fluss  der  gynakologischen  Erkrankungen  auf  die  Entstehung  von  Psychosen 
: liber schatzt.  Es  ist  allerdings  richtig,  dass  in  einzelnen  Fallen  die 
I Beseitigung  einer  Endometritis  oder  die  Correctur  einer  Lageveranderung 
■.des  Uterus,  oder  in  sehr  seltenen  Fallen  auch  z.  B.  die  Castration  (bei 
I entziindhcher  Vergrbsserung  der  Ovarien)  eine  Psychose  giinstig  heein- 
:flusst  oder  selbst  gehoben  hat.  Dies  sind  jedoch  Ausnahmen.  In  der 
iiibergrossen  Mehrzahl  der  Falle  bleibt  die  gynakologische  Behandlung 
einflusslos,  in  anderen  wirkt  sie,  indem  sie  neue  Reize  hinzufiigt,  geradezu 
■schadlich.  Ganz  anders  liegen  die  Verhiiltnisse  in  denjenigen  Fallen, 
’ wo  das  gynakologische  Leiden  schwere  Storungen  der  allgemeinen 
] Ernahrung  bedingt  (Metrorrhagien , Reflexneurosen  des  Magens  mit 
■:  consecutiven  Verdauungsstbrungen  u.  s.  w.).  Dieser  indirecte  Einfluss  gyna- 
I kologischer  Erkrankungen  ist  oft  von  allererheblichster  atiologischer 
iBedeutung,  und  in  solchen  Fallen  ist  die  gynakologische  Behandlung  oft 
< das  einzige  Mittel , die  Psychose  durch  Elimination  ihres  wichtigsten 
: atiologischen  Factors  zu  beseitigen. 

Die  Formen  der  mit  gynakologischen  Leiden  zusammenhiingenden 
Psychosen  sind  sehr  mannigfaltig  und  keineswegs  etwa,  wie  friiher  zu- 

■ weilen  angenommen  wurde,  auf  das  hysterische  Irresein  beschrankt.  Im 
' Ganzen  iiberwiegt  die  Melancholie  und  die  Paranoia.  Dass  die  Wahn- 

vorstellungen  nicht  selten  einen  sexuell  gefarbten  Inhalt  haben,  erkliirt 


238 


Allgemeine  Aetiologie. 


sick  genugsam  claraus,  class  viele  dieser  I^ranlcen  von  ihrem  Genitalleiden 
wissen  und  in  Gedanken  sick  mit  demselken  kesckaftigen.  Auck  geken 
erklarlicker  Weise  die  Reizzustande  im  Genitaltractus  oft  Anlass  zu  ent- 
spreckenden  Illusionen  und  illusionaren  Aiislegungen.  Dakin  gekdrt 
z.  B.  die  Vorstellung  mancker  Kranken,  welckc  an  Kolpitis  oder  Endo- 
metritis leiden,  ikre  Vagina  kekerkerge  allerkand  Ungeziefer  (Ratten, 
Mtiuse  u.  dgk),  man  „elektrisire"  ikre  Genitalien,  um  sie  „mannstoll“ 
zu  macken  u.  s.  f, 

c.  Krankkeiten  des  Nervensystems. 

Begreiflicker  Weise  steken  dieselben  in  viel  engerer  atiologiscker 
Beziekung  zu  den  Psyckosen;  sind  dock  letztere  selbst  zu  den  Krank- 
keiten des  Nervensystems  zu  recknen,  indem  sie  Krankkeiten  der  Hirn- 
rinde  sind.  Diese  atiologiscke  Beziekung  ist  jedock  in  den  wenigsten 
Fallen  so  zu  fassen,  als  sei  die  Psyckose  eine  Folgekrankkeit  des  Nerven- 
leidens.  Vielmekr  sind  beide  meist  coordinirt:  So  ist  z.  B.  allerdings 
ricktig,  class  sekr  kaufig  im  Ansckluss  an  eine  Tabes  eine  Dementia 
paralytica  sick  entwickelt.  Diese  Succession  konnte  zu  der  Annakme  ver- 
leiten,  dass  letztere  eine  Folgekrankkeit  der  ersteren  sei.  Eine  solcke 
Annakme  ist  unricktig.  Beide,  Tabes  (d.  i.  die  Hinterstrangserkrankung 
des  Riickenmarks)  und  Dementia  paralytica  (d.  i.  die  diffuse  Rinden- 
erkrankung  mit  psyckiscken  Symptomen),  sind  coordinirte  Folgekrank- 
keiten  ein  und  derselben  atiologiscken  Momente  (Sypkilis  u.  dgk).  Es  kan- 
clelt  sick  also  lediglick  um  eine  Succession,  nickt  um  einen  causalen 
Zusammenkang.  In  der  Tkat  kommt  es  denn  zuweilen  auck  vor,  class 
zuerst  die  Dementia  paralytica  auftritt  und  erst  spater  die  tabiscken 
Symptome  kinzutreten.  Ein  aknlickes  Verkaltniss  liegt  bei  den  Psyckosen 
vor,  welcke  im  Ansckluss  an  eine  Polyneuritis  sick  entwickeln  und  clurck 
die  kockgraclige  Unorientirtkeit  und  Incokarenz  sowie  durck  das  fast 
momentane  Vergessen  aller  Sinnesempfinclungen  ausgezeicknet  sind. 
Auck  kier  sind  die  psyckiscken  Krankkeitsersckeinungen  keinesfalls  als 
F 0 1 g e ersckeinungen  der  peripkeren  neuritiscken  Processe  aufzufassen, 
sonclern  auf  analoge  coordinirte  patkologiscke  Processe  im  Associa- 
tionsfasersystem  der  Hirnrincle  zuriickzufiikren. 

Ein  wirklicker  Causalzusammenkang  in  dem  Sinne,  dass  ein  ander- 
weitiges  Leiden  des  peripkeren  oder  centralen  Nervensystems  eine  Ver- 
anclerung  der  Hirminde,  sei  sie  functionell  oder  materiell,  und  somit 
eine  Psyckose  bedingt,  findet  sick  nur  bei  gewissen  Heerderkrankungen 
des  Gekirns.  Letztere  rufen  bekanntlick  ausser  den  Ausfallsersckeinungen, 
welcke  auf  der  Zerstorung  der  Elemente  durck  die  Heerderkrankung 
beruken,  auck  sog.  Fernsymptome  kervor,  welcke  auf  der  Einwirkung 
des  Krankkeitskeerdes  auf  die  nakere  und  fernere  Umgebung  beruken. 


Allgemeine  Aetiologie. 


239 


Diese  Einwirkung  ist  bald  einc  bemmencle,  bald  eine  reizende.  Danacn 
tbeilt  man  die  Feruwirkimgeu  oder  Eernsymptome  ein  in 

1 . Hemmungserscheinungen, 

2.  Keizerscbeinungen. 

Bald  ist  diese  Einwii'kung  durch  die  Blutgefasse  (Compression  u.  s.  f.), 
bald  durch  die  Nervenfasern  (welche  durch  die  Heerderkrankung  beriihrt 
werden),  bald  durch  Druck  vermittelt.  Am  ausgesprochensten  findet 
man  solche  Eernsymptome  erklarlicher  Weise  bei  den  Hirngeschwiilsten, 
da  die  Druckwirkimg  innerhalb  der  geschlossenen  Schadelkapsel  zur 
vollen  Geltung  kommt.  Mit  den  ubrigen  Gebieten  des  Centralnerven- 
systems  ist  auch  die  Hirnrinde  diesen  Fernwii'kungen  ausgesetzt.  Daher 
linden  wir  denn  auch  speciell  bei  den  Hirntumoren  ausgesprochene 
psychopathische  Symptome.  Die  Druckwirkimg  bedingt  zunachst  haufig 
Reizerscheinungen.  So  kann  es  einerseits  zu  klonischen  Krampfen  und 
andrerseits  zu  Hallucinationen  kommen.  Beispielsweise  hat  man  bei 
Geschwulsten  im  Bereich  der  corticalen  Riechsphare  (Gyrus  hippocampi) 
Geruchstauschungen  beobachtet.  Zu  den  Reizerscheinungen  ist  vielleicht 
auch  die  gesteigerte  affective  Erregbarkeit  zu  rechnen.  Die  Hemmungs- 
erscheinungen aussern  sich  einerseits  in  der  Abnahme  der  motorischen 
Leistungsfahigkeit  (taumelnder  Gang)  und*  andrerseits  — auf  psychischem 
Qebiet  — in  einer  allgemeinen  Denkhemmung.  Die  Schwerbesinnlichkeit 
ist  als  hervorstechendes  Symptom  vieler  Tumorkranken  schon  langst  be- 
kannt.  Aehnliches  finden  wir  auch  bei  den  ubrigen  Heerderkrankungen 
des  Gehirns. 

Die  psychischen  An sfa  11  serscheinungen,  welche  eine  Heerderkrankung 
hervorbringen,  sind  erklarlicher  Weise  verhaltnissmassig  gering.  Da  die 
Hirnrinde  in  alien  ihren  Theilen  an  dem  psychischen  Process  mitwirkt, 
so  kann  eine  Heerderkrankung  dii’ect,  d.  h.  als  Ausfallserscheinung  keine 
allgemeinere  psychische  Stoning  (wie  z.  B.  Denkhemmung)  auslosen, 
sondern  nur  den  isolirten  Ausfall  bestimmter  Gruppen  von  speciellen 
Erinnerungsbildern  (z.  B.  der  optischen)  oder  Associationsbahnen  her- 
vorrufen.  Der  sogenannte  Intelligenzdefect  ist  daher  bei  den  Heerd- 
erkrankungen des  Gehirns  meist  nicht  erheblich  und  nur  partiell.  Die 
Hemmung,  also  die  Fernwirkung,  tauscht  einen  grbsseren  Defect  nur 
vor.  Diese  Sachlage  andert  sich,  wenn  statt  einer  singularen  Heerd- 
erkrankung multiple  Heerderkrankungen  (multiple  Sklerose,  multiple  Sy- 
philis des  Centralnervensystems)  vorliegen.  Durch  diese  werden  an  zahl- 
reichen  Stellen  Defecte  von  Erinnerungsbildern  oder  Associationsbahnen 
hervorgerufen,  und  daher  nahert  sich  auch  das  klinische  Bild  mehr 
demjenigen  der  diffusen  organischen  Krankheitsprocesse  der  Hirnrinde, 
d.  h.  also  dem  der  organischen  Psychose  (Dementia  paralytica);  es 
spricht  sich  dies  khnisch  darin  aus,  dass  wir  bei  diesen  multiplen  Heerd- 


240 


Allgemeine  Aetiologie. 


erkranlmngeu  stets  aucli  einen  viel  erlieblicheren  Intelligenz defect  neben 
den  Hemmungserscbeiuungen  finden. 

Wiibrend  in  den  eben  bescbriebenen  Fallen  die  psycboijatbiscben 
Symptome  als  directe  oder  indirecte  Ileerdsymptome  der  Ilirnkrankbeit 
aufznfassen  sind,  finden  wir  in  anderen  Fallen  folgenden  Zusammenhang. 
Die  Heerderkrankung  erzeugt  zuniicbst  nur  gewisse  Ausfallssymptome 
iind  beinwiikungen,  allniablicb  jedocb  beginnt  in  der  Umgebung  des 
Krankbeitsbeerdes  eine  organiscbe  Veriinderung  entziindlicber  Natur 
welcbe  scbliesslicb  aucb  entferntepe  Tbeile  des  Geliirns  in  Mitleiden- 
scbaft  zieben  kann.  Namentlicb  bei  cerebralen  Heerderkrankungen  im 
friibesten  Kindesalter  ist  dieser  reactive  Entziindungsprocess  in  der  Um- 
gebiing  ein  sebr  aiisgedebnter.  Man  bezeicbnet  ibn  gewobnlicb  als  diffuse 
seciindare  Sklerose.  Kliniscb  aussert  sicb  dieselbe  in  der  Regel  in  einem 
mebr  oder  weniger  grossen  Intelligenzdefect.  Diese  Form  des  Scbwacb- 
sinns  kann  somit  mit  gutem  Recbt  als  eine  Folgepsycbose  der  urspriing- 
licben  Heerderkrankung  bezeicbnet  werden.  Bei  dem  Erwacbsenen  kommen 
ganz  abnlicbe  secundare  patbologiscb-anatomiscb  nacbweisbare  Processe 
vor  und  bedingen  gleicbfalls  eine  unter  dem  Bilde  der  secundaren  Demenz 
verlaufende  Folgepsycbose.  So  kennen  wir  z.  B.  eine  Dementia  post 
apoplexiam,  d.  b.  einen  allmablicb  zu  Hirnbamorrbagien  binzutretenden 
Intelligenzdefect,  und  a.  m.  Oft  ist  es  dabei  zweifelbaft,  wie  weit 
‘einzelne  Symptome  dieser  Folgepsycbosen  auf  secundare,  diffuse,  or- 
ganiscbe Veranderungen  in  der  Umgebung  des  Krankbeitsbeerdes 
oder  auf  functionelle  Fernwirkungen  desselben  zuriickzufiibren  sind.  So 
ist  z.  B.  nacb  bamorrbagiscben  Insulten  fast  regelmassig  eine  allmablicb 
zunebmende  affective  Reizbarkeit  (oft  mit  Weinerlicbkeit  gepaart)  zu 
beobacbten.  Ob  diese  nun  auf  eine  fortgesetzt  vom  Krankbeitsbeerd 
ausgebende  functionelle  Reizwirkung  oder  auf  diffuse  organiscbe  Ver- 
anderungen in  der  Umgebung  des  Heerds  zuriickzufubren  sind,  ist  nocb 
unentscbieden.  Der  sicbere  Nacbweis  entsprecbender  organiscber  Ver- 
anderungen stebt  jedenfalls  nocb  aus. 

Scbliesslicb  ist  nocb  der  Tbatsacbe  zu  gedenken,  dass  in  vielen 
Fallen  Gebirnerkrankungen  zwar  nicbt  in  der  eben  erorterten  Weise, 
d.  b.  obne  Hinzutreten  anderweitiger  iitiologiscber  Momente,  zu  dem 
Ausbrucb  einer  Psycbose  fiibren,  indessen  eine  Priidisposition  zu  psycbi- 
scber  Erkrankuug  binterlassen.  Die  Folge  dieser  Priidisposition  ist, 
dass  relativ  scbwacbe  atiologiscbe  Scbiidlicbkeiten  kiinftig  geniigen,  eine 
Psycbose  zum  Ausbrucb  zu  bringen.  Diese  durcb  die  Heerderkrankung 
des  Gebirns  bedingte  neuro-  und  psycbopatbiscbe  Constitution  oder 
Vulnerabilitiit  aussert  sicb  baufig  lediglicb  in  einer  gesteigerten  affec- 
tiven  Erregbarkeit  und  einer  Resistenzlosigkeit  gegen  geistige  Getriinke. 
In  anderen  Fallen  ist  sie  vbllig  latent.  Zuweilen  findet  man  aucb  ganz 


Allgemeine  Aetiologie. 


241 


•ibnliche  somatisclie  imd  psychisclie  Degenerationszeiclien  bei  diesen 
durch  friibe  Gehirukraukbeit  psycbopathiscb-pradisponirten  Individuen, 
me  bei  deu  erblicb  scliwer  belasteten  Individuen,  welche  friiher  ge- 
schildert  wurden. 

Bislier  war  ausscliliesslich  von  organiscben  Erkrankungen  des 
Nervensy stems  und  deren  atiologiscben  Beziebungen  zii  psycbiscben  Er- 
kranknngen  die  Kede.  Nocb  viel  wicbtiger  sind  die  atiologiscben  Be- 
ziebimgen  der  fimctionellen  Neurosen  zu  den  Psycbosen.  Die  wicbtigsten 
dieser  fimctionellen  Neurosen  sollen  im  Folgenden  kurz  von  diesem 
Standpunkt  aus  betracbtet  werden. 

1.  Epilepsie.  Die  genuine  Epilepsie  ist  bekanntlicli  eine  func- 
tionelle  Neurose,  flir  welcbe  ofter  wiederkebrende  Anfalle  toniscb-kloni- 
scber  Kriimpfe  mit  Bewusstseinsverlust  cbarakteristiscb  sind.  Meist  treten 
die  Krampfanfalle  in  unregelmassigen  Zwiscbenraumen  auf,  seltener  mit 
einer  gewissen  Periodicitat.  Nm'  in  seltenen  Fallen  verlauft  eine  genuine 
Epilepsie  obne  psycbiscbe  Veranderungen.  Zunacbst  ist  bervorzubeben, 
dass  als  Aura  eines  epileptiscben  Anfalls,  d.  b.  als  Vorzeichen  desselben 
vor  Scbwinden  des  Bewusstseins  nicbt  selten  Hallucinationen  auftreten. 
Der  eine  Epileptiker  bort  kurz  vor  dem  Anfall  einen  Drobruf,  ein 
anderer  fiiblt  einen  Stick,  ein  dritter  siebt  eine  riesengrosse  scbwarze 
Gestalt  plotzlicb  vor  sick  u.  s.  f.  Aucb  Praecordialsensationen  mit  Angst 
treten  ofter  als  Aura  auf.  Abgeseben  von  diesen  Aurasymptomen  ist  die 
sogenannte  psycbiscbe  epileptiscbe  Degeneration  am  baufigsten. 
Es  bandelt  sick  bei  dieser  nicbt  um  eine  vollentwickelte  Psycbose,  sondern 
um  eine  langsam  fortscbreitende , oft  die  Grenzen  des  pbysiologiscben 
Geisteslebens  nicbt  iiberscbreitende  Veranderung  der  Intelligenz  und  des 
Cbarakters.  Hiervon  sind  die  vollentwickelten  epileptiscben  Psycbosen 
zu  unterscbeiden , welcbe  auf  dem  Boden  einer  solcben  epileptiscben 
psycbiscben  Degeneration  sick  sebr  haufig  entwickeln.  Die  psycbiscbe 
Degeneration  der  Epileptiker  stellt  sick  bei  liingerem  Besteben  einer 
genuinen  Epilepsie  in  uber  80  Procent  aller  Eiille  ein,  um  so  rascber,  je 
gebaufter  die  Anfalle  auftreten.  Die  Anfalle  des  sog.  Petit  mal  scbeinen 
auf  die  Psycbe  nocb  verderblicber  zu  wirken  als  diejenigen  des  Grand 
mal.  Die  Hauptsymptome  der  progressiven  epileptiscben  Degeneration 
sind  folgende: 

a.  Erscbwerung  des  Vo  rstellungsablaufes.  Die  Kranken 
fassen  namentlicb  Neues  scbwerer  auf,  denken  langsamer  und  besinnen 
sick  auf  Jungstvergangenes  nur  mubsam.  Dementsprecbend  wird  aucb 
die  spracblicbe  Articulation  und  Diction  scbwerfalliger  und  langsamer. 
Besonders  ausgesprocben  tritt  diese  Denkstorung  namentlicb  wabrend 
der  leicbten  traumbaften  Benommenbeit  auf,  welcbe  nacb  dem  Krampf- 
anfall  nocb  einige  Stunden  oder  Tage  anbillt. 

Ziehen,  Psyehiatrie. 


16 


242 


Allgciiicine  Aetiologie. 


b.  Abuorme  Zornmutliigkeit  bei  Abstumpfung  der  geistigen 
Iiiteressen:  Der  Epileptische  kann  durcli  Kleinigkeiten  (z,  V>.  leicliten 
Tadel)  in  sinnlose  Wutli  versetzt  werden,  dabei  ist  er  sonst  gleichgiiltig. 
Seiu  gcistiger  Ilorizont  engt  sicli  melir  und  melir  ein.  Seine  Unlust- 
gelilble  bescliriinken  sick  — abgeseken  von  der  erwillinten  Zornmiithig- 
keit  — auf  eine  monotone  Traurigkeit  iiber  das  Eortbestelien  des 
imkeilbaren  Leidens.  Niclit  selten  entwickelt  sick  eine  ausgepragt  liy- 
pockondriscke  Stimmung.  Dieselbe  tritt  1—2  Tage  vor  einem  Krampf- 
anfall  in  inancken  Fallen  starker  kervor.  Neigung  zu  Norgeln  und 
Misstrauen  ist  kiiufig.  Die  Lustgeflikle  besckriinken  sick  auf  die  Be- 
friedigung  der  einfackeren  sinnlicken  Bediirfnisse.  Die  von  vielen  Epilep- 
tiscken  zur  Sckau  getragene  sckmeickleriscke  Verbindlickkeit,  aufopfernde 
Nilckstenliebe  und  asketiscke  Bigotterie  sind  meist  nm’  Maske  fiir  den 
zunekmenden  Egoismus. 

Die  Handlungen  des  ckroniscken  Epileptikers  zeigen  sick  ent- 
spreckend  dieser  intellectuellen  und  affectiven  Einengung  verandert.  Die 
Lebensweise  zeigt  oft  eine  an  Dressur  erinnernde  pedantiscke  Piegel- 
massigkeit,  ein  Kleben  an  Aeusserlickkeiten;  ein  sopkistisches  Sick-im- 
Kreise-kerumdreken  mackt  sick  mekr  und  mekr  geltend.  Bei  fort- 
gesetzter  Steigerung  gekt  die  psyckiscke  epileptiscke  Degeneration  all- 
maklick  in  die  vollentwickelte,  in  der  speciellen  Patkologie  zu  bespreckeude 
Demenz  iiber. 

Ausser  dieser  sog.  psyckiscken  epileptiscken  Degeneration  kommen 
bei  der  genuinen  Epilepsie  auck  sekr  kaufig  vollentwickelte  Psyckosen 
vor.  Die  acuten  Formen  dieser  Psyckosen  treten  nickt  selten  auck 
ganz  unabkiingig  von  der  erwiilinten  psyckiscken  Degeneration,  initunter 
lange  vor  merklickem  Eintritt  der  letzteren  auf.  Abgeseken  von  der 
sogenannten  epileptiscken  Demenz  gekoren  die  sammtlicken  epileptiscken 
Psyckosen  der  kallucinatoriscken  Paranoia  an  und  stellen  eine  Avokl 
ckarakterisirte  Form  derselben  dar.  Zwar  kann  gelegentlick  auck  jede 
andere  Psyckose  in  typiscker  Entwicklung  bei  einem  Epileptiker  auf- 
treten,  aber  grdssere  Haufigkeit  und  eine  ganz  specifische  Gestaltung 
und  Modification  der  Symptome  zeigen  nur  diese  Formen  der  kalluci- 
natoriscken Paranoia.  Die  besonderen  Eigentkumlickkeiten  aller  dieser 
epileptiscken  Paranoiafiille,  welcke  man  auck  als  epileptiscke  Dammer- 
z u s t a n d e bezeicknet,  sind 

1.  Briiskes  Eiusetzen  und  nackfolgende  Amnesie, 

2.  Sckreckkafte,  bunte  Hallucinationen, 

3.  Religios-ekstatiscke  Hallucinationen  (Gottnomenklatur), 

4.  Auffallige  Unorientirtkeit  und  Incokarenz, 

5.  Episodisckes  Auftreten  stuporoser  Pkasen  neben  ausgesprockener 
Verbigeration, 


Allgemeiiie  Actiologio. 


243 


6.  Gewaltthatige  Handlungen  impulsiven  Charakters, 

7.  Lallende,  scaudirende  Spraclie  iiiit  geliauften  Silben-  und  Wort- 
wiederbolungeu, 

8.  Cutane  Analgesie. 

In  der  speciellen  Patbologie  wird  auf  diese  epileptiscben  Dammer- 
zustaude  iiud  die  eigenartigeu  Beziehungen  ihres  Auftretens  zu  den 
Krampfanfallen  nocbmals  zuriickzukommen  sein. 

2.  Hysterie.  Die  Hysterie  ist  eine  functionelle  Neurose,  deren 
Ilauptsymptome  bestimmte  Sensibilitiitsstorungen  (Hemianastliesie , An- 
iistbesie  en  plaques  oder  mit  manscbettenformiger  Abgrenzung),  bestimmte 
seusOrische  Storungen  (concentriscbe  Gesicbtsfeldeinengimg,  Dyscbroma- 
topsie,  Hemianopsie  u.  s.  w.)  und  bestimmte  Druckpunkte  oder  Druckzonen 
(die  sog.  Ovarie)  sind.  Dazu  kommen  ofters  nocb  hysteriscbe  Labmungen 
und  Contracturen,  sowie  namentlicb  die  bysteriscben  Krampfanfalle,  fiir 
welcbe  das  Erbaltenbleiben  des  Bewusstseins , sowie  ein  den  Anfall  ab- 
scbliessendes  Stadium  coordinirter  Bewegungen  (grands  mouvements,  arc 
en  cercle,  attitudes  passionelles)  charakteristiscb  ist.  Aebnlicb  wie  die 
Epilepsie  fiibrt  auch  die  Hysterie  zu  einer  psycbiscben  sog.  bysteriscben 
Degeneration.  Die  Hauptsymptome  derselben  sind  folgende : 

a.  Der  Vorstellungsablauf  zeigt  keine  primaren  formalen  Storungen. 
Nur  die  logiscbe  Cobarenz  und  Consequenz  des  Denkens  feblt  oft.  Die 
Intelligenz  bleibt  — im  Gegensatz  zu  der  epileptiscben  psycbiscben  De- 
generation — intakt.  Unentwickelte  Wabnvorstellungen  im  Sinn  einer 
unbestimmten  Verfolgung,  zuweilen  aucb  erotiscben  Inbalts,  treten  ge- 
legentlicb  auf.  Ungemein  haufig  sind  die  friiber  erwahnten  Erinnerungs- 
entstellungen. 

b.  Die  Gefiiblstone  und  Stimmungen  sind  krankbaft  veranderlicb. 
Durcb  das  Auftaucben  eines  fiir  den  Augenblick  ganz  bedeutungslosen 
Erinnerungsbildes  kann  ein  jaber  Umscbwung  der  Stimmung  bedingt 
werden.  Die  mittleren  Gefublstone  feblen.  Die  Kranken  kennen  nur 
leidenscbaftlicbe  Liebe  oder  gliibenden  Hass.  Da  Abneiguugen  und  Zu- 
neigungen  (sowobl  fur  Personen,  wie  fiir  Gegenstiinde)  durcb  kaum 
merklicbe  Vorstellungen  oder  Empfindungen  bereits  bestimmt  bezw.  ver- 
iindert  werden,  erscbeinen  dieselben  geradezu  als  Idiosynkrasien.  Speciell 
wecbseln  aucb  auf  sexuellem  Gebiet  Liisternbeit  und  Frigiditiit.  Die 
egoistiscben  Gefiible  iiberwiegen  durcbaus.  Altruistiscbe  oder  gar  objec- 
tive Interessen  existiren  kaum.  Hingegen  beansprucben  die  Kranken 
im  bochsten  Maasse,  dass  ibre  Umgebung  in  dem  Mitgefubl  und  dem 
Interesse  an  ibrem  Leiden  aufgebt.  Daraus  entspringt  ibre  Sucbt  zu 
iibertreiben  und  ibre  Neigung  zu  tbeatraliscbem  Gebabren.  Etbiscbe 
Gefublstone  abstracter  Begriffe  baben  fast  gar  keine  Macbt  iiber  die 
Kranken.  Pflicbtbegriffe  baben  daber  auf  das  Handeln  der  Kranken 

16* 


244 


Allgemoiiie  Aetiologie. 


keineu  Einfluss.  Dio  aiigeublicklicben  Gefliblstone  l)cherrscben  sie  voll- 
stiinclig.  Damit  liiingt  aucb  die  liervorstcchende  Unwabrbaftigkeit  der 
moisten  Ilysteriscben  ziisammen.  Ihre  Angaben  worden  nicht  durcb 
den  objectiven  Zusammenbang  der  Erinnerungsbilder,  sondern  durcb  die 
augenblicklichen  Gefiihlstbne  bestimmt.  Dabei  kommt  aucb  die  oben 
erwillinte,  auf  krankbafter  Phantasietliatigkeit  beruhende  Neigung  zu 
Erinnerungsentstellungen  in  Betraclit. 

c.  Die  Empfindungen  erfaliren  sebr  baufig  illusionare  Ealschungen, 
Ebenso  kommen  Hallucinationen  — aucb  obne  vollentwickelte  Psychose 
— gelegentlich  vor. 

d.  Die  Handlungen  entsprechen  den  eben  aufgezahlten  Stbrungen. 
Die  Tliatigkeit  der  Kranken  ist  springend.  Allenthalben  feblt  die  Con- 
seqiienz.  Der  jiibe  Afiectwechsel  macht  die  Kranken  unberechenbar. 
Haufig  sind  impulsive,  auf  plotzlicben  Affectstossen  beruhende  Hand- 
lungen, Das  ganze  Gebahren  ist  auf  Effect  berechnet,  Eiige  unci 
Betrug  feblen  selten,  aber  beide  vollziehen  sich  oft,  obne  dass  die 
Kranken  sicb  bewusst  sind,  dass  sie  liigen  oder  dass  sie  betriigen. 
Durcbweg  uberwiegen  egoistiscbe  Handlungen.  Wo  der  Egoismus  oder 
die  personlicbe  Eitellceit  der  Kranken  verletzt  wird,  kommt  es  zu  den 
raffinirtesten  Kacbeakten. 

Ausser  dieser  sog.  bysteriscben  psycbiscben  Degeneration  kommen 
bei  der  Hysterie  aucb  vollentwickelte  sog.  bysteriscbe  Psycbosen  vor. 
Eine  bysteriscbe  Demenz  — im  Sinne  der  oben  erwabnten  epileptiscben 
Demenz  — existirt  nicbt,  Diimmerzustande , welcbe  den  epileptiscben 
in  vielen  Punkten  durcbaus  analog  sind,  kommen  aucb  bei  der  Hysterie 
vor.  Eine  romanbafte  Farbung  der  Sinnestauscbungen  ist  fiir  diese 
bysteriscben  Dammerzustande  cbarakteristiscb.  Die  Hallucinationen 
steben  untereinander  in  einem  viel  engeren  Zusammenbang.  Es  ban- 
delt  sich  um  zusammenbilngende  ballucinatoriscbe  Erlebnisse,  welcbe 
mit  den  Traumen  des  Geistesgesunden  oft  eine  frappante  Aebnlicbkeit 
baben.  Der  Erinnerungsdefect  nacb  Abklingen  des  Diimmerzustandes 
ist  meist  kein  totaler.  Der  Kranke  weiss  retrospectiv  viel  mehr  sowobl 
liber  seine  wirklichen  wie  uber  seine  ballucinatoriscben  Erlebnisse  mitzu- 
tbeilen  als  der  Epileptiker,  Endlicb  kommen  auf  dem  Boden  der 
Hysterie  chroniscbe  Psycbosen  im  Sinne  der  einfacben  cbroniscben 
Paranoia  viel  baubger  vor  als  auf  dem  Boden  der  Epilepsie.  In  der 
speciellen  Patbologie  wire!  diese  chroniscbe  einfacbe  Paranoia  der  Hyste- 
riseben  eingebend  besproeben  werden. 

3.  Neurastbenie  oder  Nervositiit.  Die  Neurastbenie  ist  eine 
functionelle  Neurose,  deren  klinisches  Bild  weit  weniger  sebarf  umsebrieben 
ist  als  dasjenige  der  Epilepsie  oder  der  Hysterie.  Die  motoriseben 
Stbrungen  besebriinken  sicb  meist  auf  eine  abnorm  rasebe  Ermiidung 


Allgemciiie  Aetiologie. 


245 


eutweder  aller  oder  einzelner  Kdrpermuskeln.  Im  letzteren  Falle  — 
weun  die  Ermiidbarkeit  niir  eiuzelue  Kdrpermuskeln  betrifft  — sind  in 
der  Kegel  nicbt  wie  bei  der  Hysterie  die  Muskeln  einer  Kdrperbalfte 
oder  einer  Extremitiit  betroffen,  sondern  Muskelgruppen , welclie  zu- 
sammen  eine  bestiinmte  Gattung  complicirter  Bewegungen  ausfiibren. 
So  kdnueu  z.  B.  bei  einer  gewissen  Form  der  Neurastbenie  speciell  alle 
diejeuigen  Muskeln,  welche  die  Fixation  gesebener  Objecte  besorgen, 
abuorm  ermiidbar  sein.  Solcbe  Kranken  vermdgen  kaum  einige  Minuten 
zu  leseu,  weil  alsbald  die  Accomodationsmusculatur  und  die  Recti  interni 
versageu.  Bei  anderen  sind  die  Athem-  oder  die  Kau-  oder  die  Geb- 
oder  die  Scbreibmuskeln  u.  s.  w,  abnorm  ermtidbar.  In  alien  diesen  Fallen 
muss  es  dabin  gestellt  bleiben , ob  abnorm  gesteigerte  Ermiidungs- 
empfindungen  die  Bewegungsfabigkeit  storen  oder  ob  die  motoriscben 
Centren  und  Leitungsbabnen  selbst  abnorm  rascb  in  ibrer  Leistungs- 
fabigkeit  sicb  erscbopfen.  Die  sensiblen  und  sensoriscben  Storungen 
bescbranken  sicb  meist  auf  Hyperastbesien  und  Hyperalgesien,  Ob  zu- 
gleicb  die  Ermiidbarkeit  der  sensiblen  und  sensoriscben  Apparate  bezw. 
Centren  gesteigert  ist,  muss  zweifelbaft  bleiben.  Es  ware  sebr  wobl 
denkbar,  dass  die  rascbe  Ermildung  beim  Seben  u.  s.  w.  lediglicb  auf  einer 
rascben  Ermiidung  der  Accomodationstbatigkeit  und  der  Recti  interni 
berubt,  somit  also  ausscbliesslicb  motoriscben  bezw.  muscularen  Ursprungs 
ist.  — Zu  den  constantesten  Symptomen  der  Neurastbenie  zablen  weiter- 
bin  die  sog.  neurastbeniscben  Druckpuncte*)  und  Topalgien.  Enter  den 
visceralen  Storungen  spielen  diejenigen  der  Herz-  und  Gefassinnervationen 
(„vasomotoriscbe  Neurastbenie")  und  der  Magen-  und  Darminnervationen 
(„nervbse  Dyspepsie")  die  Hauptrolle.  Von  den  neurastbeniscben  Par- 
astbesien  war  oben  bereits  die  Rede. 

Wie  die  Epilepsie  und  die  Hysterie  fiibrt  aucb  die  Neurastbenie 
zu  einer  bestimmten  psycbiscben  Veranderung,  welcbe  man  als  „ueu- 
rastbeniscbe  psycbiscbe  Veranderung  oder  Degeneration"  bezeicbnen  kann. 
Wabrend  jedocb  bei  der  Epilepsie  und  oft  aucb  bei  der  Hysterie  die 
psycbiscbe  Veranderung  im  Verlauf,  d.  b.  nacb  liingerem  Besteben  der 
Neui'ose  eintritt,  entwickelt  sicb  bei  der  Neurastbenie  viel  baufiger  die 
psycbiscbe  Veranderung  vor  oder  wenigstens  gleicbzeitig  mit  den  soma- 
tiscben  Veranderungen.  Es  kann  daber  nicbt  wobl  von  einer  atio- 
logiscben  Rolle  der  Neurastbenie  gegenliber  der  psycbiscben  Ver- 
anderung gesprocben  werden,  sondern  die  psycbiscbe  Veranderung  ist 
eine  Tbeilerscbeinung  der  gesammten  Krankbeit.**)  Indem  wir 

*)  Zum  Theil  clecken  sicli  diese  allerdings  mit  den  hysterischen  Druckpunkten. 
Ueberhaupt  existiren  zwischen  Neurastbenie  und  Hysterie  zablreiche  Uebergange,  ohne 
dass  desbalb  die  Neurastbenie  einfach  als  eine  „Abart  der  Hysterie"  zu  bezeicbnen  ware. 

**)  Aucb  von  der  hysteriscben  psycbiscben  Veranderung  gilt  dies  in  yielep  Fallen, 


246 


Allgemoine  Aetiologic. 


claher  eine  genauere'  Beschreibung  clerselben  der  speciellen  Patbologie 
(s.  neurastbenisclies  Irresein)  vorbebalten,  fiibren  wir  bier  nur  die  Ilaupt- 
symptome  der  neurastheniscben  psycbiscben  Verilnderung  auf.  Es  sind 
dies  ausser  den  sclion  erwiihnten  riyperiisthesien , Ilyperalgesien  und 
Pariistbesien  namentlicb  folgende: 

a.  Auf  dem  Gebiete  der  Affecte  eine  abnornie  Reizbarkeit.  Die- 

selbe  aussert  sicb  darin,  dass  geringfiigige  Anlasse  sebr  erbeblicbe  und 
namentlicb  sebr  nacbbaltige  Afi'ectscbwankungen  bervorrufen.  Zuweilen 
kommt  es  aucb  — namentlicb  bei  den  vasomotoriscben  Formen  — zu 
Angstaffecten.  1 

b.  Stbrungen  der  Aufmerksamkeit  meist  im  Sinne  einer  Hyper-  j| 
prosexie,  seltener  im  Sinne  einer  Hypoprosexie. 

c.  Storungen  des  Vorstellungsablaufs  und  zwar  wecbseln  Bescbleuni-  i 
gungen  und  Verlangsamungen  aucb  bei  demselben  Kranken  in  unregel- 
massiger  Weise  ab.  Sebr  baufig  ist  aucb  eine  leicbte,  aber  qualvolle  • 
Incobarenz  der  Ideenassociation, 

d.  Neigung  zu  Zwangsdenken  und  Zwangsvorstellungen.  i 

e.  Neigung  zu  bypocbondriscben  Wabnvorstellungen. 

Wabrend  die  Epilepsie  und  die  Hysterie  zu  eiuigen  an  Zabl  ziemlicb 

bescbriinkten , durcb  cbarakteristiscbe  Farbung  des  kliniscben  Bildes 

ausgezeicbneten  Psycbosen  fiibren,  kennen  wir  solcbe  neui-astbeniscbe  ' 

Psycbosen  nicbt.  Vielmebr  kann  sicb  und  pflegt  sicb  in  der  That  aucb 

baufig  genug  jede  Psycbose  auf  dem  Boden  der  Neurastbenie  zu  ent- 

wickelu.  Sowobl  die  organiscb  bedingteu  Psycbosen  wie  die  functionellen  • 

Psycbosen  geben  baufig  allmahlich  aus  der  Neurastbenie  bervor  oder  • 

brecben,  bei  Hinzutritt  einer  Gelegenbeitsveranlassung , plotzlicb  bei  . 

einem  neurastbeniscben  Individuum  aus.  Die  Neurastbenie  stellt  somit 

den  frucbtbarsten  Bodeb  fiir  den  Ausbrucb  der  verscbiedensten  Psycbosen ' ; 

dar.  Oft  decken  sicb  die  fr fiber  erwabnte  erblicbe  neuropsycbo-  | 

i 

patbiscbe  Konstitution  unddiejetzt  besprocbene  neur astbeniscbe ; 
neuropsycbopatbiscbe  Veranderuug  in  vielen  Zfigen.  Man  kann  oft  < 
geradezu  verfolgen,  wie  auf  dem  Boden  einer  erblicben  Veranlagung  | 
zuiuicbst  Neurastbenie  und  auf  dem  Boden  dieser  letzteren  irgend  eine  f 
acute  oder  cbroniscbe  Psycbose  sicb  entwickelt.  J 

4.  Cborea.  Die  atiologiscben  Beziebungen  der  Cborea  zu  deuJi 
Psycbosen  sind  erbeblicb  weniger  wicbtig.  Ganz  abzuseben  ist  bier  ,.| 
von  solcben  Fallen,  wo  die  cboreatiscben  Bewegitngen  lediglicb  ein : | 
Symptom  der  der  Psycbose  zu  Gruude  liegendeu  Hiruerkraukuug  clar-  J 
stellen,  ein  Vorkommniss,  welcbes  namentlicb  bei  Dementia  paralytica  p' 
gelegentlicb  beobacbtet  wu'd.  Die  psycbiscben  Veranderungen , welcbej 
im  Verlauf  einer  Cborea  auftreten,  sind  gewobnlicb  wenig  ausgesprocben.S: 
Meist  bescbrankt  sicb  die  cboreatiscbe  psycbiscbe  Verauderung  auf  einef 

I 


Allgemeine  Aefciologio. 


247 


abnorme  Steigerung  der  affectiven  Erregbarkeit  (namentlich  Zornmlithig- 
keit),  sowie  aiif  eine  leiclite  ideenfliichtige  Incobarenz  des  Vorstellungs- 
ablaufs  mit  Hyperprosexie.  Zuweilen  kommt  es  aiicli  zu  vereinzelten 
Halliicinationen.  Die  volleutwickelten  Psycbosen,  welche  auf  dem  Boden 
bezw.  im  Verlauf  der  Sydenbam’sclien  Chorea  auftreten,  gehbren  zmneist 
der  liallucmatorisclien  Form  der  acuteu  Paranoia  an. 

5.  Cerebrale  Erschopfung. 

Wenn  das  Nervensystem  zn  einer  iiberniassigen  Arbeit  gezwungen 
ist  nnd  zngleich  seine  Ernahrung,  d.  h.  die  Wiederersetzimg  der  bei 
der  Function  zersetzten  Stoffe,  mangelhaft  ist,  so  tritt  der  Zustand 
ein,  welcben  man  als  cerebrale  Erschopfung  bezeichnet.  Eine  solcbe 
cerebrale  Erschopfung  kann  in  der  mannigfaltigsten  Weise  entstehen. 
Korperliche  Strapazen  nnd  geistige  Ueberarbeitung  kommen  einerseits 
als  aufreibende  Momente  in  Betracht,  wahrend  andererseits  ungeniigende 
Nahrungsaufnahme , Anamie  (sie  sei  constitutionell  oder  durch  schwere 
Blutverluste  entstanden),  Mangel  an  Schlaf  u.  dgl.  es  nicht  zu  eifter  Besti- 
tution  der  im  Uebermaass  in  Anspruch  genommenen,  iibermhdeten  Rin- 
denelemente  kommen  lassen.*)  Speciell  das  kindliche  Gehiru  verfiillt 
leicht  einer  solchen  Erschopfung.  Die  intellectuelle  Ueberbiirdung  un- 
serer  Schulerziehung  giebt  einen  Hauptfactor  fiir  dieselbe  ab.  Auch 
sexuelle  Excesse  (Masturbation  n.  s.  w.)  kommen  in  Betracht.  Die  psychi- 
sche  Veranderung,  welche  dnrch  die  cerebrale  Erschopfung  hervorgeru- 
fen  wil’d,  ist  namentlich  durch  die  Verlangsamung  und  die  Incoharenz 
des  Vorstellungsablaufs  ausgezeichnet.  Die  Kranken  sind  schwerbesinn- 
lich.  Sie  klageu  oft  selbst,  dass  sie  nicht  mehr  zu  denken  und  ihre 
Gedanken  nicht  mehr  auszudriicken  wiissteu,  dass  der  Gedankenfaden 
ihnen  so  oft  abreisse.  Zu  anhaltender  energischer  Arbeit  sind  sie  un- 
fahig.  Die  sensorischeu  Geflihlstone  sind  oft  in  dem  Siune  verandert, 
dass  schon  geringe  Reizstarken  unertragliche  Unlustgefiihle  hervorrufen. 
Die  intellectuellen  Gefiihlstone  sind  umgekehrt  meist  herabgesetzt.  In 
^ielen  Fallen  kommt  es  auf  Grund  dieser  cerebralen  Erschopfung  auch 
zu  volleutwickelten  Psychosen.  Man  bezeichnet  diese  Psychosen  als  Er- 
schopfungspsychosen  oder  asthenische  Psychosen.  Gemeinsam  ist  den 
meisten  dieser  asthenischen  Psychosen  eine  erhebliche  Verlangsamung 
und  Incoharenz  des  Vorstellungsablaufs.  Auch  in  den  Hallucinationen 
und  Wahnvorstellungen  fallt  die  Abgerissenheit  auf.  Auf  motorischem 
Gebiet  herrscht  mehr  oder  weniger  Resolution  vor;  dieselbe  wird  jedoch 
oft  durch  plotzliche  Erregungszustande  wahnhaften  oder  hallucinatori- 

*)  Dass^bei  den  sog.  Fieberpsychosen  ausser  der  Temperaturerhohung  und  der 
toxischen  Einwirkung  von  Microorganismen  auch  die  Ernabrungsstbrung  eine  grosse 
Rolle  spielt,  wurde  oben  bereits  erwahnt. 


248 


Allgemeine  Aetiologie. 


schen  Ursprungs  imterbrochen.  Gelegentlicli  kann  jede  Psychose  auf 
dem  Boden  der  cerebralen  Erscbbpfiing  auftrcten  (so  z.  B.  auch  die 
Manie).  Am  haufigsten  begegnet  man  der  Neurastlienie  und  der  sog. 
Stupiditat,  nachstdem  der  halliicinatoriscben  und  incoliarenten  Form  der 
Paranoia  sowie  den  fliessenden  Uebergangsformen,  welcbe  zwiscben  der 
liallucinatoriscben  und  incoharenten  Paranoia  einerseits  und  der  Stupi- 
ditat andrerseits  vorkommen. 

Auf  Grund  dieser  Erorterungen  wird  es  auch  verstandlich , dass 
nach  schweren  erschbpfenden  Psychosen  dfters  ein  Erschopfungsstadium 
mit  den  charakteristischen  Merkmalen  der  Erschopfungspsychose  folgen 
kann.  Die  erste  auf  Grund  eines  beliebigen  anderen  atiologischen  Mo- 
ments entstaudene  Psychose  bedingt  hier  eine  schwere  cerebrale  Er- 
schopfung  und  so  gewissermaassen  eine  zweite  Psychose. 

6.  Gemuthserschutterungen. 

Enter  den  momentan  einwirkenden  Affecten  spielt  der  Schrecken 
die  grosste  Eolle.  Bei  erblich  belasteten  oder  anderweitig  ueuropsycho- 
pathisch  veranlagten  Individuen  kann  derselbe  geniigen,  j ah  lings  eine 
acute  Psychose  hervorzurufen.  In  anderen  Fallen  beobachtet  man 
keine  vollentwickelte  Psychose,  sondern  lediglich  pathologische  Verande- 
rungen  der  Affecte  selbst.  So  fiihren  namentlich  Schrecken,  Angst  und 
Zorn  oft  zu  sog.  „pathologischen  Affectzustanden".  Dieselben  sind  da- 
durch  ausgezeichnet,  dass  die  Dauer  und  Intensitat  des  Affects  in  gar 
keinem  Verhaltniss  zu  der  auslosenden  Ursache  steht.  Hemmung  (bis 
zu  volligem  Mutismus),  Incoharenz,  Unorientirtheit,  vereinzelte  Halluci- 
nationen  und  auch  Wahnvorstellungen  kommen  zu  der  pathologischen 
Affectsteigerung  hiuzu.  Die  Dauer  eines  solchen  pathologischen  Affect- 
zustandes  (oder  transitorischen  Affectirreseins)  belauft  sich  auf  einige 
Stunden  bis  zu  einigen  Tagen.  Schwere  Gewaltthaten  und  sinnloses 
Fortlaufen  kommen  in  diesen  Anfallen  haufig  vor.  Fast  stets  liegt 
erbliche  Belastung  oder  ein  anderweitiges  pradisponirendes  Moment 
vor.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich , dass  die  schweren  Begleiterschei- 
nungen  der  j)athologischen  Affectsteigerungen  auf  plotzliche  durch  den 
Affect  bedingte  Storungen  der  Gefassinnervation  zuruckzufiihren  sind. 
Nach  dem  Ausgleich  der  Storungen  besteht  stets  eine  vollige  oder 
wenigstens  hochgradige  Amnesie. 

Noch  viel  wirksamer  in  der  Hervorbringung  von  Psychosen  sind 
langsam  und  lange  einwirkende  Gemuthserschutterungen.  Sorge,  Aerger, 
Gram,  Zuriicksetzung  kommen  hier  namentlich  in  Betracht.  Wie  wir 
uns  den  storenden  Einfluss  dieser  chronischen  Affecte  auf  die  Hirnriude 
zu  denken  haben,  muss  noch  dahin  gestellt  bleiben.  Bald  tragen  sie 


Allgemeiiie  Aetiologie. 


249 


zur  Entwicklimg  organischer  Psychosen  (Dementia  paralytica)  bei,  bald 
fiihren  sie  zn  einer  functionellen  Psychose  und  zwar  ineist  zu  einer 
acnten  oder  chronisclien  P^iranoia.  Ein  sehr  cliarakteristisches  Beispiel 
fill-  die  letztere  Entwicklimg  liefert  der  sog.  Gouvernantenwahnsinn.  Es 
handelt  sich  bei  diesem  meist  nin  eine  subacute  oder  chronische  Form 
der  Paranoia,  welche  auf  Grund  jahrelanger  Affectschadigungen  bald 
plotzlich  auftritt,  bald  allmahlicli  sich  entwickelt.  Nahrungssorgen, 
Heiinweh,  gesellschaftliche  Zuiiicksetzungen,  welche  von  diesen  Erziehe- 
rinnen  urn  so  mehr  empfunden  werden,  als  ihre  thatsachliche  geistige 
Ueberlegenheit  oft  einen  verhaltenen  geistigen  Hochmuth  erzeugt  hat, 
vereinigen  sich,  das  Nervensystem  aufzureiben. 

Nicht  selten  kann  man  beobachten,  wie  diese  chronischen  Atfecte 
ganz  allmahlich  eine  bestimmte  Charakterveranderung  erzeugen,  z.  B. 
eine  Neigung  zu  Misstrauen  und  Hochmuth,  welche  ganz  fliessend  in 
pathologischen  Verfolgungs-  und  Grossenwahn  (Paranoia  chronica)  liber- 
geht.  Solche  Psychosen  erwecken  den  Anschein  einer  psychologischen 
Motivii-ung.  In  anderen  Fallen  fehlen  solche  bestimmten  Bindeglieder 
und  man  beobachtet  nur,  wie  unter  der  Einwirkung  chronischer  Affecte 
die  affective  Erregbarkeit  im  Allgemeinen  zuniichst  zunimmt  und  dann 
diese  oder  jene  Psychose  ohne  bestimmten  Zusammenhang  mit  den 
vorausgegangenen  Affectschadigungen  sich  entwickelt. 

Fehler  in  der  Erziehung  spielen  hierbei  eine  grosse  Bolle.  Das 
Kind  wil’d  nicht  gewiihnt,  seine  Affecte  zu  beherrschen.  Die  Abhartung 
gegen  psychische  Unlust  wird  ebenso  versaamt  wie  die  Abhartung  gegen 
physischen  Schmerz.  Gerade  in  den  besseren  Gesellschaftsklassen  konnen 
die  Kinder,  welche  die  Schule  verlassen,  zahllose  Verben  conjugiren 
und  unzahlige  Jahreszahlen  hersagen,  aber  keiner  Versuchung  zur  Lust 
widerstehen  und  keine  negative  Gefhhlsschwankimg  ruhig  ertragen.  Ihre 
ganze  Ideenassociation  und  ihr  Handeln  wird  von  Lust-  und  Unlust- 
affecten  geknechtet.  Dass  in  solchen  Gehirnen  spater  die  Affecte  oft 
pathologische  Storungen  der  psychischen  Thatigkeit  hervorrufen,  ist 
ohne  Weiteres  verstiindlich. 

’ 7.  Imitation  (psychische  Infection). 

Der  Umgang  mit  Geisteskranken  als  solcher  birgt  fiir  den  Unbe- 
lasteten  keine  erhebliche  Gefahr  psychischer  Erkrankung.  Hingegen  ist 
bei  erblich  belasteten  Individuen  psychische  Erkrankung  im  Anschluss 
an  haufigen  Verkehr  mit  Geisteskranken  schon  ofter  beobachtet  worden. 
In  solchen  Fallen  handelt  es  sich  jedoch  meist  nicht  um  eine  directe 
Uebertragung,  sondern  der  Verkehr  mit  Geisteskranken  wirkt  schadigend 
durch  die  mit  ihm  verbundenen  Gemiithserschutterungen  und  kdrperlichen 


250 


Allgemeinc  Prognostik, 


unc  geistigen  Ueberanstrengungen.  Filllc  directer  Uebcrtragung  sind  sebr 
selten.  Man  spriclit  in  solchen  Fallen  von  inducirtem  Irresein  (Folie 
coinmnmqiiee,  folie  a deux).  Fast  inimer  haudelt  es  sich  um  Individuen 
welclie  in  stetem  Contact  miteiuander  leben,  meist  um  Ehegatten  oder 
Gescbwister.  Das  ersterkrankte  Individuiim  A ist  gewobnlicli  das  willens- 
stiiikere.  Oft  kanu  man  feststellen,  dass  scbou  in  gesunden  Zeiten 
dasselbe  grossen  Einfluss  auf  das  zweite  Individuum  B ausgeiibt  bat 
Diesel-  Einfluss  macht  sich  nun  auch  im  Verlauf  der  Erkrankung  von  A 
geltend.  Allmahlicli  passt  sich  das  Individuum  B den  kraukhafteu 
Stimmungen  von  A an  und  denkt  sich  in  seine  Wahnideen  hinein. 
Mitunter  kann  man  geradezu  von  einer  Suggestion  im  Wacheu  sprechen. 
Zuweilen  unterrichtet  A geradezu  B in  seineu  Wahnideen.  B verhalt 
sich  bald  gauz  passiv , bald  jiasst  es  die  Wahnvorstellungen  seiner 
speciellen  Denkweise  an  oder  gestaltet  dieselben  weiter  aus.  Auch  zu 
einer  Riickwirkung  von  B auf  A kann  es  .kommen , indem  B seinerseits 
seine  Zuthaten  zu  den  von  A iibefkommenen  Wahnvorstellungen  auf  A 
iibertragt. 


Die  meisten  dieser  Zwillingspsychosen  gehoreu,  soweit  A in  Betracht 
kommt,  der  chronischen  Paranoia  an.  Fast  stets  liegt  erbliche  Be- 
lastung  vor.  Wird  das  Individuum  B dem  dominirenden  Einfluss  von 
A entriickt,  so  verschwinden  nicht  selten  die  inducirten  Affecte  und 
Wahnvorstellungen  bei  B ausserst  schnell.  Die  Psychose  von  A ist 
meist  unheilbar,  weil  es  sich  eben  meist  um  chronische  Paranoia  handelt. 


V.  Allgemeine  Prog-nostik. 

Eine  Psychose  kann  ausgehen  in 

1.  Heilung, 

2.  Heilung  niit  Defect,  ‘ i 

3.  Secundare  Demenz, 

4.  Tod,  ; 

5.  kann  sie  unverandert  bleiben.  • ^ 

Der  Procentsatz  der  vblligen  Heilungen  ist  fiir  die  einzelnen  Psy-  * 
chosen  enorm  verschieden.  Es  giebt  Psychosen,  welche  in  90 “o  ^^er  * 
Eiille  bei  sachgemiLsser  Behandlung  mit  vblliger  Heilung  euden  (z.  B.  die 
einfache  Melancholie),  und  andere,  bei  welchen  Heilungen  zu  den  grbssteu 
Seltenheiteu  gehoren  (Dementia  jiaralytica). 

Die  Prognose  quoad  sanationem  completam  hiingt  uamentlich  von 
folgenden  Factoren  ab:  ; 


Allgemeine  Prognostik.. 


251 


1.  Von  der  Diagnose,  insofern  die  eine  Psychose  erfahrungsgeinass 
eine  viel  giinstigere  Prognose  giebt  als  die  andere. 

2.  Von  der  vVetiologie.  Psycbosen,  deren  Hanptentstehungsiirsaclie 
ihrer  ganzen  Natur  nacli  voriibergebend  (wie  z.  B.  Schreck)  oder  der 
Therapie  erfahrungsgeinass  zuganglich  ist  (Aniiinie  u.  s.  w.),  geben  eiue 
bessere  Prognose  als  solcbe,  deren  iitiologiscbe  Factoren  clironiscb  wirk- 
sam  iind  niclit  zu  beeinflussen  sind.  Iin  Einzelnen  ist  nocb  Folgendes 
zu  benierken.  Holies  Alter  scbiidigt  die  Prognose.  Uebergang  in  seciin- 
diire  Denienz  ist  bei  Alterspsycbosen  erbeblicb  liaiifiger  als  z.  B.  bei 
Pnbertatspsycbosen.  Erbliche  Belastimg  verschlechtert,  selbst  wenn  sie 
bocbgradig  ist,  bei  aciiten  Psycbosen  die  Prognose  nicht.  Im  Gegen- 
tbeil  tritt  die  Heilimg  ziiweilen  iiberrascbend  plotzlich  und  friib  ein.  Docli 
■v\drd  die  Prognose  insofern  getriibt,  als  die  Gefabr  eines  Riickfalls  oder 
eines  periodiscben  Verlanfs  grosser  ist.  Die  Prognose  cbroni sober 
Psycbosen,  d.  b.  Psycbosen,  deren  erste  Symptome  sicb  sebr  langsam  ent- 
wickelt  baben,  ist  bei  erbbcber  Belastung  nocb  nngiinstiger,  als  sie  es 
obnebin  — d.  b.  aiicb  obne  erblicbe  Belastung  — ist.  Enter  den  Intoxi- 
cationspsycbosen  ist  die  diircbaus  iingiinstige  Prognose  des  cbroniscben 
Alkobolismus  und  Morpbinismus  bemerkenswertb.  Zwar  beilen  die  acuten 
Psycbosen,  welcbe  auf  dem  Boden  dieser  cbroniscben  Intoxicationen  auf- 
treten,  fast  stets,  aber  die  psychiscbe  Degeneration,  welcbe  der  cbroniscbe 
Alkobol-  bezw.  Morpbiumgebraucb  erzeugt,  bildet  sicb  fast  niemals  ziiriick. 
Es  kommt  binzu,  dass  selbst  nacb  nionate-  und  jabrelanger  Entziebung 
des  Giftes  (z.  B.  diircb  Aiifentbalt  in  einer  gescblossenen  Anstalt)  in 
Folge  der  krankbaften  Energielosigkeit  der  Patienten  fast  stets  Ruck- 
falle  in  den  Alkobol-  bezw.  MorpMummissbraucb  eintreten,  sobald  dieselben 
wieder  sicb  selbst  liberlassen  sind,  also  z.  B.  aus  der  Anstalt  beurlaubt 
werden.  Die  Syphilis  ist  als  atiologiscber  Factor  von  sebr  verscbiedener 
prognostiscber  Bedeiitung,  je  nacbdem  es  sicb  urn  die  directe  Erzeugung 
cbarakteristisch  sypbilitiscber  Neubildungen  im  Gebum  bandelt,  oder  um 
die  indirecte,  wabrscbeinlicb  durcb  Sypbibstoxine  vermittelte  diffuse 
Alteration  des  parencbymatosen  und  interstitiellen  Gewebes  der  Hirn- 
rinde.  Gegen  letztere  Alteration  ist  unsere  Tberapie  erfahrungsgeinass 
fast  macbtlos. 

3.  Von  bestimmten  Einzelsymptomen.  Jedes  Zeicben,  welches  er- 
worbenen  Intelligenzdefect  beweist,  ist  von  nngiinstiger  Vorbedeutung. 
Desgleicben  ist  es  von  nngiinstiger  Vorbedeutung,  wenn  affective  Wabn- 
vorstellungen  sicb  von  den  primaren  Affectstorungen  unabbangig  macben. 
Ebenso  deutet  Systeraatisirung  von  Wabnvorstellungen,  wie  friiber  scbon 
erwabnt,  auf  cbroniscben  Verlauf.  Endlicb  wu'd  man  Psycbosen,  welcbe 
mit  primaren  Wabnideen  einsetzen,  meist  ungunstig  beurtbeilen  miissen. 
Erfabrungsgemilss  nebmen  solcbe  fast  stets  einen  cbroniscben  Verlauf. 


252 


Allgemeine  Prognostik. 


Lahmungserscheinungen,  welche  ihrei-  Combination  nacli  nicht  aut  eino 

diffuse  R"i„‘'dn  konnon,  sondern  auf  nine 

1 -I,  iieikiankimg  deiiten,  weisen  stets  auf  schwere  meist 

uuheilbare  organisclie  Psychosen  hiu  ’ 

eine/hohr  Veranlagung.  Die  Gefahr  des  Uebergangs 

emei  1 eilbaieu  Psychose  m secundare  Demenz  ist  im  Ganzen  bei  geisl^ 

scbwacb  veranlagten  Individuen  grosser  als  bei  gut  veranlagten.  ^ 

I - If  Defect  verstebt  man  eine  Heibmg  mit 

leicbtem  Intelbgenzdefect.  Die  secundare  Demenz  stellt  einen  scbweren, 
meist  nocb  dazu  progressiven  Intelbgenzdefect  dar.  Der  Intelbgenzdefect 
cer  sog.  „Heilung  mit  Defect'^  ist  viel  unerbeblicber  und  nicht  fort- 
scbreitend  Fur  die  gewobnlicbe  Betrachtung  scbeinen  solcbe  mit  Defect 
gebeilte  Kranken  vollig  gebeilt.  Erst  eine  genaue  Vergleicbung  des 
psycbiscben  Zustandes  nacb  Ablauf  der  Psychose  mit  demjenigen  vor 
Beginn  der  Psychose  lebrt,  dass  der  Kranke  eine  Einbusse  erlitten 
bat  Seme  gewohnbcben  Berufsgescbafte  besorgt  er  aberdings  nocb  un- 
gefahr  ebenso  wm  friiber,  aber  sein  Urtbeil  in  complicirten  Fragen  bat 
an  Weitsicbtigkeit  und  Scbnebigkeit  merklicb  verloren.  Ebenso  fabt  bei 
emem  solcben  genaueren  Vergleicb  auf,  dass  die  Gefuhlstbne  des  Kranken 
eine  Einengung  und  einen  Niedergang  erfabren  baben.  Die  Gefuhlstbne 
c er  complicirteren  Vorstebungen , die  etbiscben  und  altruistiscben  Ge- 
fuble,  wie  die  iistbetischen  und  intebectueben  Interessen  sind  abge- 
stumpft.  Das  geistige  Niveau  des  Kranken  ist  urn  eine  oder  mebrere 
Stufen  gesunken.  Bei  Frauen,  welche  eine  solcbe  Heilung  mit  Defect 
erfabren  baben,  fabt  oft  ein  merklicber  Mangel  an  Scbamgefiibl  auf. 
Macbt  man  dieselben  auf  solcbe  Verstbsse  aufmerksam,  so  ergiebt  sich, 
dass  den  ,,Gebeilten"  ein  adaquates  Verstandniss  und  Gefubl  fiir 
Scbicklicbkeit  feblt.  Bei  Mannern  kommt  es  oft  zu  aberband  Ex- 
cessen,  deren  patbologiscber  Ursprung  sicb  darin  verratb,  dass  sie  zu 
den  Lebensgewobnbeiten  vor  der  Psychose  in  scbneidendem  Wider- 
sprucb  steben.  Gelegentlicb  kommt  es  sogar  vor,  dass  dieser  die 

Heilung  begleitende  Defect  die  Gebeilten  mit  clem  Strafgesetz  in  Con- 
flict bringt. 

Die  secundare  Demenz  wu’d  in  der  specieben  Patbologie  eine 
besondere  Besprecbung  finden.  Es  sob  bier  nur  bervorgeboben  werden, 
class  zwiscben  der  Heilung  mit  Defect  und  dem  Ausgang  in  secundare 
Demenz  zablreicbe  Uebergiinge  vorkommen. 

Tbdtlicber  Ausgang  ist  am  baufigsten  bei  den  Psycbosen  auf 
organischer  Grundlage.  Bei  Besprecbung  der  Dementia  paralytica,  einer 
organiscben  Psychose,  welche  fast  stets  binnen  2 — 5 Jabren  zum  Tode 
fiibrt,  wire!  iiber  die  specieben  Ursacben  dieses  tbdtlicben  Verlaufes  aus- 
fiihrlicb  zu  spreeben  sein.  Bei  den  functioneben  Psycbosen  ist  tbdtlicber 


Allgemeine  Therapie. 


253 


Aiiso-aug  seltcner,  immerhin  jeclocli  beclingen  aucli  functionelle  Psycliosen 
eine  Reilie  von  Lebensgefaliren.  Oft  fiilirt  Herzscliwaclie  in  Folge  nn- 
o-eniigencler  Ernabrnng  bei  excessivem  Krafteverbraucli  zum  Tode.  Andere 
Kranke  werden  von  Pneumonie,  Limgengangran,  Pleuritis  oder  Tuber- 
kulose  bingerafft.  Speciell  die  Morbiditat  fiir  Pneumonie  imd  Tuber- 
kulose  ist  bei  den  Geisteskranken  erlieblich  grosser  als  bei  Geistes- 
o-csunden.  Die  Pneunionien  verlaufen  hilufig  sebr  versteckt.  In  iiber 
der  Hillfte  der  Falle  enden  sie  todtlicb.  Haufig  wird  aucb  durcb  schwere 
Darmkatarrhe  (meist  infectiosen  Cbarakters)  der  Tod  herbeigefiihrt.  Bei 
unreiulicben  Kranken  beobacbtet  man  scbwere  Pblegmonen,  tbdtlicbes 
ErysiiJel  n.  s.  w.  Endlicb  ist  der  Gefabr  der  Selbstverletzung  und  speciell 
des  Selbstmords  zn  gedenken,  anf  welcbe  bei  Besprechung  der  Therapie 
specieller  eingegangen  werden  soli. 

Die  Erfabrung  lebrt,  dass  besonders  ein  bestimmter  Symptomen- 
complex  bei  functionellen  Psycbosen  in  der  Mebrzabl  der  Falle  todtlicb 
endet.  Es  ist  dies  der  Zustand,  der  fruber  als  Delirium  acutum  be- 
scbrieben  wurde  und  dessen  Hauptsymptome  Unorientirtbeit,  Incobarenz, 
Agitation  und  Temperaturerbdbung  sind.  Fast  zwei  Drittel  der  Falle, 
welcbe  diesen  Zustand  zeigen,  enden  todtlicb.  Man  findet  ibn  am 
baufigsten  bei  der  sog.  Mania  gravis,  sowie  bei  gewissen  Formen  der 
acnten  Paranoia. 

Ein  ganz  un  veran  d ertes  Eortbesteben  der  Psycbose  bis  zum 
Lebensende  ist  nur  bei  der  cbroniscben  Paranoia  baufiger,  und  aucb 
bei  dieser  entdeckt  die  genauere  Beobacbtung  leicbtere  Scbwankungen  und 
Veranderungen  des  Krankbeitsbildes.  Bei  den  meisten  anderen  fuuctio- 
nellen  Psycbosen  tritt,  falls  Heilung  ausbleibt,  ein  mebr  oder  weniger 
..  grosser  Intelligenzdefect  im  Sinne  der  oben  erwiibnten  secundaren  De- 
menz  ein. 

VI.  Allgemeine  Therapie. 

• 

Die  Propbylaxe  geistiger  Erkrankung  griindet  sicb  selbstver- 
standlicb  ganz  auf  die  Lebren  der  allgemeinen  Aetiologie.  Eine  specielle 
Wicbtigkeit  erlangt  sie  bei  der  Erziebung  erblicb  belasteter  oder  aus  ander- 
weitigen  Grunden  neuropsycbopatbiscb  veranlagter  Kinder.  Der  Haus- 
arzt  kann  durcb  zweckmassige  Ratbertbeilung  in  dieser  Ricbtung  sebr 
viel  zur  Verbutung  von  Geistesstbrung  beitragen.  Namentlicb  kommen 
folgende  Momente  bei  der  Erziebung  und  Bebandlung  soldier  Kinder  in 
Betracbt : 

1,  Vermeidung  von  Kaffee,  Tbee,  Bier,  Wein  u.  s.  w. ; 

2.  Kraftige  Ernabrung  (Milcb,  Eier); 


254 


Allgemeine  TLcrapie. 


3.  Vei'langsamung  dor  inteilectuellen  Entwickeluug’)  (Sclmlbesuch 

ev.  erst  vom  7.  Lcbensjahre  ab),  specicll  /uriickbalUmg  der  ft.twiokeZg 
der  lliantasie  (Ueberwacliimg  der  Lecture);  ^ 

4.  Regelrniissige  Abwechslung  von  Arbeit  imd  Rube; 

5.  Abbartung  im  weitesten  Sinne  (kiihle  Waschungon,  kcirperlicbe 
Uebiingen,  Gewbbnung  an  Schmerz); 

6.  Gewolinung  an  Gehorsam  und  Selbstbelierrschung.  Ruhige  Strenge 
wirkt  zelmmal  besser  als  verzieliende  Nacbsiclit; 

^ 7.  Ev.  Eiziehung  ausserlialb  des  elterlicben  Ilauses  in  einem  Pada- 
gogium  Oder  auf  dem  Lande  bei  einem  Lehrer,  Arzt  oder  Geistlichen; 

8.  Ueberwachen  der  sexiiellen  Entwickelung  (Masturbation  u.  s.  w.); 

9.  Wahl  ernes  Berufes,  welclier  geistig  und  korperlich  beschaftigt,' 
moglichst  wenig  Verantwortlichkeit  aufladt  und  den  Sorgen  der  Con- 
currenz  und  des  Ehrgeizes  moglichst  wenig  Raum  liisst. 


^ Ausser  der  Prophylaxe  kommt  die  Behandlung  der  Krankheit  selbst 
in  Erage.  Sobald  die  Psychose  ausgebrochen  ist,  liegt  dem  Arzt  zunachst 
die  Entscheidung  ob,  ob  die  Einlieferung  in  eine  Anstalt  noth- 
wendig  ist  oder  nicht,  Hierfiir  gelten  folgende  Regeln;  Die  Ein- 
lieferung in  die  Anstalt  ist  nothwendig 

a.  bei  unheilbaren  Geisteskranken,  wenn  Gemeingefahrlichkeit,*) **) 
Selbstmordverdachtigkeit  oder  Pflegebediirftigkeit  vorliegt  und  die  Faniilie 
des  Kranken  die  Umgebung  nicht  vor  ihm  oder  ihn  selbst  nicht  vor 
sich  zu  schiitzen  oder  in  ausreichendem  Maasse  ihn  zu  pflegen  vermag. 
Hierzu,  ist  zu  bemerken,  dass  nur  in  den  seltensten  Fallen  (bei  sehr 
giinstigen  ausseren  Verhaltnissen)  ein  g em  e i n g ef ii h r 1 i ch  er  oder 
s e 1 b s t m 0 r d V e r d a c h t i g e r Kranker  in  seiner  Eamilie  ausreichend 
ilberwacht  zu  werden  vermag.  Defter  kann  der  Pflegebediirftigkeit 
del  Kianken  in  der  Eamilie  geniigt  werden.  Die  Beiirtheilung,  ob 
Gemeingefahrlichkeit  bezw.  Selbstmordverdachtigkeit  vorliegt,  ist  .oft  nicht 
leicht.  Oft  namlich  sind  gemeingefahrliche^Handlungen  bezw.  Selbstmord- 
versuche  oder  drohende  bezw.  selbstmordverdiLchtige  Aeusserungen  noch 
nicht  vorgekommen,  und  doch  liegt  Gemeingefahrlichkeit  und  Selbstmord- 
verdachtigkeit vor:  der  Kranke  weiss  seine  krankhaften  Imjiulse  eben 


*)  Diese  Zuriickbaltung  ist  aiich  in  solcheii  Fallen  durchzufuhren,  wo  eine  tiber- 
raschencle  Beanlagung  clen  Kindern  spielend  in  der  Scbiile  mitzukommen  gestattet. 

**)  Unter  gemeingefabriicben  Kranken  werden  bier  nicbt  nur  solcbe  verstanden, 
welche  ihrer  Umgebung  durcb  Handgreiflicbkeiten  gefahrlicb  werden,  sondern  aucli 
solcbe,  welcbe  durcb  Larmen  u.  dgl.  stdrend  oder  durcli  Scbimpfen  u.  s.  w.  in  Wort 
und  Schrift  lastig  und  bedroblich  werden  und  endlicli  aucb  solcbe,  welcbe  durcb  im- 
sinnige  Verscbwendung  ibr  Vermdgen  zu  ruiniren  drohen.  In  letzterem  Falle  wird 
der  Anstaltsaufenthalt  oft  iiberflussig,  sobald  Entmiindigung  eingeleitet  ist. 


Allgenieine  Therapic. 


255 


nocli  zu  beherrsclien,  aber  eine  ziifallige  Constellation,  eine  leicbte  Zu- 
iiabme  cler  Kranklieitssymptome  kann  geniigen,  eine  jabe  Gewalttliat 
cles  Kranken  gegen  sich  ocler  gegen  andere  zu  zeitigen.  Als  Eegel  ist 
festzubalten,  dass  jeder  Kranke  mit  Hallucinationen  oder  Angstaffecten 
sowobl  gemeingefahrlich  wie  selbstmordverdachtig  ist.  Hallucinirende 
uud  angstvolle  Kranke  sind  imbereclienbar  iind  daher  im  Allgeineinen 
stets  der  Anstalt  znznweisen.  Kranke  mit  fixirten  Walinvorstellungen 
konnen  dann  oft  ausserbalb  der  Anstalt  belassen  werden,  wenn  Neu- 
bildung  von  Wahnvorstellungen  nicbt  mebr  stattfindet  und  die  vor- 
bandenen  Wabnvorstellungen  ibrem  ganzen  Inbalt  nacb  nicbt  zu  gemein- 
gefabrlicben  oder  selbstmordgefabrlicben  Handlungen  tendiren  oder  in 
der  friiber  erorterten  Weise  bei  langem  Besteben  der  Krankbeit  ibren 
Einfluss  auf  das  Handeln  verloren  baben. 

b.  bei  beilbaren  Geistesstorungen  ist  im  allgemeinen  stets  die 
Ueberfiibrung  in  eine  Anstalt  ratblicb.  Zur  Heilung  einer  Geistesstoiung 
bedarf  es  einer  so  stetigen  sacbverstandigen  Ueberwacbung  des  ganzen 
Lebens  und  oft  eines  so  rascben  Eingreifens  seitens  des  Arztes  und 
Pflegers,  dass,  abgeseben  von  seltenen  Ausnabmefallen,  die  Familienpflege 
und  die  Bebandlung  durcb  einen  entfernt  wobnenden  Arzt  nicbt  oder 
erst  in  viel  langerer  Zeit  Heilung  zu  erzielen  vermag.  Das  Heimweb, 
Welches  meist  als  Argument  gegen  die  Ueberfiibrung  in  eine  Anstalt 
angefiibrt  wird,  ist  erfabrungsgemass  der  Heilung  in  der  iibergrossen 
Mebrzabl  der  Fillle  nicbt  binderlicb.  Im  Gegentbeil  ist  die  Trennung 
von  der  Familie  oft  fiir  die  Heilung  geradezu  vortbeilbaft  oder  uner- 
lasslicb.  Die  Affectbeziebungen,  welcbe  den  Kranken  an  seine  Angeborigen 
kniipfcn,  wirken  gerade  dann  meist  ungiinstig  auf  den  Krankbeitszustand, 
wenn  sie  durcb  fortwabrendes  Seben  oder  Horen  oder  aucb  nur  In- 
der-Nilbe-wissen  geniibrt  und  angeregt  werden.  Der  Melancboliscbe  ist 
doppelt  traurig,  wenn  er  seine  Angeborigen  unter  seiner  Verstimmung 
mit  leiden  siebt,  und  erst  recbt  doppelt  traurig,  wenn  seine  Angeborigen 
beiter  zu  seiu  versucben  oder  wu’klicb  sind.  eder  der  Maniakaliscbe 
nocb  der  Melancboliscbe  beberrscbt  sicb  seinen  Angeborigen  gegeniiber 
in  den  Aeusserungen  seiner  Affecte;  in  der  Anstalt,  fremden  Personen 
gegeniiber,  lernt  er  eber  sicb  zu  beberrscben  und  zu  fiigen.  Die  Wabn- 
vorstellungen und  Sinnestauscbungen  des  Paranoikers  finden  in  den  haus- 
licben  Verbaltnissen  den  frucbtbarsten  Boden  flir  allerband  Ankniipfungen. 
In  der  Anstalt  fallen  diese  personlicben  Beziebungen  weg,  die  Wabn- 
vorstellungen und  Sinnestauscbungen  finden  daber  weniger  Anknupfungs- 
punkte  und,  wenn  sie  an  die  fremden  Verbaltnisse  scbliesslicb  docb 
ankniipfen,  so  erregen  sie  im  Ganzen  den  Kranken  docb  etwas  weniger, 
weil  eben  seine  eigenen  Verwandten  wenigstens  dem  System  der  ver- 
meintlicben  Verfolgungen  bfter  fern  bleiben.  Selbstverstiindlicb  gilt  dies 


256 


Allgeraeine  Therapic. 


alles  nui-  nn  Al  geniemen.  Audi  die  Anstalt  hat  mhllose  Melancholisdie 
uuc  Mamahahsche,  iveldie  sich  niclit  beliemcben,  uud  I’aranoiker  mit 
tobsuditigei-  Lrregnng.  Gewiss  existiieii  audi  Fillle,  wo  das  Heimweb 
die  Depression  des  Melancholisoben  und  die  Internirung  die  Commuting- 
ceit  des  Manicakcalisclion  steigert  und  die  gewaltsame  Treniiung  von  der 
Familie  direct  zii  Walinvorstellungen  Aiilass  giebt.  Aber  diese  Fillle 
bleiben  durcliaus  in  der  Minderzabl  gegeniiber  den  zahlreichen  Fallen 
wo  die  Irennung  von  der  Familie  iiberwiegende  Vortlieile  in  den  oben 
Iciirz  skizzirten  Ricbtungen  gewalirt. 


Niir  in  den  seltenen  Fallen,  wo  aiisnalimsweise  giinstige  Verliiiltnisse 
gestatten,  im  Haiise  des  Kranken  eine  ausreichende  Trennung  von  den 
Angeborigen  durcbzufuliren  und  alle  Scbutzmaassregeln  gegen  Selbstmord 
und  Gemeingefabrlichkeit,  wie  sie  die  Anstalt  darbietet,  anzuwenden, 
wo  insbesondere  ein  sachverstandiger  Arzt  stets  nalie  zur  Hand  ist  und 
gescbulte  Pfleger  zur  Verfiigung  stehen,  kann  man  gelegentlicb  von  der 
Ueberfiilirung  in  eine  Anstalt  absehen.  Auch  leuchtet  ein,  dass  fiir  die 
verscbiedenen  Psychosen  oft  sehr  verscliiedene  Gesicbtspunkte  in  Betraclit 
kommen.  Endlich  wird  zu  erwiigen  sein,  wie  weit  im  Einzelfalle  die 
Angeborigen  selbst  nacb  Bildung  und  Cbarakter  und  nacb  ihren  person- 
lichen  Beziebungen  zu  dem  Kranken  mutbmaasslich  giinstig  oder  un- 
giinstig  auf  denselben  einwirken. 

Hat  der  Arzt  erst  sich  fiir  die  Trennung  von  der  Familie  liberhaupt 
entscbieden,  so  erbebt  sich  die  weitere  Frage,  ob  der  Kranke  in  eine 
offene  oder  eine  sog.  gescblossene  Anstalt  iiberfubrt  werden  soil.  Der 
Gegensatz  zwischen  dieser  und  jener  bat  sich  nun  in  den  letzten  Jabr- 
zebnten  insofern  mebr  ausgeglichen,  als  in  den  meisten  gescblossenen 
Anstalten  aucb  offene  Abtheilungen  eingericbtet  worden  sind.*)  Das  Odium, 
welches  in  vielen  Kreisen  den  gescblossenen  Anstalten  entgegengebracbt 
wird,  kann  sich  daber  im  Wesentlicben  nur  nocb  darauf  griinden,  dass 
neben  den  offenen  Abtheilungen  mit  den  leicbteren  Kranken  aucb 
gescblossene  Abtheilungen  mit  scbweren  Kranken  existiren,  und  dass  der 
ominose  Name  „Irrenanstalt"  nocb  allzuoft  dem  Gesammtcomplex  der  ge- 
scblossenen und  offenen  Abtheilungen  anbaftet.  Der  Arzt  bat  beute 
nocb  in  vielen  Fallen  mit  solchen  bergebracbten  Vorurtbeilen  zu  recbnen. 
Er  wird  daber  in  solchen  Eallen,  wo  der  Cbarakter  der  Krankbeit  es 
gestattet,  mitunter  der  offenen  Anstalt  den  Vorzug  geben.  Es  kommt 
dies  namentlicb  in  denjenigen  Eallen  in  Betraclit,  wo  der  Kranke  weder 


gemeingefabrlicb  (im  weitesten  Sinne)  nocb  flucbtverdacbtig  ist.  Selbst- 
mordversucben  kann  eventuell  aucb  in  einer  offenen  Anstalt  vorgebeugt 
werden,  indem  dem  Kranken  ein  Privatwarter , welcber  das  Kranken 


*)  Dass  ziiweilen  auch  die  Unterbringung  in  einer  fremden  Familie  in  Betracht 
kommt,  wird  gelegentlicb  in  der  speciellen  Pathologie  zu  erortern  sein. 


AUgemeine  Therapie. 


257 


zimmer  niclit  verlassen  darf,  beigegeben  wird.  In  praktiscber  Bezieliung 
ist  endlicli  nocb  zu  erwagen,  dass  die  offenen  Anstalten  fast  diirchweg 
Privatanstalteu,  imd  dementsprecliend  die  Verpfiegimgskosteu  erbeblich 
hober  sind.  Bei  weniger  bemittelten  Kranken  kommt  daber  stets  nur 
die  sog.  gescblossene  Anstalt  in  Frage. 

Ungeeignet  zur  Unterbringung  psycbiscb-kranker  Individuen  sind 
diejenigen  offenen  Kaltwasserbeilanstalten , welcbe  einen  Hotel-massigen 
Cbarakter  tragen.  Einen  gewissen  Abscliluss  nacb  aussen  muss  aucb  die 
off’ene  Anstalt  baben,  wenn  sie  Psycbiscb-Kranke  beilen  soil. 

Hat  sicb  der  Arzt  fiir  die  Aufnabme  in  die  Anstalt  entscbieden^ 
so  wird  docb  in  den  meisten  Fallen  die  Ueberfiibrung  in  die  Anstalt 
nicbt  sofort  stattfinden  konnen,  da  dieser  leider  nocb  in  vielen  Gegen- 
den  Deiitscblands  die  Erfiillung  zablreicber  weitscbweifiger  Formalitaten 
vorausgeben  muss.  Der  Arzt  wird  daber  genotbigt  sein,  jede  Psycbose 
docb  einige  Zeit,  namlicb  bis  zur  Ueberfiibrung  in  die  Anstalt,  selbst 
zu  bebandeln.  In  der  speciellen  Patbologie  wird  fiir  jede  einzelne  Psy- 
cbose besonders  angegeben  werden,  wie  diese  Vorbebandlung  in  der 
Familie  am  zweckmassigsten  durcbgefiibrt  wii-d.  Die  Grundsatze  dieser 
Vorbebandlung  in  der  Familie  decken  sicb  im  Wesentlicben  mit  den- 
jenigen  der  definitiven  Bebandlung  in  der  Anstalt. 

Die  wicbtigsten  Heilmittel,  welcbe  bei  der  Bebandlung  von  Psycbosen 
unS'  zur  Verfiigung  steben,  sind  folgende: 


1.  Diatetisehe  Mittel. 

a.  Bettrube.  Bei  den  meisten  acuten  Psycbosen  und  zwar  gerade 
aucb  bei  solcben,  welcbe  mit  scbwerer  motoriscber  Agitation  verlaufen, 
ist  Bettrube  dringend  angezeigt.  Der  Krafteverbraucb  wird  durcb  die  Bett- 
rube auf  das  iiberbaupt  erreicbbare  Minimum  reducirt.  Eine  dauernde 
Gleicbmassigkeit  aller  ausseren  Bedingungen  liisst  sicb  auf  keinem  anderen 
Wege  ebenso  erreicben  wie  durcb  Bettrube.  Zudem  ist  letztere  vorziig- 
licb  geeignet  dem  Kranken  das  Bewusstein,  dass  er  krank  ist,  beizu- 
bringen  und  zu  erbalten.  Endlicb  ist  die  Ueberwacbung  des  Kranken  im 
Bett  in  der  Kegel  viel  leicbter  durcbzufiibi’en  als  ausserbalb  desselben. 

b.  Korperlicbe  Bescbaftigung.  Solange  die  korperlicbe  und 
geistige  Erscbopfung  bei  einer  Psycbose  iiberwiegt,  verzicbtet  man  am 
besten  auf  jede  Bescbaftigung  des  Kranken.  Namentlicb  bei  scbweren 
primaren  Hemmungssymptomen  wirkt  Bescbaftigung  meist  scbadlicb.  Um 
so  mebr  ist  dieselbe  angezeigt,  wo  die  corticalen  Associationen  be- 
scbleunigt  sind  oder  wo  scbwere  Erregungsaffecte  oder  Sinnestauscbungen 
Oder  Wabnvorstellungen  besteben.  Arbeit  lenkt  die  Kranken  von  ibren 
krankbaften  psycbiscben  Processen  ab  und  verscbafft  ibrem  patbologiscben 

Ziehen,  Psychiatrie.  -JY 


2.58 


Allgemeine  Therapio. 


liewegungsdrang  Gelogenlieit  zu  normalen,  geordneten  und  controlir- 
baren  Entladungen.  Die  Auswalil  einer  zweekmassigen  Beschaftiguug 
im  Einzelfalle  ist  eine  der  schwierigsten  Aufgaben  des  Psychiaters.  So- 
weit  geistige  Besclulftigung  in  Frage  kommt,  werden  die  wichtigsten 
Gesiclitspunkte  bei  Besprechung  der  sog.  psycbischen  Behandlung  zur 
Spraclie  koinmen.  Korperliche  Beschilftigung  (einfache  Handarbeiten, 
Ilandwerkerarbeiten,  Gartenarbeiten,  Ilolzsagen  u.  dgl.)  ist  im  Allge- 
meiiien  vorzuziebeu,  weil  sie  dem  krankeu  Gehirn  keine  psychisclie  Arbeit 
zumutliet  und  docli  Ableukimg  gewiihrt.  Jedenfalls  ist  jede  Ueber- 
austrengung  zii  vermeiden.  Am  besten  gescliieht  dies,  indem  der  Arzt 
ganz  bestimmte  Arbeitsstunden  festsetzt  und  gauz  bestimmte  Erholungs- 
pausen  einschiebt.  Gerade  der  regelmassige  Wechsel  von  Ptuhe  und 
Arbeit  spielt  eine  wichtige  therapeutische  Eolle.  Wann  und  in  welchem 
Umfange  die  Bettruhe  durch  korperliche  Beschaftiguug  zu  ersetzen  bezw. 
im  Bett  korperliche  Beschaftiguug  (Handarbeiten)  zu  erlauben  ist,  kann 
nicht  in  allgemeingiiltiger  Weise  fiir  alle  Psychosen  und  nicht  einmal 
fiir  alle  Falle  einer  bestimmten  Psychose  angegeben  werden.  Die  specielle- 
Pathologie  wird  uns  wichtige  Fingerzeige  in  dieser  Beziehung  geben 
miissen,  viel  wird  jedoch  bier  stets  dem  individualisirenden  Ermessen 
des  Arztes  iiberlassen  bleiben.  — Spaziergange , Gymnastik,  Spiele  im 
Freien  sind  weitere  im  Ganzen  noch  viel  zu  wenig  in  Anwendung  ge- 
zogene  therapeutische  Mittel,  bei  welchen  die  korperliche  Beschilftigung 
eine  Hauptrolle  sj)ielt. 

c.  Fernhaltung  ilusserer  Beize.  Bei  vielen  Psychosen  ist  es 
zweekmassig,  dem  Kranken  moglichst  wenig  iiussere  Reize  zuzufiihren  oder 
— mit  anderen  Worten  — sein  Empfindungsleben  moglichst  monoton  zu 
gestalten.  Der  Kranke  mit  Hemmungen  erschopft  umsonst  seine  Kraft 
an  der  Verarbeituug  neuer  Empfiuduugen.  Der  Kranke  mit  Ideenflucht 
wird  durch  ueue  Empfinduugen  zu  neuen  Vorstellungsreihen  angeregt 
und  seine  Ideenflucht  hierdurch  noch  gesteigert.  Dem  Kranken  mit 
Wahnvorstelluugen  und  Sinnestauschungen  bieten  neue,  wechselnde 
Empfindungen  die  fruchtbarsten  Aukniipfungspunkte  fiir  wahnhafte  Aus- 
legungen  und  illusioniire  Transformationen.  Schon  die  Bettruhe  an 
sich  ist  geeignet,  einem  erheblichen  Wechsel  iiusserer  Reize  vorzubeugen. 
In  mancheu  Fallen  wird  es  vortheilhaft  sein,  den  Kranken  vollig  zu 
isoliren,  d.  h.  ihn  wiihrend  des  grossten  Theils  des  Tages  allein  zu  lassen. 
In  den  Anstalten  sind  fiir  diese  therapeutische  Isoliruug  eigene  Zimmer, 
die  sog.  Isolirzimmer  eiugerichtet.  Bei  selbstmordverdiichtigen  Kranken 
ist  diese  Isolirung  selbstverstaudlich  zu  verwerfen.  Bei  erregten  Kranken 
ist  die  Isolirung  nur  durchzufilhreu  in  sog.  Zelleu,  d.  h.  in  Isolirzimmern, 
welche  keine  Mbbel  oder  in  dem  Boden  verankerte  Mobel  enthalten  und 
nach  aussen  durch  festverschlosseue  Thiireu  und  unzerbrechliche  Fenster- 


Allgenieine  Therapie. 


259 


sclieiben  abgesclilossen  siucl.  Man  soil  iibrigens  mit  clieser  Isolirimg 
sehr  sparsani  imd  vorsicbtig  sein.  Bei  1 lingerer  Isolirimg  veiwilclein 
die  Kranken  meistens.  Sobalcl  sicli  irgeucl  welclie  Zeiclien  solcher 
Yenvildernng  (Unreinlichkeit !)  zeigen,  ist  jedenfalls  die  Isolirung  sofort 
aufziibeben.  Bei  Hallucinanten  verbietet  sich  langere  Isolirung  oft 
sclion  desbalb,  weil  die  Abwesenbeit  aller  ausseren  Keize  oft  das  Auf- 
treten  von  Hallncinationen  begiinstigt.  Sebr  oft  ist  ein  regelmassiger 
Wecbsel  von  B escbiiftignng  in  aemeinscbaft  mit  anderen  Personen 
uud  Isolirung  vortbeilbaft. 

Die  Ferubaltung  der  Angeborigen  ist  biinfig  Conditio  sine  qua  non 
fiir  die  Genesimg.  Es  wurde  dies  scbon  oben  bei  Besprecbiing  der 
, Indicationen  fiir  die  Anstaltsbebandlimg  betont.  Das  Seben  iind  Horen 
der  Angeborigen  wirkt  iusofern  meist  nocb  erbeblicb  scbiidlicber  als 
neue  Beize  iiberbaupt,  als  ausser  neuen  Empfindungen  aucb  immer 
. Affecterregungen  mit  demselben  sicb  verbinden.  Daber  werden  aucb 
in  der  Anstalt  Besucbe  von  Angeborigen  auf  der  Krankbeitsbbbe  im 
Allgemeinen  nicbt  zugelassen.  Jeder  Besucb  — aucb  ganz  abgeseben 
'Von  dem  unvermeidlicben  Abscbied  am  Scblusse  desselben  — regt  zabl- 
losQ  Vorstelluugsreiben  und  zabllose  Affecte  (Sorgen  u.  s.  w.)  an.  Aucb 
der  Briefwecbsel  bedarf  aus  demselben  Grunde  der  Einscbrankuug.  Aucb 
1 diese  Vorscbriften  siud  nicbt  allgemeingiiltig.  Es  giebt  Fiille,  in  welcben 
ein  iiberbandnebmendes  Heimweb  oder  eine  iiberbandnebmende  Un- 
i orientirtbeit  durcb  Zulassung  eines  Briefes  oder  eines  Besucbes  in  einer 
I fiir  den  ganzen  Kraukbeitsverlauf  entscbeidenden  Weise  giinstig  be- 
I einflusst  wu’d. 

d.  Ernabrung.  Bei  sebr  vielen  Psycbosen  liegt  der  Ernabrungs- 
izustand  scbwer  danieder.  Bald  ist  diese  Inanition  eine  Folge  der  Psy- 
I cbose  selbst , bald  entwickelt  sicb  nmgekebrt  letztere  in  der  friiber  be- 
: sprocbenen  Weise  auf  dem  Boden  der  ersteren.  Stets  ist  daber  bei 
' Geisteskranken  die  Ernabrung  auf  das  Sorgfiiltigste  zu  controliren.  Oft 
ist  es  indicirt,  eine  Ueberernabrung  durcbzufiibren.  Bei  acuteu  Er- 
scbopfungspsycbosen  sind  vor  allem  Eier,  Milcb  und  Butter  zu  verab- 
reicben,  Sebr  gute  Dienste  leisten  aucb  die  Arecapriiparate  sowie  das 
Lipanin.  Das  Fleiscb  wird  in  scbweren  Fallen  am  besten  fein  gescbabt 
oder  gewiegt  verabreicbt.  Spirituosen  sollen  fiir  Falle  aufgespart  werden, 
in  welcben  Herzcollaps  vorliegt  oder  unmittelbar  drobt.  Nur  bei  senilen 
Psycbosen  darf  man  mit  Wein  u.  dgl.  freigebiger  sein.  Sebr  wicbtig  ist 
es,  den  Kranken  oft  — etwa  zweistiindlicb  — Nabrung  anzubieten  und 
lieber  die  Quantitat  der  zur  einzelnen  Mablzeit  vorgesetzten  Speisen 
einzuscbriinken. 

Die  Appetitlosigkeit  der  Kranken  weicbt  oft  sebr  rascb,  wenn  eine 

bestebende  Magenverstimmung  oder  Obstipation  beseitigt  wird.  Es  ist 

17* 


260 


Allgemeine  Therapie. 


tlalier  nameutlicli  bei  acuten  Psychosen  die  Zunge  raittelst  Lappchens 
Oder  bpiilens  etwa  2stuudlich  von  r>elag  zu  liefreien  und  der  Stuhlgang 
genau  zu  reguliren.  llegeluiassige  Ijeibmassage,  Darreichung  von  Obst, 
ev.  Klystiere  (notbigenfalls  init  Zusatz  von  Kicinusol)  oder  — in  den 
scluversten  Fallen  — bohe  Eingiessungen*)  sind  im  Allgemeinen  deu 
innerliclien  Meclicamenten  vorzuzielien. 

Nahrungsverweigerung  auf  Grand  von  VValmvorstellungen  oder  Sinnes- 
tauscliungen  („ich  bin  nicht  werth  zu  essen^^,  „icli  darf  nicht  essen^, 
„im  Essen  ist  Gift'^)  wird  zuniichst  am  besten  24  Stunden  lang  vom 
Arzt  vollig  ignorirt.  Man  redet  dem  Kranken  nicht  zu,  sondern  bietet  ihin 
nur  in  regelmassigen  Zwischenraumen  Speise  an.  Oft  einpfiehlt  es  sich 
auch,  scheinbar  verseheutlich  in  der  Niihe  des  Kranken  etwas  Nahrung, 
z.  B.  wahrend  der  Nacht,  stehen  zu  lassen.  Nicht  wenige  Kranke  geben 
ihrem  Himgergefiihl  nach,  sobald  sie  sich  imbeobachtet  glauben.  In 
andereu  Fallen  ist  die  Wahnvorstellung  oder  die  Sinnestauschung**) 
starker  als  der  Hunger.  Je  nach  dem  Kraftezustand  des  Kranken  wird 
man  nun  2—3 — 5 Tage  zuwarten  diirfen;  sobald  die  Pulswelle  den 
drohenden  Collaps  anzeigt,  ist  sofort  zur  kiinstlichen  Ernahrung  zu 
schreiten.  Ernahrende  Klystiere  (3  Eier,  V2  Liter  Wasser,  1 Messer- 
spitze  Kochsalz)  konnen  zuniichst  versucht  Averden.  Meist  reichen  die- 
selben  nicht  aus,  den  fortschreitenden  Krafteverfall  aufzuhalten.  Man 
muss  sich  dann  doch  zur  Schhmdsoiidenfutterung  entschliessen.  Letztere 
findet  am  zweckmassigsten  in  der  Weise  statt,  dass  eine  weiche 
elastische  Sonde  dem  in  Riickenlage  festgehaltenen  Kranken  durch  die 
Nase  eingefiihrt  wird.  Man  giesst  y.  Liter  Milch  (mit  2 Eiern)  und 
V4 — Va  Liter  schweren  Wein  ein.  Sehr  zweckmassig  ist  es,  etwas 
Kochsalz  zuzufiigen  und  — falls  Obstipation  besteht  — auch  1 — 2 Ess- 
Ibftel  Ricinusol.  Bei  Kranken  mit  starkerer  Brechneigung  ist  die  Quanti- 
tilt  der  eingeflihrten  Milch  einzuschranken.  Es  versteht  sich  von  selbst, 
dass  die  Sondenfiitterung  der  grossten  Vorsicht  bedarf;  die  Gefahr,  dass 
in  Folge  des  Eindringens  des  Schlauches  in  die  Luftrohre  oder  in  Folge 
plotzlichen  Erbrechens  Speisepartikel  in  den  Bronchialbaum  gelangen 
und  tbdtliche  Schluckpneumonien  oder  Lungengangriin  hervorrufen,  liegt 
oft  sehr  nahe. 

In  solchen  Fallen,  wo  die  Ernahrung  sehr  stark  gelitten  hat  und 
die  Psychose  offenbar  im  Wesentlichen  auf  die  allgemeine  Ernahrungs- 

*)  Mitunter  ist  auch  die  manuelle  Entfei’uung  der  harteu  Kothballen  aus  dem 
llectum  erforderlich. 

**)  In  manchen  Fallen  lasst  auch  die  motorische  Erregung  oder  Hemmung  als 
solche  die  Kranken  nicht  zum  Essen  kommen.  Endlich  kann  bei  Zustanden  pro- 
trahirter  Bewusstlosigkeit  in  gefahrdrohenden  Fallen  Sondenfiitterung  nothwendig 
werdcn. 


Allgemeine  Therapie. 


261 


stoning  zuriickzufiihren  ist,  kanu  die  Ilebimg  der  Ernalirung  nnd  damit 
die  Ileilung  der  Psycliose  besclileimigt  werden,  indem  man  mit  der  Bett- 
I rube  and  der  Ueberernaliriing  eine  tagliclie  Massage  des  ganzen  Korpers 
vcrbindet.  Oft  ist  es  olme  Massage  gar  nicht  moglicb,  die  erforderliclie 
Oder  gewlinscbte  Ueberernaliriing  diircliziifiilireu.  Die  diircb  die  Massage 
o-eleistete  Anregung  des  Stoffwechsels  kann  man  diircli  allgemeine  Faradisa- 
tion nocb  weiter  steigern.  Bei  diesen  Massagekuren  nahert  sick  die  ganze 
Beliandliing  der  sog.  Playfair’ scben  oder  Weir-Mitcbell’scben  Mastkur. 

2.  Hydrotherapie. 

In  den  ersten  Jabrzehnten  dieses  Jabrbunderts  wiirde  die  kalte 
Douche  nocb  vielfacb  als  Strafmittel  zur  ^^Besserung"  der  Geisteskranken 
augewandt.  Man  nannte  dies  Traitement  moral.  Seitdem  die  Psycbia- 
trie  aufgebort  bat,  die  geistigen  Erkrankungen  auf  Immoralitat  zuriick- 
zufubren,  bat  das  bydriatriscbe  Strafverfabren  sicb  in  die  Winkel  einiger 
Pllegeanstalten  zuriickgezogen.  Urn  so  ansgiebiger  wird  die  Hydro- 
tberapie  zu  Heilzwecken  angewandt.  Die  wicbtigsten  bydrotberapeu- 
tiscben  Bebandlungsmittel  sind: 

a.  Das  warme  prolongirte  Vollbad.  Die  Temperatur  ist  auf 
25—290  zu  bemessen.  Die  Dauer  des  Bades  soil  zwiscben  20  Minuten 
und  2 — 3 Stunden  scbwanken.  Ueberscbreitet  die  Dauer  1 Stuude,  so 
empfieblt  es  sicb  zum  Scbluss  durcb  Zulassen  warmen  Wassers  die  Tem- 
peratur bis  auf  30  oder  31°  zu  steigern.  Die  Hauptwii'kung  des  Bades 
ist  die  berubigende;  zuweilen  steigert  sicb  diese  so  weit,  dass  nacb 
dem  Bade  mebrstiindiger  Scblaf  eintritt.  Indicirt  ist  das  warme  pro- 
longirte Vollbad  bei  alien  depressiven  Erregungszustanden ; bei  Exaltations- 
zustanden  und  neurastbeniscben  Keizbarkeitszustanden  versagt  die  be- 
ruhigende  Wirkung  oft.  Aucb  zur  Anregung  des  Stoffwechsels  kann 
es  in  Anwendung  gezogen  werden.  In  diesem  Falle  empfieblt  sicb  kurze 
Dauer  und  Zusatz  von  Soole  (2  — 3 Kilo).  Direct  nacb  dem  Bade  sind 
appetitlose  und  selbst  abstinirende  Kranke  oft  leichter  zur  Nabrungs- 
aufnabme  zu  bewegen.  Abstand  ist  von  der  Anwendung  des  warmen 
prolongirten  Vollbades  jedenfalls  in  alien  denjenigen  Fallen  zu  nebmen,  in 
welcben  der  Kranke  Wabnvorstellungen  (angstlicben  oder  verfolgenden 
Inhalts)  an  die  Procedur  des  Badens  kniipft.  Der  erregende  Einfluss 
solcber  Wabnvorstellungen  iiberwiegt  dann  namlicb  fast  stets  fiber  den 
berubigenden  des  Bades. 

b.  Das  kalte  Bad.  Die  Dauer  ist  auf  5—15  Minuten,  die  Tem- 
peratur auf  12—20°  zu  bemessen.  Meist  empfieblt  es  sicb  mit  warineren 
Badern  zu  beginnen  und  allmablicb  zu  niedriger  temperirten  fiberzugeben. 
Entsprechend  der  Herabsetzung  der  Temperatur  ist  die  Dauer  abzu- 


262 


Allgemeine  Therapie. 


kurzen.  Das  kalte  Bad  ist  als  Abhartungsmittel  des  Nervensystems 
bei  vielen  Fiillen  voii  Neurasthenie  indicirt.  Audi  bei  der  Ilysterie  und 
namentlicli  bei  der  P]pilepsie  wirkt  es  oft  giinstig.  Contraindicirt  ist 
das  kalte  Bad  bei  aiuimischeii  und  bei  alien  im  Ernahrungszustand 
lieruntergekomnieuen  Individuen. 

c.  Die  liydropathische  Einpackung  des  ganzen  Kbrpers  rait  Aus- 
scliluss  des  Kopfes  (und  eventuell  der  Anne).  Diese  findet  in  der  Weise 
statt,  dass  um  den  nackten  Korper  des  Kranken  ein  in  Wasser  von 
22 — 26  0 getauclites  Laken  gesclilungen  und  iiber  dies  Laken  eine  dicht 
anschliessende  wollene  Decke  gewickelt  wird.  Die  Dauer  scliwankt  zwischen 
Va  — 2 Stunden  (meist  V4 — 1 Stunde).  Die  Wirkung  ist  abnlich  ivie  die- 
jenige  des  warmen  prolongirten  Vollbades  eine  berubigende.  Bei  de- 
pressiven  Erregungszustanden  wirkt  zuweilen  die  feuclite  Einpackung  in 
Fallen  berubigend,  wo  das  warme  Vollbad  versagt.  Bei  Exaltations- 
zustiinden  und  neurastbeniscben  Reizbarkeitszustanden  leistet  sie  in  der 
Eegel  mebr  als  dieses.  Oft  scblafen  die  Kranken  in  der  Einpackung 
ein.  Contraindicirt  ist  aucb  die  bydropatbische  Einpackung  bei  alien 
Kranken,  welcbe  auf  Grimd  von  Wabnvorstellungen  u.  s.  w.  sicb  dauernd 
gegen  die  Maassregel  strauben.  Etwa  eintretende  Congestivzustande  sind 
durcb  kiilile  Compressen,  welcbe  man  auf  Stirn,  Scbeitel  und  Kacken 
applicirt,  zu  bekampfen. 

d.  Kalte  Abreibungen  oder  Abwascbungen  (ev.  aucb  Ueber- 
giessungen)  sind  im  Ganzen  in  denselben  Fallen  angezeigt,  in  welcben  das 
kalte  Bad  indicirt  ist.  Docb  ist  ibre  Anwendung  eventuell  aucb  bei  scbwacb- 
licberen  Individuen  unbedenklicb,  vorausgesetzt,  dass  die  Abreibung  nicbt 
zu  kalt  ist  und  nicbt  zu  lange  dauert  (nicbt  uuter  18°  und  nicbt  langer  als 
4 Minuten).  In  mancben  Fallen  (Neurastbenie)  kann  die  Abwascbung  mit 
grossem  Vortbeil  mehrmals  tiiglicb  wiederbolt  werden  (Morgens,  Mittags, 
Naclimittags,  nicbt  Abends).  Aucb  bei  stuporoseu  Zustandeu  sind  oft 
kurze,  nicbt  zu  kalte  Abreibungen  vortbeilbaft.  Abgeseben  von  der 
metbodiscben  tiiglicben  Anwendung  der  kalten  Abreibungen  konnen  die- 
selben  ad  hoc  gemacht  werden,  um  den  einzelnen  bysteriscben  oder 
hypocbondriscben  Anfall  oder  eine  der  friiber  erwiibnten  Affectkrisen 
zu  coupiren  oder  abzukiirzen.  Aucb  bei  starken  ballucinatoriscben  Er- 
regungen  wirken  kalte  Abwascbungen  oft  vortbeilbaft  im  Sinne  eines 
Gegenreizes.  Laue  Abwascbungen  (23 — 24®,  10  Minuten)  wirken  mebi* 
berubigend  als  anregend ; bei  abencllicber  Application  wirken  sie  fordernd 
auf  den  Scblaf. 

e.  Locale  kalte  oder  warme  Compressen,  Abreibungen 
oder  Einwickl ungen.  Solcbe  sind  seltener  indicirt.  Auf  Kopfdruck 
wirken  offers  kiilile  Compressen  auf  Stirn  und  Scbeitel  oder  Benetzungen 
der  Stirn  (obne  vblliges  Abtrocknen)  lindernd.  Bei  affectiven  Erregungs- 


Allgemeine  Therapie. 


263 


zustiindeu  uud  liysterischen  Krampfaufiillen  empfiehlt  sicli  oft  aiicli  em 
euergisclies  Frottiren  der  Brust  mit  kalten,  nassen  Tiicliern. 

3.  Electrotherapie. 

Die  Electrotherapie  spielt  in  der  Psycliiatrie  bis  jetzt  keine  grosse 
Rolle.  Die  Kopfgalvanisation  ist  begreiflicherweise  oftmals  gegen  die 
verscbiedensten  Psycbosen  augewandt  worden,  jedocb  obne  siclieren 
Erfolg.  Nur  gegen  Scblaflosigkeit  bewabrt  sie  sicb  in  manclien  Fallen 
(Qnerstroine , Abends  vor  dem  Scblafengeben  von  lOminlitiger  Danei 
und  in  der  Starke  von  1%  M.  A.  anzuwenden).  Locale  Bebandlimg 
von  Drnckpunkten,  Topalgien  und  Nenralgien  mit  der  Anode  leistet  oft 
gnte  Hiilfe  gegen  solche  complicirende  Symptome.  Die  allgemeine  Faradi- 
Ltion  wiirde  bereits  als  Unterstiitziingsmittel  der  Ernabrungskur  an- 
gefiibrt.  Locale  Faradisation  kann  ofters  mit  Vortbeil  an  Stelle  der 
localen  kalten,  nassen  Frottirnngen  treten.  In  sebr  vielen  Fallen,  m 
welchen  die  Electrisation  scbeinbar  wirksam  sich  zeigt,  ist  sie  nui  ein 
geeignetes  Veliikel  der  Suggestion  (s.  u.). 

4.  Medieamentose  Therapie. 

a.  Opium  nnd  seine  Alcaloide.  Das  Opium  kann  entweder  inner- 
licb  als  Piilver  oder  in  Gestalt  der  Tinctur  verabreicbt  oder  als  Extract. 
Op.  aquosum  siibciitan  injicirt  werden.  Bei  siibcntaner  Beliandlung 
wil’d  es  zwar  besser  vertragen,  insofern  die  Magenbescliwerden  geringer 
siud,  daftir  giebt  der  Act  der  Einspritznug  selbst  vielen  Kranken  zu 
allerband  Wabnvorstelliingen  Anlass.  Aucb  setzt  die  Opinmwirkung  bei 
siibcntaner  Injection  zwar  rascber  ein  nnd  ist  intensive!',  daftir  aber 
verfliegt  sie  rascber.  Wenn  es  sich  daher  nicht  dariim  handelt,  eines 
schweren  plotzlichen  Angstanfalls  oder  eines  anderen  die  Opiiimbehand- 
liing  indicu’enden  Symptoms  moglicbst  rasch  Herr  zu  werden,  wird  man 
dock  meist  die  innerliche  Anwendnng  vorzieben.  Das  Opium  bewabrt 
sicb  namentlicb  bei  der  Bekampfung  depressiver  Affectstorungen, 
vor  Allem  der  primaren  Angst  nnd  der  primaren  Tranrigkeit.  Hiei 
Avirkt  es  nicbt  niir  angenblicklicb  lindernd,  sondern  bei  langerei  An- 
wendiing  bringt  es  scbliesslicb  diese  primaren  Afiectstdrimgen  vollig  ziim 
Scbwinden.  In  zweiter  Linie  zeigt  es  sicb  wirksam  gegenliber  balliici- 
natoriscben  Erregungsziistanden,  insbesondere  solcben,  welcbe  in  dem 
frliber  besprocbenen  Sinne  anf  dem  Boden  cerebraler  Erscbopfiing  anf- 
treten.  Anf  Einzelbeiten  dieser  Indicationen  sowie  anf  einige  weitere 
Indicationen  wird  in  der  speciellen  Pathologic  einziigeben  sein.  In  der 
Hegel  beginnt  man  mit  einer  Tagesdosis  von  0,15  und  steigt  bis  zu  Tages- 
dosen  von  0,5,  1,0  und  selbst  1,5  g. 


264 


Allgomeine  Therapie. 


Die  Anwendung  des  Morph iu ms  statt  des  Extr.  Opii  aquos.  ist 
unbcdenklich;  jedenfalls  ist  jedoch  jede  einzelne  Einspritzung  vom  Arzt 
SGlbst  zu  macbeu,  aiicb  tbeilt  man  dcm  Krauken  am  Ijeston  deu  Namen 
t es  Mittels  nicht  mit.  Die  Gefabr  der  Angewobnung  an  Morpbium  ist 
erfabrungsgemass  viel  p-bsser  als  diejenige  der  Angewobnung  an  Opium. 
Die  Indicationen  sind  im  Wesentlicben  dieselben. 

b.  Hyoscin.  Dieses  Alcaloid  wird  fast  nur  subcutan  angewendet. 
Die  Anfangsdosis  betragt  0,0006  g fiir  die  Frau  und  0,0008  g fiir  den 
Mann.  Da  rascli  Gewobnung  an  das  Mittel  eintritt,  so  muss  die  Dosis 
sehr  rascb  erhobt  werden;  man  kann  die  einmalige  Dosis  schliesslicb 
bis  auf  0,003  und  die  Tagesdosis  bis  auf  0,01  g steigern.  Die  Wirkung 
des  Mittels  beschrankt  sich  — im  Gegensatz  zum  Morpbium  — fast  aus- 
schliesslieh  auf  die  motoriscben  Centren.  Die  Bewegungen  des  Kranken 
werden  scbon  wenige  Minuten  nach  der  Einspritzung  incoordinirt  und 
kraftlos.  Schliesslicb  tritt  Scblaf  ein  (meist  nach  10  — 15  Minuten). 
Durcb  Anrufe  oder  Hautreize  ist  der  Kranke  jederzeit  leicht  aus  dem- 
selben  wieder  zu  wecken.  Die  von  dem  Alcaloid  bervorgerufene  Contrac- 
tion der  peripberen  Arterien  verleibt  dem  Kranken  im  Hyoscinscblafe  ein 
leicbenblasses  Ausseben,  welches  — zusammen  mit  der  Verlangsamung 
der  Respiration  — den  Unerfabrenen  oft  erscbreckt.  Dabei  ergiebt 
genaueie  Untersucbung , class  der  Blutdruck  sogar  gesteigert  und  die 
Atbmung  ganz  entsprecbend  der  Verlangsamung  vertieft  ist.  Unan- 
genebme  Nebenwirkungen  sind  die  Accommodationslahmung  und  die 
Scbluckstbrung.  Audi  kommt  dem  Mittel  entscbieden  cumulative  Wirkung 
zu.  Schliesslicb  beobacbtet  man  vollige  Licbtstarre  der  Pupillen,  welcbe 
das  Aussetzen  des  Mittels  einige  Tage  iiberdauern  kann. 

Langere  Anwendung  des  Hyoscins  ist  namentlicb  in  alien  denjenigen 
Fallen  indicirt,  in  welcben  eine  scbwere  motoriscbe  Agitation  und  Ideen- 
flucbt  bestebt  (also  z.  B.  bei  Manie).  Einmalige  oder  gelegentliche  An- 
wendung des  Mittels  erweist  sicb  zweckmiissig,  wenn  uberbaupt  eine 
scbwere  motoriscbe  Erregiing  (sei  es  mit  oder  obne  Ideenflucbt)  vorliegt, 
welcbe  auf  anderem  Wege  nicbt  beseitigt  werden  kann  und  docb  aus 
bestimmten  Griinden  — z.  B.  urn  einen  iibermassigen  Krafteverbraucb 
und  damit  drobenden  Collaps  zu  verbiiten  oder  Selbstbescbadigungen 
zu  vermeiden  — beseitigt  bezw.  verringert  werden  muss.  Hier  wu’kt 
das  Mittel  oft  geradezu  lebensrettend.  Insbesondere  empfiehlt  sicb  das 
Mittel  aiicb  bei  tobsiicbtig  erregten  Kranken,  deren  Einlieferung  in  die 
Anstalt  sicb  aus  irgend  einem  Grunde  verzbgert.  Bei  der  enormen 
Schwierigkeit,  in  der  Privatbebandlung  solcbe  Kranken  vor  gefabrlicben 
Gewalttbatigkeiten  gegen  sicb  und  gegen  die  Umgebung  zu  bewabren, 
ist  die  Anwendung  des  Hyoscins  oft  dringend  geboten.  Auch  bei  dem 
Transport  solcber  Kranken  in  die  Anstalt  leistet  das  Mittel  dem  Arzt 


Allgemeine  Therapie, 


265 


unschatzbare  Dienste.  Bei  schweren  Erregimgszustanclen  der  Angst  wire! 
es  zweekmassig  mit  Morpbhim  combinirt  (0,015  Morpbium  -{-  0,0005 
Hyoscin.*)  — Bei  nabrungsverweigernden  Kranken  kann  oft  der  Beginn 
der  Hyoscinbetaubung  mit  Vortbeil  zum  vorsiebtigen  Einflossen  von 
Nabrung  (jedocb  nnr  fliissiger)  benutzt  werden. 

Dem  Hyoscin  sebr  abnlicb  wirkt  das  scbwefelsaure  Duboisin; 
docb  ist  die  Wirkimg  etwas  weniger  intensiv. 

c.  Cbloralbydrat.  Da  subentane  Anwendung  des  Mittels  wegen 
der  Gefabr  der  Abscediriing  ausgescblossen  ist,  so  ist  es  nnr  bei  solcben 
Kranken  anwendbar,  welcbe  es  freiwillig  nebmen.  Entweder  kann  es 
per  os  Oder  per  clysma  verabreiebt  werden.  Die  Dosis  ist  im  ersteren 
Falle  auf  1 — 2 g,  im  letzteren  auf  2 — 3 g zii  bemessen.  Der  Cbloral- 
scblaf  bat  den  Vortbeil,  dass  er  dem  natiirlicben  Scblaf  am  abnlicbsten 
ist.  Die  Nacbtbeile  des  Chlorals  bangen  mit  seiner  gefasslabmenden 
Wirkung  zusammen.  Wegen  der  letzteren  ist  sein  Gebraiicb  in  alien 
Fallen,  in  welcben  Erkrankungen  des  Herzens  oder  der  Gefasse  besteben 
Oder  die  Herztbiitigkeit  scbwacb  ist,  durebaus  contraindicirt.  Namentlicb 
ist  der  langere  Fortgebraucb  des  Chlorals  aucb  bei  intactem  Circulations- 
apparat  stets  bedenklicb.  Es  kommt  binzu,  dass  bei  wiederholter  An- 
wendung das  Chloral  sebr  rascb  versagt,  und  dass  dann  aucb  Steigerungen 
der  Dosis  bald  nicht  mehr  ausreicben,  Scblaf  zu  erzielen.  Am  meisten 
empfieblt  sicb  die  gelegentlicbe  Anwendung  des'  Chlorals  bei  acuten 
ballucinatorischen  Erregungszustanden.  Oft  kann  es  vortbeilhaft  mit 
Morpbium  oder  Opium  combinirt  werden  (0,01  Morpbium  auf  1,0  Chloral). 
Aucb  kann  in  solcben  Fallen  das  Chloral  mehrmals  taglicb  in  kleinerer 
Dosis  (0,5  g)  zur  Herabsetzung  der  ballucinatorischen  Erregung  verwandt 
werden. 

d.  Paraldebyd  und  Amylenhy  dr  at.  Beide  sind  in  Oel  oder 
in  Wein  und  zwar  3 — 4 g pro  dosi  zu  verabreicben.  Beide  sind  lediglicb 
Scblafmittel  und  konnen  mit  Vortbeil  zur  gelegentlicben  Ablosung  eines 
anderen  Scblafmittels,  dessen  Wirkung  in  Folge  wiederbolten  Gebrauebs 
zu  versagen  drobt,  verwandt  werden. 

e.  Sulfonal  und  Trional.  Dieselben  sind  beute  die  empfeblens- 
werthesten  Mittel  unseres  Arzneisebatzes , wenn  es  einfacb  darauf  an- 
kommt  Scblaf  zu  erzielen.  Sie  sind  nur  per  os  wirksam.  Am  besten 
verabreiebt  man  sie  in  einer  grbsseren  Menge  beisser  Milch  oder 
gesalzener  Suppe.  Will  man  den  bei  der  Losung  des  Mittels  sicb  ein- 
stellenden  bitteren  Geschmack  vermeiden,  so  lasst  man  das  Mittel  zunaebst 
in  etwas  Wasser  ungelost  scblucken  und  dann  beisse  Milch  oder  Suppe 
in  grosserer  Menge  nachtrinken.  Die  Dosis  betragt  fiir  Sulfonal  2 g,  fiir 


*)  Hydrochloricum  oder  hydrojodicum. 


266 


Allgemeine  Therapie. 


Trional  1,5  g.  Subciitane  Anwendung  ist  ausgeschlossen , beide  Mittel 
koramen  dalier  nur  bei  solchen  Kranken  in  Betracht,  welcbe  freiwillig 
sicb  zum  Einnebmen  von  Arzneimittcln  entscbliessen.  Mehrfach  gelingt 
es  iibrigens  aucli  das  Mittel  unbemerkt  dein  Kranken  beizubringen,  indem 
man  es  feinpulverisirt  mit  Salz  vermisclit  aiif  Butterbrod  streut.  Eine 
regeliniissige  Anwendung  des  Siilfonals  oder  Trionals  empfieblt  sicb,  da 
ofter  Magendarmerscheinungen  beobacbtet  werden,  nicht.  Audi  scheinen 
beide  Mittel  etwa  bestebende  Geborshallucinationen  zu  verstiirken. 

f,  Bromsalze.  Am  zweckmassigsten  ist  die  Darreicbung  des  Brom- 
natriums.  Die  Brombebandlung  erweist  sicb  namentlidi  bei  primaren 
Exaltationsziistiinden  vortbeilhaft.  Audi  balludnatoriscbe  Erregungs- 
zustiinde  (insbesondere  Hallucinationen  auf  dem  Gebiete  der  Haut-  und 
Organempfindungen)  werden  oft  giinstig  beeinflusst.  Als  Scblafmittel 
bewiibrt  es  sicb  namentlicb  in  solcben  Fallen,  wo  die  Scblaflosigkeit 
auf  einem  gesteigerten  Traumleben  berubt  (z.  B,  bei  Neurastbenie). 
Endlicb  entfaltet  das  Brom  eine  fast  specifiscbe,  wenn  aucb  selten  zu 
volliger  Heilimg  fiibrende  Wirkung  gegenuber  der  Epilepsie  und  den 
epileptiscben  Psycbosen.  Bei  letzteren  empfieblt  sicb  dringend  die  Ver- 
bindung  von  Brom  mit  Opium.  Die  Dosis  ist  auf  mindestens  5 g zu 
bemessen,  in  scbweren  Fallen  kann  bis  auf  1 2 g pro  die  gestiegen  werden. 
Stets  ist  das  Mittel  stark  verdiinnt  zu  reicben. 

Auf  zablreicbe  Eiuzelindicationen  flir  die  soeben  augefiibrten  Medi- 
camente  sowie  auf  gelegentlicbe  Verwendung  anderer  Medicamente 
(Cbiuiu,  Ergotin  u.  s.  w.)  wird  in  der  speciellen  Patbologie  und  Tberapie 
aufmerksam  gemacbt  werden. 

5.  Psychische  Therapie. 

Neben  der  diittetiscben  Tberapie  ist  die  psycbiscbe  Tberapie  weitaus 
am  wicbtigsten.  Einige  Grundsatze  derselben  mussten  bereits  oben  bei 
Besprecbung  der  diatetiscben  Tberapie  gestreift  werden  (vgl.  fiber  Iso- 
lirung  u.  s.  f.).  Weitere  wicbtige  Grundsatze  sind  folgende: 

a)  Bei  primarer  Depression  versucbe  man  nicht  durcb  sog.  Zer- 
streuung  die  Kranken  aufzubeitern.  Solcbe  Kranke  ffiblen  sicb  vermoge 
ibrer  Depression  bei  jedem  Aufbeiterungsversucb  meist  doppelt  unglfick- 
licb.  Aucb  mit  dem  Zusprecben  von  Trost  sei  man  nicbt  zu  freigebig. 
Ein  kurzes,  seltenes  Trostwort  wirkt  am  nacbbaltigsten. 

b)  Bei  primarer  Exaltation  verzicbte  man  auf  alle  weitlaufigen 
Mabnreden  oder  Strafpredigten.  Excesse  erscbwere  man  durcb  Ueber- 
wacbung  und  Bescbaftigung.  Speciell  wird  man  aucb  durcb  geistige 
Bescbaftigung  versucben  die  gesteigerte  Associationstbatigkeit  dieser 
Kranken  in  geordnete  Bahnen  zu  lenken.  Bei  gebildeten  Kranken 


Allgemeine  Therapie. 


267 


empfiehlt  sich  in  erster  Linie  neben  korperlicher  bezw.  mechanischer 
Beschaftigmig  Zeicbnen,  Vorlesen  (uiclit  Lesen),  Excerpiren  unci  Ueber- 
setzcn.  Etwaige  Excesse  sind  niemals  clem  Kranken  als  ein  Ilnrecbt  vor- 
zubalteu,  sonderu  durcb  geeignetere  Ueberwachimg  u.  s.  w.  kiinftig  zu  ver- 
hiiten;  man  darf  liocbstens  den  Kranken  auf  die  unangenelimen  Folgen, 
welcbe  Excesse  fiir  ibn  nnd  andere  haben,  kurz  aufmerksam  macben. 

c)  Auf  eine  Discussion  iiber  Wabnideen  und  Sinnestauscbungeu  sicb 
einzulassen  ist  fast  niemals  riitblicb.  Wabnideen  werden  leicbter  ver- 
gessen  als  widerlegt,  und  das  Anstreiten  gegen  Sinnestauscbungeu  fiibrt 
nur  clazu,  dem  Arzt  das  Vertrauen  des  Kranken  zu  rauben.  Aucb  fiibrt 
die  Discussion  liber  Wabnvorstellungen  den  Kranken  oft  geradezu  dabin, 
nacb  Griinden  fiir  seine  Wabnvorstellungen  zu  sucben  und  dieselben  zu 
systematisiren.  Man  begniige  sicb  im  Allgemeinen  damit,  kurz  seine 
Meinung  dabin  auszusprecben;  „icb  balte  Ibre  Vorstellungen  fiir  Irrtbiimer 
und  Ibre  Stirnmen  bezw.  Erscbeinungen  fiir  Tauscbungeu  (fiir  Traume 
im  Wacben),  aber  der  weitere  Verlauf  soil  entscbeiden,  ob  icb  Kecbt 
babe!^^  Eine  objective  geistige  Bescbaftigung  erweist  sicb  neben  korper- 
licber  Bescbaftigung  — wenigstens  bei  gebildeten  Kranken  — aucb  bier 
am  niitzlicbsten.  Nur  empfieblt  es  sicb  die  geistige  Bescbaftigung 
etwas  vielseitiger  zu  gestalten:  man  lasse  stundenweise  zwiscben  Eube, 
geistiger  Bescbaftigung  und  korperlicber  Bescbaftigung  wecbseln  und 
wecbsele  aucb  mit  der  geistigen  Bescbaftigung  ofters.  Aucb  auf  Ver- 
kebr  und  Spielen  mit  Mitkranken  ist  Gewicbt  zu  legeu. 

d)  Bei  iiberbaudnebmender  wabnbafter  oder  ballucinatoriscber  Un- 
orientirtbeit  kann  mitunter  ein  gescbickter  Orientirungsversucb  rascb 
klarend  wirken.  So  beobacbtet  man,  class  ein  Besuch  der  Angeborigen 
zur  ricbtigen  Zeit,  eine  einfacbe  kurze  Auseinanclersetzung  der  Situation 
durcb  den  Arzt,  ein  Ausgang  im  geeigneten  Moment,  ja  sogar  das  blosse 
Verstatten  des  Lesens  einer  Zeitung  clem  Kranken  auf  den  ricbtigen  Weg 
zur  Klarung  verbilft. 

e)  Jedweder  affectiven  bezw.  motoriscben  Erregung  der  Kranken 
setze  man  unerscbiitterliche  Eube  entgegen.  Der  Kranke  soil  wissen, 
class  der  Arzt  ausserbalb  der  Stiirme  stebt,  die  ibn  selbst  erscbiittern. 
Daber  sprecbe  man  im  Allgemeinen  aucb  eber  langsam  und  eber  wenig, 
namentlicb  unterbrecbe  man  den  Kranken  im  Allgemeinen  in  seinen 
Eeclen  nicbt. 

f)  Bei  Kranken  mit  Hemmung  sei  man  cloppelt  sparsam  mit  Unter- 
reclungen.  Zur  Beantwortung  der  Fragen,  welcbe  man  stellt,  lasse  man 
dem  Kranken  viel  Zeit.  Namentlicb  vermeicle  man,  wenn  der  Kranke 
die  Antwort  scbulclig  bleibt,  weiter  Frage  auf  Frage  zu  baufen.  Mit 
geistiger  Bescbaftigung  soil  man  bei  cliesen  Kranken  vorsicbtig  sein. 


268 


Allgemeine  Therapie. 


g)  Mau  sei  durcliaus  wahr  gcgen  den  Kranken.  Audi  die  sog. 
Nothliige  ist  dem  Geisteskranken  gegeniiber  mdglichst  zu  vermeiden. 

Selbstverstandlidi  sind  diese  Grundsatze  in  keiner  Weise  erschbpfend. 
Die  psycho-patliologisclieu  Syinptome  und  Zustande  sind  viel  zu  mannich- 
laltig,  als  dass  sicb  ihre  psychisdie  Bebandlung  in  einige  wenige  Regeln 
zusammenfassen  Hesse.  In  letzter  Linie  entscheidet  iin  Eiuzelfall  oft  der 
psychologische  Instinct  des  Arztes.  Ebenso  darf  man  den  oben  aufge- 
fiihrten  Grundsatzen  keine  absolute  Giiltigkeit  beimessen.  Jeder  einzelne 
Fall  einer  Psychose  ist  in  viel  libbercm  Maass  eine  Krankheit  fur  sich 
als  z.  B.  ein  Fall  von  Lungenentziindung  oder  Typhus.  Die  Bebandlung 
und  speciell  gerade  die  psycbische  Bebandlung  der  Psychosen  muss  daher 
im  hbchsten  Maasse  individualisiren. 

Zur  psychischen  Therapie  im  weiteren  Sinn  gehort  auch  die  Hyp  nose 
und  die  Suggestion  in  der  Hypnose.  Man  hat  erstere  mannicbfach 
gegeniiber  den  verschiedensten  Erregungszustauden  angewandt.  Die  Er- 
folge  sind  im  Ganzeu  sparliche.  Mehr  leistet  die  Hypnose  und  zwar 
speciell  die  Suggestion  in  der  Hypnose  zuiveilen  bei  hysterischen  und 
hypochondrischen  Zustanden.  Jedenfalls  bedarf  es  bei  der  Hypnose 
grosser  Vorsicht.  Ungiinstige  Nebenwirkungen  werdeu  nicht  zu  selten 
beobachtet  (wahnhafte  und  halluCinatorische  Erregungen  u.  s.  w.),  Bei 
weiblichen  Individuen  ist  die  Hypnose  nur  in  Gegenwart  dritter  Per- 
sonen  vorzunehmen : weibliche  Geisteskranke  kuiipfen  nur  allzuleicht  an 
die  Hypnotisirungsversuche  allerhand  Erinnerungsentstellungen  (z.  B.  im 
Sinn  eines  stattgehabten  Stuprumversuchs  u.  dgl.  m.) 

6.  Aetiologisehe  Therapie. 

Die  iitiologische  Therapie  ist  selbstverstandlich.  Wenu  eine  Psychose 
auf  Hirnsyphihs  beruht,  wird  man  eine  specifische  Kur  einleiten,  und  so 
in  vielen  anderen  Fallen.  Eine  Vernacblassigung  dieser  iitiologischen 
Indicationen  wird  am  sichersten  durch  eine  genaue  Untersuchung  aller 
Korperorgane  verhiitet;  aus  der  letzteren  ergeben  sich  die  Fingerzeige 
fiir  die  atiologische  Bebandlung  ohne  Weiteres. 

Specielle  Bebandlung  einiger  wichtiger  Einzelsymptome. 

a)  Nahrungsverweigerung.  S.  oben  unter  diatetischen  Mitteln. 

b)  Selbstmordverdachtigkeit.  Die  Verhiitung  von  Selbstmord- 
versuchen  in  vielen  Fallen  ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  des  Arztes. 
Kranke , welche  irgendwie  selbstmordverdachtig  sind , also  namentlich 
Kranke  mit  Angstaffecten,  mit  hallucinatorischer  Erregung  oder  mit  im- 
pulsiven  Einfallshandlungen  sind  weder  bei  Tag  noch  bei  Nacht  alleiu  zu 


AUgcmeinc  Thcrapie. 


269 


lassen.  Alle  scharfen  lustrumente  (Messer,  Sclieeren)  sind  dem  Kranken  ab- 
zunehmen  und  keinesfalls  (auch  z.  B.  beim  Essen  nicbt)  wieder  einzubandigen. 
Weuu  irgend  mbglicli,  ist  der  Krauke  in  einem  Parterrezimmer  oder  in 
einein  Zimmer  mit  vergitterten  Eenstern  nnterzubringen,  um  einen  Sturz 
ans  dem  Fenster  zii  verhilten.  Sehr  erleiclitert  wird  die  Uebervvachung, 
indem  man  danernde  Jkttrnlie  (s.  o.)  anordnet.  Der  Gefahr  einer  Stran- 
gulation begegnet  man  am  besten  durcb  standige  Ueberwacliung ; in 
mancben  Fallen  wird  man  auch  Nacbts  Augehorige  oder  Krankenpfleger, 
welclie  sicli  regelmassig  ablbsen,  bei  dem  Kranken  wacben  lassen.  In 
leicbtereu  Fallen  genligt  neben  stiindiger  Ueberwacbung,  welcbe  jeden- 
falls  durcbziiflihren  ist,  bftere  Diircbsucbung  des  Bettes  (nacb  Stricken, 
Tuclistreifen  n.  dgl.).  Der  iiberwachenden  Person  ertlieilt  man  den  stricten 
Auftrag,  dass  sie  keinesfalls  — auch  nicbt  fiir  einen  sog.  „Augenblick^^ 
— den  Kranken  verlasst.  Speciell  hat  dieselbe  den  Kranken  auch  stets 
bis  i n den  Abort  zu  begleiten,  wofern  man  nicbt  vorzieht  dem  Kranken 
in  seinem  Zimmer  bezw.  Bett  den  Unterschieber  zu  geben.  Alle  Haken, 
Niigel  u.  s.  w.  wird  man  nach  Moglichkeit  entfernen,  eventnell  kann  man 
auch  durch  Blechhiitchen  von  der  Form  eines  Halbkegels,  welcbe  man 
liber  den  betreffenden  Haken,  Angeln,  Vorsprungen  u,  s.  w.  anbringt,  die 
Befestigung  einer  Scbnur  erscbweren.  Docb  ist  bervorzubeben,  dass 
eine  vollstandige  Sicberbeit  in  dieser  Hinsicbt  kaum  berzustellen  ist;  bat 
man  docb  scbon  beobacbtet,  dass  Kranke  sicb  an  den  Pfosten  ibres  Bettes 
aufbingen.  — Nacbts  hat  jedenfalls  die  bei  den  Kranken  scblafende 
Person  die  Tblir  abzuscbliessen  imd  die  Fenster  ebenfalls  zu  verwabren, 
nm  ein  nacbtlicbes  Entweicben  mit  nacbfolgendem  Selbstmordversuch 
zu  verbiiten.  Den  Tbiirscblussel  bat  der  Pfleger  am  besten  Nacbts 
nm  den  Leib  zu  binden.  — Endlicb  wird  man  durcb  bydropatbiscbe 
Maassuabmen,  Darreicbung  von  Opium  u.  s.  w.  die  Angst,  welcbe  in 
erster  Linie  die  meisten  Kranken  zum  Selbstmord  treibt,  zu  vermindern 
sucben. 

c.  Tobslichtige  Erregung.  Der  bydropatbiscben  und  medica- 
mentosen  Bebandlung  (Hyoscin)  wurde  bereits  gedacbt.  Ebenso  ist  scbon 
zur  Spracbe  gekommen,  dass  korperlicbe  Bescbaftigung  dem  Bewegungs- 
drang  erregter  Kranken  oft  eine  vorziiglicbe  Ableitung  verscbafft.  In 
der  Anstalt  bietet  die  Isolirung  in  einem  unmoblirten  Zimmer  mit  un- 
zerbrecblicben  Fensterscbeiben  ein  weiteres  Mittel,  um  gemeingefabrliche 
Gewalttbatigkeiten  zu  verbuten.  In  vieleu  Fallen  ist  der  fortgesetzte 
Bingkampf  des  Kranken  init  3 — 4 Pflegern  mit  viel  grosseren  Missstanden 
fiir  den  Kranken  selbst  und  seine  Umgebung  verkniipft  als  eine  mehr- 
stiiridige  Isolirung.  Insbesondere  kommt  letztere  dann  in  Betracbt,  wenn 
Narcotica  (z.  B.  auch  Hyoscin)  versagen  oder  aus  irgend  einem  Grunde 
contraindicirt  sind.  Vgl.  iibrigens  obeu  unter  „diatetiscbe  MittePb  Da 


270 


Allgemeine  Therapie. 


tobsuclitig  erregte  Krauke  Liiufig  auch  ilir  JJettzeug  und  ihre  Kleider 
zerreissen,  so  wird  man  oft  genothigt,  denselben  in  der  Zelle  als  Lager 
lediglicb  Stroll  Oder  besser  Seegras  (ev.  auch  Ilolzwolle)  zu  geben;  ausser- 
dein  erhalten  die  Kranken  einen  liemdartigen  Anzug  und  Decken  von 
unzerreissbarem  Zeug. 

Zwangsjacken  gehoren  in  die  Kumpelkammer,  Ueberhaupt  ist  jede 
Fesselung  von  Geisteskranken  bis  auf  wenige  Ausnahmefalle  zu  unter- 
lassen,  Diese  Ausnahmefalle  sind 

erstens  Fiille  chirurgischer  Verletzungen,  in  welchen  das  Toben  der 
Kranken  die  Heilung  der  bez.  Verletzung  in  ernster  Weise  gefiihrdet; 

zweiteus  Fiille  excessiver  Masturbation,  in  welchen  letztere  die 
Ileilung  der  Psychose  hindert; 

drittens  Fiille  schwerer  tobsiichtiger  Erregung,  in  welchen  aus  iiusse- 
seren  Griinden  die  Unmoglichkeit  vorliegt,  in  anderer  Weise  die  Um- 
gebung  vor  dem  Kranken  zu  schiitzen  oder  am  Entweichen  zu  ver- 
hindern. 

Der  letzte  Fall  wird  nur  ausserhalb  der  Anstalt  vorkommen; 
namentlich  fiir  den  Transport  schwer  erregter  Kranker  in  die  Anstalt 
wird  man  zuweilen  der  Fesselung  nicht  entbehren  konnen.  Jedenfalls 
wird  man  auch  in  den  oben  aufgefiihrten  3 Fallen  stets  zuerst  alle  an- 
deren  Mittel  (Hyoscin,  Brom,  Einpackungen  u.  s.  w.)  versuchen.  Der 
Zwang,  dem  man  den  Geisteskranken  zuweilen  unterwerfen  muss,  soli 
nie  den  Charakter  einer  arztlichen  Verordnung  verlieren.  Jede  einzelne 
Isolirung  und  erst  recht  jede  weitergehende  Zwangsmaassregel  (wie  z.  B. 
die  oben  erwahnte  ausnahmsweise  Fesselung)  darf  nur  auf  dii’ecten  Befehl 
des  Arztes  erfolgen.  Niemals  Soil  das  Wartepersonal  zu  solcheu  Maass- 
regeln  befugt  sein. 

d)  Unr einlichkeit.  Koth-  und  Urinverunreinigungen  erschwereu 
die  Behandlung  manches  Geisteskranken  ungemein.  Beruhen  sie  auf 
Schwachsinn  oder  Liihmuug  der  Sphincteren,  so  wird  man  die  Kranken 
stiindlich  zum  Abort  fiihren  und  durch  regehniissige  Bader  und  Waschungen 
die  Reinlichkeit  zu  erhalten  suchen.  Die  Verwendung  von  Urinalen  be- 
wahrt  sich  selten.  Hiiufig  tritt  Kothschmieren  und  Urinsalben  hinzu, 
so  bei  motorisch-erregten  Kranken,  feruer  auf  Grund  von  Wahnvor- 
stelluugen  sowie  namentlich  Hand  in  Hand  mit  sexueller  Ueberreizung. 
In  solchen  Fiillen  ist  es  oft  zweckmassig,  tiiglich  den  Kranken  ein 
Klystier  zu  geben  und  sie  nach  demselben  so  lange  auf  dem  Nachtstuhl 
zu  halten,  bis  reichliche  Entleerung  erfolgt  ist.  Auch  kann  man  durch 
kleine  Hyoscindosen  oft  mit  Vortheil  die  motorische  Erregung  herab- 
setzen.  Endlich  bewahrt  sich  oft  die  Darreichung  von  Opium;  die 
Stuhlentleerungen  erfolgen  dann  seltener,  und  die  Verunreinigung  mit 


Allgcmeinc  Therapie. 


271 


den  liar  ten  Kotlimassen  ist  nieist  nnerheblicher.  Aufsiclit  und  regel- 
niiissiges  Baden  blieb  aucb  bier  weitaiis  das  Wichtigste. 

e)  Masturbation.  Medicamente  wie  Lupnlin,  Campber,  Brom 
helfen  Avenig.  Wirksamer  sind  kalte  Waschungen  und  namentlich  in- 
tensive korperliclie  Bescbaftigimg.  In  scliAveren  Fallen  ist  ev.  auch 
Naclits  UeberAA’'acliung  geboten.  Zur  Fesseliing  darf  man  nur  im  aussei- 
sten  Notbfall  scbreiten.  Predigten  liber  die  verderblichen  Folgen  der 
Masturbation  richten  meist  nur  wenig  aiis  imd  flibren  leicht  zu  bypo- 
cbondriscben  W ahnvorstellimgen. 


B.  Specielle  Psycliopathologie. 

Die  Eintheilung’  der  Psjcliosen. 

Solange  man  getrennte  Seelenvermogen  annalim,  kounte  man  sich 
vorstellen , dass  entsj)rechend  diesen  Seelenvermogen  einige  scharfge- 
trenute  psychische  Kranklieitsfamilieu  existiren  miissten.  Die  Lehre  von 
den  Seelenvermogen  ist  gefallen.  Es  hat  sich  ergeben,  dass  die  psy- 
chischen  Processe  sich  sammtlich  dem  friiher  entwickelten  Schema  der 
Ideenassociation  einordnen,  welche  mit  der  Empfindung  beginnt,  eine 
Vorstellungsreihe  durchlauft  und  mit  der  Bewegung  abschliesst.  Aprio- 
lische  Classificationen  erscheinen  bei  dieser  Sachlage  von  Anfang  an  aus- 
sichtslos.  Wir  werden  auf  den  empirischen  oder  klinischen  Weg  hin- 
gewiesen.  Die  klinische  Beobachtung  lebrt  nun  zunacbst  einen  grossen 
Unterscbied  zwiscben  den  verscbiedenen  Geistesstorungen : es  giebt  Geistes- 
storungen,  welche  von  ibrem  ersten  Beginn  an  einen  deutlicben  Intelligenz- 
defect  (Urtbeils-  und  Gediichtnissschwacbe)  zeigen,  und  solcbe,  welche 
obue  Intelligenzdefect  einsetzen  und  aucb  weiterbin  obne  Intelligenzdefect 
veilaufen.  Wir  bezeicbnen  erstere  aucb  kurzweg  als  Defectpsycbosen : 
zu  denselben  geboren  die  verscbiedenen  Formen  des  augeborenen  und  er- 
worbenen  Scbwacbsinus.  Den  Defectpsycbosen  stellen  wir  die  Psychosen 
obne  Intelligenzdefect  gegenuber;  dabei  ist  nicbt  ausgescblossen  und 
von  Anfang  an  bervorzubeben,  dass  gelegentlicb  aucb  diese  Psycbosen  obne 
Intelligenzdefect  scbliesslich  nacb  langerem  Verlauf,  wenn  Ileilung  aus- 
bleibt,  allmablicb  zu  einem  Intelligenzdefect,  der  sog.  secundaren  De- 
menz,  fubren  konnen.  Diese  secundare  Demenz  stellt  gewissermaassen  das 
Bindeglied  zwiscben  den  beiden  Hauptgruppen  der  Psycbose,  den  Psycbosen 
obne  Intelligenzdefect  und  den  Defectpsycbosen  dar.  Die  weitere  Classifi- 
cation der  Psycbosen  obne  Defect  wird  von  der  Tbatsacbe  auszu- 
gebeu  haben,  dass  jede  Psycbose  entweder  wabrend  ihres  Verlaufs  nur 
einen  psycboiDatbiscben  Zustand  durchlauft  oder  eine  P’olge  mebrerer 
psych opatbiscber  Zustande  darstellt.  Wir  unterscbeiden  daber  unter  den 
Psycbosen  obne  Defect  einfacbe  und  zusammengesetzte  Psy. 
chosen.  Einfacbe  Psycbosen  sind  solcbe,  welche  im  Wes  ent  lie  ben 
nur  einen  i^sychopatbischen  Zustand  durcblaufen ; von  etwaigen  kiii’zereu 


Die  Eintbeiiung  der  Psychoson. 


273 


Vor-  uucl  Naclistadieu  wire!  dabei  abgeselien*).  Zusammengesetzte  Psy- 
choseu  sind  solclie,  welclie  liintereinander  versebiedene  psychopathisebe 
Zustiiude  durcblaufeu.  Die  zusanimengesetzteu  Psychosen  sind  erheblich 
seltener  imd  praktisch  von  geringerer  Wichtigkeit.  Wir  werden  uns  daher 
uur  ganz  kurz  init  denselben  bescliaftigen.  Audi  werden  manche  der- 
selbcn  im  Anschluss  an  einzehie  einfache  Psychosen  anhangsweise  Er- 
wahnung  linden.  Die  einfachen  Psychosen  zeigen  wesentliche  Unterschiede, 
je  nachdem  die  ersten  Krankheitserscheinungen  auf  dem  Gebiete  der 
Aftecte  Oder  in  dem  Inhalt  der  Empfindungen  und  Vorstellungen  sich 
geltend  inachen.  Als  affective  Psychosen  bezeichnet  man  diejenigen  ein- 
fachen Psychosen,  deren  Primarsymptome  Affectstorungen  sind,  als  in- 
tellectuelle  Psychosen  diejenigen  einfachen  Psychosen,  deren  Primar- 
symptome inhaltliche  Storungen  des  Empfindens  (Sinnestauschungen)  oder 
des  Vorstellens  (Wahnvorstellungen,  Zwangsvorstellungen)  sind.  For  male 
Storungen  des  Vorstellungsablaufs  (also  Storungen  der  Geschwindigkeit 
und  des  Zusammenhangs  der  Ideenassociation)  kommen  als  isolirte  An- 
fangssymptome  einer  Psychose  nur  selten  vor,  sie  begleiten  vielniehr 
in  der  Kegel  entweder  die  Affectstorungen  oder  die  Emplindungs-  und 
Yorstellungsstorungen  der  einfachen  Psychosen  oder  folgen  den  ersteren 
oder  letzteren  nach.  Speciell  beobachtet  man  ungemein  selten  isolirte 
Ideenflucht  oder  isolirte  Incoharenz  als  Anfangs-  und  Hauptsyinptom 
einer  Psychose,  etwas  hauliger  tritt  Hemmung  des  Vorstellungsablaufs 
als  eiuziges,  erstes  und  dominirendes  Symptom  einer  bestimmten  Psy- 
chose auf;  man  bezeichnet  die  letztere  als  Stupiditiit  und  rechnet  sie  zu 
den  intellectuellen  Psychosen  und  fasst  alle  anderen  intellectuellen  Psy- 
chosen unter  dem  Begriff  der  Paranoia  und  des  Irreseins  aus  Zwangs- 
vorstelhmgen  zusammen.  Die  Paranoia  tritt  in  zwei  Hauptformen  auf, 
namlich  als  Paranoia  simplex  und  als  Paranoia  hallucinatoria.  Bei 
ersterer  sind  Wahnvorstellungen,  bei  letzterer  Sinnestauschungen  das 
Hauptsjinptom.  Treten  StorungeD  des  Vorstellungsablaufs  zu  den  in- 
haltlichen  Storungen  hinzu,  so  kommt  es  zu  drei  weiteren  Eormen  der 
Paranoia,  welche  wir  als  ideenfluchtige  Form,  stuporose  Form  und  in- 
cohiirente  Form  bezeichnen,  je  nachdem  Ideenflucht,  Denkhemmung  oder 
Incoharenz  als  zweites  Hauptsymptom  in  das  Krankheitsbild  eintreten. 

Die  weitere  Eintbeiiung  der  Defect  psychosen  geht  davon  aus,  dass 
der  Intelligenzdefect  bald  angeboren  bald  erworben  ist.  In  ersterem  Fall 
spricht  man  von  angeborenem,  in  letzterem  von  erworbenem  Schwachsinn. 
Der  angeborene  Schwachsinn  wird  je  nach  seinem  Grade  als  Idiotie, 
Imbecillitat  und  Debilitat  bezeichnet.  Der  erworbene  Schwachsinn  wird 
auch  als  Demenz  bezeichnet.  Die  wichtigsten  Eormen  der  Demenz 

*)  Ebenso  auch  von  dem  bereits  erwahnten  Ausgang  in  secundare  Demenz. 

Ziehen,  Psychiatrie.  18 


274 


Dio  Eintheilung  dor  Psychosen. 


sind  (lie  Dementia  senilis  und  die  Dementia  paralytica.  Audi  die  sog. 
D.  epileptica  und  alcoholica  sowie  die  melirfach  envalinte  Dementia 
secundaria  werden  liier  unterzubringen  sein. 

Es  ergiebt  sich  somit  auf  Grund  des  oben  aufgestellten  kliniscben 
Eintbeilungsprincips  folgende  Classification  der  Geisteskrankheiten. 

I.  Psychosen  obne  Intelligenz defect. 

A.  Einfache  Psycliosen:  ein  einziges  Hauptstadium. 

1.  Affective  Psychosen:  primarc  Hauptsymptome  auf  affectivem 

Gebiet: 

a)  Manie; 

b)  Melancholie ; 

c)  Neurastbenie. 

2.  Intellectuelle  Psychosen : primare  Hauptsymptome  auf  intellec- 

tuellem  Gebiet : 

a)  Stupiditiit; 

b)  Paranoia; 

a.  Paranoia  simplex; 
p.  Paranoia  hallucinatoria ; 
y.  Ideenfliichtige  Form; 

S.  Stuporose  Form; 
e.  Incoharente  Form; 

c)  Irresein  aus  Zwangsvorstellungen. 

B.  Zusammengesetzte  Psycliosen:  mehrere  Ilauptstadien. 

II.  Defectpsy chosen. 

A.  Angeboreuer  Schwachsinn : 

a.  Idiotie ; 

b.  Imbecillitat; 

c.  Debilitat. 

B.  Erworbener  Schwachsinn  s.  Dementia: 

a.  Dementia  paralytica; 

b.  Dementia  senilis; 

c.  Dementia  secundaria  nach  functionellen  Psycliosen; 

d.  Dementia  secundaria  bei  Heerderkrankungen  (Syphilis  cere- 
bri u.  s.  w.) ; 

e.  Dementia  epileptica; 

f.  Dementia  alcoholica. 

Im  Einzelnen  wird  ausfiibrlich  zu  erortern  sein,  dass  die  soeben  auf- 
gezahlten  Psycliosen  nur  die  typischen  Formen  darstellen,  dass  aber 
zwischen  diesen  typischen  Formen  zablreiche  Uebergangsfornien  vor- 
kommen.  Bei  dem  angeborenen  Schwachsinn  konimt  nicht  selten  cine 


Die  Eintheilung  der  Psycboseii. 


275 


iManie  odor  Melancliolie  oder  Paranoia  ziim  A.iisbrucli,  mit  anderen 
Worten  zu  der  angeborenen  Defcctpsyclioso  kommt  eiue  der  unter  I, 
A angefiibrten  Psyclioseii  biiizu.  Ganz  besonders  aber  finden  sich 
innerlialb  der  Gruppe  I,  A zwisclien  den  einzelnen  Psychosen  zahlreiche 
Uebergangsfornien,  Die  wiclitigsten  derselben  werden  Icurz  im  Anschluss 
an  die  einzelnen  Psychosen  erwiihnt  werden.  Endlich  giebt  es  einige 
seltenere  Psychosen,  welche  nicht  einfach  als  Uebergangsformen  aufzu- 
fassen  sind,  sondern  eine  besondere  Stellimg  im  System  beanspruchen 
wiirden.  Eben  wegen  ihrer  Seltenheit  sind  dieselben  in  dem  obigen 
Schema  weggelassen  worden.  Zu  den  Uebergangsformen  gehoren  z.  B. 
auch  diejenigen  einfachen  Psychosen,  bei  welchen  affective  und  intelleo 
tuelle  Storungen  gleichzeitig  und  gleichbedeutsam  in  das  Krankheitsbild 
eintreten.  Diese  Uebergangspsychosen  zwisclien  den  affectiven  und  in- 
tellectuellen  Psychosen  bezeichnet  man  als  „gemischte^^  Psychosen. 
Die  in  der  allgemeinen  Pathologic  beschriebene  hysterische  psychische 
Degeneration  ist  z.  B.  bier  einzureihen.  Gerade  diese  gemischten  Psy- 
chosen kommen  vorzugsweise  auf  Grund  ganz  bestimmter  atiologischer 
Momente  vor,  wiihrend  das  Auftreten  der  meisten  iibrigen  Psychosen 
weniger  eng  an  einzelne  bestimmte  atiologische  Momente  gebunden  ist. 
Auch  diese  gemischten  Psychosen  werden  nur  fliichtig  beriihrt  werden, 
zumal  in  der  allgemeinen  Aetiologie  der  haufigeren  schon  ausfiihrlich  ge- 
dacht  worden  ist. 

Ausser  der  in  obigem  Schema  durchgefiihrten  Eintheilung  kann  man 
auf  Grund  andrer  Principien  noch  andere  Eintheilungen  aufstellen.  Unter 
diesen  hat  namentlich  die  atiologische  grosse  praktiscbe  Bedeutung,  weil 
erstens  die  Ursachen  der  Psychosen  oft  klarer  zu  Tage  treten  und 
leichter  festzustellen  sind  als  die  primilren  Hauptsymptome  und  weil 
zweitens  viele  atiologische  Momente  den  auf  ihrem  Bodeu  entstehenden 
Psychosen  meist  eine  ganz  bestimmte  symptomatische  Farbung  verleihen; 
jedeni  dieser  atiologischen  Momente  kommt  sonach  eine  bestimmte  sym- 
ptomatische Farbung  zu,  welche  auf  Grund  anderer  atiologischer  Momente 
viel  seltener  beobachtet  wird.  Auch  findet  man,  dass  u'gend  ein  atio- 
logisches  Moment  keineswegs  alle  Psychosen  gleichmassig  haufig  hervor- 
bringt,  sondern  einige  bestimmte  Psychosen  haufiger  als  andere.  Offen- 
bar  muss  eine  genaue  Kenntniss  dieser  atiologischen  Beziehungen  die 
Diagnose  sehr  erleichtern.  Es  wird  daher  am  Schluss  der  Besprechung 
der  einzelnen  Psychosen  nochmals  eine  atiologisch  geordnete  Uehersicht 
derselben  gegeben  werden.  Desgleichen  wird  aus  ahnlichen  Griinden  am 
Schluss  noch  eine  kurze  Uebersicht  iiber  die  Psychosen  vom  Standpunkt 
ihres  Gesammtverlaufes  aus  (ob  transitorisch,  recidivirend,  periodisch, 
circular  u.  s.  w.)  gegeben  werden.  Der  Hauptbesprechung  wird  jedoch 
ausschliesslich  das  oben  gegebene  Schema  zu  Grunde  gelegt  werden. 

18* 


27G 


Manic. 


J.  Psjcliosen  olmo  Iiitcllio'onzdefect. 

A.  Einfjiche  Psychoseii. 

1.  AfiFectlve  Psychosen. 
a.  Die  Man ie. 

Die  Manie  ist  eine  Geistesstorung,  welche  diirch  zwei  primare  Haupt- 
symptoine  ausgezeichnet  ist,  namlich  durcli 

1.  heitere  Verstimmung  (Exaltation)  und 

2.  Beschleunigung  der  Ideenassociation. 

Eine  Theilersclieinung  der  letzteren  ist  die  niotorische  Agitation. 
Wie  alle  iibrigen  Kindenassociationen  beschleunigt  sind,  so  ist  aucli  die 
Association  inotorischer  Rindenerregimgen  beschleunigt.  So  entsteht  der 
krankhafte  Bewegungsdrang  des  Maniakalischen.  Da  dies  Symptom  dem 
Beobachter  sicli  meist  am  augenfalligsten  darstellt,  hat  man  es  haufig 
als.  drittes  Hauptsymptom  der  Manie  aufgefiihrt.  — Ueber  das  gegen- 
seitige  Verhaltniss  der  heiteren  Verstimmung  und  der  Bescldeuniguug 
des  Vorstellungsablaufs  bestehen  sehr  verschiedene  Ansichten.  Bald  hat 
man  die  letztere  als  das  einzige  primiire  Symptom  bezeichnet  und  die 
heitere  Verstimmung  aus  dem  Geflihl  der  Erleichterung  des  Vorstellungs- 
ablaufs erklaren  wollen,  bald  hat  man  die  heitere  Verstimmung  als  das 
primare  Symptom  iDezeichnet  und  die  Beschleunigung  des  Vorstellungs- 
ablaufes  als  eine  Eolgeerscheinung  derselben  gedeutet.  Die  klinische  Be- 
obachtung  spricht  entschieden  dafiir,  dass  beide  Symptome  primar  und 
untereinander  coordinirt  sind.  • Worauf  diese  Coordination  beruht,  ver- 
mag  die  physiologische  Psychologie  noch  nicht  mit  Sicherheit  anzugeben. 

S p e c i e 1 1 e S y m p t o m a t o 1 o g i e. 

Affecte.  Die  heitere  Verstimmung  ist,  wie  die  allgem  eine  Psycho- 
pathologie  lehrt,  das  krankhafte  Uebervviegen  positiver  Gefiihlstdne.  Sie 
betrilft  in  gleicher  Weise  die  Gefiihlstone  der  Empfindungen  wie  der 
Vorstellungen.  So  kommt  es,  dass  'der  Maniakalische  von  „gbttlichen 
Zahnschmerzen^^  spricht,  dass  die  einfachste  Landschaft  ihm  „wunderbar 
verschout^^  erscheint,  dass  er  die  entsetzlichste  Musik  fiir  „herrliche  Har- 
monie^^  erklart.  Die  asthetischen  und  ethischen  Gefiihlstone  seiner  Vor- 
stellungen sind  ebenso  alle  nach  der  positiven  Seite  verschoben.  Der 
Maniakalische  schwiirmt  fiir  das  Gute  und  Schbne.  Er  ist  Optimist. 
Die  Zukunft  erscheint  ihm  ebenso  wie  die  Gegenwart  im  hellsten  Licht. 
Keine  Enttiiuschung  vermag  seinen  Humor  dauernd  zu  stdren.  Ganz 
besonders  ausgesprochen  ist  stets  die  krankhafte  positive  Gefiihlsbetonung 


Manie. 


277 


cler  Empfindimgen  und  Vorstellungen  des  eigeneu  Ichs.  Der  Maniakalische 
fiililt  sicli  gesund  imd  leistungsfaliig  wie  nie  ziivor.  Viele  Kranke  be- 
zeiclmeu  sicli  geradezu  als  .,verjlingt"  oder  „neiigeboren^^  Die  eigene 
Bedentimg  wii-d  erlieblicli  iiberschatzt.  Der  Kranke  glaiibt,  die  ganze 
Welt  stelie  ilim  olfen.  Die  Gefiible  gegenliber  deu  Personen  der  Um- 
gebung  sind  verscliieden.  Zimacbst  bedingt  die  lieitere  Verstimmung 
aiich  bier  positive  Gefiihlstone.  „Seid  nmscblungen,  Millionen!"  war  das 
Losungswort  eines  Maniakaliscben.  Andrerseits  bringt  es  die  dominirende 
Ueberscliatzuug  der  eigeuen  Personlichkeit  mit  sicb,  dass  der  Kranke 
jeden  Widersprucli  und  jeden  Widerstand  seiner  Umgebimg  doppelt  un- 
angenebm  empfindet  und  daher  oft  in  maasslosen,  wenn  aucb  meist  rasch 
wieder  verrauchenden  Zorn  geratb.  So  kommt  es,  dass  die  beitere  Ver- 
stiinmung  des  Maniakaliscben  sicb  so  sebr  biiiifig  mit  Zornmlitbigkeit 
oder  Eeizbarkeit  verkniipft. 

Gelegentlicb  kann  der  Maniakoliscbe  sogar  weinerlicb  sein.  Die  Wirk- 
licbkeit  klart  ibn  gelegentlicb  iiber  die  Hiilflosigkeit  und  Bedeutungs- 
losigkeit  seines  iiberscbatzten  Icbs  auf.  Auf  der  Kobe  der  Exaltation 
antwortet  der  Kranke  bierauf  mit  Zornausbriicben ; ist  aber  die  Exalta- 
tion nocb  nicbt  oder  nicbt  mebr  auf  der  Kobe,  so  ist  der  Kranke 
empfindlicb  und  weinerlicb.  Haufig  findet  sicb  aucb  eine  aus  Reizbar- 
keit  und  Weinerlicbkeit  gemiscbte  Stimmung.  Diese  scbeinbar  dem 
Grundaifect  der  Manie  widersprecbenden  Stimmungen  sind,  wie  leicbt 
erklarlicb,  im  Beginn  und  am  Scbluss  der  Manie  sowie  wabrend  gelegent- 
licb er  Remissionen  und  endlicb  aucb  bei  den  leicbteren  Formen  am 
baufigsten. 

Das  seltene  Vorkommen  depressiver  Pbasen  und  Angstanfiille  wird 
bei  der  Darstellung  des  Verlaufes  der  Manie  erwiilint  werden. 

Empfindimgen.  Auf  dem  Gebiet  der  Empfindimgen  zeigen  viele 
Maniakaliscbe  keine  Stoning.  Die  Reizscbwelle  ist  nicbt  merklicb  berab- 
gesetzt.  Inbaltlicbe  Storungen  der  Empfindung  feblen  in  vielen  Fallen 
vollstandig.  Nur  in  etwa  einem  Fiinftel  der  Falle  treten  Hallucinationen 
auf.  Meist  bandelt  es  sicb  um  Visionen.  In  der  Regel  sind  dieselben 
durcb  Mannicbfaltigkeit  und  Beweglicbkeit  ausgezeicbnet.  Tbiere,  Land- 
scbaften,  Fratzen  werden  am  baufigsten  geseben.  Der  Inbalt  der 
letzteren  entspricbt  nicbt  stets  der  krankbaften  Heiterkeit  des  Patienten. 
Vereinzelt  finden  sicb  aucb  Gescbmacks-,  und  Berubrungsballucinationen. 
Haufiger  als  Hallucinationen  sind  Illusionen.  Aucb  unter  diesen  berr- 
scben  Gesicbtstauscbungen  vor. 

Eine  Priidisposition  fiir  Hallucinationen  und  Illusionen  zeigen  Indi- 
viduen  in  sebr  jugendlicbem  oder  sebr  vorgeriicktem  Alter  sowie  Alko- 
bolisten.  Endlicb  begiinstigen  cbroniscbe  Paukenboblencatarrbe  speciell 
das  Auftreten  von  Gebbrstauscbungen  bei  der  Manie, 


278 


Manie. 


Diejenige  Form  cler  Manie,  bei  welclier  es  zu  massenliafteren  Sinnes- 
tauscbungen  kommt,  wird  aiicli  als  Mania  hallucinatoria  bezeichnet. 

Die  Vorstellnngen  des  Maniakalisclien  zeigen  in  forma ler  15c- 
ziehung  den  beschleunigten  Ablauf,  welcher  ol)en  als  ein  IIaui)tsymi)tom 
der  Krankheit  angeiuhrt  wurde.  Diese  Bescbleunigung  der  Ideenasso- 
ciation  kommt  in  den  verschiedensten  Graden  vor.  Bald  besclirankt  sie 
sicli  aiif  ein  leiclites  ^ideenfliichtiges  Geplauder^^,  bald  steigert  sie  sich 
zu  ausgesprocliener  „Ideeufluclit^^  Am  einfacbstcn  deukt  inaji  sich  die 
Bescbleunigung  der  Ideeuassociation  dadurch  entstanden,  dass  die  Pir- 
weckbarkeit  der  latenten  Plrinnerimgsbilder  in  pathologisclier  Weise  ge- 
steigert  ist.  Sprachlich  iiussert  sich  die  Ideenflucht  in  der  sog.  Logor- 
rhoe,  Wie  fast  stets  bei  Bescbleunigung  der  Ideeuassociation,  gewinnen 
auch  bei  dem  Maniakalischen  Aehnlichkeitsassociationen  mehr  Bedeutung 
als  bei  dem  Gesunden.  In  den  leichteren  Graden  der  Kraidcheit  verrath 
sich  dies  nur  in  einer  Neigung  zu  Wortspielen,  Wortwitzeu  und  dialec- 
tischem  Wortklauben,  in  den  schwereren  Graden  kommt  es  zu  Allitera- 
tionen  und  Keimen.  Der  Zusammenhang  der  Ideeuassociation  bleibt  in 
den  leichteren  Graden  der  Ideenflucht  noch  gewahrt.  Die  Kranken 

schweifen  oft  ab,  flechten  Parenthesen  ein,  iiberspringen  gelegentlich 
Zwischenglieder,  aber  sie  flnden  den  Faden  doch  noch  wieder  und  machen 
sich  verstandlich.  In  den  schwereren  Fallen  kommt  es  zu  secundarer 
Incoharenz.  Die  ausserlichen  Associationen  nach  der  Aehnlichkeit 
des  Wortklangs  iiberwiegen  vollstandig.  Die  Kranken  kommeu  vom 
Hundertsten  in  das  Tausendste  und  verlieren  fortwahreud  den  Faden. 
Schliesslich  geht  der  Satzzusainmeuhang  verloreu  und  in  den  schwersteu 
Fallen  reihen  die  Kranken  ganz  beliebige  Worte  ohne  irgeud  welchen 
inneren  Zusammenhang  und  ohne  Satzconstructiou  in  fliegender  Hast 
aneinander.  Es  kommt  also  zu  ausgepragter  secundarer,  d.  h.  durch 
Ideenflucht  bedingter  Verbigeration.  Diese  Verbigeration  ist  je  nach 
dem  Bildungsgrad  resp.  Wortschatz  des  Kranken  bald  ziemlich  monotou 
bald  sehr  wechselnd.  Substantiva  und  Adjectiva  herrscheu  in  der 
Regel  vor. 

Die  Bescbleunigung  der  Ideeuassociation  fiihrt  noch  zwei  Corollar- 
symptome  mit  sich,  namlich  erstens  den  gesteigerten  Bewegungsdrang 
und  zweitens  die  Steigerung  der  Aufmerksamkeit.  Von  ersterem  wird 
bei  den  Handlungen  der  Maniakalischen  die  Rede  sein.  Die  letztere,  die 
Steigerung  der  Aufmerksamkeit  (Hyperprosexie),  betrifft  den  Associations- 
vorgang,  durch  welchen  an  eine  Empfindung  die  erste  Vorstelluug  au- 
gereiht  wird.  Bei  dem  Maniakalischen  ist  auch  dieser  Associations- 
vorgang  beschleunigt.  In  Folge  der  abnormeu  Erweckbarkeit  aller 
latenten  Erinnerungsbilder  Ibsen  auch  Empfiudungeu,  welche  bei  dem 
Gesunden  viel  zu  schwach  wiiren,  eine  Vorstelluug  auzuregen  und  somit 


Manie. 


279 


die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  zielieu,  Vorstellungen  aiis  und  erregeu 
die  Aufmerksamkeit.  So  kommt  es,  dass  der  Mauiakalisclie  jede  kleine 
^'eriinderuug  in  der  Toilette  seiner  Umgebung  bemerkt,  jedes  Gerauscli 
auffiingt  n.  s.  f.,  und  an  die  scliwiiclisten  Sinneseindriicke  Benierkungen, 
namentlicb  Witze  und  Reniiniscenzen  anknlipft.  Dass  diese  Steigerung 
des  Aufmerkens  zugleicli  eine  Concentration  der  Aufmerksamkeit 
auf  einen  Gegenstand  im  hocbsten  Maase  erschwert,  liegt  auf  der 
Hand.  In  jenen  scliweren  Fallen,  in  welclien  die  Bescbleunigung  der 
Uindenassociationen  zu  secundarer  Incoharenz  fiibrt,  kommt  es  nicht 
selten  aucli  zu  secundarer  Unorientirtheit : die  Kranken  wissen  weder 
Datum  nocli  Aufentbaltsort  anzugeben. 

Inbaltlich  sind  die  Vorstellungen  des  Maniakalischen  oft  ganz 
intact.  Zunacbst  sind  die  einzelnen  Erinnerungsbilder  in  voller  Schiirfe 
und  Deutlichkeit  erbalten.  Die  Sclinelligkeit  der  Eeproduction  tauscht 
geradezu  eine  Steigernng  des  Gediichtnisses  (Hypermnesie)  vor.  Ebenso 
sind  die  Urtheilsassociationen  zunacbst  vollig  normal.  Oft  ist  der  Kranke 
selbst  ebenso  wie  seine  Umgebung  zunacbst  erstaunt,  wie  rascb  nnd 
ricbtig  der  Kranke  selbst  complicirte  Begriffe  zn  Urtbeilen  verbindet. 
Dies  erleidet  freilicb  mit  dem  Ansteigen  der  Krankbeit  eine  wesentlicbe 
Einscbriinkung.  Erstens  namlicb  fiibrt  die  Ideenflucbt,  wie  oben  bereits 
erwiibnt,  in  ibren  boberen  Graden  zn  Incobarenz  und  macbt  scbliesslicb 
alle  Urtbeilsassociationen  unmoglicb,  und  zweitens  fiibrt  die  Affectstorung 
scbliesslicb  zu  einer  inbaltlicben  Stoning  der  Urtbeilsassociationen.  In 
letzterer  Beziebung  kommt  namentlicb  die  krankbafte  Lustbetonung  der 
Icb-Empfindungen  und  Icb- Vorstellungen  in  Betracbt.  Diese  fiibrt  dazu, 
dass  der  Kranke  mit  seinem  Icb  allerband  Vorstellungen  der  Ueber- 
scbatzung  verkniipft.  In  den  leicbteren  Graden  bescbriinkt  sicb  dies  auf 
einfacbes  Prablen  mit  korperlicber  Starke  und  Scbonbeit  und  geistigen 
Fiibigkeiteu.  In  den  scbwereren  Graden  kommt  es  zu  wirklicben  Grossen- 
ideen.  Der  Kranke  spricbt  von  Keicbtbiimern,  die  er  gar  nicbt  besitzt. 
Er  erzilblt  von  boben  Connexionen,  Beziebungen  zu  alien  europiliscben 
Hofen  u.  dgl.  mebr.  Andere  construiren  sicb  einen  adligen  Stammbaum 
und  unterscbreiben  sicb  mit  „von^b  Weiblicbe  Kranlie  fabeln  von  aller- 
band vornebmen  Verlobungen.  In  den  scbwersten  Graden  bebaupten 
die  Kranken  direct:  icb  bin  der  Kaiser,  die  Landratbin,  die  Mutter 
Gottes,  die  Braut  Cbristi,  icb  bin  Millionarin  u.  s.  f.  Ein  ISjabriger 
maniakaliscber  Junge  vom  Lande  stellte  sicb  mir  als  Doctor  der  Pbilo- 
sopbie  vor.  Dieser  Grossenwabn  erstreckt  sicb  aucb  auf  Vergangenbeit 
und  Zukunft.  Die  fabelbaftesten  Erlebnisse  werden  bericbtet,  die  gross- 
artigsten  Plane  gescbmiedet.  Dabei  sind  diese  Grbssenideen  baufig 
durcb  grosse  Eliicbtigkeit  ausgezeicbnet.  Kedet  man  dem  Kranken  ein- 
dringlicb  zu,  er  solle  keine  solcbe  Tborbeiten  reden  und  sicb  besinnen, 


280 


Manie. 


so  gelingt  es  iu  vieleu  Fallen  clem  Kranken  das  Gestandniss  zu  entlocken 
class  alles  „nur  Sclierz"  oder  „nur  Komddie'^  sei.  Dies  latente  Kranklieits- 
bewusstsein  Imweist  am  besten,  dass  die  Grdsseniclee  adectiven  Ursprungs 
imd  mcht  primar  ist.  Mitiiuter  gel)en  die  Kranken  naclitraglich  in  der 
lleconvalescenz  selbst  ganz  richtig  an,  dass  ilire  „ubermutliige  Laune 
odei  ibre  Unriihe  sie  auf  solche  Gedankeu  gebracht  habe“. 

Dieser  Grossenwahn  tlieilt  sicli  zuweilen  auch  der  Auffassimg  der 
Umgebung  mit.  So  behaiiptete  eine  Kranke,  dass  die  vom  Fenster'^ilires 
Zimmers  sicbtbaren  Hiigel  die  Berge  der  Riviera  seien  Anclere  ver- 
muthen  in  ibren  Mitkranken  verkleidete  bobe  Persbnlicbkeiten.  Die 
ganze  Aufnabme  in  die  Anstalt  ist  ibnen  ein  Karnevalsscberz , in  der 
Anstalt  soil  ibre  Vermablung  mit  einem  boben  Herrn  gefeiert  werclen. 
Aucb  bier  lacben  die  Kranken,  wenn  man  scbarf  in  sie  eindringt,  iiber 
,,solcben  Unsinn^^  Selten  feblt  das  Krankbeitsbewusstsein  fur  cliese 
illusionaren  Auslegungen  der  Manie  vollstanclig. 

Anclere  Wabnicleen  als  die  soeben  angefubrten  Grossenicleen  sind 
bei  der  Manie  sebr  selten.  In  den  voriibergebenden  spater  zu  erwalmen- 
clen  Angstanfallen  kommen  Angstvorstellungen  entsprecbenden  Inbalts 
(der  Versundigung,  der  Verfolgung,  zuweilen  aucb  bypocboudriscbe 
Wabnvorstellungen)  ab  unci  zu  vor.  Voriibergebend  konneu  aucb  Halluci- 
nationen  Verfolgungsideen  bervorrufen.  Die  weiuerlicbe  Reizbarkeit  cles 
Reconvalescenzstacliums  fiibrt  biiufig  zu  einem  unbestimmten  Wabn  der 
Zuriicksetzung.  Der  Kranke  aussert:  „mit  mir  meinen  es  natiirlicb  alle 
scblecbt,  icb  bin  immer  das  Ascbenbroclel"  u.  s.  f. 

Die  Hand  lung en  cles  Maniakaliscben  sind  entsprecbend  der  patbo- 
logiscben  Gefiiblsreaction  unci  der  Bescbleunigung  der  Associationsvor- 
gange  gestort.  Am  becleutsamsten  ist  die  letztere,  inclem  sie  direct  zu 
clem  bereits  eingangs  erwabnten  Beweguugsdrang,  der  motoriscben  Agita- 
tion Anlass  giebt.  Dieser  Bewegungsdrang  aussert  sicb  zuuacbst  iu 
einer  imermiidlicben  Logorrboe.  Die  Kranken  sprecben  fast  uuuuter- 
brocbeu  unci  mit  erstaunlicber  Zuugenfertigkeit.  Oft  lassen  sie  sicb 
kaum  Zeit  luterpunctiouen  einzubalten.  Keinen  anclereu  lassen  sie  zu 
Woit  komnieu.  Fortwabreud  fallen  sie  iu  die  Rede.  Keiu  Gebeiinniss 
bebalten  sie  fiir  sicb.  Sie  gelten  daber  bald  fiir  tactlos  und  incliscret. 
Meist  kommt  binzu,  dass  die  Kranken  mit  scbreieucler  Stimme  sprecben. 
Oft  zeigt  sicb  aucb  eine  Neigung  zu  cleclamirencler  Betonung.  Der  Vor- 
liebe  fiir  Reime  wurde  bereits  geclacbt.  Viele  Kranke  lieben  gewablte 
Ausdrlicke,  anclere  miscbeu  frauzosiscbe  Brocken  ein.  In  den  boberen 
Gracleu  der  Krankbeit  singen  die  Kranken  stuucleulaug,  in  den  bocbsten 
kommt  es  zu  unarticulirtem  Briillen.  Ebeuso  ist  aucb  der  Gesicbts- 
ausclruck  und  die  Gesticulation  veriindert.  Die  Augen  sind  eutspre- 
cbencl  der  Stimmungsverancleruug  eber  weit  geoffnet,  das  ganze  Gesicbt 


Manie. 


281 


lacht*).  Das  ]\iienenspiel  fal^t  durcli  grosse  Lebhaftigkeit  auf.  Die  Gesti- 
cnlatiou  ist  gesteigert.  Eine  auffiillige  Eitelkeit  macht  sich  geltencl.  Der 
Kranke  liebt  anffiillige  Kleidnng.  Weiblicbe  Kranke  werdeu  kokett,  stecken 
sich  Bhimen  ins  Haar,  schmucken  sich  mit  auffiillig  bimten  Bandern, 
Avecliseln  fortwabrend  die  Erisureii,  decolletiren  sich  in  indecenter  Weise. 
Der  Kranke  mocbte  ,,die  gauze  Welt  nmarmen".  Er  sitzt  selten  still. 
Eine  fortwalirende  Unrulie  treibt  ilm  umber.  Oft  bat  der  Gang  etwas 
Tiiuzelndes.  Er  betastet  alle  Gegenstande**),  redet  fremde  Personen  wie 
alte  Bekauute  an,  scbliigt  Vorgesetzten  gegenliber  einen  cordialen  Ton 
an.  Eine  imermudlicbe  Gescbaftigkeit  treibt  ibn  Tag  und  Nacht  umber. 
Seine  Unternebmungslnst  verleitet  ilm  zn  gewagten  gescbaftlicben  Specula- 
tionen.  Hindernisse  existiren  flir  ibn  nicbt.  . Er  schreibt  zabllose  Briefe, 
setzt  Annoncen  in  die  Zeitung  nnd  verfasst  Gedicbte.  Alle  sinulicben 
Begierden  siud  dnrch  die  beitere  Verstimmimg  gesteigert  nnd  setzen 
sicb  in  Folge  des  gebobenen  Selbstgefiibls  und  der  Bescbleunigimg  der 
motoriscben  Keactionen  sofort  in  entsprechende  Handlimgen  um.  Der 
Kranke  lebt  daber  weit  iiber  seine  Verbaltnisse  binaus.  Er  macbt  kost- 
spielige  Reisen.  Besouders  biinfig  sind  Alkobolexcesse,  die  ibrerseits 
oft  znr  Steigerung  der  Kraukheit  beitragen.  Am  bedentsamsten  sind 
die  krankhaften  Handlimgen  auf  sexuellem  Gebiet.  Der  Kranke  reisst, 
seiner  sonstigen  Gewobnbeit  ganz  zuwider,  Zoteu.  Uniiberlegte  Ver- 
lobimgen  kommen  zn  Staude.  Grobere  sexnelle  Excesse,  bald  anf  nor- 
malem  Wege,  bald  dnrcb  Masturbation,  bleiben  nicbt  aus. 

Mit  seiner  Umgebimg  geriitb  der  Kranke  fortwiilirend  in  Couflicte. 
Sein  Renommiren  fordert  den  Widersprucb  der  Umgebimg  geradezii 
beraiis,  und  sein  gehobenes  Selbstgefiibl  vertriigt  keiiien  Widersprucb. 
Hier  kommt  namentlicb  die  Zornmiitbigkeit  des  Kranken  znr  Geltimg. 
Er  wird  bei  Disciissionen  leicbt  bandgreiflich.  Mitimter  fiibrt  der  Jiih- 
zorn  zii  scbweren  Korperverletzimgen.  Namentlicb  der  Biertiscb  ist  dem 
Kranken  in  dieser  Bezielmng  gefabrlicb:  bier  kommt  es  zn  Injiirien 
(z.  B.  aiicb  Majestatsbeleidigimgen)  nnd  Scblagereien.  Da  der  Kranke 
Aiitoritaten  — wiederiim  in  Folge  seines  gebobenen  Selbstgefiibls  — nicbt 
anerkennt,  so  ist  „Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt^^  imgemein  baiifig. 

In  den  seitber  betracbteten  FMlen  waren  die  Handlimgen  des 
Kranken  nocb  immer  von  znsammenbaugenden  Vorstellimgen  (Motiven) 
beherrscbt.  In  den  scbwereren  Fallen  werden  die  motoriscben  Reactionen 
mebr  und  mebr  vom  Spiel  der  Motive  imabbiingig.  Zii  letzterem  bleibt 
bei  der  Fliicbt  der  Associationen  eben  gar  keine  Zeit.  Die  Heinmiingen, 

*)  Vgl.  (lie  physiognomische  Tafel  Fig.  1. 

**)  Auch  Diebstable  kommen  zuweilen  vor:  cler  Kranke  glaubt  alles  sein  eigen, 
bei  der  Gescbwincligkeit  seiner  Associationen  wird  er  geradezn  von  seinen  eigenen 
Handlimgen  tiberrascht. 


282 


Manie. 


iiber  welclie  cler  Gesiiude  verfugt,  kommen  uicht  melir  zur  Geltung. 
Die  Kianken  piitzen  sich  in  cler  pliantastisclisten  Weise  auf.  Ililufig 
koinnit  es  — namentlich  aucli  l)ei  weiblichen  Krauken  — zu  scliain- 
losem  Eutblbsseii.  In  lortwalirendein  Nestelii,  Urinsalben  und  Koth- 
scliiiiieien  aussert  sicli  der  motorisclie  Drang  auf  sexuellem  Gebiet, 
weun  anderweitigc  Entladimgen  unmbglich  sind.  Feblt  Ueberwachung, 
so  kommen  brutale  sexuelle  Vergewaltiguugen  vor.  Mildcben  aus  guter 
kamilie  eigeben  sich  der  Prostitution  oder  einem  wildfremden  Mann. 
Der  motorisclie  Drang  und  der  patliologisclie  Zorn  des  Kranken  ricbtet 
sich  auch  gegen  Sachen.  Er  zcrreisst  seine  Kleider,  zerstbrt  Mobiliar, 
poltert  gegen  Thlir  und  Wiinde  unter  unarticulirtem  Schreien.  Kurz, 
es  entwickelt  sich  das  Bild  einer  ausgesprochenen  Tobsucht.  In  den 
schwersten  I alien  kbnnen  die  motorischen  Acte  scheinbar  ganz  regellos 
werden.  Es  kommt  zu  den  riicksichtslosesten  Jactationen,  mitunter 
auch  zu  Zahuekuirschen.  Der  Unerfahrene  kann  geradezu  den  Ein- 
druck  .gewinnen,  dass  es  sich  urn  Convulsionen  handle.  Der  Kranke 
lasst  Koth  und  Urin  unter  sich,  weil  zahllose  anderweitige  motorisclie 
Entladimgen  iliiii  keine  Zeit  lassen,  den  Nachtstuhl  aufzusuchen.  Die 
Nahrungsaufnahme , die  schon  in  den  leichteren  Fallen  dadurch  gestort 
ist,  dass  die  Kranken  durch  jeden  Sinnesreiz  von  clem  Essen  abgelenkt 
werden,  hort  jetzt  fast  ganz  auf:  das  Essen  wire!  umher  geworfen,  an  die 
Wiinde  geschmiert,  dem  Krankenpfleger  ins  Gesicht  geschiittet  u.  dgl.m. 

Sehr  bemerkenswerth  — namentlich  in  den  leichteren  Fallen  — ist 
auch  die  Art  und  Weise,  wie  der  Kranke  Vorhaltungen  wegen  seiner 
krankhaften  Handlungen  begegnet:  meist  sucht  er  niimlich  — zuweilen 
mit  grosser  dialectischer  Gewandtheit  — nachtriiglich  seine  krankhaften 
Handlungen  zu  motiviren,  zu  entschuldigen  und  zu  beschonigeu*).  Seltener 
haben  die  Kranken  genug  Einsicht,  den  wirklichen  Ursprung  ihrer  krank- 
haften Handlungen  (aus  der  Aifectveranderung  und  Associationsbe- 
schleunigung)  selbst  zu  erkennen.  Alan  bezeichnet  die  Neigung  der 
Alaniakalischen  zu  derartigen  dialectischen  Eechtfertiguugsversuchen  als 
den  riisonnirenden  Charakter  der  Alanie  und  hat  diejenigen  Fiille 
von  Manie,  bei  welchen  dieser  riisonnirende  Charakter  besonders  aus- 
gesprochen  ist,  als  Manie  raisounante  bezeichnet. 

So  mat  is  die  Symptome  s.  str.  Liilimungen  und  Aniisthesien 
fehlen  vollstiindig.  Die  Schmerzempfindlichkeit  ist  oft  herabgesetzt. 
Haufig,  namentlich  bei  jugendlichen  Kranken,  finden  sich  ausgepriigte 
Druckpunkte,  namentlich  im  Rumpfgebiet.  Spontane  Schmerzen  und 
Parasthesien  sind  selten ; nur  iiber  Kopfschmerzen  wire!  otter,  namentlich 

*)  So  entschuldigte  sich  z.  B,  eine  Kranke,  welche  ihr  gesammtes  Essgeschirr 
zerschlagen  batte,  lachend  damit,  dass  „beute  doch  der  Polterabend  der  Prinzessin, 
welcbe  sicb  demnaebst  verheiratbe,  gefeiert  werde“. 


Manie. 


283 


ini  Beginn  unci  gegen  Schluss  der  Krankheit  geldagt.  Die  dynamo- 
nietrisclie  Messung  des  Hilndcdriicks  ergiebt  keine  die  Norm  iiber- 
steigenden  Wertlie.  Liisst  man  den  Druck  auf  das  Dynamometer  in 
Zwisclienraumen  von  einer  lialben  Minute  iviederliolen , so  tritt  in  man- 
clien  Fallen  auffallend  viel  spiiter  als  sonst  Ermildung  ein. 

Audi  die  eigenartigeu  Empfiudungen  der  Ermlidung  fehlen  clem 
Maniakalisdien  baulig  vollstandig.  Damit  biingt  zusammen,  class  Scblaf- 
losigkeit  eiues  der  constantesten  Symptome.fast  jecler  Manie  ist. 

Die  liautreflexe  sincl  zuweilen,  namentlidi  bei  jugenclliclien  Fallen, 
gesteigert.  Die  Sebnenplianomene  sowie  die  idiomusculare  Erregbarkeit 
sincl  meist  stark  gesteigert;  ab  unci  zu  ist  fiir  die  Dauer  der  Krankheit 
Fussdonus  nacbzuweisen.  Die  Pupillen  sincl  mitunter  etwas  erweitert, 
die  Reactionen  prompt,  aber  zuweilen  etwas  wenig  ausgiebig. 

Die  Korper temp  era tur  ist  normal,  zuweilen  sogar  subnormal. 
Nur  in  den  scbwersten  Fallen,  in  welchen  die  Ideenflucht  sich  zu  in- 
coharenten  Verbigerationen  steigert  unci  die  motorische  Agitation  zu 
ganz  regellosen  Jactationen  flibrt,  werclen  Temperatursteigerungen  (zu- 
weilen bis  39,5“)  ohne  complicii’encle  somatische  Erkrankung  beobaclitet. 
Die  peripheren  Arterien  sind  baufig  stark  contrahirt,  gelegentlich  weidit 
■ der  Gefcissspasmus  auch  ausgesprodienen  Vasoparesen.  Dementsprechend 
ist  das  sphygmographische  Bilcl  ein  sehr  wediselndes.  Audi  die  Haut- 
itemperatur  ist  grossen  Sdiwankungen  unterworfen.  Die  Pulsfrequenz 
ist  baufig  niedriger  als  normal. 

Die  Scbweisssecretion  erscbeint  in  Anbetracbt  der  starken  Muskel- 
tbatigkeit  meist  auffallend  geringfugig,  die  Speicbelsecretion  oft  zu  aiis- 
gesprocbener  Salivation  gesteigert. 

Gastrisdie  Stor ungen  sincl  im  Beginn  der  Manie  fast  stets  zu  finclen. 
Im  weiteren  Verlauf  bessern  sicb  dieselben  zuweilen  in  auffalliger  Weise. 
Hartniiddge  Obstipation  kommt  ab  unci  zu  vor.  An  die  Stelle  der  an- 
fanglicben  Anorexie  kann  spiiter  Bulimie  treten.  — Der  Stoffwecbsel  der 
Manie  ist  nodi  nidit  griindlicb  imtersucbt  worclen.  Wenn  scbwere  In- 
cobiirenz  unci  Jactationen  sicb  einstellen,  also  in  den  cleliranten  Ziistanclen 
der  scbwersten  Fiille  ist  oft  Albiiminurie  bezw.  Propeptonurie  zu  con- 
statiren.  Ancb  hyaline  Cyfinder  finclen  sicb  ofter  auf  der  Hobe  der  Er- 
regung.  Das  Korpergewicbt  nimmt  in  der  Regel  mit  zunebmencler  Erkran- 
kung stetig  ab.  Sobalcl  die  Berubigung  beginnt,  baufig  scbon  etwas  vor- 
her,  nimmt  das  Korpergewicbt  rasch  zu.  Nicbt  selten  finclet  man  iibrigens 
auch  eine  voriibergebencle  Korpergeivicbtszunabme  im  Beginn  der  Er- 
krankung, nacbclem  die  Anorexie  des  clepressiven  Vorstacliums  gewicbenist. 

Verlauf.  Der  Verlauf  der  Manie  lasst  gewobnlicb  3 Staclien  er- 
kennen:  ein  clepressives  Vorstaclium,  das  exaltirte  Hauptstaclium  unci  ein 
clepressives  Nacbstadium. 


284 


Manie. 


In  clem  Vo r stadium  ist  die  Stimmung  gedriickt.  Das  Selbstvertrauen 
schwindet  melir  und  mehr.  Ilypochondrische  Besorgnisse  c^ualen  den 
Kraukeii.  (jelegentlicli  treten  auch  leichte  Beiingstigungen  mit  Neigung 
zii  Selbstanklagen  imd  Lcbensiiberdriiss  aiif.  Die  Associationsvorgange 
zeigen  eine  leichte  Ilemmung.  Die  geistige  Leistungsfaliigkeit  scheint 
lierabgesetzt.  Die  Kranken  arbeiten  langsain  imd  olme  Lust;  zuweilen 
hiiteii  sie  das  Bett.  In  ihren  Entscbliissen  zeigt  sich  eine  auffilllige  Zag- 
haftigkeit.  Dazu  kommen  gastrische  Bescliwerden,  Kopfdruck  und  all- 
gemeines  Mattigkeitsgefiihl.  Das  wiclitige  Symptom  der  Schlaflosigkeit 
zeigt  sich  meist  schon  jetzt.  — Selten  fehlt  dies  depressive  Vorstadiuin 
ganz.  Seine  Dauer  betriigt  durchschnittlich  4-8  Wochen. 

Das  Hauptstadium  der  Krankheit  entwickelt  sich  aus  dem  ini- 
tialen  Depressionsstadium  meist  allmahlich  binnen  einiger  Tage  oder 
Wochen.  Die  heitere  Verstimmung,  die  Beschleuniguug  des  Vorstellungs- 
ablaufs  und  der  Bewegungsdrang  verdrangen  mehr  und  mehr,  zuweilen 
unter  einigem  Hin-  und  Herschwanken  die  Depression,  die  Denkhemmung 
und  die  motorische  Tragheit.  Der  weitere  Krankheitsanstieg  erfolgt 
mit  sehr  verschiedener  Greschwindigkeit  und  bis  zu  sehr  verschiedener 
Hohe.  Bei  den  leichteren  Formen,  der  sog.  maniakalischen  Exaltation 
oder  Hypo  manie  (Mania  levis)  bleibt  es  bei  einer  niiissigen  Ausgelassen- 
heit,  deren  pathologischer  Charakter  oft  nur  dadurch  festzustellen  ist, 
class  man  von  den  Angehbrigen  in  Erfahrung  bringt,  class  die  jetzige 
Stimmungslage  des  Kranken  seiner  frilhern  Stimmungslage  und  seinem 
Temperament  in  gesunden  Zeiten  gar  nicht  entspricht.  Die  Beschleu- 
nigung  des  Vorstellungsablaufs  aussert  sich  nur  in  einer  unermudlichen 
Eedseligkeit  und  fortwahrenden  Abschweifungen.  Die  Kranken  schreiben 
viel,  machen  unniitze  Einkaufe,  begehen  Trinkexcesse,  werden  putz-  und 
vergniigungssiichtig,  renommiren,  kokettiren,  fangen  leicht  Handel  an; 
auch  Excesse  in  Venere  et  Mcotiana  sind  haufig.  Bei  der  Mania  gravis, 
der  schwereren  Form,  erfahren  alle  Symptome  die  oben  in  der  speciellen 
Symptomatologie  ausfiihrlich  erbrterte  Steigerung.  Es  tritt  wirkliche 
Ideenflucht  ein,  die  motorische  Agitation  wire!  dem  Einfluss  hemmender 
Vorstelhmgen  ganz  entriickt  und  steigert  sich  zu  ausgepragter  Tobsucht. 
In  den  schwersten  Fallen  endlich,  welche  man  frliher  dem  veralteten 
Delirium  acutum  subsumirte,  steigert  sich  die  Ideenflucht  bis  zu  secun- 
clarer  Incohiirenz  (Verbigeration  und  secundare  Unorientirtheit),  und  die 
motorischen  Entladungen  werden  so  jah  und  regellos,  class  ein  Einfluss 
des  Vorstelhmgslebens  auf  dieselben  iiberhaupt  nicht  mehr  nachweisbar 
ist.  Meist  stellt  sich  in  diesen  schwersten  Fallen  auch  Fieber  ein. 

Das  Hauptstadium  der  Krankheit  klingt,  falls  der  Tod  nicht  eintritt, 
meist  ganz  allmahlich  aus.  Das  erste  Zeichen  der  bevorstehenden  Ge- 
nesung  ist  in  vielen  Fallen  die  Besserung  des  Schlafes.  Sehr  haufig  ist 


Manie. 


285 


(ler  Kranldieitsverlanf  auf  cler  Holie  der  Krankheit  ein  remittirencler. 
Aucli  weuu  die  Krankheitsliuhe  bereits  uberscliritten  ist,  siud  Eeexacerba- 
tionen  sebr  baufig.  Beim  weibliclieu  Gesclileclit  kniipfen  dieselben  gern 
an  die  Menstruation  an.  Zur  Zeit  der  letzteren  pflegt  iiberlianpt  in  vielen 
i Fallen  die  Krankheit  sicli  am  intensivsten  zii  ilussern.  Die  Handlungen 
! der  Kranken  wahrend  des  Abklingens  der  Erregung  haben  oft  etwas 
I auffallig  Albernes  imd  Kindisclies,  so  dass  geradezu  der  Uebergang  in 
I Schwachsinn  vorgetauscht  wird. 

i Mit  dem  Abklingen  der  Erregung  erfolgt  in  den  giinstigen  Fallen 
j der  Eintritt  in  ein  depressives  Nachstadium.  Dasselbe  ist  gegen  das 
Erregungsstadium  niemals  scharf  abgesetzt.  Selten  fehlt  es  ganz.  Die 
Kranken  sind  in  diesem  Nachstadium  launenhaft,  reizbar  und  empfindlich. 
Die  Steigerung  ihres  Selbstgefiihls  wirkt  aus  dem  Erregungsstadium  oft 
noch  nach:  aber  die  Kranken  beinerken  jetzt  den  Contrast,  welchen  die 
Wirklichkeit  zu  ihren  „hochfliegenden  Traumen''  bildet.  Demgemass  sind 
sie  weinerlich.  Hier  tritt  auch  haufig  der  oben  erwiilmte  Zuriicksetzungs- 
wahn  auf,  wenn  einer  der  noch  immer  zahlreichen  Wiinsche  dem  Kranken 
. abgeschlagen  wird.  Spater  macht  das  gehobene  Selbstgefiihl  oft  einem 
Mangel  an  Selbstvertrauen  Platz.  In  anderen  Fallen  kommt  es  zu  leichten 
Beiingstigungen.  Mitunter  besteht  auch  eine  leichte  reactive  Denkhem- 
mung.  Die  verkehrten  Handlungen  auf  der  Flohe  der  Erregungen  geben 
' offers  Stoff  zu  allerhand  Selbstanklagen. 

In  seltenen  Fallen  steigern  sich  die  Symptome  dieses  depressiven 
Nachstadiums  so  sehr,  dass  letzteres  als  eine  neue  Psychose  impouirt. 
Diese  neue  reactive  Psychose  bietet  dann  entweder  das  Bild  der  Melan- 
cholic oder  das  Bild  der  Stupiditat.  Im  Allgemeinen  hat  man,  wenn  eine 
Melancholie  auf  eine  Manie  folgt,  zu  fiirchten,  dass  es  sich  nicht  um  eine 
einfache  Manie  handelt,  sondern  um  die  maniakalische  Theilphase  eines  cir- 
cularen  Irreseins  (s.  u.),  dass  mithin  eine  neue  maniakalische  Erkrankung 
auf  die  Melancholie  folgt.  Die  F'alle,  in  welchen  die  Melancholie  ledig- 
lich  eine  Weiterentwickehmg  des  depressiven  Nachstadiums  darstellt, 
sind  selten. 

Die  durchschnittliche  Dauer  der  Manie  betragt  etwa  5 Monate. 
Doch  sind  Falle  bekannt,  welche  iiber  ein  Jahr  dauern. 

Ausgange  und  Prognose.  Folgende  Ausgange  der  Manie 
kommen  vor: 

1.  in  Heilung.  Solche  wird  in  etwa  90%  tier  Falle  beobachtet. 

2.  in  Tod.  Derselbe  tritt  in  ungefahr  5%  der  Falle  ein  und  zwar  bald 
durch  intercurrente  Krankheiten,  bald  in  Edge  der  Grundkrankheit,  auf 
deren  Boden  auch  die  Manie  selbst  sich  entwickelte  (Nephritis  u.  dgl.), 
bald  in  F’olge  von  Flerzschwache.  Die  schwersten  Falle  der  Mania  gravis 
mit  Unorientirtheit,  Incoharenz,  Verbigeration,  Jactationen  und  Fieber 


28G 


Manie. 


sind  zugleich  aucli  die  lebcnsgofillirliclisten.  C.'omplication  mit  Alkoholis- 
mus  odor  lleivdcraukheiten  erhdht  die  liobensgefalir  stets  ganz  wesentlich. 

3.  in  secundilro  Demenz.  In  etwa  10%  der  FiUle  stellt  sich  ein 
danernder  Defect  der  Intelligenz  ein.  Dald  ist  dieser  Defect  so  un- 
erlieblich,  dass  man  von  einer  „lleilung  mit  Defect^^  spreclien  kann. 
Derselbe  vemitli  sich  dann  meist  nur  in  einer  Abnalime  der  geistigen 
Interesseii  und  I^iinengiing  des  geistigen  Ilorizonts,  in  einer  leichten  Ein- 
biisse  der  lioheren  etbisclien  und  asthetischen  Gefiihle  und  in  einem 
Mangel  an  Energie  und  Selbststandigkeit.  Mit  der  Annahme  eines  solclien 
Defects  muss  man  iibrigens  sebr  vorsichtig  sein,  da,  wie  envillint,  im  Ver- 
lauf  der  Keconvalescenz  manclie  Maniakalische,  die  spiiter  in  voile  Ge- 
iiesung  iibergehen,  ein  eigenthiimlicli  schwacbsiuniges  Gebahren  zeigen; 
namentlich  ist  zu  beachten,  dass  letzteres  viele  Monate  zuweilen  an- 
lialten  und  dock  noch  Eestitutio  ad  integrum  erfolgen  kann.  In  anderen 
Fallen  ist  der  Intelligenzdefect  viel  erbeblicher : es  entwickelt  sich  eine 
ausgesprochene  secundare  Demenz.  Hier  haben  Gedachtniss  und  Urtheils- 
kraft  eine  dauernde  erhebliche  Einbusse  erlitten.  Die  Kranken  behalten 
dauernd  ein  kindisches  Gebahren.  Die  urspriingliche  Aifectstorung  kann 
vollig  verschwinden.  Hilufig  werden  aus  dem  Exaltationsstadium  einzelne 
Grossenideen  in  die  secundare  Demenz  mit  hiniibergenommen.  Zu  einer 
Systematisirung  derselben  kommt  es  in  Folge  des  Intelligenzdefectes 
nicht.  Es  fiillt  geradezu  auf,  dass  der  Kranke  aus  seinen  Grossenideen 
gar  keine  Consequenzen  zieht.  Das  Bewusstsein  fiir  die  Krankhaftigkeit 
derselben  ist  vollig  erloschen.  Gelegentlich  treten  auch  abgerissene 
Persecutionsideen  hinzu.  Sehr  haufig  tauchen  jetzt  Hallucinationen  aller 
Sinne  auf.  Die  Handlungen  der  Kranken  bleiben  oft  dauernd  von  der 
maniakalischen  Agitation  beherrscht ; in  anderen  Fallen  erlischt  der  Be- 
wegungsdrang  allmahlich.  Wo  die  Agitation  bestehen  bleibt,  fallt  das- 
Zwecklose  und  Alberne  der  agitirten  Handlungen  auf.  — Diese  secun- 
dare Demenz  hat  meist  einen  langsam  fortschreitenden  Charakter.  Die 
lieilung  mit  Defect  ist  stabiler.  Zwischen  beiden  finden  sich  zahlreiche 
Uebergange. 

W e 1 c h e Falle  von  Manie  zu  diesem  ungiinstigen  Ausgang  in  secun- 
dare Geistesschwilche  pradis^jonirt  sind,  ist  noch  nicht  sicher  festgestellt. 
Meist  handelt  es  sich  um  Individuen,  welche  schon  mehrmals  eine  Manie 
durchgemacht  haben  und  nun  schliesslich  einem  schweren  Anfall  uuter- 
liegen. 

4.  in  secundare  Paranoia.  Dieser  Ausgang  ist  sehr  selten.  Die 
Hallucinationen  und  Wahnideen,  welche  sich  nach  einer  ungiinstig  ver- 
laufenden  Manie  einstellen,  sind,  wie  unter  3 erwahnt,  fast  stets  Begleit- 
symptome  der  secundilren  Demenz.  Das  postmanische  Auftreten  von 
Hallucinationen  und  Wahnideen  ohne  Intelligenzdefect,  d.  h.  also  der. 


Maiiie. 


287 


Ausgang  in  secuncUire  Paranoia,  konimt  unter  100  Fallon  kaum  ein- 
^ Dial  vor. 

5.  in  chronisclie  Manie:  liier  lialten  heitere  Vcrstiinmung,  Ideen- 
, fluclit  und  Bewegungsdrang  olinc  Intelligenzdcfect  viele  Jalire  an.  Dieser 
j Ausgang  ist  nocli  seltencr  als  dor  unter  4 erwahntc. 
i Bci  dieser  Aufzahlung  sind  diejenigen  Manien  nicht  oingerechnet 
worden,  welclie  die  Tlieilphase  eines  periodisclien  Irreseins  (periodische 
Manie)  oder  eines  circularen  Irreseins  darstellen.  Abgeselien  naralicli  von 
einer  ziemlicli  ausgesproclienen  Neigung  zu  llecidiven  innerlialb  grosser 
unregelmassiger  Zwisclienraume  tritt  die  Manie  aucb  in  einer  beson- 
deren  periodisclien  Form  auf.  Bei  dieser  periodisclien  Manie  wieder- 
holen  sich  die  maniakaliscben  Anfillle  in  ziemlicb  regelmassigen  Zwiscben- 
riiumen.  Folgt  jedein  dieser  periodisch  wiederkehrenden  maniakaliscben 
Anfiille  eine  Melancliolie,  so  spricbt  man  von  circular em  Irresein. 
Von  letzterem  wird  spiiter  ausfiibrlicb  die  Rede  sein.  Die  periodische 
Manie  (ohne  nachfolgende  Melancholien)  wird  beziiglich  ilirer  klinischen 
Eigenthlimlichkeit  bei  Darstellung  der  Varietiiten  der  Manie  genauer 
besprocben  werden.  Hier  sind  beide  Vorkommnisse  schon  deshalb  zu 
erwabnen,  weil  bei  Stellung  der  Prognose  die  Moglichkeit,  dass  die  in 
Bebandlung  stehende  Manie  zu  einer  periodischen  Manie  bezw.  zu  einem 
circularen  Irresein  gehort,  selbstverstandlich  grosste  Beachtung  verdient. 
Vgl.  aucb  unter  Diagnose. 

Varietaten  der  Manie.  Gewohnlicb  unter scheidet  man  auf  Grund 
der  verschiedenen  Intensitiit  der  Krankbeitsersclieinungen,  wie  oben 
bereits  erwabnt,  eine  leicbtere  Form,  die  Hypomanie,  und  die  Mania 
grains.  Zwischen  beiden  existiren  begreiflicber  Weise  zabllose  Ueber- 
gange.  Neben  diesen  beiden  Hauptformen  bat  man  auf  Grund  des  be- 
sonders  auffalligen  Hervortretens  gewisser  Nebensymptome  offer  nocb 
einige  andere  Formen  uuterscbieden.  So  wurde  z.  B.  scbon  oben  der 
„rasonnirenden  Manie"  gedacbt.  Aebnlicb  unterscbeidet  man  offer  aucb 
eine  „ballucinatoriscbe  Manie"  (Mania  ballucinatoria).  Bei  dieser  treten 
zu  den  typiscben  Symptomen  der  Manie  zablreicbere  Plallucinationen 
und  Illusionen  binzu.  Der  Verlauf  dieser  ballucinatoriscben  Form  ist 
gewobnlicb  etwas  langwieriger  und  die  Prognose  etwas  unglinstiger  als 
diejenige  der  reinen  oder  typiscben  Manie.  In  der  Classification  der 
Psycbosen  bietet  die  ballucinatorische  Form  der  Manie  desbalb  ein  be- 
sonderes  Interesse,  weil  zvfiscben  ibr  und  der  spater  zu  besprecbenden 
ideenfiiicbtigen  Form  der  ballucinatoriscben  Paranoia  fliessende  Ueber- 
giinge  vorkommen. 

Wichtiger  sind  die  Varietaten  der  Manie,  welcbe  man  auf  Grund 
des  Yerlaufes  unterscbeidet.  Friiber  spracb  man  viel  von  transitori- 
scber  oder  peracuter  Manie.  Sorgfiiltigere  Analyse  bat  ergeben. 


288 


Manie, 


class  lu  diesen  nur  weuige  Stunden  dauernden  Kranklieitsanfallen  die 
charaktcristisclicn  Symptome  tier  Manie  garniclit  vorhanden  sind.  Die 
Scltenheit  tier  chronisclien,  d.  li.  unverandert  bis  zum  Lebenseride 
Willirendeu  Manie  wurde  oben  bereits  bervorgchoben.  Dabei  ist  frei- 
licli  binzuzufiigen,  class  die  typisclie  Manie  zuweilen  1 Jabr  und  langer 
daiiern  und  claun  in  Heilung  ubergelien  kann.  Selbstverstilndlicli  stebt 
an  sick  nichts  im  Wege,  solcken  b alien  auch  das  Priidikat  „chronisch« 
beizulegen.  Eine  ungemein  praktiscbe  Bccleutung  hat  entllich  diejenige 
Verlaufsvarietat  der  Manie,  welche  man  als  period!  sc  be  Manie  be- 
zeiclinet.  Dieselbe  ist  abgesehen  von  der  cbarakteristischeu  periotliscli- 
regelnuissigen  Wietlerkehr  der  Anfalle  aiicli  beziiglicli  der  Symptome 
und  ties  Verlaufes  ties  einzelnen  Anfalls  von  der.  typischen  Manie  ver- 
schieden.  Die  periodische  Manie  tritt  entweder  als  periodisclie  Mania 
gravis  oder  — noch  haufiger  ~ als  periodische  Hypomanic  auf.  In 
seltenen  Fallen  wechseln  schwere  und  leichte  Anfalle.  Mitunter  zeigeu 
die  ersten  Anfalle  der  Krankheit  noch  keine  regel  mils  sig- periodische 
Wiedeikehi,  erst  nach  3 oder  4 oder  noch  mehr  Anfallcn  kommt  es  zu 
einer  strengen  Periodicitilt  der  Anfalle.  Es  kann  sich  soniit  eine  perio- 
dische Manie  auch  auf  Grrund  wiederholter  Rccithve  eiuer  einfachen 
Manie  entwickeln.  Die  Dauer  der  einzelnen  Anfalle  schwankt  innerhalb 
weiter  Grenzen,  meistens  betriigt  sie  mehrere  Wochen  oder  Monate,  in 
seltenen  Fallen  nur  1 — 2 Tage.  Das  sogenannte  freie  Intervall  zwischeu 
den  Anfallen  betragt  gleichfalls  einige  Monate,  zuweilen  sogar  einige 
Jahre,  selten  nur  einige  Tage.  Fiir  den  Ausbruch  ties  einzelnen  Anfalls 
lassen  sich  zuweilen  besondere  Gelegenheitsveranlassungen  gar  nicht 
nachweisen ; nicht  selten  kniipft  der  Ausbruch  ties  einzelnen  Anfalls  an 
irgend  eine  gemuthliche  Erregung  an.  Erheblichere  Schiidlichkeiten, 
tleiien  tier  Kranke  ausgesetzt  wircl,  bedingen  hiiufig  ein  Anteponiren  ties 
Anfalls,  wilbrend  eine  sehr  ruhige  Lebensweise,  z.  B.  in  tier  Anstalts- 
behandlung,  die  Intervalle  vergrossert  und  die  Anfiille  hinausschiebt.  In 
der  Regel  kehren  die  Anfalle  bis  zum  Lebensentle  wieder.  Heilung  wircl 
hochstens  in  15  % tier  Fiille  beobachtet. 

Die  Symptome  ties  einzelnen  Anfalls  der  periodischen  Manie  zeigen 
folgende  Eigentliilmlichkeiten : 

1.  Das  depressive  Initialstaclium  feblt  sehr  haufig;  nur  bei  den 
ersten  Anfilllen  pflegt  es  noch  deutlich  ausges]5rochen  zu  seiu. 

2.  Die  maniakalische  Erregung  steigt  sehr  rasch  zu  ihrer  vollen 
Hohe  an;  meist  ist  auch  der  Abfall  tier  Erregung  ein  jaherer  als  bei 
tier  gewohnlichen  Alanie. 

3.  Das  depressive  Nachstadium  ist  kiirzer  oder  kann  auch  vollig  fehleu. 

4.  Haufig  treten  einzelne  Symptome,  die  tier  gewohnlichen  Manie  nicht 
so  regehnassig  und  nicht  so  ausgesprochen  zukommen,  mehr  in  den 


Manie. 


289 


Vordergruud.  Hierher  gelioren  auf  psycliiscliera  Gebiet  der  raisonni- 
I rende  Charakter  des  Kranklieitsbildes,  sowie  die  Neigung  zu  impulsiven 
! Haudlimgen  (alkoholistischen  uud  sexuelleu  Excessen,  Diebstahlen,  Vaga- 
I bondage,  Brandstiftung),  anf  kdrperlichem  Gebiet  schwere  vasomotorische 
I Erscheinungeu  (Wecbsel  von  Gefasslahmung  und  Gefasskrampf  sowie 
j qiialende  Kopfsensationen). 

I Das  Intervall  zwiscben  den  Anfallen  der  periodischen  Manie  ist 

nieistens  nur  Anfangs  vollig  rein.  Haben  sicb  die  Anfalle  erst  dfters 
wiederholt,  so  pflegt  sicb  in  den  Intervallen  eine  eigenthiiniliche  geistige 
Scliwacbe  benierkbar  zu  machen.  Dieselbe  betrifft  weniger  das  Gedacht- 
niss  und  die  Urtheilskraft  der  Kranken  als  ibre  intellectuellen  G e f u b 1 e. 
Der  Patient  biisst  seine  Interessen  fiir  Kunst,  Wissenscbaft  u.  dgl.  mebr 
und  mebr  ein.  Er  gewobnt  sicb  eine  pedantiscbe  regelmassige  Lebens- 
weise  an  und  findet  in  vollem  Gegensatz  zu  seinen  Neigungen  vor  der 
Erkrankung  jetzt  eine  bebaglicbe  Befriedigung  in  diesem  stundenplan- 
miissigen  Leben  voller  Kleinigkeiten.  In  psycbologiscb  wobl  verstand- 
licbem  Zusammenbange  biermit  stebt,  dass  die  Energie  der  Ki’anken 
regelmassig  leidet.  Neigung  und  Fabigkeit  zu  selbstandiger  Tbatigkeit 
verscbwinden.  Audi  die  Interessen  fur  die  Familienangeborigen  u,  s.  f. 
erkalten ; viele  Kranken  zieben  sicb  in  den  Intervallen  vollig  von 
der  Welt  zuruck.  Das  krankbaft  tbiitige  Benebmen  und  die  gesteigerte 
gemutblicbe  Keaction  i n den  Anfallen  bebt  sicb  vom  pblegmatiscben  Da- 
sein  der  Kranken  ausserbalb  der  Anfalle  natiirlicb  um  so  scbarfer  ab. 

Aetiologie.  Die  Manie  ist,  aucb  wenn  man  die  periodiscbe  Manie  ein- 
scbliesst,  eine  seltenere  Erkrankung.  Auf  100  Einlieferungen  der  Jenenser 
psycbiatriscben  Klinik  kommen  z.  B.  durcbscbnittlicb  nur  3 — 4 Manien. 
Bei  dem  weiblicben  Gescblecbt  ist  sie  etwas  baufiger  als  bei  dem  mann- 
licben.  Meist  erfolgt  der  Ausbrucb  im  Alter  von  12 — 25  Jabren.  Im 
bbberen  Alter  ist  sie  selten.  Bei  Kindern  unter  12  Jabren  kommt  Manie, 
allerdings  gewbbnbcb  in  atypiscber  Form,  relativ  nicbt  selten  vor.  Aucb 
der  erste  Anfall  der  periodiscben  Manie  lasst  sicb  meist  bis  auf  das 
Alter  von  18  — 25  Jabren  zuruckfubren. 

Erblicbe  Belastung  iiberbaupt  findet  sicb  bei  etwa  75%,  scbwere 
erblicbe  Belastung  bei  20  % . Die  sogenannten  Degenerationszeicben 
finden  sicb  bei  20%  in  grosserer  Haufimg.  Bei  der  periodiscben 
Manie  speciell  findet  sicb  erblicbe  Belastung  iiberbaupt  bei  80%, 
scbwere  erblicbe  Belastung  bei  50  %,  eine  grossere  Zabl  von  Degenera- 
tionszeicben bei  40%. 

Weitere  atiologiscbe  Momente  pflegen  sicb  nocb  fiir  die  specielle 
Zeit  des  Krankbeitsausbrucbes  nacbweisen  zu  lassen.  Gemiitbserscbiitte- 
rungen  und  intellectuelle  Ueberanstrengung  kommen  auf  psycbiscbem 
Gebiet,  Inanition  im  weitesten  Sinn  auf  korperlicbem  Gebiet  namentlicb 

Ziehen,  Psychiatrie.  19 


290 


Manic. 


in  l)etraclit.  Untcr  den  Geiniithserschiitterungen  komint  sowohl  pldtz- 
liclier  Sclireck  wie  aulialtender  Kunimer  in  Betracht.  Der  Eintritt  in 
eine  neue,  ungewolinte  Beschilftigung  giebt  speciell  bei  Disponirten  oft 
Anlass  znm  Ausbrucb  eiuer  Manie.  Unter  den  Inanitionszustanden, 
welche  zur  Manie  fiihren,  sind  besonders  die  Schwiichezustande  nacli 
erscliopfenden  Krankheiten,  Blutverlusten,  schweren  Entbindungen  und 
protrabirter  Lactation  zu  nennen.  Audi  Menstruatiousstbrungen  in  der 
rnbertiit  bedingen  zuweilen  eine  Manie.  Diese  Manie  kann  sicli  weiter- 
hin  bei  jeder  Menstruation  wiederliolen  und  so  ein  periodisclies  mania- 
kaliscbes  menstruelles  Irresein  sicb  entwickeln. 

Zuweilen  bat  man  aucb  bebauptet,  dass  Herzkranke  eine  gewisse 
Priidisposition  flir  Manie  besitzen.  Auf  dem  Boden  der  grossen  Neurosen 
entsteht  die  Manie  nur  selten  (Epilepsie,  Hysteric,  Chorea). 

Die  Hii-ngifte,  welche  Psychosen  erzeugen,  spielen  speciell  in  der 
Aetiologie  der  Manie  keine  erhebliche  Rolle.  Zu  erwahneu  ist  nur  die 
Alkoholmanie.  Auch  diese  ist  eine  der  selteneren  Psychosen,  welche  auf 
dem  Boden  des  chronischen  Alkoholismiis  auftreten.  Meist  tritt  sie 
unter  dem  Bild  der  Mania  gravis  auf.  Die  Ideenflucht  steigert  sich 
ausserst  rasch  zu  secundarer  Incoharenz,  die  motorische  Agitation  er- 
reicht  sehr  hohe  Grade.  Todtlicher  Verlauf  ist  nicht  selten.  Auf  dem 
Boden  des  chronischen  Morphinismus  kommt  zuweilen  eine  iiber  mehrere 
Mouate  sich  erstreckende  Hypomanie  vor,  deren  Symptome  im  Uebrigen 
von  den  gewohnlichen  der  Hypomanie  kaum  abweichen. 

Auch  nach  Kopftraumen  und  Insolationen  sind  mitunter  Manieu 
beobachtet  worden. 

Diagnose.  Die  Diagnose  der  Manie  muss  stets  die  beiden  Haupt- 
symptome  der  Krankheit;  die  pi'imare  heitere  Verstimmung  und  die 
primare  Beschleunigung  des  Vorstellungsablaufs  sowie  den  mit  letzterer 
in  Zusammenhang  stehendeu  primaren  Bewegungsdrang  ins  Auge  fassen. 
Nicht  jeder  Kranke  also,  der  abnorm  heiter  ist  oder  schnell  denkt  und 
sjiricht  oder  sich  viel  bewegt  und  gar  tobt,  leidet  an  Manie.  Vielmehr 
ist  die  pathologische  Exaltation,  die  Beschleunigung  des  Vorstellungs- 
ablaufs und  die  Agitation  stets  erst  genau  zu  analysireu  und  speciell 
bedarf  es  einer  genauen  Untersuchung,  ob  die  drei  geuannten  Symptome 
primal’  sind,  Exaltation,  Ideenflucht  und  motorische  Erregung  also  nicht 
z.  B.  secundar  auf  Grund  von  Hallucinationen  aufgetreten  sind.  Dieser 
Nachweis  der  primaren  Natur  der  genannten  Symptome  ist  in  doppelter 
Richtung  zu  fiihren:  erstens  ist  nachzuweisen,  dass  jetzt,  d.  h.  zur  Zeit 
der  arztlichen  Untersuchung,  dieselben  in  allgemein-psychopathologischem 
Sinn  primar,  d.  h.  nicht  auf  andere  Symptome  zuriickzufiihreu  sind, 
und  zweitens  ist  nachzuweisen,  dass  auch  im  seitherigeu  Verlauf  der 


Manic. 


291 


Kraukheit  dieselbeu  die  friihesten  imd  liervorstechendsten  Symptome 
creweseu  sind,  wobei  selbstverstiindlicli  you  Prodromalsymptomen  ernes 
etwaigeu  Vorstadiums  der  Krankheit  abzuseben  ist.  Hat  sonacli  der 
erste 'Augenschein  das  Vorliandeuseiu  der  drei  llauptsymptome  gelehrt, 
so  wil'd  "^die  Diagnose  im  Weiteren  folgenden  Weg  einschlageu  iniissen. 
I^Ian  stellt  zuerst  durcli  Befragen  des  Kranken  oder  besser  der  Ange- 
horigeu  desselben  fest,  ob  - abgeselien  von  einer  etwaigen  initialen  De- 
pression — die  jetzige  lieitere  Verstimmnng,  die  Logorrhoe  und  der 
Bewegnngsdrang  von  Anfang  an  das  Krankheitsbild  durchgangig  be- 
lierrsclit  baben.  Dabei  wird  man  in  Erwagnng  zielien  miissen,  dass  die 
heitere  Verstimmnng  unter  Umstanden  (namlich  dann,  wenn  die  Um- 
gebnng  des  Kranken  seiner  pathologisclien  Exaltation  und  Geschaftigkeit 
Widerstand  entgegensetzt)  fiir  den  Laien  oft  ganz  durcli  die  zornmlitbige 
Erregung  verdeckt  iverden  kann.  Hat  man  in  dieser  Weise  anamnestiscli 
den  Priniat  der  3 Hauptsymptome  festgestellt,  so  stellt  man  durcli  Be- 
fragen des  Kranken  fest,  ob  die  3 Symptome,  wie  sie  augenblicklicli 
vorliegen,  psycliopatbologisch  primar  oder  auf  andere  Symptome  zuriick- 
ziifiiliren  sind.  Von  solclien  anderen  Symptomen  kommen  nament- 
lich  Walinideen  und  Hallucinationen  in  Betracht.  Finden  sicli  solche 
niclit,  so  ist  der  primare  Cliarakter  der  drei  Hauptsymptome  ohne 
Weiteres  gesicliert.  Finden  sicli  liingegen  Grossenideen  und  Hallucina- 
tionen exaltirten  Inhalts,  so  ist  weiter  zu  iintersuclien,  ob  die  Grossen- 
ideen nur  Erklarungsversuclie  der  primaren  Affectveranderung  und  die 
Hallucinationen  nur  nebensacliliclie  Begleitersclieinungen  derselbeu  dar- 
stellen  oder  ob  primare  Grossenideen  und  Hallucinationen  Anlass  zu 
secundarer  Exaltation  gegeben  liaben.  Nur  im  ersteren  Fall  liegt  eine 
Manie  vor.  Bei  eindringlicliem  Fragen  giebt  oft  der  Kranke  selbst  an, 
dass  ;,nur  seine  Unriilie  und  seine  gute  Laiine  ibn  auf  solcbe  Gedanken 
briuge^^,  und  entbiillt  uns  so  den  primaren  Cliarakter  seiner  Exaltation. 
Audi  die  eindringlicbe  Frage,  ob  der  Kranke  sicb  nur  liber  seine  vei- 
nieintlicben  Standeserbbbungen  u.  s.  w.  und  seine  beiteren  Visionen  u.  dgl. 
so  freue  oder  im  Allgemeinen  sicb  beiterer,  gebobener  und  tbaten- 
bistiger  als  friiber  fiible,  fubrt  oft  zum  Ziel. 

Ist  in  dieser  Weise  der  primare  Cbarakter  der  drei  Hauptsymptome 
festgestellt,  so  ist  aucb  daiiiit  die  Diagnose  der  Manie  nocb  niclit  sicbei 
gestellt.  Es  bedarf  vielmebr  stets  nocb  einer  genauen  Untersucbung,  ob 
diese  Symptome  die  einzigen  primaren  Hauptsymptome  sind.  Nanient- 
licb  kommt  in  Betracbt,  ob  nicbt  auf  kbrperlicbem  Gebiet  Labmungen, 
auf  psycbiscbem  Gebiet  ein  zunebmender  Intelligenzdefect  vorliegt.  Nur 
wenn  solcbe  Symptome  feblen,  liegt  Manie  vor. 

Abgeselien  von  diesen  allgemeinen  Gesicbtspunkten  kommen  speciell 
folgende  dift’erentialdiagnostiscbe  Punkte  in  Betracbt: 

19* 


292 


Manio. 


1.  Die  Manie  kann  iiberselien  werrlen.  Diese  Gefahr  liegt 
natiirlich  nur  bei  der  Hypomanie  nabe.  Bei  dieser  balten  sicb  die 
Symptome  zuweilen  so  selir  im  Bereich  dessen,  was  wir  gelegentlich 
auch  als  Charaktereigentlitinilichkeit  bei  gesunden  Menscben  finden,  dass 
in  der  That  zuweilen  fraglicli  sein  kann,  ob  ein  exaltirtes  Temperament 
Oder  Krankbeit  vorliegt.  Sicberbeit  verscbafft  bier  nur  die  Anamnese. 
Hypomanie  liegt  dann  vor,  wenn  nacbzuweisen  ist,  dass  der  augenblick- 
licb  vorliegende  Complex  auffalliger  psycbiscber  Erscbeinungcn  niclit 
von  jeber  bestanden,  sondern  gerade  im  Gegensatz  zu  dem  friilieren 
Cliarakter  des  Individuums  sicb  zu  einer  bestimmten  Zeit  neu  ent- 
wickelt  bat.  Sebr  beweisend  fiir  Krankbeit  ist  selbstverstandlicb  auch 
etwaiges  periodiscbes  Auftreten  des  Symptomencomplexes,  sowie  das 
etwaige  Vorbandensein  eines  initialen  Depressionsstadiums.  Endlicb  ist 
besonderes  Gewicbt  auf  die  Scblaflosigkeit  der  Hypomanie  zu  legen. 

2.  Die  Manie  kann  mit  folgenden  Krankbeiten  verwechselt 
werden : 

a.  Dementia  paralytica.  Diese  bietet  in  dem  sog.  „Exaltations- 
stadium"  eine  ganz  abnlicbe  primare  heitere  Verstimmung,  Beschleuni- 
gung  des  Vorstellungsablaufs  und  Agitation  wie  die  Manie.  Die  unter- 
scbeidenden  Merkmale  gegeniiber  der  Manie  sind  der  zunebmende 
Intelligenzdefect  und  die  somatiscben  Erscbeinungen,  welcbe  bei  der  De- 
mentia paralytica  hinzukommen.  Bei  dem  Paralytiker  ergiebt  die 
Anamnese,  dass  dem  Ausbrucb  der  Erregung  scbon  langere  Zeit  Ge- 
dacbtnissscbwacbe  vorausgegangen  ist  oder  dass  auffallige  Taktlosigkeiten 
seitens  des  Kranken  scbon  begangen  warden,  als  von  ii'gendwelcber 
Exaltation  nocb  keine  Rede  war.  Beides  entbiillt  den  beginnenden 
Intelligenzdefect.  Besonders.  deutlicli  zeigt  sicb  letzterer  aucb  in  den 
secundaren  Grossenideen,  welcbe  sowohl  der  Paralytiker  wie  der  Mania- 
cus  auf  Grand  seiner  Exaltation  entwickelt.  Die  Grossenideen  des 
Paralytikers  sind  plump  erfunden  und  maasslos,  diejenigen  des  Maniacus 
haben  meist  einen  geistreichen  Zug  und  sind  selten  ganz  widersinnig. 
Einwiirfe  erwidert  der  Paralytiker  mit  einem  hiilflosen  Lacben  oder  mit 
dem  Hinzufiigen  neuer  ebenso  sinnloser  Grossenideen,  wabrend  der 
Maniacus  durcb  Witze  und  Dialektik  seine  Grossenidee  zu  vertbeidigen 
sucbt  oder  lachelud  ihre  Krankbaftigkeit  zugiebt.  Die  Grossenidee  des 
Paralytikers  kann  man  durcb  entsprechende  Suggestion  beliebig  steigern. 
Betiauptet  er  eine  Million  zu  besitzen  und  bemerkt  man,  das  sei  docb 
wenig,  so  giebt  er  sofort  nocb  einige  Millionen  zu,  warend  der  Maniacus 
selten  in  diese  Falle  gebt.  In  den  Handlungen  des  Paralytikers  ofi’en- 
bart  sicb  gleicbfalls  der  Intelligenzdefect:  Das  Cyniscbe  und  Witzlose 
unterscheidet  dieselben  von  denjenigen  des  Maniakalisclien.  Haufig 
liefert  aucb  die  kbrperlicbe  Untersucbung  Anbaltspuukte : Facialisparesen, 


Manie. 


293 


Piipillenstarre,  Fehlen  der  Kniephanomene,  Analgesie,  hesitirende  Sprache*) 
kommeu  hier  nameutlich  als  eutsclieidende  Symptome  fiir  Dementia 
paralytica  in  Betracht.  Die  Abwesenheit  der  Symptome  ist  noch  nicht 
beweisend  fiir  Manie,  da  alle  diese  somatischen  Symptome  nicbt  selten 
aiicli  im  Exaltationsstadiiim  der  Dementia  paralytica  noch  nicht  zu 
deiitlicher  Entwickelung  gelangt  sind. 

Mit  Hiilfe  dieser  Unterscheidiingszeichen  gelingt  es  in  der  Kegel, 
die  Differentialdiagnose  zwischen  Manie  iind  Dementia  paralytica  richtig 
zu  stellen.  Nur  in  den  scbwereren  Fallen  tobsiichtiger  Erregung 
versagen  sie  zuweilen , namentlich  wenn  zudem  aus  irgend  einem 
Griinde  eine  genauere  Anamnese  nicht  zu  erlangen  ist.  Bei  solcben 
Kranken  ist  eine  exacte  korperliche  Untersuchung  oft  kaum  durchzu- 
fiihren,  und  die  hochgradige,  oft  von  secundiirer  Incoharenz  begleitete 
Ideenflucht  und  motorische  Erregung  lasst  ein  Urtheil  fiber  die  Intelligenz 
des  Kranken  nicht  zu.  Es  bleibt  dann  oft  nichts  Anderes  iibrig,  als  die 
Diagnose  vorlaufig  in  suspense  zu  lassen  und  die  Beruhigung  des  Kran- 
ken abzuwarten.  Namentlich  bei  mannlichen  Kranken  im  Alter  von 

30 45  Jahren,  bei  welchen  anamnestisch  Syphilis  nachzuweisen  ist,  soli 

man  mit  der  Diagnose  Manie  sehr  vorsichtig  sein.  Die  Mehrzahl  diesei 
Fiille  entpuppt  sich  im  weiteren  Verlauf  als  Paralysen. 

b.  Paranoia  hallucinatoria  acuta.  Bei  dieser  entwickelt  sich 
ofters  bei  entsprechendem  Inhalt  der  Hallucinationen  gleichfalls  Ideen- 
flucht, Bewegungsdrang  und  Exaltation,  aber  der  secundare  Charakter 
dieser  3 Symptome  verrath  sich  darin,  dass  alle  drei  sofort  nachlassen, 
wenn  die  Hallucinationen  zuriicktreten,  wahrend  bei  der  Manie  die  Inten- 
sitiit  der  Exaltation,  Ideenflucht  und  Agitation  von  dem  Auftreten  der 
Hallucinationen  ganz  unabhangig  ist.  Auf  der  Hohe  der  Erregung  ist  iibri- 
gens  auch  hier  die  Unterscheidung  mitunter  sehr  schwer.  Auch  existirt 
eine  ideenfliichtige  Form  der  hallucinatorischen  Paranoia,  bei  welchei  zu 
den  Hallucinationen  primare  Ideenflucht  hinzutritt.  Zwischen  dieser  und 
der  hallucinatorischen  Manie  existiren  ganz  fliessende  Uebergange.  Im 
einzelnen  Fall  wird  man  das  Hauptaugenmerk  immer  darauf  zu  richten 
haben,  ob  bei  B e g i n n des  Leidens  zuerst  Hallucinationen  neben  der 
Ideenflucht  oder  zuerst  affective  Storungen  im  Sinne  einer  heiteren  Ver- 
stimmung  neben  der  Ideenflucht  auftraten.  Nur  im  letzteren  Fall  liegt 
eine  Manie  vor.  Gegeniiber  der  acuten  epileptischen  hallucinatorischen 
Paranoia  kommt  abgesehen  davon,  dass  auch  bei  dieser  Hallucinationen 
das  Krankheitsbild  beherrschen,  differentialdiagnostisch  speciell  in  Betracht, 
dass  retrospectiv  die  Erinnerung  des  Maniakalischen  fiir  die  Erlebnisse 

*)  Bei  alkoholistischen  Maniacis  findet  sicli  iibrigens  nicht  selten  eine  der  para 
lytiscben  ahnliche  alkoholistische  Sprachstorung. 


294 


Manie. 


wahrend  der  Kranklieit  durcliweg  gut  erhalten  ist,  wahrend  der  Epilep- 
tische  stets  einen  melir  oder  weniger  grossen  Erinnerungsdefect  zei<rt. 

c.  Gewissc  angel)oreiic  psycliischc  Scliwacliezustaiide,  na- 
nientlich  die  sog.  Moral  insanity.  Diese  stellt  cine  besondere  Form  des 
leicliten  angeborenen  Scliwachsinns  dar,  bei  welcher  der  Intelligenzdefect 
namentlicb  die  Bildung  etbischer  Begriffe  betrifft.  Da  bier  allerhand  Excesse 
sehr  liaiifig  sind,  so  kommt  in  der  Praxis  cine  Verwccbselung  mit  den  z.  "I’h. 
abnlicben  Excessen  der  Hypomanie  garnicht  selten  vor.  Die  Differential- 
diagnose  hat  zu  beacbten,  dass  bei  der  sog.  Moral  insanity  stets  ein  In- 
telligenzdefect vorliegt  und  dass  die  Krankheitsausserungen  sicli  bis  in  die 
Kindheit  zuriickverfolgen  lassen:  beides  trifft  fiir  die  Hypomanie  nicht  zu. 

Besondere  diagnostische  Schwierigkeiten  maclit  in  der  Piegel  noch 
die  Frage,  ob  eine  Manie  als  einmalige  oder  als  die  Tlieilphase  einer 
periodiscben  Manie  oder  eines  circularen  Irreseins  aufzufassen  ist.  Hier 
kommen  die  folgenden  Kriterien  in  Betracht.  Ein  maniakalischer  Anfall 
ist  wahrscheinlich  nicht  als  einfache  Manie,  sondern  als  Phase  einer 
periodischen  Manie  zu  betrachten,  wenn 

I.  das  depressive  Initialstadium  sehr  wenig  entwickelt  ist; 

II.  der  Anstieg  und  Abfall  der  Exaltation  ein  sehr  jiiher  ist. 

Als  Theilphase  eines  circularen  Irreseins  ist  ein  maniakalischer 
Anfall  dann  wahrscheinlich  aufzufassen,  wenn  im  Yerlauf  desselben  zu- 
weilen  stunden-  oder  auch  tageweise  melancholische  Zustiinde  das  mania- 
kalische  Bild  unterbrechen  und  wenn  das  initiale  Depressionsstadium 
sehr  stark  entwickelt  gewesen  ist.  Sicher  sind  iibrigens  alle  diese 
Kriterien  nicht;  meist  bringt  daher  erst  der  weitere  Verlauf  die  ge- 
wiinschte  Aufldarung. 

Therapie.  Die  erste  Frage,  welche  der  Arzt  sich  vorzulegen  hat, 
wird  in  der  Regel  dahin  gehen,  ob  Anstaltsbehandlung  erforderlich  ist. 
Bei  den  schwereren  Formen  der  Manie  liegt  die  Nothwendigkeit  der 
Einlieferung  in  eine  geschlossene  Anstalt  auf  der  Hand.  Aber  auch  bei 
den  leichteren  Formen,  also  bei  der  sog.  Hypomanie  ist  eine  Entfernung 
aus  der  Familie  und  Ueberfiihrung  in  eine  Anstalt  selten  zu  umgehen, 
da  die  Autoritiit  der  Angehorigen  des  Kranken  und  die  Uebcrwachung 
durch  gelegentliche  arztliche  Besuche  im  eigenen  Hause  des  Kranken 
selten  hinreicht,  die  erwiilinten  krankhaften  Excesse  zu  verhiiten,  durch 
welche  der  Patient  seine  sociale  Stellung,  sein  Vermogen  u.  s.  w.  gefahrdet 
und  durch  welche  die  Krankheitsdauer  verlangert  wird.  In  leichteren 
Fallen  bei  fiigsameren  Charakteren  geniigt  zuweilen  die  Unterbringung 
in  einer  offenen  Anstalt.  In  der  Mehrzahl  der  Fiille  wird  man  jedoch 
auch  hier  die  geschlossene  Anstalt  vorziehen. 

Die  eigentliche  Behandlung  selbst  hat  folgende  Gesichtspunkte  zu 
beriicksichtigen. 


Manie. 


295 


1.  Einschraukung  der  aiisser'en  Sinnesreize,  deren  jeder 
bei  deni  Maniakalisclien  ueue  Vorstellungen  imd  Affecte  weckt  imd  so 
Exaltation,  Ideeuflucht  imd  Agitation  steigert.  Sehr  zweckmassig  ist 
daher  in  vielen  Fallen  absolute  Bettrulie  im  Einzelzimmer. 
Briefe  imd  Besiiche  der  Angehorigen  sind  meist  zii  verbieten. 

2.  Beseliaftigiing,  diirch  welclie  dem  Bewegimgsdrang  des 
Kranken  eine  imscliadliclie  Entladimg  ermoglicbt  wird.  Man  versiiclie 
dalier  den  Kranken  je  nacli  Stand,  Bildung,  Gescbleclit  imd  Alter  im 
Bett  zii  bescbaftigen.  Ziiweilen  kann  es  sich  aiicli  als  vortbeilliaft  er- 
weisen,  die  absolute  Bettrulie  ab  imd  zii  stimdenweise  diircli  korperliche 
Thatigkeit  ausserlialb  des  Bettes  zii  imterbreclien.  Bei  gebildeteu  Kran- 
ken regie  man  den  Wechsel  von  Riilie  imd  Beschaftigimg  diircli  einen 

scbriftlicben  Stimdenplan. 

3.  Directe  Bekiimpfung  der  gesteigerten  corticalen  Erregimg.  In  en 
leichteren  Fallen  sind  Medicamente  vollig  iiberfliissig.  In  den  scliwereren 
empfiehlt  sich  die  Anwendung  von  Bromsalzen  oder  Hyoscm.  Erstere 
sind  in  einer  Tagesdosis  von  6-8  g und  jedenfalls  eine  Keihe  von  Woclien 
hintereiuander  regelniassig  zii  geben.  Das  Hyoscin  ivird  siibciitan  ver- 
abreicht  und  zwar  am  zweckmassigsten,  bevor  die  Erregimg  die  Iloie 
erreicht  hat.  Nicht  selten  gelingt  es,  diirch  friihzeitige  Einspritzimg 
einer  grosseren  Dosis  einen  Anfall  fast  vollig  zii  coiipiren.  Dies  gilt 
sowohl  fiir  den  ganzen  maniakalischen  Anfall  wie  fiir  die  einzelueu  Ex- 
acerhationen  desselben.  In  der  Kegel  beginnt  man  bei  Mannern  mit  einer 
Dosis  von  0,8  mg,  bei  Frauen  mit  0,6  mg.  Die  Einspritzimg  kann  bis 
zii  dreimal  an  ein em  Tag  wiederholt  werdeu.  Bei  taglicher  Verabreichimg 
muss  man  taglich  iim  0,2  mg  steigen.  Doch  empfiehlt  es  sich  im  All- 
gemeinen,  nicht  langere  Zeit  hindiirch  taglich  Hyoscin  zii  geben.  Viel- 
mehr  setzt  man  besser  tageweise  aiis.  Die  intermittirende  Anwendimg 
des  Mittels  genligt,  iim  in  vielen  Fallen  einen  milderen  Krankheitsver- 
laiif  herbeiziifiihren.  Statt  des  Hyoscins  ist  neiierdings  aiich  das  Dii- 
boisin  empfohlen  worden.  Gegen  die  Schlaflosigkeit  kommen  aiich 
Sulfonal  (3  g in  heisser  Milch)  und  Trional  (2  g in  heisser  Milch)  in 

13  ct  I*  3^  dit 

Neben  diesen  Medicamenten  empfiehlt  sich  eine  regelmassige  hydio- 
pathische  Behandlung  und  zwar  am  besten  in  Gestalt  prolongirter  Bader 

(1 2 - 3 Stunden,  die  Temperatur  ist  bei  Beginn  des  Bades  anf  26 " zii 

bemessen,  gegen  Schliiss  des  Bades  jedoch  bis  anf  29  ° zu  steigern). 
Leisten  die  Patienten  gegen  die  Badeprocedur  starken  Widerstand,  so 
verzichtet  man  besser  anf  dieselbe,  da  bei  der  zwangsweisen  Festhaltung 
in  der  Badewanne  der  beruhigende  Effect  meist  vollig  aiisbleibt. 

Die  weinerliche  Reizbarkeit  im  N a ch stadium  der  Manie  besser t sich  oft 
auffallig  rasch  bei  Darreichung  kleiner  Opiiimdosen  (0,05  einmal  taglich). 


296 


Mariie. 


SHt/ "■  f ’t,"  Alkoholica  Sind  su  streichen 

Ivalknassei).  Sehr  empfehleuswertl.  ist  auch  Verabfolguiig  von  Miicli 

Jedeiifalls  ist  eiitsprechend  dein  eiiormen 
luafteverbraucli  dor  moisten  Maniakalischen  die  Ernal.rung  naoh  M«v. 

hebkei  stoigorn.  Dabei  bedarf  os  besondorer  Berueksicbtign^g 

io  Tl  'T-t  "f"'!  'r  *^'"'**  Bovvegungsdranges  und  seiner  Ab- 

ibarkoit  durch  die  kleinsteu  Sinnesoindrucke  selir  Iiaufig  das  Essen 

™-zettel  odor  vorspio  t;  os  bedarf  bier  also  genaiioster  Uoberwacbung. 

Ixaiichen  wircl  am  bosten  ganz  v6rboten. 

Auch  bei  genauer  Einbaltung  aller  dieser  Vorscbriften,  sowie  der 
se  bstverstandhchen  Erfiillung  aller  Causalindicationen  wird  gelegeutlich 
er  tobsuclitige  Zustand  sicli  derart  steigern,  dasS  der  Umgebuug  eiue 
directe  Gefahr  erwacbst.  Versagt  in  solclien  Fallen  auch  das  Hyoscin 
Oder  will  man  dasselbe  entsprecbend  der  oben  gegebenen  Vorscbrift  ein 
mal  tageweise  wieder  aussetzen,  so  ist  die  Isolirung  in  einer  Zelle  nicht 
zii  mngeben.  Man  isohrt  den  Kranken  in  einem  sogenannten  unzerreiss- 
ichen  Anzug,  der  iibrigens  die  Bewegungen  des  Patienten  vbllig  frei 
lasst.  Dazu  erhalt  der  Kranke  einen  Strolisack,  resp.  wenn  er  letzteren 
ausraumt  oder  zerreisst,  Seegras  und  eine  sog.  unzerreissbare  Decke. 

le  Temperatur  ist  auf  14  ° und,  wenn  der  Kranke  auch  den  sog  un- 
zerreisslichen  Anzug  zerreist,  auf  IB®  zu  balten.  In  der  Regel  soil  die 
Isolirung  in  der  Zelle,  namentlicb  am  Tage,  nicht  iiber  4—6  Stunden 
dauern.  Ausnabmsweise  kann  es  jedoch  sich  als  vortheilhaft  er- 
weisen  die  Kranken  tagelang  in  der  Zelle  zu  isoliren,  wenn  namlich  die 
vollige  Abgeschlossenbeit  der  Zelle  sichtlich  beruliigend  wirkt  und  der 
Kranke  in  der  Zelle  nicht  verwildert,  d.  h.  unreinlich  wird,  masturbirtu.  s.w. 

Besondere  Besprechung  bedarf  endlich  die  Therapie  in  jenen 
schwersten  Fallen,  in  welchen  die  Agitation  sich  zu  sinnlosen  Jactationen, 
die  Ideenflucht  zu  Verwirrtheit  und  Unorientirtheit  steigert  und  Fieber 
hinzutritt.  Hier  gilt  es  der  directen  Lebensgefahr  zu  begeguen.  Von 
der  Isolirung  in  der  Zelle  ist  ganz  abzusehen.  Enter  Umstanden  wird 
die  Schlundsondenfiitterung  erforderlich . Drohendem  Collaps  ist  even- 
tuell  durch  wiederholte  Injectionen  physiologischer  Kochsalzldsung  (500  g) 
unter  die  Oberschenkelfascie  vorzubeugen.  In  angemessenen  Zwischen- 
raumen  muss  jedenfalls  durch  Medicamente  zeitweise  motorische Ruhe 
erzwungen  luerden.  Gerade  hier  leistet  das  Hyoscin,  sacliverstiindig  an- 
gewendet,  unschatzbare  Dienste,  wahrend  fast  alle  anderen  Sedativa  inehr 
Oder  weniger  versagen.  In  diesen  schweren  Fallen  muss  auch  starker 
Wein,  ev.  Cognac  in  reichlicher  Menge  verabfolgt  werden. 

Pathologische  Anatomic.  Die  pathologisch-anatoniische  Unter- 
suchung,  speciell  auch  das  mikroskopische  Studium  der  Hirnrinde  ist 


Melancholie. 


297 


bisher  clurchaus  uegativ  aiisgefallen.  Die  Manie  ist  daher  zu  den  functio- 
nellen  Geistesstorungen  zu  reclinen.  Audi  die  verschiedenen  Theorien, 
welche  die  Krankheit  auf  Circulationsveriluderimgen  der  Hirnrinde  zuriick- 
zufubren  sucheu,  liabeu  irgeud  zultiuglicbe  Stiitzeu  in  den  Beobacbtungs- 
tbatsacbeii  nocb  uicbt  gefunden. 

b.  Melancbolie. 

Die  Melancbolie  ist  eine  Ps}''cbose,  welcbe  durcb  2 Hauptsymptome 
cbarakterisirt  ist,  nainlicb  durcb  eine  krankbafte  primare  Depression  und 
durcb  eine  primare  Denkbemmung.  Haufig  tritt  bierzu  als  drittes  Haupt- 
symptom  eine  motoriscbe  Hemmung;  letztere  ist  nur  eine  Tbeilerscbei- 
nung  der  allgemeinen  Hemmung  der  corticalen  Associationen,  welcbe 
sicb  andrerseits  als  Denkbemmung  kundgab. 

Ueber  das  gegenseitige  Verbaltniss  der  beiden  Hauptsymptome  bat 
man  sicb  viel  gestritten.  Bald  bebauptete  man,  die  Depression  entstebe 
secundar,  indem  der  Kranke  sicb  der  Hemmung  seines  Vorstellungs- 
ablaufs  bewusst  werde,  bald  betracbtete  man  umgekebrt  die  Denkbemmung 
lediglicb  als  eine  Folge  der  Depression.  Die  kliniscbe  Beobacbtung  spricbt 
dafiir,  dass  Depression  und  Hemmung  coordinirte  Parallelsymptome  siud, 
welcbe  sicb  allerdings  wecbselseitig  verstarken.  Wir  scbreiben  daber  so- 
wobl  der  Depression  wie  der  Hemmung  primaren  Cbarakter  zu. 

Specielle  Symptomatologie. 

Affecte.  In  vielen  Fallen  bescbriinkt  sicb  die  Alfectstorung  auf  eine 
einfacbe  Depression.  Man  bezeicbnet  diese  Form  aucb  als  Hypo  melan- 
cbolie Oder  melancboliscbe  Verstimmung.  Hier  sind  die  positiven  Ge- 
fiiblstone  sammtlicb  verscbwunden,  alle  Empfindungeu  und  Vorstellungen 
sind  von  Unlustgefiiblen  begleitet.*)  Die  ganze  Welt  erscbeint  dem  Kranken 
grau  in  grau.  Bei  den  scbwereren  Formen  der  Melancholie  (bei  der 
Melancholia  gravis)  treten  zu  der  einfacben  Depression  nocb  Angstaffecte 
binzu.  Die  letzteren  treten  bald  anfallsweise,  bald  continuirlicb  auf.  Audi 
in  letzterem  Fall  konirat  es  baufig  zu  anfallsweisen  VerstMaingen  der 
Angst.  Hinsicbtlich  der  korperlicben  Begleitempfindungen  und  der  Lo- 
calisation ist  die  Angst  der  Melancholie  meist  (nicbt  stets!)  als  typiscbe 
Pracordialangst  zu  bezeicbnen.  In  vielen  Fallen  beobacbtet  man,  dass  die 
Angst  im  Lauf  des  Pages  ganz  typischen  Intensitatsschwankungen  unter- 
liegt.  So  pflegt  namentlicb  in  den  friihen  Morgenstunden  oft  ein  jabes 
Anwacbsen  der  Angst  einzutreten.  Aucb  gegen  Abend  steigert  sicb  ge- 
wbhnlicb  die  Angst,  Zuweilen  beobacbtet  man  nach  jeder  Mablzeit  eine 
Verstarkung  der  Angstaffecte. 

*)  Die  krankhaften  iicgativen  Gel'uhlstone  der  Empfindung  sind  zumeist  auf  Irra- 
diation und  Reflexion  von  Gefiihlstonen  der  Vorstellungen  zuriickzufiiliren. 


298 


Melancholie, 


Bei  einer  besoucleren  Form  der  Melancliolie  beobachtet  man  eine 
eigenartige  Nuance  der  negativen  Aflfectscliwankung.  FiS  giebt  Kranke, 
welcbe  klagen,  dass  ihnen  alles  Gefiihl  ablianden  gekommen  sei,  dass  sie 
weder  froli  nocli  traurig  Sein  kbnnten : das  Gefiihl  fiir  Gut  und  Schlecht, 
Sclibn  und  llasslicli  sei  ihnen  ablianden  gekommen,  die  Liebe  zu  ihren 
Angelibrigen  und  das  Interesse  fiir  ilire  Tliiltigkeit  und  ihren  Beruf  sei  er- 
storben,  statt  des  Herzens  sei  ein  Stein  in  ihrer  Brust.  Der  einzige  Affect 
des  Kranken  ist  die  Verzweiflung  iiber  diese  pathologische  Gefiihllosigkeit. 
Man  bezeichnet  diese  Form  als  die  apathische  Form  der  Melancholie. 

Fiinpfindungen.  Das  Empfindungsleben  des  Melancholischen  bleibt 
nicht  selten  ganz  intact.  Hyperalgesie  ist  selten.  Bei  der  apathischen 
Form  beobachtet  man  zuweilen  sogar  echte  Hypalgesie.  Ausgesprochene 
Halluciuationen  oder  Illusionen  linden  sich  nur  etwa  in  einem  Zehntel 
aller  Fiille ; wo  solche  sich  in  grosserer  Zahl  linden,  handelt  es  sich  um 
die  unten  ausfiihrlicher  zu  erwahnende  hallucinatorische  Varietat  der 
Melancholie.  Die  eigenartigen  Sensationen,  welche  die  Angst  der  Melan- 
cholischen begleiten,  sind  schwerlich  als  Illusionen  oder  Hallucinationen 
aufzufassen,  sondern  wahrscheinlich  als  Emplindungen,  welche  in  nor- 
maler  Weise  aus  vasomotorischen  Storungen  u.  s.  w.  hervorgegangen  sind. 

Vorstellungen.  Der  formale  Ablauf  der  Vorstellungen  ist  ver- 
langsamt.  Diese  Verlangsamung  aussert  sich  zuniichst  in  dem  Wieder- 
erkennen  und  in  der  Aufmerksamkeit.  Der  Melancholische  identilicirt 
Emplindungen  miihsam.  Um  die  Uhr  abzulesen,  braucht  er  oft  eine 
Minute  und  mehr.  In  schweren  Fallen  kann  es  hierdurch  zu  einer  volligen 
Unorientirtheit  und  Rathlosigkeit  kommen.  Dazu  kommt  eine  schwere 
Hypoprosexie : die  meisten  Emplindungen,  welche  die  Reize  der  Aussen- 
welt  hervorrufen,  losen  in  Folge  der  allgemeinen  Hemmung  keine  Vor- 
stelhingen  aus  oder  bleiben  — mit  andereu  Worten  — unbeachtet.  So 
kommt  es,  dass  der  Melancholische  zuweilen  nach  mehrwdchentlicher  Be- 
handlung  noch  nicht  einmal  den  Namen  seines  Arztes  kennt.  Er  hat 
den  Namen  oft  gehdrt,  aber  nicht  behalten,  weil  der  Act  des  Aufmerkens, 
die  Verkniipfung  mit  Vorstellungen  vollstiindig  unterblieben  ist.  Ferner 
aussert  sich  die  allgemeiue  Associationshemmung  in  einer  ausgesprochenen 
Schwerbesinnlichkeit.  Der  Kranke  muss  sich  lange  besinuen,  bis  er  seine  . 
eigenen  Personalien,  die  Namen  seiner  Kinder  anzugeben  oder  einfache 
Fragen,  welche  sein  Schulwissen,  seinen  Beruf  u.  dgl.  betreffen,  richtig  zu  ' 
beantworten  vermag.  Es  giebt  hochgebildete  Kranke,  welche  in  der  Me- 
lancholie  in  Folge  ihrer  Denkhemmuug  7x18  nicht  auszurechnen  ver- 
mogen.  Im  Allgemeinen  ist  die  Hemmung  des  Vorstellungsablaufs  um  - . 
so  intensive!’,  je  schwerer  die  Angstaffecte  sind,  doch  lindet  sich  auch  bei  ^ 
einfacher  Depression  sehr  oft  eine  ausgesprochene  Denkhemmung;  ganz  * 
fehlt  dieselbe  niemals.  ?1 


f 


rat*'- 


Melancholie. 


299 


Inhaltliche  Storungen  cles  Vorstellungslebens  konnen  vollig  fehlen. 
So  fehlen  solche  z.  B.  in  der  Regel  bei  der  inelancbolischen  Verstimmung. 
llaufig  iedocli  koinint  es  aucli  zn  secundaren  Wabnvorstellungen  im  Sinne 
desKleinbeitswabnes,  also  zu  sogen.  Erklarnngsversuchen  der  Depres- 
sion und  Angst.  Unter  diesen  Wabnvorstellungen  sind  Versiindigungsvor- 
stellnngen  am  biinfigsten.  Der  immer  wiederkelirende  Refrain  aller  Aeusse- 
rungen  des  Kranken  ist : ich  bin  nicht  krank,  sondern  sclilecbt.  Zuweilen 
ist  dies  krankhafte  Scbuldbewusstsein  ganz  unbestimint,  in  anderen  Fallen 
deuten  die  Kranken  irgend  ein  vergangenes  Erlebniss  im  Sinn  einer  Ver- 
schuldiing  urn.  Namentlicb  die  Selbstanklagen : „ich  babe  meine  Wirth- 
scbaft  scblecbt  gefiibrt,  ich  babe  die  Meinigen  scblecbt  bebandelt,  ich 
babe  es  an  Gottvertrauen  fehlen  lassen"  n.  dgl.  m.  kebren  immer  wieder. 
Zuweilen  kommt  es  auch  zu  ganz  freien  und  bis  ins  Einzelne  aus- 
gemalten  Erfindungen  der  scbwersten  Verbrechen.  Kranke  mit  apatbiscber 
Melancholie  werfen  sich  oft  direct  ihre  Apatbie  vor:  „Icb  bin  so  scblecbt, 
dass  icli  gegen  alle  meine  Pfiicbten  gleichgliltig  geworden  bin'b 

Nacbst  dem  Versiindigungswabn  beobacbtet  man  besonders  baufig 
den  Krankheitswahn ; als  Erklarungsversucbe  der  Angst  treten  bypo- 
cbondrische  Vorstellungen  auf.  Der  Kranke  glaubt  an  Syphilis,  Tuber- 
kulose  u.  dgl.  zu  leiden.  Oft  knlipft  dieser  bypochondrische  Wabn  an  ganz 
bestimmte  tbatsacblicbe  Symptome  oder  Krankbeiten  an.  So  konnen 
die  tbatsacblich  vorhandenen  Pracordialsensationen  Anlass  zu  der  bypo- 
cbondriscben  Annabme  eines  Herzfehlers  geben.  Der  Sypbiliswabn  kanu 
an  einen  Herpes  praeputialis  ankniipfen.  Man  bezeicbnet  die  Symptome 
bezw.  Krankbeit,  an  welcbe  der  Kranke  unter  dem  Einfluss  der  Depression 
und  Angst  bypochondrische  Wahnvorstelbmgen  kniipft,  wie  friiber  er- 
wiilint,  als  Anknlipfungssymptome  bezw.  Anknlipfungskrankheit.  Bei  der 
Melancholie  jugendlicber  Masturbanten  kniipft  der  Krankheitswahn  meist 
an  die  mit  der  Masturbation  zum  Tbeil  tbatsacblich  zusammenbangende 
korperlicbe  und  geistige  Scblafflieit  sowie  an  die  Haufung  nacbtlicher 
Pollutionen  an;  so  kommt  der  Kranke  auf  die  Wabnidee,  er  leide  an 
„Riickenmarksauszehruug^^  Man  bezeicbnet  diejenige  Form  der  Melan- 
cbolie,  bei  welcber  die  secundaren  Wabnvorstellungen  sicb  hauptsacblich 
in  der  Ricbtung  des  Krankbeitswabns  bewegen,  aucb  als  „bypochon- 
driscbe  M elancbolie^^ 

Haufig  sind  aucb  Verarmungsvorstellungen,  so  namentlicb  bei  der 
Melancholie  des  Seniums.  Der  Kranke  aussert:  ausstebende  Scbulden 
wiirden  ibm  wobl  verloren  geben,  sein  Waarenlager  sei  zu  gross,  er  konne 
die  Kosten  der  Behandbmg  nicht  tragen,  er  musse  mit  seinen  Kindern 
verbungern  und  betteln  geben. 

Selten  finden  sicb  bei  der  Melancholie  Verfolgungsideen.  Am  bau- 
figsten  beobacbtet  man  sie  nocb  ab  und  zu  bei  geistig  minderveranlagten 


300 


Melancholie. 


odei  ungebildeteii  Melancholischen  im  Anschluss  an  Versiindigungsvor- 
stellungen.  Solche  Kranken  jammern:  „ich  soil  in’s  hdllische  Feuer^,  ,,ich 
soil  als  irrender  Geist  iiumer  umlierwaudern^^  „der  Staatsanwalt  ver- 
folgt  niich^^  Gerade  bei  dieser  Form  komnit  es  aucli  dfters  zu  wahn- 
haften  und  zu  illusionaren  Auslegungen.  Der  Kranke  deutet  das  Sprechen 
vor  seiner  Tliiir  als  das  Gemurmel  von  Polizisten,  ein  zufalliges  Klopfen 
als  „ das  Zimmer n eines  Scbaffots".  Aeusserst  selten  beobaclitet  man, 
dass  bei  der  Melancliolie  Verfolgungsideen  direct  als  ErkUirungsversucbe 
der  Angst  auftreten. 

Zu  den  Versiindigungsideen  treten  gelegentlich  auch  die  in  der  all- 
gemeinen  Pathologie  genauer  gescbilderten  contrastirenden  Grbssenideen 
binzu.  Aucb  mit  den  V erarmungsideen  verkniipfen  sich  letztere  zuweilen ; 
der  Kranke  scbildert,  um  sein  jetziges  Fiend  nocb  greller  zu  beleucliten, 
in  iibertriebener  Weise,  wie  gliicklicb  er  friiher  gelebt  babe,  wie  reicb 
er  gewesen  sei. 

Die  Handlungen  des  Melancboliscben  sind  ganz  und  gar  durcb 
die  soeben  gescbilderten  psycbopatbiscben  Symptome  bestimmt.  Zunacbst 
malt  sicb  im  Gesicbtsausdruck  des  Kranken  die  Depression  und  die  Angst. 
In  der  allgemeinen  Patbologie  (S.  142  if.)  sind  die  Ausdrucksbewegungen 
der  Angst  und  der  Depression  ausfubrlicb  bescbrieben  worden.*)  Die 
sonstigen  Bewegungen  und  Handlungen  des  Melancboliscben  (abgeseben 
von  den  Ausdrucksbewegungen)  steben  ganz  unter  dem  Einfluss  der  mo- 
toriscben  Hemmung,  welcbe  als  drittes  Hauptsymptom  der  Melancbolie 
gelten  kann.  Diese  motoriscbe  Hemmung  ist  eine  Tbeilerscbeinung  der 
allgemeinen  Associationsbemmuug  und  primar  wie  diese;  wie  diese  er- 
fabrt  sie  jedocb  zugleicb  eine  erbeblicbe  Steigerung  durcb  die  Depression 
und  namentlicb  durcb  die  Angst.  Beide  Formen  der  motoriscben  Hem- 
mung, welcbe  die  allgemeine  Patbologie  kennen  lebrt  (S.  149),  kommen 
bei  der  Melancbolie  vor:  bald  bestebt  vollige  Resolution  der  gesammten 
Korpermuskulatur,  bald  bestebt  eine  allgemeine  katatoniscbe  Spannung.  In 
ersterem  Fall  bezeiclmet  man  die  Melancbolie  als  Melancboliapassiva, 
im  letzteren  als  Melancholia  a 1 1 o n i t a.  In  beiden  Fallen  liegen  die 
Kranken  fast  regungslos.  Spontane  Bewegungen  kommen  kaum  zu  Stande. 
Die  Kranken  mussen  gewascben,  gekiimmt  und  gefiittert  werden.  Einige 
lassen  sogar  Kotb  und  Urin  unter  sicb  geben.  Aufgetragene  Bewegungen 
werden  gar  nicbt  oder  nur  iiusserst  langsam,  zuweilen  in  vielen  Absiitzen 
ausgefiibrt.  Viele  Kranke  sprechen  gar  nicbt,  andere  unbdrbar  leise. 
In  den  leicbteren  Fallen  — z.  B.  bei  der  sog.  melancboliscben  Ver- 
stimmung  — aussert  sicb  die  Hemmung  lediglicb  darin,  dass  die  Kranken 
sich  langsamer  entscbliessen  (Abulie)  und  alle  Bewegungen  langsamer 

*)  Vgl.  auch  die  physiognomische  Tafel  Fig.  2 (Depression)  und  Fig.  3 (Angst). 


Melancliolio. 


301 


ausfiilireu.  Oft  klagen  die  Krankeu  selbst  iiber  den  „Riickgang  ihrer 
Willenskraft^b  Hire  berufliche  Tliiitigkeit  filllt  ibnen  iiusserst  scbwer. 
Zu  einer  Arbeit,  welcbe  sie  fr liber  sjiielend  in  einer  Stunde  bewliltigten, 
braucben  sie  jetzt  einen  ganzen  Tag.  Hat  der  Kranke  schliesslich  sich 
einnial  zii  einem  Entschluss  aufgerafft,  so  liberkomnit  ihn  — bei  seinem 
Mangel  an  Selbstvertraiien  — sofort  der  Zweifel,  ob  der  eingeschlagene 
Weg  der  ricbtige  ist.  In  Folge  dessen  widerruft  der  Kranke  seinen 
ersten  Entschluss,  um  auch  diesen  Widerruf  sofort  wieder  zu  bereuen. 
Bei  Frauen  aussert  sich  die  Abulie  namentlich  in  der  Vernachlassigung 
ihres  Haushalts,  ihrer  Toilette  u.  s.  f. 

Fine  wesentliche  Modification  erfahrt  das  Handeln  der  Melancholi- 
schen  dann,  wenn  der  agitirende  Einfluss  der  Angst  den  hemmenden  Ein- 
fluss  iiberwiegt.  Warum  im  Einzelfall  dieser  oder  jener  starker  ist, 
kbnnen  wir  meist  nicht  nachweisen.  Wie  die  angstliche  Agitation  die 
Ausdrucksbewegung  verandert,  ist  in  der  allgemeinen  Pathologic  ange- 
geben.  Die  Kranken  irren  ruhelos  umber.  Es  kann  zu  ausgesiirochener 
Vagabondage  kommen.  Andere  bleiben  zwar  im  Bett,  aber  ringen  Tag 
und  Nacht  die  Hlinde  und  jammern.  Bis  zu  tobsiich tiger  Erregung  kann 
sich  diese  angstliche  Agitation  der  Melancholic  zuweilen  steigern.  Man 
bezeichnet  diejenige  Form  der  Melancholic,  bei  welcher  dieser  agitirende 
Einfluss  der  Angst  vorherrscht,  auch  als  Melancholia  agitata. 

Selbstmordversuche  kommen  gelegentlich  auch  auf  Grund  einfacher 
Depression,  also  bei  der  einfachen  melancholischen  Verstimmung,  vor. 
Ungleich  haufiger  sind  sie,  sobald  Angstaffecte  hinzutreten.  Speciell  bei 
der  agitirten  Melancholic  kommt  es  sehr  haufig  zu  den  energischsten 
Versuchen  gegen  das  eigene  Leben.  Indess  ist  auch  die  Melancholia 
attonita  stets  selbstmordverdachtig.  Die  Hemmung  der  Angst  kann  ganz 
plotzlich  in  Agitation  umschlagen.  Fine  Kranke,  die  wochenlang  regungslos 
in  katatonischer  Spannung  liegt,  kann  plotzlich,  wenn  eine  Gelegenheit 
sich  bietet,  mit  der  grossten  Energie  und  Behendigkeit  einen  Selbstmord- 
versuch  machen. 

Manche  Kranke  suchen  auch  die  Angst,  welche  sie  ruhelos  umher- 
treibt,  durch  Genuss  von  Spiiituosen  zu  iibertauben.  Namentlich  bei 
der  periodischen  Melancholic  beobachtet  man  dies  nicht  selten.  Stunden- 
weise  lindert  der  Alkoholgenuss  in  der  That  die  Angst.  Sobald  jedoch 
der  Rausch  verflogen  ist,  kehrt  die  Angst  mit  grosserer  Heftigkeit  zuriick. 
Es  bedarf  immer  grosserer  Alkoholdosen,  damit  der  Kranke  nur  einige 
Ruhe  findet.  Schliesslich  bleiben  die  Kranken  oft  allnachtlich  sinnlos 
betrunken  in  der  Strassengosse  — noch  dazu  haufig  in  einer  fremden 
Stadt,  wohin  die  innere  Unruhe  sie  gerade  getrieben  hat  — liegen. 
Mit  dem  Abklingen  der  Melancholic  — meist  nach  einigen  Wochen, 
zuweilen  schon  nach  einigen  Tagen  — verschwindet  auch  das  Bedfirf- 


302 


Melancholic. 


niss  nach  Alkoliol  in  der  Regel  sofort.  Selir  unzweckinassig  hat  man 
diese  periodischen  Melanclioliker  auch  als  Quartaltrirdcer  oder  Dipso- 
maneu  bezeichnet. 

Seltener  suchen  die  Kranken  ihre  innere  Angst  durcli  excessive 
Masturbation  zu  libertLiubeu.  Meist  handelt  es  sicli  in  solchen  Fallen  uni 
schwer  erblich  belastete  weibliclie  Individuen. 

Durch  die  secimdaren  Wahnvorstellungen  der  Kranken  kommt  es 
zu  weiteren  pathologischeu  Veranderungen  des  Handelns.  Besonders 
steigert  der  Versilndigungswahn  und  der  Verarmungswalin  die  Selbst- 
mordgefalir  erlieblich.  Indess  auch  bei  der  hypochondrischen  Melancholie 
kommen  oft  genug  Selbstmordversuche  vor:  die  elementare  Gewalt  der 
Angst  ist  starker  als  die  in  der  Wahnidee  sich  aussernde  Besorgniss  um 
das  Leben.  — Auch  Gewalthandlungen  gegen  die  Umgebung  sind  bei 
Melancholie  nicht  selten  (Kindesmord,  Brandstiftung).  Endlich  kommt 
es  uugemein  haufig  zu  Nahruugsverweigerung.  In  der  Regel  motivirt 
der  Kranke  dieselbe  damit,  dass  er  keine  Nahrung  verdiene,  er  sei  zu 
schlecht,  oder  damit,  dass  er  sie  nicht  bezahlen  konne,  er  sei  zu 
arm,  oder  endlich  damit,  dass  er  sie  nicht  verdauen  konne,  sein  Magen 
und  sein  Darm  seien  zu  krank.  — Seltener  kommt  es  bei  der  Melan- 
cholie zu  den  hypochondrischen  Wahnhandlungen,  welche  S.  159  und 
160  beschrieben  wurden.  Die  Angstatfecte  sind  meist  zu  lebhaft,  als 
dass  es  zu  so  complicirten  und  zusammenhangenden  Handlungen  kommen 
kbnnte.  Nur  wenn  die  hypochondrische  Melancholie  einen  chronischen 
Verlauf  nimmt,  kommt  es  zu  den  dort  erwahnten  Wahnhandlungen. 

Somatische  Symptome  s.  str.  Der  Schlaf  der  Melancholischen 
ist  sehr  haufig  mangelhaft,  auf  der  Hohe  der  Krankheit  fehlt  er  zu- 
weilen  vollstandig. 

Die  Ernahrung  siukt  stets  erheblich.  Manche  Kranke  verlieren  im 
Verlauf  einer  Melancholie  fiber  20  Kilo  an  Korpergewicht.  Hunger  und 
Appetit  konnen  vollstandig  fehlen.  Zuweilen  ist  die  Salzsauresecretion 
des  Magens,  haufig  die  Speichelsecretion  herabgesetzt.  Obstipationeu 
von  1 — 2wochentlicher  Dauer  werden  beobachtet.  Die  Zunge  ist  meist 
pelzig  belegt.  Oft  tritt  Erbrechen  auf. 

Die  Respiration  ist  haufig  verlangsamt.  Oft  beobachtet  man  ein 
plotzliches  tiefes  Aufathmen.  Unter  dem  Einfluss  schwerer  Angstaffecte 
wird  sie  beschleunigt  und  unregelmassig. 

Die  peripheren  Arterien  sind  meist  abnorm  stark  contrahirt.  Daher 
die  kfihlen  Hande  und  Efisse  der  meisten  Melancholischen.  Die  Herz- 
thatigkeit  ist  eher  verlangsamt,  nur  unter  dem  Einfluss  schwerer  Augst- 
affecte  ist  sie  ofters  beschleunigt  und  unregelmassig.  Im  Anschluss  an 
Obstijjationen  kommt  es  oft  zu  hoheu  Temperatursteigerungen,  welche 


Melancliolie. 


303 


mit  Beseitigiiug  der  Obstipation  rascli  zuriickgehen  (vgl.  S.  188).  Nicbt 
seltcu  wil'd  aiicli  Aineuorrlioe  boobaclitot. 

Neuropathologische  Symptome  fehleu  im  Uebrigen  ineist  vollstandig. 
Ziiweilen  finden  sicli  Druckpimkte.  Es  bandelt  sicli  dann  ineist  um 
Melancbolien,  welcbe  sicb  aiif  dem  Boden  der  Neiirasthenie  entwickelt 
liaben. 

Verlauf.  Ein  Prodroinalstadinin  feblt  der  Melancbolie  baufig  voll- 
stiindig.  Olme  Vorboten  stellen  sicb  die  Hanptsymptome  der  Psycbose 
bald  rascber,  bald  langsamer  ein.  In  einer  kleineren  Anzabl  von  Fallen 
geben  gastriscbe  Bescbwerden,  Kopfdruck,  Keizbarkeit  und  geistige  und 
korperlicbe  Erscblaffung  der  melancboliscben  Depression  voraus.  Bei 
der  melancboliscben  Verstimmung  bat  es  mit  einfacber  Depression  sein 
Bewenden.  Bei  der  Melancbolia  gravis  treten  Angstaffecte  binzu.  Nocb 
banfiger  zeigen  sicb  letztere  fast  gleicbzeitig  mit  der  Depression.  Zu- 
weilen  setzt  die  Psycbose  ganz  acut  mit  einem  scbweren  Angstanfall  ein. 
Secundare  Wabnvorstellungen  entwickeln  sicb  in  der  Kegel  erst,  wenn 
Depression  und  Angst  bereits  langere  Zeit  bestanden  baben.  Oft  kann 
man  geradezu  ein  erstes  Stadium  der  reinen  Affectstorung  und  ein 
zweites  Stadium  der  secundaren  Wabnideen  unterscbeiden.  Die  Denk- 
bemmung  lauft  im  Ganzen  der  Affectstorung  parallel. 

Die  Dauer  der  Melancbolie  belauft  sicb  in  der  Kegel  auf  4 — 6 Monate. 
Gerade  die  leicbte  melancboliscbe  Verstimmung  uberscbreitet  diese  Dauer 
oft  erbeblicb.  Es  giebt  Eiille  von  Melancbolie,  welcbe  erst  nacb  mebr 
als  12  Monaten  in  Heilung  iibergeben.  Der  Uebergang  in  Heilung  voll- 
ziebt  sicb  zuweilen  fast  kritiscb.  Oft  wird  er  durcb  den  Wiedereintritt 
der  auf  der  Krankbeitsbobe  ausgebliebenen  Menstruation  angekiindigt. 
In  anderen  Fallen  bilden  sicb  die  Wabnvorstellungen,  die  Affectstorungen 
und  Hemmungen  ganz  allmablicb  zuriick.  Leicbte  Reexacerbationen  im 
Verlauf  der  Reconvalescenz  sind  baufig.  Seltener  erfolgt  im  Verlauf 
der  letzteren  unmittelbar  ein  Rlickfall. 

Ungemein  baufig  beobacbtet  man  ein  Nacbstadium  im  Sinn  einer 
. reactiven  Hypertbymie.  Namentlicb,  wenn  die  Affectstorung  und  Denk- 
bemmung  sebr  scbwer  waren,  beobacbtet  man  fast  stets  eine  mebr- 
wocbentlicbe  oder  mebrtagige  beitere  Verstimmung  mit  entsprecben- 
• der  Bescbleunigung  des  Vorstellungsablaufs.  In  ubertriebenen  Ausdriicken 
, ruhmen  die  Kranken,  wie  glucklicb  sie  sind,  dass  ibr  vermeintlicb  zer- 
'■  stortes  Gedacbtniss  und  ibre  Leistungsfabigkeit  wiedergekebrt  sind. 
' ■ Selten  erlangt  dies  bypertbymiscbe  Nacbstadium  eine  starkere  Ent- 
wickelung,  so  dass  es  als  eine  neue  selbstiindige  Psycbose,  eine  ^reactive 
Manie“  imponirt. 

A u s g a n g e und  Prognose.  Die  Ausgange  der  Melancbolie  sind 
folgende : 


304 


Melancholie. 


1.  in  Heilung. 

2.  iu  Heilung  mit  Defect 

3.  in  Tod. 

4.  in  secundiiren  Schwaclisin'n. 

5.  in  cbronisclie  Melancholie. 

6.  in  sog.  secundare  Paranoia. 

Die  meisten  Falle  endigen  mit  volliger  Heilung.  Bei  der  typischeu 
Melancholie  erzielt  man  dieselbe  in  fast  90%  aller  Falle.  Hat  die 
Melancholie  sehr  lange  gedauert,  so  ergiebt  sich  zuweilen  eine  Heilung 
mit  Defect,  d.  h.  die  Affectstorungen  und  Hemmungen  schwinden,  aber 
eine  genaue  Vergleichung  ergiebt,  dass  der  Kranke  eine  leichte  intel- 
lectuelle  Einbusse  erlitten  hat.  Complicirtere  Begriffe  und  Urtheils- 
associationen  sind  ihm  mit  der  Krankheit  verloren  gegangen.  Dem  Laien 
entgeht  diesei  leichte  Defect  meist  vollstiindig.  In  eiiier  geringen  Zahl 
von  Fallen  tritt  keine  Heilung,  sondern  ein  erheblicher,  fortschreitender 
Intelligenzdefect  ein . die  sog.  secundare  Demenz.  Dieser  ungunstige 
Ausgang  kiindigt  sich  meist  zuerst  dadurch  an,  dass  gelegentlich  ein 
ominoses  Lachen  das  Gesicht  des  Kranken  iiberfliegt.  Dies  alberne 
Lachen  wechselt  ohne  Motive  mit  Angstzustanden  ab.  Das  Jammern  der 
Kranken  nimmt  ebenso  wie  ihre  Angstbewegungen  einen  fast  automa- 
tischen  Charakter  an.  Unreinlichkeiten  hiiufen  sich.  Auch  Hallucina- 
tionen  und  Illusionen  stellen  sich  in  grosserer  Zahl  ein.  Die  Kranken 
denken  und  sprechen  zuweilen  rascher,  aber  diese  Besserung  ist  nur 
scheinbar:  aus  dem  Inhalt  der  Aeusserungen  des  Kranken  ergiebt  sich, 
dass  eine  erhebliche  Gedachtniss-  und  Urtheilsschwache  eingetreten  ist. 
Letztere  nimmt  weiterhin  stetig  zu,  wahrend  die  Alfectstorung  abnimmt. 
Schliesslich  konnen  sich  die  schwersten  Formen  der  secuudaren  Demenz 
entwickeln.  Die  Kranken  sprechen  und  handeln  vbllig  verwirrt.  Etwas 
hciufiger,  wenn  auch  gegeniiber  der  grossen  Zahl  der  Heilungen  kaum 
in  Betracht  kommend  ist  der  Ausgang  in  chronische  Melancholie.  Ge- 
diichtniss  und  Urtheilskraft  bleiben  in  diesen  Fallen  intact.  Auch  gleichen 
sich  die  Affectstorungen  oft  bis  zu  einem  gewissen  Grade  aus;  speciell 
verlieren  sich  die  heftigen  Angstaffecte  vollstandig.  Auch  die  Denk- 
hemmung  weicht  bis  zu  einem  gewissen  Grade.  Und  dock  sind  die 
Kranken  nicht  gesund.  Eine  krankhafte  Wehleidigkeit  tritt  an  die 
Stelle  der  anfanglichen  Depression.  Die  Hemmung  bleibt  auf  dem  Gebiet 
des  Handelns  dauernd  bestehen.  Die  Kranken  bleiben  unschliissig,  rath- 
los,  leistungsunfahig.  Fiir  das  praktische  Leben  sind  sie  unbrauchbar. 
Das  Selbstvertrauen  kehrt  nicht  zuriick.  Viele  ergehen  sich  in  mono- 
tonem  Jammern  und  unfruchtbaren  Selbstanklagen.  Hat  es  sich  um 
eine  hypochondrische  Melancholie  gehandelt,  so  stellt  sich  nun  mit  dem 
Abklingen  der  Affecte  das  hypochondrische  Gebahren  ein,  wie  es  S.  lo9 


Melancholie. 


305 


unci  160  gescliildert  wiirde.  Die  secundaren  Wahnvorstellungen  haben 
sicb  von  den  Affectstorungen,  aiis  denen  sie  liervorgegangen  waren, 
unabbangig  gemacbt.  Die  Gefabr  eines  solcben  Ausgangs  in  cbroniscbe 
Melancbolie  ist  erfabningsgemass  bei  von  Hause  aus  geistig  wenig  ver- 
anlagten  Individuen  am  grossten.  Uebrigens  besteben  zwiscben  der 
Heilung  niit  Defect,  der  secundaren  Demenz  und  der  zuletzt  gescbil- 
derten  cbroniscben  Melancbolie  fliessende  Uebergange. 

Der  todtlicbe  Ausgang  wird  am  baufigsten  durcb  Selbstmord  berbei- 
gefiibrt.  Namentlicb  ausserbalb  der  Anstalten  geben  nicbt  wenige 
Melancboliker  so  zu  Grunde.  Andere  Todesursacben  sind  in  inter- 
cnrrenten  Erkrankungen  gegeben,  wie  sie  namentlicb  bei  abstinirenden, 
in  der  Ernabrung  stark  beruntergekommenen  Melancbolikern  nicbt  selten 
und  zumeist  in  sebr  gefabr licber  Form  auftreten, 

Einen  ganz  besonderen  Ausgang  stellt  der  Uebergang  in  secundare 
Paranoia  dar.  In  diesen  Fallen  spricbt  man  besser  von  zwei  Hauptstadien, 
einem  depressiven,  welcbes  der  Melancbolie  entspricbt,  und  einem  bal- 
lucinatoriscben,  welcbes  der  secundaren  Paranoia  entspricbt.  Es  gebort 
mitbin  die  Psycbose  nacb  ibrem  Gesammtverlauf  zu  den  zusammengesetz- 
ten  Psycbosen  und  wird  unter  diesen  eine  kurze  Besprecbung  finden. 
Ini  Ganzen  ist  diese  secundare  Paranoia  selten.  Wenn  sicb  im  Verlauf 
einer  Melancbolie  gebaufte  Hallucinationen  oder  Wabnvorstellungen  der 
Verfolgung  u.  s.  w.  einstellen,  so  bandelt  es  sicb  in  der  Kegel  gar  nicbt 
um  diese  secundare  Paranoia,  sondern  eine  aufmerksame  Untersucbung 
lebrt,  dass  ein  Intelligenzdefect  sicb  entwickelt  und  class  mitbin  der 
Uebergang  in  secundare  Demenz  sicb  vollziebt. 

Varietaten.  Einige  Varietaten  der  Melancbolie  sind  bereits  an- 
gefiibrt  worclen.  So  wurde  der  „melancboliscben  Verstimmung"  (Hypo- 
melancbolie),  der  apatbiscben  Form,  der  Melancboba  passiva,  attonita, 
agitata  und  der  Melancholia  bypocbondriaca  scbon  gedacbt.  Pro- 
gnostiscb  nebmen  unter  diesen  Varietaten  die  Melancboba  attonita  und 
die  Melancboba  bypocbondriaca  insofern  eine  besondere  Stellung  ein, 
als  ibre  Prognose  etwas  ungiinstiger  ist.  Bei  ersterer  ist  der  Ausgang 
in  secundare  Demenz,  bei  letzterer  der  Ausgang  in  cbroniscbe  Melan- 
cbobe  und  der  Ausgang  in  secundare  Paranoia  etwas  baufiger  als  bei 
den  iibrigen  Melancboben.  Uebrigens  existiren  zwiscben  alien  diesen 
Varietaten  keine  scbarfen  Grenzen.  Eine  passive  Melancbolie  kann  ganz 
plotzbcb  fiir  kiirzere  oder  langere  Zeit  in  die  agitirte  Form  iibergeben, 
bypocbondriscbe  Wabnvorstellungen  konnen  wabnbaften  Selbstanklagen 
Platz  machen  u.  s.  f. 

Eine  besondere  Varietat  der  Melancbolie  stellt  aucb  die  Melan- 
cholia ballucinatoria  dar.  Namentlicb  auf  dem  Boclen  scbwerer 
erbbcher  Belastung  und  im  Senium  beobacbtet  man  baufiger,  dass  zu  den 
Ziehen,  Psychiatrie,  20 


306 


Melancholic. 


Ilauptsymptomen  der  Melancliolie,  also  zu  der  Depression,  Angst  und 
liemmung  Hallucinationen  und  Illusionen  und  zwar  vorzugsweise  solche 
schreckliaften  Inlialts  hinzutreten.  Nicht  selten  handelt  es  sich  bei  den 
Sinnestauschungen  der  hallucinatorischen  Melancliolie  auch  um  das  sog. 
Gedankenlautwerden.  Die  Kranken  klagen,  dass  sie  jeden  Gedanken  in 
ihrem  Kopl,  in  ihrer  Brust  oder  in  ilirem  Abdomen  mitsprechen  bbren. 
Die  sinnlicbe  Lebliaftigkeit  dieser  Hallucinationen  ist  gewobnlicb  sehr 
gering ; meist  zweifeln  die  Patienten  auch  nicht  an  ihrer  subjectiven  Ent- 
stehung.  Mitunter  flihlen  sie  einen  eigen thiimlichen  Drang,  die  gehorten 
Worte  mitzusprechen.  Die  Prognose  dieser  hallucinatorischen  Melan- 
cholie  ist  nicht  so  gut  wie  diejenige  der  typischen  Melancholie.  Nament- 
lich  ist  stets  die  Weiterentwickelung  zu  einer  typischen  hallucinatorischen 
Paranoia  zu  fiirchten..  Ueberhaupt  bestehen  zwischen  der  Melancholia 
hallucinatoria  und  der  Paranoia  hallucinatoria  (namentlich  der  stuporbsen 
Form)  fliessende  Uebergangsformen. 

Eine  andere  Varietat  der  Melancholie  ist  durch  das  Hinzutreten 
von  Zwangsvorstellungen  zu  den  typischen  Symptomen  der  Melancholie 
charakterisirt.  Weitere  Varietaten  entstehen  durch  Complication  der 
Melancholie  mit  Neurasthenie  oder  Hysterie.  Die  neurasthenische 
Grunderkrankuug  aussert  ihren  Einfluss  im  klinischen  Bild  der  Melan- 
cholie dadurch,  dass  sie  zu  der  Depression  der  Melancholie  die  neurasthe- 
uische  Reizbarkeit  hinzufiigt.  Fiir  die  Melancholie  der  Hysterischen 
ist  die  Labilitat  der  Stimmung  charakteristisch.  In  beiden  Fallen  macht 
sich  oft  ein  riisonnirender  Zug  im  Krankheitsbild  geltend:  die  Kranken 
suchen  ihre  krankhaften  Handlungen  hinterher  zu  beschonigen  und  zu 
rechtfertigen. 

Sehr  wichtig  ist  auch  die  periodische  Form  der  Melancholie. 
Wenn  sie  auch  nicht  so  haufig  ist  wie  die  periodische  Manie,  so  wird 
man  doch  bei  schwerer  erblicher  Belastung  stets  auch  an  diese  Mbglich- 
keit  denken  miissen. 

Endlich  tritt  die  Melancholie  auch  in  der  Form  des  t ransito ri- 
se hen  Irreseins  auf.  Man  bezeichnet  diese  Form  auch  als  Raptus  melan- 
cholicus.  Derselbe  dauert  oft  nur  einige  Minuten,  hochstens  1 — 2 Stuu- 
den.  Eine  extreme  Angst  Liberfallt  den  Kranken  meist  ganz  plotzlich 
und  fiihrt  zu  j alien  Gewaltthaten  des  Kranken  gegen  sich  und  seine  Um- 
gebung  (Selbstmord,  Mord,  Mobiliarzertriimmerung,  planloses  Fortlaufen). 
Schreckhafte  Wahnvorstellungen  und  Sinnestauschungen  konuen  hinzu- 
treten. Ein  ausgesprochener  arterieller  Gefiisskrampf  begleitet  den  An- 
fall.  Derselbe  endet  meist  kritisch.  Fiir  alles  Vorgefallene  besteht  eine 
fast  vollstandige  oder  auch  vollstiindige  Amnesie. 

Aetiologie.  Bei  der  typischen  Melancholie  ist  erbliche  Belastung 
nur  in  der  Hiilfte  aller  Falle  zu  findeu.  Auffiillig  oft  beobachtet  man 


Melancholie. 


307 


gleichartige  Vererbiing.  Im  Ganzen  ist  die  Melancholie  beim  ^weiblichen 
Geschlecbt  haufiger  als  beim  mannlicben.  Oft  fallt  cler  Ausbruch  der 
Melancholie  in  die  Pubertat  oder  das  Senium.  Die  Pubertatsmelancholie 
kniipft  haufig  an  onanistische  Excesse  an.  Im  Senium  ist  wohl  nament- 
lich  die  Atheromatose  der  Gefasse  fiir  den  Ausbruch  der  Psychose  ver- 
antwortlich  zu  machen. 

Eine  haufige  Veranlassung  zum  Aushruch  einer  Melancholie  stellt 
auch  die  Graviditat  dar.  Meist  setzt  diese  Graviditatsmelancholie  im 
3.  oder  4.  Schwangerschaftsmonat  ein,  seltener  erst  gegen  Ende  der 
Schwangerschaft.  Circulationsveranderungen  und  reflectorische  Einfliisse 
mogen  dabei  oft  im  Spiele  sein.  Haufig  ist  jedoch  auch  ein  psychisches 
Moment  wirksam:  die  Furcht  vor  der  Entbindung.  Daher  kommt  es 
auch,  dass  die  Graviditatsmelancholie  bei  Primiparae  etwas  haufiger  ist 
als  bei  Multiparae. 

Seltener  erzeugt  das  Puerperium  selbst  eine  Melancholie,  Die 
Psychosen,  welche  in  den  ersten  Wochen  des  Wochenbetts  ausbrechen, 
verlaufen  zwar  oft  mit  schweren  Angstaffecten,  aber  eine  genauere  Unter- 
suchung  lehrt  sofort,  dass  diese  Angstaffecte  ausschliesslich  auf  Hallu- 
cinationen  und  Wahnvorstellungen  beruhen,  und  dass  somit  diese  Puerperal- 
psychosen  s.  str.  der  acuten  hallucinatorischen  Paranoia  zuzurechnen 
sind.  — Haufiger  ist  die  Melancholie  eine  Folgekrankheit  einer  pro- 
trahirten  Lactation. 

Ueberhaupt  ist  kbrperliche  Erschopfung,  sie  sei  entstanden  wie  sie 
wolle,  eines  der  wichtigsten  atiologischen  Momente  fiir  die  Melancholie. 
Ebenso  bedeutsam  ist  Kummer  und  Sorge.  Daher  kann  die  Melancholie 
an  die  verschiedensten  Lebenschicksale  ankniipfen.  Zuriicksetzungen,  ge- 
schaftliche  Verluste,  schwere  Erkrankungen  von  Angehorigen,  Todesfalle 
in  der  Familie  kbnnen  den  Ausbruch  herbeifiihren.  Zuweilen  geniigt  die 
plbtzliche  Versetzung  in  andere  Verhaltnisse,  um  die  Depression  der  Me- 
lancholie hervorzurufen.  Dahin  gehort  z.  B.  auch  die  Melancholie,  wie 
sie  nach  Verlobungen,  nameutlich  bei  jungen  Madchen,  zuweilen  aber  auch 
bei  Mannern  beobachtet  wird.  Die  Reue  und  die  Angst  wegen  des  Ja- 
worts  leiten  hier  die  Psychose  ein.  Nahe  verwandt  ist  auch  die  Melan- 
cholie, welche  sich  allmahlich  aus  einem  noch  physiologischen  Heimweh 
entwickelt. 

Seltener  erzeugen  momentane  Affectstbsse,  wie  z.  B.  Schreck  u.  dgl. 
eine  Melancholie. 

Sehr  schwere  Formen  der  agitirten  Melancholie  beobachtet  man  bei 
dem  chronischen  Alkoholismus. 

Diagnose.  Die  Melancholie  kann  nameutlich  mit  folgenden  Krank- 
heiten  verwechselt  werden: 

1.  Mit  der  hallucinatorischen  Paranoia.  Sowohl  die  stuporose 

20* 


308 


Melancholie. 


Form  wie  die  agitirte  Form  der  letzteren  l)ietet  ausserlich  grosse  Aelm- 
liclikeit  mit  der  Melancliolia  attouita  resp.  agitata,  sobald  bei  der  hallu- 
cinatoriscbea  1 aranoia  Ilalluciuationen  angstlicben  Inlialts  vorherrsclieii. 
Differentialdiagnostiscli  kommt  bier  alles  in  Betracht,  was  iiber  das  Cha- 
rakteristische  des  hallucinatoriscben  Gebahrens  in  der  allgemeinen  Patho- 
logie  gesagt  worden  ist.  Scbon  der  Gesicbtsausdruck  ermdglicbt  oft  zu 
entscheiden,  ob  einfacbe  oder  hallucinatorische  Angst,  mit  anderen  Wor- 
ten,  ob  Melancholie  oder  hallucinatorische  Paranoia  vorliegt*).  Auch  das 
plotzliche  Anfhorchen,  der  plotzliche  Wechscl  der  Blickrichtung  verrathen 
den  Hallucinanten.  Weitere  Fingerzeige  giebt  das  Befragen  des  Kranken: 
Aengstigen  Sie  sich,  weil  Sie  so  schreckliche  Binge  sehen  und  hdren,  oder 
kommt  die  Angst  von  selbst  ? Bei  sehr  heftiger  Erregung  und  namentlicli 
bei  sehr  ausgesprochener  Hemmung  wird  man  freilich  zuweilen  eine  ver- 
wirrte  bezw.  iiberhaupt  keine  Antwort  erhalten.  So  kommt  es,  dass  zu- 
weilen eine  sichere  Diagnose  auf  der  Hohe  der  Krankheit  nicht  moglich 
ist,  zumal  wenn  auch  die  Anamnese  im  Stich  lasst.  Namentlich  zwischen 
Melancholia  hallucinatoria  und  Paranoia  hallucinatoria  ist  ohne  Anam- 
nese keine  sichere  Entscheidung  moglich.  Die  Anamnese  muss  lehren,  ob 
die  Hallucinationen  nur  eine  secundare  Zuthat  sind  oder  das  ganze 
Krankheitsbild  von  Anfang  an  bestimmt  haben. 

2.  Mit  dem  Depressionsstadium  der  Dementia  paralytica.  Im 
Verlaufe  der  letzteren  tritt  ungemein  haufig  ein  Stadium  ein,  welchem  die 
Hauptsymptome  der  Melancholie:  primare  Depression,  Angst,  Denkhem- 
mung  und  motoihsche  Hemmung  oder  eventuell  statt  der  letzteren  iingst- 
liche  Agitation  in  der  fiir  die  Melancholie  charakteristischen  Zusainmeu- 
stellung  zukommen.  Die  Unterscheidung  der  Melancholie  von  diesem 
Stadium  der  Dementia  paralytica  beruht  darauf,  dass  letztere  ganz  be- 
stimmte  n e u r o p a t h o 1 o g i s c h e S y m p t o in  e zeigt  und  auch  stets 
mit  einem  Defect  der  Intelligenz  verkniipft  ist.  Die  wichtig- 
sten  neuropathologischen  Symptome,  auf  welche  man  zu  fahnden  hat, 
sind:  Pupillenstarre,  Facialisparesen,  hesitirende  Sprache,  Aufhebung  der 
Kniephanomene  oder  Achillessehnenphanomene.  Alle  diese  Symptome 
kommen  bei  Melancholie  nicht  vor:  wo  sich  eines  derselben  fiudet,  han- 
delt  es  sich  um  das  Depressionsstadium  der  Dementia  paralytica,  jeden- 
falls  nicht  um  Melancholic.  Der  Intelligenzdefect  kann  durch  dii’ecte 
Intelligenzprlifung  nachgewiesen  werden**)  (s.  unter  Dementia  paralytica). 
Oft  giebt  sich  derselbe  schon  in  dem  ganzen  Gebahren  und  in  dem  lu- 
halt  der  secundaren  Wahnvorstellungeu  kund.  Die  Depression  des  Para- 

*)  Vergleiche  auf  den  pbysiognomischen  Tafeln  Fig.  3 mit  Fig.  5.  Erstere  stellt  die 
einfache  Angst  der  Melancholie,  letztere  diejenige  der  hallucinatoriscben  Paranoia  dar. 

**)  Dabei  muss  man  sich  nur  davor  hiiten,  Intelligenzdefect  und  Denkhemmung 
zu  verwechseln. 


Melancholie. 


309 


lytikers  ist  oberflaclilicher ; oft  macht  sie  voriibergehend  einem  albernen 
Lacben  Platz.  Die  secimclareu  Wabnvorstellimgen  sind  durch  ihre  Maass- 
losigkeit,  diircli  flagrante  Widerspriicbe  unter  sicb  iind  mit  den  Tbat- 
sacben  und  durcb  die  Diirftigkeit  der  Motivirnng  ausgezeicbnet.  Der 
Paralytiker  bebauptet  zu  Millimetergrosse  zusaramengescbrumpft  zu  sein, 
Herz,  Lnngen  u.  s.  w.  verloren  zu  baben.  Wiibrend  er  isst,  bebauptet  er, 
der  Mimd  sei  zugewacbsen.  Seit  vielen  Jabreu  will  er  keinen  Stublgang 
gebabt  baben.  Bei  der  Melancbolie  finden  sicb  derartige  scbwacbsinnige 
Wabnvorstellimgen  nur  ausserst  selten.  — 

Endlicb  wird  man  beriicksicbtigen,  dass  die  Dementia  paralytica 
namentlicb  im  mittleren  Mannesalter  auf  Grand  friiber  stattgebabter 
sypbilitiscber  Infection  vorkommt.  Man  wird  daber  mit  der  Diagnose 
einer  Melancbolie  doppelt  vorsicbtig  sein,  wenn  es  sicb  um  eineu  friiber 
sypbilitiscb  gewesenen  Mann  im  4ten  oder  5ten  Lebensjabrzebnt  bandelt. 

3.  Mit  Dementia  senilis.  Maassgebend  fiir  die  Unterscbeidung 
ist  die  Feststellimg,  ob  ein  Intelligenzdefect  vorliegt  oder  nicbt.  Gelingt 
es  einen  solcben  sicber  nacbzuweisen,  so  liegt  senile  Demenz  imd  keine 
Melancbolie  vor.  Gerade  bierbei  bedarf  es  grosser  Vorsicbt,  denn 
gerade  die  senile  Melancbolie  tauscbt  sebr  oft  einen  Intelligenz- 
defect vor. 

4.  Mit  der  Stupiditiit.  Fiir  diese  Verwecbselimg  kommt  namentlicb 
die  apatbiscbe  Form  der  Melancbolie  in  Betracbt.  Dilferentialdiagnostiscb 
ist  zu  beriicksicbtigen,  dass  der  apatbiscbe  Melancboliker  seine  Apatbie 
scbmerzlicb  empfindet,  wabrend  bei  der  Stupiditat  der  Kranke  unter 
seiner  Apatbie  nicbt  oder  kaum  leidet.  Ferner  pflegen  bei  der  apatbi- 
scben  Melancbolie  gelegentlicb  docb  einzelne  Angstaffecte  aufzutreten; 
bei  der  Stupiditat  wird  die  Affectlosigkeit  bfter  von  einem  kindlicben 
Lacbeln  unterbrocben.  Uebrigens  kommen  ab  und  zu  Zwiscbenformen 
zwiscben  der  apatbiscben  Melancbolie  und  der  Stupiditat  vor.  — Fasst 
man  nur  das  motoriscbe  Verbalten  ins  Auge,  so  abnelt  die  Stupiditat 
am  meisten  der  passiven  Melancbolie : beiden  ist  die  vollige  Resolution  der 
Kbrpermusculatur  gemeinsam.  Der  blode  Gesicbtsausdruck  der  Stupiditat 
und  der  traurige  der  Melancbolie  sind  jedocb  kaum  zu  verwecbseln. 

Besondere  Beacbtung  verdient  aucb  stets  die  Moglicbkeit,  dass  die 
vorliegende  Melancbolie  die  Tbeilpbase  eines  circularen  Irreseins 
ist.  Dringender  wird  dieser  Verdacbt,  wenn  die  Melancbolie  sebr  plbtz- 
licb  ausbracb  und  wenn  in  ibrem  Verlauf  gelegentlicb  stundenweise  eine 
auffallige  beitere  Exaltation  die  Depression  unterbricbt. 

Ueberseben  wird  die  einfacbe  melancboliscbe  Verstimmung  nicbt 
selten.  Die  Vernacblassigung  der  Toilette,  des  Berufs,  des  Hausbalts 
wird  auf  Cbarakterveranderung  statt  auf  Krankheit  zuruckgefiibrt.  Ein 
sacbverstandiges  Befragen  wird  obne  Scbwierigkeit  die  patbologiscbe 


310 


Melancholic. 


Natiir  tier  psychisclien  Veraiiclerimg  feststellen  konnen.  — Die  oben- 
erwalmten  sog.  Dipsomanen  werclen  oft  mit  Trinkern  verwechselt.  Die 
Perioclicitat  der  Excesse  ist  bier  ein  wichtiges  Kriterium.  Es  ist  jedoch 
zu  beachten,  dass  nicht  selten  aus  dipsomanischen  periodischen  Melan- 
cholikern  schliesslich  chroniscbe  Alkobolisten  werden.  — Endlicb  kann 
die  Krankheit  wegen  ibres  transitoriscben  Charakters  iibersehen  werden. 
Es  kommt  leider  nocb  immer  ab  und  zu  vor,  dass  die  Angabe  solcher 
Kranken,  sie  wiissteu  sicb.  des  ganzen  Vorfalls  (abgesehen  vielleicbt  von 
einem  initialen  Angstgeflibl)  nicbt  inebr  zu  erinnern,  selbst  von  Aerzten 
fill-  „grobe  Simulations^  gehalten  wird.  Die  blinde  Riicksichtslosigkeit 
der  Strafhandlung  im  Raptus  melancholicus  sollte  schon  dem  Richter 
den  Gedanken  nahelegen,  dass  es  sicb  um  einen  pathologisch  bedingten 
Act  bandelt. 

Tberapie.  Zunacbst  gilt  als  Hauptregel,  dass  jede  Melancbolie, 
bei  welcher  Angstaffecte  bestehen,  wegen  dringender  Selbstmordver- 
dachtigkeit  in  eine  gescblossene  Anstalt  zu  uberfiihren  ist.  Bei  der 
sog.  melancholischen  Verstimmung  kann  man  eber  die  Bebandlung 
ausserbalb  einer  gescblossenen  Anstalt  in . Anbetracbt  des  Feblens  von 
Angstalfecten  und  in  Anbetracbt  der  entsprecbend  geringeren  Gefabr 
eines  Selbstmordes  riskiren.  Da  aucb  die  sonstige  Bebandlung  bei  der 
melancboliscben  Verstimmung  und  bei  der  Melancbolie  mit  Angst  in 
wesentlicben  Punkten  verschieden  ist,  soil  aucb  die  Besprecbung  getrennt 
werden. 

a.  Bebandlung  der  melancboliscben  Verstimmung.  Bei  nicbt 
gunstiger  Vermogenslage  wird  man  aucb  bier  die  Einlieferung  in  eine 
gescblossene  Anstalt  vorzieben.  Steben  die  pecuniaren  Mittel  zur  Ver- 
fiigung,  so  veranlasst  man  die  Ueberfiibrung  in  eine  offene  Privatanstalt. 
Der  Verbleib  des  Kranken  in  seiner  eignen  Familie  ist  stets  unzweck- 
massig.  Ibren  Angebdrigen  gegeniiber  fiiblen  die  Kranken  ibre  De- 
pression in  doppelter  Starke  und  sind  doppelt  willensscbwach.  Der 
Kranke  muss  in  andere  Umgebung  und  zwar  vor  allem  in  einfacbe  Ver- 
lialtnisse.  Geselligkeit,  Zerstreuungen,  iiberbaupt  Abwecbselung  wirkt 
fast  stets  scbadlicb.  Man  ordnet  daber  die  Lebensweise  des  Kranken 
bis  zu  seiner  Einlieferung  in  die  offene  oder  gescblossene  Anstalt  und 
weiterbin  aucb  in  dieser  selbst  nacb  folgenden  Grundsatzen.  Zunacbst 
empfieblt  sicb  die  Bettrube  aucb  auf  einen  Tbeil  des  Tages  (z.  B.  die 
Mittagszeit  von  12 — 3 Ubr)  auszudebnen.  Es  ist  darauf  zu  acbten,  dass 
der  Kranke  seine  Toilette  regelmassig  und  genau  besorgt.  Der  Vor- 
mittag  ist  auf  leicbte  korperlicbe  Bescbaftigung  (Gartenarbeit,  Bescbafti- 
gung  im  Hausbalt,  Zeicbnen,  Modelliren)  zu  verwenden.  Nacb  balb- 
stiindiger  Bescbaftigung  ist  stets  mindestens  eine  balbe  Stunde  Rube 
einzubalten.  Am  Nacbmittag  empfeblen  sicb  langsame,  kurze  Spazier- 


Melancholie. 


311 


giinge,  einfiiclie  Spiele,  weuu  moglich  im  Freien,  unci  leichte  korper- 
liclie  Bewegung  unci  Lecture.  Bei  der  Auswahl  der  letzteren  bedarf 
es  specieller  Vorsicht:  erbauliche  Lecture  ebensowohl  wie  Immoristisclie 
wirkt  meist  ungiinstig,  leichte  historische  Lecture,  kurze  einfach  ge- 
schriebene  Novellen  wirken  am  besten.  Sehr  vortheilhaft  ist  es,  wenn 
man  den  Kranken  zu  bestimmen  vermag,  auf  seinen  Spaziergangen 
Pilanzen  zu  sammeln  und  nachher  zu  bestimmen.  Der  Erfindungsgabe 
cles  Arztes  ist  bier  ein  weiter  Spielraum  gelassen.  Bei  ungebildeten 
Kranken  wircl  man  selbstverstandlicb  das  Hauptgewicht  auf  korperliche 
Beschaftigung  legen  miissen.  Von  beruflichen  Arbeiten  halt  man  den 
Kranken  am  besten  moglichst  fern.  Den  Briefwechsel  mit  Angehorigen  und 
Freunden  schriinkt  man  ein,  jedenfalls  setzt  man  bestimmte  Tage  sowohl 
fur  das  Schreiben,  wie  flir  den  Empfang  von  Briefen  fest.  Ueberhaupt  ist 
die  ganze  Lebensweise  des  Kranken  durch  einen  festen  Stunclenplan  zu 
regeln. 

Medicamentose  Behancllung  ist,  soweit  nicht  atiologische  oder  sym- 
ptomatische  Indicationen  in  Betracht  kommen,  iiberflussig.  Morgens  und 
nach  der  Mittagsruhe  verordnet  man  kiihle  Abwaschungeu,  Abends  eine 
lane  Abwaschung  oder  ein  prolongirtes  Bad  (28 1,  ^^4  St.)  oder  eine 
hydropathische  Einpackung  (25  '/a — % St.).  Die  Obstipation  bekampft 

man  durch  Leibmassage  und  Eumpfgymnastik,  die  Schlaflosigkeit,  wenn 
die  eben  erwahnten  hydrotherapeutischen  Maassnahmen  versagen,  durch 
gelegentliche  (nicht  tagliche!)  Bromdosen  (5  g Natrium  bromat.)  oder 
Sulfonaldosen  (1,5  g Abends  in  Suppe  oder  Milch).  Die  Nahrungsauf- 
nahme  bedarf  einer  besonderen  Controle ; eventuell  kommt  eine  Mastkur 
in  Betracht.  Stets  wird  der  Arzt  durch  entsprechencle  Fragen  sich  iiber- 
zeugen  miissen,  oh  Suicddgefahr  besteht  oder  nicht.  Es  ware  eine  ganz  . 
falsche  Scheu,  wenn  man  solche  Fragen  unterlassen  wollte,  um,  wie  es 
meist  heisst,  den  Kranken  „nicht  aufzuregen^^  Auch  die  leichte  melan- 
cholische  Verstimmung  ist  sehr  haufig  selbstmordverdachtig.  Es  sind 
in  letzterem  Falle  alle  Maassregeln  durchzufiihren,  welche  in  der  allge- 
meinen  Therapie  angegeben  sind. 

b.  Behandlung  der  Melancholie  mit  Angstaffecten.  Nur 
bei  sehr  giinstigen  Vermogensverhaltnissen  ist  hier  die  Behandlung  in 
einer  offenen  Anstalt  moglich;  es  ist  in  letzterer  namlich  unumganglich 
nothwendig,  dem  Kranken  einen  eigenen  Privatwarter  zu  halten,  der 
den  Kranken  weder  bei  Tag  noch  bei  Nacht  allein  lassen  darf.  In  der 
iibergrossen  Mehrzahl  der  Falle  und  selbstverstandlicb  in  alien  Fallen, 
wo  agitirte  Angst  vorliegt,  wird  der  Arzt  die  Einlieferung  in  eine  ge- 
schlossene  Anstalt  moglichst  zu  beschleunigen  suchen.  In  der  Zeit, 
welche  bis  zur  Ueberfiihrung  in  die  Anstalt  verfliesst,  empfiehlt  sich 
folgende  Ordination: 


312 


Melancholie. 


1 . Absolute  Bettrube. 

2.  Standige  Ueberwacbung  durch  eine  zuverlassige  Person. 

3.  Einleitimg  einer  Opiumtherapie. 

Letztere  begmnt  man  ausserbalb  der  Anstalt  mit  einer  Tagesdosis 
von  0,2—0,24  g,  vertheilt  auf  4 Einzeldosen.  Weiterhin  steigt  man 
taghch  urn  mindestens  0,05  g.  Erlauben  es  die  Verbaltnisse,  so  kann 
man  Abends  eine  hydropathische  Einpackung  (24 «,  1 St.)  oder  ein  pro- 
longirtes  Bad  (26-28 «,  1 St.)  anordnen.  Bei  scbwerer  angstlicher 
Agitation  giebt  man  eine  subcutane  Einspritzung  von  Morpbium  (0,015 
—0,02)  und,  wenn  diese  nicht  ausreicbt,  von  Morpbium  mit  Hyoscin 
(0,015  Morph,  -f-  0,0005  Hyoscin).  Vergl.  Allgem.  Tberapie.  S.  265! 

So  bereitet  der  Arzt  die  Anstaltsbehandlung  am  besten  vor.  In  der 
Anstalt  wild  die  absolute  Bettrube  beibebalten.  Hie  Opiumdosis  wird, 
da  eine  stetigere  arztlicbe  Controle  moglicb  ist,  rascber  gesteigert. 
Die  Ueberwacbung  hinsichtlich  eines  Selbstmordversuches  wird  selbst- 
verstandlich  erst  recht  genau  durcbgefubrt.  Anfangs  beschaftigt  man 
die  Kranken  garnicht  oder  hbcbstens  viertelstundenweise  mit  leichten 
Handarbeiten.  Im  weiteren  Verlauf  der  Psycbose  steigt  man  mit  der 
Opiumdosis  bis  auf  1,2  und  selbst  bis  auf  1,5  und  1,8  pro  die.  Keines- 
falls  halt  man  mit  der  Steigerung  der  Opiumdosis  ein,  sobald  der  Kranke 
einmal  einen  Tag  etwas  ruhiger  gewesen  ist.  Vielmebr  gilt  es  als 
Regel,  dass  man  durcb  Steigerung  der  Opiumdosis  dem  kommenden  neuen 
Augstaffect  gewisseimaassen  vorauseilt  und  vorbeugt.  Eine  regelmassige 
hydropathische  Behandlung  (tagliche  Einpackungen,  tagliche  pro- 
longirte  Bader)  ist  meist  nicht  angebracht.  Vielmebr  ist  es  in  der  Regel 
zweckmassiger,  nur  bei  besonders  heftigen  Angstparoxysmen  eine  Ein- 
packung oder  ein  Bad  zu  verordnen ; dann  pflegt  der  Erfolg  selten  aus- 
zubleiben.  Eventuell  wird  man  auch  in  der  Anstalt  bei  tobsiichtiger  angst- 
licher Erregung  dann  und  wann  Hyoscin  mit  Morpbium  injiciren  miissen. 
Isolirung  ist  jedenfalls  zu  vermeiden. 

Wenn  sich  die  Psycbose  dauernd  bessert,  so  geht  man  langsam  — 
etwa  alle  3 Tage  um  0,05  g — mit  dem  Opium  zuriick,  gestattet  all- 
mahlich  dem  Kranken  stundenweise  aufzustehen  und  sich  langer  und 
mannigfaltiger  zu  beschaftigen  und  erlaubt  Correspondenz  mit  den 
Angehorigen,  welche  bis  zum  Eintritt  der  Reconvalescenz  jedenfalls 
zu  untersagen  ist,  und  schliesslich  auch  Besuch  der  Angehorigen.  Nach- 
dem  der  letztere  stattgefunden  hat,  ist  die  Entlassung  bezw.  Beurlau- 
bung  aus  der  Anstalt  nicht  mehr  lange  hinauszuschieben.  Ueberhaupt 
kann  ein  in  der  Reconvalescenz  auftretendes  iibermassiges  Heimweh  zu- 
weilen  zu  einer  noch  friihzeitigeren  Entlassung  nbthigen,  weil  dasselbe 
geradezu  die  vollige  Heilung  und  weitere  Besserung  verhindert.  Der 
Arzt  muss  bier  scharf  zwischen  einem  physiologischen,  aus  der  Gemiiths- 


Melancholie. 


313 


anlage  und  der  Situation  des  Kranken  verstandlictien  Heimweh  und 
einem  auf  pathologisclier  Angst  beruhenden  Heimdrangen  unterscbeiden. 

Besondere  Schwierigkeit  ergiebt  sich  iin  Einzelnen  wabrend  des 
Krankheitsverlaufs  namentlicb  bei  Regelung  des  Stuhlgangs  und  der 
Nabrungsaufnahme.  Alle  Vorschriften,  welcbe  in  der  allgemeinen  Tbera- 
pie  zur  Bekampfung  der  Obstipation  und  Abstinenz  gegeben  wurden, 
kommen  bier  in  besonderem  Maasse  in  Betracht.  Man  lasse  eine  Ob- 
stipation niemals  iiber  48  Stunden  bestehen.  In  schweren  Fallen,  wenn 
Leibmassage,  Klystiere,  Drastica,  hobe  Eingiessungen,  Glycerineinspritzun- 
gen  u.  dgl.  versagen,  wird  man  sicb  scbliesslicb  zur  manuellen  Ausraumung 
des  Rectums  entscbliessen  mussen.  Besondere  Aufmerksamkeit  ist  aucb 
der  Mundpflege  zu  widmen.  In  der  Diat  vermeidet  man  griine  Gemuse 
und  Beerenfriicbte  am  besten  vollstandig.  Zur  Milcb  fugt  man  vortbeil- 
baft  Kalkwasser  (1  Essloffel  pro  Liter)  binzu:  sie  wird  dann  vom 
Magen  erbeblicb  besser  vertragen.  Ausser  Milch  reicbe  man  namentlicb 
Fleiscb  und  Eier.  Bei  nicbt  agitirten  Formen  warte  man  mit  der 
Scbbmdsondenfiitterung  moglicbst  lange,  bei  agitirten  muss  man  zu- 
weilen  scbon  am  3.  'Tage  der  Abstinenz  eingreifen. 

Besonders  zu  bemerken  ist,  dass  Obstipation  in  keiner  Weise  den 
Gebraucb  des  Opiums  contraindicirt.  Nicbt  selten  beobacbtet  man  sogar, 
dass  unter  dem  Einfluss  der  Opiumbebandlung  die  Obstipation  allmablicb 
weicbt.  Viel  unangenebmer  sind  die  bartnackigen  Diarrbben,  welcbe  — 
allerdings  selten  — im  Gefolge  einer  Opiumbebandlung  auftreten,  Man 
bekampft  dieselben  mit  Tct.  Goto  und  Argentum  nitricum,  obne  die 
Opiumdosis  berabzusetzen.  Erregt  der  Gescbmack  des  Opiums  Ekel  bei 
dem  Kranken,  so  verabreicbt  man  es  in  Pillen.  Erregt  es  Uebelkeit,  so 
giebt  man  es  zusammen  mit  Eispillen.  Klagen  die  Kranken  nacb  dem 
Einnehmen  des  Opiums  iiber  Aufstossen  und  Magendruck,  so  verabfolgt 
man  das  Mittel  subcutan  (als  Extractum  Opii  aquosum  oder  Morpbium). 
Meist  ist  es  zweckmassig,  da  Opium  wie  Morpbium  die  Salzsauresecretion 
des  Magens  berabsetzt,*)  von  Anfang  an  Ac.  hydrocbloricum  (3,0 : 200,0, 
Ya  St.  nacb  jeder  albuminbaltigen  Mablzeit  1 Essloffel)  zu  geben.  Falls 
das  Opium  das  Traumleben  sebr  steigert  und  bypnagogiscbe  Visionen 
bervorruft,  verbindet  man  es  mit  kleinen  Bromdosen  (2,0  g Natr.  bromat.). 
Bei  scbwacber  Herztbatigkeit  fiigt  man  etwas  Campber  (0,01  auf  0,05  Op.) 
binzu.  Dasselbe  empfieblt  sicb  iiberbaupt  bei  der  passiven  Form  der 
Melancholie. 

Fur  die  psycbiscbe  Bebandlung  gilt  weiterbin  Alles,  was  in  der 
allgemeinen  Tberapie  bieriiber  gesagt  wurde.  Namentlicb  biite  man 

0 Es  tritt  dies  auch  bei  subcutaner  Injection  ein,  da  das  injicirte  Morpbium  zu 
einem  grossen  Theil  von  der  Magenschleimbaut  wieder  ausgeschieden  wird  und  bei 
seinem  Weg  durch  die  Magenschleimbaut  die  Secretion  derselben  labmt. 


314  Neurasthenic  (Neurasthonisches  Irresein). 

sich,  auf  ein'e  Discussion  iiber  die  Wahnvorstellungen  mit  dem  Kranken 
sich  emzulassen.  Oft  verweist  man  ihn  am  besten  darauf,  dass  die 
korperliche  Untersuchung  des  Nervensystems  ergeben  babe,  dass 
wenigstens  aiich  Krankheit  vorlieg-e;  die  Entscheidung,  ob  zugleich  Ver- 
schuldung  bestehe,  sei  erst  zu  fallen,  wenn  die  Krankheit  beseitigt  sei 
es  sei  doch  moglicb,  dass  nur  die  korperliche  Angst  und  Unruhe  ihn 
auf  solcbe  Gedanken  bringe.  Jammert  der  Kranke  weiter  iiber  seine 
angeblichen  \ erbrechen  u.  s.  w.,  so  hort  man  ihn  geduldig  an,  antwortet 
aber  nicht.  Wiederholt  der  Kranke  bei  jedem  Besucbe  dieselben  Klagen, 
so  schneidet  man  schliesslich  dieselben  ab.  Besonderer  Vorsicht  bedarf 
die  psycbische  Behandlung  des  hypochondrischen  Melancholikers.  Der- 
selbe  muss  zunacbst  einmal  sehr  griindlich  und  eingehend  unter  Be- 
riicksicbtigung  aller  wahnbaften  Klagen  korperlicb.  untersucht  werden, 
die  immer  wiederkebrende  Bitte  um  neue  Untersuchungen  scblagt 
man  bei  den  folgenden  Visiten  mit  dem  Hinweis  auf  die  erste  eingehende 
Untersuchung  consequent  ab. 

Pathologische  Anatomie.  Dieselbe  ist  noch  ebenso  wenig 
aufgeklart  wie  diejenige  der  Manie.  Hypothetisch  hat  man  haufig  eine 
Storung  der  Blutzufuhr  der  Hirnrinde  angenommen. 

c.  Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein). 

Das  neurasthenische  Irresein  ist  eine  sehr  vielgestaltige  Krankheit, 
deren  Hauptsymptome  folgende  sind: 

1.  Krankhafte  affective  Reizbarkeit. 

2.  Wechselnde  Storungen  des  Vorstellungsablaufs. 

Zu  diesen  Grundsymptomen  kommen  dann  weiterhin  noch  zahlreiche 
korperliche  Symptome,*)  welche  fast  nie  vollig  fehlen.  Man  kann  daher 
das  neurasthenische  Irresein  auch  mit  Fug  und  Recht  als  eine  Psycho- 
neurose  bezeichnen.  Es  liegt  von  diesem  Standpunkt  aus  sehr  nahe, 
die  Neurasthenie  in  Analogie  mit  den  hysterischen  und  epileptischen 
psychischen  Degenerationen  zu  setzen.  Dieser  Vergleich  ist  auch  in  der 
That  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zutreflfend  und  man  hat  daher  oft 
das  neurasthenische  Irresein  mit  dem  epileptischen  und  hysterischen 
Lresein  zu  einer  Gruppe  vereinigt.  Dabei  ist  jedoch  zu  beachten,  dass 
das  Verhaltniss  des  psychopathischeu  Symptomencomplexes  zu  der 
Neurose  in  den  3 Fallen  wesenthch  verschieden  ist.  Bei  der  Epilepsie 
lasst  sich  zwischen  der  Neurose  und  den  psychopathischen  Symptomen 
eine  scharfe  Grenze  ziehen;  wir  kennen  die  Neurose  auch  ohne  psycho- 
pathische  Symptome.  Bei  der  Hysterie  ist  die  Verbindung  der  neuro- 

*)  Mitunter  hat  man  diese  korperlichen  Symptome  auch  als  Neurasthenic  der 
Cerebrasthenie,  d.  h.  den  psychischen  Symptomen  gegenubergestellt. 


Nenrasthenie  (Nourasthenisches  Irresein). 


315 


piithischen  mit  den  psycliopathischen  Symptomen  bereits  enger,  jedocb 
kann  man  noch  iminer  diese  von  jenen  trennen ; gelegentlich  kommt  die 
Hysterie  mit  ihren  typisclien  kbrperliohen  Symptomen  ohne  psychisclie 
Yeranderungen  vor.  Anders  bei  der . Neiirasthenie.  Hier  treten  stets 
und  vom  Beginn  des  Leidens  an  somatisclie  und  psycbisebe  Symptome 
untrennbar  verwoben  auf,  etwa  ahnlicb,  wie  auf  dem  Gebietei  der  orga- 
nischen  Psycbosen  die  Dementia  paralytica  eine  iinlosliche  Verbindung 
somatiscber  und  psycliiscber  Symptome  zeigt.  Bei  der  Hysterie  und 
namentlicb  bei  der  Epilepsie  entsteht  die  psychisclie  Veranderung  erst 
auf  dem  Boden  der  Neurose,  bei  der  Neurasthenie  kann  von  einem 
solchen  zeitlichen  bezw.  ursachlicben  Verhaltniss  nicht  die  Rede  sein: 
psycbisebe  und  korperlicbe  Symptome  treten  gleicbzeitig  und  coordinu’t' 
auf.  Wabrend  daber  die  psycbisebe  Degeneration  der  Epileptiker  und 
der  Hysteriseben  in  die  allgemeine  Aetiologie  verwiesen  werden  konnte, 
gebbrt  die  Besprechung  des  Neurastbeniseben  Irreseins  in  die  specielle 
Patbologie.  Innerbalb  der  letzteren  hat  man  ihr  bald  diese  bald  jene 
Stellung  zugewiesen.  Da  die  Neurasthenie  enorm  vielgestaltig  ist  und 
Beziebungen  und  Uebergange  zu  fast  alien  anderen  Psycbosen  zeigt,  so 
kann  diese  Versebiedenbeit  der  Auffassung  ihrer  Stellung  im  System 
der  Psycbosen  niebt  Wunder  nebmen.  Da  die  constantesten  und  frubesten 
psyebiseben  Symptome  des  neui’astbeniscben  Irreseins  das  Affectleben  und 
den  formalen  Ablauf  der  Vorstellungen  betreffen,  so  baben  wir  dasselbe 
den  affectiven  Psycbosen  zugesellt,  beben  aber  ausdriicklicb,  wie  eben 
gesebeben,  bervor,  dass  das  neurastbenisebe  Irresein  in  einzelnen  Ab- 
arten  und  namentlicb  in  maneben  Weiterentwicklungen  aus  dem  Typus 
der  affectiven  Psycbosen  beraustritt.  Einen  entsebeidenden  Anstoss 
wird  man  bieran  niebt  nebmen  diirfen : traten  docb  aucb  zu  der  Melan- 
cbolie  gelegentlich  Wabnvorstelbmgen,  Sinnestausebungen , Zwangsvor- 
stellungen  u.  s.  f.  binzu.  Aucb  das  Vorkommen  zablreicber  korperlicber 
Symptome  bei  dem  neurastbeniseben  Irresein  wird  uns  in  dieser  Auf- 
fassung niebt  beirren;  ist  docb  aucb  die  Melancbolie  von  vasomotoriseben 
und  splanchniscben  Symptomen  u.  s.  w.  begleitet. 

Symptomatologie. 

Affectstorungen.  Enter  diesen  stebt  die  krankbafte  Reizbar- 
keit  obenan.  Der  Neurastbeniker  ist  im  Ganzen  weder  krankbaft  traurig 
wie  der  Melancbobker,  nocb  gar  krankbaft  beiter  wie  der  Maniakaliscbe. 
Seine  Affectstbrung  ist  durcb  die  Reizbarkeit  gekennzeicbnet.  Der  kleinste 
Anlass  lost  abnorm  intensive  und  abnorm  nacbbaltige  Unmuthsaffecte 
aus.  Liegt  die  Abnormitat  mebr  in  der  Nacbbaltigkeit  des  Unmutbs- 
affects,  so  spricht  man  von  dem  neurastbeniseben  Aerger,  liegt  sie  in 
der  Intensitat  des  Unmutbsaffects,  so  spriebt  man  von  dem  neurasthe- 


316  Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein). 

nischen  Zorn.  Die  1 raiirigkeit  des  Melancholikers  kniipft  oft  an 
aussere  Objecte  an,  wird  aber  von  dem  Kranken  dann  ganz  anf  sein 
Ich  iibertragen.  Der  Unmutli  des  Neurasthenikers  richtet  sich  direct 
gegen  die  ausseren  Objecte  imd  gegen  die  Personen  seiner  Umgebung. 
Darin  untersclieidet  sich  eben  die  krankhafte  Reizbarkeit  von  der  krank- 
haften  Traurigkeit.  Die  Anlasse,  welche  die  Stimmung  des  Neurasthe- 
nikers verderben,  sind  oft  so  geringfiigig,  dass  der  Kranke  hinterher 
selbst  erstaunt  ist,  wie  er  sich  liber  eine  Kleinigkeit  so  vollstandig  ver- 
gessen  konnte.  Bei  der  Hausfraii  spielt  der  Dienstbotenarger  eine  Haupt- 
rolle:  sie  ist  nicht  mehr  im  Stande,  ruhig  einen  Verweis  zu  ertheilen 
und  dann  das  kleine  Versehen  eines  Dienstboten  zu  vergessen,  sondern 
gerath  in  unverhaltnissmassigen  Zorn,  kommt  immer  wieder  auf  das 
Versehen  zuriick  und  vergisst  dasselbe  selbst  Nachts  nicht.  Aehnlich 
geht  es  dem  Beamten;  er  kann  weder  den  kleinsten  Verweis  seiner 
Vorgesetzten  noch  den  harmlosesten  Fehler  eines  Untergebenen  ruhig 
ertragen  und  verwinden.  Jeder  Widerspruch  im  Familienkreise  oder  im 
Bekanntenkreise  versetzt  den  Kranken  in  Aufregung.  Selbst  die  Un- 
gezogenheit  seiner  Kinder  lost  Zornausbriiche  aus. 

Die  Irradiation  dieser  pathologischen  Gefiihlstbne  bleibt  nicht  aus. 
Schliesslich  argert  den  Kranken  die  Fliege  an  der  Wand.  Kein  Essen 
schmeckt  ihm,  kein  Gegenstand  liegt  da,  wo  er  ihn  sucht,  keine  Be- 
schaftigung  behagt  ihm.  Er  mag  sich  setzen,  wie  er  will:  er  fiihlt  sich 
nicht  wohl.  Nachts  findet  er  keine  Lage,  in  der  er  einschlafen  konnte. 
„Aus  der  Haut  mochte  ich  fahren^^  resumiren  viele  Kranke  diesen  Affect- 
zustand  in  fast  wortlicher  Uebereinstimmung.  Dass  die  spater  zu  erwah- 
nenden  Hyperasthesieen  und  pathologischen  Sensationen  hierzu  noch  viel 
beitragen,  liegt  auf  der  Hand;  andererseits  lehrt  die  klinische  Beobach- 
tung  unzweifelhaft,  dass  die  Kranken  nicht  etwa  nur  in  Folge  dieser 
Hyjierasthesien  und  Sensationen  reizbar  verstimmt  sind. 

Gegeniiber  dieser  Reizbarkeit  treten  alle  andern  Affectstorungen  des 
Neurasthenikers  in  den  Hintergrund.  Ungemein  haufig  ist  eine  Misch- 
form  zwischen  der  Melancholie  und  dem  neurasthenischen  Irresein.  Bei 
dieser  findet  sich  auch  unmotivirte  primare  Depression  und  Angst. 
Zu  dem  typischen  Bild  der  Neurasthenie  gehoren  beide  nicht.  Compli- 
cirende  Zwangsvorstellungen  und  hypochondrische  Vorstellungen  be- 
dingen  sehr  haufig  eine  secundare  Depression.  Zugleich  fiihren  sie  zu 
einer  Einschrankung  des  Interessenkreises  des  Kranken  auf  seine  Krank- 
heit.  Er  wird  oft  zum  starrsten  Egoisten.  Alle  zu  seiner  Krankheit 
nicht  in  Beziehung  stehenden  Dinge  interessiren  ihn  nicht  mehr. 

Empfindungen.  Zuniichst  besteht  bei  vielen  Neurasthenikern 
eine  ausgesprochene  Hyperaesthesie.  Die  Reizschwelle  scheint  nach  untcn 


Neurasthenie  (Nourastlienisches  Irresein). 


317 


versclioben,  die  Empfindungsintensitat  iinverlialtnissmassig  gesteigert. 
Dies  gilt  niclit  uur  von  der  Hautempfindlichkeit,  sondern  in  nocli  hoherem 
Maasse  von  den  hdheren  Sinnesorganen  (Hyperaesthesia  retinae,  Hyper- 
aknsinie,  Hyperosmie).  Oft  ist  init  dieser  Hyperasthesie  aucli  eine 
ausgesprochene  Hyperalgesie  verbimden.  Eine  etwas  starkere  Beriibrung 
wil'd  scbon  als  Scbmerz  empfunden.  Scbon  ein  massiges  Licbt  wird  als 
nnangenebm  blendend,  ein  massiges  Gerauscb  als  scbmerzbaft  gellend 
empfunden  nnd  gefiiblt.  Aucb  die  abnormen  Enniidungserscbeinungen, 
liber  welcbe  viele  Nenrastbeniker  klagen,  beruben  wabrscbeinlicb  nicbt 
allein  anf  tbatsacblicbem  Versagen  des  motoriscben  Apparats,  sondern 
zuweilen  aucb  anf  einer  Hyperastbesie  nnd  Hyperalgesie  der  Muskel- 
Sebnen-  imd  GelenkempfindungenA) 

Ein  weiteres  sebr  constantes  Symptom  der  Neurastbenie  stellen  die 
Parastbesien  dar.  Die  Kranken  klagen  liber  Taubbeits-  nnd  Kriebel- 
empfindimgen,  namentlicb  in  der  Kopfbaiit  nnd  in  den  Extremitaten, 
Dazn  kommt  anf  dem  Gebiete  der  boberen  Sinnesorgane  Funkenseben, 
Hanfung  von  Moucbes  volantes,  Obrensausen  nnd  Obrenklingen.  Letzteres 
wird  bald  in  die  Obren  selbst  bald  in  die  Mitte  des  Kopfes  verlegt  („Kopf- 
sausen").  Zum  grossten  Tbeil  entspringen  diese  mannicbfaltigen  Parastbe- 
sien wabrscbeinlicb  abnormen  Keizzustanden  der  peripberen  Nerven- 
babnen  oder  vasomotoriscben  Storungen,  zum  kleineren  Tbeil  mag  es 
sicb  urn  ballucinatoriscbe  oder  urn  illusionare  Processe  bandeln,  also  um 
Vorgange,  an  deren  Zustandekommen  eine  krankbafte  Erregbarkeit  der 
Hirnrinde  betbeiligt  ist.  Entwickeln  sicb  bei  der  Neurastbenie  bypocbon- 
driscbe  Wabnvorstellungen,  so  wirken  diese  baufig  verstarkend  nnd  modi- 
ficirend  anf  die  Parastbesien  zuriick.  Es  kommt  zu  zablreicben  illusio- 
naren  Auslegungen  nnd  Illnsionen.  Entscbieden  als  Illusionen  sind  die 
bypnagogiscben  Visionen  des  Neurastbenikers  aufzufassen.  Bei  Augen- 
scblnss  siebt  er  allerband  Gestalten  (Gesicbter,  Landscbaften),  welcbe 
beim  Oeffnen  der  Augen  sofort  verscbwinden. 

Eine  grosse  Kobe  im  Krankbeitsbild  der  Neurastbenie  spielen  aucb 
die  spontanen  Scbmerzen.  Sie  treten  am  baufigsten  unter  dem  Bilde  der 
Topalgien  anf  (vergl.  allgemeine  Symptomatologie  S.  180).  Der  baufigste 
Sitz  dieser  Topalgien  ist  der  Hu’nscbadel,  docb  kommen  aucb  Topalgien 
in  der  Herzgegend,  der  Magengegend  und  in  den  Extremitaten  vor. 
Von  den  Topalgien  wobl  zu  unterscbeiden  ist  der  sog.  „Kopfdruck"  der 
Neurastbeniscben.  Dieser  berubt  in  den  meisten  Fallen  auf  Ermiidungs- 
empfindungen  des  M.  frontalis  und  der  Nackenmuskeln,  welcbe  der  Neu- 
rastbeniker  entsprecbend  der  Erscbwerung  seiner  Aufmerksamkeit  und 


*)  So  entsteken  wakrsckeinlicli  aucb  die  qualvollen  Oppressionsempfindungen 
welcbe  das  Atbmen  mancber  Neurastbeniscber  begleiten. 


318 


Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein). 


Heenassociation  oftei-  und  starker  bei  jedem  geistigen  Process  mitin- 
nervirt  als  der  Gesunde. 

In  ihrer  Pathogenese  ganz  unaufgekliirt  sind  die  mannichfachen 
bchwindelsensationen,  uber  welclie  viele  Neurasthenische  klagen.  Meist 

ste  len  sich  dieselben  anfallsweise  und  ohne  Scheinbewegung  der  Ob 
jecte  ein. 

In  enger  Beziehung  zu  den  soeben  aufgefuhrten  Sensibilitiitsstbrun- 
gen  stehen  auch  die  sog.  Druckpunkte  der  Neurasthenie.  Im  Gegen- 
satz  zu  denjenipn  der  Idysterie  sind  sie  meist  (nicht  stets!)  symmetrisch 
ausgebildet.  Mit  dem  Verlauf  der  grossen  Nervenstamme  haben  sie 
nichts  zu  thun.  Eine  der  haufigsten  Druckempfindlichkeiten  ist  diejenige 
der  Dornfortsatze  der  Wirbel,  die  sog.  Spinalirritation.  Friiher  be- 
zeichnete  man  das  ganze  neurasthenische  Krankheitsbild  auch  geradezu 
als  Spinalirritation.  Ueber  die  Localisation  der  einzelnen  Druckpunkte 
sind  die  Lehrbiicher  der  Neuropathologie  sowie  der  einschlagige  Ab- 
schnitt  der  allgemeinen  Symptomatologie  nachzulesen. 

Eine  nicht  seltene  Complication  des  neurasthenischen  Irreseins  stellt 
die  Migrane  dar. 

Vorstellungen.  Der  Vorstellungsablauf  der  Neurastheniker  zeigt 
fast  stets  erhebliche  Stbrungen.  Dieselben  entbehren  jedoch  des  ein- 
heitlichen  CJiarakters,  wie  wir  ihn  bei  der  Melancholie  und  der  Manie 
finden.  Schon  der  Act  der  Aufmerksamkeit  ist  gestort.  Es  fehlt  dem 
Neurastheniker  an  Concentrationsfahigkeit.  Sein  Vorstellungsablauf  wird 
selteu  langere  Zeit  von  einer  Empfindung  resp.  einem  Empfindungs- 
complex  beherrscht.  Zwischenvorstellungen  oder  gleichzeitige  Empfindun- 
gen  stbren  ihn  beim  Aufmerken  fortgesetzt.  Spater,  wenn  hypochondrische 
Wahnvorstellungen  sich  gebildet  haben,  kommt  es  zu  einer  einseitigen 
Concentration  der  Aufmerksamkeit  auf  das  eigene  korperliche  Befindeu. 
Aehnliche  Storungen  machen  sich  auch  im  Vorstellungsablauf  geltend. 
Der  Neurastheniker  vermag  einen  Gedankengang  nicht  langere  Zeit  fest- 
zuhalten  und  zu  verfolgen.  Zwischenvorstellungen  und  Zwischenemiifin- 
dungen  storen  auch  den  Gang  der  Ideenassociation  fortwiihrend.  Bei  dem 
Gesunden  beherrscht  eine  Zielvorstellung  eine  langere  Vorstellungsreihe, 
bei  dem  Neurastheniker  sind  solche  Zielvorstellungen  nicht  vorhanden 
oder  ganz  ohpmachtig.  Zuweilen  kommt  es  in  Folge  dessen  zu  einer  voll- 
standigen  Incoharenz  des  Vorstellungsablaufs.  Der  Kranke  vermag  keinen 
Gedanken  zu  Ende  zu  denken.  Zu  dieser  Incoharenz  kommen  Storungen  in 
der  Geschwindigkeit  der  Ideenassociation  hinzu.  Bald  iiberstiirzt  sich  das 
Denken  im  Sinn  einer  Ideenflucht  .bald  reisst  der  Gedankenfaden  „wie  vor 
einer  Barriere“  ab  (im  Sinne  einer  Denkhemmung).  Gerade  dieser  Wechsel 
der  formalen  Associationsstbrung  ist  fiir  die  Neurasthenie  charakteristisch. 
Bald  iiberwiegt  die  krankhafte  Beschleuuigung,  bald  die  krankhafte 


Neurastbenie  (Neurastheniscbes  Irresein). 


319 


Hemmung.  Der  Kranke  driickt  dies  auch  haiifig  so  aus,  dass  er  klagt, 
er  babe  die  Herrscbaft  uber  sein  Denken  verloren.  Diese  Klage  be- 
deiitet  nicbts  anderes,  als  dass  die  Ideenassociation  ibre  normale  Ge- 
scbwindigkeit  imd  ibre  Abbiingigkeit  von  Zielvorstellungen  verloren  bat. 
Der  Kranke  fiiblt  diese  Erscbwerung  seines  Denkens,  er  spannt  die  sog. 
Iiitentionsmuskeln  aiif  das  Hocbste  an,  urn  seine  Zielvorstellung  zu  ver- 
folgen,  indess  vergebens:  zu  der  Storung  der  Ideenassociation  tritt  nun 
das  qiiiilende  Gefubl  des  Kopfdruckes  binzu.  — Im  weiteren  Verlauf 
kann  es  aucb  zu  ausgesproebenem  Zwangsdenken  kommen.  Scbon  bei 
den  leicbten  Formen  ist  dies  insofern  angedeutet,  als  der  Kranke  ge- 
wisse  Erlebnisse  nicbt  vergessen  kann.  Namentlicb  Nacbts  qualen  ibn 
die  Nacbbilder  der  Scenen,  die  er  am  Tage  geseben,  und  der  Worte, 
die  er  gebort.  In  anderen  Fallen  sind  es  Reminiscenzen  aus  der  Langst- 
vergangenbeit,  die  den  Kranken  nicbt  loslassen.  Kommt  es  zur  Ent- 
wickelung  bypocbondriscber  Vorstellungen,  so  engt  sicb  das  ganze 
Denken  des  Kranken  auf  Grubeleien  uber  seinen  korperlicben  Zu- 
stand  ein. 

Der  Inbalt  der  Vorstellungen  des  Neurastbenikers  bleibt  zunacbst 
durcbaus  normal.  Er,  ist  sicb  der  Krankbaftigkeit  seiner  Affect-  und 
Associationsstorungen  durcbaus  bewusst.  Erst  nacb  und  nacb  stellen 
sicb  aucb  inbaltlicbe  Storungen  ein.  Diese  geboren  bald  den  sogenannten 
Zwangsvorstellungen  an  — das  neurastbeniscbe  Irresein  gebt  in  das 
an  andrer  SteUe  ausfubrlicb  besebriebene  Irresein  aus  Zwangsvorstellungen 
iiber  — bald  entwickeln  sicb  wirklicbe  Wabnvorstellungen.  Es  entspricbt 
nun  durcbaus  der  eigenartigen  Affectstorung,  der  Nem’astbenie,  dass  diese 
secundaren  Wabnvorstellungen  fast  niemals  wie  bei  der  Melancbolie  den 
Cbarakter  der  Selbstanklage  tragen.  Der  Neurastbeniker  ergebt  sicb 
nicbt  in  Versundigungsideen,  sondern  seine  ersten  Wabnvorstellungen  sind 
fast  stets  bypocbondriscben  Inbalts.  In  seinen  patbologiscben  Sensa- 
tionen,  in  seinen  Associationsstorungen  und  in  den  weiter  unten  .anzu- 
fubrenden  korperlicben  Symptomen  im  engeren  Sinne  findet  er  zabllose 
Anknupfungspunkte  fur  bypocbondriscbe  Wabnvorstellungen.  An  Ge- 
birnerweicbung,  Hirntumor,  Ilerzfebler,,  Tabes  u.  s.  w.  furcbtet  er  zu 
leiden,  je  nacbdem  seine  Aufmerksamkeit  mebr  auf  seinen  Kopfdruck 
oder  auf  seine  vasomotoriscben  Storungen  (s.  u.)  oder  auf  seine  Spinal- 
irritation  u.  s.  w.  gericbtet  ist  und  aucb  je  nacbdem  Lecture,  Ge- 
spracbe  u.  s.  f.  ibm  den  Gedanken  an  diese  oder  jene  Krankbeit  naber 
gelegt  baben.  Man  bezeicbnet  diese  Weiterentwickelung  der  Neurastbenie 
aucb  als  bypocbondriscbe  Neurastbenie.  Die  fur  die  bypocbondriscbe 
Neurastbenie  cbarakteristiscben  bypocbondriscben  Vorstellungen  ent- 
wickeln sicb  meist  allmablicb.  Zunacbst  baben  sie  nocb  garnicbt  die 
Dignitat  von  Wabnvorstellungen:  so  unricbtig  sie  aucb,  objectiv  genom- 


^20  Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein). 

men,  sind,  so  liaben  sie  zuniichst  docli  eine  ausreichende  subjective 
Motivinmg  in  den  scbweren,  tbatsacblicben  neurastbeniscben  Bescbwerden. 
Erst  ganz  allmabbcb  macben  sicli  die  bypocbondriscben  Vorstellungen 
unabbimgig  von  den  Symptomen,  an  welcbe  sie  zunacbst  ankniipften 
und  kdnnen  danu  als  ecbte  Wahnvorstellungen  gelten.  Diese  hypochon- 
driscben  Vorstellungskreise  beeinflussen  das  Krankbeitsbild  insofern 
wesentlicb,  als  sie  zu  einer  secundaren  Depression  und  Angst  fubren. 
Der  secundare  Cbarakter  dieser  Depression  und  Angst  des  bypocbon- 
driscben Neurastbenikers  spricht  sich  aucb  darin  aus,  dass  die  Depression 
und  Angst  des  neurastbeniscben  Hypocbonders  selten  continuirlicb  ist, 
vielmebr  sofort  nacblasst,  sobald  voriibergebend  die  neurastbeniscben 
Bescbwerden  nacblassen  oder  durcb  Geselligkeit  sein  Denken  von  den 
bypocbondriscben  Vorstellungen  abgelenkt  wird.  Dass  zu  den  bypocbon- 
driscben Vorstellungen  des  Neurastbenikers  spater  aucb  Wabnideen  der 
Verfolgung  und  selbst  Grossenideen  binzutreten  konnen,  wird  bei  der 
Darstellung  des  Verlaufs  des  neurastbeniscben  Irreseins  zur  Spracbe 
kominen. 

Handl ungen.  Dieselben  Associationsstorungen,  welcbe  den  Vor- 
stellungsablauf  befallen,  beeinflussen  aucb  die  Handlungen.  Der  Neu- 
rastbeniker  vermag  seine  Tbatigkeit  ebensowenig  wie  sein  Denken  zu 
concentriren.  Er  zersplittert  sicb  und  scbweift  von  einer  Tbatigkeit  zur 
anderen  ab.  Bald  arbeitet  er  iiberbastig,  bald  versagt  seine  Tbatki-aft 
vollstandig.  Dazu  kommt  der  Einfluss  der  Affectstorungen.  Der  Kranke 
fiiblt  sicb  in  keiner  Tbatigkeit  und  in  keineni  Beruf  zufrieden,  Seine 
Unmutbsaffekte  reissen  ibn  zu  allerband  Handlungen  des  Jabzorns  bin : 
er  missbandelt  seine  Angeborigen,  zerstort  Mobiliar,  stosst  Drobungen 
und  Scbimpfworte  aus,  verwickelt  sicb  in  Anklagen  und  Processe,  kiin- 
digt  uniiberlegt  Stellungen  und  Freundscbaften  auf.  Viele  sucben  Be- 
taubung  in  Alkobolexcessen  und  namentlicb  aucb  in  unmassigem  Bau- 
cben.  Wenn  voriibergebend  die  reizbare  Verstimmung  nacblasst  oder 
die  Geselligkeit  den  Kranken  fortreisst,  kann  er  die  ausgelassensten 
Streicbe  veriiben  und  an  den  tollsten  Excessen  tbeilnebmen.  Gewinnen 
bypocbondriscbe  Vorstellungen  die  Oberband,  so  kann  sicb  das  typiscbe 
Gebabren  des  Hypocbonders  einstellen,  wie  wir  es  friiber  gescbildert 
baben,  Bei  weiblicben  Individuen  kommt  es  zu  fortwabrendem  Dienst- 
botenwecbsel.  Der  ebelicbe  Friede  leidet  ebenso  wie  die  Erziebung  der 
Kinder.  In  den  niederen  Volksscbicbten  fitbrt  die  Neurastbenie  nicbt 
selten  zur  Vagabundage,  und  die  neurastbeniscben  Symptome  pflegen 
dann  scbliesslicb  von  den  Veranderungen,  welcbe  die  Landstreicberei  an 
Kbrper  und  Seele  bervorbringt,  vollig  verdeckt  zu  werden. 

Selbstverstandlicb  wird  aucb  die  Leistungsfabigkeit  der  Neurastbe-  . 
niker  in  bohem  Maasse  durcb  die  oben  erwabnten  abnormen  Ermiidungs- 


Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein). 


321 


sensationen  sowie  namentlich  durcli  die  thatsachliche  abnorm  rasche 
Erscbopfung  des  motorischen  Apparats,  welcbe  unten  nocb  besprochen 
werden  wird,  beeintracbtigt. 

Korperliche  Symptome.  DerSchlaf  der  Neurastbenischen  ist 
fast  stets  mangelhaft.  Agrypnie  ist  nicht  selten  eines  der  friihesten 
Kranklieitssymptome.  Bald  lassen  den  Kranken  seine  motorische  Unrube, 
seine  Gedankenunrube  und  seine  reizbare  Verstimmung  nicbt  scblafen 
bald  ist  die  Scblaflosigkeit  vbllig  primar.  Jedenfalls  macben  sicb  in 
den  scblaflosen  Nacbten  die  qualenden  Symptome  der  Neurastbenie  doppelt 
bemerkbar:  Nacbbilder,  Keminiscenzen , bypnagogiscbe  Visionen , Obr- 
gerauscbe,  Zwangsvorstellungen  und  bypocbondriscbe  Gedanken  kdnnen 
zu  einem  wabren  Hexensabbatb  fiibren.  Bald  jagen  sicb  die  Vorstellungen 
obne  jeden  Zusammenbang,  bald  klebt  die  Association  an  einer  Vor- 
stellung'fest,  bald  reisst  der  Faden  ganz  ab.  Dazu  kommt  die  durcb 
Parastbesien  und  Unmutbsaffecte  gesteigerte  motoriscbe  Unrube.  Statt 
des  normalen  Scblafes  stellt  sicb  zuweilen  aucb  ein  fortgesetzter  Halb- 
scblaf  ein.  Das  Traumleben  ist  oft  excessiv  gesteigert.  Damit  bangt 
es  denn  aucb  zum  Tbeil  zusammen,  dass  selbst  nacb  einer  leidlicb 
durcbscblafenen  Nacbt  die  Kranken  sicb  garnicbt  erquickt  fiiblen. 
Viele  Kranke  fiiblen  sicb  nacb  einer  guten  Nacbt  geradezu  doppelt 
elend. 

DieErnabrung  der  Neurastbeniscben  leidet  gleicbfalls  sebr  oft  er- 
beblicb.  Docb  beobacbtet  man  gelegentlicb  aucb  die  qualvollsten  Formen 
der  Neurastbenie  bei  sebr  woblgenabrten  Individuen.  Es  sind  Ab- 
magerungen  bei  Erwacbsenen  bis  auf  30  Kilo  und  weniger  bekannt. 
Die  Gewicbtsabnabme  im  Laufe  der  Erkrankung  belauft  sicb  sebr  oft 
auf  10—20  Kilo,  zuweilen  auf  nocb  mebr.  Diese  Ernabrungsstorungen 
beruben  baufig  auf  mangelbafter  Nabrungsaufnabme  und  letztere  bald 
auf  dem  Feblen  des  Hungergefiibls  bald  auf  dem  Feblen  des  Appetit- 
gefubls.  In  letzterem  Falle  spricbt  man  von  neurastbeniscber  Anorexie. 
Gefordert  wird  diese  Anorexie  baufig  durcb  leicbte  cbroniscbe  Magen- 
katarrbe,  wie  sie  die  Neurastbenie  sebr  baufig  begleiten.  Nicbt  selten 
ist  aucb  die  Salzsauresecretion  der  Magenscbleimbaut  gestbrt  (bald  Hyper- 
bald Hypocblorbydrie),  desgleicben  ofters  die  Motilitat  des  Magenmus- 
kels.  Beides  tragt  zur  Entstebung  von  Magenbescbwerden  (namentlicb 
in  Folge  abnorm  langen  Verweilens  der  Speisen  im  Magen)  und  Magen- 
katarrben  bei.  Dazu  kommen  Storungen  in  der  Darminnervation,  bald 
iiberwiegt  cbroniscbe  Obstipation  (mit  oder  obne  cbroniscben  Darm- 
katarrb)  bald  iiberwiegen  Durcbfalle,  bald  bestebt  ein  unregelmassiger 
Wecbsel  zwiscben  Obstipation  und  Durcbfallen.  Den  Gesammtcomplex 
dieser  Symptome  von  Seiten  des  Digestionstracts , zu  dem  endlicb 
namentlicb  nocb  der  pelzige  Belag  der  Zunge  zu  recbnen  ist,  bat  man 

Zielien,  Psychiatrie.  21 


322 


Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein). 


oft  in  unzweckmassiger  'W eise  als  nervose  Dyspepsie  bezeichnet. 
Jedenfalls  erklart  sicli  aus  den  angefiibrten  Innervationsstdrungen  in 
ausreichender  Weise,  weshalb  die  Ernabrung  bei  der  Neurasthenie 
oft  so  sebr  darniederliegt.  Ob  daneben  auch  nocb  der  Stoffwecbsel 
als  solcher  gestort  ist,  ist  nocb  nicht  mit  genugender  Genauigkeit  fest- 
gestellt. 

Vasomotorische  Storungen  kommen  bald  neben  den  soeben  erorterten 
Digestionsstdrungen  vor,  bald  obne  dieselben.  In  letzterem  Falle  bat 
man  von  „vasomotoriscber  Neurasthenie gesprocben.  Die  vasomoto- 
riscben  Stdrungen  bescbranken  sicb  zuweilen  auf  dauernde  oder  anfalls- 
weise  auftretende  Tacbykardie.^)  Haufig  kommt  bierzu  eine  eigenartige 
Unregelmassigkeit  des  Pulsscblags:  die  Frequenz  der  Pulsscblage  und 
ibre  Wellenbdbe  ist  einem  unregelmassigen  Wecbsel  unterworfen.  Von 
der  Arbytbmie,  wie  sie  bei  organiscben  Herz-  und  Gefasserkrankungen 
beobacbtet  wird,  unterscbeidet  sicb  diese  neurastbeniscbe  Arbytbmie  sebr 
bestimmt  dadurcb,  dass  bei  letzterer  jede  abnorme  Bescbleunigung  oder 
Verlangsamung  der  Herztbatigkeit  und  jede  abnorme  Erbdbung  oder 
Erniedrigung  der  Pulswelle  sicb  uber  eine  grdssere  Reibe  (mindestens  6 
bis  10)  Pulsscblage  verfolgen  lasst.  Ein  Aussetzen  nur  eines  oder  nur 
zweier  Pulsscblage  gebdrt  bei  der  Neurasthenie,  vorausgesetzt  dass  Com- 
plicationen  z.  B.  mit  Atheromatose  feblen,  zu  den  allergrossten  Selten- 
heiten.  Differentialdiagnostisch  ist  dies  von  erheblicbster  Bedeutung. 
Meist  treten  aucb  die  Storungen  der  Gescbwindigkeit  und  die  Veran- 
derungen  der  Wellenbobe  bei  der  Neurasthenie  nicbt  so  unvermittelt 
auf  wie  bei  organiscben  Erkrankungen  des  Circulationsapparats : so 
folgt  z.  B.  eine  tacbykardiscbe  Reibe  von  Pulsscblagen  nicbt  ganz  plotz- 
licb  auf  eine  bradykardiscbe  oder  normalscbnelle  Reibe,  sondern  man  fiihlt, 
wie  die  Gescbwindigkeit  sicb  von  Scblag  zu  Scblag  allmablich  steigert, 
bis  die  voile  Tacbykardie  erreicbt  ist. 

Die  Pulsform  variirt  im  Einzelnen  sebr.  Am  baufigsten  fallt  im 
Spbygmogramm  die  tiefe  Einsenkung  vor  der  dikroten  Elevation  auf.  Die 
Dikrotie  erscbeint  dadurcb  stark  gesteigert.  Die  erste  Elasticitats- 
elevation  ist  eber  scbwacb.  Jedenfalls  ist  der  Contractionszustand  der 
peripberen  Arterien  ungemein  schwankend.  Ein  leiobter  Sinnesreiz  oder 
Affect  genugt  bald  krampfartige  Contraction  bald  labmungsartige  Er- 
weiterung  der  Arterien  hervorzurufen.  Hiermit  bangt  aucb  die  abnorme 
Neigung  dieser  Neurastbeniker  zum  Errdtben  sowie  die  selten  fehlende 
Steigerung  des  vasomotorischen  Nacbrdthens  zusammen. 

Die  tacbykardischen  Anfalle  der  Neurasthenie  sind  aucb  insofern  be- 


*)  Bradykardie  deutet  fast  stets  auf  eine  Complication  mit  Herzerkrankung 
(Myocarditis)  oder  Arterienerkrankung. 


Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein).  323 

merkenswerth,  als  sie  oft  von  einem  ausgepragten  Gefuhlston  der  Angst 
begleitet  sind. 

Die  Pup i lien  der  Neurastheniker  sind  hMg  erweitert,  die  Licht- 
reactionen  prompt,  aber  oft  sebr  wenig  ausgiebig  und  sehr  wenig  nacb- 
haltig. 

Die  grobe  motorische  Kraft  der  Extremitaten  ist  herabgesetzt, 
und  zwar  aussert  sich  diese  Herabsetzung  weniger  in  der  Geringfiigigkeit 
der  momentanen  Leistung  als  in  der  rascben  Erschbpfung  der  Leistungs- 
fabigkeit,  V erfolgt  man  die  Abnabme  der  Leistungsfabigkeit  genauer  mittelst 
eines  Dynamometers,  so  beobacbtet  man,  dass  auch  im  Stadium  der  Er- 
scbbpfung  der  Kranke  — im  Gegensatz  zu  den  mit  organiscber  Parese 
Bebafteten  — bei  Aufljietung  aller  Energie  momentan  wieder  bobe  Druck- 
wertbe  erreicbtj  diese  Wiederkebr  der  Leistungsfabigkeit  ist  nur  momen- 
tan,  jedenfalls  soil  man  in  Anbetracbt  derselben  bei  Neurastbenikern 
stets  eine  fortlaufende  Reibe  von  dynamometriscben  Druckwertben  (etwa 
in  Zwiscbenraumen  von  25")  aufnebmen. 

Diese  abnorme  Erscbopfbarkeit  der  motoriscben  Innervationen 
aussert  sicb  aucb  beim  Sprecben,  Scbreiben,  Geben  und  Steben.  Stimme, 
Hand  und  Fiisse  versagen  nacb  kurzen  Anstrengungen,  Instinktiv  sucbt 
sicb  der  Neurastbeniscbe  anzulebnen,  wenn  er  nur  einige  Augenblicke 
steben  muss.  Ganz  besonders  sind  aucb  die  sog.  Accomodations-  und 
Intentionsmuskeln  betroifen.  Es  giebt  Neurastbeniker,  welcbe  kaum 
10  Zeilen  bintereinander  lesen  konnen,  weil  der  Ciliarmuskel  und  die 
Musculi  recti  interni  versagen.  Die  Kranken  klagen  dann,  dass  die 
Bucbstaben  vor  ibren  Augen  verscbwimmen  und  dass  ein  Ermiidungs- 
scbmerz  in  den  Augen  sicb  einstellt.  Mitunter  kommt  es  sogar  zu 
Doppelbildern,  indem  eine  leicbte  congenitale  Dilferenz  der  Innervation 
der  inneren  Augenmuskeln  bei  zunebmender  Ermiidung  sicb  starker 
geltend  macbt.  Mitunter  mag  dies  neurastbeniscbe  Doppelseben  aucb 
darauf  beruben,  dass  die  corticale  Verscbmelzung  leicbt  getrennter 
Doppelbilder , welcbe  der  normalen,  nicbt  ermiideten  Hirnrinde  leicbt 
gelingt,  von  der  neurastbeniscben,  abnorm  rascb  erscbopften  Hirnrinde 
nicbt  mebr  zu  Stande  geb^acbt  wird.  — Die  abnorm  rascbe  Ermudung 
der  Intentionsmuskeln  (M.  frontalis,  Nackenmuskeln),  deren  Innervation 
das  angestrengte,  sog.  willkiirlicbe  Aufmerken  und  Denken  begleitet, 
macbt  sicb  besonders  stark  geltend,  da  der  Neurastbeniker  in  dem  Be- 
miiben  seine  Associationsstorung  zu  iiberwinden  gerade  diese  Muskeln 
besonders  in  Ansprucb  nimmt.  Zu  der  Entstebung  des  oben  erwabnten 
Kopfdrucks  tragt  dies  natiirlicb  viel  bei. 

Zu  diesen  Ermiidungsparesen  des  Neurastbeniker s kommen  nocb 
andere  Motilitatsstbrungen  binzu,  so  namentlicb  oft  ein  lebbafter  Tremor, 
der  sicb  sowobl  bei  statiscben  Innervationen  wie  bei  Bewegungen  geltend 

21* 


324 


Neurasthcnie  (Neurasthenisches  Irresein). 


macht.  Bald  ist  er  direct  ein  Ermiidungsplianomen  bald  auf  die  affective 
Erregung  zuriickzufiibren.  In  seltenen  Fallen  kommt  es  aucb  zu  Co- 
ordinationsstorungen ; dieselben  machen  sich  erst  dann  geltend,  wenn 
der  Kranke  langere  Zeit  eine  motorische  Leistung  ohne  Pause  fort- 
zusetzen  gezwungen  ist.  Es  kommt  dann  soweit,  dass  der  Kranke  fehl- 
greift  und  fehltritt,  sich  verspricht  und  verschreibt  u.  dgl.  m.  Auch 
bierbei  wirkt  die  affective  Erregung  meist  mit.  Differentialdiagnostisch 
sind  diese  Symptome  sebr  wichtig. 

Die  Sensibilitatsstorungen,  Schmerzen  und  Druckpunkte  wurden  im 
Interesse  der  Uebersicbtlichkeit  bereits  unter  den  Storungen  des  Em- 
pfindungslebens,  also  unter  den  psychiscben  Symptomen  besprochen.  Es 
sei  nur  noch  erwabnt,  dass  das  Gesicbtsfeld  intact  ist ; dock  schwanken 
seine  Grenzen  unter  dem  Einfluss  der  Ermiidung  in  sebr  auffalliger  Weise. 

Die  Sebnenpbanomene  sind  meist  gesteigert,  in  mancben  Fallen  findet 
sicb  sogar  beiderseitiger  Fussklonus. 

Die  Hautreflexe  sind  zuweilen  gesteigert,  zuweilen  normal,  mitunter 
sogar  berabgesetzt ; fast  stets  sind  sie  auf  beiden  Seiten  gleich  (im 
Gegensatz  zur  Hysteric). 

Besonderer  Erwabnung  bedarf  endlicb  nocb  das  sexuelle  Leben  des 
Neurastbeuikers.  Im  Allgemeinen  berrscbt  sexuelle  Uebererregbarkeit 
vor.  Bei  beiden  Gescblecbtern  kommt  es  ofter  zu  Pollutionen,  bei  dem 
mannlicben  zu  qualenden  Priapismen.  Sebr  baufig  gebt  Masturbation  der 
Neurastbenie  scbon  voraus,  in  anderen  Fallen  fubrt  erst  die  Neurastbenie 
zu  masturbatoriscben  Excessen.  Sexuelle  Frigiditat  findet  sich  fast  nur 
bei  scbwer  erblicb  belasteten  Neurastbenikern.  Dasselbe  gilt  von  sexuellen 
Perversitaten.  Impotenz  — bald  auf  Grund  der  Erschopfung  durcb  sexuelle 
Excesse  bald  auf  Grund  bypocbondriscber  Vorstellungen  — ist  nicbt  seiten. 

Verlauf.  Die  Neurasthenic  entstebt  fast  stets  cbroniscb.  Seiten 
entwickeln  sicb  ibre  Symptome  acut  im  Anschluss  an  eine  beftige  Ge- 
miitbserscbiitterung  oder  ein  Trauma  oder  eine  scbwere  fieberbafte 
Erkrankung.  Bei  der  typiscben  Neurastbenie  kann  man  zwei  Stadien 
unterscheiden.  Im  ersten  iiberwiegen  die  korperlicben  Symptome,  die 
krankhafte  Keizbarkeit  und  die  Associationsstorung,  im  zweiten  treten  , 
Zwangsvorstellungen  oder  hypocbondriscbe  Vorstellungen  hinzu.  Im  Ein- 
zelnen  ist  die  Reibenfolge  und  Combination  der  Symptome  den  aller-  * 
grossten  Scbwankungen  unterworfen. 

Die  Ausgange  der  Neurastbenie  sind: 

1.  Cbronische  Neurastbenie  ■ 

2.  Irresein  durcb  Zwangsvorstellungen 

3.  Hypocbondriscbe  Paranoia 

4.  Hypocbondriscbe  Melancholic 

5.  Heilung. 


Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein). 


325 


Tod  und  secundare  Demenz  kommen  nicM  vor;  hochstens  fiihrt 
Inanition  in  sehr  schweren  Fallen  bei  unzweckmassiger  Bebandlung  den 
Tod  herbei.  Heilung  tritt  hochstens  in  20  Vo  aller  Falle  ein.  Ruckfalle 
sind  haufig.  Zum  Theil  beriiht  diese  ungiinstige  Prognose  _^rauf,  dass 
die  Kranken  oft  erst  sehr  spat  in  sachverstandige  arztliche  Behandlung 
eintreten.  Bleibt  Heilung  aus,  so  kommt  es  meist  zu  einer  chronischen 
Neurasthenie  mit  secundaren  hypochondrischen  Vorstellungen  und  Zwangs- 
vorstellungen.  Seltener  kommt  es  zu  einer  typischen  hypochondrischen 
Paranoia  (mit  Verfolgungs-  und  ev.  auch  mit  Grossenideen),  etwas 
haufiger  verdrangen  die  Zwangsvorstellungen  die  urspriinglichen  neu- 
rasthenischen  Symptome  mehr  und  mehr,  so  dass  ein  typisches  Irresein 
aus  Zwangsvorstellungen  sich  entwickelt.  Selten  ist  schliesshch  der  Aus- 
gang  in  hypochondrische  Melancholie ; derselbe  vollzieht  sich,  indem  zu 
den  neurasthenischen  Symptomen  und  hypochondrischen  Vorstellungen 
eine  primare,  selbststandige  Depression  und  Angst  hinzutiitt. 

Varietaten.  In  vielen  Beziehungen  nimmt  das  neurasthenische 
Irresein  eine  centrale  Stellung  ein.  In  seinen  zahlreichen  Varietaten 
bietet  es  Uebergange  und  Beziehungen  zu  fast  alien  Psychosen  dar. 
Dazu  kommt,  dass  diejenige  psychische  und  korperliche  Veiandeiung, 
welche  wir  in  der  allgemeinen  Pathologie  als  neuropsychopathische  Con- 
stitution kennen  lernten,  ungemein  haufig  unter  dem  Bilde  der  Neu- 
rasthenie sich  aussert.  So  ist  die  neuropsychopathische  Constitution, 
welche  Kopftraumen,  geistige  Ueberanstrengungen,  sexuelle  Excesse, 
Heerderkrankungen  des  Gehirns  hervorrufen,  mit  der  Neurasthenie  in 
wesentlichen  Punkten  identisch.  So  wil'd  es  verstandlich , dass  viele 
Psychosen  sich  geradezu  auf  dem  Boden  der  Neurasthenie  entwickeln. 
Namentlich  gilt  dies  von  den  chronischen  Psychosen.  Von  diesem  Stand- 
punkt  aus  erscheint  die  Neurasthenie  geradezu  als  die  Stammmutter  zahl- 
reicher  Psychosen  und  Psychoneurosen. 

Die  wichtigsten  Varietaten  des  neurasthenischen  Irreseins  sind,  abge- 
sehen  von  der  schon  besprochenen  Weiterentwicklung  zu  hypochondrischen 
Vorstellungen  und  Zwangsvorstellungen  folgende: 

1.  Die  depressive  Form.  Bei  dieser  treten  von  Anfang  an  oder 
schon  sehr  friih  nehen  der  reizharen  Verstimmung  primare  Angstaffecte  und 
primare  Depression  auf.  Offenbar  handelt  es  sich  hier  um  eine  Uebergangs- 
form  zur  Melancholie.  Namentlich  im  jugendlichen  Alter  begegnet  man  ihr 
sehr  haufig.  Auch  auf  dem  Boden  der  Hysterie  ist  sie  nicht  selten. 

2.  Die  paranoische  Form.  Bei  dieser  ist  die  reizbare  Verstimmung 
zwar  das  friiheste  und  dominirende  Symptom,  aber  es  fallt  auf,  dass  die 
hypochondriscben  Wahnvorstellungen  schon  sehr  friihe  und  sehr  selbst- 
standig  auftreten  sowie  dass  ein  unbestimmtes  Misstrauen,  welches  den 


320  NGurftsthcnic  (NGurasthGnischcs  Irrcscin). 

spateren  Verfolgungswahn  gewissermaassen  ankiindigt,  sclion  fruhe  der 
affectiven  Keizbarkeit  beigemischt  ist. 

3.  Die  Neurastbenie  mit  friiben  Zwangsvorstellungen.  Wabrend 
die  typiscbe  Neurastbenie  iiberbaupt  nicbt  oder  erst  in  einem  zweiten 
Stadium  zu  Zwangsvorstellungen  fiibrt,  sind  bei  dieser  Varietat  scbon 
sebr  friibe  neben  der  dominirenden  reizbaren  Verstimmung  Zwangsvor- 
stellungen vorbanden.  Namentlicb  auf  dem  Boden  der  erblicben  Degene- 
ration ist  diese  Uebergangsform  von  der  typiscben  Neurastbenie  zu  dem 
typiscben  Irresein  aus  Zwangsvorstellungen  sebr  baufig.  Die  Prognose 
dieser  Varietat  sowie  der  unter  2 aufgefiibrten  ist  im  Gegensatz  zu  der- 
jenigen  der  depressiven  Form  sebr  ungiinstig, 

4.  Die  stupide  Form.  Hier  iiberwiegt  unter  den  Stbr ungen  der 
Ideenassociation  entscbieden  die  Denkbemmung.  Neben  der  reizbaren 
Verstimmung  macbt  sicb  eine  merklicbe  Apatbie  geltend.  Die  Kranken 
klagen,  dass  „sie  sicb  nur  nocb  argern,  aber  nicbt  mebr  frob  und  nicbt 
mebr  traurig  sein  konnten''.  Diese  Varietat,  welcbe  offenbar  eine  Ueber- 
gangsform von  der  typiscben  Neurastbenie  zur  Stupiditat  darstellt,  ist 
ebenso  wie  die  depressive  Form  im  jugendlicben  Alter  am  baufigsteii. 
Ibre  Prognose  ist  eber  gunstiger  als  diejenige  der  typiscben  Neurastbenie. 

Auf  Grund  der  somatiscben  Symptome  der  Neurastbenie  konnte 
man  nocb  mancbe  andere  Varietat  unterscbeiden.  >)  Da  solcbe  Varietiiten 
jedocb  mebr  in  das  Gebiet  der  Neuropatbologie  als  in  dasjenige  der 
Psycbopatbologie  gebbren,  werden  sie  bier  iibergangen. 

Aetiologie.  Erblicbe  Belastung  spielt  bei  dem  neurastbeniscben 
Irresein  eine  geringere  Eolle  als  bei  den  meisten  anderen  Psycbosen.  Nur 
in  etwa  35  % s-Hsr  Falle  ist  sie  nacbweisbar.  Die  Neurastbenie  ist 
relativ  baufig  eine  obne  vorausgegangene  Pradisposition  erworbene 
Krankbeit.  Da  andererseits  ibr  belastender  Einfluss  auf  die  Descendenz 
meist  sebr  erbeblicb  ist,  so  wird  es  begreiflicb,  dass  in  den  Stammbaumen 
der  verscbiedenen  Psycbosen  verbaltnissmassig  oft  die  Neurastbenie 
eines  Ascendenten  zuerst  in  die  Familie  die  Belastung  bineintragt.  Aucb 
in  dieser  Beziebung  erscbeint  die  Neurastbenie  oft  als  die  Stammmutter 
der  „famille  nevropatbique  et  psycbopatbique",  wie  franzosiscbe  Psychi- 
ater es  ausgedriickt  baben. 

Fast  alle  intra  vitam  einwirkenden  Scbadlicbkeiten  kbnnen  gelegent- 
licb  eine  Neurastbenie  bervorrufen.  An  dieser  Stelle  sollen  nur  die  wirk- 
samsten  und  baufigsten  aufgefiibrt  werden: 

a)  Intellectuelle  Ueberarbeitung.  Hierber  gebbrt  z.  B.  die  Neur- 
astbenie der  Gymnasiasten,  Studenten  und  Gelebrten. 


*)  So  sei  z.  B.  nur  an  die  Uebergangsformen  zwischen  Neurastbenie  und  Hysterie 
erinnert. 


Neurasthenie  (Neiirasthenisches  Irresein). 


327 


b)  Affective  Erregungen.  Es  ist  kein  Ziifall,  das  gerade  diejenigen 
Individuen,  deren  Thatigkeit  verantwortungsvollist,  besonders  oft  an 
Neurasthenie  erkranken.  Zu  den  intellectuellen  Strapazen  kommen  die 
afiectiven  Strapazen  hinzu.  In  vielen  anderen  Fallen  sind  es  die  un- 
mittelbaren  Sorgen  im  Kampf  uni’s  Dasein,  welche  das  Grleichgewicht 
des  Nervensystems  storen.  Aerger  fiber  Untergebene,  Zuriicksetzungen 
und  Krankungen  seitens  Vorgesetzter,  politische  und  sociale  Konflikte, 
Geschafts-  und  Nahrungssorgen,  hausliche  Differenzen,  Prozesse  und 
litterarische  Streitigkeiten  sind  bald  einzeln  bald  in  mannichfachen  Gom- 
binationen  wirksam. 

c)  Sexuelle  Excesse.  Enter  diesen  steht  die  Masturbation  obenan. 
Gewiss  ist  dieselbe  baufig  bereits  ein  Symptom  einer  neuropathischen 
Constitution,  gewiss  ist  dieselbe  ferner  auch  bei  solchen  Individuen,  welche 
niemals  irgendwie  erkranken,  ungemein  haufig;  ebenso  gewiss  ist  jedoch 
auch,  dass  in  einer  nicht  kleinen  Reihe  von  Fallen  die  Masturbation  die  Ent- 
stehung  von  Psychosen  begiinstigt.  Enter  diesen  Psychosen  ist  neben 
der  Melancholie  und  Paranoia  in  erster  Linie  auch  die  Neurasthenie  zu 
nennen.  Freilich  ist  die  Masturbation  fast  niemals  die  einzige  Ersache 
einer  Neurasthenie,  aber  ihre  Mitwirkung  ist  oft  unverkennbar. 

d.  Alkoholexcesse.  Der  chronische  Alkoholismus  fiihrt  weitaus  am 
haufigsten  zu  der  in  der  allgemeinen  Aetiologie  beschriebenen  psychischen 
alkoholistischen  Degeneration.  Gelegentlich  beobachtet  man  jedoch  auch 
statt  Oder  neben  derselben  eine  ausgesprochene  Alkoholneurasthenie.  Ge- 
rade diese  Alkoholneurasthenie  ist  oft  schon  sehr  friihe  mit  Zwangsvor- 
stellungen  verkniipft. 

e.  Traumen.  Seit  der  Enfallgesetzgebung  ist  die  sog.  „trauma- 
tische  Psychoneurose"  sehr  haufig  Gegenstand  der  Beobachtung  und 
Behandlung  geworden,  Sieht  man  von  den  Fallen  ab,  wo  das  Trauma 
eine  Hysterie  oder  eine  schwerere  Psychose  erzeugt,  so  bleiben  noch 
immer  mindestens  % aller  Falle  fiir  die  traumatische  Neurasthenie 
iibrig.  In  der  Regel  tritt  die  letztere  unter  dem  Bild  der  hypochon- 
drischen  Neurasthenie  auf,  Doch  kdnnen  auch  hypochondrische  Vor- 
stellungen  zuweilen  vollig  fehlen.  Die  Localisation  des  Traumas  bedingt 
sehr  haufig  eine  eigenartige  Modification  des  Krankheitsbildes.  Nicht 
selten  leitet  eine  Topalgie,  welche  dem  Angriffsort  des  Traumas  entspricht, 
die  Neurasthenie  ein.  Man  hat  in  diesen  und  ahnlichen  Fallen  geradezu 
von  einer  „localen  peripherischen  Neurasthenie"  gesprochen.  Auf  die 
Topalgie  folgen  erst  weiterhin  die  ubrigen  typischen  Symptome  des  neu- 

')  Eine  solche  locale  peripherische  Neurasthenie  mit  entsprechender  Topalgie 
kann  sich  z.  B.  auch  an  ein  Ulcus  ventriculi,  an  eine  Dysenteric,  einen  Typhus, 
eine  hartnackige  Conjunctivitis  u.  dgl.  anschliessen. 


328 


Neurasthenie  (Neurasthettisches  Irresein). 


rasthenischen  Irreseins.  Unzweifelhaft  wirken  bei  der  Entstehung  dieser 
tramnatischen  Neurasthenie  ausser  dem  directen  mechanischen  Effect 
des  Traumas  (Schmerz,  Erschiitterung  u,  s.  w.)  auch  allerhand  Affecte  und 
Vorstellungen  mit,  so  namentlich  die  Sorge  um  die  Wiederkehr  der  Ar- 
beitsfahigkeit  und  die  durch  die  heutige  Unfallgesetzgebung  geradezu 
provocirte  Hinlenkung  der  Aufmerksamkeit  auf  das  Trauma  und  seine 
Folgesymptome.  Dies  fiibrt  die  Kranken  auch  zu  unbewussten  Ueber- 
treibungen  ihrer  Krankheitserscheinungen.  Andrerseits  lassen  sich  die 
Kranken  durch  die  Furcht,  keine  oder  eine  zu  niedrige  Rente  zu  er- 
halten,  und  durch  das  Bestreben,  ihren  Unfall  zur  Erlangung  einer  mog- 
lichst  hohen  Rente  zu  fructificiren,  auch  verleiten  in  bewusster  Weise 
ihre  Symptome  zu  iibertreiben  und  oft  auch  neue  Symptome  geradezu 
hinzuzusimuliren. 

f.  Constitutionelle  bezw.  chronische  Krankheiten.  Soweit  solche 
eine  allgemeine  Ernahrungsstbrung  bedingen,  kbnnen  sie  zur  Neura- 
sthenie fiihren.  So  erscheint  denn  die  Neurasthenie  haufig  als  Begleit- 
krankheit  eines  chronischen  allgemeinen  Siechthums.  So  kann  z.  B.  die 
Syphiliskachexie  das  typische  Bild  einer  Neurasthenie  hervorrufen,  Be- 
sonders  fiihren  auch  chronische  Erkrankungen  des  Digestionstractes  oft 
zu  Neurasthenie.  Die  constitutionelle  Anaemie  in  ihren  verschiedenen 
Formen  spielt  namentlich  bei  der  Neurasthenie  des  zweiten  und  dritten 
Lebensjahrzehnts  eine  grosse  Rolle. 

g.  Acute  Krankheiten,  Die  schwere  Ernahrungsstbrung,  welche  ein 
Typhus,  ein  Empyem  u.  s.  f.  hinterlasst,  kann  gleichfalls  eine  Stbrung  im 
Nervensystem  bedingen,  welche  sich  garnicht  oder  sehr  langsam  aus- 
gleicht  und  sich  in  den  Symptomen  der  Neurasthenie  aussert. 

Ausser  der  Ernahrungsstbrung  sind  in  diesen  und  in  den  unter  f 
erwahnten  Fallen  oft  auch  periphere  Reize  wirksam,  deren  dauernde 
Einwirkung  das  Nervensystem  schadigt.  So  kann  eine  Lageveranderung 
des  Uterus  oder  eine  chronische  Endometritis  oder  die  Narbe  eines  Ty- 
phusgeschwiirs  auch  auf  diesem  Wege  — ganz  abgesehen  von  der  Er- 
nahrungsstbrung — eine  Neurasthenie  hervorbringen  (vergl.  auch  Anm. 
auf  der  vorigen  Seite). 

h.  Puerperale  Schadigungen : Gehaufte  Geburten,  protrahirte  Lac- 
tation. 

Diagnose.  In  Anbetracht  der  eigenartigen  centralen  Stellung, 
welche  oben  fixr  die  Neurasthenie  nachgewiesen  wurde,  wird  man  von 
Anfang  an  auf  zahlreiche  Uebergangsformen  gefasst  sein  miissen.  Am 
wichtigsten  sind  folgende  Unterscheidungen : 

1.  von  der  hypochondrischen  Melancholie.  Der  typi- 
schen  Neurasthenie  fehlt  die  p r i m a r e Depression  und  Angst  des 
hypochondrischen  Melancholikers.  Der  Neurastheniker  ist  in  erster 


1 


- 

' 


i 


Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein). 


329 


Lillie  nicht  traurig  imd  angstlich,  sondern  argerlich  und  missrautLig.  Erst 
spater  stellen  sich  mit  den  hypochondrischen  Vorstellungen  auch  De- 
pression und  Angst,  aber  secundar,  ein.  Das  Scblussbild  ist  dann  aller- 
dings  ein  sehr  abnliches.  Docb  bleibt  insofern  immer  noch  ein  Unter- 
scbied,  als  der  bypochondriscbe  Melancboliker  niemals  beiter  zu  sein 
vermag,  wabrend,  wie  oben  erwabnt,  der  bypochondriscbe  Neurastbeniker 
gelegentlicb  nocb  ausgelassen  lustig  ist. 

2.  von  der  bypocbondriscben  Paranoia.  Diese  beginnt  diiect 
mit  wabnhaften  Ausdeutungen  der  Beobacbtungen,  welcbe  der  Kranke  an 
seinem  eigenen  Korper  macbt.  Die  affective  Reizbarkeit  des  Neurastbe- 
nikers  feblt  oder  ist  ganz  nebensacblicb.  Der  Neurastbeniker  bleibt  zunacbst 
immer  nocb  tbeilweise  iiber  seinen  bypocbondriscben  Vorstellungen  steben, 
der  Paranoiker  geht  in  ibnen  auf.  Bei  Ersterem  bleibt  lange  Zeit  das 
Verbaltniss  zwiscben  den  bypocbondriscben  Vorstellungen  und  den  sub- 
jectiven  Bescbwerden  des  Kranken  ein  annabernd  pbysiologiscbes,  bei 
dem  Letzteren  steben  von  Anfang  an  die  bypocbondriscben  Wabnvor- 
stellungen  ausser  allem  Verbaltniss  zu  den  Bescbwerden  des  Kranken. 
Zudem  nebmen  die  Sensationen  des  bypocbondriscben  Paranoikers  scbon 
friib  den  Character  ecbter  Illusionen  und  Hallucinationen  an.  Der  Pa- 
ranoiker, welcber  an  eine  leichte  tbatsacblicbe  Abmagerung  die  Wabn- 
vorstellung  scbwindsiicbtig  zu  sein  gekniipft  bat,  fiiblt,  wie  sein  Riicken 
sicb  verscbmalert,  sein  Leib  einfallt  und  seine  Glieder  scbrumpfen.  Der 
Neurastbeniker  deutet  eine  leichte  tbatsacblicbe  Abmagerung  scbliesslicb 
aucb  als  „beginnende  Scbwindsucbt",  er  beruft  sicb  dabei  vielleicbt  auch 
auf  Topalgien  und  Paraestbesien  in  der  Brust  und  im  Riicken.  Darauf 
aber  bescbrankt  sicb  die  Empfindungsstorung.  Die  Paraestbesien  balten 
sicb  in  engen  Grenzen.*)  Bei  dem  Paranoiker  sind  daraus  complicirte 
Rlusionen  und  Hallucinationen  geworden,  welcbe  bei  dem  Aufbau  der 
bypocbondriscben  Vorstellungen  wesentbcb  mitwirken.  Weiterbin  ist 
bei  der  bypocbondriscben  Paranoia  von  Anfang  an  ein  patbologiscbes 
Misstrauen  vorbanden,  welches  scbon  friibe  in  Verfolgungsideen  formulirt 
wird.  Der  Kranke  aussert : „Icb  werde  krank  gemacbt". 

Nun  ist  allerdings  zuzugeben,  dass  diese  Abgrenzung  der  bypo- 
cbondriscben Neurasthenie  von  der  bypocbondriscben  Melancbolie  und 
der  bypocbondriscben  Paranoia  keine  absolut  scbarfe  ist.  Das  Zustands- 
bild  kann  in  gewissen  Pbasen  bei  alien  drei  Krankbeiten  sebr  ahnlicb 
sein.  Aucb  wurde  ausdriicklicb  bervorgeboben,  dass  die  bypochondriscbe 


*)  Man  darf  sich  nur  dutch  die  Vergleiche  und  Ausmalungen,  in  welchen  sich 
die  Neurastbeniker  bei  der  Schilderung  ihrer  Paraestbesien  und  Topalgien  gefallen, 
nicht  zu  einer  irrthUmlichen  Annahme  von  Illusionen  oder  Hallucinationen  verleiten 
lassen. 


330  Neurasthenic  (Nenrasthenisches  Irresein). 

Neurasthenie  in  ihrem  weiteren  Verlauf  einerseits  in  die  hypochondrische 
Melancholie  und  andererseits  in  hypochondrische  Paranoia  iibergehen 
kann , ferner  wurde  erwahnt,  dass  Zwischenformen  einerseits  zwischen  der 
hypochondrischen  Neurasthenie  und  der  hypochondrischen  Melancholie 
und  andererseits  zwischen  ersterer  und  der  hypochondrischen  Paranoia 
existiren.  Ant  Grund  dieser  Thatsachen  hat  man  oft  eine  besondere  Krank- 
heitsform  aufgestellt,  welche  man  als  Hypochondrie  bezeichnete.  Als 
Hauptsymptome  derselben  fuhrte  man  an:  pathologische  Empfindungen  I 
(Paraesthesien  u.  dgl.),  hypochondrische  Vorstellungen,  einseitige  Concentra- 
tion des  Denkens  auf  den  Gesundheitszustand  des  eigenen  Korpers,  traurig- 
reizbare  Verstimmung  und  endlich  ruckwirkende  Beeinflussung  desEmpfin- 
dungslebens  und  der  Bewegungen  durch  die  Vorstellungen  (vgl.  S.  117 
und  160).  Offenbar  stellt  dieser  Symptomencomplex  lediglich  einZustands- 
bild  dar,  welches  im  Verlauf  der  verschiedensten  Krankheiten  vorkommen 
kann.  Die  genauere  Betrachtung  lehrt,  dass  nicht  nur  die  Entwicklung, 
sondern  auch  der  psychologische  Connex  der  Symptome,  Verlauf,  Pro- 
gnose und  therapeutische  Indicationen  bei  den  einzelnen  hypochondrischen 
Zustanden  sehr  verschieden  sind.  Die  Hypochondrie  ist  somit  keine 
Krankheitsform,  sondern  ein  Krankheitszustand. 

3.  von  dem  Irresein  aus  Zwangsvorste llungen.  Die 
enge  Verwandtschaft  desselben  mit  der  Neurasthenie  wurde  bereits  mehr- 
fach  betont.  Die  typische  Neurasthenie  fiihrt  garnicht  oder  erst  in  ihrem 
spateren  Verlauf  zu  Zwangsvorstellungen,  das  typische  Irresein  aus  Zwangs- 
vorstellungen  entwickelt  sich  unabhangig  von  der  fiir  die  Neurasthenie 
characteristischen  reizbaren  Verstimmung  und  unabhangig  von  neura- 
sthenischen  Paraesthesien. 

4.  von  der  Dementia  paralytica.  Die  Beschwerden  der  letz- 
teren  im  Initialstadium  ahneln  denjenigen  der  Neurasthenie  in  hohem 
Maasse.  Nur  eine  sehr  genaue  korperliche  Untersuchung  kann  sicher 
vor  Verwechslungen  schiitzen.  Die  beginnende  Dementia  paralytica  ver- 
rath  sich  bald  durch  Pupillenstarre,  bald  durch  Fehlen  der  Kniephano- 
mene  oder  Achillessehnenphanomene,  bald  durch  einseitige  Steigerung 
derselben,  bald  durch  allgemeine  cutane  Hypalgesie,  bald  durch  Paresen 
des  Mundfacialis,  bald  durch  hesitirende  Sprache.  Da  Syphilis  in  der 
Aetiologie  der  Dementia  paralytica  eine  sehr  erheblich  grossere  Rolle 
spielt  als  in  derjenigen  der  Neurasthenie,  wird  man  bei  einem  Syphili- 
tiker  mit  der  Diagnose  einer  Neurasthenie  doppelt  vorsichtig  sein. 
Wichtig  ist  auch  die  anamnestische  Feststellung  sog.  paralytischer  An- 
falle.  Die  psychische  Untersuchung  liefert  dem  Erfahrenen  weitere  Merk- 
male.  Das  Krankheitsbewusstsein  des  Paralytikers  ist  verschoben,  oft 
fehlt  es  vollig.  In  seinen  Urtheilen  verrath  sich  allenthalben  Kritik- 
losigkeit,  in  seinen  Handlungen  Taktlosigkeit.  Oft  irrt  er  sich  ganz 


Neiirasthenie  (Neurasthenisches  Irresein). 


331 


auffallig  in  der  Angabe  des  Datums.  Alles  dies  trifft  bei  dem  Neurastbe- 
niker  nicbt  zu.*)  Sebr  vorsicbtig  muss  man  mit  der  Verwerthung  der 
Gedachtnisspriifung  sein.  Auch  der  Neurastbeniker  beantwortet  oft  ein- 
facbe  Fragen  in  Folge  seiner  Associationsstorungen  langsam  oder  gar 
nicbt.  Man  muss  sicb  biiten,  in  solcbem  Falle  obne  Weiteres  die  Ge- 
dacbtnissscbwacbe  des  Paralytikers  anzunebmen. 

1st  es  zur  Entwicklung  bypocbondriscber  Wabnvorstellungen  ge- 
kommen,  so  liegt  die  Verwecbslung  mit  dem  depressiven  oder  bypocbon- 
driscben  Stadium  der  Dementia  paralytica  nabe.  Hier  kommen  diiferen- 
tialdiagnostiscb  — abgeseben  von  dem  kbrperlicben  Befund  — alle  die 
'Merkmale  in  Betracbt,  welcbe  bei  Besprecbung  der  Diagnose  der  Me- 
lancbolie  als  cbaracteristiscb  fiir  die  Wabnideen  des  paralytiscben  Hy- 
pocbonders  angegeben  wurden. 

5.  von  der  Hysteric  resp.  der  psycbiscben  bysteriscben  Degene- 
t ration.  Entscbeidend  ist  die  korperlicbe  Untersucbung.  Man  fabnde 
• stets  auf  die  Cardinalsymptome  der  Hysteric  (Krampfanfalle,  bysterogene 
?Zonen,  balbseitige  Druckpunkte,  gemiscbte  Hemianastbesie,  Anastbesie 
: en  plaques  oder  mit  sog.  manscbettenformiger  Abgrenzung,  concentriscbe 
I Gesicbtsfeldeinengung , Dyscbromatopsie , bysteriscbe  Labmungen  und 
1 Contracturen).  Auf  psycbiscbem  Gebiet  ist  die  Labililat  der  Affecte  das 
ibeste  Kriterium  der  Hysteric  gegeniiber  der  Neurastbenie.  Namentlicb 
Ibeim  weiblicben  Gescblecbt  sind  Zwiscbenformen  zwiscben  Neurastbenie 
;und  Hysterie  nicbt  selten. 

6.  von  den  Vorstadien  mancber  Psycbosen.  So  kommt 
, z.  B.  bei  der  acuten  ballucinatoriscben  Paranoia,  bei  der  acuten  inco- 
ibarenten  Paranoia  und  namentlicb  bei  der  Manie  sebr  oft  ein  neura- 
: stbeniscb-bypocbondriscbes  Prodomalstadium  vor.  Erst  der  Verlauf  giebt 
iin  diesen  Fallen  eine  sicbere  Aufklarung. 

Simulation  der  Neurastbenie  ist  seit  der  Unfallgesetzgebung 
; ziemlicb  baufig  geworden.  In  vielen  Fallen  bandelt  es  sicb  allerdings  nur 
lum  bewusstes  oder  unbewusstes  Uebertreiben  bezw.  Hinzusimuliren.  In 
teinigen  liegt  vollstandige  Simulation  vor.  Von  der  korperlicben  Un- 
itersucbung  ist  eine  Entlarvung  nicbt  zu  erwarten.  Das  Wogen  der  ent- 
Iblossten  Muskulatur,  die  Bescbleunigung  der  Pulsfrequenz  bei  activen 
i Bewegungen,  die  Veranderung  des  Gesicbtsfeldes  und  der  faradiscben  Er- 
: regbarkeit  der  Muskeln,  welcbe  man  als  beweisende  Symptome  fiir  trauma- 
i tiscbe  Neurastbenie  ausgegeben  batte,  baben  sicb  bis  jetzt  nicbt  geniigend 
Ibewabrt.  Man  wu’d  sicb  daber  bemiiben,  jede  einzelne  angeblicbe  Be- 
i scbwerde  des  Kranken  genau  aufzunehmen  und  durcb  allerband  Vexir- 

• 

*)  Wenn  der  Neurastbeniker  ja  einmal  taktlos  ist,  so  beruht  dies  auf  Jahzorn, 
I nicbt  auf  Urtbeilsscbwacbe. 


332  Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein.) 

versuche  (ev.  durch  leichtes  Ancliloroformiren)  auf  ihre  Thatsaclilichkeit  ; 
zu  priifen.  Gelingt  es,  ein  einzelnes  Symptom  als  iibertrieben  oder  gar 
als  simulirt  nacbzuweisen,  so  ist  damit  noch  nicht  iiber  a 1 1 e Symptome 
bezw.  die  ganze  Krankheit  entscbieden  (s.  o.).  Sebr  wesentlich  ist  auch 
die  Beachtung  der  Gruppirung  und  des  Connexes  der  Symptome.  Ge- 
rade  bierin  greift  der  Simulant  oft  febl. 

Tberapie.  Aus  der  Aetiologie  und  Symptomatologie  ergeben  sich 
in  den  meisten  Fallen  zunacbst  zwei  Hauptindicationen  fur  die  Bebandlung  i 
der  Neurasthenie.  Dem  Kranken  muss  erstens  intellectuelle  und  affective  i 
Rube  verschafft  und  zweitens  muss  seine  Ernahrung  gehoben  werden. 
Der  ersten  Indication  kann  in  der  Regel  nur  dadurch  Geniige  geleistet  i 
werden,  dass  man  den  Kranken  fiir  mebrere  Wocben  oder  Monate  aus  I 
seinem  Beruf  und  seiner  Familie  entfernt.  In  leicbteren  Fallen  wird  i 
eine  Einscbrankung  der  Beruftstbatigkeit  und  eine  tbeilweise  Fernbaltung  | 
von  der  Familie  genii  gen.  Die  Hebung  des  Ernabrungszustandes  gelingt 
am  sicbersten,  wenn  man  einerseits  die  Bettruhe  vermebrt,  ev.  auch 
absolute  Bettruhe  anordnet,  um  so  den  Krafteverbraucb  moglicbst  ein- 
zuscbranken,  und  wenn  man  andererseits  die  Nabrungsaufnabme  mbg- 
licbst  steigert.  Um  diese  Steigerung  der  Nabrungsaufnabme  dem  Kranken 
zu  ermoglicben,  fiigt  man  zur  intellectuellen,  affectiven  und  korperbcben 
Rube  und  zur  Ueberernahrung  eine  regelmassige  allgemeine  Massage 
hinzu.  So  gelangt  man  dazu,  bei  vielen  Neurastbenikern  eine  sog.  Mast- 
kur  anzuordnen.  Im  Allgemeinen  bewiibrt  sicb  dieselbe  in  alien  den- 
jenigen  Fallen,  in  welcben  eine  scbwere  Ernabrungsstorung  der  Neura- 
stbenie  zu  Grunde  liegt  oder  sie  auch  nur  begleitet.  In  anderen  Fallen 
wird  man  von  der  allgemeinen  Massage  abseben  und  sie  durch  kbrper- 
licbe  Spiele,  Spaziergange,  Gartenarbeit  und  Gymnastik  ersetzen.  Dabei 
kommt  sebr  viel  auf  einen  regelmassigen  Wecbsel  von  Rube  und  Be- 
wegung  bezw.  Bescbaftigung  an.  Auch  der  Neurastbeniker  muss  streng 
nacb  einem  vom  Arzte  vorgeschriebenen  Stundenplane  leben.  In  diesem 
ist  balbstiindlicb  oder  stundlicb  zwiscben  Rube,  kbrperlicber  Arbeit  und 
geistiger  Arbeit  abzuwecbseln.  Jedenfalls  muss  auf  jede  halbe  Stunde 
kbrperlicber  und  ebenso  auf  jede  balbe  Stunde  geistiger  Arbeit  minde- 
stens  je  eine  balbe  Stunde  absoluter  kbrperlicber  und  geistiger  Rube 
kommen.  Die  genauere  Abmessung  wird  selbstverstandlicb  von  der 
Scbwere  des  Einzelfalles  abbangig  sein.  Ganz  besonders  empfehlenswerth 
ist  regelmassiges  Zeicbnen  und  Excerpiren  bei  vielen  Neurastheniscben, 
insbesondere  bei  solcben,  wo  starkere  Associationsstbrungen  besteben. 

In  der  Ernahrung  ist  das  Hauptgewicht  auf  Milch  und  Eier  zu 
legen.  Genaueres  bieriiber  ist  in  der  allgemeinen  Tberapie  angegeben. 
Der  Genuss  von  Spirituosen  sowie  Rauchen  ist  in  den  meisten  Fallen 
zu  verbieten. 


Neurasthenie  (Neurasthenxsches  Irresein). 


333 


Eine  medicamentose  Behandlung  ist  — abgesehen  von  einigen  unten 
zu  envahnenden  symptomatischen  Indicationen  — im  Allgemeinen  nicht 
angezeigt.  Vor  methodischer  regelmassiger  Behandlung  mit  Opium  und 
Brom  ist  zu  warnen.  Wenn  die  affective  Erregbarkeit  trotz  Bettruhe, 
Fernhaltung  aller  Reize  und  trotz  der  alsbald  zu  besprechenden  hydro- 
therapeutischen  Maassregeln  zu  hohe  Grade  erreicht,  so  darf  man  even- 
tuell  eine  einmalige  Bromdosis  (5  g Bromnatrium  oder  Bromammonium) 
Oder,  wenn  Depression  und  Angst  im  Spiele  sind,  eine  einmalige  Opium- 
dosis  (0,05  g Opium,  am  besten  mit  1,0  g Bromnatrium)  geben.  Die 
Gefahr  der  Opiophagie  bezw.  des  Morphinismus  ist  bei  Neurasthenie  er- 
heblich  grosser  als  bei  Melancholic.  Die  Melancholic  ist  eine  acute 
Psychose:  mit  ihrer  Heilung,  mit  dem  Schwinden  der  Angst  wird  dem 
Kranken  selbst  das  Opium  uberfliissig ; die  Neurasthenie  ist  ein  chroni- 
sches  Leiden,  daher  die  Gefahr  der  Gewohnung. 

Unter  den  hydrotherapeutischen  Maassnahmen  steht  die  laue  hydro- 
pathische  Einpackung  und  das  warme  prolongirte  Bad  obenan,  wenn  es 
sich  darum  handelt,  eine  bestehende  affective  Erregung  zu  beseitigen. 
Genaueres  ist  hieriiber  in  der  allgemeinen  Therapie  angegeben.  Bald 
bewahrt  sich  jene,  bald  dieses  besser.  Allgemeingiiltige  Indicationen 
lassen  sich  fiir  die  Wahl  zwischen  beiden  nicht  aufstellen.  Dringend 
empfiehlt  sich  diese  lauen  Einpackungen  und  warmen  prolongirten  Bader 
nur  so  lange  fortzusetzen,  als  wirklich  affective  Erregungszustande  be- 
stehen.  Die  latente  affective  Erregbarkeit  wird  viel  zweckmassiger  durch 
kalte  Abwaschungen  (mehrmals  taglich)  und  eventuell  auch  durch  kalte 
Bader  bekampft.  Man  geht  mit  der  Temperatur  dieser  Abwaschungen 
und  Bader  allmahlich  herunter.  Keinesfalls  sind  sie  auf  den  Abend 
zu  verlegen,  wahrend  umgekehrt  der  Abend  fiir  die  Einpackungen  und 
warmen  Bader  am  zweckmassigsten  ist.  Mitunter  empfiehlt  sich  eine  Com- 
bination der  vcrschiedenen  Maassnahmen  (s.  allg.  Therapie).  Auch  bei 
schweren  Zornanfallen  wirkt  die  kalte  Abreibung  oft  im  Sinne  eines 
Gegenreizes  sehr  zweckmassig  (so  namentlich  bei  jugendlichen  Individuen). 

Zahllos  sind  die  einzelnen  symptomatischen  Indicationen,  welche  der 
Arzt  des  Neurasthenikers  zu  erfiillen  hat.  Die  Besprechung  derselben 
gehort  in  das  Gebiet  der  Neuropathologie.  Es  soli  daher  hier  nur 
zweier  Hauptsymptome,  der  Topalgien  und  der  Schlaflosigkeit  gedacht 
werden.  Fiir  beide  verlangen  die  Kranken  eine  raschere  Linderung,  al^  sie 
das  allgemeine  Kurverfahren  selbst  bei  sehr  giinstigem  Erfolg  zu  erzielen 
vermag.  Gegen  die  Topalgien  empfiehlt  sich  entweder  locale  Anoden- 
behandlung  (stabil  mit  schwachen  Strbmen)  oder  energische  locale  Fara- 
disation. Auch  Effleurage  ist  oft  wirksam.  Gegen  die  Schlaflosigkeit 
versuche  man,  wenn  hydropathische  Einpackungen  und  prolongirte 
Bader  versagen,  zunachst  Quergalvanisation  des  Kopfes  (1  Yg  M.  A.)  und 


334 


Neurasthenie  (Neurasthenisches  Irresein). 


Effleurage  der  Stirn  und  des  Plinterhauptes.  Nur  im  Nothfall  greife 
man  zu  Medicamenten.  Am  zweckmassigsten  wendet  man  unter  diesen 

llcr'l  Schlf  Keinesfalls  gebe  man  allabend- 

ein  Scblafmittel  Aucb  wecbsele  man  mit  den  Mittelri,  falls  sich 

langeie  Zeit  bindurcb  die  Verabreichung  von  Scblafmittein  notbwendig 

weist.  Bei  weiblicben  Individuen  reicbt  oft  eine  Flascbe  starken 
Bieres  aus,  urn  Schlaf  zu  erzielen. 

Zu  alien  diesen  tberapeutiscben  Maassnahmen  kommt  nun  als  wicb- 
tigste  noch  die  personlicbe  psycbische  Beeinflussung  durcli  den  Arzt 
mzu.  Die  meisten  Neurastbeniker  miissen  geradezu  vom  Arzt  erzogen 
werden  und  zwar  sowobl  zur  Beherrscbung  ibrer  Affecte,  wie  zu  einem 
rubigen,  consequenten  Denken  und  Handeln.  Das  Vertrauen  des  Neur- 
astben^ers  wird  am  besten  durcb  ein  geduldiges  Anbbren  und  eine 
grundbcbe  Priifung  seiner  Bescbwerden , namentlicb  aucb  durcb  eine 
emgebende  korperbcbe  Untersucbung  gewonnen.  Gerade  bei  dieser 
Krankbeit  wird  der  Arzt  aucb  genau  sicb  iiber  die  Lebensverbaltnisse 
und  Interessenkreise  seines  Patienten  unterricbten  mussen.  Bei  keiner 
anderen  Psycbose  ist  die  Krankbeit  so  eng  mit  dem  ganzen  Leben  des 
Kranken  verwacbsen.  Nur  wenn  der  Arzt  den  ganzen  Menscben 
kennt,  wird  er  den  ricbtigen  Weg  fur  diese  psycbiscbe  Tberapie  finden. 
Diese  psycbiscbe  Tberapie  muss  weiter  eine  bestandige  und  stetige  sein. 
Scbon  aus  diesem  Grunde  wird  man  aucb  den  Neurastbeniker  meist 
einer  Anstalt,  sei  es  der  Nervenabtbeilung  einer  Irrenanstalt,  sei  es  einer 
speciellen  Nervenbeilanstalt  uberweisen.  Nur  wenn  der  Arzt  im  Hause 
wobnt  und  den  Kranken  mindestens  zweimal  taglicb  zu  den  verscbieden- 
sten  Zeiten  siebt,  wird  die  psycbiscbe  Bebandlung  in  vollem  Umfange 
durcbfubrbar  sein. 

Patbologiscbe  Anatomic.  Die  patbologiscbe  Anatomic  lasst 
uns  bei  der  Neurastbenie  ebenso  wie  bei  der  Melancbolie  und  Manie  im 
Sticb.  Nicbt  einmal  vasomotoriscbe  Hypotbesen  baben  Anbanger  in  er- 
beblicber  Zabl  gefunden  (Sympatbicusneurose?).  Es  bandelt  sicb,  wie  wil- 
es meist  ausdrucken,  um  ein  functionelles  Leiden.  Am  wabrscbeinlicbsten  ist 
nocb  die  Annabme,  dass  die  Erbolungsprocesse  innerbalb  der  einzelnen 
Nervenelemente  den  Zersetzungsprocessen  nicbt  mebr  das  Gleicbgewicbt 
balten  und  dadurcb  die  Function  der  Elemente  beeintracbtigt  ist.  Was  fur 
die  einzelne  Zelle  und  Faser  gilt,  gilt  wabrscbeinlicb  aucb  fiir  das  Faser- 
bundel.  Wir  wissen,  dass  aucb  bei  dem  normalen  Menscben  fortwabrend 
Fasern  degeneriren  und  andere  regenerirt  werden.  Bei  dem  Gesunden 
balten  sicb  Degeneration  und  Regeneration  das  Gleicbgewicbt.  Man 
kbnnte  vermutben,  dass  bei  dem  Neurastbeniker  dies  Gleicbgewicbt  ge- 
stbrt  ist.  Dabei  ist  natiirlicb  keineswegs  ausgescblossen,  dass  nebenber 
aucb  vasomotoriscbe  Stbrungen  wirksam  sind. 


Stupiditat. 


335 


2.  Intellectuelle  Psyehosen. 
a.  Stupiditat. 

Die  Stupiditat  (unzweckmassig  auch  „acute  heilbare  Demenz“  ge- 
nannt)  ist  eine  Psychose,  deren  Hauptsymptom  die  mebr  oder  weniger 
Yollstandige  Hemmung  der  ganzeu  Ideenassociation  ist.  Die 
Hemmung  ist  oft  so  ausgesprochen,  dass  von  einer  vollstan digen  Aufhebung 
der  Ideenassociation  gesprocben  werden  kann.  Dass  es  sicb  dabei  docb 
nur  um  Hemmung  und  nicbt  etwa  um  einen  wirklicben  Verlust  von  Er- 
innerungsbildern  und  associativen  Verknupfungen  bandelt,  ergiebt  sicb 
daraus,  dass  der  ICranke  bei  seiner  volligen  Genesung  nicbt  etwa  seine 
Erinnerungsbilder  und  Associationen  neu  erwerben  muss : er  tritt  vielmebr 
mit  dem  Nacblass  der  Hemmung  obne  Weiteres  in  seinen  alten  Besitz- 
stand  wieder  ein.  Ob  zwiscben  der  Denkbemmung  der  Melancbolie  und 
derjenigen  der  Stupiditat  aucb  ein  qualitativer  Unterscbied  bestebt,  ist 
nocb  nicbt  entscbieden.  Der  allgemeine  Eindruck  gebt  dabin,  dass  bei 
der  Melancbolie  lediglicb  der  Associationsprocess  als  solcber,  das  Fort- 
scbreiten  von  Erinnerungsbild  zu  Erinnerungsbild,  verlangsamt  ist,  wab- 
rend  bei  der  Stupiditat  die  Erinnerungsbilder  selbst  und  zwar  nament- 
licb  die  complexeren  gebemmt  zu  sein  oder  — mit  anderen  Worten  — 
ibre  Erregbarkeit  eingebusst  zu  baben  scbeinen.*)  Zu  dieser  Denk- 
bemmung kommt  als  zweites  Hauptsymptom  eine  bocbgradige  moto- 
riscbe  Hemmung  binzu. 

Sebr  regelmassig  ist  mit  der  Hemmung  der  Stupiditat  endlicb  nocb 
eine  bocbgradige  Apatbie  verkniipft.  Docb  bleibt  es  zweifelbaft,  ob 
diese  nicbt  einfacb  durcb  das  Ausbleiben  aller  compbcirten  Vorstellungen 
bedingt  ist.  Man  konnte  denken,  dass  alle  lebbafteren  Gefiiblstbne  nur 
dessbalb  feblen,  weil  die  sie  tragenden  Erinnerungsbilder  feblen.  Nur 
mit  einem  Vorbebalt  in  diesem  Sinne  werden  wir  sonacb  die  Apatbie 
als  drittes  Hauptsymptom  der  Stupiditat  auffiibren.**) 

Symptomatologie. 

Storungen  der  Vorstellungen.  In  den  leicbteren  Fallen  klagen 
die  Kranken  nur,  dass  die  Gedanken  ibnen  fortwabrend  entscbwinden. 

*)  Eine  andere  Deutung  lassen  die  klinischen  Symptome  gleichfalls  zu:  man 
konnte  namlich  annehmen,  dass  bei  der  Stupiditat  — im  Gegensatz  zu  der  krankhaften 
Verlangsamung  des  Associationsprocesses  bei  der  Melancbolie  — die  Energie  des 
Associationsprocesses  in  krankhafter  Weise  herabgesetzt  sei. 

**)  Wollte  man  der  Apatbie  den  Rang  eines  selbstandigen  Primarsymptoms  ein- 
raumen,  so  konnte  man  der  Stupiditat  sebr  wobl  einen  Platz  unter  den  affectiven 
Psycbosen  zuweisen.  In  der  That  bildet  sie  in  mancber  Beziebung  einen  Uebergang 
von  diesen  zu  den  intellectuellen  Psycbosen. 


336 


Stupiditat. 


Mit  dem  Buch,  welches  sie  lesen,  mit  der  Landschaft,  welche  sie  sehen, 
mit  den  Worten,  welche  sie  hdren,  verbinden  sie  keine  Vorstellung  mehr. 
Der  Vorstellungsablauf  ist  dementsprechend  verarmt.  Durch  die  allge- 
meine  Hemmung  sind  alle  complicu'ten  Vorstellungen  aus  der  Ideen- 
association  ausgeschaltet.  Aber  aucb  die  einfachsten  concreten  Er- 
innerungsbilder  sind  von  der  Hemmung  betroffen.  Der  Kranke  klagt, 
dass  er  sicb  abwesende  Personen  und  Gegenstande  nicbt  mehr  vorstellen 
konne:  aucb  diese  Erinnerungsbilder  baben  ibre  Erregbarkeit  verloren.  So  < 
kann  sicb  der  Kranke  nicbt  vorstellen,  wie  die  Strassen  seiner  Heimatb-  . 
stadt,  wie  sein  Zimmer  aussiebt;  mitunter  weiss  er  nicbt  einmal  anzu-  t 
geben,  wie  die  Mobel  in  letzterem  steben.  Dabei  bandelt  es  sicb  nicbt  | 
etwa  um  einfacbe  Schwerbesinnlicbkeit,  aucb  bei  langerem  Besinnen  ver- 
mag  der  Kranke  das  gebemmte  Erinnerungsbild  in  der  Kegel  nicbt 
zu  reproduciren.  Scbon  diese  leicbteren,  Kranken  fassen  ibre  intellec- 
tuelle  Storung  in  der  bezeicbnenden  Klage  zusammen:  „Mein  Kopf  ist 
so  leer." 

In  den  scbwereren  Fallen  ist  die  Aufbebung  des  intellectuellen 
Lebens  fast  total.  Selbst  das  Wiederkennen  der  bekanntesten  Gegen- 
stande und  Personen  bort  auf.  Dem  Kranken  kommt  daber  alles  „so 
traumhaft,  so  verandert,  so  entfernt"  vor.  Ratblos  steben  sie  umber. 
Die  Orientirung  uber  Zeit  und  Raum  gebt  ibnen  verloren.  Die  gebildet- 
sten  Kranken  konnen  sicb  nicbt  mehr  auf  die  Jabreszahl,  zuweilen  sogar 
nicbt  einmal  auf  das  Jabrbundert  besinnen,  in  welcbem  sie  leben.  Man 
kann  den  Kranken  zebnmal  den  Namen  ihres  Aufenthaltortes  angeben, 
nacb  einigen  Minuten,  zuweilen  aucb  scbon  nacb  einigen  Secunden  weiss 
der  Kranke  ibn  bereits  nicbt  mehr  anzugeben:  das  Erinnerungsbild  bat 
seine  Erregbarkeit  scbon  wieder  eingebiisst.  In  bobem  Maasse  leidet  in 
Folge  des  Ausbleibens  associirter  Vorstellungen  aucb  die  Aufmerksamkeit.  • 
Die  Aussenwelt  scbeint  fiir  diese  Kranken  uberbaupt  nicbt  mehr  zu 
existiren.  Von  einer  fortlaufenden  Ideenassociation  kann  uberbaupt  1 
garnicbt  die  Rede  sein.  Das  zu  einer  solchen  erforderlicbe  Vorstellungs- 
material  feblt  vollig.  Nur  in  grossen  Zwiscbenraumen  tauchen  ab  und 
zu  einige  abgerissene  Vorstellungen  auf.  In  sebr  seltenen  Fallen  konnen 
solcbe  abgerissene  Vorstellungen  zu  einer  vorubergehenden,  ganz  isolirt 
dastebenden  Wahnidee  zusammentreten.  Sonst  kommt  es  zu  inbalt-  : 
lichen  Stbrungen  des  Denkens  nicbt,  denn  das  Denken  dieser  Kranken  ' 
hat  im  Allgemeinen  gar  keinen  Inbalt. 

Storungen  des  Empfindens.  Die  Empfindungen  selbst  siud^ 
meist  normal.  Nur  ibre  Verwertbung  ist  eine  mangelbafte,  die  Vor-  ^ 
stellungen  feblen,  welche  an  die  Empfindungen  angekniipft  werden 
konnten.  Retrospectiv  geben  die  Kranken  nacb  ibrer  Genesung  meist . , 
an,  alle  Gegenstande  waren  ibnen  so  gross  und  so  fern  erscbienen.  Oft 


Stupiditat. 


337 


klageu  sie  auch  iiber  Verscliwommenheit  cler  Gesichtsempfindungen ; 
docli  mag  diese  z.  Th,  niclit  auf  primaren  Empfindungsstorungen,  son- 
dern  auf  uugeniigender  Accommodation  beruben.  Ebenso  erscbeinen  alle 
Klange  und  Gerauscbe  den  Kranken  „weit  entfernt  und  seltsam  un- 
bestimmt".  Illusionen  und  Hallucinationen  treten  bei  der  typischen 
Stupiditat  hbcbstens  gelegentlicb  intercurrent  auf.  Meist  handelt  es  sich 

urn  selir  unbestimmte,  einfaclie  Gesichts-  und  Gehbrstauschungen.  

Der  sebr  ausgepragten  Hypalgesie  wird  unten  zu  gedenken  sein. 

Affect storungen.  In  den  leicbteren  Fallen  ist  die  erste  Affect- 
reaction  des  Kranken  eine  leicbte  Verwunderung.  Es  kommt  ihm  selbst 
seltsam  vor,  wie  sein  Denken  plotzlicli  verarmt  ist.  Dieser  Verwunderung 
kann  sich  in  leichten  Fallen  gelegentlicb  eine  leicbte,  sebr  wobl  verstandicbe 
Depiession  oder  aucb  ein  leicbter  Missmutb  beimiscben.  \Veiterbin  uber- 
wiegt  mit  der  zunebmenden  Verarmung  des  Bewusstseinsinbalts  die 
Apatbie.  Die  krankbafte  Tbeilnabmlosigkeit  bescbriinkt  sicb  in  den 
leicbteren  Fallen  auf  die  Gefiiblstone,  welcbe  die  comj)licu’teren  Begriffe 
begleiten : sie  sind  mit  diesen  verloren  gegaugen.  Die  verwandtscbaft- 
licben  Gefuble  sind  daber  meist  erbalten,  hingegen  die  Interessen  fur 
V issenscbaft,  die  idealen  Gefuble  fur  Kunst,  die  zusammengesetzteren 
und  abstracteren  moraliscben  Gefuble  erloscben. 

In  den  scbwereren  Fallen  wird  die  Apatbie  total.  Aucb  das  Gefuhls- 
lebeu  ist  abgestorbeu.  Der  Kranke  vegetirt  nur  nocb.  Derjenige  Affect, 
welcber  nocb  am  langsten  erbalten  zu  bleiben  pflegt,  ist  eine  gelegentlicbe 
kindliche  oder  bfters  kindiscbe  Heiterkeit.  Ein  glanzender  Gegenstand 
(Ubr,  Flamme)  wird  lacbelnd  angestaunt.  Seltener  werden  flucbtige 
Angstaffecte  beobacbtet.  Bei  den  weiter  unten  zu  besprecbenden  inter- 
currenten  Erregungszustandeu  kommen  vorubergebend  lebbaftere  Affecte 
der  Heiterkeit  und  des  Zorns  vor. 

Storungen  des  Handelns.  Auf  dem  Gesicbt  der  Kranken  malt 
sich  die  Gedanken-  und  Affectleere.  Blode  starreu  die  Kranken  vor  sicb 
bin  oder  in  die  Luft.  Nur  gelegentlicb  fiiegt  ein  kindiscbes  Lacbeln 
oder  ein  Ausdruck  des  Erstaunens  uber  das  scblaffe,  tote  Antbtz.  Die 
gesammte  Korpermuskulatur  ist  meist  fast  ohne  jede  Spannung.  Passive 
Bewegungen  stossen  oft  auf  keinen  Widerstand.  Alle  activen  Bewegungen 
sind  auf  ein  Minimum  reducirt.  Stunden-  und  tagelang  steben  die 
Kranken  auf  einem  Platz  oder  bocken  zusammengesunken  auf  einem 
Stubl  oder  liegen  regungslos  im  Bett.  Mitunter  beobacbtet  man  ein 
monotones  Wiegen  des  Rumpfes,  sebr  selten  katatoniscbe  Spannungen. 
Urin  und  Koth  lassen  die  Kranken  meist  unter  sicb.  Auf  Anruf  bbnzeln 
• sie  kaum.  Aufgetragene  Bewegungen  werden  langsam,  oft  garnicbt  aus- 
igefiibrt.  Zuweilen  malt  sich  dabei  eine  deutlicbe  Verlegenbeit  auf  dem 
(Gesicbt  des  Kranken:  offenbar  ist  ibm  das  Erinnerungsbild  der  auf- 

Ziehen,  Peychiatrie.  99 


338 


Stupiditiit. 


getragenen  Bewegung  garnicht  gegenwartig.  Spracliliche  Aeusserungen 
sind  gleiclifalls  selir  selten.  Oft  beschrankt  sich  der  Wortschatz  auf 
einige  Interjectionen.  Ziiweilen  wird  immer  derselbe  Satz  ohne  jeden 
Ausdruck  in  der  Betonung  wiederbolt  (z.  B.  kaun  ich  denn  nicht  beim?). 
Fast  stets  sprecben  die  Kranken  iiiisserst  leise,  fast  aphonisch.  Mit- 
imter  erinnert  ihre  Sprecliweise  und  ihre  Articulation  an  diejenige  der 
Kinder. 

Diese  motoriscbe  Hemmung  der  Kranken  wird  zuweilen  ganz  plbtz- 
licli  durch  kiirze  Bewegimgen  unterbrochcn.  So  springt  z.  B.  eine  Kranke 
plbtzlicb  auf  und  giebt  auf  Befragen  an,  sie  wolle  im  Heind  in  den 
Garten  gelien.  Zuweilen  beruhen  diese  plotzlichen  Bewegungen  auf 
Stiramen,  haufiger  auf  den  oben  erwabnten  bier  und  da  vereinzelt  auf- 
taucbenden  Vorstellungen  bezw,  Einfiillen.  Nicbt  selten  kouimt  es  aucb 
zu  stundenweisen  intercurrenten  motoriscben  Erregungszustanden,  in 
welcben  der  Kranke  singt,  pfeift,  tanzelt,  umberspringt,  zusammenbangs- 
los  spricbt,  seine  Umgebung  neckt  und  zupft  und  gelegentlicb  aucb  sicb 
ernst  an  ibr  vergreift.  Dabei  berrscbt  eine  krankbafte  Heiterkeit  vor. 
Zuweilen  besteben  zugleicb  Hallucinationen  oder  Illusionen. 

Die  soeben  entworfene  Scbildernng  gilt  von  den  scbwereren  Fallen. 
In  den  leicbteren  Fallen  klagen  die  Kranken  nur  iiber  rascbe  Ermudung. 
Ueber  der  Arbeit  scblafen  sie  ein  oder  versinken  in  ein  leeres  Traumen. 
Die  Vorstellungsarmutb  giebt  sicb  in  der  Planlosigkeit  des  Tbuns  und 
Treibens  des  Kranken  kund.  Viele  liegen  stundenlang  auf  dem  Sopba. 
Zwingt  man  sie  zur  Bescbilftigung,  so  stellen  sie  sicb  bbcbst  uugescbickt 
an.  Die  einfacbsten  Handarbeiten  macben  sie  verkebrt.  Die  Bewegungs-  - 
vorstellungen  sind  in  Folge  der  Hemmung  unerregbar : daber  die  Uii- 
gescbicklicbkeit  bei  jeder  complicirteren  Bewegung. 

K 0 r p e r 1 i c b e S y m p t o m e . Die  Ernabrungsstorung  ist  meist 
nicbt  sebr  erbeblicb,  wofern  der  Kranke  regelrniissig  gefuttert  vdrd. 
Die  Hauttemperatur  ist  stets,  die  centrale  Korpertemperatur  oft  berab- 
gesetzt.  Die  Herztbatigkeit  ist  meist  verlangsamt,  die  Pulswelle  niedrig 
und  leicbt  unterdruckbar.  Der  Blutdruck  ist  erbeblicb  berabgesetzt. 
Stauungserscbeinungen  (Oedeme  u.  dgl.)  sind  baufig.  — Bei  Fraiien  ist 
Amenorrboe  baufig.  Oft  ist  aucb  die  Atbmung  verlangsamt  und  abnorm 
oberflacblicb. 

Die  Pupillen  sind  meist  weit,  die  Reactionen  zwar  prompt,  aber  un- 
ausgiebig  und  wenig  nacbbaltig. 

Die  Convergenzeinstellung  beider  Augen  ist  oft  sebr  mangelbaft. 

Die  grobe  motoriscbe  Kraft  der  Extremitaten  scbeiut  berabgesetzt, 
docb  ist  die  Herabsetzung  wobl  uamentlicb  auf  die  geringe  Euergie  der 
associativen  Impulse  zuruckzufiibren.  Dem  entspricbt  aucb  die  Scblaff- 
bcit  und  Ausdruckslosigkeit  der  Gcsicbtszuge,  Die  Zunge  vfird  kaiim 


Stupiditat. 


339 


bis  iiber  den  Eand  der  Zahne  vorgestreckt.  Statisches  Zittern  und  In- 
tentionszitteru  ist  zuweilen  vorhanden. 

Die  Beriibrimgsempfindlicbkeit  liisst  sicb  nicht  sicker  priifeu.  Die 
Sckmerzempfindlichkeit  ist  meist  hochgradig  herabgesetzt  oder  vollig 
aufgekoben*)  Zuweilen  treten  leichte,  wakrsckeinlich  mit  den  Circu- 
lationsstorimgen  zusammenkangende  Parasthesien  auf,  welcke  ihrerseits 
stundenlange  automatische  Kratzbewegungen  bedingen  konnen. 

Die  Gaiimen-,  Conjunctival-,  Palpebral-  und  Plantarreflexe  sind  fast 
stets  stark  herabgesetzt  oder  aufgehoben,  die  Cornealreflexe  hingegen 
normal  (Unterschied  gegen  soporose  Zustande).  Das  Verhalten  der  Sehnen- 
plianomene  schwankt  sehr. 

Verlauf.  Zuweilen  entwickelt  sick  die  Krankkeit  pldtzlick  (z.  B. 
im  Anschluss  an  einen  Alfectskock  oder  einen  sckweren  Blutverlust)  j 
kaufiger  geken  monatelang  leichte  Prodromalsymptome  — geistige  und 
korperlicke  Aliidigkeit,  weckselnde  Stimmungsanomalien  — voraus.  In 
letzterem  Falle  steigt  auch  die  Denkhemmung  und  Apatkie  allmaklick  zu 
ibrer  maximalen  Hoke  an.  Im  weiteren  Verlauf  erfakrt  das  Zustands- 
bild  nur  durck  die  oben  erwaknten  voriibergekenden  Erregungszustande 
gelegentlick  eine  Unterbreckung.  Der  Verlauf  ist  fast  stets  ein  sekr 
langwieriger.  Auck  bei  giinstigem  Ausgang  dauert  die  Krankkeit  einige 
Monate,  mitunter  1 Jakr  und  nock  langer.  Gerade  auck  die  leickteren 
Falle  bessern  sick  oft  sekr  langsam.  Nack  der  Genesung  bestekt  meist 
ein  erkeblicker  Erinnerungsdefect, 

A u s g a n g e u n d P r 0 g n 0 s e.  In  ca.  60  % aller  Falle  tritt  Heilung 
ein.  Nickt  selten  ist  Heilung  mit  Defect,  etwas  seltener  secundare  De- 
menz.  Auck  ein  Uebergang  in  secundare  Paranoia  (okne  Intelligenz- 
defect)  kommt  gelegentlick  vor.  Durck  iutercurrente  oder  kinzutretende 
Kiankheiten  (Tuberculose !)  kann  es  zu  todtlickem  Ausgang  kommen. 
In  einigen  Fallen  kommt  es  auck  zu  einem  Ausgang  in  ckronische  Stu- 
piditat, d.  k.  ein  Intelligenzdefect  stellt  sick  nickt  ein,  aber  die  geistige 
und  korperlicke  Ermiidung  und  Hemmung  sowie  die  krankkafte  Apatkie 
sckwinden  nickt  vollig,  sondern  bleiben  dauernd  (meist  mit  mannig- 
facken  Remissionen)  besteken,  Solcke  Kranke  sind  dann  oft  ausser 
Stande  ikren  urspriinglicken  Beruf  (z.  B.  einen  gelekrten  Beruf)  fest- 
zukalten. 

"Varietaten.  Enter  diesen  kommen  namentlick  die  Uebergangs- 


*)  Sehr  bezeichend  fur  den  ganzen  Zustand  sind  folgende  wdrtlich  nachge- 
schriebene  Aeusserungen  in  einem  mittelscbweren  Fall:  „Kaum  hab’  ich  einen  Gedanken 

— 1,  2,  3,  so  ist  er  fort  — ich  weiss  garnicht,  was  mein  Kind  fur  Augen  hat  

nichts  fuhr  ich  — meine  Hand  war  doch  schlimm  (NB.  bezieht  sicb  dies  auf  ein  Tags 
znvor  ohne  jede  Schmerzausserung  erdffnetes  Panaritium),  nichts  hab’  ich  gefuhlt,  Ich 
weiss  garnicht,  wer  mich  hergebracht  hat“. 


22* 


340 


Stiipiditat. 


formen  zur  Melancholie,  zur  halliicinatorischen  stuporcisen  Paranoia 
und  zur  Neurastlienie  in  Betracht.  Die  depressive  Varietat  ist  durcli 
hiiufiges  Auftreten  von  Angstaffecten  und  Depression,  die  hallucina- 
torisclie  Varietat  durcli  liaufigeres  Auftreten  von  Sinnestauschungen,  die 
neurastlienisclie  Varietat  durcli  Hinzutreten  einer  krankliaften  affectiven 
Reizbarkeit  ausgezeiclinet. 

Aetiologie.  Erbliche  Belastung  findet  sicli  in  60  % aller  Fillle, 
Vorwiegend  ist  das  jugendliclie  Alter  der  Kranklieit  ausgesetzt.  Nacli 
deni  35.  Lebensjabr  ist  Stupiditiit  selten.  Sebr  baufig  ist  geistige  Ueber- 
anstrengung  (bei  Gymnasiasten,  Studenten  u.  s.  w.)  von  liervorragender 
atiologisclier  Bedeutung.  Meist  bandelt  es  sicli  dabei  zugleich  uni 
sclilechtgenalirte  oder  durcli  Masturbation  erscbopfte  und  minder  ver- 
anlagte  Individuen.  Gerade  bei  jungen  Leuten,  welclie  trotz  geringerer 
Veranlagung  zu  eineiii  gelehrten  Beruf  gezwungen  werden,  flibrt  die 
intellectiielle  Insufficienz  oft  zum  Ausbrucb  dieser  Psycbose.  In  anderen 
Fallen  uberwiegeii  kbrperlicbe  Schadlichkeiten.  So  ist  z.  B.  korperliclie 
Ueberanstrengung  bei  jugendlichen  Dienstboten  und  Lehrlingen  baufig 
das  entscheidende  iitiologiscbe  Moment.  Ungeniigende  Ernabrung,  un- 
geniigende  Luft  und  ungeniigender  Scblaf  kommen  oft  binzu.  Aiicb  das 
Puerperium  und  namentlicb  gebaufte  Geburten  bedingen  zuweilen  Er- 
krankung  an  Stiipiditat.  In  diesen  Fallen  lassen  sicb  die  Prodronial- 
symptonie  der  Krankbeit  meist  bis  in  die  Mitte  der  Graviditiit  zuiiick- 
verfolgen.  Endlicb  kann  ein  plotzlicber  Affectsbock  oder  ein  einmaliger 
scbwerer  Blutverlust  einen  ganz  acuten  Ausbrucb  der  Stiipiditat  be- 
dingen. 

Diagnose.  Fine  Verwecbslung  ist  bocbstens  niit  der  apatbiscben 
Form  der  Melancbolie  (sowobl  der  Melancbolia  passiva  wie  der  Melan- 
cbolia  attonita)  und  mit  der  stuporosen  Form  der  ballucinatoriscben 
Paranoia  moglicb.  Man  wird  daber,  wenn  man  einen  Kranken  findet, 
welcher  theilnabmslos  ist,  sicb  kaum  bewegt  und  einfacbe  Fragen  nicbt 
beantwortet,  stets  zunacbst  durcb  directe  Fragen  und  Beobacbtung  des 
Gesicbtsausdrucks  und  der  Gesticulation  feststellen  mussen,  ob  Angst 
oder  Hallucinationen  dauernd  besteben  und  dem  stuporosen  Verbalten 
zu  Grunde  liegen.  Nur  wenn  Angst  und  Hallucinationen  nicbt  vorbanden 
sind,  wird  man  Melancbolie  und  Paranoia  ausscbliessen  und  die  Diagnose 
auf  Stupiditat  stellen  konnen.  Genaueres  fiber  die  Differentialdiagnose 
zwiscben  apatbiscber  Melancbolie  und  Stupiditat  ist  unter  Melancbolie 
angegeben. 

Der  Verwecbslung  mit  angeborenem  Scbwacbsinn  ist  durcb  ana- 
mnestiscbe  Erbebungen  leicbt  vorzubeugen.  Die  Dementia  paralytica  scbliesst 
man  durcb  eine  genaue  korperliclie  Untersucbung  aus.  Audi  konimt 
in  Betracbt,  dass  die  Dementia  paralytica  in  der  Regel  nur  bei  Indivi- 


Paranoia. 


341 


duen,  welche  das  30.  Lebensjahr  iiberscliritten  baben,  vorkommt  sowie 
dass  die  Syphilis  bei  ihr  eiue  erhebliche  atiologische  Rolle  spielt. 

Bekommt  man  den  Kranken  zufallig  gerade  in  einem  Erregimgs- 
zustande  zu  Gesicht,  so  wird  man  sich  ohne  genaue  Angaben  der  Ange- 
hbrigen  liber  den  sonstigen  seitherigen  Krankheitsverlauf  vor  der  Ver- 
wechslung  mit  Manie  oder  mit  hallucmatorischer  Paranoia  nicht  schiitzen 
konnen. 

Therapie.  Bei  sehr  giinstigen  hauslichen  Verhaltnissen  und  bei 
Aiisbleiben  der  erwahnteu  intercurrenten  Erregungszustande  kann  der 
sachverstandige  Arzt  in  seltenen  Fallen  die  hausliche  Behandlung  ver- 
suchen.  Meist  ist  die  Ueberfiibrung  in  eine  Anstalt  erforderlich.  Bei 
der  Behandlung  ist  das  Hauptgewicht  auf  Bettruhe  und  Ueberernahrung 
zu  legen.  Eventuell  empfiehlt  sich  eine  Mastkur.  Von  jeder  korperlichen 
Oder  geistigen  Beschaftigung,  von  jedem  langeren  Gesprach,  jedem  Wechsel 
der  Sinneseindriicke  ist  zunachst  durchaus  abzusehen.  K u r z e warme 
Bader  wirken  zuweilen  glinstig.  Medicamentos  kommen  eventuell  Kampher, 
Eisen,  Chinin,  Digitalis  in  kleinen  Dosen  in  Betracht.  Die  inter- 
currenten Erregungszustande  sind  durch  langere  warme  Bader  oder 
hydroj)athische  Einpackungen  zu  bekampfen,  — Bei  sehr  leichten  Fallen 
kann  es  geniigen  den  Kranken  an  einen  Waldort  oder  auf  das  Land 
Zu  schicken  und  einen  regelmassigen  Wechsel  von  kbrperlicher  Kuhe 
(IV2  Stunde)  und  geistiger  Arbeit  Stuude)  und  kbrperlicher  Be- 
wegung  (%  Stunde)  anzuordnen.  Oft  wird  man  einen  Berufswechsel 
empfehlen  miissen  (s.  Aetiologie). 

Pathologische  Anatom ie.  Die  Stupiditat  ist  eine  functionelle 
Psy chose.  Weder  makroscopisch  noch  mikroscopisch  hat  man  post 
mortem  constante  Befunde  feststellen  konnen.  Nur  bei  Ausgang  in 
secundare  Demenz  finden  sich  die  dieser  entsprechenden  pathologischen 
Veranderungen  der  Hirmunde. 


b.  Paranoia. 

Wir  fassen  unter  dem  Begriff  der  Paranoia  alle  diejenigen  functio- 
nellen  Psychosen  zusammen,  deren  Hauptsymptome  primare  Wahnvor- 
stellungen  oder  Sinnestauschungen  sind.  Sind  primare  Wahnvorstellungen 
das  Hauptsymptom,  so  bezeichhet  man  die  Paranoia  als  Paranoia  sim- 
plex; sind  Sinnestauschungen  das  Hauptsymptom,  so  bezeichnet  man 
die  Paranoia  als  Paranoia  hallucinatoria.  Sowohl  die  Paranoia  simplex 
wie  die  Paranoia  hallucinatoria  theilt  man  weiter  in  eine  acute  und  in 
eine  chronische  Form  ein.  So  ergeben  sich  zunachst  4 Hauptformen  der 
Paranoia : 


342 


Paranoia  hallucinatoria  acuta. 


1.  Paranoia  hallucinatoria  acuta. 

2.  Paranoia  hallucinatoria  chronica. 

3.  Paranoia  simplex  acuta. 

4.  Paranoia  simplex  chronica. 

Dazu  kommen  noch  3 wichtige  Varietaten  der  acuten  Paranoia, 
welche  im  Anschluss  an  die  Paranoia  acuta  hallucinatoria  besprochen 
werden  sollen,  namlich  die  ideenfliichtige,  die  stuporose  und  die  inco- 
harente  Form  der  acuten  Paranoia. 

I.  Paranoia  hallucinatoria  acuta. 

Die  acute  hallucinatorische  Paranoia  (Verriicktheit)  ist  eine  functio- 
nelle  acute  Psychose,  deren  dominirendes  Symptom  Hallucinationen  und 
Illusionen  sind.  Aus  den  Hallucinationen  und  Illusionen  entwickeln  sich 
Wahnvorstellungen.*)  Bei  der  typischen  ’ Form  fehlen  alle  paimilren 
Affectstorungen  und  Associationsstdrungen.  Nur  secundare  Affectstorun- 
gen,  welche  dem  Inhalt  der  Hallucinationen  entsprechen  (z.  B.  Angst 
iiber  drohende  Stimmen)  und  secundare  Associationsstdrungen  (z.  B. 
secundare  Ideenflucht  in  Folge  massenhafter  Haufung  von  Sinnestauschun- 
gen)  sind  sehr  haufig.  Desgleichen  sind  die  Stdrungen  des  Handelns 
bei  der  typischen  Form  ausschliesslich  von  den  Hallucinationen  und  den 
aus  ihnen  hervorgegangenen  Wahnvorstellungen  abhangig.**) 

Specie  lie.  Symptom  at  ologie. 

Stdrungen  des  Empfindens.  Das  Hauptsymptom  der  acuten 
hallucinatorischen  Paranoia  sind  die  Sinnestauschungen,  Hallucinationen  - 
wie  Illusionen.  Sie  treten  in  der  ganzen  Mannigfaltigkeit  auf,  welche  ' 

die  allgemeine  Pathologie  kennen  gelehrt  hat.  Meist  iiberwiegen  Ge-  * 

sichtstauschungen.  Die  Mehrzahl  der  Hallucinationen  ist  den  „unver- 
mittelten''  zuzurechnen,  d.  h.  der  Inhalt  der  Hallucinationen  entspricht 
den  momentanen  Vorstellungen  des  Kranken  meist  nicht.  Audi  steheu 
die  Hallucinationen  meist  unter  sich  in  keinem  engeren  Zusammenhang. 

Oft  sind  die  Sinnestauschungen  so  massenhaft  und  so  wechselnd,  dass 
jede  Orientirung  dem  Kranken  unmdglich  wird.  Der  Inhalt  der  Sinnes- 
tauschungen ist  ausserst  verschieden:  Flammen,  Grimassen,  Schatten, 


*)  Oder  vielmehr  sind  die  Hallucinationen  und  Illusionen  bereits  der  Ausdruck 
latenter  Wahnvorstellungen. 

**)  Ueber  die  systematiscbe  Stellung  der  Paranoia  acuta  hallucinatoria  bestehen 
grosse  Meinungsverschiedenheiten.  Manche  recbnen  sie  zur  Manie,  andere  fiihren  sie 
unter  den  verscbiedensten  Namen  (hallucinatorisches  Irresein,  ballucinatoriscber  Wahn- 
sinn,  Amentia  etc.)  als  selbstandige  Psychose  getrennt  von  den  iibrigeu  Paranoia- 
formen  auf. 


Paranoia  hallucinatoria  acuta. 


343 


nackte  Gestalten  iiberwiegen  imter  den  Visionen,  Drohungen,  Schimpf- 
worte,  Anklagen  imter  den  Akoasmen. 

Aiisser  den  Sinnestausclinngen  beobaclitet  man  baiifig  aucb  Hyper- 
astbesie  nnd  Hyperalgesie.  Statt  letzterer  kommt  in  sebr  schweren 
Fallen  sowie  namentlich  bei  den  epileptiscben  nnd  hysteriscben  Formen 
der  aciiten  ballucinatoriscben  Paranoia  (den  sog.  epileptiscben  nnd 
bysteriscben  Dammerzustanden)  aucb  ausgesprocbene  Hypalgesie  nnd 
Analgesic  vor. 

Storungen  des  Vorstellungsablaufs.  Bei  der  typiscben 
Form  bangen  dieselben  ausscbliesslicb  vom  Inbalt  der  Hallucinationen  ab. 
Der  Einfluss  der  letzteren  anf  die  Ideenassociation  ist  in  der  allgemeinen 
Patbologie  ausfiibrlicb  gescbildert  worden  (S.  29).  Bald  uberwiegt  die 
secundare  Hemmung  — so  namentlicb  bei  scbreckbaften,  fascinirenden 
und  mancben  imperativen  Hallucinationen  — , bald  die  secundare  Ideen- 
flucbt  — so  bei  sebr  wecbselnden,  beiteren  Hallucinationen  — , bald 
endlicb  die  secundare  Incobarenz  — bei  massenbafter  Haufung  disparater, 
widersprucbsvoller  Hallucinationen.  In  letzterem  Fade  kommt  es  oft  zu 
volliger  ballucinatoriscber  Unorientirtbeit : der  Kranke  weiss  weder 

Monat  nocb  Jabr  anzugeben,  glaubt  scbon  Jabrbunderte  in  der  Anstalt 
zu  sein,  und  wabnt  sicb  bald  in  dieser,  bald  in  jener  Stadt.  Oft  kommt 
ballucinatoriscbe  Aprosexie  binzu,  seltener  — wenn  namlicb  die  secun- 
dare Ideenflucbt  vorberrscht  — ballucinatoriscbe  Hyperprosexie.  Bei 
Besprecbung  der  Varietaten  der  ballucinatoriscben  Paranoia  wird  ber- 
vorzubeben  sein,  dass  mitunter  nicbt  nim  intercurrent  (d.  b.  gelegentlicb 
und  voriibergebend)  und  secundar,  sondern  zuweilen  aucb  dauernd  und 
primal’  formale  Storungen  des  Vorstellungsablaufs  als  dominirendes  Haupt- 
symptom  in  das  Krankbeitsbild  eintreten. 

Storungen  des  Vorstellungsinbalts.  Mitunter  sind  die 
Sinnestauscbungen  des  Kranken  so  abgerissen,  flucbtig  und  zablreicb, 
dass  eine  Verarbeitung  derselben  zu  Wabnvorstellungen  ausbleibt.  Haufiger 
fiibren  die  Sinnestauscbungen  zur  Bildung  zablreicb er  Wabnvorstellungen. 
Der  Kranke  glaubt,  eine  Feuersbrunst  bedrobe  das  Haus,  seine  Angebbri- 
gen  wurden  gefangen  gebalten,  in  sein  Essen  sei  Gift  gemiscbt,  oder  er  sei 
Kaiser  geworden,  Gott  babe  ibn  zum  Werkzeug  ausgewablt,  seine  Hocb- 
zeit  werde  gefeiert  u.  dgl.  m.  Im  Ganzen  iiberwiegen  die  Verfolgungs- 
ideen  uber  die  Grossenideen.  Sebr  baufig  ist  aucb  ein  allgemeiner 
Vernicbtungswabn : die  Kranken  glauben,  allentbalben  wiitbe  Krieg, 
alles  sei  gestorben,  die  Welt  gebe  unter,  das  jungste  Gericbt  brecbe  an. 
Dazu  kommen  zabllose  Personenverwecbslungen.  In  Folge  von  Illusionen 
werden  Fremde  fiir  Angeborige  gebalten.  Ebenso  werden  die  Gegen- 
stande  verkannt:  das  Gaslicbt  des  Krankenzimmers  wird  zur  „ewigen 
Lampe  einer  katboliscben  Kircbe",  das  Haus  zu  einem  Scbloss  oder  zu 


344 


Paranoia  hallucinatoria  acuta. 


einem  KeAer,  rlie  Ventilationsoffnungen  zu  den  Ausmundungen  unter- 
irdischer  Gange,  aus  dencn  Stimmen  schallen,  loetaubeiide  GerUclic  aus- 
stromen,  elektrische  Entladungen  erfolgen.  Je  nacli  dem  Aiifentlialt 
c er  Bddimg,  den  Lebenserfahrungen  des  Kranken  wechselu  diese  secun- 
dar  aiis  den  Sinnestaiischungen  hervorgegangenen  Wahnvorstellungen  in 
der  allermannigfaltigsten  Weise. 

Lassen  die  Sinnestauschungen  deni  Kranken  nocli  raelir  Zeit  so 
kniipft  er  an  die  immittelbar  aus  den  Sinnestauschungen  hervorgegange- 
nen Wahnideen  weitere  Wahnvorstellungen  an.  Zu  einer  logischen  System- 
bildung  kommt  es  nicht;  dazu  ist  der  Wechsel  der  Sinnestauschungen  bei 
der  acuten  hallucinatorischen  Paranoia  viel  zu  gross.  Daher  stehen  auch 
die  Wahnvorstellungen  oft  in  grellem  Widerspruch  zu  einander.  Eben 
glaubt  die  Kranke  noch,  sie  sei  ^Tanzlehrerin^  weil  sie  fortwahrend  > 
elektrische  Strome  empfindet  und  zugleich  allerhand  hallucinatorische 
Bewegungsempfindungen  in  ihren  Gliedern  fiililt  Oer  sollen  durch  ' 
Elektricitat  Circustanze  eingeiibt  werden");  ini  nachsten  Augenblick 
glaubt  sie,  sie  sei  eine  Pestkranke  („Stimnien  haben  es  mir  gesagt'^) 
und  solle  in  einen  Thurm  gesperrt  werden  u.  dgl.  ni. 

Aufmerksame  Beobachtung  lehrt  weiterhin,  dass  neben  diesen  direct  ; 
Oder  indirect  aus  Sinnestauschungen  hervorgegangenen  secundaren  Wahn-  ' 
vorstellungen  doch  auch  primare  ab  und  zu  auftreten.  Namentlich  sind  ^ 

primare  wahnhafte  Auslegungen,  bei  welchen  Illusionen  oder  Hallucina-  ■ 

tionen  in  keiner  Weise  mitwirken,  nicht  so  selten.  So  sieht  eine  weib- 
liche  Ki  anke  in  der  Badestubc’  auf  einem  Handtuch  die  Initialen  K.  W. 

(=  normale  Sinnesempfindung) ; alsbald  wahnt  die  Kranke,  welche  vorher 
in  ganz  anderen,  hallucinatorischen  Wahnideen  befangen  war,  K.  W. 
bedeute  „Kaiser  Wilhelm‘S,  das  Bad  sei  „ein  Hohenzollernbad'^,  sie  sei 
„eine  natiirliche  Tochter  des  Kaisers (=  primare  wahnhafte  Aus- 
legungen). Schon  im  nachsten  Augenblick  andert  eine  Hallucination 
wiederum  die  Richtung  der  Wahnbildung : sie  riecht  Theer  (=  Hallucina- 
tion) und  wiihnt  nun,  sie  solle  in  Theer  gebadet  werden,  urn  die  Wirkung 
solcher  Theerbader  festzustellen  (=  secundare  hallucinatorische  Wahnidee). 

Viele  Kranke  gelangen  auch  zu  dem  Gesammturtheil,  dass  urn  sie 
her  Theater  gespielt  werde,  dass  die  Mitkranken  verkleidete  Persbnlich- 
keiten  sind  und  sammtlich  eine  bestimmte  Rolle  spielen. 

Zwischen  der  zuerst  beschriebenen  Form  der  hallucinatorischen 
Paranoia,  bei  welcher  die  Massenhaftigkeit  der  Hallucinationen  keine 
Wahnbildung  aufkommen  lasst  und  selbst  den  Zusammenhang  des  Vor- 
stellungsablaufs  vollig  aufhebt,  und  der  zuletzt  erwahnten  Form,  bei 
welcher  im  Anschluss  an  die  Sinnestauschungen  eine  ausgiebige  Wahn- 
bildung stattfindet,  existiren  die  fliessendsten  Uebergilnge. 

Affectstor ungen.  Wie  die  Associationsstdr ungen  sind  auch  die 


Paranoia  hallucinatoria  acuta. 


345 


Affectstorungen  bei  cler  tj^jiscben  Form  sammtiich  secundar.  Hire  Kichtung 
bangt  von  dem  luhalt  der  Halliicinationen  ab.  Daher  findet  man  die  schwer- 
sten  Angstaffecte  neben  der  ungebundensten  Heiterkeit,  brutale  Zornaffecte 
uebeu  religioser  Verziiclmng,  Auch  bei  einem  iind  demselben  Kranken  kom- 
men  entsprechend  dem  wechselnden  Inhalt  der  Sinnestauschungen  nacbein- 
ander  die  verschiedensten  Affecte  vor.  Unter  den  Angen  des  Arztes 
konnen  die  jabesten  Affectscbwankiingen  stattfinden.  In  vielen  Fallen 
ist  allerdings  unverkennbar,  dass  die  Hallucinationen  vorziigsweise  stets 
eine  und  dieselbe  Gefiiblsbetonimg  zeigen,  dass  also  z.  B,  dauernd  bei- 
tere  Sinnestauschungen  oder  dauernd  angstvolle  Sinnestauschungen  vor- 
berrscben.  In  diesen  Fallen  ist  selbstverstandlicb  auch  die  secundare 
Afifectstorung  eine  einbeitlicbere : wocben-  und  monatelang  berrscbt 
secundare  beitere  Exaltation  oder  secundare  Angst  oder  religiose  Ver- 
zuckung  u.  s.  w.  vor.  Scbon  in  diesen  Fallen  konnte  man  vermutben,  dass 
die  einbeitlicbe  Gefiiblsbetonung  der  Sinnestauschungen  darauf  bindeutet, 
dass  docb  neben  den  Hallucinationen  eine  primare  Affectstorung  mit- 
wirkt,  dass  die  Affectveranderungen  mitbin  nicbt  lediglicb  als  secundare 
Folgeerscbeinungen  der  Hallucinationen  anzuseben  sind.  Ganz  unzweif el- 
baft  ist  dies  in  anderen  Fallen,  in  welcben  vom  Beginn  der  Krankbeit 
an  entweder  gelegentlicb  oder  dauernd  eine  krankbafte  Exaltation  oder 
Depression  auftritt,  fur  die  eine  ausreicbende  Erklarung  in  den  jeweili- 
gen  Sinnestauschungen  nicbt  aufzufinden  und  die  desbalb  als  primar 
aufzufassen  ist.  Namentlicb  ist  das  intercurrente  Auftreten  primarer 
Angstaffecte  nicbt  eben  selten.  Das  dauernde  (mitunter  geradezu 
das  Krankbeitsbild  beberrscbende)  Auftreten  primarer  Exaltation  bezw. 
Depression  ist  am  baufigsten  bei  der  ideenflilcbtigen  Varietat  bezw.  bei 
der  stuporosen  Varietat  der  acuten  Paranoia  (siebe  unten).  Die  primare 
Exaltation  verbindet  sicb  bier  mit  primarer  Ideenflucbt,  die  primare 
Depression  (und.  Angst)  mit  Denkbemmung. 

Stbrungen  des  Handelns.  Das  ausserlicbe  Bild,  welches  Kranke 
mit  ballucinatoriscber  Paranoia  darbieten,  ist  ungemein  verscbieden.  Bei 
der  typiscben  Form  bangt  das  motoriscbe  Verbalten  ganz  von  dem 
Inbalt  der  Hallucinationen  und  Wabnvorstellungen  ab.  Am  baufigsten 
iiberwiegt  der  agitirende  Einfluss.  Daber  findet  man  ungemein  ban  fig 
eine  continuirliche  oder  remittirende  tobsiicbtige  Erregung.  Bald  ist 
dabei  Angst,  bald*  Zorn,  bald  Heiterkeit  der  treibende  Affect.  Dement- 
sprecbend  iiberwiegen  bald  Jammerscbreie  und  Flucbtversucbe , bald 
Tbatlicbkeiten  gegen  die  Umgebung,  bald  Singen  und  Tanzen.  Oft  ist 
die  motoriscbe  Agitation  auch  lediglicb  auf  die  Massenbaftigkeit  der  zu- 
strbmenden  patbologiscben  Empfindungen  zuriickzufiibren,  obne  dass 
Affecte  in  erbeblicberem  Maasse  mitwu’ken.  Ebenfalls  sebr  baufig  ist 
eine  ausgepriigte  motoriscbe  Hemmung  und  zwar  fast  stets  in  katatoni- 


346 


Paranoia  hallucinatoria  acuta. 


schei  Foim,  einfacliG  RGSolution  ist  selir  sslten.  DIgsg  IlGniniung  ist 
bald  durch  HallucinationGn  dGS  MuskGlgGfiihls  bGdingt,  bald  handGlt  gs 
sich  urn  bGangstigGndG  odGr  fascinirGiidG  VisionGu*)  odGr  droliGndG 
StimiiiGn.  WGnn  diG  SinnGstauscliungGn  massGnhaftGr  aufti'GtGn  und  zu- 
glGich  aiissGr  allGin  ZusaiirniGnbang  untGiGinandGi-  stGbGn,  so  kommt  gs 
zii  GiiiGr  liocbgradigGn  SGCundarGu  IncoharGiiz  dGr  BGWGgungGn  und 
HaudlimgGn  dGS  Kraukon.  Planlos  irrt  gi-  umliGr.  Er  fasst  unzahligG 
DingG  obuG  ZwGck  an.  KatatoniscliG  StGllungGn  wGchsGln  I’GgGllos  mit 
sinnlosGr  Agitation.  Oft  kommt  gs  zu  dGn  wildGstGn  JactationGii, 
wgIcIig  aiif  dGn  UnGrfabrGUGn  gGradGzu  dGn  Eindruck  dGr  AtaxiG  odGr 
dGr  ChorGa  macliGn  konnGn. 

Aussgi'  diGSGn  SGCundarGn  StbrungGn  dGr  motoriscliGn  AssociationGn 
(sGcundai-G  BGSchlGimigung,  sGcundarG  HGmmung  und  sGcundarG  Inco- 
liarGnz)  kommGn  bGi  bGstimmtGu  VariGtatGu  dGr  acutGn  Paranoia  dio- 
SGlbon  formalon  Storungon  dor  motoriscbon  Association  auch  primar, 
d.  li.  unabliangig  von  SiijnGstauschungGn  und  WabnvorstGllungGn,  dauGrnd 
im  KrankboitsYGrlauf  vor.  So  kommt  dor  idGGnfliiclitigGn  Form  dor 
Paranoia  primarG  Agitation,  dor  stuporosGU  Form  primarG  motoriscbG 
HGmmung  und  dGr  incoharGutGu  Form  primarG  Dissociation  zu.  Audi 
iutGrcurrcnt  wcrdcn  voriibGrgGbGndG  primarG  motoriscliG  Associations- 
storungGn  bGi  dGr  hallucinatoriscliGn  Paranoia  ab  und  zu  boobachtot. 

Dio  GinzGluGn  Handlungon  und  Bowogungon  dos  acuton  ballucinato- 
riscliGn  Paranoikors  zoigGu  SGlbstvorstandlicli  Gutprochond  dGm  mannig- 
faltigGn  Inhalt  dGr  zu  GrundG  liGgGudGu  SinnGstauschungGn  und  Wahn- 
vorstGllungGn  din  allGrGrhGblichstGn  VGrschiGdGuhGitGn.  WahrGud  das 
allgGiiiGinG  OGbahrGu  allGr  ManiakaliscliGn  (und  GbGnso  allGr  MGlancho- 
liscliGn)  sGlir  ahnlich  ist,  glGicht  kaum  Jg  Gin  ParanoikGr  GinGm  andGi’Gn 
und  auch  cin  und  dcrsclbc  Paranoikcr  handdt  und  bcwGgt  sich  oft  hcutc 
ganz  andcrs  wic  morgen.  Wenn  trotzdem  der  aufmerksaniG  BGohachter 
gGwisse  Typen  aus  der  MannigfaltigkGit  der  motorischen  Bilder  abzuson- 
dern  und  oft  auch  bei  dem  einzelnen  Paranoiker  bei  allem  Wechsel  der 
Handlungeu  und  Bewegungen  manche  constante  Ziige  in  dem  motori- 
schen  Bilde  zu  erkennen  vermag,  so  beruht  dies  darauf,  dass  einerseits 
die  soeben  erwahnten  formalen  motorischen  Associationsstorungeu  den 
verschiedenen  motorischen  Bildern  ein  gemeinsames  Geprage  verleihen 
und  dass  andrerseits  bestimmte  Hallucinationen  bei  Individuen  ahnlichen 
Bildungsgangs  und  ahnlicher  socialer  Stellung  immer  wiederkehren  und 
auch  bei  dem  einzelnen  Individuum  entsjirechend  seinem  Bildungsgange, 
seiner  socialen  Stellung  und  seiuen  letzten  Erlebnissen  im  Verlauf  der 
Krankheit  oft  eine  gewisse  Constanz  zeigen. 

K or  perl  idle  Symptome.  Die  Ernahrung  des  Kranken  leidet 


*)  Vergleiche  Fig.  5 der  i)hysiognomisclien  Tafehi. 


Paranoia  halliicinatoria  acuta. 


347 


iu  cler  Regel  sehr  erheblich.  Aiich  ohne  class  es  zii  Nahrungsver- 
weigeriiug  oder  zu  schwerer  Tobsuclit  kommt,  uimmt  das  Korpergewicht 
zuweileu  iu  der  Woche  um  2 Kilo  ab.  Die  vasomotoriscben  Erscheinungen 
sind  sehr  wechselnd.  Das  Piilsbild  deutet  meist  aiif  eine  vermehrte 
Spauuuug  der  Arteriemvande  (Erregungsaffecte),  zuweileu  auf  eiue  spasti- 
sohe  Coutractiou  der  periphereu  Arterieu.  Die  Tagescurve  der  Korper- 
teuiperatur  zeigt  sehr  uuregelmassige  Schwaukuugeu.  Iu  deujeuigeu 
Fallen,  welche  iiuter  schwerer  lucoharenz,  Uuorieutirtheit  iiud  Agitation 
verlaufeu,  kommt  es  oft  zu  hoheu  Fieberbewegungen  (bis  liber  40°). 
Das  Zustandsbild,  welches  solche  Kranke  darbieten,  wire!  auch  als 
Delirium  acutum  bezeichuet. 

Nicht  selten  besteht  — nameutlich  bei  jugeudlicheu  ludividueu  — 
auch  Starke  Salivation.  Die  Salzsauresecretiou  des  Magens  ist  bfter  ge- 
steigert  als  herabgesetzt.  Stuhlgaug  imd  Menstruation  zeigeu  grosse 
Unregelmiissigkeit. 

Reflexe,  Motilitat  imd  Seusibilitat  sind  iu  uncomplicirteu  Fallen 
meist  normal.  Die  Sehnenphauomene  sind  oft  stark  gesteigert ; zu  Fuss- 
klonus  kommt  es  jedoch  selten.  Druckpunkte  sind  — von  der  Compli- 
cation mit  Hysteric  oder  Neurasthenie  ganz  abgesehen  — ofter  anfzu- 
finden,  namentlich  bei  jugeudlicheu  ludividueu.  Das  Gesichtsfeld  ist 
zuweileu  erhebhch  eiugeschrankt.  Der  Analgesic,  welche  die  epileptischeu 
uud  hysterischeu  Dammerzustande  begleitet,  wurde  obeu  bereits  gedacht. 
Bei  uicht-epileptischen  uud  uicht-hysterischeu  ludividueu  ist  dieselbe  selten. 

Verl  auf.  Die  acute  halluciuatorische  Paranoia  wird  fast  stets 
von  eiuem  Prodromalstadium  eingeleitet.  In  diesem  kommt  dem  Kranken 
seine  eigeue  Person  uud  seine  Umgebung  verandert  vor.  Geheimniss- 
volle  Beziehungeu  scheineu  ihm  zu  bestehen.  Mehr  uud  mehr  beschleicht 
ihn  ein  Gefiihl  der  Unheimlichkeit.  Jeden  Vorgang  in  der  Ausseuwelt 
bringt  er  mit  seiner  Person  in  irgend  eine  Verkniipfung ; er  fiihlt  sich 
allenthalben  beobachtet  und  bedroht.  „Es  war  mir,  als  ginge  unsichtbar 
und  schweigend  eine  Gestalt  immer  neben  oder  hinter  mir  her.^^  Schon 
in  diesem  Stadium  treten  illusionare  Falschungen  der  Empfindungen  auf. 
Die  Phantasie  des  Kranken  spielt  ihm  allerhand  Streiche.  Er  glaubt 
in  unbekannten  Personen  verldeidete  Bekannte  zu  sehen  und  traumt 
sich  in  allerhand  phantastische  Situationen  hinein.  Dabei  wird  der 
Schlaf  mangelhaft.  Oft  stellen  sich  heftige  Kopfschmerzen  und  Con- 
gestionen  ein.  Die  Traume  sind  mitunter  in  ganz  auffalliger  Weise 
vermehrt  und  krankhaft  lebhaft.  Oft  aussert  der  Kranke  selbst,  er 
fiirchte  wahnsinnig  zu  werden. 

Dies  Prodromalstadium  zieht  sich  mitunter  eiuige  Monate  hin,  ab 
und  zu  dauert  es  nur  wenige  Tage.  Das  Hauptstadium  der  Krankheit 
entwickelt  sich  meist  im  Anschluss  an  diese  Prodromalsymptome  ausserst 


348 


Paranoia  hallucinatoria  acuta. 


rascli.  Massenliafte  Hallucinationen  und  Illusionen  setzen  ein,  Nicht 
selten  siud  dieselben  schon  am  ersten  oder  zweiten  Tage  so  zahlreich 
und  so  iiberwaltigend,  dass  die  Orientirimg  des  Kranken  vollstaiidig 
aiiigelioben  wird.  So  kommt  es,  dass  die  Kranken  sich  oft  verlaufen, 
planlos  foitreisen  oder  vagabundiren.  Auf  Grund  der  Hallucinationen 
stellt  sicli  nun  entweder  ein  katatonischer  Ilemmungszustand  ein  oder 
es  kommt  zu  einem  Ausbruch  scliwerer  Agitation.  Im  ersteren  Falle 
verlauft  die  Psychose  unter  dem  Bilde  des  Pseudostupors,  im  letzteren 
steigert  sicli  die  Erregung  oft  zu  ausgepragter  Tobsucht.  Eine  scharfe 
Grenze  existirt  nicht.  Nicht  selten  wird  der  Pseudostupor  von  Erregungs- 
anfallen  und  die  Agitation  von  episodischen  Zustanden  eines  Pseudo- 
stupors unterbrochen. 

Der  Gesammtverlauf  erstreckt  sich  durchschnittlich  iiber  etwa  sechs 
Monate.  Doch  existiren  Falle  — ganz  ahgesehen  von  den  oft  peracut 

verlaufenden  hallucinatorischen  Dammerzustiinden  der  Epileptiker  , 

in  welchen  die  Psychose  innerhalb  einiger  Tage  oder  Stunden,  also  ganz 
unter  dem  Bild  des  sog.  transitorischen  Irreseins  ablauft.  Andrerseits 
dauert  die  Psychose  zuweilen  iiber  ein  Jahr  und  geht  schliesslich  doch 
noch  in  vollstandige  Heilung  iiber.  Sehr  oft  ist  der  Verlauf  ein  remit- 
tirender.  Ungemein  haufig  kommt  es  auch  noch  im  Verlauf  der  Recon- 
valescenz  zu  schweren  Riickfallen. 

Aus gauge  und  Prognose.  Die  acute  hallucinatorische  Paranoia 
geht  aus  in 

1.  Heilung 

oder  2.  Heilung  mit  Defect 

oder  3.  secundare  Demenz 

oder  4.  chronische  hallucinatorische  Paranoia 

oder  5.  Tod. 

Heilung  ohne  Defect  tritt  in  fast  70%  aller  Fiille  ein.  Aller- 
dings  ist  hierzu  zu  bemerken,  dass  Recidive  bei  der  acuten  hallucina- 
torischen Paranoia  ungemein  haufig  sind.  Nicht  selten  beobachtet  man 
dass  bereits  1 — 2 — 3 Jahre  nach  vollstandiger  Heilung  die  Psychose 
wiederkehrt.  Ein  solches  Recidiv  kann  wieder  heilen,  aber  haufig  er- 
folgt  schliesslich  bei  dem  3.  oder  4.  Recidiv  doch  der  Ausgang  in  secun- 
dare Demenz  oder  chronische  hallucinatorische  Paranoia.*)  Dauernd 
gesund  hleiben  kaum  30%  (liber  zehn  Jahre  ca.  40%).  Heilung  mit 
Defect  beobachtet  man  namentlich  bei  Individuen,  deren  geistige  Ver- 
anlagung  von  jeher  etwas  minderwerthig  war,  ferner  nach  sehr  lang- 
wierigem  Krankheitsverlauf.  Mitunter  gleicht  sich  iibrigens  ein  solcher 

*)  In  dem  ausgesprochen  remittirenden  Character  der  letzteren  verrilth  sich 
dann  zuweilen  noch  lange  diese  Entstehung  aus  successiven  Recidiven  einer  acuten 
hallucinatorischen  Paranoia. 


Paranoia  hallucinatoria  acuta. 


349 


Defect  bei  sorgfaltiger  arztlicher  Erziehung  allmablich  wenigstens  theil- 
weise  wieder  aus. 

Se  cun  dare  Demenz  beobacbtet  man  bei  wenigstens  15%  aller 
Falle.  Dieser  ungiinstige  Ausgang  kiindigt  sicb  bei  der  tyiDischen  Form 
meist  dadurch  an,  dass  die  Kranken  auch  ausserhalb  ibrer  ballucina- 
toriscben  Erregimg  verwirrt  sprechen  und  albern  antworten.  Das  Handeln 
und  die  Affecte  der  Kranken  stehen  mit  iliren  Sinnestauscbungen  und 
Wabnvorstellimgen  nicht  mehr  im  Einklang.  Das  Kbrpergewiclit 
nimmt  zu,  obne  dass  psychisclie  Besserung  bemerklich  wird.  Der  auf- 
merksame  Beobacbter  entdeckt  diese  Spuren  des  intellectuellen  Verfalls 
oft  scbon  sebr  friih.*)  Gerade  bei  jugendlichen  Individuen  ist  der 
Ausgang  in  secundare  Demenz  besonders  zu  fiirchten. 

Der  Uebergang  in  chronische  ballucinatoriscbe  Paranoia 
vollzieht  sick  entweder  in  der  oben  erwabnten  Weise  durch  fortwabrenden, 
in  immer  klirzeren  Zwiscbenraumen  erfolgenden  Eintritt  von  Kecidiven 
Oder  aucb  direct  im  Anschluss  an  einen  einzelnen  acuten  ballucinatoriscben 
Anfall.  Im  letzteren  Fall  fallt  auf,  das  der  Kranke  auch  in  Stunden, 
wo  die  Hallucinationen  nacblassen,  ganz  unter  dem  Einfluss  der  aus  den 
Hallucinationen  abgeleiteten  Wabnvorstellungeu  stebt.  Die  unmittelbare 
und  intensive  Wmkung  der  Hallucinationen  auf  die  Alfecte  erliscbt.  Die 
Wabnbildung  iiberwiegt  iiber  die  ballucinatoriscben  Vorgiinge.  Unter 
den  Hallucinationen  selbst  erlangen  bei  Uebergang  in  cbroniscben  Verlauf 
oft  die  Geborstauscbungen  in  ganz  auffalliger  Weise  das  Uebergewicbt 
iiber  die  Gesicbtstauscbungen, 

Todtlicber  Ausgang  ist  bei  den  unter  dem  Bild  des  Delirium 
acutum  verlaufenden  Fallen  sebr  baufig,  Aucb  Abstinenz  fiibrt  ge- 
legentlich  zum  Tode.  Endlicb  ist  der  Selbstmord  aucb  bei  dieser  Psy- 
cbose  unter  den  Todesursacben  aufzufubren. 

Varietaten.  Die  wicbtigsten  Varietiiten  der  acuten  ballucina- 
toriscben Paranoia  kommen  dadurch  zu  Stande,  dass  zu  den  Haupt- 
symptomen  der  Psychose,  den  Sinnestauscbungen  und  Wabnvorstellungen 
entweder  primare  Associationsstorungen  oder  prim  are  Affectstorungen 
hinzutreten.  Diese  primaren  Associationsstorungen  sind.  Ideenflucbt, 
Denkhemmung  und  Incobarenz;  sie  sind  stets  mit  den  entsprecbenden 
motoriscben  Storungen  (Agitation,  motoriscbe  Hemmung,  motoriscbe  In- 
coharenz)  verbunden.  Die  primaren  Affectstorungen  sind:  Exaltation 
und  Depression;  zu  ersterer  treten  baufig  Zorn-,  zu  letzterer  Angst- 
affecte  binzu.  Das  Cbaracteristiscbe  dieser  Varietaten  liegt  nicbt  darin, 
dass  uberbaupt  Ideenflucbt  oder  Denkhemmung  oder  Incobarenz  oder 
Exaltation  oder  Depression  bei  einer  acuten  ballucinatoriscben  Paranoia 

*)  Mitunter  ist  der  Psychose  geradezu  von  Anfang  an  der  Stempel  eines  pro- 
gressiven  intellectuellen  Verfalls  aufgedruckt. 


3f)0 


Paranoia  liallncinatoria  acnta. 


aiiftreten,  sonilern  dariu,  dass  diese  Storungen  primar  auftreten,  d.  h 
imabhangig  von  Halluciiiationen  iind  Wahnvorstellungen.  Oben  wurde  aus- 
driicldicb  betont,  dass  seen n dare  Associations-  und  Affectstdrungen 
ungemein  liaufig  und  gewissermaassen  selbstverstiindlich  entspreebend  dem 
Inhalt  der  jeweiligen  Hallucinationen  und  Wahnvorstellungen  auftreten. 
Dass  dem  Kranken,  welchem  eine  Stimme  den  Tod  droht,  ^die  Gedanken 
stillstehen,  und  eine  schwere  Angst  ankommD',  ist  aus  der  Hallucination 
ohne  Weiteres  verstandlich : Denkheminung  und  Angst  sind  hier  nicht 
als  neues  Krankheitssymptom  aufzufassen,  sondern . lediglich  secundar. 
Solche  Falle  bleiben  durchaus  im  Rahmen  der  typischen  hallucina- 
torischen  Paranoia.  Nun  wurde  jedoch  schon  oben  erwiihnt,  dass  ab 
und  zu  inter  cur  rent  auch  primare  Associationsstdrungen  und  pri- 
mar e Affectstdrungen  auftreten.  Der  Kranke  hat  z.  B.  einen  mehr- 
stiindigen  Angstanfall,  ohne  dass  irgend  eine  Sinnestauschung  oder  Wahn- 
vorstellung  fiir  denselben  verantwortlich  gemacht  werden  kdnnte.  Auch 
dies  in  ter  cur  rente  Auftreten  primarer  Associations-  und  Affect- 
stdrungen ist  uoch  nicht  wichtig  genug,  urn  auf  Grund  desselben  be- 
sondere  Varietiiten  der  acuten  hallucinatorischen  Paranoia  aufzustellen. 
Nun  kommen  jedoch  eben  dieselben  primar en  Associationsstdrungen 
und  Affectstdrungen  nicht  nur  intercurrent,  sondern  nicht  selten  auch 
dauernd  im  Krankheitsbild  neben  den  Hallucinationen  und  Wahnvor- 
stellungen vor.  So  entstehen  einige  wichtige  Varietaten  der  acuten 
hallucinatorischen  Paranoia.  Es  sind  dies: 

1.  Die  ideenfluchtige  Form:  mit  dauernder  primarer  Ideenflucht 
(Associationsbeschleunigimg) 

2.  Die  stupordse  Form:  mit  dauernder  primarer  Denkhemmung 
(Associatiousverlaugsamung) 

3.  Die  incoharente  Form:  mit  dauernder  primarer  Incohiirenz 
(Dissociation) 

4.  Die  exaltirte  Form:  mit  dauernder  primarer  heiterer  Ver- 
stimmung 

5.  Die  depressive  Form:  mit  dauernder  primarer  trauriger  Ver- 
stimmung. 

Da  die  dauernde  primare  heitere  Exaltation  fast  nie  ohne  eine  dauernde 
Associationsbeschleunigimg  und  die  dauernde  primare  Depression  fast 
nie  ohne  eine  dauernde  Associationsverlangsamung  vorkommt,  so  fiillt 
die  Varietiit  4 im  Wesentlichen  unter  die  Varietilt  1,  die  Varietiit  5 
unter  die  Varietiit  2.  Es  sollen  daher  auch  die  primare  dauernde  Exal- 
tation und  Depression  in  die  Besprechung  der  Varietaten  1 und  2 
bereits  hineingezogen  werden. 

1,  Die  ideenfluchtige  Varietiit,  Ihre  Hauj)tsymptome  sind 
nach  Obigem  Hallucinationen  nebst  secundiiren  Wahnvorstellungen  und 


Paranoia  hallncinatoria  acuta. 


351 


primare  Ideeufliiclit  nebst  entsprecliender  motorisclier  Agitation.  Dazii 
Ivommt  oft,  aber  nicht  stets,  eiue  ausgesprocbene  primare  Exaltation. 
Der  Inhalt  der  Hallncinationen  entspricht  im  Ganzen  der  heiteren  Affect- 
lage;  unter  den  Wahnvorstellimgen  iiberwiegen  daher  Grbssenideen. 
Zuweilen  kommt  es  bei  hochgradiger  Steigerimg  der  Associationsbe- 
schleunigimg  zn  secimdarer  sog.  ideenfliichtiger  Incoharenz.  Oft  kommt 
es  zn  Verbigeration  und  Keimen.  Offenbar  stellt  diese  ideenfliichtige 
Varietiit  der  acuten  hallucinatorischen  Paranoia  eine  Uebergangsform 
von  der  letzteren  ziir  Manie  dar.  Stellt  man  sich  vor,  dass  die  Hallu- 
cinationen  mehr  nnd  mehr  zuriicktreten  und  die  primare  Ideenflucht  und 
die  Exaltation  mehr  und  mehr  das  Krankheitsbild  allein  beherrschen,  so 
ist  der  Uebergang  in  Manie  gegeben.  In  der  That  werden  zwischen  der 
hallucinatorischen  Varietat  der  Manie  und  der  ideenfliichtigen  Varietat 
der  Paranoia  ganz  fliessende  Uebergangsfalle  beobachtet. 

2.  Die  stupo rose  Varietat.  Ihre  Hauptsymptome  sind  Hallu- 
cinationen  nebst  secundaren  Wahnvorstellungen  und  primare  Denkhem- 
mung  nebst  entsprechender  motorischer  Hemmung.  Dazu  kommt  zuweilen, 
aber  nicht  stets  eine  ausgesprochene  primare  Depression  (mit  oder  ohne 
Angst).  Der  Inhalt  der  Hallncinationen  entspricht  in  letzterem  Falle 
im  Ganzen  der  Depression;  unter  den  Wahnvorstellungen  iiberwiegen 
Verfolgungs-,  Verarmungs-  und  Verschuldungsideen.  Die  motorische 
Hemmung  ist  meist  eine  katatonische.*)  Oft  wird  sie  plotzlich  durch  ein 
Aufspringen  des  Kranken,  welchem  z.  B.  eine  Stimme  einen  Befehl  zu- 
ruft,  unterbrochen.  Oft  besteht  tagelang  Mutismus.  Nur  langsam, 
unter  ofterem  Stocken  fiihrt  der  Kranxe  den  Loffel  zum  Mund,  oft  absti- 
nirt  er.  Auf  Fragen  antwortet  er  garnicht  oder  ausserst  langsam. 
Ganz  einfache  Eechenbeispiele  werden  oft  nicht  gerechnet.  Schwer- 
besinnlichkeit  und  Aprosexie  fehlen  niemals.  Bald  stellt  diese  stuporose 
Varietat  eine  Uebergangsform  der  acuten  hallucinatorischen  Paranoia 
zur  Melancholie  bald  eine  solche  zur  Stupiditat  dar,  je  nachdem  die 
Hemmung  mehr  die  Association  selbst  betrifft  und  Depression  vorherrscht 
oder  die  Hemmung  mehr  die  Erinnerungsbilder  betrifft  und  Apathie  vor- 
herrscht. In  der  That  beobachtet  man  oft  genug  Falle,  welche  zwischen  der 
hallucinatorischen  Varietat  der  Melancholie  und  der  stuporosen  Varietat 
der  acuten  hallucinatorischen  Paranoia,  oder  andere,  welche  zwischen  der 
hallucinatorischen  Varietat  der  Stupiditat  und  der  stuporosen  Varietat 
der  acuten  hallucinatorischen  Paranoia  fliessende  Uebergange  darstellen. 

Sehr  haufig  tritt  die  ideenfliichtige  Form  mit  der  stuporosen  Form 
zu  einem  sog.  Zirkel  zusammen.  Bald  hat  es  mit  einem  solchen  Zii-kel 
sein  Bewenden,  bald  wiederholt  sich  derselbe  regelmassig  in  be- 

*)  Fig.  9 der  physiognomischen  Tafeln  giebt  den  Gesicbtsausdruck  und  die 
Haltung  einer  acuten  stuporosen  Paranoia  wieder. 


352 


Paranoia  hallucinatoria  acuta. 


stimmten  Intervallen.  Man  bezeichnet  diese  Form  des  circularen 
Irreseins  aiich  kurz  als  ,;Circulare  Paranoia^^  In  der  Pubertat 
beobachtet  man  nicbt  selten  eine  circuliire  Paranoia,  bei  welcber  sich 
imregelmassig  stets  ideenfliicbtig-heitere  und  stuporos-depressive  Phasen 
ablosen.  Intervalle  feblen  moist  ganz.  Aucb  ist  die  Prognose  im  Gegen- 
satz  zu  der  eigentlichen  regelmassigen  circularen  Paranoia  giinstig. 

Die  Prognose  der  ideenfliiclitigen  und  der  stuporosen  Varietat  ist 
eber  glinstiger  als  diejenige  der  typischen  acuten  liallucinatorisclien 
Paranoia,  Namentlicli  ist  bei  der  ideenfliichtigen  Form  der  Ausgang  in 
secundare  Demenz  sebr  selten, 

3,  Die  incobarente  Varietat,  Ihre  Hauptsymptome  sind  Hallu- 
cinationen  nebst  secundaren  Wabnvorstellungen  und  prim  are  Inco- 
barenz  des  Vorstellungsablaufs  nebst  entsprecbender  motoriscber  Inco- 
barenz,  Stets  besteht  eine  ausgesprocliene  primare  Unorientirtheit,  Die 
motorische  Incoharenz  fiibrt  oft  aucb  zu  Paramimie  und  zu  Pseudopara- 
pbasie.  Die  alfectiven  Erregungen  zeigen  ganz  regellose  Scbwankungen. 
Zuweilen  berrscbt  im  Ganzen  Exaltation,  zuweilen  Depression  vor,  Aucb 
Ideenflucbt  oder  Denkbemmung  konneu  als  complicirende  Symptome  bin- 
zutreten,  Im  Ganzen  kommt  ofter  motoriscbe  Agitation  als  motoriscbe 
riemmung  zu  der  Incobareuz  binzu,  Daber  kommt  es  baufig  zu  den 
in  der  allgemeinen  Patbologie  genauer  besprocbenen  sinnlosen  und  rtick- 
sicbtslosen  Jactactionen,  welcbe  fruber  aucb  als  Cborea  magna  bescbrieben 
wurden,  Gerade  in  diesen  Fallen  scbwerster  Incobarenz  mit  Agitation 
tritt  oft  aucb  Fieber  auf  (bis  uber  40  ”) : so  kommt  die  scbon  ofter  er- 
wiibnte  lebensgefiibrlicbe  Symptomtrias  des  sog.  Delirium  acutuni  zu 
Stande,  — Nicbt  selten  tritt  die  primare  Incobarenz  ganz  in  den  Vorder- 
grund,  Sinnestauscbungen  und  Wabnvorstellungen  treten  mebr  zuriick 
und  konnen  sogar  tage-  und  wocbenlang  wabrend  des  Krankbeitsverlaufs 
ganz  ausbleiben, 

Aucb  der  Verlauf  der  incobarenten  Form  bat  viel  Eigentbiimlicb- 
keiteu.  Oft  gebt  monatelang  dem  Ausbrucb  der  Krankbeit  ein  excentri- 
scbes,  exaltirtes  Gebabren  voraus.  Von  jenem  eigentbiimlicben  Gefiibl 
des  Misstrauens  und  der  Unbeimlicbkeit,  mit  -welcbem  die  typiscbe  Form 
einsetzt,  ist  keine  Rede,  Die  eigentlicbe  Krankbeit  d,  b,  ibr  Haupt- 
stadium  setzt  in  der  Regel  sebi’  plotzlicb  mit  einer  rascb  zunebmenden 
Incobarenz  ein,  Dem  gebildeten  Kranken  „fallt  die  Correspondenz 
scbwer^O  ©i’  verliert  den  Faden  und  versetzt,  verwecbselt  und  verscbreibt 
die  Worte,  Die  gewobnlicben  Handlungen  des  Tages  verlieren  ihren 
Zusammenbang  und  ibr  Ziel,  Angst  wird  meist  bestimmt  in  Abrede 
gestellt,  ofter  wird  iiber  „Hitze  und  Unrube  im  Kopf“  geklagt,  Ein 
unbeimlicbes  paramimiscbes  Lacben  erscbeint  — dem  Kranken  selbst 
ratbselbaft  — auf  dem  Gesicbt,  Am  nacbsten  Tage  spricbt  der  Krauke 


I’iiranoia  ballucinatoria  acuta. 


auiTiillig  viol.  Dabei  verliert  er  den  Fadeu  oft.  Er  fiirclitet,  nicht  ver- 
standeu  zii  werden.  Um  sich  siclier  verstaudlich  zu  machen  und  Zeit 
zu  rich  tiger  Gedankenbildung  zii  gewinnen,  spreohen  die  Kranken  in 
abgesetztem  saccadirteni  Ton,  oft  auffallig  laiit,  keineswegs  rasch;  alle 
Silben  werden  seltsain  scharf  ansgesprochen.  Der  Kranke  ruft  den  Arzt 
imnier  wieder  zuriick : er  will  ihm  seinen  Zustand  erklaren  und  vermag  es 
nicht.  Hallucinationen  und  Illusionen  fehlen  oft  vollkommen.  Die  Wiinsche 
des  Kranken  sind  ganz  zusammenhangslos,  zum  Theil  widersprechen  sie 
sich , direct.  In  die  Satzbildung  schleichen  sich  mehr  und  mehr  Anako- 
luthe  ein.  In  deni  rathlosen  Gesicht  des  Kranken  malt  sich  Verzweiflung 
hber  den  rapid  zunehmendeu  Zerfall  des  Denkens.  Um  die  Gedanken 
zusammenzuhalten,  will  der  Kranke  alles  niederschreiben,  aber  das  Ge- 
schriebene  verliert  gleichfalls  alien  Ziisammenhang.  Fortwahrend  drangen 
sich  Zwischengedanken  ein.  Manche  Siitze  bleiben  bereits  unverstandlich. 
Es  „grant"  dem  Kranken  „vor  sich  selbst^^  Er  bittet  den  Arzt,  ihm 
wieder  in  den  Gedankengang,  ja  selbst  in  die  Satzconstruction  hinein- 
zuhelfen.  Bald  entstehen  minutenlange  Pausen,  bald  fliessen  die  Worte 
rasch,  aber  zusammenhangslos.  Das  Mienenspiel  verandert  sich:  die.  Stirn 
wil'd  motivlos  gernnzelt,  der  Mund  gespitzt,  die  Nasenfliigel  zucken  ofter. 
Die  Gesticulation  entspricht  dem  Affect  und  den  Worten  nicht  mehr. 
Oft  hat  sie  etwas  Theatralisches.  Nach  eiuigen  Tagen  spricht  der  Kranke 
nicht  mehr  immer  in  Satzen.  Oft  ist  der  Sinn  kanm  zu  erkennen. 
Anfangs  sucht  der  Kranke  durch  Saccadiren  oder  scheinbar  katatonisches 
Wiederholen  vergebeus  den  Ziisammenhang  wiederziigewinuen.  Mutismiis 
mid  iiberhastetes  Sprechen  losen  sich  ab.  Das  Geberdenspiel  wird  ganz 
similos ; der  Kranke  zerrt  an  der  Lippe,  er  schliigt  mit  dem  Arm  in 
die  Liift,  er  verbiegt  den  Kiimpf.  Den  Arzt  erkeniit  er  noch.  Auf 
Fragen  erfolgeii  die  ersten  Worte  der  Antwort  noch  correct,  aber  schoii 
gegen  das  Ende  des  Satzes  geht  Construction  und  Sinn  verloren.  Viele 
Siitze  und  selbst  Worte  bleiben  imvollendet.  Der  Schlaf  flieht  den 
Kranken  vollstiindig.  Er  isst  noch  nothdiirftig.  Spatestens  nach  acht 
Tagen  hat  die  Krankheit  ihre  voile  Hohe  erreicht.  Die  Ideenassociation 
ist  in  ein  ziisammenhangsloses  Nebeneinander  von  Worten  aufgelost. 
Assonauzen  und  paraphasische  Storimgen  finden  sich  gelegentlich.  Sinn- 
lose  Silbenzusammenstellungen  werden  fast  stets  gebildet.  Hallucinatio- 
nen iind  Illusionen  konnen  fast  vollig  fehlen.  Die  iinziisammenhangend- 
sten  Affecte  spielen  auf  dem  Gesicht  des  Kranken  sich  ab : oft  ist  auf 
dem  verzerrten  Gesicht  ein  bestimmter  Affect  iiberhaupt  nicht  mehr  zu 
erkennen.  Ein  liingeres  Fixiren  der  Augen  auf  einen  Gegenstand  kommt 
kanm  mehr  vor.  Die  Jactationen  steigern  sich  ins  Maasslose.  Erzwingt 
man  einen  Gehversuch,  so  tanmelt  der  Kranke.  Bei  Drehungen  verliert 
er  vollends  das  Gleichgewicht,  Den  ihm  gereichteii  Becher  mit  Wasser 
Ziehen,  I’sycliiatric.  23 


354 


Paranoia  hallucinatoria  acuta. 


fasst  er  iingescliickt  an  und  bringt  ihn  nicht  allein  an  die  Lippen; 
schliesslicli  fallt  er  ihin  aus  der  Hand.  Er  saugt  am  Betttucli,  krallt  sich 
an  den  Bettwiinden  fest  und  zerreisst  die  Wasche.  Einnassen,  Spucken 
und  Zalmeknirsdien  fehlen  selten.  Jetzt  stellt  sich  auch  Unorientirtheit 
ein.  Der  Kranke  nennt  eine  falsclie  Jahreszalil  oder  noch  haufiger  ant- 
wortet  er  auf  die  Frage  nacli  dem  Monat  mit  „sechs  Uhr“  oder  „Sommer“ 
oder  „1?00“  u.  dgl.  Er  weiss  nicht,  wie  lange  er  in  der  Anstalt  ist. 

Der  Arzt  wird  nicht  inehr  erkannt,  jetzt  mit  diesem,  im  nachsten  Augen- 

hlick  mit  jenem  venvechselt.  Selbst  den  eigenen  Namen  geben  die 
Kranken  oft  falsch  an;  verheirathete  Frauen  geben  zuweilen  ihren 
Madchennamen  an.  Nicht  alle  Fade  erreichen  diese  Akme,  sondern 

bleibon  in  friiheren  Stadien  stehen.  Im  Stadium  akmes  tritt  haufig  der 
Tod  ein  Die  Heilung,  in  anderen  Fallen,  vollzieht  sich  schubweise,  meist 
sell!’  langsam.  Die  Stimmung  ist  monatelang  sehr  labil,  Motivlos 

wechseln  die  entgegengesetztesten  Stimmungen.  Oft  treten  anfallsweise 
schwere  Hemmungen  der  Ideenassociation  ein.  Die  weinerliche  Reizbar- 
keit  des  genesenden  Maniacus  oder  ausgesprochene  reactive  Hyperthymie 
sind  selten.  Noch  wochenlang  verschreiben  und  versprechen  die  Kranken 
sich  ofter.  Eine  eigenthiimliche  korperliche  Unruhe  fehlt  fast  nie:  „Ich 
habe  ein  Vibriren  vom  Kopf  bis  zu  den  Zehen."  „Es  ist  etwas  Unge- 
wisses,  ein  Gedankendurcheinander.'^  Die  Orientirung  erfolgt  namentlich 
bei  den  weniger  gebildeten  Kranken  ausserst  langsam.  Vereinzelte 
Wahnvorstellungen  und  Hallucinationen  konnen  in  einigen  Fallen  aus 
dem  Stadium  akmes  mit  hiniibergenommen  werden.  Die  genesenen 
Kranken  zeigen  meist  einen  partiellen  Erinnerungsdefect.  Ueber  Hallu- 
cinationen wissen  die  Kranken  meist  sehr  wenig  zu  erzahlen,  ebensowenig 
iiber  Wahnvorstellungen ; die  meisten  erschopfen  sich  in  Beschreibungen 
„des  narrischen  Wirrwarrs^^  in  ihrem  Kopf.  Ausgang  in  secundare 
Demenz  ist  sehr  selten.  In  fast  einem  Drittel  der  Falle  endet  die  ■ 
Krankheit  todtlich.  Die  heilenden  Falle  verlaufen  bald  peracut  in  zwei 
bis  drei  Wochen,  bald  ausserst  langsam;  noch  nach  I '/a  Jahren  kommeu 
Heilungen  vor. 

Andere  Varietiiten  der  acuten  hallucinatorischen  Paranoia  treten 
auf  dem  Boden  bestimmter  Intoxicationen  und  auf  dem  Boden  bestimmter 
functioneller  Neurosen  auf.  Die  wichtigsten  sind  die  alkoholistische, 
die  epileptische  und  die  hysterische  acute  hallucinatorische  Paranoia. 

1.  Die  alkoholistische  Varietiit.  Bald  tritt  diese  peracut 
auf  und  heisst  dann  auch  Delirium  tremens,  bald  a cut  und  heisst 
dann  acute  alkoholistische  hallucinatorische  P aranoia  s.  str. 

Das  Delirium  tremens  tritt  bei  chronischeu  Trinkern*)  auf 

*)  Meist  handclt  es  sich  urn  chroiiische  Schnapstrinker,  sehr  selten  ist  Delirium 
tremens  bei  clironiscbem  excossivem  Biergenuss. 


Paranoia  ballucinatoria  acuta. 


355 


entweder  in  Folge  plotzliclier  Abstineuz  oder  in  Folge  eines  einzelnen 
besonders  starken  Alkoliolexcesses  oder  endlich  in  Folge  intercurrenter 
Krankbeiten  (z.  B.  einer  acuten Exacerbation  des  chronischen  Magenkatarrlis 
der  Trinker  oder  einer  Pneiimouie  oder  einer  Knocbenfractur).  Selten 
ist  eine  Gemiitbserscbntterung  das  auslosende  Moment.  Der  Verlauf  und 
die  Symptome  weichen  von  der  typischen  acuten  hallucinatorisclien  Para- 
noia in  einigen  Punkten  ab.  Meist  geht  ein  mebrtagiges  Prodromal- 
stadium  voraus,  in  welchem  die  Kranken  iiber  motorische  Unruhe  und 
Miidigkeit , starkeres  Zittern , Angstaffecte , elementare  Sinnes- 
tauscliungen  (Ohrensausen,  Funkensehen,  eigenartige  Kopfsensationen), 
beangstigende  Traume,  Scblaflosigkeit,  Schwindel  und  Unfiihigkeit  zu 
concentrirtem  Denken  klagen.  Den  Angehorigen  fallt  eine  gesteigerte 
Reizbarkeit  auf.  Meist  ganz  plotzlich  scbliesst  sich  hieran  das  Hohe- 
stadium  der  Krankheit.  Dies  dauert  2—10  Page.  Es  entspricbt  im 
Wesentliclien  ganz  der  typisclien  hallucinatorisclien  Paranoia.  Enter 
den  Hallucinationen  iiberwiegen  die  Visionen.  Dieselbeu  zeigen  die 
Eigenthiimlichkeiten , welche  die  alkoholistischen  Hallucinationen  iiber- 
liaupt  haben  (vgl.  allgemeine  Pathologie) : Buntheit,  schreckhaften  In- 
lialt,  Beweglichkeit  und  Multiplicitiit  der  visionareu  Figuren.  Kleine 
und  grosse  Thiere  in  zahlloser  Menge  wimmeln  umber  und  beissen  nach 
dem  Kranken.  Etwas  seltener  sind  Visionen  von  Flammen  und  Fratzen. 
Gelegentlicb  stellen  sicb  aucb  Visionen  obsconen  Inbalts  ein.  Die  Ge- 
borstauscbungen  besteben  in  ^,Concerten^^,  Scbimpfworten,  brausendem 
Farm  einer  ,,das  Haus  bestiinnenden"  Menscbenmenge  u.  dgl.  Dabei  watet 
der  Kranke  oft  in  Wasser,  fiiblt  sicb  in  Netze  verstrickt  oder  liegt  in 
S^iinnweben.  — Entsprecbend  der  Massenbaftigkeit  und  namentlicb  der 
rascben  Haufung  der  Hallucinationen  kommt  es  verbiiltnissmassig  bald 
zu  einer  volligen  Unorientirtbeit.  Der  Kranke  glaubt  sicb  bald  in  einem 
Wirtbsbaus  bald  in  seiner  Wobnung,  bald  in  einem  Kerker  u.s.w.  Er  giebt 
Monatsdatum  und  Jabreszabl  oft  falscb  an.  Unzablige  Personenver- 
kennungen  kommen  binzu.  Allentbalben  glaubt  er  Bekannte  zu  er- 
kennen.  Hierzu  kommt  eine  bocbgradige  tbeils  ballucinatoriscbe  tbeils 
primare  Incobarenz  und  eine  beftige  gleicbfalls  tbeils  ballucinatoriscbe 
tbeils  primare  Angst.  — Die  Handlungen  des  Deliranten  entsprecben 
diesen  psycbiscben  Storuugen.  Fast  ausnabmslos  kommt  es  zu  scbwerer 
motorischer  Agitation,  oft  zu  ausgesprocbener  Tobsucbt.  Auf  Grund 
der  Hallucinationen  kommt  es  zu  gefabrlicben  Angriffen  auf  die  Um- 
gebung,  Brandstiftungsversucbeu,  planlosem  Umberirren,  mitunter  aucb 
zu  Selbstmordversucben.  Aucb  stereotype  Bewegungen,  z.  B,  stunden- 

langes  Zupfen  des  Drabtes,  den  der  Kranke  um  sicb  aufgetbiirmt  siebt, 
isind  sebr  haufig,  ’ 

Zu  diesen  psycbiscben  Symptomen,  welcbe  sammtlicb  Nacbts  starker 

23* 


356 


Paranoia  liallncinatoria  acuta. 


entwickelt  zu  sein  pflegen  als  am  Tage,  kommeii  zalilreiche  somatische 
Symptome.  Die  wiclitigsten  — abgeselien  von  den  gewolmlichen  Zeichen 
des  chronisclien  Alkoholismiis  — sind : 

a.  Fiebertemperaturen  (bis  iiber  43"),  Pulsarhytlimie,  Herzscliwacbe ; 
letztere  giebt  sich  in  der  Dicrotie  des  Pulses,  in  der  Unhdrbarkeit  des 
erster  Tons  an  der  Herzspitze  und  in  der  Kiilile  und  Cyanose  der  peri- 
plieriscben  Kdrpertbeile  kund.  Meist  besteht  Hyperidrosis. 

p.  Die  Zunge  ist  borkig  belegt.  Zuweilen  bestehen  profuse  Durch- 
falle.  Ilaufiger  ist  hartnackige  Obstipation.  Dei-Urin  ist  bochgestellt 
und  enthalt  oft  Propepton  und  Eiweiss.  Appetit  und  Scblaf  feblen  voll- 
stilndig. 

y.  Oft  besteht  ausgesprocbenes  Ptomberg’scbes  Schwanken.  Der 
alkoholistisclie  Tremor  erreicbt  die  bocbsten  Grade.  Seltener  kommt  es 
zu  ecbten  epileptiscben  Anfallen.  Der  Gang  ist  taumelnd.  Die  Sehnen- 
pbanomene  sind  gesteigert,  die  Hautreflexe  bald  gesteigert  bald  lierab- 
gesetzt.  Selir  haufig  ist  hocbgradige  Hypalgesie,  viel  seltener  Ilyper- 
algesie  und  Hyperiistbesie.  Die  Gesicbtsfelder  sind  eingeengt. 

Dies  Akmestadium  des  Delirium  tremens  endet  meist  kritisch  mit 
einem  vielstiindigen  Scblaf.  Aus  diesem  erwaclien  die  Kranken  frei  von 
Angst  und  Hallucinationen.  Nur  ein  „wiistes  Gefiibl  im  Kopf^^  liiilt 
noch  einige  Zeit  an.  Audi  kduneu  in  den  niicbsten  Nachteu  noch  ver- 
einzelte  Hallucinationen  oder  Illusiouen  auftreten.  Zuweilen  persistiren 
einige  auf  der  Kranklieitsbohe  auf  Grund  voii  Hallucinationen  concipirte 
Wabnvorstellungen  noch  einige  Woclien;  scbliesslicb  werden  dieselben 
meist  vollstiindig  corrigirt  und  der  Kranke  ist  — bis  auf  seine  psy- 
cbiscbe  Degeneration  — wieder  genesen.  Die  Erinnerung  fiir  die  lialluci- 
natorischen  Erlebnisse  ist  meist  wenigstens  tbeilweise  erhalteu. 

Die  Aiisgiinge  des  Delirium  tremens  sind  Heiluug  oder  Tod.  Aus- 
gang  in  cbronisclie  Paranoia  ist  selten.  Der  Tod  erfolgt  in  ca.  10  % 
aller  Fiille  bald  durcli  intercurrente  Krankheiten  (Pneumonie,  Darm- 
katarrb  u.  dgl.)  bald  durcli  Herzschwilcbe. 

Von  dieser  peracuten  ballucinatoriscben  Paranoia  der  Alkobolisten, 
derm  eben  bescbriebenen  Delirium  tremens,  unterscbeidet  sich  die 
acute  hallucinatorische  Paranoia  (s.  str.)  der  Alkobolisten  nur 
durcli  den  langsameren  Krankheitsanstieg , die  langere  Dauer  (drei 
Woclien  bis  vier  Monate)  und  das  langsaniere  Abklingen.  Entsprecliend 
der  geringeren  Menge  und  der  langsameren  Entwicklung  der  Halluci- 
nationen ist  die  Unorientirtheit  und  die  Incoharenz  erlieblicli  geringer. 
Desgleiclien  sind  die  korperliclien  Symptome  weniger  ausgesproclieu. 
Die  Gefabr  eines  tbdtliclien  Aiisgangs  ist  geringer,  diejenige  eines  Aus- 
gangs  in  chronische  Paranoia  grosser. 

2.  Die  epileptisclie  Varietat.  Die  acute  hallucinatorische 


Paranoia  liallucinatoria  acuta. 


357 


Paranoia  der  Epileptiker  zeigt  eiue  grosse  Eeihe  von  Eigenthiimlich- 
keiten.  Dieselbe  wird  auch  kiirz  als  e p i 1 e p t i s c h e r D a m m e r z u s t a n d 
bezeichnet.  Die  charakteristiscbsten  Merkmale  sind  bereits  in  der  all- 
gemeinen  Patliologie  (Seite  242)  angegeben  worden.  Es  ist  bier  noch 
nacbzutragen,  dass  das  Auftreten  dieser  Dammerziistande  oft  eine  be- 
stimmte  zeitliclie  Beziehung  zu  den  Krampfanfallen  des  Kranken  erkennen 
las'-t.  Bald  gelit  namlich  der  Dammerzustand  einem  Krampfanfall  un- 
niittelbar  voraus,  bald  folgt  er  einem  solcben  unmittelbar  nacli,  bald 
endlicli  bleiben  ein  oder  mehrere  Krampfanfalle  aus,  und  statt  dessen 
tritt  ein  Dammerzustand  ein.  Im  ersten  Fall  spricbt  man  von  einem 
praepileptischen,  im  zweiten  von  einem  postepileptisclien 
Dammerzustand,  im  dritten  von  einem  psycbischen  Aequi- 
valent.  Erbebliche  Verschiedenheit  in  den  Symptomen  und  im  Verlaiif 
zeigen  diese  drei  Formen  nicht.  Auch  kommen  Dammerzustande  vor, 
welche  keinerlei  Beziehung  zu  den  Krampfanfallen  erkennen  lassen ; zu- 
weilen  treten  letztere  auch  im  Verlauf  des  Dammerzustandes  noch  auf. 

Im  Ganzen  tiberwiegt  bei  den  epileptischen  Dammerzustanden  die 
Denkhemmung.  Bald  tritt  sie  dauernd  bald  episodisch  auf.  Zuweilen 
bestehen  zugleich  schwere  primare  Angstalfecte  mit  ungemein  qualvollen 
Oppressions-  und  selbst  Erstickungsgefiihlen  in  der  Brust.  Erheblich 
seltener  wird  der  Dammerzustand  von  krankhafter  primarer  Heiterkeit 
und  Ideenflucht  begleitet.  Am  haufigsten  begegnet  man  dieser  Form 
noch  bei  Kranken,  welche  hereits  an  ausgesprochener  epileptischer  De- 
menz  leiden.  Demeutsprechend  fiillt  meist  das  liippische,  kindisch-heitere 
Gebahren  und  die  alberne  Geschwatzigkeit  in  diesen  Aufallen  auf.  — 
Die  Hallucinationen  zeigen  bei  aller  Lebhaftigkeit  und  Buntheit  eine 
gewisse  Monotonie.  Auch  kehren  eiuige  wenige  Hallucinationen  in  be- 
merkenswerther  Uebereinstimmung  bei  alien  Epileptikern  wieder.  Die 
Kranken  sehen  den  Himmel  offen,  Gott,  Christus,  die  Jungfrau  und 
Engel  erscheinen  ihnen,  oft  trostet  sie  eine  gottliche  Stimme  liber  ihre 
Krankheit.  Andere  sehen  wilde  Thiere,  drohende  Gestalten,  Feuer- 
flammeu , zerfallene , Einsturz  drohende  Hauser , iiberschwemmende 
Wasserfluthen,  aufgetlilirmte  Maschinen,  Blutlachen.  Auch  bei  den 
Akoasmen  iiberwiegt  religibser  oder  schreckhafter  Inhalt;  die  Kranken 
horen  gottliche  Befehle,  gellendes  Getose,  Kanonendonner,  Drohungen 
u.  dgl,  m.  — Die  Unorientirtheit  und  Incohareuz  ist  die  grosste, 
welche  liberhaupt  bei  Geisteskranken  beobachtet  wird.  Theils  ist 
sie  primar,  theils  hallucinatorisch  bedingt.  — Die  Handlungen  und  Be- 
wegungen  variiren  im  Einzelnen  enorm.  Manche  Epileptiker  verharren 
bei  alien  ihren  halluciuatorischen  Erlebnissen  in  Eolge  starker  moto- 
rischer  Hemmung  wochenlang  fast  regungslos;  Abstinenz  und  Mutismus 
sind  in  solchen  Fallen  haufig.  Mitunter  wird  ein  solcher  Stupor  plotz- 


358 


Paranoia  liallucinatoria  acuta. 


licli  von  eiuer  j alien,  impnlsiven  Gewaltthat  unterhrochen.  In  anrleren 
Fallen  iiberwiegt  die  Agitation : es  kommt  zu  planlosem  Fortlaufen,  schweren 
Gewaltthatigkeiten*)  (sowolil  gegen  die  eigene  Person  wie  gegen  die 
Umgebung)  imd  sinnlosem  Wiitlien  gegen  leblose  Objecte  (Zerstbren  von 
Mobiliar,  Zerreissen  der  Kleider).  Sehr  baufig  ist  aucb  das  Gebahren 
der  religiosen  Extase.  Seltener  sind  complicirtere  Handlungen  wie  Dieb- 
stiible,  Scbwindeleien  u.  dgl.  Die  meisten  Danimerzustande  setzen  briisk 
ein  nnd  enden  plbtzlich.  Fast  stets  besteht  bochgradige  Amnesie.  Die 
Daner  schwankt  zwiscben  einigen  Stunden  nnd  mehreren  Monaten.  Je 


langei  dei  Anfall  clauGrt,  um  so  ■vveniger  plotzlicli  pflogt  er  abzuschliGssen, 
Die  meisten  epileptischen  Dammerzustande  gehen  in  Heilung  iiber. 
Aeusserst  selten  ist  Ansgang  in  cbronische  halluciuatorische  Paranoia. 
Recidive  sind  sehr  baufig.  Tbdtlicher  Ansgang  durcb  intercurrente 
Krankbeiten  oder  in  einem  plotzlicb  die  Psycliose  unterbrechenden 
scbweren  Krampfanfall  kommt  gelegentlich  vor. 

3.  Die  bysterische  Varietat  Oder  der  bysteriscbe  Dammer- 

zustand.  Aucb  der  bysteriscben  Dammerzustande  wurde  bereits  in 
der  allgemeinen  Patbologie  gedacbt.  Namentlicb  wurde  der  romanbafte 
Cbaracter  und  Zusammenbang  der  successiven  Sinnestauscbungen  ber- 
voi  geboben.  Neben  scbreckbaften  und  religiosen  Sinnestauscbungen 
kommen  baufiger  erotiscb  gefarbte  vor.  Oefter  als  in  den  epileptischen 
Dammerzustanden  kommt  es  zu  complicirten  ballucinatorischen  Erlebnissen : 
die  Kranke  wallfabrtet  nacb  Rom  oder  nacb  Jerusalem,  predigt  in  der 
Wiiste,  baut  Tempel,  wandert  fiber  Scblacbtf elder,  wird  in  Kerker  ge- 
worfen,  kampft  mit  wfitbenden  Stieren,  bait  Hocbzeit,  wird  von  See- 
raubern  geraubt  und  missbraucbt  u.  s.  f.  Enter  den  Stimmen  fiberwiegen 
Scbimpfworte,  namentlicb  sexuelle  Verdiicbtigungen.  Hallucinationen  auf 
dem  Gebiete  der  Gerucbs-,  Gescbmacks-,  Haut-  und  Organempfindungen 
(Scbwangerscbaftssensationen)  spielen  eine  grossere  Rolle.  Auf  dem  Ge- 
biete des  Gesicbtssinns  sind  namentlicb  Illusionen  (fratzenbafte  Ver- 
zerrungen  der  Gesicbter  der  Umgebung)  baufig.  — Stuporose  Zustande 
sind  nicht  so  baufig  wie  in  den  epileptiscben  Dammerzustanden.  Je 
nacb  dem  Inbalt  der  Hallucinationen  und  secundaren  Wabnvorstellungen 
wecbselt  das  Gebabren  sebr:  bald  singen  die  Kranken  Chorale,  bald 
vergreifen  sie  sich  an  ibrer  Umgebung,  bald  entkleiden  sie  sicb  und 
machen  dem  Arzt  obscone  Antrage,  bald  kommt  es  zu  impulsiven  Fbicbt- 
versuchen  (Sprung  aus  dem  Fenster).  Dabei  zeigt  sicb,  dass  die  von 
den  wirklicben  Objecten  ausgelosten  Empfindungen  mit  in  die  ballucina- 
toriscben  Erlebnisse  verflochten  Averden.  So  windet  sicb  die  Kranke, 
welche  ihre  Hocbzeit  zu  feiern  wabnt,  Brautkranze  aus  dem  Seegras,  welches 


*)  Viele  derselbcn  boruhcn  auf  jivb  wechselnden  Personenvcrkenmingcn. 


Paranoia  ballucinatoria  acuta. 


359 


ihr  iu  die  Zelle  gegeben  worden  ist,  u.  dgl.  m.  In  dem  jaheu  Affect- 
wechsel  giebt  sicb  die  bysterische  Stimmungslabilitat  oft  aucb  wahrend 
des  Diimmerzustandes  kund.  — Analgesie  ist  fast  ebenso  b.aufig  wie  bei 
den  epileptiscben  Dammerzustiinden. 

Eine  bestimmte  Bezieliung  des  Auftretens  der  bysterischen  Dammer- 
zustiinde  zu  den  bysteriscben  Krampfanfallen  lasst  sicb  oft  nicbt  er- 
mitteln.  Oft  ist  eine  Gemutbserscbutterung  das  auslosende  Moment. 
Nicbt  selten  scbliesst  sicb  in  solcben  Fallen  an  den  Affectsbock  zunacbst 
ein  bysteriscber  Krampfanfall  and  an  diesen  der  bysteriscbe  Dammer- 
zustand.  Sebr  baufig  beobacbtet  .man  aucb  wabrend  des  bysteriscben 
Dammerzustandes  einzelne  Krampfanfalle  oder  aucb  einzelne  Rudimente 
eines  Krampfanfalls.  Die  Dauer  scbwankt  zwiscben  einigen  Stunden  und 
mebreren  Monaten.  Ausgang  in  cbroniscbe  Paranoia  ist  selten,  des- 
gleicben  todtlicber  Ausgang  („  acute  todtlicbe  Hysterie^^).  Letzterer 
erfolgt  meist,  indem  ein  dem  Delb’ium  acutum  verwandter  Zustand  sicb 
entwickelt. 

Aucb  mit  der  alkobolistiscben,  epileptiscben  und  bysteriscben  Varietat 
sind  die  wicbtigsten  Varietaten  der  acuten  ballucinatoriscben  Paranoia  nocb 
nicbt  erscbopft.  Es  bleibt  nocb  eine  Varietat  zu  betracbten,  welcbe  man  als 
die  periodiscbe  Paranoia  bezeicbnet.  Diese  entspricbt  durcbaus  der 
periodiscben  Manie  und  der  periodiscben  Melancbolie.  Wie  diese  entwickelt 
sie  sicb  am  baufigsten  auf  dem  Boden  scbwerer  erblicber  Belastung, 
Die  einzelnen  Anfalle  entsprecben  zuweilen  der  typiscben  Form,  baufiger 
der  ideenflucbtigen,  seltener  der  incobarenten  Form  der  acuten  balluci- 
natoriscben Paranoia.  Ab  und  zu  beobacbtet  man  aucb,  dass  die  einzelnen 
Anfalle  der  periodiscben  Paranoia  nicbt  identiscb  sind.  Der  erste  kann  der 
typiscben  ballucinatoriscben  Form,  der  zweite  und  dritte  der  ideenflucb- 
tigen, der  vierte  der  incobarenten  Form  entsprecben  u.  s.  f.  Zuweilen  kann 
sogar  eine  ballucinatoriscbe  Manie  vicariirend  fur  einen  paranoiscben 
Anfall  eintreten.  Gerade  dieser  Polymorpbismus  beweist  am  scbarfsten, 
dass  zwiscben  der  Paranoia  ballucinatoria  acuta  und  namentlicb  zwiscben 
der  ideenflucbtigen  Varietat  derselben  und  der  Manie  eine  enge  \er- 
wandtscbaft  bestebt.  Der  einzelne  Anfall  der  periodiscben  Paranoia  ist 
meist  durcb  bruskes  Einsetzen  ausgezeicbnet.  Seine  Dauer  belauft  sicb 
meist  auf  ein  bis  zw^i  Monate.  Selten  ist  ubrigens  die  Periodicitiit  so 
strong  eingebalten,  wie  man  dies  oft  bei  der  periodiscben  Manie  findet. 
Heilungen  kommen  fast  nie  vor. 

Aetiologie.  Erblicbe  Belastung  ist  nur  bei  der  Hiilfte  aller  Falle 
nacbweisbar.  Bei  weiblicben  Individuen  ist  die  acute  ballucinatoriscbe 
Paranoia  etwas  baufiger  als  bei  mannlicben.  Epilepsie  und  Hysterie 
scbafifen  eine  besondere  Priidisposition  flir  diese  Psycbose.  Die  besonderen 
Eigentbumlicbkeiten  der  epileptiscben  und  bysteriscben  acuten  ballucina- 


360 


Paranoia  halliicinatoria  acuta. 


torischen  Paranoia  sind  unter  den  Varietaton  hervorgehol)en  worden. 
Die  chronisclie  Alkoliol-,  Blei-  und  Cocainvergiftung  prildisj)ouiren  zu 
der  Erkrankung  an  acuter  liallucinatorischer  Paranoia.  Weiter  gehoren 
die  meisten  febrilen  und  postfebrilen  Psycbosen  hierher.  Ueberhaupt 
ist  die  acute  balliicinatorisclie  Paranoia  die  Ersclibpfungsjisychose  xat’ 
s^oxYjV.  Dalier  begegnet  man  ibr  nacb  intellectueller  Ueberanstrengimg, 
nach  kbrperlichen  Strapazen,  bei  ungeniigender  Erniilirung,  auf  deni 
Boden  scliwerer  Anamie,  nach  gehauften  Puerperien  oder  einer  schweren 
Entbindung , bei  protrabirter  Lactation , im  Gefolg’e  scbwerer  sexueller 
Excesse  n.  s.  f. 


Die  typiscbe  Form  der  acnten  ballucinatorischen  Paranoia  kommt 
in  jedeni  Lebensalter  vor.  Im  Pubertatsalter  sowie  im  Senium  tritt  sie 
besonders  biiufig  auch  ohne  ganz  specielle  Gelegenbeitsveranlassung 
(Entbindung,  fieberbafte  Erkrankung  u.  dgl.)  auf,  im  mittleren  Lebensalter 
lasst  sich  fast  stets  eine  erheblicbere  specielle  Gelegenbeitsveranlassung 
fiir  clen  Ausbrucb  nachweisen. 

Diagnose.  Die  Diagnose  stiitzt  sicb  vor  Allem  auf  den  Nacbweis 
primarer  Hallucinationen  und  den  weiteren  Nacbweis,  dass  diese  Hallu- 
cinationen  dauernd  das  Krankbeitsbild  beberrscben.  Fiir  diesen  Nach- 
weis  kommmn  die  Ausfiihrungen  in  der  allgemeinen  Pathologie  S.  30 
und  34  ff.  namentlich  in  Betracht. 

Verwecbslungen  sind  moglicb  mit: 

1.  Manie.  Ueber  die  entscbeidenden  differentialdiagnostiscben  Merk- 
male  ist  unter  Manie  nachzulesen. 

2.  Melancholie.  S.  Differentialdiagnose  unter  Melancbolie. 

3.  Stupid  it  at.  S.  Differentialdiagnose  unter  Stupiditat. 

4.  Dementia  paralytica.  Hallucinationen  nebst  secundaren 
Wahnvorstellungen  sind  bei  der  Dementia  paralytica  sebr  biiufig.  Da- 
mit  ist  die  Gelegenbeit  zu  Verwecbslungen  mit  acuter  ballucinatoriscber 
Paranoia  gegeben.  Um  zu  einer  sicheren  Entscbeidung  zu  gelangen, 
bedarf  es  vor  Allem  einer  genauen  korperlichen  Untersucbung.  Vor 
allem  wird  man  peinlicb  genau  nacb  den  scbou  mebrfacb  erwiilmteu, 
fiir  Dementia  paralytica  characteristiscben  Symptomen  resp.  auamnesti- 
scben  Daten  (Eacialisparesen,  Verlust  oder  Ungleicbbeit  der  Kuiepbano- 
mene  oder  Acbillessebnenpliiinomene,  Licbtstarre  der  Pupillen,  besitireude 
Spracbarticulation , paralytiscbe  Anfiille*)  forscben.  Eiu  eiuziges 
dieser  Merkmale  geniigt,  um  die  Diagnose  auf  Dementia  paralytica  bin- 
zulenken.  Wiederum  gilt  aucb  bier  der  Satz,  dass  man  bei  sypbilitiscb 


*)  Die  friiher  bei  analogen  Diffcreiitialdiagnoscn  angefiihrte  cutanc  Analgesic  ist 
bier  nicbt  beweisend,  da  die  hysterischc,  epileptische  und  alkobolistische  Paranoia 
cine  solche  Analgesic  gleicbfalls  zeigen. 


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Paranoia  halincinatoria  acuta. 


361 


geweseneii  Mannern  im  mittleren  Lebensalter  mit  cler  Diagnose  einer 
acuten  halluciuatorischeu  Paranoia  besonders  vorsichtig  sein  soil.  Weiter- 
bin  kiiine  differentialcliaguostiscli  anch  der  Intelligenzdefect  in  Betracht, 
den  die  Dementia  paralytica  stets  aufweist.  Indess  lasst  eine  Intelligenz- 
priifung  auf  der  Hobe  der  Krankheit  ineist  im  Stich,  bald  wegen  der 
Agitation  bald  wegen  des  Stupors  bald  wegen  der  Incoharenz.  Nur 
bei  gelegentlichen  Bemissionen  wird  eine  exacte  Beurtheilnng  der  In- 
telligenz  des  Kranken  moglicb  sein.  Viel  werthvollere  Aufscbliisse  giebt 
in  dieser  Ricbtnug  die  Anamnese;  diese  ergiebt  bei  der  Dementia  para- 
lytica, dass  dem  vollen  Krankheitsausbrucb  bereits  liingere  Zeit  Ver- 
gessliclikeit  vorausgegangen  ist  sowie,  dass  der  Kranke  schon  seit  langerer 
Zeit  sicb  ofter  auffallige  Taktlosigkeiten  bat  zu  Scbulden  kommen  lassen.*) 
Bei  der  acuten  ballucinatoriscbeu  Paranoia  kommen  solche  Prodromal- 
symptome  im  Allgemeinen  nicbt  vor. 

5.  Dementia  senilis.  Anch  bei  dieser  sind  Hallucination en 
nebst  secundaren  Wabnvorstellimgen  nicbt  selten.  Die  korperliclie 
Untersucbimg  lasst  bilufig  im  Stick ; denn  einerseits  verlanft  die  senile 
Demenz  nicbt  selten  (jedenfalls  erbeblicb  baufiger  als  die  Dementia  para- 
lytica) lange  Zeit  obne  ansgesprocbene  kbrperlicbe  Symptome,  und 
andererseits  findet  man  gerade  bei  der  acuten  ballncinatoriscben  Para- 
noia des  Seninms  ab  und  zu  gleicbfalls  einzelne  kbrperlicbe  Symptome,  wie 
sie  bei  der  senilen  Demenz  vorkommen,  so  z.  B.  fliicbtige  Facialispareseu, 
parapbasiscbe  Stbnmgen,  Scbwindelanfalle  u.  dgl.  m.  Man  ist  also  in 
viel  bbberem  Maasse  als  bei  der  vorausgegangenen  Differentialdiagnose  auf 
die  Priifimg  der  Intelligenz  angewiesen.  Diese  begegnet  jedocb  bier  den- 
selben  Scbwierigkeiten,  wie  sie  oben  erortert  wurden.  Hat  man  daber 
nicbt  Gelegenbeit  in  einer  Remission  einen  sicberen  lutelligenzdefect 
nacbzuweisen  oder  anamnestiscb  festziistellen,  dass  dem  vollen  Krank- 
beitsausbrucb  erbeblichere  Vergesslicbkeiten  oder  ein  auffalliger  Verfall 
der  etbiscben  Begriffe  und  Gefiihle  (sexuelle  Verirriingen!)  vorausge- 
gangen sind,  so  lasst  man  meist  besser  die  Diagnose  vorlaufig  in  suspense. 

Mit  der  Feststellung  der  acuten  ballncinatoriscben  Paranoia  ist  die 
diagnostiscbe  Arbeit  nocb  nicbt  erledigt.  Man  bat  sicb  stets  die  weitere 
Frage  vorzulegen,  ob  die  typiscbe  Form  oder  eine  der  oben  aufgezablten 
Varietiiten  vorliegt.  Namentlicb  ist  es  flir  die  Stellung  der  Prognose 
wie  fill-  die  Bebandluug  wicbtig  festzustellen,  ob  etwa  cbroniscber  Alko- 
bolismus , Epilepsie  oder  Hysterie  der  acuten  ballncinatoriscben  Er- 
krankung  zu  Grunde  liegt.  Diese  Feststellung  wird  erbeblicben  Scbwie- 
rigkeiten nicbt  begegnen,  wenn  man  einerseits  die  dauernden  Merkmale 

*)  Wo  es  sich  um  cinen  Alkoholisten  handelt,  lassen  aus  Griinden,  welche  sich 
ohne  Weiteres  aus  den  Aiigaben  iiber  psycbiscbe  alkoholistische  Degeneration  (S.  223) 
crgeben,  diese  Merkmale  ofter  im  Stich. 


362 


Paranoia  balludnatoria  acuta. 


des  Alkoliolismus,  der  E^iilepsie  und  der  Hysterie  und  die  anamnestisclien 
Dateu  (Abusus  spirit.,  ■ Krampfanfalle)  in  Betracht  zieht  und  anderer- 
seits  die  Eigenartigkeiten  der  Symptome  und  des  Verlaufs,  welche  oben 
fiir  jede  Varietat  angegeben  wurden,  beriicksiclitigt. 

Tberapie.  Die  Bebandlung  der  acuten  hallucinatoriscben  Para- 
noia ist  fast  stets  nur  in  einer  Anstalt  durcbfiihrbar.  Selbst  bei  den 
stuporosen  Formen  sind  plotzliclie  gefahrlicbe  Erregungszustande,  denen 
ausserhalb  der  Anstalt  nicht  zweckmassig  begegnet  werden  kann,  zu 
liaufig,  als  dass  der  Arzt  hausliche  Bebandlung  versucben  konnte. 
Hochstens  bei  dem  Delirium  tremens  wird  die  Einlieferung  in  eine  ge- 
schlossene  Anstalt  oft  iiberflussig,  well  die  Psycbose  oft  scbon  abge- 
laufen  ist,  wenn  die  leider  oft  sebr  umstandlichen  Formalitaten  bebufs 
Erlangung  der  Aufnabmegenebmigung  sammtlicb  erfiillt  sind. 

Die  Bebandlung  bis  zur  Einlieferung  in  die  Anstalt  wird  in  vielen 
Fallen  namentlicb  die  bocbgradige  Erregung  der  Kranken  beriicksicbtigen 
miissen.  Jeder  Hallucinant  ist  unberecbenbar.  Man  ordne  daber  stets 
eine  standige  Ueberwacbung  des  Kranken  bei  Tag  und  beiKacbt  an.  Ausser- 
dem  treffe  man  Vorkebrung,  dass  die  Person,  welcbe  den  Kranken  be- 
wacbt  und  pflegt,  im  Nothfall  rascb  Hulfe  zu  erbalten  vermag,  obne  dass 
sie  zu  diesem  Zwecke  den  Kranken  im  Sticb  lassen  muss.  Ebenso  be- 
darf  es  — namentlicb  wenn  zugleicb  Angstaffecte  besteben  — sorg- 
faltiger  Vorscbriften,  um  Selbstmordversucbe  zu  vereiteln.  Man  kann 
sicb  die  Beaufsicbtigung  des  Kranken  dadurcb  sebr  erleicbtern,  dass 
man  Bettrube  verordnet.  Gegen  die  ballucinatoriscbe  Erregung  ist 
Opium  am  wirksamsten  (liber  die  Dosen  ist  die  allgemeine  Tberapie 
nacbzulesen).  Bestebt  tobsucbtige  Erregung,  so  greife  man  zu  Hyoscin- 
oder  Duboisineinspritzungen. 

In  der  Anstalt  ist  in  den  meisten  Fallen  gleicbfalls  absolute  Bett- 
rube wabrend  der  acuten  Krankbeitserscbeinungen  indicirt.  In  den- 
jenigen  Fallen,  welcbe  sicb  auf  dem  Boden  scbwerer  korperlicber  oder 
geistiger  Erscbopfung  entwickelt  baben,  bewabrt  sicb  eine  metbodiscbe 
Opiumbebandlung.  Man  beginnt  mit  einer  Tagesdosis  von  0,2  g und 
steigt  bis  zu  Tagesdosen  von  0,6  g.  Es  ist  dabei  nicbt  vortbeilbaft, 
wie  es  bei  der  Melancbolie  empfoblen  wurde,  unbeklimmert  um  jeweilige 
Exacerbationen  und  Keniissionen  dieselbe  Dosis  welter  zu  geben,  sonderu 
man  muss  die  Hobe  der  Tagesdosis  entsprecbend  der  Steigerung  und  der 
Abnabme  der  ballucinatoriscben  Erregung  modificiren.  Oft  bewabrt  sicb 
die  Zufiigung  kleiner  Dosen  Cbinin  oder  Arsen,  obne  dass  wir  bislang 
fur  diese  Mittel  bestimmte  Indicationen  aufstellen  konnten.  Audi  die 
gel  eg  exit  lie  be  Zufiigung  von  Brom  (4—6  g)  ist  zuweilen  vortbeilbaft. 
llyoscin  und  Duboisin  sind  im  Allgemeinen  unzweckmiissig,  da  sie  — 
namentlicb  in  Folge  der  Accomniodationsstorung  — die  Entstebung  von 


Piiriinoia  halhicinatoria  acuta. 


363 


Illusioneu  imcl  Verkeunuugen  begiinstigen.  Versagt  das  Opium  auch 
bei  langerer  Auvveuduug  durcbaus,  so  karm  man  einen  Versucb  mit 
Chloral  (4  mal  tiiglich  0,5  g)  machen. 

Hydropathisclie  Eiupackiingen  und  prolongirte  Bader  erweisen  sich 
gelegentlich  zur  Bekiimpfiing  schwererer  Erregungszustande  zweckmassig. 

Das  Hauptgewicht  ist  auf  Ueberernahr  ung  zu  legen.  Auch  bei 
der  halluciuatoriscbeu  Paranoia  kommt  eventuell  eine  Verbindung  der 
Ueberernahrung  mit  Massage  in  Betracht.  Mit  leichten  Beschaftigungs- 
versuchen  beginne  man,  wenn  nicht  liochgradige  Erschbpfung  vorliegt, 
schon  friib. 

Die  Behaudliing  der  einzelnen  Symptome  (Abstinenz  ii.  s.  w.)  ergiebt 
sich  aus  der  allgemeinen  Therapie.  Eine  speciellere  Besprechung  bedarf  nur 
die  Behandlung  jenes  lebensgefahrlichen  Zustandes,  welcher  sich  ofters 
bei  der  acuten  hallucinatorischen  Paranoia  (namentlich  bei  der  inco- 
hiirenten  Form)  entwickelt  und  als  Delirium  acutum  bezeichnet  wird. 
Zuweilen  entwickelt  sich  derselbe  so  rapid,  dass  der  tbdtliche  Ausgang 
eintritt,  bevor  die  Einlieferung  in  die  Anstalt  ermoglicht  werden  kann. 
Hier  bedarf  es  eines  energischen  Einschreiteus.  Opium,  Brom  u.  dgl.  ver- 
sagen  fast  stets,  hingegen  wirkt  Hyoscin  oft  geradezu  lebensrettend.  Die 
Dosii'ung  ist  in  der  allgemeinen,  Therapie  angegeben.  Auf  der  Hohe  der 
Erreguug  siud  taglicli  2,  eventuell  auch  3 Einspritzungen  zu  machen. 
Man  muss  rasch  mit  den  Dosen  steigen.  Auch  Ergotin  (0,4  g pro  die) 
bewahrt  sich  zuweilen.  Man  dulde  bei  diesem  Zustand  eine  Abstinenz 
nicht  langer  als  24  Stunden,  sondern  greife  mit  ernahrenden  Klystiereu 
Oder  eventuell  sofort  mit  Sondenfiitterung  ein.  Bei  den  ersten  Zeichen 
von  Herzschwache  ist  Wein  in  grossen  Dosen  zu  geben,  ev.  auch  Campher 
einzuspritzen  (erste  Dosis  0,05).  Vor  jedem  erheblichen  Warmeverlust 
sind  die  Kranken  durch  Decken  oder  feste  Anziige  oder,  wo  auch  diese 
versagen,  durch  Ueberheizung  des  Krankenzimmers  zu  schiitzen.  Dabei 
achte  man  darauf,  dass  die  Luft  im  Zimmer  feuclit  gehalten  wird.  Die 
Ventilation  bezw.  Liiftung  ist  von  einem  Nebenraum  aus  zu  besorgen.  Iso- 
lirung  ist,  wenn  irgend  moglich,  vollig  zu  vermeiden.  Peinliche  Sorg- 
falt  ist  auf  Eeinigung  der  Mundhohle  zu  verwenden  (ev.  im  Hyosciu- 
schlaf).  Die  Hautpflege  wird  am  besten  durch  kurze  warme  Bader 
gesichert.  Auch  jede  Obstipation  ist  alsbald  zu  bekampfen  (Zufiigung 
von  Ricinusol  bei  der  Schlundsondenfiitterung). 

Im  Speciellen  kommt  fiir  die  einzelnen  Varietaten  der  acuten  hallu- 
ciuatorischen  Paranoia  noch  Folgendes  in  Betracht.  Bei  der  ideen- 
fiiichtigen  Form  kann  man  eine  methodische  Hyoscinbehandlung  vom 
Beginn  der  Krankheit  ab  versuchen.  Durch  hohe  Anfangsdosen  und 
rasche  Steigerung  der  Dosen  gelingt  es  nicht  selten  den  Krankheitsver- 
lauf  erheblich  abzukiirzen.  * Bei  der  stuporbsen  Form  verzichtet  man 


Paranoia  halludnatoria  acuta. 


ciin  bestGii  aul  alle  MGclicanientG  und  spart  solcliG  fiir  etwaigG  intGr- 
cuiTGntG  EiTGgungszustanclG  auf.  DagGgGn  bGwalirGii  sich  hiGr  taglicliG 
warmG  bydropatliiscliG  biinpackiingGu  (28  “ % St.). 

OGgGu  das  I)Glirium  trGmGiis  iGistct  das  Opium  wGitaus  diG  bcstGu 
und  sicliGi-stGn  DiGustG.  Am  vorthGilhaftGstGn  injicirt  man  3-4  mal 
innGrbalb  24  StundGn  0,05  Extr.  Op.  aqiios.  DanGbcn  vGrabrcicht  man, 
sobald  irgGiidwGlchG  AnzGicliGii  von  IlGi-zscliwiichG  bGstGhGn,  Cognac  in 
grossGron  Doson.  EvontuGll  kommon  CampliGrinjoctionGn  und  kalto 
UobGrgiGssungGn  in  Botracbt.  Aussciiialb  dor  Anstalt  wird  man  boi 
schwGrGii  En-GgungszustandGn,  wGiin  Gin  IsolirzimmGr  niclit  improvisirt 
wGi’dGn  kann,  Hyoscin  injicirGn;  diG  bocbstG  Anfangsdosis  ist  in  diGSGii 
FallGii  auf  0,6  mg  zu  bGiiiGSSGn.  DiG  Ernabrung  bGdarf  gGnauGstGr  Con- 
trollG. 

DiG  GpilGptiscliGn  DammGrzustandG  sind  wiG  jGdG  acutG  ballucina- 
toriscliG  Paranoia  zu  bohandoln ; WGgon  dor  impulsivGn  GowalthandlungGn 
diGSGr  Krankon  bodarf  gs  ganz  bGsondGi’Gr  Vorsicht.  Isolirung  ist  jGdGu- 
falls  GinGi’  balbgGuligGndGn  Bcwacbung  vorzuziGhGn.  DiG  rGiuG  Brom- 
bGbandlung,  von  wgIcIigi’  man  auf  Grund  dor  Erfabrungon  boi  dor  Bg- 
bandlung  dGr  GpilGptiscbGn  KrampfanfallG  ErfolgG  sicb  vGi’spi’GcbGu. 
mocbtG,  vGrsagt  inGist  vollstilndig.  EbGr  bGwabrt  sicb  die  Verbindung 
von  Opium  mit  Brom  (crstG  TagGsdosis  0,2  Opium  + 6,0  Natr.  bromat.). 
BGi  iibGrbandnGbniGndGr  Eri'Ggimg  kommt  wiGderum  Hyoscin  in  Botracbt. 
Aucb  kurzG  kaltc  Bader  wirken  zuweilen  vortbeilbaft.  Im  Ganzen  ist 
die  Tberapie  selten  im  StandG  den  Verlauf  des  Diimmerzustandes  er- 
beblicb  zu  mildern  oder  abzuklirzen. 

Die  bysteriseben  Dammerzustande  ergeben  keine  besonderen  Indi- 
cationen.  Mit  der  Anwendung  von  Opium  und  namentlicb  von  Morpbium 
wird  man  bei  der  grossen  Tendenz  der  Hysteriseben  zu  Missbraucb 
dieser  Mittel  sebr  vorsiebtig  sein.  Lieber  greife  man  daber  in  diesen 
Fallen  zu  einer  Brombebandlimg.  Wenn  irgend  moglicb,  versuebe  man 
die  Kranken  schon  sebr  friibe  zu  besebaftigen.  Kalte  Uebergiessungeu 
und  kurze  kalte  Bader  leisten  oft  gute  Dienste.  Der  erfabrene  Arzt 
wird  zuweilen  aucb  mit  Vortbeil  die  Hypnose  (mit  oder  obne  Suggestion) 
in  Anwendung  bringen  konnnen. 

Patbologiscbe  Anatomie.  Aucb  die  acute  ballucinatoriscbe 
Paranoia  gebort  zu  den  functionellen  Psyebosen.  In  sebweren,  todtlicb 
verlaufenen  Fallen,  namentlicb  also  bei  dem  sog.  Delirium  acutum  ergiebt 
die  Section  ofters  eine  venose  Hyperamie  des  Gebirns,  ofter  aucb  Hirn- 
odem.  Beide  Befunde  sind  wobl  erst  in  den  letzten  Lebenstagen  oder 
Lebensstunden  des  Kranken  zu  Stande  gekommen.  Eine  directe  ursacb- 
licbe  Beziebung  zu  dem  ganzen  Krankbeitsprocess  ist  unwabrscbeinlicb. 
Eber  diirften  die  mikroskopiseben  Veranderungen  der  Gangbenzelleu 


Paranoia  hallncinatoria  chronica. 


365 


(triibe  Schwellung),  welche  man  zuweilen  gefimclen  liat,  imd  die  Faser- 
veranderungen,  welclie  auf  dem  Riickenmarlcsquerschnitt  sich  ab  uud  zu 
scbon  fiir  das  blosse  Auge  durcb  graue  Fleckimgen  zu  erkennen  geben, 
zu  dem  Krankheitsprocess  selbst  in  Bezieliiing  zu  setzen  sein. 

II.  Paranoia  hallncinatoria  chronica. 

Die  cbronische  liallucinatoriscbe  Paranoia  ist  eine  functionelle 
cbronisclie  Psycliose,  deren  Hauptsypmtome  Hallucinationen  imd  secun- 
diir  aus  diesen  hervorgegangene  Wahnvorstellungen  sind.  Bei  typiscbem 
Yerlaufe  kommen  primare  Affectstorungen  oder  primare  formale  Associa- 
tionsstorungen  (primare  Ideenflucht,  primare  Denkbemmung,  primare 
Incoharenz)  nicbt  vor,  vielmehr  sind  die  etwa  auftretenden  Aifecte  und 
Associationsstorungen  ausscbliesslicb  secundar,  d.  b.  durcb  den  Inbalt 
der  Sinnestauschungen  bezw.  Wabnvorstellungen  bedingt. 

S p e c i e 1 1 e S y m p t o m a t o 1 o g i e. 

Stoning  en  des  Emp  fin  dens.  Diese  bescbriinken  sich  fast  aus- 
scbliesslich  auf  Hallucinationen  und  Illusionen.  Nur  wenn  Complicationen 
(z.  B.  mit  Hj^sterie)  vorliegen,  beobachtet  man  aucli  Aniisthesien,  Hyp- 
iistbesien  und  Hyperilsthesien.  Die  Hallucinationen  und  Illusionen 
stimmen  im  Einzelnen  ganz  mit  denjenigen  der  acuten  ballucinatorischen 
Paranoia  iiberein.  Dock  ilberwiegen  im  Ganzen  die  Geborstauscbungen, 
wahrend  die  Gesichtstauschungen  mehr  zuriicktreten.  Bald  ilberwiegen 
verniittelte  bald  unverniittelte  Hallucinationen.  Hire  sinnlicbe  Lebbaftig- 
keit  ist  nicbt  geringer  als  bei  der  acuten  ballucinatoriscben  Paranoia. 
Auf  andere  Besonderbeiten  der  Sinnestauscbungen  der  cbronischen  Form 
wil’d  bei  der  Darstellung  des  Verlaufes  der  Krankbeit  einzugeben  sein. 
Im  Ganzen  treten  die  Hallucinationen  nioht  so  massenbaft  auf,  nur 
bei  intercurrenten  Exacerbationen  biiiifen  sie  sicb  ab  und  zu  in  einer 
an  die  acute  Form  erinnernden  Weise. 

Storungen  des  Vorstellens.  Der  formale  Ablauf  der 
Ideenassociation  ist  meistens  vollig  normal.  Die  Hallucinationen  sind 
meist  nicht  massenbaft  und  nicbt  iiberrascbend  genug,  um  erbeblicbe 
secundare  Storungen  der  Ideenassociation  bervorzurufen.  Da  die 
Sinnestauschungen  sich  allmablich  entwickeln  (s.  unter  Verlauf),  so  ist 
der  Einfluss  auf  die  Gescbwindigkeit  und  den  Zusammenbang  der 
Associationen  meist  gering.  Nur  in  den  bereits  erwahnten  intercurrenten 
Exacerbationen  kommt  es  entsprecbend  der  massenbaften  Haufung  von 
Sinnestauscbungen  aucb  oft  zu  secundarer  Ideenflucht,  secundarer 
Hemmung  (meist  in  katatoniscber  Form)  oder  secundarer  Incoharenz, 
Noch  seltener  sind  primare  Associationsstorungen,  Dauernd  kommen 
solcbe  fast  niemals  vor.  Etwas  ofter  begegnet  man  ihnen  in  den  cr- 


366 


Paranoia  hallucinatoria  chronica. 


walinten  intercurrenten  Exacerbationen  oder  in  einzelnen  Phasen  des 
Kranklieitsverlaufs.  So  kann  z.  B.  eine  mehrere  Monate  anhaltende 
primar-stuporose  Phase  den  typisclien  Krankheitsverlauf  unterbrechen. 
Mitunter  findet  man  geradezu  einen  mehr  oder  weniger  regelmassigen 
Wechsel  zweier  Phasen,  einer  ideenfliichtigen  und  einer  stupordsen. 

Viel  wichtiger  sind  die  inhaltliclien  St d run  gen  des  Vor- 
stellens.  Die  Sinnestauscliungen  der  chronischen  hallucinatorischen 
Paranoia  fiihren  stets  zu  zahlreichen  secundiiren  Wahnvorstellungen. 
Enter  diesen  uberwiegen  in  der  Regel  die  Verfolgungsideen  sebr  ent- 
schieden.  Die  Hallucinationen  haben  meist  von  Anfang  an  eine  feind- 
liche  Bezieliung  zu  dem  Ich  des  Kranken,  und  im  Sinne  dieser  feind- 
lichen  Beziehung  verscbiebt  sich  nun  seine  Auffassung  der  Aussen- 
welt.  Erheblich  seltener  entwickeln  sich  direct  aus  den  Hallucinationen 
Grdssenideen.  Ebenso  sind  hypochondrische  Vorstellungen  nicht  gerade 
haufig ; w^o  sie  bei  der  chronischen  hallucinatorischen  Paranoia  vor- 
kommen,  kniipfen  sie  meist  an  Plallucinationen  der  Haut-  und  Organ- 
empfindungen  an  und  verbinden  sich  meist  auch  schon  friih  mit  Ver- 
folgungsideen. So  empfindet  der  Kranke  z.  B.  eine  eigenthiimliche 
Schwere  im  rechten  Bein;  an  diese  Sinnestauschung  kniipft  er  die 
hypochondrische  Wahnvorstellung,  das  rechte  Bein  sei  gelahmt.  Mit 
dieser  hypochondrischen  Vorstellung  verbindet  sich  aber  meist  alsbald 
die  weitere,  ein  unsichtbarer  Feind  babe  durch  magnetische  Einwirkung 
das  rechte  Bein  gelahmt  oder  ihm  das  Riickenmark  „ausgenommeiP^  u.s.w. 
Versiindigungsvorstellungen  kornmen  am  seltensten  vor.  Den  anklageuden 
Stimnien  gegeniiber  behauptet  der  Kranke  in  der  iibergrossen  Mehrzahl 
aller  Ealle,  er  sei  unscbuldig;  nur  sebr  selten  bekennt  er  sich  schuldig 
und  verlangt  selbst  seine  Bestrafung. 

Zu  diesen  ersten  hallucinatorischen,  d.  h.  direct  den  Hallucinationen 
entstammenden  Wahnvorstellungen  kornmen  in  den  selteneren  Fallen 
noch  weitere  complementare  Wahnvorstellungen  hinzu.  Auch  diese  sind 
vorwiegend  verfolgenden  Inhalts,  z.  Th.  haudelt  es  sich  urn  complemen- 
tare Grossenideen. 

Endlich  findet  man  neben  den  secundaren  und  complementareu 
Grdssenideen  ab  und  zu  auch  vereinzelte  primare  Wahnvorstellungen, 
wiederum  meist  Verfolgungsideen  oder  auch  Grdssenideen.  Bei  Be- 
trachtung  der  Varietaten  der  chronischen  hallucinatorischen  Paranoia 
wire!  auf  diese  primare  Wahnvorstellungen  zuriickgekommen  werden. 

Affectstdrungen.  Von  ihnen  gilt  Aehnliches  wie  von  den  forinalen 
Associationsstdrungen.  Im  Allgemeinen  entwickeln  sich  die  Halluciua- 
tionen  zu  allmahlich  und  zu  sparlich,  um  schwerere  secundare  Aftect- 
stdrungen  zu  bedingen,  Der  Kranke  hat  gewissermaassen  Zeit  sich  an 
seine  Hallucinationen  zu  gewdhnen  und  bis  zu  einem  gewissen  Grad 


Paranoia  hallucinatoria  chronica. 


367 


sich  gegeii  sie  abzustumpfen.  Der  Kranke  ist  allerclings  traurig,  angst- 
lich  und  erziirnt,  wenn  feindliche  Hallucinationen  iiberwiegen,  and  stolz 
and  heiter,  wenn  freandlicbe  Hallacinationen  iiberwiegen.  Aber  diese 
Affectschwankangen  bleiben  meist  innerhalb  eager  Grenzen.  Oft  erstaant 
man  geradeza,  mit  welcber  Rahe  der  Patient  seine  Verfolgangsideen, 
mit  welcber  Harmlosigkeit  er  seine  Grossenideen  vortragt.  Nar  in  den 
mebrfacb  erwahnten  inter carrenten  Exacerbationen  kommt  es  ent- 
sprecbend  der  Plaafang  der  Hallacinationen  regelmassig  za  schwereren 
secandaren  Affectstorangen,*)  Noch  seltener  sind  primilre  Affectstorangen. 
Daaernd  kommen  solclie  niemals  vor.  Zaweilen  begegnet  man  ihnen 
intercarrent  wahrend  der  erwahnten  Exacerbationen  oder  aach  wahrend 
einzelner  Phasen  der  Krankbeit.  Aacb  ein  periodiscber  Wecbsel  einer 
exaltirten  Phase  and  einer  depressiven  Phase  kommt  gelegentlich  vor. 

Die  Handlangen  des  chronischen  hallacinatorischen  Paranoikers 
bieten  oft  garnichts  Aaffalliges.  Die  langsamere  Entwickelang  der  Halla- 
cinationen lasst  dem  Kranken  genag  Zeit  sich  in  der  Selbstbeherrschang 
za  iiben.  Oft  dissimalirt  der  Kranke.  Oft  verrath  er  darch  sein  gauzes 
Gebahren  oder  darch  eine  gelegentliche  Aeasserang,  dass  er  hallacinirt. 
Andere  sind  mittheilsamer.  Sie  klagen  dem  Arzt  iiber  ihre  fortgesetzten 
hallacinatorischen  Belastigangen.  In  den  selteneren  Fallen,  in  welchen 
daaernd  gehaafte  Hallacinationen  bestehen,  ist  das  motorische  Ver- 
halten  daaernd  in  entsprechender  Weise  veriindert.  Bald  beobachtet 
man  dann  jahrelang  einen  ananterbrochenen  Pseadostapor,  wenn  die 
hallacinatorische  Hemmang  iiberwiegt,  bald  eine  fast  ananterbrochene 
tobsiichtige  Erregang,  wenn  der  agitirende  Einfluss  der  Hallacinationen 
vorherrscht.  In  der  iiberwiegenden  Mehrzahl  der  Fillle  begegnet  man 
einer  erheblichen  hallacinatorischen  Agitation  bezw.  einem  erheblicheren 
hallacinatorischen  Stapor  nar  wahrend  der  oben  genannten  intercarren- 
ten  Exacerbationen.  In  diesen  kommt  es  allerdings  oft  za  den  schwer- 
sten  Zastanden  der  Attonitat  and  za  den  hochsten  Graden  der  Tob- 
sacht.**) 

Mitanter  beobachtet  man  aach  eine  Art  Sammation  der  hallacina- 
torischen Affecte.  Der  Kranke  hallacinirt  Monate  lang,  ohne  darch  ein 
iiasseres  Zeichen  innere  Erregang  za  erkennen  za  geben,  bis  dann 
plotzlich  einmal  ohne  wahrnehmbare  besondere  Haafang  der  Hallacina- 


*)  In  den  selteneren  Fallen  der  chronischen  hallucinatorischen  Paranoia,  in  welchen 
dauernd  gchaufte  Hallucinationen  bestehen,  findet  man  selbstverstandlich  auch 
dauernd  eine  entsprechende  secundare  Affectstdrung. 

**)  Vergleiche  hierzu  Fig.  10  der  physiognomischen  Tafel,  welche  den  Zornaffect 
einer  tobsQchtig  erregten  chronischen  hallucinatorischen  Paranoia  darstellt,  sowie 
Fig.  4,  auf  welcher  die  katatonische  Stellung  eines  Pseudostupors  bei  derselben- 
Krankheit  wiedorgegebcn  ist. 


Paranoia  halliicinatoria  chronica. 


ai)8 

tionen  die  seit  langer  Zeit  aufsummirte  hallucinatorische  Erregung  in 
einer  Gewaltliandlung  sick  entliidt. 

Primare  motoriscke  Stiirungen,  also  priniare  motorischo  Agitation, 
primare  motoriscke  llemmnng  und  primare  motoriscke  Incokarenz  sind 
ekenso  selten  wie  primare  formale  Associationsstdrungen  des  Vor- 
stellungsaklaiifs. 

K dr  perl  idle  Symptome.  Constante  kdrperlicke  Symptome 
feklen  vollstandig. 

Verlauf.  Bald  entwickelt  sick  die  ckroniscke  kallucinatoriscke 
Paranoia  aus  einer  acnten  kallucinatoriscken  Paranoia  bald  entwickelt 
sie  sick  von  Anfang  an  ckronisck.  Die  erstere  Entwicklungsweise  ist 
bereits  bei  Besprechnng  der  acnten  kallucinatoriscken  Paranoia  be- 
sckrieben  worden.  Weit  haufiger  ist  die  an  zweiter  Stelle  genannte 
Entwicklung : ganz  allmaklich  stellen  sick  Illusionen  und  Hallucinationen 
bei  dem  Kranken  ein.  Sekr  oft  ist  das  ' erste  Auftreten  von  Sinnes- 
tauschungen  von  einem  unbestimmten  allgemeinen  Beeintracktigungs- 
wahn  begleitet.  Meist  ist  zunackst  nur  eine  corticale  Sinnesspkiire 
von  der  kallucinatoriscken  Erregung  betroffen , und  erst  allmaklich 
schreitet  letztere  auf  die  ubrigen  Sinuesspbaren  fort.  Am  klarsten  tritt 
dies  in  denjenigen  Fallen  kervor,  in  wmlcken  die  Krankkeitsentwickelung 
an  die  subjectiven  Geriiusche  eines  seit  kiirzerer  oder  liingerer  Zeit  be- 
stekenden  ckroniscken  Paukenkdhlenkatarrks  ankniipft.  So  hdrte  z.  B. 
ein  chroniscker  Paranoiker,  welcker  seit  dem  12.  Lebensjakr  an  ckro- 
nisckem  Paukenkdklenkatarrk.  mit  subjectiven  Gerauscken  litt,  im 
27.  Lebensjakr  aus  dem  Okrenklingen  allmaklick  Worte  keraus  (,.komm!-^ 
„Sckwindsuckt,  Sckwindsuckt"  „dummer  Jiid^^  u.  dgl).  Im  Laufe  der 
niichsten  Monate  warden  aus  diesen  vereinzelten  Worten  complicirtere 
Gespriicke:  Der  Kranke  kdrte,  wie  llivalen  seine  Geliebte  bethdrten. 
Oft  riefen  ikm  die  Stimmen  auck  die  Bezeicknungen  von  Korpertkeilen 
zu,  z.  B.  „UnterleilP^,  „Zunge^^  Bald  danack  spiirte  er  auck  ein 
Zittern  und  Zwicken  in  der  Zunge.  Weiterkin  kamen  auck  zaklreicke 
Gesickts-  und  Geruckstauschungen  kinzu.  Es  katten  sick  also  im  Anschluss 
an  die  subjectiven  Gerauscke  zunackst  Akoasmen,  dann  kaptiscke  Halki- 
cinationen  und  schliesslick  Gesickts-  und  Geruchstausckungen  eingestellt. 
Die  Keikenfolge  dieses  Fortschreitens  weckselt  von  Fall  zu  Fall  sekr, 

Gerade  in  diesen  auf  einem  einzigen  Sinnesgebiet  zunackst  einsetzen- 
den  und  an  langgewoknte  peripkere  Sensationen  (Okrgerauscke,  Mouckes 
volantes  u.  dgl.)  ankniipfenden  Fallen  bleibt  oft  lange  Zeit  das  Krank- 
keitsbewusstsein  erkalten.  Erst  ganz  allmaklick  gekt  oft  diesenlvranken 
das  Bewusstsein  von  der  subjectiven  Entstekung  ikrer  Sinnestausckungen 
verloren.  Mit  dem  Verlust  des  Krankkeitsbewusstseins  ist  auck  die 
AVaknvorstellung  da.  Meist  ist  dies  zweite  Stadium  der  M aknbildung 


Paranoia  hallucinatoria  chronica. 


369 


gegen  das  erste  nicht  scharf  abgegrenzt.  Oft  kehrt  jahrelang  ab  und 
zu  fiir  einige  Tage  oder  Monate  das  verloren  gegangene  Krankbeits- 
bewusstsein  ganz  oder  theilweise  zuriick.  In  denjenigen  Fallen,  welcben 
von  Anfang  an  das  Krankbeitsbewusstsein  fiir  die  Sinnestauscbungen 
feblt,  kann  obnebin  von  zwei  Stadien  nicbt  die  Rede  sein. 

Die  Wabnvorstellungen  selbst  wecbseln  entsprecbend  dem  InbaR 
der  Hallucinationen,  Da  nun  diese  — wieder  im  Gegensatz  zur  acuten 
balliicinatoriscben  Paranoia  — imtereinander  in  gewissem  Zusammen- 
bang  steben  und  langere  Zeit  bindurcb  abnlicben  Inbalt  zeigen,  so  ist 
die  Wabnbildung  nicbt  nur  erleicbtert,  sondern  die  Wabnideen  zeigen 
aucb  iiber  langere  Zeitrauine  bin  oft  eine  grosse  Constanz,  Zu  der 
Bildung  eines  Wabnsystems  - — wie  bei  der  cbroniscben  einfacben  Paranoia 
— kommt  es  jedocb  selten;  dazu  ist  docb  wieder  die  Veranderlicbkeit 
der  Hallucinationen  zu  gross.  Meist  beobacbtet  man  daber  bei  der 
cbroniscben  ballucinatoriscben  Paranoia,  dass  die  einzelnen  Wabn- 
vorstellungen einige  Monate  und  selbst  ein  Jabr  anniibernd  constant 
bleiben,  dann  aber  allmablicb  entsprecbend  den  neu  binzugetretenen 
Hallucinationen  modificirt  werden.  Der  Uebergang  von  einer  Wabn- 
vorstellung  zur  anderen  ist  oft  ein  ganz  continuirlicber.  Mit  den  direct 
aus  den  Hallucinationen  bervorgegangenen  Wabnvorstellungen  wecbseln 
langsam  aucb  die  complementaren  Wabnvorstellungen.  Heute  legt  sicb 
der  Kranke  die  vermeintlicben , aus  Hallucinationen  erscblossenen  Ver- 
folgungen  dabin  zurecbt,  dass  man  nacb  einem  Vermogen,  welcbes  ibm 
zustebt,  aber  vorentbalten  wird,  tracbtet;  ein  Jabr  spater  erganzt  er 
andere  Verfolgungsballucinationen  und  entsprecbende  Verfolgungsvor- 
stellungen  durcb  die  wabnbafte  Annabme,  ein  bober  Titel  stebe  ibm  zu 
und  werde  ibm  streitig  gemacbt.  Im  Allgemeinen  ist  iibrigens  die  Bildung 
solcber  complementaren  Wabnvorstellungen  — im  Gegensatz  zur  cbro- 
niscben einfacben  Paranoia  — bei  der  cbroniscben  ballucinatoriscben 
Paranoia  selten. 

Unterscbeidet  man  2 Stadien,  zablt  man  also  das  Stadium  der 
Hallucinationen  obne  ausgiebige  Wabnbildung  als  erstes,  das  Stadium 
der  ausgiebigen  Wabnbildung  bei  fortbestebenden  Hallucinationen  als 
zweites,  so  ist  das  Scblussstadium  der  cbroniscben  ballucinatoriscben 
Paranoia  als  drittes  zu  bezeicbnen.  In  diesem  besteben  zwar  die  Halluci- 
nationen und  Wabnvorstellungen  nocb  fort,  aber  sie  baben  an  Leb- 
baftigkeit  und  Mannigfaltigkeit  eingebusst.  Die  krankbafte  Pbantasie 
und  Associationskraft  des  Patienten  hat  sicb  erscbopft:  ballucinatoriscbe 
Neuscbopfungen  und  Wabnbildungen  gelingen  nicbt  mebr.  Entsprecbend 
der  grosseren  Monotonie  der  Hallucinationen  sind  die  Wabnvorstellungen 
jetzt  stabiler  und  man  konnte  erwarten,  dass  sie  jetzt  zu  einem  System 
verkniipft  werden;  docb  wird  diese  Erwartung  durcb  die  Erfabrung 

Ziehen,  Psychiatrie.  , nj 


370 


Paranoia  hallucinatoria  chronica. 


widerlegt:  die  geistige  liiiergie  der  Kranken  reicht  zu  solchen  System- 
bilduugen  niclit  mehr  aus.  Die  Kranken  haben  sich  mit  ihren  Halluci- 
nationen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  abgefunden.  Haufen  sich  die 
schimpfenden  hallucinatorischen  Stiinmen  einmal  wieder  starker,  so  ant- 
worten  die  Kranken  mit  einem  Schimpfparoxysmus.  Diese  intercurrenten 
Exaceibationen  werden  iibrigens  seltener.  Die  Affecte  und  Handlungen  des 
Kranken  werden  bis  auf  gewisse  Eigenbeiteu  von  den  Hallucinationen 
kaum  nocb  erbeblich  beeinflussf.  Oft  verbindet  sich  damit  eine  Ein- 
engnng  der  ganzen  Interessensphare  des  Kranken.  Dies  Scblussstadium 
tritt  mitunter  erst  20—30  Jabre  nacb  Beginn  der  Krankheit  ein,  in 
seltenen  Fallen  bleibt  es  ganz  aus. 

Finer  besonderen  Erwalinung  bedarf  es  nocb,  dass  der  Verlauf  der 
chronischen  Paranoia  ungemein  baiifig  ein  remittirender  ist.  Ptemis- 
sionen  von  mehrmonatlicher  und  liingerer  Dauer  sind  durchaus  nicht 
selten.  Oft  sind  sie  so  erbeblich,  dass  dem  Unerfahrenen  eine  Inter- 
mission vorgetauscbt  wird.*)  Andrerseits  kommen  fast  nocb  baufiger 
acute  intercur rente  Exace rbationen  vor.  Diese  dauern  mitunter 
nur  einige  Stunden,  baufiger  mebrere  Page  oder  Wocben,  zuweilen 
einige  Monate.  Fast  ausnabmslos  sind  sie  auf  eine  voriibergebende 
Haufung  der  Hallucinationen  zurilckzufiibren.  Das  Benebmen  des 
Kranken  in  diesen  intercurrenten  Exacerbationen  stimmt  mit  demjenigen 
des  acuten  hallucinatorischen  Paranoikers  in  alien  wesentlicben  Punkten 
iiberein.  Dass  in  diesen  intercurrenten  Exacerbationen  secundare  und 
seltener  aucb  primare  Associations-  und  Affectstorungen  so-s\fie  ent- 
sprecbende  motoriscbe  Storungen  erbeblichen  Grades  vorkommen,  ist  in 
der  specielleii  Symptomatologie  bereits  auseinandergesetzt  worden. 

A us  gauge  und  Prognose.  Der  Ausgang  und  die  Prognose 
der  chronischen  hallucinatorischen  Paranoia  ergiebt  sich  bereits  aus  der 
Darstelbmg  des  Verlaufs.  Ein  intellectueller  Defect  tritt  fast  niemals 
ein.  Durch  die  Einengung  der  Interessensphare  im  Scblussstadium  wird 
ein  Intelligenzdefect  zuweilen  vorgetauscbt.  Ein  tbdtlicber  Ausgang  wird 
in  seltenen  Fallen  und  dann  stets . im  Verlauf  einer  mit  scbwerer  Er- 
regung  verknlipften  intercurrenten  Exacerbation  beobacbtet.  In  iiusserst 
seltenen  Fallen  ist  ab  und  zu  eine  ausgesprocbene  cbroniscbe  ballucina- 
toriscbe  Paranoia  nacb  jabrelangem  Verlauf  nocb  zur  Heilung  gelangt 
(Spatheilung) ; meist  scbloss  sich  die  Heilung  dann  an  eine  scbwere 
korperliche  Krankheit  (Typhus,  Erysipel  u.  dgl.)  oder  — nocb  seltener 
— an  eine  scbwere  Gemiithserschutterung  an. 


*)  Zwischen  der  recidivirenden  und  der  periodischen  acuten  hallucinatorischen 
Paranoia  einerseits  und  dieser  remittirenden  Form  der  chronischen  hallucinatorischen 
Paranoia  andrerseits  bestehen  fliessende  Uebcrgange. 


Paranoia  hallucinatoria  chronica. 


371 


Varietaten. 

1.  Die  subacute*)  Varietiit.  Zwischen  der  acuten  und  der 
chronischen  liallucinatorisclien  Paranoia  giebt  es  fliessende  Uebergangs- 
formen.  Man  kann  fiir  diese  die  Bezeichnung  ,,  subacute  hallucinatorische 
Paranoia"  verwenden.  Die  Entwicklung  der  Krankheit  ist  bier  subacut. 
Die  Haufimg  der  Hallucinationen  vollzieht  sicli  langsamer  als  bei  der 
acuten,  rascber  als  bei  der  chronischen  Form.  Die  Krankbeitshohe  wird 
meist  erst  nach  einigen  Monaten  erreicht.  Die  Dauer  der  Krankheit 
belauft  sicli  meist  auf  ein  Jabr  und  mehr.  Bald  erfolgt  Heilung,  bald 
Ausgang  in  chroniscbe  hallucinatorische  Paranoia,  Secundare  Demenz 
ist  selten.  Entsprechend  der  Zahl  der  Hallucinationen  sind  die  secun- 
diiren  Associationsstorungen  und  Affecterregungen  grosser  als  bei  der 
chronischen  und  geringer  als  bei  der  acuten  Form, 

2,  Die  Uebergangsform  zur  chronischen  einfachen  Para- 
noia: nehen  den  Sinnestauschungen  treten  primare  Wahnvorstellungen 
in  grosser  Zahl  auf.  Oft  iiberwiegen  bei  dieser  Varietat  unter  den 
Sinnestauschungen  die  Illusionen  und  illusionaren  Auslegungen  iiber  die 
Hallucinationen.  Die  Prognose  ist  ebenso  ungiinstig.  Bildung  von 
Wahnsystemen  ist  haufiger. 

Die  hysterische,  epileptische  und  alkoholistische  Form 
der  chronischen  liallucinatorisclien  Paranoia  unterscheiden  sich  von  der 
typischen  Form  nur  in  denjenigen  Merkmalen,  welche  in  der  allgemeinen 
Aetiologie  als  charakteristisch  fiir  Hysterie,  Epilepsie  und  chronischen 
Alkoholismus  aufgefiihrt  wurden.  Die  chronische  epileptische 
Paranoia  ist  selten;  wo  bei  Epileptikern  chronische  Geistesstorung 
eintritt,  bleibt  auch  der  Intelligenzdefect  nicht  aus  und  handelt  es  sich 
somit  uni  epileptische  Demenz . Die  chronische  hysterische  hallu- 
cinatorische Paranoia  zeichnet  sich  gegeniiber  der  typischen  Form 
durch  die  Haufigkeit  von  Gesichtshallucinationen  aus  (Leichen,  Thiere, 
zahllose  Kopfe,  zuweilen  auf  eine  Halfte  des  Gesichtsfelds  beschriinkt). 
Dazu  kommen  zahlreiche  Illusionen  und  illusionare  Auslegungen  auf 
dem  Gebiet  der  Haut-  und  Organempfindungen  (nanientlich  auch  der 
Genitalempfindungen).  Zuweilen  berichten  die  Kranken  iiber  vollstiindige 
Coitushallucinationen  und  erheben  gegen  ihre  Aerzte  oder  andere  Per- 
sonen  ihrer  Umgebung  diesbeziigliche  Anklagen.  Sehr  haufig  findet  man 
unangenehme  Geruchshallucinationen.  Sehr  typisch  fiir  die  hysterische 
Form  sind  auch  die  sog.  Situationshallucinationen : die  Kranke  ist  — ahn- 
lich  wie  im  Traum  — in  einer  ganz  anderen  Umgebung  und  macht  eine 
grosse  Reihe  complicirter,  zusammenhangender  Erlebnisse  durch,  ahnlich 
wie  in  den  acuten  hysterischen  Dammerzustanden.  Beriicksichtigt  man 

*)  D.  h,  subacut  entstanden.  Vgl.  allg.  Pathologic. 

» 24* 


372 


Paranoia  halliicinatoria  chronica. 


weiter  die  Labilitiit  der  Affecte,  das  Impulsive  der  Handlungen,  die  Haufig- 
keit  kataleptisclier  Zustande,  so  kann  man  zuweilen  schon  aus  diesen 
psychisclieu  Kennzeiclien  auf  den  hysterisclieu  Charakter  einer  chronischen 
liallucinatorisclien  Paranoia  schliessen.  Die  somatische  Untersucliung 
liefert  weitere  Anhaltspunkte.  Die  alkoliolistische  chronische  halluci- 
natorische  Paranoia  ist  nicht  gerade  haufig.  Meist  hat  sie  ausgesprochen 
remittii’enden  Charakter.  Die  Kranken  halluciniren  oft  nur,  wenn  be- 
sondere  Schadlichkeiten  (z.  B.  besonders  starke  Excesse,  Strapazen,  Ge- 
muthserschiitterimgen  u.  dgl.)  auf  sie  einwirken.  Es  giebt  solche  Kranke, 
welche  nie  ein  Delirium  tremens  durchgemacht  haben,  aber  zeitlebens 
bald  am  Tage,  bald  in  der  Nacht  halluciniren.  Bald  horen  die  Kranken  . 
Schimpfvrorte,  bald  sehen  sie  allerhand  Thiere,  bald  glauben  sie  auf 
dem  Velociped  in  der  Stube  umherzufahren  oder  durch  die  Luft  zu 
fliegen  (Bewegungshallucinationen).  Zuweilen  wird  auch  — namentlich 
in  der  Anstaltsbehandlung  — die  Krankheit  nach  langerem  Verlauf 
schliesslich  stationar:  die  Kranken  halluciniren  nicht  mehr,  halten  aber  ' 
an  den  aus  friiheren  Hallucinationen  entstandeuen  Wahnvorstellungen  fest. 

Aetiologie.  Erbliche  Belastung  ist  bei  der  typischen  chronischen 
hallucinatorischen  Paranoia  in  mindestens  60  % aller  Falle  nachzuweisen. 

In  der  Anamnese  stosst  man  auffallig  oft  auf  die  Angabe,  dass  excessive 
Masturbation  stattgefunden  habe.  Sehr  haufig  erkranken  Individueu, 
welche  schon  in  der  Jugend  durch  scheues,  argwohnisches , zuriick- 
gezogenes  Wesen  aufgefallen  sind.  Die  ersten  Anfange  der  Krankheit 
liegen  meist  im  3.  Lebensjahrzehnt.  Bei  weiblichen  Individuen  erfolgt 
der  Krankheitsausbruch  auch  sehr  haufig  im  Klimakterium.  Auch  bei 
verwittweten  Frauen  ist  die  Krankheit  auffallig  haufig  (und  zwar  auch 
diesseits  des  Klimakteriums).  Unter  den  Affecten  kommt  weiterhin 
namentlich  die  Sorge  und  der  Aerger  im  Kampf  urns  Dasein  und  speciell 
in  den  Conflicten  mit  der  Umgebung  in  Betracht.  Korperliche  Erschopfung 
und  auch  geistige  Ueberarbeitung  spielen  eine  geringere  Rolle.  Der 
atiologischen  Bedeutung  der  Hysterie  wurde  schon  oben  gedacht.  End- 
lich  sind  alle  diejenigen  chronischen  kdrperlichen  Leiden  oft  in  erheb- 
lichem  Maasse  an  der  Entwickelung  des  Leidens  betheiligt,  welche  das 
fortdauernde  Zustromen  intensive!’  pathologischer  Beize  zuni  Central- 
nervensystem  involviren.  Hierher  gehoren  namentlich  viele  chronische 
gynakologische  Erkrankungen , ferner  chronische  Erkrankungen  des 
Intestinaltracts  und  namentlich  auch  der  chronische  Paukenhohlen- 
katarrh. 

Diagnose.  Bei  der  Unterscheidung  von  Melancholie,  Manie,  De- 
mentia paralytica,  Dementia  senilis  kommen  differentialdiagiiostisch  die- 
selben  Kriterien  in  Betracht,  welche  bei  Besprechung  der  Diagnose  der 
acuten  hallucinatorischen  Paranoia  angegeben  wurden.  Somit  bleibt  nur 


Paranoia  hallucinatoria  chronica. 


373 


die  Frage  zu  erledigen,  wie  die  chronische  Form  der  hallucinatorischen 
Form  von  der  acuteii  unterschieden  werden  kann.  Bei  dieser  Differential- 
diaguose  ist  ausschliesslich  die  Entwicldimg  des  Leidens  maassgebend. 
Je  langsamer  die  Hallucinationen  sich  im  Beginn  des  Leidens  eingestellt 
haben,  urn  so  wabrscheinlicher  bandelt  es  sich  um  die  chronische  Form. 
Da  zwischen  der  acuten  und  der  chronischen  Form  Zwischenformen  vor- 
kommen,  wird  man  zuweilen  erst  nach  liingerer  Beobachtung  zu  einer 
sicheren  Diagnose  gelangen.  Fiir  chronischen  Verlauf  spricht  das  Ueher- 
wiegen  von  Akoasmen,  desgleichen  ausgiebige  Verarheitung  der  Halluci- 
nationen zu  Wahnvorstelhmgen  und  geringe  Beeinflussung  der  Affecte 
und  des  formalen  Vorstellungsablaufs  durch  die  Hallucinationen.  Je 
ofter  man  beobachtet,  dass  der  Kranke  an  relativ  wenige  Hallucinationen 
viele  Wahnvorstellungen  kniipft  und  seinen  Hallucinationen  gegeniiber 
eine  auffallige  Euhe  der  Affecte,  des  Denkens  und  der  Bewegungen  be- 
wahrt,  um  so  grosser  ist  die  Wahrscheinlichkeit , dass  es  sich  um  eine 
chronische  Form  handelt.  Dieselben  Kriterien  geben  uns  auch  zu  er- 
kennen,  ob  oder  wann  eine  acute  hallucinatorische  Paranoia,  statt  zu 
heilen,  in  chronische  hallucinatorische  Paranoia  iihergeht. 

Die  Unterscheidung  von  der  einfachen,  d.  h.  nicht-hallucinatorischen 
Form  der  Paranoia  beruht  auf  dem  Nachweis,  dass  die  wesentlichen 
Wahnvorstellungen  des  Kranken  aus  Hallucinationen  entstanden,  mithin 
nicht  primar  sind.  Auch  hei  dieser  Differentialdiagnose  ist  namentlich 
die  Entwicklung  des  Leidens  zu  beachten. 

Therapie.  Die  Therapie  ist  der  chronischen  hallucinatorischen 
Paranoia  gegeniiber  fast  vollig  ohnmachtig.  Nur  zweierlei  kommt  in  Be- 
tracht.  Erstens  wird  man  den  atiologischen  Indicationen  genligen,  also 
chronische  Magendarmerkrankungen , gynakologische  Leiden , Pauken- 
hbhlenkatarrhe  u.  s.  w.  zu  beseitigen  suchen,  den  Alkohol  entziehen, 
der  Masturbation  steuern  u.  s.  f.  Zweitens  kommt  zweckmassige  Be- 
schaftigung  in  Betracht.  Wenn  diese  auch  keine  Heilung  erzielt,  so 
macht  sie  doch  dem  Kranken  das  Leben  ertraglicher  und  den  Kranken 
fiir  seine  Umgebung  weniger  liistig.  Je  nach  dem  Stand  des  Kranken 
wird  man  der  kbrper lichen  oder  der  geistigen  Arbeit  den  Vorzug  geben. 
Am  besten  ist  es,  mit  beiden  regelmassig  (z.  B.  stundenweise)  abzu- 
wechseln.  Auf  Discussionen  fiber  die  Bealitat  der  Hallucinationen  lasse 
man  sich  nicht  ein ; der  einzige  Rath,  den  man  dem  Kranken  auf  seine 
Klagen  und  Fragen  geben  soil,  ist  der,  er  solle  lernen  seine  Halluci- 
nationen zu  ignoru’en.  Da  die  Hallucinationen  das  Handeln  des  Kranken 
ganz  unberechenbar  machen  und  jeden  Tag  eine  Grewaltthiltiglceit  gegen 
die  Umgebung  oder  einen  Selbstmordversuch  zeitigen  kbnnen,  sind  die 
Kranken  stets  der  Anstalt  zuzuweisen.  Nur  im  Schlussstadium  wird  oft 
eine  Beuidaubung  in  die  Familie  mbglich  seiu. 


374 


Paranoia  simplex  acuta. 


Die  intercurrenten  Exacerl)ationen,  namentlich  soweit  sie  mit  heftiger 
Erregung  verlaufen,  sind  ebenso  wie  die  acute  hallucinatorische  Paranoia 
zu  behandeln. 

Pathologische  Anatom ie.  Irgendwelcbe  constante  Sections- 
befunde,  makroskopische  oder  mikroskopische,  feblen  vollstandig. 

III.  Paranoia  simplex  acuta. 

Die  acute  einfacbe  d.  b.  nicht-hallucinatoriscbe  Paranoia  ist  eine 
acute  functionelle  Psychose,  deren  Hauptsymptom , das  Auftreten  zahl- 
reicher  primarer  Wabnvorstellungen  ist.  Primare  Affect-  und  Associa- 
tionsstorungen  feblen  in  der  Eegel  vollstandig,  einzelne  Hallucinationen 
kommen  zwar  vor,  spielen  aber  bei  der  Bildung  der  Wabnvorstellungen 
keine  Rolle. 

Verlauf  und  Symptomatologie.  Meist  setzt  die  Krankbeit 
ganz  plotzlicb  ein  und  zwar  direct  mit  massenbaften,  meist  maasslosen, 
jeden  Scbeins  einer  Motivirung  entbebrenden,  oft  untereinander  in  grellem 
Widersprucb  stebenden  Wabnvorstellungen.  Grossenideen  sind  mindestens 
ebenso  baufig  wie  Verfolgungsideen ; aucb  bypocbondriscbe  Wabnvor- 
stellungen konnen  auftreten.  Der  Kranke  ist  plotzlicb  der  Sobn  Wil- 
helms I.  und  zugleicb  Wilbelm  I.  selbst  und  Friedricb  III.  und  Karl  der 
Grosse,  sein  Hoden  ist  Cbristus,  das  Knacken  des  Strobsacks  ist  eine 
Flamme,  in  der  er  verbrennen  soli  u.  s.  w.  Dem  jaben  Wecbsel  der 
Wabnideen  entspricbt  ein  abnlicber  Wecbsel  der  Affecte:  bocbste  Angst 
und  bocbste  Exaltation  losen  sicb  ab.  Im  Ganzen  iiberwiegt  eine 
secundare  Bescbleunigung  der  Ideenassociation.  Die  Orientirung  des 
Kranken  ist  durcb  die  massenbaften  Wabnideen  und  Personenver- 
kennungen  wesentlicb  beeintracbtigt.  Auf  motoriscbem  Gebiet  iiberwiegt 
meist  die  Agitation.  Auf  Grund  der  Verfolgungsideen  kommt  es  oft  zu 
plotzlicbem,  planlosen  Fortlaufeu  oder  Fortreisen.  Stundenlang  de- 
clamiren  die  Kranken  oft  mit  grossem  Patbos.  Oft  erreicbt  die  Er- 
regung tobsiicbtige  Grade.  Hallucinationen  feblen  in  vielen  Fallen  ganz, 
in  anderen  treten  sie  als  Begleiterscbeinungen  der  Wabnvorstellungen 
auf.  Oft  lassen  sicb  einzelne  Anfiille  unterscbeiden ; zwiscben  denselben 
bestebt  relative  Klarbeit  und  Rube.  Auf  korperlicbem  Gebiet  feblen 
oft  alle  Symptome.  Hyperalgesie  ist  mindestens  ebenso  baufig  wie 
Hyp  algesie. 

Die  meisten  FiLlle  der  acuten  einfacben  Paranoia  verlaufen  iiusserst 
acut.  Aucb  mancbe  Fiille  des  transitoriscben  Irreseins  geboreu  bierber. 
Meist  verscbwinden  die  Symptome  ebenso  plotzlicb,  wie  sie  aufgetreten 
sind.  Selten  erstreckt  sicb  die  Krankbeitsdauer  fiber  mebr  als  3 Wocben. 
Die  Frinnerung  fiir  die  Erlebuisse  und  Wabnvorstellungen  wabrend  der 
Krankbeit  ist  in  der  Regel  erbalten,  wenu  aucb  zuweilen  etwas  liickenbaft. 


Paranoia  simplex  acuta. 


375 


Der  Ausgaug  cler  Kraukheit  ist  stets  Heilung.  Recidive  — oft 
schon  nach  kurzem  Zwisclienraiim  — sind  sehr  hMg. 

Diagnose.  Verwechslnugen  sind  namentlich  moglich  mit  folgenden 
Psychosen : 

1.  Dementia  paralytica.  Gerade  der  widerspruchsvolle, zusammen- 
hangslose  und  maasslose  Charakter  der  Wahnvorstellungen  der  acuten 
einfachen  Paranoia  tauscht  ofters  einen  beginnenden  Intelligenzdefect 
vor  und  verfiihrt  zur  falschlichen  Annabme  einer  Dementia  paralytica. 
Dilferentialdiagnostisch  kommen  die  oft  hervorgehobenen  korperlichen 
Symptome  der  letzteren  in  Betracht  (Pupillenstarre  u.  dgl.)  sowie  der 
anamnestische  Nachweis  eines  der  augenblickliclien  Erregung  voraus- 
gegangenen,  fiir  Dementia  paralytica  cbarakteristischen  Intelligenzdefects. 
Aiisserdem  wird  man  beriicksichtigen,  dass  die  Dementia  paralytica  vor- 
wiegend  bei  sypbilitisch  gewesenen  Mannern  im  mittleren  Lebensalter 
auftritt,  wahrend  die  acute  einfache  Paranoia  fast  ausschliesslich  auf 
dem  Boden  der  erblichen  Degeneration  und  meist  vor  dem  30.  Jahr 
zum  ersten  Mai  auftritt. 

2.  Manie.  Besteht  bei  einer  acuten  einfachen  Paranoia  neben 
Grbssenideen  Ideenflucht  und  Agitation,  so  ahnelt  das  Bild  demjenigen 
der  Manie  oft  in  hohem  Maasse.  Dilferentialdiagnostisch  ist  zu  be- 
riicksichtigen,  dass  die  primar-heitere  Verstimmung  der  Manie  der  acuten 
einfachen  Paranoia  fehlt.  Im  Gegentheil  pflegen  bei  letzterer  stets  auch 
Angstaffecte  (auf  Grand  von  Verfolgungsideen)  vorzukommen. 

3.  Paranoia  hallucinat oria  acuta.  Der  Unterschied  beruht 
darauf,  dass  bei  der  einfachen  acuten  Paranoia  die  Wahnideen  primar 
und  Hallucinationen  uebensachlich  sind,  wahrend  bei  der  acuten 
hallucinatorischen  Paranoia  die  Hallucinationen  das  Hauptsymptom  dar- 
stellen  und  die  Wahnideen  aus  ilmen  erst  secundar  hervorgehen.  Im 
Einzelfalle  ist  allerdings  bei  erregten  Kranken  oft  recht  schwer  fest- 
zustellen,  ob  die  Wahnideen  hallucinatorischen  Ursprungs  sind  oder  nicht. 
Namentlich  die  epileptische  Varietilt  der  acuten  hallucinatorischen  Paranoia, 
der  sog.  epileptische  Dammerzustand  ist  oft  kaum  von  der  acuten  ein- 
fachen Paranoia  zu  unterscheiden.  ' Eindet  man  sehr  ausgesprochene 
Analgesie  oder  lallende  Sprache,  so  wird  man  an  eiiien  epileptischen 
Dammerzustand  zu  denken  liaben.  Der  anamnestische  Nachweis  der 
Epilepsie  lasst  oft  im  Stich.  Besonders  wird  man  stets  auch  auf  nacht- 
liche  Epilepsie  fahuden  und  dalier  sich  z.  B.  erkundigen  miissen, 
ob  gelegentlich  nachtliches  Einnassen  vorgekommen  ist  oder  ob  der 
Kranke  friiher  zuweilen  Morgens  Blutspuren  auf  seinem  Kopfkissen  ge- 
funden  hat  u.  s.  f.  Selbstverstaudlich  wird  man  die  Zunge  und  Wangen- 
schleimhaut  stets  auf  Bissnarben  untersuchen.  Eiu  negative!’  Befund  ist 
jedoch  hierbei  nicht  gegen  • Epilepsie  zu  verwerthen , da  manche  Epi- 


376 


Paranoia  simplex  chronica. 


leptiker  sich  iiberhaupt  niemals  in  die  Zunge  oder  Wange  beissen,  und 
die  Bisswunden  anderer  so  vollkommen  heilen , dass  eine  Narbe  nicht 
sicber  zu  constatiren  ist.  Der  bruske  Schluss  ist  dem  epileptiscben 
Dammerzustand  mit  der  acuten  einfacben  Paranoia  gemeinsam.  Die 
Amnesie  ist  in  der  Kegel  (nicht  stets)  nach  dem  ersteren  viel  erheblicher. 

Ausdiiicklich  ist  iibrigens  zu  betonen,  dass  zwischen  der  acuten 
hallucinatorischen  und  der  acuten  einfachen  Paranoia  Zwischenformen 
existiren,  bei  welchen  Hallucinationen  und  primare  Wabnvorstellnngen 
sich  ungefahr  das  Gleichgewicht  halten.  Gerade  auch  auf  dem  Boden 
der  Epilepsie  begegnet  man  solchen  Zwischenformen  zuweilen. 

Aetiologie.  Die  acute  einfache  Paranoia  kommt  fast  nur  auf 
dem  Boden  schwerer  erblicher  Belastung  vor.  Sie  gehbrt  durchaus  zu 
den  sog.  „vorzugsweise  degenerativen  Psychosen".  So  selten  sie  sonst 
ist,  so  haufig  ist  sie  bei  Degenerirten.  Eine  Gelegenheitsveranlassung  fur 
den  Ausbruch  fehlt  oft  ganz  und  gar.  Zuweilen  giebt  eine  Gemiiths- 
erregung  den  letzten  Anstoss,  z.  B.  ein  zufalliger  Wortwechsel  oder  eine 
Ortsveranderung.  Sehr  haufig  handelt  es  sich  urn  Individuen,  welche 
mit  einem  leichten  Grad  angeborenen  Schwachsinns  behaftet  sind. 

Therapie.  Einlieferung  in  die  Anstalt  ist  wegen  der  tobsiichtigen 
Erregung  stets  nothwendig.  Bei  dem  rapiden  gunstigen  Verlauf,  welchen 
die  Krankheit  immer  nimmt,  ist  eine  besondere  Behandlung  ganz  iiber- 
fliissig.  Nimmt  die  Erregung  zu  sehr  iiberhand  (Gewaltthatigkeiten, 
Kothschmieren,  Kleiderzerreissen  u.  s.  w.),  so  kann  man  mit  gelegent- 
lichen  Hyoscineinspritzungen  eingreifen.  Nach  der  Heilung  entlasse  man 
den  Kranken  nicht  zu  friih  aus  der  Anstalt,  da  erfahrungsgemass  an 
den  ersten  Krankheitsanfall  sich  oft  unmittelbar  noch  ein  zweiter  und 
dritter  anschliesst.  — Die  Prophylaxe  gegen  Kecidive  ist  ziemlich  ohn- 
machtig;  man  kann  nur  versuchen,  dem  Gen esenen  eine  Lebensthatigkeit 
zu  verschaffen,  bei  welcher  er  Conflicten,  Sorgen  und  Neuerungen  mbg- 
lichst  wenig  ausgesetzt  ist. 

Pathologische  Anatomie.  Constante  Sectionsbefunde  sind 
nicht  vorhanden. 

IV.  Paranoia  simplex  chronica. 

Die  einfache  chronische  Paranoia  ist  eine  chronische  functionelle 
Psychose,  deren  charakteristisches  Symptom  primare  Wahnvorstellungen 
sind.  Hallucinationen,  Illusionen,  primare  Affect-  und  primare  Associa- 
tionsstorungen  kommen  hochstens  gelegentlich  als  nebensachliche  Sym- 
ptome  voriibergehend  vor. 

Specielle  Sy mptomatologie. 

Inhaltliche  Stdrungen  des  Vorstellens.  Die  Wahnvor- 
stellungen der  chronischeu  einfachen  Paranoia  sind  primar,  insofern 


Paranoia  simplex  chronica. 


377 


sie  nicht  aus  Sinnestausclumgen  oder  Affectstorungen  hervorgegangen  sind . 
Hire  Entsteliimgs weise  ist  im  Einzeluen  selir  verschieden.  Viele 
werden  direct  an  eine  einzelne  normale  Sinnesempfindung  angekniipft 
und  sind  somit  als  walinhafte  Auslegungen  zu  bezeiclinen.  Andere 
lassen  sicli  auf  Tranmempfindungen  zuriickfiihren,  Manche  tauclien,  im- 
abliiingig  von  einer  einzelnen  Empfindung,  als  plotzlicbe  Einfiille  auf. 
Sehr  viele  sind  das  Product  einer  langeren  Associatioustbatigkeit.  Ein 
Individuum  z.  B.,  das  jahrelang  in  Processe  verwickelt  war,  gelangt  im 
Laufe  der  Jabre  scbliesslicb  nacb  langem  Hin-  imd  Heriiberlegen  zu  dem 
Eesultat,  dass  sammtliche  Richter  gegen  ihn  zu  einem  Complott  sich 
zusammengethan  haben.  Dazu  kommen  endlich  die  in  der  allgemeinen 
Pathologie  bereits  ausfiihrlich  behandelten  complementaren  Wahnvor- 
stellungen.  Indem  der  Kranke  die  erstgenannten  Wahnvorstellungen 
combinirt  und  weiter  ausdenkt,  gelangt  er  zu  neuen  Wahnvorstellungen. 
So  entsteht  schliesslich  ein  logisch  geordnetes  System  von  Wahnvor- 
stellungen. 

Der  Inhalt  der  Wahnvorstellungen  wechselt  im  Einzelnen  ausser- 
ordentlich.  Bei  Besprechung  der  Varietiiten  der  einfachen  chronischen 
Paranoia  werden  wir  die  wichtigsten  Richtungen  kennen  lernen,  in  welchen 
sich  der  Inhalt  der  Wahnvorstellungen  bewegt.  Gemeinsam  ist  alien 
diesen  Wahnideen,  dass  sie  die  Beziehungen  des  Kranken  zu  der  Aussen- 
welt  in  feindlichem  oder  freundlichem  Sinn  verschieben.  Die  beiden  Pole, 
zwischen  denen  sich  alle  Wahnideen  bewegen,  sind  der  Verfolgungswahn 
und  der  Grossenwahn.  Versiindiguugsvorstelluugen  sind  ausserst  selten. 
Es  ist  dies  aus  dem  psychologischen  Mechanismus  der  Krankheit  sehr 
wohl  verstandlich.  In  letzter  Linie  gehen  alle  Wahnvorstellungen  der 
chronischen  einfachen  Paranoia  auf  normale  Empfindungen  zuriick. 
Die  Auslegung  und  Verarheitung  der  letzteren  ist  falsch.  Welche  Em- 
pfindung oder  Erfahrung  kbnnte  nun  das  Material  fiir  Versiindigungs- 
vorstellungen  liefern  ? Der  Melancholiker  findet  das  erforderliche  Material 
fiir  seine  Selbstanklagen  in  seinen  primaren  Angstaifecten , der  halluci- 
natorische  Paranoiker  findet  dasselbe  ah  und  zu  in  anklagenden  Stimmen. 
Der  einfache  Paranoiker  hingegeu  findet  seiches  Material  nicht.  Er  ist 
auf  eine  Summe  an  sich  normaler  Erfahrungen  angewiesen.  Er  andert 
an  dem  thatsachlichen  Inhalt  dieser  Erfahrungen  zuniichst  nichts.  Das 
einzige  Gebiet,  was  ihm  somit  fiir  seine  wahnhaften  Auslegungen  bleibt, 
sind  die  Beziehungen  der  Aussenwelt  zu  seinem  Ich.  Jeder  Selbstanklage 
wiirde  seine  eigene  Erfahrung,  das  Bewusstsein  der  Unschuld,  sofort 
entgegentreten  und  die  Selbstanklage  wiirde,  da  kein  Angstaffect  und 
keine  anklagende  Hallucination  sie  stiitzt,  sofort  erstickt  werden.  Anders 
verhalt  es  sich  mit  der  wahnhaften  Construction  feindlicher  oder  freund- 
licher  Beziehungen  der  Auss(5nwelt  zum  Ich.  Solche  wahnhaften  An- 


378 


Paranoia  simplex  chronica. 


nahmen  konnen  im  Erfahrungsschatz  des  Kranken  keine  directe  Wider- 
legimg  finden.  Wenn  er  sick  vorstellt,  dass  er  aus  furstlichem  Hause 
stammt  und  ein  untergeschobenes  Kind  ist,  oder  wenn  er  sich  vorstellt, 
dass  eine  Magenverstimmung  auf  einer  Vergiftung  durcb  seine  Hans- 
leiite  beruht,  so  steht  eine  solche  Wahnvorstellung,  so  falsch  und  unwahr- 
scheinlich  sie  aucb  ist,  mit  dem  Erfahrungsschatz  des  Kranken  dock 
nicht  in  directem  Widerspruch.  Der  Paranoiker  erganzt  die  Erfahrung 
durch  wahnhafte  V orstellungen , aber  er  falscht  sie  — wenigstens  ini 
Beginn  seines  Leidens  — nicht  und  setzt  sich  nicht  direct  in  Wider- 
spruch mit  ihr.  Dies  schiitzt  ihn  vor  Selbstanklagen  und  beschrankt 
seine  Wahnbildung  auf  das  Gebiet  des  Verfolgungs-  und  Grbssenwahns. 
Spater  freilich  kommt  es  zuweilen  auch  zu  directen  Falschungen  der 
Sinneserfahrung,  dann  aber  ist  die  Kichtung  seines  wahnhaften  Denkens 
bereits  bestimmt : fiir  Selbstanklagen  ist  es  dann  gewissermaassen  zu  spat. 
Auch  den  Hang  des  Mensehen,  die  Schuld  eher  bei  anderen  als  bei  sich 
zu  suchen,  kann  man  zur  Erklarung  der  Seltenheit  von  Selbstanklagen 
bei  unserem  Leiden  heranziehen 

Verfolgungs- und  Grossenideen  dominiren  somit  durchaus.  Ihr  gegen- 
seitiges  Yerhaltniss  wird  bei  Darstellung  des  Krankheitsverlaufs  genauer 
erbrtert  werden.  Hypochondrische  Wahnvorstellungen  sind  namentlich 
bei  der  sog.  hypochondrischen  Varietiit  haufig.  Sie  verkniipfen  sich  fast 
ausnahmslos  mit  Verfolgungsideen:  der  Patient  wahnt  sich  nicht  nur 
„krank^^,  sondern  auch  „krank  gemacht^^  Seine  Krankheit  ist  nicht 
natiirlich,  sondern  „kunstlich^b 

For  male  Stor  ungen  des  Vorstellungsablaufs,  sowohl 
primare  wie  secundare,  fehlen  in  der  Regel  vollstandig.  Nur  wahrend 
der  spater  anzufiihrenden  gelegentlichen  hallucinatorischen  Anfalle  kommen 
sie  ab  und  zu  vor. 

Erheblichere  Affectstor ungen  sind  ebenso  selten.  Der  Kranke 
ist  allerdings  iiber  die  vermeintlichen  Verfolgungen  erbittert  und  auf 
seine  vermeintlichen  Xitel  u.  s.  w.  stolz.  Aber  diese  Stimmungen  fiihren 
nicht  zu  acuten  Affectschwankungen.  Nur  vermoge  einer  Summation, 
wie  wii’  sie  auch  bei  der  hallucinatorischen  Form  der  chronischen  Para- 
noia beschrieben  haben,  kommt  es  ab  und  zu  zu  heftigen  Affectausbriichen. 
Desgleichen  pflegen  sich  solche  einzustellen , sobald  — wie  z.  B.  in  den 
unten  erwahnten,  seltenen  hallucinatorischen  Anfiillen  — einmal  aus- 
nahmsweise  zahlreichere  Hallucinationen  auftreten. 

S t b r u n g e n des  E m p f i n d e n s konnen  im  typischen  Krankheits- 
bild  der  einfachen  chronischen  Paranoia  ganz  fehlen.  Dock  beobachtet 
man  im  Verlauf  der  Krankheit  bfters,  dass  zu  den  rein-wahnhaften  Aus- 
legungen  auch  ilhisionare  Auslegungen  und  Hallucinationen  hinzutreten. 
Vereinzelte  Ilhisionen  und  Hallucinationen  kommen  fast  bei  jeder 


Paranoia  simplex  chronica. 


379 


einfachen  chronischen  Paranoia  walirend  cler  langen  Krankheitsdaner 
gelegentlich  einmal  vor.  Irgeud  welchen  wesentlichen  Einfluss  auf 
den  Kranklieitsverlauf  haben  sie  nicht.  Sie  bestarken  den  Kranken  nur 
in  seinen  Wahnideen.  Die  Hallucinationen  geboren  grosstentbeils  zu 
den  sog.  „vermittelten  Hallucinationen".  Nicbt  zu  selten  kommen  aucb 
im  Verlauf  des  Leidens  einzelne,  kurze  ballucinatoriscbe  Anfalle  vor. 
Diese  dauern  bochstens  einige  Wocben  und  erinnern  in  ibrem  ganzen 
Ablauf  durcbaus  an  die  acute  ballucinatoriscbe  Paranoia.  Wabrend  der- 
selben  kommt  es  oft  zu  scbweren  secundaren  Affectscbwankungen  und 
Associationsstorungen.  Mit  dem  Scbwinden  der  Hallucinationen  kebrt 
der  friibere  Zustand  in  jeder  Beziebung  zuruck. 

Die  Besprecbung  der  Handlungen  des  einfachen  cbroniscben 
Paranoikers  wire!  in  die  Darstellung  des  Verlaufs  eingefloebten  werden. 
Einfacbe  Bewegungsstdrungen  (Hemmung,  Agitation  u.  s.  w.)  kommen 
im  Allgemeinen  nicbt  vor,  die  complicirteren  krankbaften  Handlungen 
sind  ganz  von  den  jeweiligen  Wabnvorstellungen  abbangig. 

Kbrperlicbe  Symptome  weist  die  einfacbe  ebronisebe  Paranoia 
nicbt  auf. 

Verlauf.  Die  typisebe  Eorm  der  einfachen  cbroniscben  Paranoia 
verlauft  in  4 Stadien.  Es  sind  dies  • 

1.  das  Prodromalstadium, 

2.  das  Stadium  der  Verfolgungsideen, 

3.  das  Stadium  der  complementaren  Grossenideen, 

4.  das  Stadium  der  Pseudodemenz. 

Man  bat  diese  typisebe  Eorm  aucb  als  Paranoia  completa  bezeiebnet. 

In  dem  Prodromalstadium  kommt  dem  Kranken  seine  Um- 
gebung  verandert  vor.  Es  sebeint  ibm,  als  begegne  man  ibm  weniger 
freundlich,  als  beobachte  man  ibn  sebarfer,  als  fiihre  man  etwas  gegen 
ibn  im  Scbilde.  Nicbt  die  leblosen  Objecte  — wie  dem  acuten  balluci- 
natorischen  Paranoiker  im  Incubationsstadium  — , sondern  das  Benehmen 
der  Personen  seiner  Umgebung  fallt  ibm  auf.  Er  griibelt  nacb,  was 
vor  sich  gegangen  sein,  was  gegen  ibn  vorliegen  konne.  Zugleicb  be- 
obachtet  er  seine  Umgebung  sebarfer.  Bei  dieser  einseitigen  Sebarfung 
seiner  Aufmej-ksamkeit  maebt  er  bald  neue  Beobaebtungen.  Er  glaubt 
zu  ahnen,  dass  er  der  Mittelpunkt  eines  Gebeimnisses  ist.  Sein  Beruf, 
seine  Familie  und  Alles,  was  ibn  sonst  interessirte,  ist  ibm  jetzt  gleicb- 
giltig  geworden.  Er  will  feststellen,  „was  in  der  Luft  ist".  Er  fiiblt 
sich  von  Spionen  umgeben  und  verlegt  sich  seinerseits  auf  das  Spioniren. 
Die  barmloseste  Geberde  der  Frau  oder  des  Nacbbarn  oder  eines  Fremden, 
dem  er  auf  der  Strasse  begegnet,  muss  eine  Bedeutung  baben.  Er  fiiblt 
die  Unruhe  der  Ungewissheit.  Er  erscheint  seiner  Umgebung  verstort 
und  zerstreut.  Seine  Grubeleien  und  Beobaebtungen  lenken  ibn  von 


380 


Paranoia  simplex  chronica. 


jeder  Arbeit  ab.  Misstrauiscb  geht  er  seinen  Bekannten  aus  dem  Weg. 
Scblaf  und  AjDpetit  verlieren  sich,  Nicht  nur  die  geistige  Leistungs- 
fahigkeit  hat  gelitten,  sondern  aucb  das  kbrperliche  Woblbefinden  leidet. 
Diese  Beobachtung  erfiillt  den  Kranken  mit  neuem  Argwobn.  Er  ergebt 
sicb  in  hypocbondriscben  Befurcbtungen  und  grubelt  iiber  die  Entstebungs- 
nrsacbe  seines  korperlicben  Uebelbefindens  nach. 

Das  zweite  Stadium  des  Verfolgungswahns  entwickelt  sicb  aus  dem 
Prodromalstadium  zuweilen  ganz  allmablicb.  Der  Kranke  formulirt 
seine  Verfolgungsideen  Monat  fur  Monat  bestimmter.  Auf  der  Strasse 
verfolgen  ibn  Gebeimpolizisten  in  Civil.  Wenn  er  in  ein  Restaurant 
eintritt,  verstandigen  sicb  alle  Anwesenden  sofort  durcb  Zeicben.  Die 
Predigt  des  Geistlicben,  das  Scbauspiel  im  Theater,  die  Annoncen  in 
der  Zeitung  sind  auf  ibn  gemunzt.  Seine  Angeborigen  stecken  mit  im 
Complott;  sie  „tuscbeln^^  und  ziscbeln  untereinander.  Aucb  glaubt  er  zu 
bemerken,  dass  man  seine  gebeimsten  Gedanken  erratb  und  beeinflusst. 
Wenigstens  kann  er  es  sicb  nur  so  erklaren,  dass  die  Bewegungen  und 
Geberden  der  Umgebung  oft  in  Beziehung  zu  seinen  Gedanken  steben. 
Der  Circulus  vitiosus,  den  der  Kranke  bierbei  begebt,  liegt  auf  der  Hand, 
aber  er  selbst  bemerkt  ibn  nicbt.  Man  greift  direct  seine  Ebre  oder 
sein  Lebftn  an.  Ein  barmloses  Unwoblsein  erweckt  in  ibni  die  feste 
Ueberzeugung,  dass  sein  Essen  vergiftet  war.  Geht  er  mit  seiner  Frau 
uber  die  Strasse  und  wird  von  einem  Bekannten  gegriisst,  so  weiss  er 
jetzt  bestimmt,  dass  der  Gruss  seiner  Frau  gilt  und  dass  sie  in  einem 
verbotenen  Verbaltniss  zu  dem  Grussenden  steht.  Das  Grauwerden 
seiner  Haare,  das  Carioswerden  seiner  Zabne,  das  Ausbleiben  von  ge- 
schlecbtlicben  Erregungen  und  Pollutionen  ebensowobl  wie  eine  Steigerung 
der  gescblecbtlicben  Erregbarkeit  und  Haufung  von  Pollutionen,  das 
Abtragen  seiner  Kleider  berubt  auf  Beeinflussung  und  Vergiftung  („die 
Quacksalber  werden  mir  scbon  Nacbts  etwas  eingeflosst  und  meiue  Scbube 
zerscbnitten  baben“).  Hat  der  Kranke  etwas  vergessen,  so  baben  ibm 
seine  Feinde  auf  „telepatbiscbem“  Wege  die  Gedanken  gestoblen.  Jetzt 
weiss  er  aucb,  wober  die  Umgebung  seine  Gedanken  und  Gebeimnisse 
weiss:  er  wird  Nacbts  im  Scblafe  zum  Sprechen  gebracbt  und  dann  aus- 
geborcbt  und  ausgefragt. 

In  anderen  Fallen  erfolgt  der  Uebergang  in  das  zweite  Stadium 
ganz  jab.  Plotzlich  komnit  dem  Kranken  „wie  eine  Erleucbtung"  der 
Gedanke;  „Du  bast  Feinde,  man  will  dich  aus  dem  Wege  raumen,  du 
hast  die  Freimaurer  einmal  beleidigt,  jetzt  verfolgen  sie  dicb.“  Im  Licbte 
dieser  Wabnvorstellung  erscbeint  nun  plotzlich  alle  Ungewissbeit  be- 
seitigt,  das  ganze  Getriebe  entbullt,  Mit  einem  Schlag  ist  ibm  Alles 
verstandlicb  geworden.  Diese  neue  Erkenntniss  wirkt  nun  befrucbtend 
auf  das  Griibeln  und  Beobacbten  des  Kranken.  Wenn  er  im  Prodromal- 


Paranoia  simplex  chronica. 


381 


stadium  noch  zuweileu  an  die  Moglichkeit  daclite,  er  tausche  sich,  so 
bestiitigeu  ihm  jetzt  zalilreiche  Erinnenmgen *),  zahlreiche  neue  Beob- 
achtimgen,  dass  er  die  riclitige  Losung  gefunden  bat.  Das  Griibeln  ist 
voriiber : ungezwungen  reilit  sich  jetzt  Schluss  an  Schluss,  Walinvorstellung 
an  Wahnvorstellung.  Mitunter  haben  die  Kranken  jetzt  in  wenigen 
Tagen  ein  Gebiinde  des  Verfolgungswahns  vollendet.  Gerade  in  dieser 
Phase  koinmen  oft  einzelne  Illusionen  und  Hallucinationen  (Schimpf- 
worte!)  dem  Kranken  bestiirkend  imd  bestatigend  zu  Hiilfe. 

Im  dritten  Stadium,  im  Stadium  des  complementaren  Grossenwahns, 
vollzieht  sich  die  Kronung  des  Gebaudes.  Haufig  schlummert  schon  im 
zweiten  Stadmm  hinter  den  Verfolgungsideen  die  Grossenidee:  tendirt 
doch  einerseits  der  Beobachtungswahn  des  Kranken  und  die  unausgesetzte 
Beschaftigung  mit  seinem  Ich  diesem  eine  exceptionelle  Stellung  zu  ver- 
schaffen.  Mit  den  Verfolgungsideen  drangt  sich  unvermeidlich  die  Frage 
auf : weshalb  verfolgt  man  dich  ? Der  Kranke  ist  sich  keiner  Schuld  be- 
wusst,  hbchstens  voriibergehend  taucht  der  Gedanke  in  ihm  auf,  man 
kbnne  ihm  friihere  sexuelle  Siinden  ansehen  und  begegne  ihm  deshalb  so 
verachtlich.  Viel  naher  liegt  die  Annahme,  dass  man  ihn  beneidet;  man 
gbnnt  ihm  sein  Geld,  sein  Ansehen,  seine  Frau  nicht.  In  den  meisten 
Fallen  geniigt  jedoch  das,  was  der  Kranke  an  Beneidenswerthem  sein 
Eigen  nennt,  nicht  zur  Erklarung  dieser  maasslosen  Verfolgungen.  Es 
bedarf  dazu  grbsserer  Objecte  des  Neides.  So  gelangt  der  Kranke  dazu, 
falschlich  beneidenswerthe  Rechte  und  Anspriiche,  Leistungen  und  Aus- 
sichten  fiir  sich  in  Anspruch  zu  nehmen.  Man  „zieht  ihm  Nachts  den 
Samen  ab",  um  seine  Heirath  mit  einer  hochgestellten  Dame,  welche 
ihm  ihre  Gunst  zugewendet  hat,  zu  hintertreiben.  Man  fiirchtet,  er  konne 
auf  einen  fiirstlichen  Titel,  auf  ein  grosses  Vermogen  begrlindeten  An- 
spruch erheben  und  will  ihn  deshalb  aus  dem  Wege  raumen.  Man  gonnt 
ihm  nicht,  dass  er  durch  wissenschaftliche  Entdeckuugen,  technische  Er- 
findungen,  politische  oder  religiose  Reformen  unsterblichen  Ruhm  ge- 
winnt.  Wie  die  Verfolgungsideen  des  zweiten  Stadiums  entwickeln  sich 
diese  complementaren  Grbssenideen  bald  allmahhch,  bald  iiberkommen 
sie  den  Kranken  plotzlich  wie  ein  gliicklicher  Einfall,  als  die  endliche 
Losung  eines  complicirten  Problems.  Auch  im  ersteren  Fall  geht  der 
Kranke  selten  so  logisch  Schluss  fiir  Schluss  vor,  wie  die  allgem  eine 
Darstellung  oben  schilderte.  Eine  zufallige  Constellation  der  Empfindungen 
und  Vorstellungen  leitet  ihn  oft  auf  den  „richtigen^^  Weg,  Unbewusste 
Associationen  bereiten  die  bestunmte  Formulirung  der  Grossenidee  vor.**) 
Seltener  fiihrt  eine  Hallucination,  welche  ihrerseits  wieder  auf  entsprechende 
unbewusste  Associationen  hinweist,  den  Kranken  auf  die  erste  Grossenidee. 

*)  Z.  Th.  an  Ereignisse,  welche  vor  dem  Krankkeitsausbruch  liegen. 

**)  Vgl.  auch  den  allgemeinen*Theil  S.  102. 


382 


Paranoia  simplex  chronica. 


Wie  der  Verfolguugswahu  beeinflusst  nun  auch  der  Grdssenwalin 
die  Auffassung  der  Aussenwelt.  Zalillose  walmbafte  Auslegungen  alter 
Erinnerungen  iind  neuer  Beobachtungen  bestatigen  ihm  die  Bichtig- 
keit  seiner  Grbssenvorstellungen.  Auch  sein  Handeln  ilndert  sicb.  Das 
Gebahren  des  Verfolgungswabns  und  des  Grossenwahns  ist  in  der  all- 
gemeinen  Pathologie  gescbildert  worden.  Je  bestimmter  die  Verfolgungs- 
ideen  werden,  je  niebr  complementare  Grossenideen  sicb  einstellen,  urn 
so  zielbewusster  werden  die  krankbaften  Handlungen.  Der  Patient  fixirt 
seinen  Verfolgungswabn  auf  bestimmte  Personen.  Anfangs  fliebt  er  sie, 
bocbstens  in  der  vermeintlicben  Notbwebr  ist  er  gefabrlicb.  Sobald  der 
Grossenwabn  binzutritt,  nimmt  sein  Handeln  weit  mebr  einen  aggressiven 
Cbarakter  an.  Ini  erotiscben  Grossenwabn  sCbreibt  er  zudringlicbe  Brief© 
an  die  Dame,  welcbe  ibn  angeblicb  liebt,  und  deren  Verwandte.  Glaubt 
er  Ansprucbe  auf  Xitel  und  Geld  zu  baben,  so  beginnt  er  Processe  oder 
vergreift  sicb  an  den  vermeintlicben  Verfolgern,  die  ibn  verdriingt  baben 
oder  verdrangen  wollen  (vgl.  S.  163). 

Das  vierte  Stadium  ist  dasjenige  der  Pseudodemenz.  Der 
Kranke  bat  jabrelang  fur  seine  Wabnvorstellungen  gekampft.  Die  wabn- 
bildende  Kraft  ist  erscbopft,  die  Gefublsbetonung  der  Wabnvorstellungen 
versiegt  und  damit  die  Energie  zuni  Handeln  erloscben.  Der  Kranke 
bait  auf  Befragen  uocb  an  seinen  Wabnvorstellungen  fest:  er  ist  nocb 
Messias  oder  Erfinder  oder  Fiirst  oder  Reformator.  Aber  er  verzicbtet 
darauf,  seine  Ansprucbe  geltend  zu  macben.  Mit  deuselbeu  Satzen  ent- 
wickelt  er  fast  mecbaniscb  sein  Wabnsystem.  Er  ist  apatbiscb  geworden. 
Die  anderen  Interessen,  welcbe  er  vor  seiner  Krankbeit  batte,  sind  scbon 
im  ersten  Verlauf  der  Krankbeit  von  den  \\  abnideen  verdrangt  worden 
und  vollig  erloscben.  So  ist  denn  sein  Gefiiblsleben  auf  das  Hocbste 
eingeeugt.  Kauni  um  die  I'agesereignisse  kiimmert  er  sicb  nocb.  Dabei 
bestebt  keinerlei  Intelligenzdefect.  Die  Demenz  wird  nur  vorgetauscbt. 

Der  soeben  dargestellte  Verlauf  der  cbroniscben  einfacben  Paranoia 
ist  nicbt  der  einzige,  aber  der  baufigste.  Zumicbst  erfalirt  er  zuweilen 
eine  bedeutsame  Unterbrecbung  durcb  mebrwocbentlicbe  acute  Krankbeits- 
erscbeinungen.  Diese  besteben  bald  in  einer  voriibergebenden  Haufung 
von  Hallucinationen,  bald  in  einem  vorubergebenden  Aufscbiessen  massen- 
bafter  primarer  Wabnvorstellungen.  Im  ersteren  ball  abnelt  dei  Anfall 
einer  acuten  ballucinatoriscben , im  letzteren  eiiier  acuten  einfacben 
Paranoia.  Der  Verlauf  der  Krankbeit  im  Ganzen  wu-d  durcb  diese 

intercurrenten  Anfalle  kaum  beeinflusst. 

Aber  aucb  die  Reibenfolge  und  die  Zabl  der  Stadien  wecbselt.  Zu- 
nacbst  bleibt  das  4.  Stadium  nicbt  selten  ganz  aus.  In  anderen  Fallen 
kommt  das  dritte  nicbt  zur  Entwicklung.  Es  giebt  Paranoiker,  welcbe 
niemals  zu  einer  Grbssenidee  gelangen.  Unigekebrt  stellen  sicb  inandeien 


Paranoia  simplex  chronica. 


383 


Fallen  Grossenideen  sclion  im  Beginn  cler  Kraukheit  ein  unci  beherrsclien 
daiiernd  das  Kranklieitsbild,  wabrend  die  Verfolgungsideen  nur  nebenber 
auftreten.  Endlicb  kominen  Falle  vor,  in  welchen  das  2.  und  3.  Stadium 
7Aisaminenfallen  d.  li.  Grossenideen  und  Verfolgungsideen  von  Anfang  an 
untrennbar  verbunden  und  coordinirt  auftreten.  Je  genauer  man  nacb- 
forscbt,  um  so  baufiger  findet  man  die  Grossenideen  wenigstens  in  Budi- 
menten  aucb  scbon  im  2.  Stadium  vor. 

Ausgiinge  und  Prognose.  Aus  dem  Vorigen  ergiebt  sicb  be- 
reits  die  Unbeilbarkeit  cler  cbroniscben  einfacben  Paranoia;  Bemissionen 
und  Stillstancle  der  Krankbeit  kommen  gelegentlich  vor,  Heilungen  ge- 
boren  zu  den  aussersten  Seltenbeiten. 

Varietaten.  Zuniicbst  bat  man  nacb  dem  Inbalt  cler  Wabn- 
vorstellungen  zablreicbe  Varietaten  unterscbieclen.  So  bat  man  eine 
religiose  Paranoia,  eine  erotiscbe  Paranoia,  ein  Querulantenirresein  u.  s.  w. 
aufstellen  zu  mussen  geglaubt.  Diese  Unterscbeiclungen  sincl  ganz  ausser- 
licb  und  wertblos.  Nicbt  auf  den  Inbalt  der  Wabnvorstellungen  kommt 
es  an,  sonclern  auf  ibre  psycbologiscbe  Entwicklung.  So  ist  z.  B.  das 
sog.  Querulantenirresein  nur  cladurcb  ausgezeicbnet,  class  die  ersten  Ver- 
folgungsicleen  an  einen  unglucklicben  Process  oder  Aebnlicbes  anknupfen. 
Diese  Niederlage  kann  der  Kranke  nicbt  verwinclen.  Alle  seine  Interessen 
geben  in  den  Griibeleien  uber  das  vermeintlicb  erlittene  Unrecbt  unter. 
Er  appellirt  und  appellirt  wiecler.  Neue  Verurtbeilungen  erfolgen.  Bald 
ist  cler  Instanzenzug  erscbopft.  Der  pecuniare  Verlust  bei  clem  fort- ' 
wabrenden  Processiren  sowie  cler  Buin  seines  vernacblassigten  Gescbaftes 
steigern  seine  Erbitterung.  Er  scbopft  Verclacbt,  class  es  „nicbt  mit 
recbten  Dingen  zugegangen  ist^^  Aus  cler  Becbtbaberei  entwickelt  sicb 
ein  patbologisches  Misstrauen.  Er  stuclirt  selbst  die  einscblagigen  Gesetzes- 
paragrapben.  Seitber  glaubte  er  nocb , class  die  Bicbter  sicb  nur  geirrt 
batten;  jetzt  wird  ibm  klar,  class  die  Bicbter  personlicbe  Motive  batten. 
Eigennutz,  Cliquenwirtbscbaft  und  Bestecbung  bestimmen  sie,  wider 
besseres  Wissen  ibn  ungerecbt  zu  verurtbeilen.  Er  ist  das  Opfer  eines 
Complotts.  Er  sucbt  bei  Parlament  unci  Kaiser  Scbutz.  Er  scbreibt 
Petitionen  und  Eingaben  mit  den  spitzfindigsten  Auseinandersetzungen. 
Vergebens.  Nun  folgen  Beamten-  und  Majestatsbeleicligungen.  Er  wird 
I bestraft.  Jecle  neue  Verurtbeilung  bestiirkt  ibn  in  seinem  Verfolgungs- 
wabn.  Er  weiss,  warum  man  gegen  ibn  in  clieser  ungerecbten  Weise 
vorgebt ; man  will  ibn  zum  Scbweigen  bringen,  man  fiircbtet  ibn,  er  bat 
den  wunden  Punkt  aufgedeckt,  Gott  bat  ibn  auserseben,  das  Becbt 
wieder  zu  Ebren  zu  bringen,  man  will  ibn  bindern,  seine  grosse  Mission 
i zu  erfullen. 

In  diesem  Verlauf  erkennt  man  obne  Scbwierigkeit  den  typiscben 
Verlauf  cler  cbroniscben  einfacben  Paranoia  wieder. 


384 


Paranoia  simplex  chronica. 


Auf  besseren  Griinden  beruht  die  Unterscheidung  der  hypocbon- 
drisclieu  Paranoia.  Die  Wabnvorstellungen  dieser  Form  kniipfen 
an  Empfindungen  des  eigenen  Korpers  an,  namentlicb  an  die  sog.  Organ- 
empfindungen.  Es  sind  dies  in  vielen  Fallen  ganz  normale  Empfindungen, 
in  anderen  sind  es  neurastbenisclie  Sensationen.  Aiis  diesen  entwickelt 
der  Kranke  zuniicbst  rein-hypocliondrisclie  Vorstellungen.  Dieselben 
gehen  jedoch  von  Anfang  an  iiber  die  bypocliondrisclien  Besorgnisse  des 
Neurastbenikers  weit  binaus.  Das  Wabnbafte  des  Gedankenganges  fallt 
auf:  der  Patient  construirt  die  abenteuerlicbsten  Krankbeitsvorgange  in 
seinem  Korper.  Sein  Gebirn  „kotbet^%  ganze  Eingeweide  sind  ver- 
scbwunden,  seine  Genitalien  sind  in  weiblicbe  verwandelt.  Gerade  bei 
dieser  Form  treten  Illusionen  und  zuweilen  aucb  Hallucinationen  auf 
dem  Gebiet  der  Orgauempfindungen  in  grosserer  Zabl  binzu.  Dem  aus- 
gesprocben  wabnbaften  Cbarakter  der  bypocbondriscben  Vorstellungen 
entspricbt  die  weitere  Entwicklung.  Solcbe  abenteuerlicbe  Veranderungen, 
sagt  sicb  der  Kranke,  konnen  nicbt  durcb  Krankbeit  auf  natiirlicbem 
Wege  zu  Stande  gekommen  sein.  Gebeimnissvolle,  unbeimlicbe  Einflusse 
miissen  im  Spiele  sein.  Er  beobacbtet  sicb  und  seine  Umgebung  mit 
misstrauiscben  Augen  und  bald  bat  er  das  Ratbsel  gelost:  durcb  Gift, 
Elektricitat,  Magnetismus  oder  andere  Gebeimkrafte  bat  man  kiinstlicb 
diese  Veranderungen  bervorgerufen.  Die  weitere  Entwicklung  entspricbt 
nun  ganz  dem  oben  gescbilderten  typiscben  Verlauf. 

Viel  wicbtiger  nocb  ist  die  Abgrenzung  einiger  Varietaten  vom 
iitiologiscben  Gesicbtspunkt  aus.  Vor  allem  ist  bier  einer  Form  zu  ge- 
denken,  welcbe  sicb  auf  dem  Boden  scbwerer  erblicber  Belastuug  ent- 
wickelt, der  sog.  originilren  Paranoia.  Die  Krankbeitsanfange  reicben 
bier  bis  in  die  Jugend  zuriick.  Scbon  im  Pubertiitsalter  treten  aben- 
teuerlicbe Vorstellungen  auf.  Viele  derselben  -werdeu  wieder  vergessen.  ; 

Das  Gebirn  des  Kranken  ist  nocb  nicbt  reif,  eine  einzelne  Vorstellung  ; 

festzubalten  und  auszubauen,  Endlicb  findet  sicb  eine  Constellation,  der  ! 
eine  bleibende  Wabnvorstellung  entspringt.  Meist  ist  diese  erste  Wabn-  | 
idee  eine  Grossenidee  und  meist  beziebt  sie  sicb  auf  die  Abkuuft  des 
Kranken.  Er  best  eine  Bibelstelle  und  plotzlicb  tagt  ibm,  dass  sie  sicb 
auf  ibn  beziebt,  dass  scbon  im  Testament  sein  Kommen  angekiindigt 
wird,  dass  er  Gottes  Sobn  ist.  Oder  er  siebt  das  Bild  seines  Landes-  r 

berrn,  eine  Aebnlicbkeit  fallt  ibm  auf,  er  weiss,  dass  er  ein  Furstenkind  ;; 

ist,  Oder  er  siebt  den  Fiirsten  selbst,  der  Blick  des  Fiirsten  sagt  ibm, 
dass  er  sein  Sobn  ist.  Diese  Grossenidee  wird  nun  festgebalten  und  , 

weiter  ausgebaut.  Er  ist  seinen  wabren  Eltern  gestobleu  worden,  seine 
sogenannten  Eltern  sind  seine  Pflegeeltern,  er  sollte  in  Niedrigkeit  und 
Armutb  verkommen.  Grosse  Kriege  (70/71)  sind  seinetwegen  gefiibrt 
worden,  Man  bat  ibm  Bomane  in  die  Hand  gegebeu,  urn  seine  Liisternbeit 


S 


Paranoia  simplex  chronica. 


385 


zu  erwecken  imd  ihn  auch  moralisch  zu  verderben.  Der  Kranke  glaubt 
sicli  zu  erinnern,  dass  seine  Eltern  ihm  nie  mit  wahrer  Liebe  begegnet 
sind.  Zahllose  Ereignisse  aus  seiner  Kindheit  werden  ihm  jetzt  im  Lichte 
seiner  Walinidee  verstandlich.  Er  glaubt  sich  zu  erinnern,  dass  er  selbst 
sicli  bei  seinen  sogenannten  Eltern  nie  wohl  gefiiblt  babe.*)  Oft  ver- 
steigt  sich  die  romanhafte  Wahnbildung  noch  weiter,  Der  Kranke  ist 
auf  dem  Mars  geboren  oder  er  hat  die  Welt  geschaffen  oder  er  ist  iiber- 
haupt  nicht  geboren,  sondern  auf  wunderbare  Weise  „ausgefallen^^  u.  dgl.  m. 
Verfolgungsideen  spielen  meistens  eine  mehr  nebensachliche  Rolle.  Doch 
wissen  manche  Kranke  iiber  Vergiftungen  zu  berichten,  welche  die 
sog.  Eltern  in  der  friihesten  Kindheit  an  ihnen  versucht  haben.  Meistens 
bleiben  diese  Wahnvorstellungen  das  ganze  Leben  des  Kranken  hindurch 
mit  geringen  Modificationen  stationar. 

In  einer  anderen  Reihe  von  Fallen  aussert  sich  der  modificirende 
Einfluss  der  erblichen  Degeneration  darin,  dass  besonders  haufig  wahn- 
hafte  Einfalle  auftreten.  Neben  systematisirten  Wahnvorstellungen 
treten  vollig  zusammenhangslos  sinnlose  Urtheilsassociationen  auf.  So 
aussert  z.  B.  der  Kranke  plotzlich:  „Das  Weltall  wird  fett  — schwarz 
ist  nicht  schwarz  — Te  deum  laudamus.^^  Die  Bezeichnung  „Wahu- 
idee'^  ist  hier  selbst  im  weitesten  Sinn  kaum  mehr  zutreffend.  Es  han- 
delt  sich  um  bizarre  Vorstelhmgsverbindungen , iiber  deren  Begriindung 
der  Kranke  selbst  keine  Rechenschaft  zu  geben  vermag. 

Auf  dem  Boden  der  Epilepsie,  der  Hysterie  und  des  chronischen 
Alkoholismus  kommt  gleichfalls  ab  und  zu  eine  einfache  chronische 
Paranoia  vor.  Die  epileptische  Form  ist  am  seltensten;  die  chronische 
epileptische  Psychose  ist  die  epileptische  Demenz.  Auch  die  alkoholi- 
stische  Form  ist  nicht  haufig ; der  Alkoholismus  erzeugt  meist  die 
hallucinatorische  Form  der  chronischen  Paranoia,  Sehr  haufig  ist  hin- 
gegen  die  hysterische  Form.  Die  hysterischen  Sensationen  und  Anasthesien 
geben,  auch  ohne  Illusionen  und  Hallucinationen,  ein  vorziigliches  Materia^ 
fiir  wahnhafte  Auslegungen  ab.  Die  Wahnideen  bewegen  sich  namentlich 
in  der  sexuellen  Sphare.  Die  Kranken  berichten  fiber  die  complicirtesteu 
Vorgange  in  ihren  inneren  Organen.  Haufig  ist  Schwangerschaftswahn. 
Auch  die  Verfolgungsvorstellungen  sind  vorzugsweise  sexuellen  Inhalts. 
Die  Grossenideen  schlagen  meist  eine  mystisch-religiose  Richtung  ein. 

Aetiologie.  Nicht  nur  bei  der  originaren  Form,  sondern  auch 
bei  der  typischen  Paranoia  completa  ist  erbliche  Belastung  haufiger  als 
bei  den  meisten  anderen  Psychosen,  Die  originare  Form  entsteht  in 
90  % aller  Ealle  auf  dem  Boden  erblicher  Belastung  und  zwar  meist 

*)  Durch  diese  retrospectiven  Umdeutungen  wird  man  oft  verleitet,  den  Krank- 
heitsbeginn  noch  frUher  anzusetzen,  als  er  thatsachlich  stattgefunden  hat, 

Z i e h en  , Psychiatric.  2,b 


38fi 


Paranoia  simplex  chronica. 


schwerer  erblicher  Belastung.  Bei  der  typisclien  Form  findet  sicli  Be-  I 

lastung  in  ilber  70  “/q  aller  Falle.  Meist  handelt  es  sicli  urn  Individuen,  | 

welcbe  scbon  von  Kindbeit  auf  durcb  Absonderlicbkeit  (scheues  Wesen,  ; 
Misstrauen,  Reizbarkeit,  Unwabrbaftigkeit,  sexuelle  Perversitaten,  Hang 
zum  Griibeln  u.  s,  w.)  auffielen.  Die  geistige  Veranlagung  liegt  gewohn-  j 
lich  iinter  dem  Durcbscbnitt  (namentlicli  bei  der  originaren  Paranoia) 

Oder  sie  ist  auffallig  einseitig.  Die  ersten  Krankheitsanfange  fallen 
meist  bereits  in  das  3.  Lebensjalirzehnt,  bei  der  originaren  Form  in 
das  zweite.  Im  lioberen  Alter  zeigt  das  Klimakterium  eine  besondere  Prii- 
disposition  (Wabn  ehelicber  Untrene  des  Mannes !).  Unter  den  sonstigen 
intra  vitam  einwirkenden  Schadlichkeiten  sind  namentlicb  chroniscbe 
Aftecteinfliisse  von  atiologiscber  Bedeiitung.  Kummer  und  Zuriicksetzung 
spielen  oft  eine  grosse  Rolle.  Auch  einsame  Lebensweise  scheint  die 
Entstebung  der  Krankbeit  zu  begiinstigen;  dock  fragt  es  sich,  ob  der 
Hang  zur  Isolirung  nicht  in  vielen  Fallen  bereits  Krankbeitssymptom 
ist.  Aebnlicbes  gilt  von  der  Masturbation,  deren  Bedeutung  ebenso  oft 
iiber-  wie  unterschatzt  worden  ist.  Der  atiologischen  Bedeutung  der 
Hysterie  wurde  scbon  oben  gedacbt. 

Diagnose.  Verwecbslungen  sind  mbglicb  mit: 

1.  Dementia  paralytica.  Ernstere  Scbwierigkeiten  ergeben 
sicb  nicbt,  wenn  man  die  korperlicben  Symptome  und  den  cbarakteri- 
stiscben  erworbenen  Intelligenzdefect  der  Dementia  paralytica  beriick- 
sicbtigt. 

2.  Paranoia  hallucinatoria  cbronica.  Die  Unterscbeiduno- 

o 

berubt  auf  dem  Nacbweis  von  Hallucinationen.  Wo  solcbe  von  Anfang 
an  aufgetreten  sind  und  die  Wabnbildung  wesentlicb  veranlasst  baben, 
liegt  die  cbroniscbe  ballucinatorische  Eorm  vor,  im  anderen  Falle  die 
cbroniscbe  einfacbe  Form.  Zwiscben  beiden  kommen  jedocb  alle 
uberbaupt  denkbaren  Uebergangsformen  vor.  Hallucinato-  * 
rische  Wahnvorstellungen  und  primare  Wahuvorstellungen  konnen  von 
Anfang  an  sich  ungefabr  die  Wage  halten.  Namentlicb  bei  der  hyste- 
riscben  und  bei  der  hypochondrischen  Form  sind  solcbe  gemiscbten  Fiille 
nicbt  selten. 

Ueber  die  Abgrenzung  der  cbroniscben  einfachen  Paranoia  gegen 
pbysiologisches  Misstrauen  und  pbysiologiscben  Hochmutb  ist  das  Capitel 
uber  Wahnideen  in  der  allgemeinen  Pathologic  nachzulesen. 

Tberapie.  Die  Bebandlung  der  cbroniscben  einfachen  Paranoia 
ist  bezuglich  volliger  Heilung  aussicbtslos.  Remissionen  treten  aucb  ' 
obne  jede  Bebandlung  bfter  ein,  docb  vermag  eine  sacbverstandige  Bcr 
bandlung  entscbieden  den  Eintritt  und  den  Grad  der  Remissionen  zu 
fordern.  Die  beste  Chance  gewabrt  die  Versetzung  des  Kranken  in  vollig 
neue  Verbaltnisse  und  zweckmassige  Bescbaftigung  in  den  neuen  Yer- 


Geistesstorung  tlurcli  Zwangsvorstellungen. 


387 


lialtnissen.  Wenu  irgend  moglich,  wird  man  einen  Wechsel  des  Wohnorts 
veranlassen.  Haufig  empfiehlt  sicli  auch  ein  Berufswechsel.  An  dem 
neuen  Wohnort  muss  die  Beschaftigung  auf  das  Genaueste  iirztlich  iiber- 
wacht  und  regulirt  werden.  Der  Kranke  darf  zum  Griibeln  keine  Zeit 
haben.  Sein  tagliclies  Benifsleben  muss  ihm  bestimmte  Aufgaben  stellen, 
die  sein  Interesse  und  seine  Aufmerksamkeit  ganz  in  Ansprucb  nehmen. 
Seine  Wabnvorstellungen  ignorire  man  *)  Ueber  hypocbondrische  Be- 
sorgnisse  berubige  man  ibn  durcb  kurze,  biiudige,  einmalige  Erklarungen. 
Die  Scblaflosigkeit  und  innere  Unrube  des  Prodromalstadiums  ist  mit 
Brom,  die  Appetitlosigkeit  durcb  G5annastik,  Gartenarbeit  u.  dgl.  m.  zu 
bekiimpfen.  In  den  spateren  Stadien  ist  diese  Tberapie  begreiflicber 
AVeise  viel  weniger  erfolgreicb.  Das  Hauptgewicbt  wird  im  spateren 
Verlauf  stets  auf  Arbeit  zu  legeu  sein. 

In  alien  Fallen  ist  eine  genaue  Beaufsicbtigung  des  Kranken  be- 
zuglicb  der  Gemeingefabrlicbkeit  notbwendig.  Wenn  die  Umgebung  solcbe 
gewabrleisten  kann  und  wenn  der  Arzt  auf  Grund  genauer  Kenntniss 
des  Cbarakters  und  der  Wabnideen  des  Patienten  zur  Ueberzeugung  ge- 
langt,  dass  Gewalttbatigkeiten  nicbt  zu  befiircbten  sind,  so  kann  man 
Bebandlung  ausserbalb  der  gescblossenen  Anstalt  versucben  (entweder 
im  eigenen  Hause  oder  besser  in  einer  fremden  Familie  z.  B.  auf  dem 
Land!).  In  alien  anderen  Fallen  ist  die  Ueberfubrung  in  eine  ge- 
scblossene  Anstalt  notbwendig. 

Patbologiscbe  Anatomie.  Irgendwelcbe  Sectionsbefunde  liegen 
nicbt  vor;  die  cbroniscbe  einfacbe  Paranoia  gebbrt  gleichfalls  zu  den 
functionellen  Psycbosen. 


c.  Geistesstorung  durcb  Zwangsvorstellungen. 

Das  Hauptsymptom  dieser  Psycbose  sind  Zwangsvorstellungen,  d.  b. 
unricbtige  Urtbeilsassociationen,  welcbe  dem  Kranken  sicb  immer  wieder 
anfdrangen,  obwobl  die  bericbtigenden  Urtbeilsassociationen  iiberwiegen. 
Oft  kommt  es  zu  scbweren  secundaren  Affectstorungen  (Angstaffecten). 


*)  Ein  Beispiel  wird  dies  illustriren.  Ein  Paranoiker  weigert  sich  zu  essen : im 
Essen  sei  Gift.  Ganz  unzweckmassig  ware  es  in  solchem  Fall , dem  Kranken  dies 
ausreden,  die  Unwahrscheinlichkeit  ihm  nachweisen  zu  wollen.  Erst  recht  verkehrt 
ware  es,  mit  der  Schlundsonde  zu  drohen.  Sondern  man  wird  ganz  nebenbei,  ohne 
durcb  besondere  Worte  die  Aufmerksamkeit  des  Kranken  zu  erregen,  unter  seinen 
Augen  reichlich  von  der  Speise  geiriessen  und,  ohne  selbst  die  SchlUsse  zu  ziehen, 
unter  anderweitigem  Gesprach  den  Kranken  verlassen. 


25* 


388 


Geistesstorung  durch  Zwangsvorstellungen. 


Specielle  Symptomatol ogie, 

Inlialtliclie  Storungen  des  Vorstellens.  Wahnideen  be- 
stehen  nicht,  die  inhaltlichen  Storungen  bescliranken  sich  ausscbliesslich 
auf  Zwangsvorstellungen.  Diese  sind  in  der  allgemeinen  Pathologie  be- 
reits  ausfiihrlich  beschrieben  worden  (S.  120  ff.)  Von  den  dort  unter- 
schiedenen  Zwangsvorstellungen  sind  die  Zwangsvorstellungen  in  Urtheils- 
form  am  baufigsten.  Die  Entstehungsweise  der  einzelnen  Zwangsvor- 
stellung  ist  meist  die  S.  122  angegebene,  d.  h.  die  Zwangsvorstellung 
kniipft  an  eine  normale  Empfindung  an.  Angstatfecte  sind  in  den 
typischen  Fallen  bei  der  Entstebung  nicbt  betbeiligt.  Im  Speciellen 
sind  folgende  Zwangsvorstellungen  am  baufigsten: 

1.  Zwangsvorstellungen  eines  ganz  unwabrscbeinlicben  Unfalls,  der 
bald  durcb  die  Situation,  bald  durcb  eine  Handlung  des  Kranken  selbst 
herbeigefiibrt  ist  oder  berbeigefiibrt  werdeu  konnte:  so  fiircbtet  der 
Kranke  z.  B.  einen  Brand  durcb  ein  weggeworfenes  Streicbbolz  (Pyro- 
pbobie)  oder  einen  Unfall* **))  in  einem  abgescblossenen,  Flucbt  oder  Zuriick- 
zieben  nicbt  gestattenden  Kaume  (Claustropbobie)  oder  eine  Bescbmutzung 
bei  Beriibrung  irgend  eines  Gegenstandes  (Mysopbobie,  delire  du  toucher) 
oder  eine  Ansteckung,  Verletzung  oder  Vergiftung  in  gleicbem  Falle 
(Abtritte,  spitze  Gegenstande,  Pbospborstreicbbolzcben  u.  s.  w.). 

2.  Zwangsvorstellungen  einer  ganz  widersinnigen  Handlung:  der 
Kranke  wabnt,  in  sein  Gebet  einen  Flucb  einfiigen,  seinen  Angeborigen 
gemeine  Scbimpfworte  zurufen,  sicb  selbst  oder  einen  Anderen  umbringen, 
irgend  eine  compromittirende  Handlung  (z.  B.  in  Gesellscbaft)  begeben, 
alle  Ladenscbilder  auf  den  Strasseu  auswendig  lernen  zu  miissen  u.  dgl.  m.*) 
oder  er  wabnt  eine  solcbe  widersinnige  Handlung  bereits  begangen  zu 
baben. 

3.  Zwangsvorstellungen  im  Sinn  einer  zwangsmassigen  widersinnigen 
symboliscben  Umdeutung  einer  normalen  Handlung:  der  Kranke  wabnt, 
wenn  er  seine  Kleider  aufbiiugt,  so  bange  er  seinen  Vater  auf,  oder 
wenn  er  einen  Knoten  scbiirzt,  er  ziebe  eine  Scblinge  um  den  Hals  eines 
Angeborigen  zu,  oder  wenn  er  sein  Fleiscb  scbneidet,  er  scbneide  in 
den  Korper  eines  Verwandten  u.  s.  f. 

Fast  an  jede  Situation  kann  sich  eine  Zwangsvorstellung  kniipfen: 
der  Kranke  denkt  sicb,  die  Situation  kbnne  entweder  an  sicb  oder  durcb 

*)  Der  gefiirclitete  Unfall  kann  plotzlicher  Stuhlgang  mit  Kothverunreinigung 
(z.  B.  im  Schulzimmer,  in  der  Gemeinderathssitzung)  oder  plotzliches  Feuer  (z.  B.  im 
Theater)  u.  s.  w.  sein. 

**)  Die  Zwangsvorstellungen  unter  1 und  2 gehen  zuweilen  in  einander  ilber: 
der  Kranke  furchtet,  durch  eine  ganz  widersinnige  Handlung  ein  Ungluck  angerichtet 
zu  haben  oder  anzurichten,  so  z.  B.  glaubt  er  bei  dem  Voriiberstreifen  an  Passanten 
auf  der  Strasse  demand  lebensgefahrlich  verletzt  zu  haben. 


Geistesstorung  durch  Zwangsvorstellungen. 


389 


sein  Verschulden  (eine  bestimmte  Unterlassung  oder  eine  bestimmte 
Thatigkeit)  zu  schwereu  Folgen  fiihren  oder  schon  gefiibrt  haben.  Es 
ist  jedoch  fiir  die  uns  beschaftigende  Krankbeit  sebr  charakteristisch, 
dass  der  Kranke  in  der  Kegel  sich  auf  eine  oder  einige  wenige  Zwangs- 
vorstellungen bescbrankt.  Nur  an  einige  ganze  bestimmte  Empfindungen 
kniipfen  die  pathologiscben  Associationen  an.  So  bleibt  z.  B.  nicht 
selten  die  Mysophobie  oder  Beriibrungsfurcht  jabrelang,  mitunter  zeit- 
lebens  die  einzige  Zwangsvorstellung , welcbe  neben  sich  keine  anderen 
Zwangsvorstellungen  aufkommen  lasst. 

Nicht  stets  ist  der  Inhalt  der  Zwangsvorstellungen  bei  der  in  Rede 
stehenden  Krankbeit  ein  unangenehmer,  nicht  selten  ist  er  auch  trivial, 
und  der  Kranke  fiihlt  nur  das  stete  Aufdrangen  der  Zwangsvorstellungen 
eben  wegen  ihrer  Trivialitat  unangenehm.  So  konnen  dem  Kranken  ganz 
sinnlose  Satze  sich  fortwahrend  aufdrangen,  welcbe  an  sich  des  Ge- 
fiihlstons  vollig  entbehren.  Hierher  gehbrt  auch  die  in  der  speciellen 
Pathologie  erwahnte  Griibelsucht  (S.  126). 

Formale  Storungen  des  Vorstellens.  Primare  derartige 
Vorstellungen  fehlen  vollstandig,  dagegen  kommt  es  mitunter  zu  einer 
1 secundaren  Hemmung  und  Incoharenz  des  Vorstellungsablaufs.  Erstere 
ist  auf  die  Angst,  welcbe  die  Zwangsvorstellungen  begleitet,  letztere  auf 
j das  storende,  fort  und  fort  sich  wiederholende  Zwischentreten  der  Zwangs- 
: vorstellungen  selbst  zuriickzufiihren. 

I Storungen  desEinpfindens  fehlen  in  den  uncomplicirten  Fallen 

i zunachst  voUstandig;  erst  in  den  spateren  Stadien  des  Krankheitsverlaufs 
' kommt  es  zuweilen  zu  Illusionen  und  Hallucination  en  im  Sinn  der  Zwangs- 

i vorstellungen.  So  sieht  der  Kranke,  welcher  jabrelang  von  der  Zwangs- 

j vorstellung  beherrscht  war,  er  babe  einen  Voriibergehenden  von  der  Briicke, 

I welcbe  er  taglich  passirt,  herabgestossen,  schliesslich,  wenn  er  iiber  die 
I Briicke  geht,  „ einen  unbestimmten  Schein,  als  fiele  eben  eine  Gestalt  in 
den  Fluss".  Aeusserst  selten  erlangen  diese  Sinnestauschungen  eine  er- 
j heblichere  sinnliche  Lebhaftigkeit  (s.  auch  S.  123). 

I Affectstorungen.  Bei  der  typischen  Form  der  Krankbeit 
j kommen  primare  Affectstorungen  nicht  vor.  Die  Zwangsvorstellung 

fiihrt  erst  secundar  in  der  S.  122  beschriebenen  Weise  zu  Angstaffecten. 
Diese  Angstaffecte  erst  verleihen  der  Zwangsvorstellung  ihren  enormen 
j Einfluss  auf  das  Handeln  des  Kranken.  Nur  wenn  der  Kranke  seiner 
Zwangsvorstellung  nachgiebt,  lasst  die  Angst  momentan  nach.  In  Stunden 
bezw.  in  Situationen,  welcbe  von  Zwangsvorstellungen  verschont  bleiben, 
ist  der  Kranke  in  normaler  Stimmung,  weder  krankhaft  traurig  noch 
i krankhaft  reizbar. 

I 

! DieHandlungen  entsprechen  durchaus  dem  Inhalt  der  Zwangs- 

II  vorstellungen  sowie  der  die  Zwangsvorstellungen  begleitenden  Angst. 


390 


Geistesstorung  dnrch  Zwangsvorstellungen. 


• 

Sie  tragen  den  Charakter  der  sogenannten  Zwangshandlungen  (vgl.  S.  122, 
125,  164).  Meist  erlahmt  der  Widerstand  der  Kranken  gegeniiber  ihren 
Zwangshandlungen  schon  sehr  bald.  Entweder  geht  er  dem  Kampf  ganz 
aus  dem  Wege,  indem  er  keine  geschlossenen  Raume  mehr  besucht,  alle 
spitzen  Gegenstande  aus  seinein  Hause  verbannt,  kein  Kleid  mehr  in 
seinem  Schrank  aufhangt,  von  anderen  das  Essen  sich  vorschneiden 
lasst  u.  s.  w.,  Oder  er  unterliegt  im  Kampf;  kaum  hat  er  sein  Kleid  an 
den  Nagel  gehangt,  so  zwingt  ihn  die  Zwangsvorstellung  und  die  Angst, 
welche  sie  begleitet,  das  Kleid  wieder  herunterzunehmen.  Oft  wird 
der  Kranke  vollstandig  unfahig,  seinen  Beruf  weitef  auszufiillen , weil 
die  Zwangsvorstellungen  seine  ganze  Thatigkeit  absorbiren.  Weil  er 
glaubt,  in  seinem  Brief  einen  Scbreibfehler  oder  einen  falschen  Ausdruck 
gebraucht  zu  haben,  bffnet  er  das  Convert  immer  wieder,  um  sich  zu 
iiberzeugen,  dass  Alles  richtig  geschrieben  ist.  Aber  kein  Augenschein 
hilft ; oft  genug  reclamirt  der  Kranke  den  Brief,  den  er  schliesslich  doch 
noch  in  den  Kasten  geworfen  hat,  nachtraglich  auf  der  Post:  die  Zwangs- 
vorstellung, er  kbnne  sich  versehen  haben,  ist  machtiger  als  sein  ge- 
sundes  Urtheil  und  die  normale  Sinnesempfindung. 

Korperliche  Symptome  stellen  sich  in  den  uucomplicirten 
Fallen  erst  mit  dem  Angstaffect  ein.  Dieser  zeigt  fast  stets  eine  Reihe 
korperlicher  Begleiterscheinungen,  so  namentlich  allgemeines  Zittern,  arte- 
riellen  Gefasskrampf,  Cardiopalmus,  zuweilen  auch  Gesichtsfeldeinengung, 
Schwindel  und  Uebelkeit. 

Verlauf.  Die  erste  Zwangsvorstellung  tritt  meist  ganz  plbtzlich 
auf  und  zwar  gewohnlich  bei  einer  ganz  bestimmten  Constellation  der 
ausseren  Umstiinde,  der  Empfindungen  und  Vorstelluugen.  Sehr  haufig 
kniipft  die  erste  Zwangsvorstellung  an  irgend  eine  bedeutsamere  Situa- 
tion Oder  ein  bedeutsameres  Erlebniss  an.  Der  Kranke  soil  z.  B.  zum 
ersten  Male  als  Prediger  die  Kanzel  betreten  oder  eine  grossere  Ge- 
sellschaft  besuchen  u.  dgl.  m.  Fast  stets  liisst  sich  nachweisen,  dass  in 
dem  Augenblick,  wo  der  Kranke  zum  ersten  Mai  einer  Zwangsvorstellung 
anheimfiel,  seine  Widerstandskraft  durch  irgend  ein  Moment  (Nachtwache, 
Ueberarbeitung,  Affectspannung,  Ueberraschung)  geschwiicht  war.  Hat 
die  Zwangsvorstellung  erst  ein  Mai  von  ihrem  Opfer  Besitz  ergrilfen, 
so  bedarf  es  kiinftig  solcher  pradisijonirenden  Momente  nicht  mehr: 
sobald  sich  dieselbe  Situation  wiederholt,  tritt  alsbald  die  Zwangsvor- 
stellung wieder  auf.  Mit  jedem  Auftreteu  nistet  sie  sich  fester  ein. 
Schliesslich  bedarf  es  auch  keiner  bestimmten  Situation  mehr.  Der  Kranke 
furchtet  ein  brennendes  Streichholz  ‘haben  fallen  zu  lassen,  ohne  dass  er  ein 
Streichholz  gesehen  hat,  geschweige  denn  ein  Streichholz  angesteckt  hat. 

Der  weitere  Verlauf  der  Krankheit  ist  meist  remittirend.  Auch 
spontane  Intermissionen  kommeu  gelegentlich  vor. 


Geistesstoning  (lurch  Zwangsvorstellungen. 


391 


Aiisgiinge  unci  Prognose.  Heilungen  sind  in  den  uncompli- 
cirten  Fallen  selten.  Man  kann  sie  niir  in  solchen  Fallen  erwarten,  wo 
die  Zwangsvorstellungen  auf  dem  Boden  einer  ganz  acut  einwirkenden 
rasch  voriibergelienden  Schadlichkeit  sicli  entwickelt  haben  (z.  B.  nacli 
scbweren  Blntverlnsten  oder  in  der  Graviditat).  In  alien  anderen  Fallen 
bleiben  die  Zwangsvorstellungen  bis  zum  Lebensende  bestehen.  Fast 
niemals  gehen  die  Zwangsvorstellungen  in  Wahnvorstellungen  iiber.  Das 
IG-ankbeitsbewusstsein  bleibt  auch  nacli  Jahrzehnten  nocli  vollig  erhalten. 
Auch.  ein  Uebergang  in  secundare  Demenz  kommt  nickt  vor.  Ein  solclier 
wil'd  zuweilen  allerdings  dadurch  vorgetauscht , dass  die  Kranken  nach 
jahrelangem  Verlauf  schliesslicli  des  Kampfes  miide  werden  ibid  meclianiscli 
den  gauzen  Tag  ihren  Zwangsvorstellungen  und  Zwangsliandlungen  nacli- 
bangen.  Darliber  gehen  sckliesslicli  alle  anderen  Interessen  und  Affecte 
des  Kranken  unter.  Viele  verlassen  ibr  Zimmer  kaum,  scbeu  zieben  sie 
sicb  von  alien  Menscben  zuriick  und  vernacblassigen  ihren  Beruf  und 
ihre  bauslicben  Pflicbten  vollstandig.  Eine  aufmerksame  Untersucbuug 
lebrt  jedocb  sofort,  dass  diese  Apatbie  mit  keinerlei  Intelligenzdefect 
verknlipft  ist. 

Varietaten.  Die  uncomplicirte  „Geistesstorung  durcb  Zwaugs- 
vorstellungen"  ist  nicbt  gerade  baufig.  Haufiger  ist  sie  mit  Neurastbenie 
oder  Hysterie  complicu’t.  Speciell  ist  die  Complication  mit  Neurastbenie 
so  gewobnlicb,  dass  man  zuweilen  die  Geistesstoning  durcb  Zwangsvor- 
stellungen vollig  gestricben  und  alle  bierber  gezablten  Falle  zur  Neur- 
astbenie gerecbnet  bat.  Damit  ist  man  nun  allerdings  zu  weit  gegangen, 
da  es  nicbt  wenige  Falle  giebt,  wo  alle  neurastbeniscben  Symptome 
fehlen,  aber  die  Tbatsacbe,  dass  im  Verlauf  der  Neurastbenie  iingemein 
baufig  typiscbe  Zwangsvorstellungen  auftreten,  ist  unzweifelbaft  ricbtig. 
Es  ist  dies  offenbar  so  aufzufassen,  dass  die  Zwangsvorstellungen  selbst 
nur  ein  Symptom  darstellen.  Dieses  Symptom  kommt  bei  den  ver- 
scbiedensten  Psycbosen  vor,  so  z.  B.  aucb  bei  Melancbolie,  im  Anfangs- 
stadium  der  Dementia  paralytica,  bei  Hysterie  u.  s.  f.  und  namentlicb 
bei  Neurastbenie.  Dasselbe  Symptom  tritt  aber  aucb  isolirt  auf  d.  b. 
als  einziges  Hauptsymptom  einer  bestimmten  Krankbeit,  namlicb  der  im 
Obigen  beschriebenen  „ Geistesstoning  aus  Zwangsvorstellungen 

Aetiologie.  Erblicbe  Belastung  ist  sowobl  bei  der  typiscben  wie 
bei  der  mit  Neurastbenie  complicirten  Form  ausserst  baufig  (ca.  80  %). 
Oft  liegt  scbwere  erblicbe  Degeneration  vor.  Der  Ausbrucb  fiillt  am 
baufigsten  in  die  Zeit  der  Pubertat.  Gelegentlicb  zeigen  sicb  die  ersten 
Zwangsvorstellungen  scbon  in  der  Kindbeit.  Ab  und  zu  fallt  der  Krank- 
beitsbeginn  mit  dem  Klimakterium  zusammen.  Masturbation,  Abusus 
Nicotianae,  Alkobolexcesse , intellect uelle  Ueberanstrengung,  korperlicbe 
Strapazen,  gebaufte  Affecterregungen  kommen  oft  zu  der  erblicben  Ver- 


392 


Geistesstorung  durch  Zwangsvorstellungen. 


anlagung  hinzu.  Die  Gelegenlieitsveranlassungen  zum  Auftreten  cler 
ersten  Zwangsvorstellung  warden  oben  bcreits  erwahnt,  desgleichen  wurde 
der  wichtigen  Rolle  der  Neurasthenie  bei  der  Genese  von  Zwangsvor- 
stellungen gedacht. 

Diagnose.  Entscbeidend  fiir  die  Diagnose  ist  zunachst  stets  der 
Nachweis,  dass  der  Kranke  von  der  Krankbaftigkeit  seiner  Vorstellungen 
durcbaus  iiberzeugt  ist  und  ihr  Auftreten  als  einen  qualvollen  Zwang 
fiiblt.  Impulsive  Handlungen,  d.  h.  plbtzliche,  dem  Spiel  der  Motive 
scbeinbar  gar  nicbt  entsprecbende  Handlungen  kornmen  aucb  auf  Grand 
von  Hallucinationen  vor,  ferner  auf  Grand  plotzlicher'  Stimmungsschwan- 
kungen  bei  der  Hysterie  und  auf  Grand  plotzlicher  Einfalle  bei  der 
Paranoia  der  Erblicb-Belasteten  und  konnen  bei  ausserlicher  Beobach- 
tung  Zwangsvorstellungen  bezw.  Zwangshandlungen  vortauschen.  Ge- 
nauere  Untersuchung  ergiebt  obne  Scbwierigkeit,  worum  es  sich  bandelt. 
Die  Zwangsbandlung,  welcbe  auf  einer  Zwangsvorstellung  berubt,  tritt 
ein,  obwohl  der  Kranke  aucb  im  Augenblick  des  Handelns  nicbt  im 
geringsten  an  der  Krankbaftigkeit,  Widersinnigkeit  und  Unfreiwilligkeit 
seiner  Handlung  zweifelt.  Die  impulsive  Handlung  des  Hallucinanten, 
Hysterikers  u.  s.  f,  erfolgt  bingegen  in  einem  Augenblick,  wo  eine  plotz- 
licbe  Sinnestauscbung  oder  eine  plotzlicbe  Wabnvorstellung  vom  Kran- 
ken  als  Wirklicbkeit  angenommen  wird.  Ein  sacbgemasses  Befragen  des 
Kranken  selbst  fiibrt  bier  stets  zum  Ziel. 

Sobald  einmal  feststebt,  dass  wirklicb  Zwangsvorstellungen  vorliegen, 
sO  erbebt  sicb  die  weitere  Frage,  ob  es  sicb  um  die  fiir  unsere  Krank- 
beit  typiscben  Zwangsvorstellungen  bandelt,  welcbe,  wie  oben  bervor- 
geboben,  obne  wesentlicbe  Mitwirkung  von  Angstaffecten  entsteben. 
Man  bat  somit  den  Kranken  direct  zu  befragen : Ueberfallt  Sie  erst  die 
Angst  und  kornmen  Ibnen  dann  die  Zwangsgedanken  ? Oder  kornmen 
Ibnen  letztere  zuerst  und  stellt  sicb  mit  und  nacb  ibnen  erst  die  Angst 
ein?  Meist  beantworten  die  Kranken  diese  Frage  ganz  pracis.  Man 
muss  nur  die  Frage  ausdriicklicb  auf  die  erste  Zeit  der  Krankbeit  be- 
schranken.  Spater  verscbiebt  sicb  niimlicb  der  psycbologiscbe  Zusammen- 
bang  oft.  Namentlicb  kommt  spater  zu  der  durcb  die  Zwangsvorstellung 
direct  bervorgerufenen  Angst  nocb  „die  Angst  vor  der  Zwangsvorstellungs- 
angst^^,  wie  eine  Kranke  es  in  sebr  bezeicbnender  Weise  nannte.  Der 
Kranke  gerath  spaterbin  scbon  in  Angst,  wenu  er  nur  ein  Kleid  liegen 
siebt;  er  furcbtet  die  Zwangsvorstellung  mit  ibren  Angstqualen.  Enter 
diesen  Umstanden  kann  es  dann  scbeinen,  als  gebe  die  Angst  der  Zwangs- 
vorstellung voraus.  Diese  Angst  ist  jedocb  eine  nacbtraglicb  einge- 
scbobene.  Im  Krankbeitsbeginn  bestand  nur  die  der  Zwangsvorstellung 
nacbfolgende  Angst.  Daber  ist  bei  der  Befragung  des  Kranken  stets 
auf  die  erste  Zeit  der  Krankbeit  Bezug  zu  nebmen. 


Geistesstoriing  (lurch  Zwangsvorstellungen. 


393 


Aiich  mit  der  Feststellung  typischer  d.  h.primarer  Zwaugsvorstellungen 
ist  die  diagnostisclie  Arbeit  nocb  niclit  vollstiindig  getban.  Man  wird  vor 
Allem  nocb  eruiren  miissen,  ob  Symptome  der  Neurastbenie  oder  der  De- 
mentia paralytica  besteben.  Finden  sicb  Symptome  der  letzteren,  so  sind 
die  Zwangsvorstellungen  nur  ein  Vorlaufersymptom  der  Dementia  para- 
lytica. Viel  baufiger  werden  sicb  psycbiscbe  und  somatiscbe  Symptome 
der  Neurastbenie  (event,  aucb  der  Hysterie)  finden.  Dann  bandelt  es  sicb 
um  eine  Neurastbenie  complicirt  mit  Zwangsvorstellungen.  Endlicb  wird 
in  einer  gewissen  Zabl  von  Fallen  ausser  den  typiscben  Zwangsvor- 
stellungen und  einigen  Degenerationszeicben  ein  erbeblicberes  kbrper- 
licbes  Oder  seeliscbes  Krankbeitssymptom  iiberbaupt  nicbt  vorbanden 
sein:  in  diesen  Fallen  liegt  die  uncomplicirte  „Geistesstorung  durcb 
Zwangsvorstellungen'^  vor. 

Tberapie.  Bei  den  typiscben  Zwangsvorstellungen  ist  Gemein- 
gefabrlicbkeit  fast  niemals,  Selbstmordverdacbtigkeit  selten  vorbanden. 
Trotzdem  ist  die  Bebandlung  in  der  Familie  nicbt  anzuratben,  weil  nur 
dann,  wenn  der  Arzt  in  der  Lage  ist,  das  ganze  Leben  des  Kranken 
selbst  zu  iiberwacben  und  eventuell  in  jeder  Stunde  persbnlicb  einzu- 
greifen,  irgendwelcber  Erfolg  zu  erwarten  ist.  Es  empfieblt  sicb  daber, 
den  Kranken  entweder  einer  Nervenheilanstalt  oder  der  otfenen  Ab- 
tbeilung  einer  Irrenanstalt  zuzuweisen.  In  der  Anstalt  ist,  abgeseben 
von  der  Erfiillung  atiologiscber  Indicationen  (Entziebnng  des  Nicotins, 
des  Alkobols,  Hebung  der  Ernabrung,  Abbartnng  des  Nervensystems 
durcb  kalte  Wascbungen  u.  s.  w.)  und  abgeseben  von  der  Bebandlung 
complicirender  neurastbeniscber  Symptome,  vor  Allem  die  Lebensweise 
durcb  einen  geeigneten  Stundenplan  genau  zu  regeln.  Wenn  es  irgend 
tbunlicb  ist,  vermeidet  man  zunacbst  jede  Bescbaftigung  und  jede  Situa- 
tion, an  welcbe  die  Zwangsvorstellungen  des  Kranken  anzuknlipfen  pflegen. 
Erst  wenn  einige  Wochen  — und  in  scbwereren  Fallen  einige  Monate  — 
auf  diesem  Wege  das  Auftreten  der  Zwangsvorstellungen  vermieden  oder 
y^enigstens  eingescbrankt  worden  ist  und  damit  die  associative  Verkniipfung 
der  Empfindung  mit  der  zugebbrigen  Zwangsvorstellung  sicb  etwas  ge- 
lockert  bat,  beginnt  man  mit  metbodiscben  Uebungen.  Man  lasst  den 
Kranken  mit  den  leicbtesten  Versucben  beginnen.  Man  begniigt  sicb 
z.  B.  damit,  dass  die  Kranke  ein  Kleid  aufbangt  und  30  Secimden 
bangen  lasst,  oder  man  fangt  damit  an,  dass  man  selbst  unter  ibren 
Augen  ein  Kleid  aufbangt  oder  ibre  Hand  bei  dem  Aufbangen  fiibrt. 
Den  Kranken  mit  Feuerfurcbt  wird  man  in  analoger  Weise  zunacbst 
ein  Streicbbblzcben  erfassen  und  erst  in  spateren  Tagen  anstecken  lassen; 
das  angeziindete  Streicbbblzcben  wird  man  zunacbst  dem  Kranken  aus 
der  Hand  nehmen  und  ibm  erljlaren:  die  Verantwortung  sei  von  ibm 
abgenommen,  man  iibernebme  sie  selbst  und  werde  das  Streicbbblzcben 


394  Geistesstorung  durch  Zwangsvorstellungen. 

selbst  beseitigen.  Erst  spater  muss  cler  Kranke  das  Streichbolz  selbst 
auslbsclien  und  wiederum  spater  es  selbst  wegwerfen  lernen.  So  ge- 
wohnt  man  den  Kranken  allmablicli  an  den  Kampf  mit  seinen  Zwangs- 
vorstellungen. Bei  den  ersten  Versucben  muss  der  Arzt  stets  selbst  zu- 
pgen  sein,  und  nur  langsam  gewohne  man  den  Kranken  allein  seine 
Zwangsvorstellung  zu  unterdriicken.  Selbstverstandlich  muss  der  Kranke 
das  vollste  Vertrauen  zum  Arzt  haben;  die  autoritative  Versicherung 
des  letzteren:  ,jich  iibernebme  die  Verantwortung  fiir  alle  Folgen"  er- 
leichtert  dem  Kranken  den  Kampf  oft  ungemein.  Leider  bleiben  bei  der 
praktischen  Durchfiihrung  dieser  Metbode  zablreicbe -Ruckfalle  nicbt  aus. 
Es  gilt  dann  immer  wieder  mit  unermiidlicber  Geduld  den  Weg  von  vorn 
zu  beginnen.  In  vielen  Fallen  trotzt  freilicb  die  Krankbeit  alien  Be- 
miibungen,  in  mancben  aber  erzielt  man  nacb  balbjabriger  oder  ganz- 
jabriger  Bebandlung  scbliesslicb  docb  eine  erbeblicbe  Remission  oder 
gar  eine  Intermission. 

Besonders  grosse  Scbwierigkeiten  bietet  meist  die  psycbiscbe  Be- 
bandlung der  B e r ii  b r u n g s furcbt.  Bei  dieser  speciellen  Form  empfieblt 
es  sicb  zunacbst  mit  Bettrube  zu  beginnen  und  dem  Kranken  die  krank- 
baft  gebiluften  Wascbungen  vollig  zu  verbieten;  statt  dessen  lasst  man 
ibn  zunacbst  durcb  einen  Pfleger  regelmassig  und  zwar  zunacbst 
ziemlicb  baufig  (z.  B.  stiindlicb)  wascben.  Ganz  allmablicb  scbi’ankt 
man  diese  Wascbungen  ein  und  ganz  allmablicb  libertriigt  man  eine 
Wascbung  nacb  der  anderen  dem  Kranken  selbst.  Dabei  ist  die  Zeit 
und  die  Dauer  jeder  einzelnen  Wascbung  auf  die  Minute  genau  vor- 
zuscbreiben.  Spater  lasst  man  vorsicbtig  den  Kranken  aufsteben,  bringt 
ibn  mit  immer  mebr  Gegenstanden  zunacbst  in  seinem  Zimmer  und 
scbliesslicb  aucb  ausserbalb  desselben  in  Beriibrung. 

Starkere  Angstanfalle  sind  mit  kalten  Abwascbungen  oder  bydro- 
patbiscben  Einpackungen  und  namentlicb  mit  Bettrube  zu  bekampfen. 
Opium  und  aucb  Alkobol  wirken  zwar  sebr  prompt,  ibre  Anwendung 
fiibrt  jedocb  leicbt  zu  cbroniscbem  Abusus.  Man  greife  daber  nbtbigen- 
falls  lieber  zu  den  Bromsalzen. 

Zerstreuung,  namentlicb  Geselligkeit,  wirkt  in  vielen  Fallen  giinstig. 
Aucb  die  Versetzung  in  eine  ganz  andere  Umgebung  und  Tbiitigkeit  bat 
oft  einen  iiberrascbend  giinstigen  und  plotzlicben,  leider  aber  meist  nur 
voriibergebenden  Erfolg. 

Patbologiscbe  Anatomie.  Sectionsbefunde  liegen  nicbt  vor, 
die  Krankbeit  ist  somit  als  functionell  zu  bezeicbneu. 


Zusammengesctzte  Psychosen. 


395 


B.  Zusammeugesetzte  Psychoseu. 

Die  zusammengesetzten  Psychosen  ohne  Intelligenz defect  sind  er- 
heblich  seltener  als  die  einfachen.  Ihre  Abgrenzung  ist  im  Einzelnen 
noch  sehr  wenig  sicher.  Es  sollen  daher  niir  einige  wichtigere  Formen 
ganz  kurz  besprochen  bezw.  genannt  werden. 

a.  Die  secundare  hallucinate rische  Paranoia. 

Diese  Psychose  ist  dadurch  charakterisirt , dass  auf  ein  melan- 
cholisches  oder  maniakalisches  Stadium  ein  hallucinatorisch-wahnhaftes 
Stadium  folgt.  Das  melancholische  bezw.  maniakalische  erste  Stadium 
entspricht  in  alien  wesentlichen  Punkten  der  typischen  Melancholie  bezw. 
Manie,  das  zweite  paranoische  Stadium  verlauft  meist  unter  dem  Bild 
einer  typischen  hallucinatorischen  Paranoia.  Haufiger  ist  der  melan- 
cholisch-paranoische  Verlauf.  Den  Uebergang  aus  dem  melancholischen 
in  das  paranoische  Stadium  vermitteln  ofters  hypochondrische  Wahnvor- 
stellungen.  Im  paranoischen  Stadium  kommen  Verfolgungsvorstellungen 
und  Grossenvorstellungen  und  die  entsprechenden  Hallucinationen  gleich- 
massig  vor,  einerlei  ob  das  erste  Stadium  melancholischen  oder  mania- 
kalischen  Charakters  war.  Die  Dauer  des  ersten  Stadiums  belauft  sich 
auf  2—6,  diejenige  des  zweiten  auf  mindestens  ebensoviele  Monate. 
Heilung  tritt  hochstens  in  der  Halfte  aller  Falle  ein,  in  der  anderen 
Halfte  entwickelt  sich  allmahlich  secundare  Demenz.  Die  Therapie  ge- 
staltet  sich  im  paranoischen  Stadium  ganz  wie  diejenige  einer  acuten 
hallucinatorischen  Paranoia. 

b.  Die  postmanische  und  postmelancholische  Stupiditat. 

Zuweilen  kommt  es  nach  einer  typischen  Manie  oder  Melancholie 
zu  einer  typischen  Stupiditat.  Man  muss  sich  hiiten,  letztere  mit  einer 
secundaren  Paranoia  in  stuporoser  Form  zu  verwechseln.  Auch  bei  diesem 
Verlauf  ist  die  Gefahr  eines  Ausgangs  in  secundare  Demenz  gross.  Fiir 
die  Behandlung  kommen  specielle  Indicationen  nicht  in  Betracht. 

c.  Die  postneurasthenische  hypochondrische  Melancholie 
und  einfache  hypochondrische  Paranoia. 

Bei  Besprechung  des  neurasthenischen  Irreseins  wurde  dieses  Ver- 
laufes  bereits  gedacht.  Es  wurde  hervorgehoben,  dass  die  hypochon- 
drische Neurasthenie  entweder  durch  Auftreten  primarer  Angstaffecte 
und  primarer  Depression  in  hypochondrische  Melancholie  oder  durch 
wahnhafte  Weiterbildung  der  hypochondrischen  Vorstellungen  in  ein- 
fache hypochondrische  Paranoia , iibergehen  konne.  Der  ersteren  Even- 
tualitat  kann  man  oft  mit  giinstigem  Erfolg  durch  eine  energische  Opium- 


396 


Zusammengesetzte  Psychosen. 


therapie  vorbeugen,  cler  letzteren  Eventualitat  steben  wir  macbtlos  gegen- 
iiber;  doch  wird  man  durch  einen  vblligen  WechsM  der  Lebensbedingungen 
und  energiscbe  Beschaftigung  die  Entwickelung  einer  einfachen  Paranoia 
aufzuhalten  versucben. 


d.  Die  postmelancholiscbe  hyp  ochondrische  einfache 

Paranoi  a. 

Die  Melancholie  mit  secundaren  hypochondrischen  Wahnvorstellungen 
nimmt  zuweilen  folgenden  bereits  bei  Besprechung  der  Melancholie  kurz 
erwahnten  Verlauf:  die  Depression  und  die  Angsfaffecte  verschwinden, 
die  hypochondrischen  Wahnvorstellungen  machen  sich  von  den  Affect- 
stbrungen,  aus  welchen  sie  hervorgegangen  sind,  unabhangig  und  im 
Anschluss  an  sie  treten  Wahnvorstellungen  der  Verfolgung  u.  s.  w,  auf. 
Von  der  unter  a.  erwahnten  Form  der  Secundarparanoia  unterscheiden 
sich  diese  Formen  durch  die  Abwesenheit  aller  Hallucinationen.  Die 
Therapie  ist  gegeniiber  dieser  Weiterentwicklung  fast  vollig  machtlos. 
Fine  sehr  energische  Opiumbehandlung  mit  gleichzeitiger  inten- 
sive r Beschaftigung  wirkt  zuweilen  giinstig. 


e.  Das  melanch olisch-maniakalische  Irresein 
(Folie  a double  forme). 

Es  wurde  schon  friiher  erwahnt,  dass  das  hypertbymische  Reactions- 
stadium  nach  einer  in  Genesung  iibergehenden  Melancholie  zuweilen  bis 
zu  der  Hbhe  einer  zweiten  Psychose,  einer  Manie,  sich  entwickeln  kann. 
Ebenso  kommt  es  vor,  dass  das  depressive  Reactionsstadium  nach  einer 
in  Genesung  iibergehenden  Manie  zuweilen  bis  zu  einer  secundaren 
Melancholie  sich  steigert.  In  beiden  Fallen  spricht  man  von  einer  Folie 
a double  forme  oder  einem  melancholisch  - maniakalischen  bezw.  mania- 
kalisch-melancholischen  Irresein.  In  seltenen  Fallen  ist  die  Psychose 
mit  einem  derartigen  Verlauf  in  2 Stadien  erledigt  und  von  definitive!*, 
dauernder  Heilung  gefolgt.  Me  ist  ist  der  Verlauf  circular,  d.  h. 
nach  einem  klirzeren  oder  langeren  Intervall  wiederholt  sich  der  Anfall 
mit  seinen  2 Stadien,  und  in  der  Regel  setzen  sich  diese  Anfalle  bis  zum 
Lebensende  des  Kranken  fort.  Von  den  verschiedenen  circularen  Irre- 
seinsformen  (s.  allgem.  Psychopathologie  S.  197)  ist  diese  melancholisch- 
maniakalische  bezw.  maniakalisch-melancholische  Form  weitaus  die  hau- 
figste.  Wenn  man  daher  schlechtweg  von  circularem  Irresein  spricht, 
so  meint  man  in  der  Regel  eine  dieser  beiden  Formen. 

Das  gewbhnliche  circulare  Irresein  zeigt  also  folgenden  schema- 
tischen  Verlauf:  Melancholie,  Manie,  Intervall,  Melancholie,  Manie,  Inter- 
vall, Melancholie,  Manie,  Intervall  u.  s.  w.  oder  — nicht  ganz  so  baufig  — 
den  schematischen  Verlauf:  Manie,  Melancholie,  Intervall,  Manie,  Melan- 


t 


f 


Zusammengesetzte  Psychosen. 


397 


cliolie,  Intervall  u.  s.w.  Die  maniakalisclie  Phase  entspriclit  durchaus  einer 
typischen  Manie,  die  melancholische  einer  typischen  Melancholie.  Die 
Dauer  einer  Phase  schwankt  zwischen  einigen  Tagen  und  einigen  Jahren. 
Meist  betragt  sie  3 — 6 Monate.  Meist  dauert  die  melancholische  Phase 
etwas  liinger  als  die  maniakalische.  Das  Intervall  ist  in  der  Hegel  kiirzer 
als  eine  der  Krankheitspliasen.  Ab  und  zu  fehlt  es  ganz.  Audi  in  einem 
und  demselben  Fall  kann  die  Dauer  der  einzelnen  Phasen  im  Yerlauf 
des  Leidens  sich  allmahlicb  verlangern  oder  verkiirzen.  Die  erste  Krank- 
heitsphase  setzt  meist  sehr  briisk  ein  (namentlicb  wenn  sie  maniakalischer 
Natur  ist).  Der  Uebergang  von  der  ersten  Phase  zur  zweiten  ist  meist 
sehr  jah;  etwas  langsamer  klingt  die  zweite  Phase  in  das  Intervall  ab. 
Die  maniakalischen  Phasen  der  verschiedenen  Anfalle  zeigen  untereiu- 
ander  oft  eine  fast  photographische  Aehnlichkeit  und  ebenso  auch  die 
melancholischen.  Im  spateren  Verlauf  der  Krankheit  findet  man  oft 
dass  die  beiden  Phasen  des  Anfalls  nicht  mehr  so  scharf  wie  Anfangs 
geschieden  sind.  Ein  episodisches  Auftreten  einer  mehrstiindigen  oder 
selbst  mehrtagigen  Depression  innerhalb  der  maniakalischen  Phase  oder 
einer  ebenso  voriibergehenden  Exaltation  innerhalb  der  melancholischen 
Phase  kommt  auch  bei  den  ersten  Anfallen  schon  oft  vor  und  giebt  oft 
schon  friih  einen  Fingerzeig,  dass  es  sich  nicht  um  eine  einfache  Manie  oder 
Melancholie,  sondern  um  die  Theilphase  eines  circularen  Irreseins  handelt. 

Die  Prognose  dieses  circularen  Irreseins  ist  sehr  ungiinstig.  Selbst 
die  sorgfaltigste  Behandlung  in  einer  Anstalt  vermag  die  Wiederkehr 
neuer  Anfalle  gewbhnlich  nur  hinauszuschieben,  nicht  aber  zu  verhindern. 
Erbliche  Belastung  fehlt  selten,  in  liber  60  ®/u  Falle  liegt  schwere 

erbliche  Belastung  vor.  Gelegentlich  tritt  die  Krankheit  auch  im  Ver- 
lauf des  chronischen  Alkoholismus  auf.  Der  erste  Ausbruch  erfolgt 
meist  in  der  Pubertat  oder  im  Klimakterium. 

Die  Diagnose  ist  mit  Sicherheit  erst  moglich,  wenn  bereits  mehr 
als  ein  doppeltheiliger  Anfall  beobachtet  worden  ist  bezw.  anamnestisch 
bereits  ein  solcher  sich  feststellen  lasst.  Ist  der  zu  beurtheilende  An- 
fall der  erste  iiberhaupt  vorgekommene,  so  wird  man,  solange  nur  eine 
Theilphase,  eine  melancholische  oder  eine  maniakalische,  eingetreten  ist, 
eine  sichere  Diagnose  kaum  stellen  konnen.  Hbchstens  konnte  das  oben 
erwahnte  Auftreten  von  Anfallen  entgegengesetzter  Stimmung  den  Ver- 
dacht  auf  circulares  Irresein  erwecken.  Aber  auch  wenn  man  auf  die  erste 
Phase  eine  entgegengesetzte  folgen  sieht,  wenn  also  ein  Zirkel  bereits 
fast  vollstandig  vorliegt,  muss  man  mit  der  Diagnose  eines  circularen  Irre- 
seins sehr  vorsichtig  sein.  Es  bleibt  immer  die  Moglichkeit  olfen,  dass 
die  zweite  Phase  lediglich  ein  Beactionsstadium  darstellt,  wie  es  auch 
nach  der  einfachen  Melancholie  rund  nach  der  einfachen  Manie  so  sehr 
oft  vorkommt.  Je  ausgesprochener  und  selbststancliger  die  zweite  Phase 


398 


Zusammengesetzte  Psychosen. 


auftritt,  um  so  dringender  wird  der  Verdaclit,  dass  circulares  Irresein 
vorliegen  kdnnte. 

Tlierapie.  Austaltsbehandlung  ist  fast  stets  nothwendig,  in  der 
melancliolisclien  Phase  wegen  der  Selbstmordversuche , in  der  maniaka- 
lischen  wegen  der  Neigung  zii  Excessen,  der  Streitsucht  und  der  moto- 
rischen  oft  bis  zu  ausgesprochener  Tobsucht  sich  steigernden  Erregung. 
In  den  ersten  Intervallen  beliisst  man  die  Kranken  am  besten  in  der 
Anstalt,  um  einen  Versiicli  zu  machen  durch  rechtzeitiges  Eingreifen  den 
nachsten  Anfall  zu  coupiren  und  so  die  Krankheit  zur  Heilung  zu  bringen. 
Spater  wird  man,  wenn  eine  Heilung  ausgeschlossen  scheint,  die  Kranken 
im  Intervall  aus  der  Anstalt  entlassen  und  nur  Sorge  tragen,  dass  auf 
die  ersten  Zeichen  eines  neuen  Anfalls  genau  geachtet  und  am  besten 
der  Kranke  sofort  wieder  eingeliefert  wird. 

In  den  beiden  Phasen  ist  die  Behandlung  ganz  so  durclizufiihren, 
als  handle  es  sich  um  eine  gewohnliche  Melancholie  bezw.  Manie.  Die 
Coupirung  der  maniakalischen  Phase  kann  durch  Bettruhe  und  Hyoscin 
versucht  werden.  Von  letzterem  sind  grosse  Dosen,  mindestens  0,0009  g 
zu  geben,  sob  aid  die  ersten  maniakalischen  Symptome  sich  zeigen. 
Die  Bettruhe  ist  schon  einige  Wochen  vor  dem  muthmaasslichen  Datum 
des  Ausbruches  der  Manie  durchzufiihren,  Zur  Coupirung  der  melan- 
cholischen  Phase  empfiehlt  sich  ausser  Bettruhe  die  prophylaktische  Ver- 
abreichung  von  Opium.  Man  beginnt  mit  dieser  langsam  schon  einige 
Wochen,  bevor  die  Wiederkehr  der  melancholischen  Phase  zu  gewartigen 
ist.  Eventuell  ist  auch  eiu  plotzlicher  Coujjii'ungsversuch  angebracht, 
sobald  die  allerersten  melancholischen  Symptome  sich  zeigen,  man  muss 
dann  sofort  sehr  hohe  Dosen  (mindestens  0,12  Op.  per  os)  geben.  In 
vereinzelten  Fallen  gelingt  auch  eine  Coupirung  des  Anfalles  durch  sub- 
cutane  Injectionen  von  Chinium  bisulfur. 


f.  K a t a 1 0 n i e. 

Als  Katatouie  oder  Spannungsirresein  hat  Kahlbaum  eine  eigen- 
artige  Psychose  beschrieben,  welche  3 Stadien  durchlauft,  ein  melan- 
cholisches,  ein  maniakalisches  und  ein  stuporoses  und  dann  in  secundare 
Demenz  iibergeht.  Allen  Stadien  der  Krankheit  ist  die  Neigung  zu  kata- 
tonischen  stereotypen  Innervationen  gemeinsam.  Diese  stereotypen  kata- 
tonischen  Innervationen  bestehen  in  sonderbaren  monotonen  Handlungen, 
Haltungen  und  Einzelbewegungen.  Die  Krankheit  ist  selten.  Wo  kata- 
tonische  stereotype  Stellungen  und  Bewegungen  auftreten,  handelt  es 
sich  meist  um  Melancholia  attonita  oder  Paranoia  hallucinatoria  oder 
irgend  eine  Form  des  Schwachsinns.  Das  Vorkommen  einer  eigenartigen 
Katatonie  im  Sinne  Kahlbaums  ist  daher  oft  bestritten  worden.  Der 
Ausbruch  erfolgt  meist  in  der  Pubertiit.  Meist  liegt  schwere  erbliche 


li 


"I’ 


Idiotie. 


399 


Belastung  vor.  Der  Verlauf  cler  3 ersten  Stadien  erstreckt  sicli  iiber 
1 — 2 Jahre.  Dann  beginut  der  Uebergang  in  secundare  Demenz.  Spureii 
der  letzteren  lassen  sicb  iibrigens  zuweilen  bis  in  das  1 . Stadium  zuriick- 
verfolgen.  Heiliingen  sind  sebr  selten. 


II.  Defectpsjcliosen. 

Cbarakteristiscb  fiir  die  Defectpsychosen  ist  der  Intelligenzdefect 
(=  Gedacbtnissscbwacbe  -)-  Urtbeilsschwache),  welcber  vom  Beginn  der 
Krankheit  an  nacbweisbar  ist. 

A.  Aiigeboveiie  Defectpsycliosen. 

Bei  diesen  ist  der  Intelligenzdefect  angeboren  und  erfabrt  im  Lauf 
des  Lebens  keine  wesentliclie  Steigerung.  Nacb  dein  Grade  des  Intelli- 
genzdefects  unterscbeidet  man  folgende  Formen  des  angeborenen  Scbwach- 
sinns:  1.  Idiotie,  2.  Imbecillitat,  3.  Debilitat. 

a.  Idiotie. 

Die  Idiotie  stellt  die  scliwerste  Form  des  angeborenen  Scbwach- 
sinns  dar. 

Specielle  Symptomatologie. 

Empfindungen.  Die  Empfindiingen  selbst  sind  bei  dem  Idioten, 
soweit  nicbt  Complicationen  vorliegen  (Retinitis,  Sehnervenatropbie,  H}'per- 
metropie  u.  s.  w.),  normal.  Die  Geringfiigigkeit  der  motoriscben  Reac- 
tionen  auf  Sinneseindriicke  berubt  meist  nicbt  auf  Hypastliesie,  sondern 
auf  Hypoprosexie,  also  auf  einer  Storung  der  Association  und  der  Vor- 
stellungen,  nicbt  auf  einer  Empfindungsstorung. 

Vorstellungen.  Die  Empfindungen  des  Idioten  binterlassen  keine 
Oder  nur  sebr  wenige  Erinnerungsbilder,  welcbe  langer  als  einige  Minuten 
baften.  So  oft  ibm  Gegenstande  und  Personen  begegnen  und  gezeigt  wer- 
den,  prilgt  sicb  ibm  docb  ibr  Erinnerungsbild  nicbt  ein.  Keine  Aenderung 
des  Gesicbtsausdruckes  verratb,  dass  die  eine  Empfindung  ibm  scbon 
oft  begegnet  ist,  die  andere  nocb  niemals  oder  selten.  Seine  nacbsten 
Angebbrigen,  seine  Kleider,  sein  Bett  erkennt  er  nicbt  wieder.  Er  unter- 
scbeidet keine  Farben,  meist  aucb  keine  Speisen:  die  Erinnerungsbilder 
welcbe  zum  Unterscbeiden  von  Empfindungen  unerlasslicb  sind,  feblen 
ibm.  Nur  bei  etwas  bober  stebenden  Idioten  findet  man  zuweilen  einzelne 
concrete  Erinnerungsbilder  und  zwar  meist  optiscbe : ein  Lacbeln  verratb 
dass  sie  das  Licbt,  die  Suppe,  das  Kleid,  das  man  ibnen  zeigt,  kennen! 


400 


Idiotie. 


Spracliliche  Begrifie,  sowohl  akustische  wie  motorisclie,  gehen  dem  j 
Iclioten  vollig  ab.  Hdchstens  lernt  er  — abnlich  wie  das  dressirte  Thier 
— aiif  gewisse  Zurufe  bestimmte  Bewegungen  machen.  Etwas  hoher  | 
stebende  Idioten  verfiigen  entsprecbend  ihrem  Besitzstand  an  Vor- 
stellungen  iiber  einige  wenige  Spreclibewegungen.  : 

Ideenassociation.  Die  Storung  des  Wiederkennens  wurde  be- 
reits  bervorgeboben : die  Idioten  erkennen  fast  nichts  wieder,  da  Er- 
innerungsbilder  ibnen  feblen,  Hocbgradig  ist  meist  aucb  die  Aufmerk- 
samkeit  gestort:  es  giebt  viele  Idioten,  welcbe  bei  dem  lautesten  Larm 
binter  ibrem  Riicken  sicb  nicbt  umdreben,  obwobl  sie  nacbweislicb  nicbt 
taiib  sind.  Zu  associativen  Verkniipfungen  und  somit  zu  einem  Ablauf 
der  Vorstellungen  kommt  es  bei  dem  Idioten  nicbt.  Eine  Ideenassocia- 
tion feblt  ibm  vollstiindig. 

Affecte.  Die  sensoriellen  Gefiiblstone  sind  baufig  ganz  aufgeboben. 

So  bestebt  bei  den  meisten  Idioten  eine  volljge  Analgesie.  Nur  Sattigung 
und  Hunger  sind  ofter  von  Gefublstonen  begleitet.  Aucb  scbeint  das 
Seben  glanzender  Gegenstande  zuweilen  von  einem  positiven  Gefiiblston 
begleitet  zu  sein.  Sexuelle  Wollustgefiible  sind  sebr  baufig  vorbanden.  Auf 
welcbe  Empfindungen  die  gelegentlicben  scbeinbar  spontanen  Wutbaus-  ^ 
briicbe  mancber  Idioten  zuruckzufiibren  sind,  lasst  sicb  nicbt  feststellen. 
Intellectuelle  Gefiiblstone  feblen  vollig.  Entsprecbend  der  Armutb  an 
Affecten  feblen  bei  scbwerer  Idiotie  aucb  die  Ausdrucksbewegungen  des 
Lacbens  und  des  Weinens. 

Han dl ungen  im  engeren  Sinne  kommen  bei  den  Idioten  sebr 
selten  vor.  Nur  die  Essbewegungen  kfinnten  zu  denselbeu  gerecbnet 
werden.  Bei  boberstebenden  Idioten  kommt  aucb  das  Fixiren  glanzender  4i 
Gegenstande  vor.  Andere  stecken  alles  Greifbare  in  den  Mund.  Nur  ''*■ 
wenige  Idioten  lernen  gehen  und  steben.  Desgleicben  sind  sie  fast  nie- 
mals  an  Pteinlicbkeit  zu  gewobnen.  Maucbe  idiotiscbe  Kinder  lernen 
nicbt  einmal  an  der  Mutterbrust  zu  saugen.  Um  so  starker  sind  bei  ■ 
dem  Idioten  die  automatiscben  Acte  entwickelt:  viele  wackelu  Tag 
aus  Tag  ein  mit  dem  Kopf  oder  wiegen  den  Rumpf  in  dieser  oder  in 
jener  Richtung.  Aucb  eine  triebartige,  d.  b.  von  irgendwelcben  Vor- 
stellungen nicbt  begleitete  Masturbation  tritt  zuweilen  scbon  im  4.  Lebens- 
jabre  und  selbst  nocb  friiher  auf.  Bei  etwas  holier  stebenden  Idioten 
kommt  es  spater  zu  bewusster  Onanie  und  zu  sexuellen  Attentaten  auf 
die  Umgebung. 

Korperlicbe  Symptome.  Unter  diesen  steben  die  sog.  De- 
generationszeicben  obenan;  es  erklart  sicb  dies  daraus,  dass  die  Idiotie 
sicb  fast  stets  auf  dem  Boden  scbwerer  erblicber  Degeneration  entwickelt. 

In  anderen  Fallen,  fiir  welcbe  Rachitis  oder  hereditare  Syphilis  die  Haupt- 
rolle  spielen,  wird  man  die  Symptome  dieser  constitutionelleu  Leiden 


idiotie. 


401 


fiuden.  In  einer  dritteu  Reihe  von  Fallen  scliliesst  sicli  die  Idiotie  an 
eine  circumscripte  infantile  Heerderkrankung  oder  Entwickliingshemmung 
des  Gebirns  an:  dann  findet  man  die  typisclien  Symptome,  wie  sie  der 
Localisation  der  Heerderkrankung  entsprechen  (z.  B.  eine  Hemiplegie 
mit  Atrophie  und  Contractur  iind  obne  Entartungsreaction  u.  s.  w.) 
Haufiger  sind  die  neuropatbologisclien  Symptome  entsprecbend  einer 
gleichmassigeren  Allgemeinerkrankimg  des  Gebirns  dilfuser. 
Allentbalben  finden  sicb  Ausfallserscbeinungen : die  grobe  motoriscbe 
Kraft  ist  berabgesetzt,  die  passive  Beweglicbkeit  durcb  Contracturen 
eingescbrankt , die  Coordination  der  activen  Bewegungen  bald  durcb 
ecbte  Ataxie,  bald  durcb  cboreatiscbe  Zwiscbenbewegungen , bald  durcb 
allerband  Mitbewegungen  gestort.  Ungemein  baufig  ist  Complication 
mit  genuine!’  Epilepsie  oder  mit  Jackson’scber  Epilepsie.  Complicirtere 
Bewegungscoordinationen  erlernt  der  Idiot  fast  niemals.  Dementsprecbend 
ist  aucb  die  Spracbe,  soweit  solcbe  iiberbaupt  bei  dem  dlirftigen  Vor- 
stellungsleben  sicb  entwickelt  bat,  gestort.  Selten  bestebt  eine  motoriscbe 
Apbasie,  baufiger  eine  Anartbrie,  bald  das  sog.  Stammeln.  Stottern  und 
Silbenstolpern  kommt  fast  niemals  vor.  — Labmungen  einzelner  oder 
mebrerer  Augenmuskeln  mit  oder  obne  Nystagmus  sind  sebr  baufig. 
Endlicb  bestebt  oft  eine  Labmung  der  Spbincteren.  — Pupillenstarre  und 
Aufbebung  der  Knie-  resp.  Acbillessebnenpbanomene  sind  nur  in  solcben 
Fallen  baufiger,  wo  bereditare  Syphilis  im  Spiele  ist.  Allgemeine  sensible 
Storungen  sind  nicbt  so  baufig  wie  motoriscbe  Stbrungen.  Ibr  Umfang 
ist  iibrigens  in  Anbetracbt  der  Aprosexie  scbwer  festzustellen. 

Tropbiscbe  Storungen  werden  selten  vermisst.  Zu  denselben 
sind  jedenfalls  aucb  mancbe  der  sog.  Degenerationszeicben  zu  recbnen. 
Speciell  sei  bier  aucb  nocb  erwabnt,  dass  die  Pubertat  oft  gar  nicbt 
oder  sebr  verspatet  eintritt.  Besonders  auffallig  sind  die  tropbiscben 
Storungen  bei  einer  endemiscben  Form  der  Idiotie,  dem  sog.  Creti- 
nism us.  Bei  diesem  bestebt  meist  Zwergwucbs  und  Kypboskoliose. 
Die  Kleinbeit  des  Bumpfes,  dessen  Wacbstbum  mitunter  scbon  mit  dem 
5.  Lebensjabr  aufbort,  stebt  in  auffalligem  Contrast  zu  der  Makro- 
cepbalie.  In  Folge  von  Lipomatose  oder  Myxoedem  kommt  es  zu  selt- 
samen  Hautwulstungen,  namentlicb  an  den  Lippen  und  Augenlidern. 
Die  Glandula  tbyreoidea  ist  bald  verkiimmert,  bald  erbeblicb  vergrossert. 

Verlauf,  Ausgange,  Prognose.  Die  Idiotie  bleibt  wabrend 
des  ganzen  Lebens  stabil.  Die  Erziebung  vermag  nur  sebr  wenig  Ein- 
fluss  auf  den  Zustand  zu  gewinnen. 

Aetiologie.  In  mancben  Fallen  liegt  der  Idiotie  lediglicb  scbwere 
erblicbe  Belastung  zu  Grunde.  In  anderen  lasst  sicb  der  Einfluss  der 
Bacbitis  oder  der  Syphilis  naebweisen.  Erstere  fiihrt  wabrscheinlicb 
indirect  zur  Idiotie,  indem  sie  Missbildungen  des  Scbiidels  bedingt  (s.  u.). 

Ziehen,  Psychiatrie.  26 


402 


Idiotie. 


Ij6tztci6  wiikt,  iiidGiu  sic  cntwcdSr  spccifiscdic  IlccrderkrcUikungen  des 
(jcliirus  (s.  u.)  Oder  diffuse  die  llirnentwicklung  scliadigende  Processe 
hervoiTuft.  And  ere  atiologische  Momeute  sind;  Kopftraumen  wahreud 

ersten  Lebensjahren,  schwere  fieberhafte  Krank- 
heiten  in  der  frubesten  Kindheit  (Typbus  u.  s.  w.),  endlicb  infantiler 
Alkoholismus.  Sj)eciell  letzterer  ist  in  manchen  Gegenden  sehr  ver- 
breitet:  den  Kindern  wird  zur  Berubigung  von  den  Eltern  bezw.  Ainnien 
Branntwein  verabreicbt.  Endlicb  baben  Heerderkrankungen  des  Gebirns, 
welcbe  intrauterin  oder  in  den  ersten  Lebensjabren  auftreten,  nicbt  selten 
Idiotie  zur  Folge.  Meist  berubt  die  in  der  Idiotie  sicb  kundgebende  all- 
gerueine  Scbiidigung  der  ganzen  Hirnrinde  auf  der  bereits  in  der  all- 
gemeinen  Aetiologie  erwabnten  secundaren  Sclerose,  welcbe  in  der  Um- 
gebung  des  Krankbeitsbeerdes  beginnt  und  allmablicb  sicb  iiber  den 
grossten  Tbeil  des  Gebirns  ausbreitet.  Aucb  die  acute  Encepbalitis  der 
Kinder  sowie  Aleningitis  in  den  Kinderjabren  verinag,  indem  sie  die 
Hirnrinde  in  Mitleidenscbaft  ziebt,  Idiotie  zu  erzeugen. 

Eine  ganz  besondere  Beziebung  bestebt  zwiscben  den  Verbildungen 
des  Scbadels  und  der  Idiotie.  In  vielen  Fallen  ist  die  Defiguration  des 
Scbadels  nur  eine  Folge  der  abnormen  Bildung  des  Gebirns.  Oefter 
nocb  ist  das  Verbaltniss  umgekebrt.  Die  abnorme  Bildung  des  Scbadels 
fiibrt  zu  Wacbstbumsstor ungen  des  Gebirns.  Viele  dieser  abnormen 
Scbadelbildungen  sind  durcb  Rachitis  bedingt.  In  anderen  Fallen  bandelt 
es  sicb  um  entzundlicbe  Ernabrungsstorungen  an  den  Nahten.  In  Folge 
derselben  koinnit  es  zu  pramaturen  Nahtverknocherungen.  Betreffen 
diese  Synostosen  alle  Schadelniilite  gleicbmassig,  so  resultirt  der  einfacbe 
Kleinscbadel  (Mikrocephalie).  Haufiger  ist  nur  ein  Tbeil  der  Nabte  be- 
troffen.  Dadurcb  entsteben  die  mannigfachsten  Defigurationen  und 
Asymmetrien  des  Scbadels.  Sind  vorwiegend  die  Nabte  des  Scbadel- 
grundes  einer  verfrlibten  Synostose  verfallen,  so  resultirt  der  sog. 
Cretinentypus*):  die  Nase  erscbeint  aufgeworfen,  die  Nasenwurzel 
tiefliegend  und  breit,  die  Augen  steben  daber  weit  von  einander  ab, 
ihre  Hohlen  sind  breit,  aber  nicbt  tief,  die  Kiefer  und  Jocbbeine  er- 
scbeinen  stark  vorgescboben  (Prognatbismus).  An  der  Scbadelbasis  er- 
kennt  man  diese  Form  sofort  an  der  abnormen  Steilbeit  des  Clivus. 
Die  Convexitat  des  Scbadels  kann  dabei  in  normaler  Weise  sicb  ent- 
wickeln  oder  compensatorische  Ausweitungen  erfabren  (Spitzkopf  u.  s.  w.) 
Oder  endlicb  wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  an  der  verfrubten 
Verknocherung  tbeilnebmen.  In  letzterem  Falle  tritt  zu  dem  Cretinen- 
typus  Mikrocephalie  binzu.  — Betriftt  die  verfriibte  Synostose  aus- 


*)  Derselbe  ist  nicht  stets  mit  Cretinismus  vcrbundeii,  auch  komrut  letzterer  ohne 
ersteren  vor. 


tdiotie. 


40ii 

scliliesslicli  oder  vonviegend  die  Niilite  der  Convexitat,  so  kommt  es  zu 
dem  sog.  Aztekeutypus : Stirn  und  Nase  liegen  in  einer  Liuie,  der 
Scliadel  ist  stets  selir  kleiu  und  zwar  vor  allem  sehr  niedrig,  die  Stirn 
steigt  sehr  wenig  an,  die  ganze  Physiognomie  ist  von  Griesinger  treffend 
init  der  eines  Vogels  verglichen  worden. 

Ausser  diesen  beiden  Haupttypen  giebt  es  nocb  zahlreicbe  andere; 
jeder  einzelne  Idiotenschadel  bietet  seine  speciellen  Eigentbiimlicbkeiten. 
Eine  scbarfe  Unterscheidung  bestimmter  scharf  abgegrenzter  Scbadel- 
anomalien  ist  durcbaus  umnoglicb.  Ebenso  ist  es  unmoglicb,  einer  be- 
stimmten  Scbadelanomalie  eine  bestimmte  Varietiit  der  Idiotie  zuziiordnen. 
Besonders  ist  endlich  bervorzubeben,  dass  keine  einzige  Scbadelverbildung 
(abgeseben  von  sebr  bocbgradiger  Mikrocepbalie)  zu  Idiotie  liihren  muss. 
Gelegentbcb  findet  man  aucb  bei  scbweren  Scbiidelverbildungen  relativ 
leicbte  Grade  des  Scbwacbsinns  oder  sogar  Vollsinn. 

Diagnose  s.  Imbecillitat, 

The  rap  ie.  Wenn  die  Diagnose  friib  genug  gestellt  wird,  istjeden- 
falls  nocb  ein  Erziebungsversucb  in  einer  Anstalt  zu  macbeu.  Ist  ein 
solcber  wegen  vorgeriickten  Alters  aussicbtslos  oder  gescbeitert,  so  ist 
der  weitere  Verbleib  in  der  Idiotenanstalt  nur  notbwendig,  wenn  im 
Hause  nicbt  die  erforderlicbe  Pflege  und  Aufsicbt  zu  bescbaffen  ist  oder 
wenn  scbwerere  Erregungszustiinde  besteben.  Bei  bereditarer  Syphilis 
ist  eine  spezifiscbe  Tberapie  zuweilen  erfolgreicb. 

Patbologiscbe  Anat  omie.  Fast  stets  ergiebt  scbon  die  mikro- 
skopiscbe  Untersucbung  ausgesprocbene  Veranderungen  im  Centralnerven- 
system.  Die  baufigsten  Befunde  sind : 

1.  Kleinbeit  im  Ganzen.  Gelegentbcb  findet  man  bei  Idioten  ein 
Hirngewicbt  von  weniger  als  900  g (statt  1380  g beim  Mann  und  1270  g 
beim  Weibe).  Sebr  viel  seltener  ist  allgemeine  Hypertrophie  des  Gebirns 
mit  Erbobung  des  Hirngewicbtes. 

2.  Partielle  Entwicklungsbemmungen,  meist  durcb  partielle  Scbadel- 
verengungen  bedingt. 

3.  Abnormitaten  des  Aufbaus.  Hierber  geboren  Abweicbungen  des 
Furchenverlaufs,  Feblen  einzelner  Hirntbeile  (z.  B.  des  Balkens),  Hetero- 
topien  der  grauen  Substanz. 

4.  Chroniscber  Hydrocephalus  internus  und  externus.  Er  verbindet 
sicb  meist  mit  Makrocepbalie*)  und  scbeint  meist  primar  zu  sein. 

5.  Heerderkrankungen:  meist  Erweicbungsbeerde  mit  secundarer  Skle- 
rose,  zuweilen  mit  porencepbaliscbem  Defect. 

Nicbt  selten  finden  sicb  aucb  im  Kiickenmark  abnlicbe  patbologiscbe 
Processe. 


*)  Die  Fontanellen  schliessen  sich  auffallig  spilt. 


26* 


404 


Imbccillitiit. 


1).  Imbecillitilt. 

Die  Imbecillitiit  stellt  die  mittelschwere  Form  des  angeborenen 
Schwachsinns  dar. 

Specielle  Symptomatologie. 

Em pfiudungsstor ungen  bestelien  in  der  Regel  nicht. 

Vorstellungen.  Der  Imbecille  verfiigt  iiber  eine  grosse  Zahl  von 
concreten  Eriunerungsbildern.  Zalilreicbe  Personen  und  Gegenstande 
untersclieidet  er  und  oft  erkennt  er  sie  wieder,  auch  wenn  der  Sinnes- 
eindriick  sich  viele  Wochen  und  Monate  nicht  wiederbolt  hat.  Die  meisten 
Imbecillen  wissen  Geldstiicke  richtig  zu  unterscheiden.  Roth,  Gelb,  Weiss 
imd  Schwarz  werden  meist  imterschieden,  Griin,  Blau,  Braun,  Grau  haufig 
nicht.  Diesem  Vorstellungsschatz  entspricht  ein  grosserer  Schatz  von 
motorischen  und  acustischen  Sprachvorstellungen,  d.  h.  Sprechbewegungen 
und  Wortklangbildern.  Complicirtere  Vorstellungen,  namentlich  abstracte 
Vorstellungen  erwirbt  der  Imbecille  nur  in  sehr  beschranktem  Maasse. 

Das  Zahlenverstandniss  reicht  kaum  bis  10,  wenn  auch  der  Kranke 
mechanisch  bis  100  zu  zahlen  vermag. 

Ideenassociation.  Das  Wiedererkennen  ist  haufig  fast  normal. 
Erheblich  gestort  ist  fast  stets  die  Fahigkeit  zu  anhaltendem  Aufmerken. 
Jede  anhaltende  Aufmerksamkeit  setzt  die  Existenz  von  Zielvorstellungen 
voraus ; diese  z.  Th.  sehr  complexen  Zielvorstellungen  bedingen , dass 
langere  Zeit  hindurch  von  vielen  gleichzeitigen  Empfindungen  nur  eine 
einzige  den  Gang  der  Ideenassociation  bestimmt.  Kurz  kann  man  dies 
so  ausdriicken:  auf  eine  Empfiudung  „richte  ich  meine  Aufmerksam- 
keit die  anderen  ignorire  ich.  Dem  Imbecillen  fehlen  solche  Zielvor- 
stellungen vollstandig,  oder  dieselbeu  sind  zu  schwach,  um  auf  die  Aus- 
wahl  der  Empfindungen  Eiufluss  zu  gewinnen.  Daher  ist  er  unaufmerk- 
sam.  Jeder  neue  Eindruck  zieht  ihn  ab. 

Die  Verwendung  der  speciellen  concreten  Begriffe  beschrankt  sich 
auf  das  Wiedererkennen  und  Unterscheiden,  die  freie  d.  h.  von  Sinnes-  i 
eiudriicken  unabhangige  Phantasiethatigkeit  ist  fast  ausuahmslos  hochst 
diirftig.  Daher  ist  auch  das  Traumleben  meist  sehr  wenig  lebhaft.  Das  i 

Urtheilen  des  Imbecillen  beschrankt  sich  meist  auf  die  Verkuiipfung  von 
Emj)findungen  mit  einfachen  concreten  Partialvorstelluugen  und  Begrifi’en 
(z.  B.  Rose  roth).  Urtheile,  welche  auf  der  Association  vieler  Erinnerungs- 
bilder  beruhen  und  von  actuellen  Empfindungen  unabhiingig  sind,  sind 
selten.  Addiren  wird  von  Manchen  gelernt,  Subtrahii’en  sehr  selten, 
Multipliciren  (abgesehen  von  mechanischer  Dressur  auf  Worte)  niemals. 

At  feet  e.  Verglichen  mit  denjenigen  des  Idioten,  sind  sie  sehr 
mannigfaltig , verglichen  mit  denjenigen  des  Vollsinnigen,  noch  sehr  • 
monoton.  Auch  ohne  Motiv  lachen  und  weinen  die  Kranken  oft.  Hyper-  .} 


Trabecillitiit. 


405 


algesie  ist  haufiger  als  Hypalgesie.  Unverhaltnissmassig  heftige  oder  auch 
ganz  motivlose  Wutliausbriiche  sind  haufiger  als  bei  dera  Idioten.  Die 
sexuellen  Gefuhlstone  sind  oft  gesteigert,  ab  imd  zii  auch  pervers.  Fast 
alle  Aftecte  sind  egoistisch.  Schadenfreude  und  Rachsucht  iiberwiegen 
durchaus  fiber  Mitleid  und  Dankbarkeit.  Zuneigung  zu  Angehorigen 
koinmt  wohl  vor,  ist  aber  meist  sehr  oberfiachlich.  Geffihl  ffir  Recht 
und  Unrecht  besteht  nicht.  Bei  hoherstehenden  Imbecillen  wird  dasselbe 
zuweilen  bis  zu  einem  gewissen  Grad  durch  die  Furcht  vor  Strafe  und 
die  Hoffnung  auf  Belohnung  ersetzt.  Bei  dem  Gros  der  Imbecillen  sind 
auch  diese  beiden  Affecte  sehr  wenig  nachhaltig. 

Die  Handl ungen  des  Imhecillen  sind  — wiederum  im  Gegensatz 
zu  denjenigen  des  Idioten  — sehr  mannigfaltig.  Actuelle  Empfindungen 
werden  oft  sehr  geschickt  verwerthet  (vgl.  S.  138  und  139).  Bezeichnend 
ist,  dass  zwischen  Empfindung  und  Handlung  sich  nur  sehr  wenige  Er- 
innerungsbilder  schieben.  Was  man  als  Ueberlegung  oder  Spiel  der 
Motive  bezeichnet,  fehlt  gewohnlich  ganz.  Die  Handlungen  erhalten  da- 
durch  den  Anstrich  des  Triebartigen.  In  hohem  Maasse  werden  sie 
durch  Nachahmung  beeinflusst.  Vagabundage  und  Betteln  sind  sehr 
haufig.  Grosse  forensische  Bedeutung  haben  die  sexuellen  Excesse  (Pader- 
astie,  Tribadie,  Sodomie,  Stuprumversuche  u.  s.  w.)  Imbecille  Madchen 
ergeben  sich  nicht  selten  der  Prostitution ; andere  locken  Manner  an  und 
behaupten  nachher  vor  Gericht,  sie  seien  vergewaltigt  worden.  In  den 
Zornaffecten  kommt  es  nicht  selten  zu  brutalen  Gewaltthaten , Brand- 
stiftungen  (z.  B.  wegen  Verweigerung  eines  Almosens)  u.  a.  m. 

Die  Quantitat  der  motorischen  Actionen  ist  sehr  verschieden; 
meist  ist  sie  von  der  Affectlage  abhangig.  Oefters  hat  man  daher  einen 
apathischen  (torpiden)  und  erregten  (agitirten)  Schwachsinn  unterschieden. 

Die  kb  r per  lie  hen  Symptome  decken  sich  mit  denjenigen  der 
Idiotic.  Die  Missbildungen  sind  jedoch  im  Ganzen  nicht  so  zahlreich 
und  nicht  so  ausgesprochen.  Einen  wesentlichen  Unterschied  begrfindet 
nur  die  Entwicklung  der  Sprache.  Der  Imbecille  verffigt  nicht  nur  fiber 
zahlreiche  Worte,  sondern  er  verbindet  seine  Worte  auch  zum  Satz  (s.  o.). 
Die  Articulation  ist  allerdings  oft  durch  Stammeln  gestbrt.  Mitunter  be- 
schrankt  sich  letzteres  auf  einzelne  Consonanten  (Sigmatismus , Para- 
sigmatismus , Rhotacismus  u.  s.  f.).  Mitunter  aussert  es  sich  auch  nur 
darin , dass  lediglich  bei  zusammenhangendem  Sprechen  die  Aus- 
sprache  der  Consonanten  undeutlich  wird  und  einzelne  Silben  ganz  ab- 
geworfen  werden.  Stets  wird  das  Sprechen  sehr  spat  gelernt.  Viele 
Imbecille  lernen  auch  lesen  und  schreiben. 

Die  Coordination  und  Kraft  der  sonstigen  Bewegungen  ist  meist, 
wofern  nicht  Complicationen  mit  Heerderkrankungen  vorliegen,  intact. 
Sehr  haufig  sind  gelegentliche  epileptische  Insulte.  Im  Uebrigen  finden 


406 


Imbecillita,t. 


sicli  ahnliche  motorische,  sensible  im4  trophische  Stbrimgen  wie  bei  der 
Idiotie,  nur  in  erbeblicb  geringerer  Aiisprilgung. 

Verlauf,  Ausgiinge,  Prognose.  Aucb  die  Imbecillitat  ist  un- 
beilbar.  Die  bn’zielmng  vermag  jedoch  erbeblicb  inebr  zu  leisten  als  bei 
dem  Idioten;  es  ist  dies  wobl  namentlicb  auf  die  Sprecbfabigkeit  und  das 
Spracbverstandniss  zuruckzufiibren,  welcbe  dem  Idioten  feblen,  dem 
Imbecillen  aber  last  stets  zukommen.  Viele  Imbecille  lernen  sogar  ein 
Handwerk  oder  Feklarbdit  mit  leidlicber  Gescbicklicbkeit  treiben. 

Aetiologie.  Diese  deckt  sicb  mit  derjenigen  der  Idiotie.  Die- 
selbeii  Ursacben  sind  in  geringerem  Grade  und  in  geringerer  Zabl  wirksam. 

Diagnose.  Die  Unterscbeidung  der  Imbecillitat  von  den  leicbteren 
Giaden  des  Scbwacbsinns  wird  bei  Darstellung  der  Debilitiit  besprocben 
werden.  Die  Unterscbeidung  von  der  Idiotie  findet  in  der  Entwicklung 
der  Spracbe  einen  bequemen  Anbaltepunkt.  Spracbstorung  bezw.  Wort- 
armutb  und  Intelligenzdefect  geben  im  Allgemeinen  parallel.  Wo  die 
Spracbe  gar  nicbt  oder  nur  wenig  entwickelt  ist,  wird  man  daber  im  All- 
gemeinen auf  Idiotie  zu  diagnosticiren  baben.  Docb  wu’d  man  angesicbts 
der  Tbatsacbe , dass  in  seltenen  Fallen  aucb  bei  starkem  Spracbdefect 
der  Scbwacbsinn  minder  erbeblicb  sein  kann  und  umgekebrt,  vor  Allem 
aucb  alle  die  Unterscbiede  des  Intelligenzdefects  selbst  beriicksicbtigen 
miissen,  welcbe  sicb  aus  der  obigen  Darstellung  der  Idiotie  und  der 
Imbecillitat  ergeben.  Da  diese  Unterscbiede  quantitative  sind,  so  liegt 
es  auf  der  Hand,  dass  zwiscben  Idiotie  und  Imbecillitat  zablreicbe  Zwiscben- 
stufen  besteben.  Oft  wird  man  einen  Fall  ebensogut  als  leicbte  Idiotie 
wie  als  scbwere  Imbecillitat-  bezeicbnen  konnen.  Die  Bezeicbnungen 
Idiotie  und  Imbecillitat  sind  fiir  eine  grosse  Zabl  von  Fallen  sebr  be- 
quem,  insofern  sie  unmittelbar  einen  Hinweis  auf  den  Grad  des  Scbwacb- 
sinns entbalten ; scbarf  getrennte  Krankbeitsformen  entsprecben  ibnen 
jedocb  nicbt. 

Tberapie.  Mebr  nocb  als  bei  der  Idiotie  empfieblt  sicb  bei  der 
Imbecillitat,  wofern  der  Arzt  den  Kranken  in  der  Kindbeit  kennen  lernt, 
ein  Erziebungsversucb  in  einer  Anstalt  fiir  Scbwacbsinnige.  Ist  es  fiir 
einen  solcben  zu  spilt  oder  scbeitert  derselbe,  so  kann  zuweilen  ein  Ver- 
sucb  mit  Familienpflege  gemacbt  werden.  Docb  bedarf  es  dabei  grosser 
Vorsicbt,  da  die  Gemeingefabrlicbkeit  des  Imbecillen,  entsprecbend  seiner 
grosseren  Befabigung  zu  complicirteren  Handlungen,  meist  grosser  und 
die  Ueberwacbung  meist  scbwieriger  ist  als  diejenige  des  Idioten. 

Patbologiscbe  Anatomie.  Die  Befunde  decken  sicb  im  W esent- 
licben  mit  den  fiir  die  Idiotie  bescbriebenen ; nur  sind  die  Veranderungen 
im  Centralnervensystem  meist  nicbt  so  scbwer  und  nicbt  so  gebauft  wie 
bei  der  letzteren. 


j 

) 

I 

I 


Debilitat. 


407 


c.  Debilitat. 

Die  Debilitat  stellt  den  leiclitesten  Grad  des  angeborenen  Scbwach- 
siuus  dar. 

Specielle  Symptomatologie. 

Coustante  Empfindiingsstorungen  fehlen. 

Vorst  ell  ungen.  Die  concreten  Begriffe  sind  bei  dem  Debilen  in 
normaler  Menge  imd  Beschaffenheit  vorhanden.  Audi  allgemeinere  und 
zusammengesetztere  concrete  Begriffe  kommen  in  grosser  Zabl  zur  Ent- 
wdcldung.  Der  Wissensscbatz  der  meisten  Debilen  ist  ziemlich  gross. 
Die  gewbhnlichen  Fragen,  welche  der  Arzt  zur  Feststellung  des  Wissens- 
umfanges  voidegt  (Geburtsjabr,  Heiniathsort,  Landeszugeborigkeit,  Eegent 
des  Heimathlandes,  Gemeindebeborde,  gegenseitiges  Yerhiiltniss  der  land es- 
iiblicben  Mtinzen,  Preis  der  gewohnlichen  Lebensmittel,  einfache  geschiclit- 
licbe  Daten  n.  s.  w.)  werden  oft  sammtlicb  ricbtig  beantwortet.  Aller- 
dings  kommt  beziiglicb  dieses  Punktes  sehr  viel  darauf  an,  ob  ein  sacb- 
verstandiger  Unterricbt  stattgefnnden  bat.  In  der  Scbule  fallt  meist  die 
ungleicbmassige  Leistungsfabigkeit  in  den  verscbiedenen  Facbern  auf. 
Fill’  ein  einzelnes  Facb  ist  bei  dem  Debilen  mitunter  geradezu  eine  ansser- 
ordentlicbe  Begabung  vorbanden  (Recbenkiinstler,  Virtuosen).  Abstracte 
Begriffe  sind  nur  sparlicb  vorbanden ; meist  verfiigt  der  Debile  nur  iiber 
die  Worte  und  gebraucbt  dieselben  in  gewissen  pbrasenbaften  Satzver- 
bindungen,  welcbe  er  von  anderen  gebort  bat.  Der  Inbalt  bleibt  ibm  fremd. 

Ideenassociation.  Das Wiedererkennen  ist  durcbaiis  normal. 
Das  sog.  sinnliche  Gedacbtniss  ist  sogar  oft  enorm  scbarf.  Unfabigkeit 
zu  anbaltender  Aufmerksamkeit  oder  Concentration  auf  einen 
Gegenstand  fallt  fast  stets  auf.  Die  Urtbeilsassociationen  sind  normal, 
soweit  sie  sicb  an  concrete  Dinge  anlebnen.  Soweit  abstracte  Begriffe 
in  Frage  kommen,  sind  die  Urtbeile  des  Debilen  meist  kritiklose,  un- 
verstandene  Plagiate  von  Anderen.  Oft  verbirgt  sicb  die  Fabigkeit  zu 
eigenem  Urtbeil  binter  einem  fortwabrenden  Citiren.  Einwanden  gegen- 
iiber  verbarrt  er  mit  grossem  Eigensinn,  aber  wenig  Griinden  auf  diesen 
entlebnten  Urtbeilen.  Ueberall  libersiebt  er  die  logiscbe  Pointe  der  Ein- 
wiinde,  welcbe  ibm  entgegengebalten  werden.  Besser  gelingen  ibm  Asso- 
ciationen,  welcbe  auf  einer  mecbaniscben  Anwendung  gewisser  Begeln  be- 
ruben:  so  recbnen  z.  B.  viele  Debilen  rascb  und  ricbtig. 

Affect e.  Sowobl  die  sensoriellen  wie  die  intellectuellen  Gefiibls- 
tbne  erscbeinen  zunacbst  normal.  Erst  genaue  Beobacbtung  lebrt,  dass 
mancbe  intellectuellen  Gefiible  vollig  feblen  oder  nur  ganz  rudimentar 
entwickelt  sind.  Es  sind  dies  speciell  die  abstracten  und  altruistiscben 
Gefiible.  Die  Kranken  fiibren  die  Worte  Recbt,  Ebre,  Vaterlandsliebe 
u.  s.  w.  im  Munde,  die  Begriffe,  d.  b.  die  Partialvorstellungen,  welcbe 


408 


nebilitiit. 


sie  mit  cHesen  Worten  verbinrlen,  sincl  schon  sehr  diirftig,  vollends  die 
Gefiildstone,  welclie  diese  Begriffe  begleiten  imd  ilinen  Einfluss  auf  die 
Ilandlimgen  verscbafifen  sollten,  fehlen  ganz  und  gar.  Die  egoistiscben 

Affecte  sind  last  ebenso  mannigfaltig  wie  bei  dem  Gesunden  und  meist 
abnorra  intensiv. 

Handl ungen.  Der  Debile  ist  sehr  complicirter  Ueberlegungen 
und  daher  aucli  sehr  complicirter  Handlungen  fahig.  Wenn  schon  der 
Imbecille  zuweilen  eine  gewisse  Schlauheit  zeigt,  so  steigert  sich  diese 
bei  dem  Debilen  oft  zu  einer  ausgesprochenen  Kalfinirtheit.  Nicht  selten 
ist  er  Meister  in  der  Intrigue.  Manche  haben  ein  entschiedenes  Talent 
zum  Schauspieler.  In  ihrer  Berufsthatigkeit  lasst  die  Qualitat  der  einzelnen 
Leistung  oft  nichts  zu  wiinschen  iibrig.  Der  Mangel  ethischer  Begriffe 
und  Gefiihle  bezeichnet  das  Betragen  des  Debilen  schon  in  der  friihesten 
Kindheit.  Schon  in  fruheren  Lebensjahren  fallt  auf,  dass  die  Kinder 
alle  Kleider  zerreissen,  ihre  Spielsachen  zertriimmern,  excessiv  und  scham- 
los  onaniren,  geradezu  geflissentlich  sich  verunreinigen  (auch  Koth- 
schmieren  und  Koprophagie  sind  nicht  selten),  Thiere  und  Geschwister 
(jualen,  liuchen,  schimpfen,  liigen  und  stehlen.  Gegen  Liebkosungen, 
Ermahnungen  und  Strafen  sind  sie  gleich  unempfanglich.  Zu  Gespielen 
suchen  sie  sich  meist  jungere  Kinder  aus.  Im  Spiel  fallt  ihre  Hinter- 
listigkeit  und  Bosheit  auf.  Die  sorgfaltigste  Erziehung  wird  dieser 
pathologischen  Ungezogenheit  nicht  Herr.  Mit  der  Pubertat  haufen  sich 
die  sexuellen  Excesse.  Haufig  laufen  sie  aus  der  Schule  oder  aus  dem 
Elternhause  fort.  Durch  abgelauschte,  auswendig  gelernte  Phrasen  und 
aussere  Routine  verdecken  sie-  ihrer  Umgebung  gegeniiber  den  in- 
tellectuellen  Defect  oft  vollstandig.  Die  weitere  Lebensentwicklung  hiingt 
nun  sehr  von  der  socialen  Stellung  ab.  Der  debile  Sohn  des  Reichen 
ist  niemals  regelmassig  bei  der  Arbeit,  spielt  den  Eleganten,  ergiebt  sich 
dem  Spiel,  macht  Schulden  und  vergreift  sich  gelegentlich  auch  an  der 
Kasse  seines  Principals.  Der  Sohn  des  Aermeren  verfallt  der  Vagabon- 
dage. Meist  gelangt  er  schon  friih  auf  die  Verbrecherlaufbahn,  da  schon 
friiher  eine  gesetzliche  Befriedigung  seiner  egoistischen  Affecte  in  Folge 
seiner  pecuniaren  und  socialen  Lage,  welche  ihm  Borgen  und  Schulden- 
machen  nicht  gestattet,  unmoglich  ist.  Alkoholexcesse  fehlen  sehr  selten. 

Korperliche  Symptome.  Haufig  fehlen  solche  durchaus.  In 
anderen  Fallen  begegnet  man  ganz  denselben  Symptomen,  wie  wir  sie 
bei  der  Idiotie  und  Imbecillitat  gefunden  haben,  jedoch  meist  in  \fiel 
geringerer  Zahl  und  Auspriigung. 

Verlauf,  Ausgange  und  Prognose.  Auch  die  Debilitat  bleibt 
in  der  Mehrzahl  der  Falle  stationar.  Nur  in  einer  Minderzahl  gelingt 
es  einer  langjahrigen,  friih  eingreifenden  iirztlich-padagogischen  Be- 
handlung,  eine  wesentliche  Besserung  und  selbst  eine  Heilung  zu  erzielen. 


Dcbilitat. 


409 


1 

So  ist  mir  eiu  Inclivicliunn  bekannt,  welches  unzweifelhaft  an  ausge- 
sprocheiier  Debilitat  litt  imd  jetzt  seit  12  Jahren  von  jeder  Abnorinitat 
frei  ist,  einen  gelehrten  Beruf  ansubt  imd  aiicb  altruistischer  Gefiible 
fiihig  ist. 

V a r i e t a t e n.  Die  wichtigste  Varietiit  der  Debilitat  ist  die  „ erblich- 
degenerative  Modification Unten  wird  ausdriicldich  hervorzuheben  sein, 
dass  unter  den  Ursachen  der  Debilitat  erbliclie  Belastung  und  speciell 
aiich  schwere  erbliche  Belastung  eine  grosse  Rolle  spielt.  In  maiicben 
Fallen  liisst  sich  sogar  ausser  erblicher  Belastung  keine  andere  Ursache 
uachweisen.  Es  ist  nun  in  der  allgemeinen  Aetiologie  bereits  hervor- 
gehoben  worden,  dass  schwere  erbliche  Belastung  die  gewohnlichen 
Psychosen  haufig,  aber  keineswegs  stets  in  bestimmter  Bichtung  modi- 
ficirt.  Dies  triift  auch  fiir  die  Debilitat  zu.  Wo  dieselbe  auf  deni  Boden 
schw  erer  erblicher  Belastung  auftritt,  findet  man  haufig,  aber  nicht  stets 
eine  bestimmte  Modification  der  Debilitat  im  Sinne  der  sog.  erblichdegene- 
rativen  Modification,  welche  friiher  (S.  215  ff.)  eingehend  besprochen 
worden  ist.  Bei  dieser  Varietiit  der  Debilitat  kommen  also  zu  den  oben 
geschilderten  Symptomen  der  Debilitat  noch  die  S.  217  ff.  erwahnten 
psychischen  und  somatischen  Degenerationszeichen  in  grosserer  Zahl. 

Ausser  dieser  erblich-degenerativen  Varietiit  der  Debilitat, 
welche  ungeniein  haufig  ist,  giebt  es  noch  eiuige  andere  weniger  wichtige 
und  auch  weniger  haufige  Varietiiten.  So  kann  z.  B,  der  chrouische 
Alkoholismus , dem  mancher  Debile  yerfiillt,  das  klinische  Bild  durch 
Hinzufiigung  der  fiir  ihn  charakteristischen  Symptome  in  erheblicher 
Weise  modificiren.  Soldier  Complicationen  giebt  es  noch  sehr  vide. 
Da  es  sich  meist  urn  einfache  Supraposition  zweier  Krankheitsbilder 
handdt,  ist  eine  specielle  Beschreibung  nicht  erforderlich. 

Aetiologie.  Die  Ursachen  der  Debilitat  sind  dieselben  wie  die- 
jenigen  der  Idiotie  und  Imbecillitat,  nur  sind  sie  im  Einzelfalle  nicht  so 
gehauft  und  nicht  so  intensiv  vorhanden  wie  bei  diesen  schwereren  Formen. 
Schwere  oder  leichte  erbliche  Belastung  findet  sich  in  70  % aller  Falle. 
Nicht  selten  lassen  sich  mehrere  atiologische  Schadlichkeiten  nachweisen. 

Diagnose.  Ebensowenig  wie  zwischen  Idiotie  und  Imbecillitat  eine 
scharfe  Grenze  vorhanden  ist,  lasst  sich  eine  solche  zwischen  Imbecillitat 
und  Debilitat  ziehen.  Die  leichte  Imbecillitat  deckt  sich  mit  der  schweren 
Debilitat.  Im  Allgemeinen  wird  man  bei  der  Frage,  ob  Imbecillitat  oder 
Debilitat,  vor  Allem  den  Beichthum  des  Kranken  an  allgemeineren  (aber 
nicht-abstracten)  Begriffen,  den  Schatz  an  positivem  Wissen  und  endlich 
die  Fahigkeit  zu  complicirteren  Urtheilsassociationen  priifen  miissen. 
Bei  dem  Imbecillen  findet  sich  in  alien  drei  Bichtungen  ein  erheblicher 
Defect:  er  hat  wohl  die  Begriffe  „Bose"  und  „Baum'^,  aber  der  Begriff 
„Pflanze“  fehlt  ihm,  die  Geschichte  ist  ihm  ein  Buch  mit  7 Siegeln, 


410 


Debilitat. 


Urtlieilsassociationen , welclie  eiu  ocler  gar  ein  ,,obgleich“  ent- 

lialten,  sincl  ihm  iinverstiindlich.  Der  Debile  /eigt  in  alien  diesen  Ricb- 
tungen  keinen  oder  nur  einen  nnerlieblicben  Defect,  Ausdriicklich  ist 
jedocli  bervorzuheben , dass  man  bei  der  Einreiliung  eines  Schwacb- 
sinnigen  in  die  Scala  Idiotie,  Imbecillitat,  Debilitat  sicb  niemals  auf  ein 
einzelnes  oder  einige  wenige  der  oben  genannten  Symptome  stiitzen  dark 
Gelegentlicb  finden  sicb  die  auffalligsten  Coinbinationen  scbwerer  Defecte 
niit  fast  glanzenden  Talenten  oder  Fertigkeiten.  Die  Diagnose  kann 
daber  nur  anf  Grund  des  Gesammtbildes  des  intellectiiellen  und  affectiven 
Lebens  gestellt  werden.  Dabei  wird  man  selbstverstandlicb  seine  An- 
forderungen  an  den  intellectuellen  und  etbiscben  Besitzstand  nacb  der 
socialen  Stellung  und  Umgebung  des  Kranken  bemessen  miissen. 

Audi  zwischen  der  Debilitat  und  dem  Vollsinn  bezw.  einer  im  Be- 
reicb  des  Normalen  bleibenden  intellectuellen  Bescbranktbeit  finden  sicb 
fiiessende  Uebergange.  Der  Reicbtbum  an  abstracten  Begriffen,  nament- 
licb  etbiscben  Begriffen  und  entsprecbenden  etbiscben  Gefublen  ist  fiir 
die  Unterscbeidung  in  erster  Linie  maassgebend.  Sebr  scbwer  wird  die 
Diagnose  besonders  in  denjenigen  Fallen,  wo  die  Erziebung  sowobl  in 
intellectueller  wie  in  etbischer  Beziebung  mangelbaft  gewesen  ist.  Es 
erbebt  sicb  dann  die  scbwierige  Frage,  ob  der  intellectuelle  und  etbiscbe 
Defect  krankbaft  ist  und  mitbin  Debilitat  vorliegt,  oder  ob  der  Defect 
ausscbliesslicb  auf  die  mangelbafte  Erziebung  zuriickzufiibren  ist.  Im 
Allgemeinen  soil  man  die  Diagnose  nur  dann  auf  Debilitat  stellen,  wenn 
sicb  nacbweisen  lasst,  dass  trotz  zweckmassiger  Erziebungsversucbe  eine 
intellectuelle  und  etbiscbe  Entwicklung  bis  zur  Durcbscbnittsbbbe  nicbt 
stattgefunden  bat,  wenn  somit  feststebt,  dass  vermoge  einer  krankbaften 
Ilirnorganisation  das  Individuum  nicbt  fa  big  ist,  intellectuelle  und 
etbiscbe  Begriffe  zu  erwerben.  Man  wird  daber  aucb  bei  Individuen, 
deren  Erziebung  verwabrlost  worden  ist,  sicb  durcb  eigene  Versucbe 
stets  erst  liberzeugen  miissen,  dass  die  bez.  Person  diese  Fiibigkeit  nicbt 
besitzt,  dass  sie  somit  aucb  bei  besserer  Erziebung  nicbt  oder  nur  wenig 
anders  sicb  entwickelt  batte , als  sie  sicb  tbatsacblicb  entwickelt  bat. 
Die  vom  Gesetz  in  Fallen  zweifelbafter  Zurecbnungsfabigkeit  vorge- 
scbriebene  secbswocbentlicbe  Anstaltsbeobacbtung  giebt  ausreicbend  Zeit, 
festzustellen,  wie  viel  auf  mangelbafte  Erziebung  und  wie  viel  auf  krank- 
bafte  Hirnorganisation  (speciell  also  angeborenen  Scbwacbsinn)  zuriick- 
zufiibren ist. 

Die  grbssten  Scbwierigkeiten  ergeben  sicb  fiir  die  psycbiatriscbe 
Beurtbeilung  in  denjenigen  Fallen,  in  welcben  die  abstracten  und  etbiscben 
Begriffe  als -solcbe  leidlicb  entwickelt  sind  und  nur  die  etbiscben  Ge- 
fiibl stone  feblen.  Fragt  man  solcbe  Individuen;  Wie  nennt  man  den- 
jenigen, der  Gutes  mit  Bosem  vergilt?,  so  antworten  sie  sofort:  „un- 


Debilitat. 


411 


dankbar^‘  unci  manche  geben  aucb  iimgekebrt  auf  die  Frage : was  ist 
Undankbarkeit?  sofort  eine  befriedigende  Erklarung  des  Begriffes.  Aber 
der  Gefiiblston  dieses  Begriffes  feblt  ihnen  vollstandig.  In  der  entsprechen- 
den  Situation  bleibt  bei  ibnen  das  Dankgefiihl  ganz  aus.  Ebenso  verhalt 
es  sicb  niit  den  iibrigen  etbischen  Begriffen.  Sie  steblen,  obwobl  sie 
Mein  und  Dein  unterscheiden,  well  der  Gefiiblston  des  Eigentbumsbegrifts, 
die  Scbeu  vor  fremclem  Gut,  ibnen  feblt.  Wie  soil  man  nun  diese  patbo- 
logiscben  etbiscben  Defecte,  welcbe  sicb  mit  der  leicbtesten  Form  der 
Debilitat  verbinden,  von  denjenigen  etbiscben  Defecten  unterscheiden, 
welcbe  scblecbte  Erziebung,  scblecbte  Gesellscbaft  und  die  Zufalligkeit 
ausserer  Umstande*)  bei  zabllosen  normalen  Individuen,  den  sog.  Ver- 
brecbern  bervorbringen ? Man  bat  neuerdings  ofter  bebauptet,  class  Ver- 
brecben  aucb  eine  Krankbeit  sei,  also  nicbt  gelten  lassen,  class  die 
zweitgenannte  Kategorie  normal  sei.  Man  kann  zu  Gunsten  clieser  Be- 
hauptung  anfiibren,  class  bei  den  Verbrecbern  die  sog.  korperlicben 
Degenerationszeicben  etwas  baufiger  gefunclen  werclen  und  dass  erblicbe 
Belastung  etwas  baufiger  nacbzuweisen  ist  als  bei  den  nicbt-verbrecbe- 
rischen  Geistesgesunden.  Diese  Argumente  sind  nicbt  sticbbaltig,  wenn 
sie  beweisen  sollen**),  dass  der  Verbrecber  geisteskrank  ist.  Korper- 
liche  Degenerationszeicben  und  erblicbe  Belastung  kommen  aucb  vor, 
obne  dass  irgencl  ein  psycbiscbes  Krankbeitssymptom  vorbanden  ist. 
Der  etbiscbe  Defect,  lecliglicb  fiir  sicb  betracbtet,  kann  noch  nicbt  obne 
Weiteres  als  patbologiscb  bezeicbnet  werclen.  Aucb  bier  bedarf  es  be- 
bufs  Feststellung  seiner  patbologiscben  Natur  des  Nacbweises,  dass  aucb 
bei  besserer  Erziebung,  besserem  Umgang  und  in  anderen  ausseren  Um- 
stanclen  etbiscbe  Gefiible  sicb  nicbt  in  normaler  Weise  entwickelt  batten. 
Wo  clieser  Nacbweis  nicbt  zu  erbringen  ist,  mag  man  wobl  von  an- 
derem  Standpunkte  aus  den  Verbrecber  mit  seiner  verwabrlosten 
Erziebung,  Verfiibrung  durcb  bbses  Beispiel  und  andere  Umstande,  erb- 
licber  Belastung  und  korperlicben  Degenerationszeicben  entscbuldigen : 
die  Psycbiatrie  im  engeren  Sinne  wird  sicb  nicbt  einmiscben , sie  ist 
nicbt  in  der  Lage,  ibr  Votum  fiir  Geisteskrankbeit  auszusprecben , so- 
lange  die  erblicbe  Belastung  nicbt  aucb  ausgesprocbene  psycbiscbe 
Krankbeitssymptome  (psycbiscbe  Degenerationszeicben)  bervorgebracbt 
bat  und  nicbt  nacbgewiesen  ist,  class  der  etbiscbe  Defect  auf  der  Hirn- 
organisation  selbst  berubt.  Die  Unterscbeiclung  der  leicbten  Debilitat 
mit  vorzugsweisem  Defect  auf  clem  Gebiet  der  etbiscben  Gefiiblstone***) 

*)  Hierher  gehoren  die  Gelegenheitsverbrecher , welcbe  scbliesslicb  zu  Gewobn- 
beitsverbrecbern  werden. 

**)  Dass  sie  die  sog.  Verantwortlicbkeit  des  Verbrecbers  in  ein  neues  Licbt 
riicken,  gebort  nicbt  bierber. 

***)  Nicbt  sebr  zweckmassig  ist  diese  F orm  aucb  als  Moral  insanity  bezeicbnet  worden. 


412 


Debilitat. 


vou  deni  ethischen  Defect  cles  Geistesgesundeu  hat  daher  namentlich 
Folgendes  ins  Aiige  zu  fassen; 

1.  Nacliweis  eines  Defectes  nicht  nur  der  ethischen  Gefiihlstone, 
sondern  auch  der  ethischen  Begriffe  selbst;  allerdings  ist  der  letztere 
Defect,  also  der  Intelligenzdefect  s.  str.  bei  den  leichtesten  Formen  der 
Debilitat  sehr  gering. 

2.  Nachweis,  dass  ethische  Begrilfe  und  Gefuhlstone  von  dem  bez. 
Individuum  vermoge  seiner  Gehirnorganisation  nicht  gebildet  werden 
konnten,  resp.  konnen,  dass  z.  B.  schon  in  friiher  Kindheit  ganz  unab- 
hiingig  von  Verwahrlosung,  Verfuhrung  und  besonderen  Umstanden  auf- 
fallige  moraliscbe  Defectbandlungen  vorgekomnien  sind. 

3.  Nachweis  psycbiscber  Degenerationszeicben. 

4.  Nachweis  atiologischer  Krankbeitsmomente  (erbliche  Belastung, 
Eacbitis,  Heerderkrankiingen  des  Gebirns  u.  dgl.) 

5.  Nachweis  korperlicber  Degenerationszeicben  (Scbadelverbildung, 
einzelne  epileptiscbe  Anfalle  u.  s.  w.) 

Der  Nachweis  unter  1 und  2 ist  unerlasslich  zur  Diagnose  einer 
Debilitat,  der  Nachweis  unter  3 — 5 wird  in  mancben  — allerdings 
seltenen  — Fallen  nicht  zu  erbringen  sein. 

Der  Nachweis  unter  2 ist  selbstverstandlich  oft  nicht  leicht  zu  er- 
bringen. Es  bedarf  dazu  einer  sehr  genauen  Beobacbtung.  Man  soil 
daher  auch  iiber  solche  Fiille  nie  ein  Attest  auf  Grund  einer  ein-  oder 
zweimaligen  Beobacbtung  ausstellen.  Scbliesslich  ist  stets  im  Auge  zu 
behalten,  dass  Misch-  und  Uebergangsfalle  auch  zwiscben  Debilitat  und 
sittlicher  Verwahrlosung  vorkommen. 

Fine  besondere  Complication  erfahrt  die  Diagnostik  der  Debilitat 
und  z.  Tb.  auch  der  Imbecillitat  dadurcb,  dass  bei  Scbwacbsinnigen  nicht 
selten  anderweitige  Psychosen  voriibergehend  vorkommen.  Es  ist  dann 
also  ein  melancholischer  oder  maniakalischer  oder  paranoischer  Zustand 
dem  Schwachsinn  supraponirt.  Der  Intelligenzdefect  verleiht  diesen  libei- 
lagerten  Psychosen  bezw.  Zustanden  eine  eigenartige  Farbung.  Die  me- 
lancholischen  bezw.  hypochondrischen  Wahnvorstellungen  sind  aufifallig 
unbestimmt  und  inhaltsarm,  die  Angst  auffallig  weinerlich.  Die  mania- 
kalische  Heiterkeit  hat  etwas  Albernes,  die  Ideenflucht  ist  ausserst 
monoton.  Witzige  Pointen  fehlen  ganz.  Bei  den  paranoischen  Zustanden 
zeigt  sich  der  Phantasiemangel  des  Schwachsinnigen  in  der  Monotonie 
und  Unbestimmtheit  der  Hallucinationen.  Die  Wahnvorstellungen  werden 
nicht  in  ausgiebige  logische  Verbindung  gebracht.  Besonders  haufig  ent- 
wickelt  sich  die  sog.  originare  Paranoia  auf  dem  Boden  der  Debilitat. 
In  der  Systembildung  dieser  debilen  originaren  Paranoiker  verriith  sich 
die  Associationsschwache  sofort.  Auch  Zwangsvorstellungen  kommen  bei 
Debilitat  zuweilen  vor.  In  alien  diesen  Fallen  wird  die  Debilitat  bezw. 


Dementia  paralytica. 


413 


Imbecillitat  leiclit  iiberselieu,  es  ist  daher  dringend  auziiratben,  dass  der 
Arzt  bei  jeder  Psycbose  weuigstens  eiue  kurze  Frage  nacb  der  intellectu- 
ellen  Befabigiing  vor  Ausbrucb  der  Psycbose  (Scbulleistungen,  Alter  des 
Sprecbenlernens)  tbut,  um  eine  solcbe  Complication  mit  angeborenem 
Scbwacbsiun  niclit  zu  liber selien. 

Die  Simulation  der  Debilitat  bezw.  Imbecillitat  verratb  sicb  meist 
diircli  allerband  Uebertreibimgen.  Die  Kranken  bebaupten  einfacbe  Ge- 
geustande  (Munzen  u.  s.  w.)  nicbt  zu  kennen , wabrend  sie  bei 
Gelegenbeit  im  Spontansprecben  sogar  allerband  Worte  fur  abstracte 
Begriffe  gebraucben  und  aucb  versteben.  Das  Genauere  liber  die  Ent- 
larvung  solcber  Simulanten  gebort  in  die  gericbtlicbe  Psycbopatbologie. 

T b e r a p i e.  Frllb  beginnende,  langjabrige  Erziebung  und  Bebandlung 
in  einem  mediciniscben  Padagogium  bietet  die  einzige  Cbance  auf  Besserung 
und  eventuelle  Genesung.  Die  bauslicbe  Erziebung  und  der  jede  Individuali- 
sirung  vollig  ausscbbessende  Unterricbt  in  fast  alien  offentlicben  Scbulen 
bindern  geradezu  jede  Besserung,  Leider  giebt  es  bis  jetzt  lediglicb  private 
mediciniscbe  Padagogien,  welcbe  nur  dem  Reicben  zuganglicb  sind.  Die 
Armen  sind  daber  darauf  angewiesen,  ibre  debilen  Kinder  entweder  der 
Idiotenanstalt  oder  dem  Correctionsbaus  zuzuscbicken.  Beide  sind  wenig  ge- 
eignet.  In  der  ersteren  feblen  Abtbeilungen  fur  Scbwacbsinnige  leicbteren 
und  leicbtesten  Grades,  Das  Zusammensein  mit  Imbecillen  und  Idioten  wirkt 
geradezu  scbadlicb,  Im  Correctionsbaus  feblt  die  arztlicbe  Leitung, 
ausserdem  scbadigt  die  kranken  Kinder  bier  der  Verkebr  mit  gesunden, 
moraliscb  verkomnienen  Altersgenossen, 

Die  specielle  Bebandlung  der  Debilitat  in  dem  mediciniscben  Pada- 
gogium muss  sicb  mindestens  liber  3—4  Jabre  erstrecken.  Hire  Eiuzel- 
beiten  entzieben  sicb  einer  Besprecbung  an  dieser  Stelle, 


B.  Erworbeiie  Defectpsychosen. 

a.  Dementia  paralytica. 

Die  Dementia  paralytica  ist  eine  cbroniscbe  organiscbe  Psycbose  des 
mittleren  Lebensalters,  deren  Hauptsymptome  ein  progressive!’  Intelli- 
genzdefect  und  fortscbreitende  corticale  motoriscbe  Labmungen 
sind,  Durcb  die  Complication  mit  Erkrankungen  anderer  Tbeile  des 
Centralnervensystems,  namentlicb  des  Ruckenmarks  wird  das  kliniscbe 
Bild  in  der  mannigfacbsten  Weise  modificirt,  Ferner  treten  im  Verlauf  der 
Dementia  paralytica  sebr  baufig  nacbeinander  neben  dem  zunebmenden 
Intelligenzdefect  die  verscbiedensten  psycbopatbiscben  Zustande,  neu- 
rastbeniscbe,  melancboliscbe,  maniakaliscbe,  paranoiscbe  etc,  auf,  Man 


414 


Dementia  paralytica. 


spricht  daher  von  einem  neurasthenischen  Stadium,  eiuem  Exaltations- 
iiiid  Depressiousstadium  und  einem  liallucinatorisclicn  Stadium.  Die 
Krankheit  endet  stets  nach  einigen  Jaliren  todtlicli.  Das  Schlussbild 
ptlegt  das  eines  allgenieinen  liochgradigeii  Schwaclisinns  zu  sein. 
Specielle  Symptomatologie. 

V 0 r s t e 1 1 u n g e n.  Der  Schatz  an  concreten  und  abstracten,  speciellen 
und  allgemeinen  Vorstellungen  nimmt  bei  der  Krankheit  fortgesetzt  ab. 
Es  gelten  fiir  diese  zunehmende  Gedachtnissschwache  alle  diejenigen 
Kegeln,  welche  in  der  allgemeinen  Symptomatologie  (S.  54  und  55)  an- 
gegeben  wurden.  Die  complicirtesten  Begriffe  und  die-jungst  erworbenen 
Erinnerungsbilder  gehen  zuerst  verloren.  So  kommt  es,  dass  dem  Para- 
lytiker  schon  sehr  friih  die  abstracten  Begrifife  verloren  gehen,  denn 
diese  sind  stets  zugleich  besonders  complex.  Ebenso  leidet  das  Ge- 
dachtniss  fiir  die  Jiingstvergangenheit  schon  friih.  Daher  weiss  schon 
im  ersten  Stadium  der  Krankheit  der  Paralytiker  oft  nicht  das  Datum 
anzugeben.  Ueber  seine  gestrigen  und  vorgestrigen  Erlebnisse  weiss 
er  nur  liickenhaft  zu  berichten,  wahrend  seine  Jugenderinnerungen  zu- 
nachst  noch  intact  sind.  Damit  hangt  auch  hiiufig  das  mangelhafte 
Kopfrechnen  des  beginnenden  Paralytikers  zusammen.  Soil  er  7 X 18 
rechnen,  so  beginnt  er  richtig  „7  X 10  ist  70^^  und  „7  X 8 ist  56“ ; wenn 
er  nun  aber  addiren  will,  so  hat  er  das  erste  Theilproduct  schon 
wieder  vergessen  oder  er  verwechselt  es  und  kommt  so  zu  keiuem  oder 
zu  falschem  Kesultat. 

In  den  spateren  Stadien  der  Krankheit  gehen  mehr  und  mehr  auch 
die  einzelnen  concreten  Erinnerungsbilder  und  schliesslich  auch  die 
bereits  in  der  Jugend  erworbenen  verloren.  Im  Beginn  der  Krankheit 
vergisst  der  Paralytiker  den  Besuch,  den  er  vor  einigen  Tagen  von  seinen 
Verwandten  erhalten  hat,  also  ein  complicirtes  Erinnerungsbild  mit  vielen 
raumlichen  und  zeitlichen  Associationen.  Am  Schluss  der  Krankheit  er- 
kennt  er  seine  Verwandten  iiberhaupt  nicht  mehr:  auch  die  einzelnen 
concreten  Erinnerungsbilder  sind  ihm  verloren  gegangen.  In  den  meisten 
Fallen  ist  dieser  Verlust  der  Erinnerungsbilder  ganz  gleichmiissig  iiber 
die  ganze  Hirnrinde  verbreitet.  Mitunter  tritt  der  Ausfall  einer  be- 
stimmten  Gruppe  von  Erinnerungsbildern  besonders  friih  und  intensiv 
auf.  So  kann  z.  B.  der  Verlust  der  optischen  Erinnerungsbilder 

(fiir  eine  oder  auch  fiir  beide  Gesichtsfeldhalften) , also  Seeleublind- 
heit,  lange  Zeit  iiber  die  anderweitigen  Verluste  sensorischer  und 
sensibler  Erinnerungsbilder  iiberwiegen.  Ebenso  ist  der  Verlust  der 
Wortklangbilder  zuweilen  anfangs  das  hervorstechendste  Symptom  der 
allgemeinen  Gedachtnissschwache  (sensorische  Paraphasie).  In  den  End- 
stadien  der  Krankheit  ist  die  Gedachtnissschwache  oft  so  hochgradig, 
dass  der  Kranke  nichts  mehr  wieder  erkennt.  Er  erkeunt  seine  Frau 


Dementia  paralytica. 


415 


iiiclit,  fiudet  seiii  Belt  iiiul  seine  Kleider  niclit,  verwecliselt  Gabel  und 
Boffel,  Hose  imd  Roek  u.  s.  f. 

Ideeu association.  Parallel  init  dieser  Gedachtnissscliwadie  gelit 
eiue  zimehmende  Urtlieilsscbwaclie.  Beide  zusainmen  machen  das  eine 
Cardinalsymptom  der  Dementia  paral}4ica,  den  Intelligenzdefect  aus. 
Die  Urtbeilsschwache  Liusserst  sich  zuerst  in  den  complicirtesten  Urtheils- 
associationen.  Das,  was  man  Kritik  zu  nennen  pflegt,  gelit  dem  Kranken 
melir  und  mebr  ab.  Kritiklos  ist  er  zuniicbst  gegeniiber  seiner  Krank- 
lieit.  Er  iibersieht  die  Tragweite  seiner  zunehmenden  Gedachtniss- 
schwaehe  und  Leistungsfahigkeit  vollstandig.  Ebenso  kritiklos  ist  er  in 
der  Beurtbeilung  seiner  geschaftliclien  Situation,  seiner  socialeu  Stellung, 
seiner  beruflichen  Unternelimungen.  Er  vermag  complicirteren  Um- 
standen  nicht  mebr  gereebt  zu  werden.  Wenn  er  aucb  die  einzelnen 
Tbatsacben  riebtig  auffasst,  so  ist  er  docb  der  complicirten  associa- 
tiven  Verarbeitung  a Her  Tbatsacben  zu  einer  Urtbeilsassociation  niebt 
gewacbsen.  Allentbalben  entgeben  ibm  einzelne  wiebtige  Factoren 
(vgl.  S.  132  und  133).  Spater  steigert  sich  diese  Kritiklosigkeit  zu 
einer  vollstandigen  Urtbeilslosigkeit.  Die  einfaebsten  Associationeu  ver- 
sagen.  7x8  wird  niebt  mebr  gereebnet.  Der  Kranke  weiss  von  den 
einfaebsten  Gegenstanden  Form  und  Farbe  niebt  mebr  anzugeben. 

Gegeniiber  diesen  schweren  Storungen  des  Gedaebtnisses  und  der 
Urtbeilskraft  treten  die  anderweitigen  Storungen  der  Ideenassociation 
mebr  zuriick. 

Was  zunaebst  die  Gescbwindigkeit  der  Ideenassociation  an- 
langt,  so  ist  dieselbe  im  Ganzen  verriugert.  Es  ist  diese  zunebmende 
Langsamkeit  im  Denken  im  Allgemeinen  niebt  als  primare  Denkbemmung 
aufzufassen,  sondern  sie  berubt  auf  der  Einbusse  von  Erinnerungsbildern 
und  associativen  Verkniipfungen.  Der  Kranke  wird  daber  in  seinem 
Denken  ausserst  umstandlicb.  Er  brauebt  zu  einer  geistigen  Arbeit, 
welcbe  ibn  fruber  kaum  1 Stunde  kostete,  jetzt  einen  ganzen  Tag.  Diese 
direct  mit  dem  Intelligenzdefect  zusammenbangende  Denklangsamkeit 
wird  in  einem  gewissen  Stadium  der  Dementia  paralytica,  in  dem  an 
Manie  erinnernden  sog.  Exaltationsstadium,  dm-ch  eine  primare 
ideenfluebt,  welcbe  einer  primaren  beiteren  Verstimmung  parallel  gebt, 
verdrangt.  Wabrend  dieser  ideenfiuebtigen  Phase  der  Krankbeit  ist  der 
Intelligenzdefect  lediglicb  an  dem  scbwacbsinnigen  Inbalt  der  ideen- 
fluchtigen  Associationen  zu  erkennen,  die  Denklangsamkeit  ist  vbllig 
verscbwundeu.  Andererseits  tritt  in  dem  an  Melancbolie  erinnernden 
sog.  Depressiousstadium  zu  der  durcb  den  Scbwachsinn  bedingten  Denk- 
langsamkeit nocb  eine  primare  Denkbemmung  hinzu,  welcbe  einer  pri- 
maren Depression  und  Angst  parallel  gebt.  Der  Kranke  beantwortet 
die  Erage,  wieviel  ist  7x8,  erst  nacb  einigen  Minuteu.  Liisst  spater  die 


416 


Dementia  paralytica. 


Angst  imd  die  Depression  nach  und  schwindet  damit  zugleich  die  Denkhem- 
mung,  so  rechnet  der  Kranke  7x8  rascher  riclitig  aus,  wofern  nicht  sein 
Schwachsinn  inzwischen  soweit  vorgescliritten  ist,  dass  die  ganze  Asso- 
ciation ihm  verloren  gegangen  oder  unsiclier  geworden  ist. 

Der  Zusammenhang  der  Ideenassociation  leidet  in  Folge  des 
Schwachsinns  gleiclifalls  erheblich.  Nicht  selten  komint  es  zu  aus- 
gepragter  secundarer,  durch  den  Verlust  an  Erinnerungsbildern  und 
associativen  Verkniipfungen  bedingter  Verwirrtheit  des  Denkens.  Aucb 
hallucinatoriscbe  und  primare  Incoharenz  kommt  zuweilen  intercurrent 
in  bestimmten  Krankbeitsphasen  vor. 

Mit  dem  Intelligenzdefect  und  diesen  formalen  Stdrungen  bangt 
aucb  die  Unorientirth eit  vieler  Paralytiker  zusammen.  Meist  beruht 
sie  auf  dem  Intelligenzdefect.  Der  Kranke  bat  Datum,  Aufenthaltsort, 
die  Namen  seiner  Umgebung  und  seine  eigenen  Personalien  vergessen. 
Seltener  ist  primare  Denkbemmung  oder  primare  oder  hallucinatoriscbe 
Incoharenz  die  Ursacbe  der  Unorientirtbeit. 

Wabnvorstellungen  sind  auf  der  Hobe  der  Paralyse  ungemein 
baufig.  Im  Exaltationsstadium  sind  es  vorzugsweise  Grossenideen,  im 
Depressionsstadium  Verarmungsvorstellungen  und  namentlicb  hypoebon- 
drische  Wabnvorstellungen,  im  ballucinatoriscben  Stadium  Verfolgungs- 
und  Grossenideen.  Allen  i3aralytischen  Wabnvorstellungen  ist  der  scbwacb- 
sinnige  Inbalt  gemeinsam:  Der  Kranke  bat  „Milliarden  Elepbanten'' 
erlegt,  versebenkt  zabllose  Villen  und  Xitel,  er  selbst  ist  Kaiser,  Roth- 
schild, Gott  und  Obergott  in  einer  Person  oder  andererseits  ist  er  auf 
Millimetergrosse  zusammengescbrumpft , Herz,  Lunge  und  Leber  sind 
fort,  Mund  und  After  sind  zugewacbsen.  Am  wenigsten  markant  pflegt 
der  scbwachsinnige  Charakter  der  Verarmungs-  und  Verfolgungsideen  ber- 
vorzutreten,  docb  iiberwiegt  aucb  bier  das  Maasslose  und  Ungebeuer- 
licbe:  „was  er  einatbmet,  ist  lauter  Eserin  und  Strychnin  und  Nicotin, 
taglich  wird  ihm  Sypbilitis  eingepustet,  die  Milch  ist  lauter  Quecksilber 
und  Quadrillionenmal  bat  der  Arzt  seine  zahllosen  Sdbne  todtge- 
schossen".  Entspreebend  dem  Intelligenzdefect  des  Kranken  und  dem 
zusammenbangslosen  Charakter  der  Wabnvorstellungen  kommt  es  fast 
niemals  zur  Bildung  von  Wabnsystemen.  — Die  Grossenideen  des  Exal- 
tationsstadiums  sind  atfectiven  Ursprungs,  ebenso  aucb  die  Verarmungs-, 
Krankbeits-  und  die  selteneren  Versundigungsvorstellungen  des  Depressions- 
stadiums.  Die  Verfolgungsideen  und  Grossenideen  des  ballucinatoriscben 
Stadiums  beruben  grosstentbeils  auf  Hallucinationen , sebr  viel  seltener 
tauchen  sie  primar  auf.  Sebr  selten  kommt  es  aucb  zu  complemen- 
taren  Wabnvorstellungen.  Sebr  baufig  sind  wabnbafte  Erinnerungs. 
tausebungen  (ungebeure  Jagden,  enorme  Reisen,  selbst  auf  audere  Welt- 
kdrper,  grosse  Kriegsthaten,  unglaublicbe  sexuelle  Abenteuer). 


Dementia  paralytica. 


417 


Emp find uugsstorun gen  sind,  wofern  Complicationen  mit  infra- 
corticalen,  spinalen  oder  peripherisclien  Erkrankungen  des  Nervensy sterns 
fehlen  (s.  u.),  selir  selten.  Insbesondere  bleibt  die  Beriilirungsempfind- 
licbkeit  — im  Gegensatz  zu  der  Schinerzeinpfindlichkeit  (s.  u.)  — meist  bis 
in  die  spiitesten  Stadien  der  Krankheit,  solange  die  Intelligenz  des 
Kranken  uberliaiipt  eine  Priifung  erlaubt,  intact.  Audi  der  Locali- 
sationsfebler  fiir  Hauteinpfindungen  ist  meist  nur  wenig  vergrossert. 

Hallucinatione  n und  1 11  us  ion  en  sind  sebr  baufig.  Sie  be- 
schranken  sich  keineswegs  auf  das  mebrfacli  erwahnte  hallucinatoriscbe 
Stadium,  sondern  konnen  im  ganzen  Verlauf  der  Krankheit  auftreten. 
Nur  im  Schlussstadium  pflegen  sie,  entsprechend  der  hochgradigen 
Reduction  aller  corticalen  Leistungen,  wegzubleiben.  *)  Meist  stehen  sie 
inhaltlich  in  enger  Beziehung  zu  den  jeweiligen  Wabnvorstellungen:  bald 
gehen  sie  begleitend,  gewissermaassen  illustrirend  neben  denselben  her 
(so  oft  im  Exaltations-  und  Depressionsstadium),  bald  geben  sie  selbst 
erst  zu  entsprechenden  "Wahnvorstellungen  Anlass.  Am  haufigsten  sind 
Akoasmen:  Fiirstliche  Personlichkeiten  fliistern  dem  Kranken  allerhand 
zu,  dazu  kommeu  haufig  Droh-  und  Schimpfworte.  Nicht  selten  beziehen 
sich  letztere  auf  die  friiher  iiberstandene  Syphilis.  Bei  den  hypochon- 
drischen  Wahnvorstellungen  spielen  jedenfalls  oft  auch  Hallucinationen 
und  Illusionen  auf  dem  Gebiete  der  Organempfindungen  eine  bedeut- 
same  Rolle. 

Affectstor ungen.  Unter  den  sensoriellen  Gefiihlstonen  leidet 
der  Gefiihlston  des  Schmerzes  bei  intensiven  Hautreizen  schon  sehr  friih. 
Hypalgesie  und  oft  auch  Analgesic  ist  eines  der  friihesten  Krankheits- 
symptome  bei  sehr  vielen  Paralytikern.  Lachend  lassen  sie  sich  die  Nadel 
his  zum  Knopf  in  die  Waden  einstossen.  Die  sexuellen  Gefiihlstone 
sind  oft  und  zwar  haufig  schon  im  Beginn  der  Krankheit  gesteigert, 
dem  entspricht  die  pathologische  sexuelle  Begehrlichkeit  vieler  Para- 
lytiker ; spater  erloschen  sie  oft. 

Unter  den  intellectuellen  Gefiihlstonen  leiden  diejenigen  der  ethi- 
schen  und  asthetischen  Interessen  zuerst  (vergl.  allgemeine  Pathologic 
S.  70).  Das  Pflichtgefuhl  erlischt:  der  Kranke  vernachlassigt  Geschaft 
undFamilie;  stellt  man  ihn  zur  Rede,  so  beweist  er  durch  sein  albernes 
Lachen,  dass  ihm  Gefiihl  und  Verstandniss  fiir  seine  Pflichten  ganz  ab- 
handen  gekommen  sind.  Der  Charakter  sinkt  Stufe  um  Stufe  tiefer. 
Schliesslich  geht  dem  Kranken  jedes  Schamgefiihl  verloren:  er  reisst 
Zoten,  urinirt  vor  Damen,  masturbirt  schamlos,  vernachlassigt  seine 
Toilette  und  verliert  schliesshch  auch  jeden  Sinn  fiir  Reinlichkeit. 

*)  Auch  die  Production  von  Wahnideen  hort  aus  demselben  Grunde  im  Schluss- 
stadium meist  auf.  Der  Kranke  plappert  hochstens  noch  mechanisch  seine  Wahn- 
ideen her. 

Ziehen,  Psychiatrie. 


27 


418 


Dementia  paralytica. 


Zu  dieser  Ei.nbusse  der  intellectuellen  Gefiihlstdne,  welche  dem  In- 
telligenzdefect  parallel  geht  und  schliesslich  mit  volliger  allgemeiner 
Apathie  endet,  treten  im  Verlauf  der  Krankheit  die  verschiedensten 
primaren  Affectstdrungen.  Im  Prodromalstadium  iiberwiegt  meist  eine 
krankbafte  Keizbarkeit;  der  Kranke  argert  sich  iiber  Kleinigkeiten  un- 
verbaltnissmassig  lange  und  intensiv.  Spater  iiberwiegt  meist  langere  Zeit 
eine  mit  Ideenfiucht  verkniipfte  primare  Exaltation  (=  Exaltationsstadium) 
und  nach  dieser  gleichfalls  langere  Zeit  eine  mit  Ideenflucht  verkniipfte 
primare  Depression  und  Angst  (=  Depressionsstadium).  Die  Angst- 
affecte  sind  sehr  oft  pracordial,  in  anderen  Fallen  wird  die  Angst  in  den 
Kopf  lokalisirt;  an  Heftigkeit  geben  sie  denjenigen  der  scbwersten  Me- 
lancbolie  oft  nicbts  nach.  Im  Scblussstadium  verscbwinden  alle  Affect- 
stdrungen vdllig;  nur  eine  mit  dem  kdrperlichen  und  geistigen  Verfall 
des  Kranken  auffallig  contrastirende  heitere  Zufriedenheit,  die  so'g.  Eu- 
phorie,  bleibt  oft  bis  zum  Tode  bestehen. 

Die  primaren  Affectstdrungen  des  Paralytikers  sind  meist  durch 
ibre  Oberflachlichkeit  und  Labilitiit  ausgezeichnet  (vergl.  S.  71,72). 
Ein  Scherzwort  fiibrt  den  Kranken  im  Augenblick  vom  Lachen  zum 
Weinen  und  vom  Weinen  zum  Lacben  biniiber.  Aucb  ist  der  Stim- 
mungsausscblag  meist  unverbiiltnissmassig  gross.  Scbon 
und  gerade  im  Beginn  der  Krankbeit  fallt  oft  auf,  dass  eine  traurige 
Erzablung  den  Kranken,  der  sonst  gar  nicbt  weicbmiitbig  war,  gleicb 
bis  zu  Tbranen  riibrt;  ebenso  iiberscbwanglich  ist  er  oft  in  seiner  Be- 
geisterung. 

Hand  lunge  n.  Ibre  Besprecbung  wird  in  die  Darstellung  des 
Krankbeitsverlaufs  eingeflocbten  werden. 

Kdrperlicbe  Symptome.  Diese  sind  flir  die  Diagnose  oft  von 
entscbeidender  Bedeutung  und  sollen  daber  eingebend  an  der  Hand  des 
S.  201  gegebenen  Schemas  besprochen  werden. 

Zunacbst  leidet  die  Ernabrung  bei  der  Dementia  paralytica  sehr 
erbeblicb.  Namentlicb  im  Exaltations-  und  Depressionsstadium  sinkt 
das  Korpergewicht  ganz  rapid,  so  z.  B.  in  einem  Fall  in  einer  Wocbe 
um  mehr  als  10  Kilo*).  Im  Scblussstadium  findet  man  oft  wieder  eine 
auflfallige  Zunabme  des  Fettpolsters. 

Die  Haut  ist  oft  auffallig  unelastisch. 

Das  vasomotorische  Nachrothen  ist  in  den  Erregungspbasen  ge- 
steigert. 

Die  centrale  Kbrpertemperatur  ist  in  vielen  Fallen  durcbaus  normal. 
Defter  ergeben  tagliche  Messungen,  dass  in  unregelmassigen  Abstiinden 
leichte  Fieberbewegungen  auftreten,  fiir  welche  weder  eine  Magenver- 


*)  Die  Nahrungsaufnahrae  war  hochstens  auf  die  Halfte  reducirt. 


Dementia  paralytica. 


4111 


stimmimg  noch  ein  Brouchialkatarrh  nocli  eine  Obstipation  oder  eine 
Urinreteution  eine  ausreicbende  Erklarung  liefert.  Wahrscheinlicli  sind 
diese  Temperatursteigerungen  auf  den  centralen  Kranklieitsprocess  selbst 
zii  beziehen.  Kobe  Fieberbewegungen  (bis  iiber  41”)  treten  in  den  sog. 
paralytischen  Anfallen  auf,  welche  unten  ausfiihrliclier  besprochen  werden- 
Endlich  beobacbtet  man  bei  der  Dementia  paralytica  zuweilen  aucb  epi- 
sodische  Zustande,  welche  ganz  dem  Delirium  acutum  der  functionellen 
Psychosen  entsprechen,  also  namentlich  hochgradige  Unorientirtheit, 
Dissociation  des  Vorstellungsablaufs  und  incoharehte  motorische  Agi- 
tation aufweisen;  in  diesen  sind  — ebenso  wie  bei  den  functionellen 
Psychosen  — Temperaturen  iiber  39  ” haufig. 

Erhebliche  Temperaturerniedrigungen,  bis  unter  30  ”,  oft  progressiven 
Characters  kommen  selten  und  fast  nur  im  Endstadium  der  Krankheit  vor. 

Die  Herzthiitigkeit  ist  dfters  leicht  unregelmassig,  bald  verlangsamt, 
bald  beschleunigt.  Zum  Theil  sind  diese  Storungen  jedenfalls  auf  die 
coexistirende  Atheromatose  der  Arterien,  insbesondere  der  Kranzgefasse 
des  Herzens  zuriickzufiihren.  Zuweilen  lasst  sich  p.  m.  auch  eine  De- 
generation der  Vagusbahn  oder  des  Vaguskerns  nachweisen. 

Die  Pulswelle  ist  in  den  verschiedenen  Stadien  sehr  verschieden.  Im 
Depressionsstadium  entspricht  sie  oft  einem  ausgesprochenen  arteriellen 
Gefasskrampf.  In  den  Endstadien  findet  man  oft  tarden  Puls.  Meist 
bestehen  dann  auch  verbreitete  Oedeme. 

Vergrosserungen  der  Leberdiimpfung  (foie  paralytique)  kommen  zu- 
weilen vor  (mitunter  mit  Urobilinurie).  Bei  weiblichen  Individuen  kommt 
es  oft  zu  Amenorrhoe,  resp.  verfriihter  Menopause.  Die  Salzsaure- 
seCretion  des  Magens  nimmt  oft  progressiv  ab;  in  den  Endstadien  ent- 
halt  der  ausgeheberte  Mageninhalt  oft  gar  keine  Salzsaure  mehr  (weder 
freie  noch  gebundene).  Erbrechen  ist  haufig.  Die  Darmthatigkeit  ist 
oft  gelahmt.  Namentlich  im  Depressionsstadium  und  im  Schlussstadium 
sind  schwere  Obstipationen  nicht  selten.  Andererseits  kommen  schwere 
Diarrhoen  vor;  ob  letztere  auf  Innervationsstorung  beruhen  oder  eine 
Folge  des  hastigen  Hinunterschlingens  unverdaulicher  Stoffe  sind,  lasst 
sich  oft  nicht  entscheiden.  Die  Speichelsecretion  ist  oft  gesteigert. 

Der  Urin  der  Paralytiker  ist  selten  dauernd  normal.  Ganz  abge- 
sehen  von  der  nicht  seltenen  Complication  mit  Nephritis  und  von  der 
finalen  Cystitis  findet  man  haufig  eine  intermittirende  Albuminurie  mit 
oder  ohne  hyaline  Cylinder.  Andere  geformte  Elemente  fehlen  in  diesen 
Fallen.  Auch  Propeptonurie  ist  nicht  selten.  Das  Auftreten  dieser 
Storungen  fallt  meist  mit  hallucinatorischen  Erregungszustanden  zu- 
sammen.  Unabhangig  von  letzteren  kommt  Glycosurie  und  Acetonurie 
vor,  bald  jahrelang  dauernd,  bald  intermittirend.  Auch  Polyurie  ohne 
Glycosurie  ist  zuweilen  beobachtet  worden  (auch  als  Friihsymptom!). 

27* 


420 


Dementia  paralytica. 


Unter  den  trophisclien  S torn n gen  spielt  der  Decubitus  die  Haupt- 
i’(dle.  In  mancheu  L alien  beruht  derselbe  ausscbliesslich  auf  der  Un- 
reinlichkeit  der  Krahken  und  auf  ibrer  durcb  die  Lahmungen  bedingteu 
regungslosen  Kiickenlage.  Oft  kommt  als  auxiliares  Moment  die  Tragbeit 
der  periplierisclien  Circulation  binzu.  Endlicb  mag  in  einer  kleineren  Reihc 
von  Fallen,  namentlich  solcben,  wo  eiu  ausgebreiteter  Decubitus  inner- 
halb  24  Stuudeu  sich  entwickelt,  eine  tropboneurotiscbe  Storung  vorliegen. 

Zu  den  tropbiscben  Storungen  ist  vielleicht  auch  das  rasche  Ergrauen 
des  Haupthaares  zu  recbnen.  Endlicb  ist  in  mancben  Fallen  eine  auf- 
fallige  Briicliigkeit  der  Knocben  und  Knorpel  beobachtet  worden.  Frak- 
turen  sind  bei  Paralytikern  ungemein  baufig,  unci  niclit  stets  lasst  sich 
im  Einzelfall  die  Fraktur  in  geniigender  Weise  aus  rober  Bebandlung 
seitens  der  Umgebung  oder  aus  der  motorischen  Schwache  und  Unge- 
gescbickbchkeit  des  Kranken  erklaren.  Besonders  baufig  sind  auch 
Zerreissungen  und  Blutergiisse  im  Ohrknorpel.  Traumatiscbe  Insulte 
geben  den  Anlass,  es  liisst  sich  jedocb  fe'ststellen,  class  das  Trauma  oft 
unverhaltnissmassig  gering  ist:  man  wire!  daher  zu  der  Annabme  gedriingt, 
class  eine  patbologisclie  Briicbigkeit  des  Knorpels  selbst  und  der  Wan- 
dungen  der  Gefasse  bei  clem  Zustanclekommen  dieser  sog.  Otbaematome 
sowie  der  anologen  Rhinhaematome  betbeibgt  ist. 

Die  Pupil  len  geben  oft  den  wichtigsten  Anhalt  fur  die  Diagnose  auf 
Dementia  paralytica.  Zunachst  sind  sie  sebr  baufig  ungleicb.  Hierauf 
ist  jedocb  wenig  Gewiebt  zu  legen,  da  solcbe  Ungleicbbeiten  auch  bei 
functionellen  Psycliosen  vorkommen.  Bald  sind  sie  abnorm  weit,  bald 
abnorm  eng.  Die  Mydriasis  ist  bald  durcb  Sympatbicusreizung , bald 
durcb  Oculomotoriuslalimung,  die  Miosis  bald  durcb  Sympatbicuslabmung 
bald  durcb  Oculomotoriusreizung  bedingt.  Viel  becleutsamer  sind  Ver- 
ziebungen  der  Pupille,  namentlich  wenn  sie  nur  einen  Quadranten  be- 
treffen.  Am  wichtigsten  ist  die  Priifung  der  Pupillarreactionen.  Bei 
mebr  als  60  % aller  Paralytiker  stellt  sich  im  Verlauf  des  Leiclens  reflec- 
torische  Pupillenstarre  ein.  In  ancleren  Fallen  kommt  es  nur  zu  Triig- 
beit  der  Lichtreaction , in  seltenen  Fallen  ist  die  clirecte  Licbtreaction 
erbalten  und  nur  die  synergisebe  aufgeboben  oder  trage.  Nur  in  etwa 
20  Vo  ^ller  Falle  bleiben  die  Lichtreactionen  wahrend  des  ganzen  Krank- 
beitsverlaufs  volbg  normal.  Viel  seltener  als  Storungen  der  Licbtreaction 
sind  Storungen  der  Convergenzreaction.  Wo  letztere  vorkommen,  sind 
sie  oft  mit  Accommoclationslahmung  verkniipft. 

Auch  die  Augenbewegungen  sind  sebr  baufig  gestbrt.  Zunachst 
bort  man  in  der  Anamnese  oft  von  Doppelseben.  Bei  genauer  Untersuebung 
kann  man  in  mindestens  der  Hiilfte  aller  Falle  leiebte  Defecte  der  Be- 
wegbchkeit  eines  oder  beicler  Bulbi  in  dieser  oder  jener  Richtung  fest- 
stellen.  Oft  verrath  sich  ein  solcber  Defect  nur  durcb  eine  Ungleichbeit 


Domcntia  paralytica. 


421 


tier  sog.  secundaren  Innendeviation  aiif  Iteiden  Augen.  Zuweileii  findet 
man  eine  ausgesprochene  Lahmimg  eiues  Abduceng  oder  eines  Oculo- 
motorius  oder  aucb  nur  eines  Astes  des  letzteren  (go  z.  B.  des  Levator- 
zweiges).  Etwas  seltener  ist  ein  an  multiple  Sclerose  erinnernder  Nystagmus. 

Der  Stirn-  und  Augenfacialis  ist  haufig  paretisch.  Begreiflicher- , 
weise  ist  die  Parese  meist  nur  auffallig,  wenn  sie  einseitig  ist.  Oft  verrath 
sich  die  einseitige  Parese  scbon  durch  eine  abnorme  Weite  des  einen 
Augenspalts  (Parese  des  Orbicularis  oculi)  und  ein  Herabhangen  des 
unteren  Lids.  Dabei  ist  jedocli  zu  beacbten,  class  aucb  eine  asym- 
metriscbe  Innervation  des  Sympathicus  gerade  bei  der  Dementia  para- 
lytica eine  Ungleicbbeit  der  Augenspalten  bedingen  kann.  Man  findet 
in  diesem  Falle  auf  der  Seite  des  weiteren  Augengpalts  aucb  Mydriasis 
und  Protrusio  bulbi  (also  anderweitige  auf  Sympatbicusreizung  deutende 
Symptome). 

Wicbtiger  sind  die  Innervationsstbrungen  des  Mu nd facialis.  Zu- 
weilen  sind  alle  Innervationen  des  Mundfacialis  auf  einer  Seite  paretiscb: 
bei  dem  Mundspitzen,  dem  Zabnefletscben,  dem  Vorstrecken  der  Zunge, 
dem  Lacben,  dem  Sprecben  bleibt  die  eine  Mundbajfte  zuriick  und  aucb 
in  Rube  ist  auf  der  einen  Seite  die  Nasolabialfalte  seicbter*)  und  der  Mund- 
winkel  berabbangend.  Nocb  baufiger  sind  lediglicb  ein z eine  Inner- 
vationen balbseitig  gescbadigt.  So  ist  z.  B.  die  Parese  sebr  baufig  auf 
die  spracblicben  Innervationen  des  Mundfacialis  bescbrankt.  Am  biiu- 
figsten  bleibt  das  Mundspitzen  symmetriscb.  Zuweilen  verratb  sicb  die 
Parese  aucb  nur  darin,  dass  die  Innervation  rascb  ermudet  oder  von 
Anfang  an  zitternd  erfolgt.  In  letzterem  Fall  kommt  es  zu  dem  sog. 
Flattern  der  Gesicbtszlige.  Endlicb  fallt  in  einer  grosseren  Reibe  von 
Fallen  auf,  dass  die  Innervation  des  recbten  und  des  linken  Mundfacialis 
nicht  syncbron  vollzogen  wird.  Bald  wird  z.  B.  beim  Sprecben  der  eine, 
bald  der  andere  Mundwinkel  fruber  innervirt,  bald  dieser  bald  jener 
starker  contrabirt.  Oft,  aber  nicbt  stets,  ist  die  Parese  des  Augenfacialis 
und  des  Mundfacialis  auf  derselben  Seite  gelegen.  Abnorme  Mitbewe:- 
gungen  im  Bereicb  der  Gesicbtsmuskeln  begleiten  oft  die  Inneryationen 
paretiscber  Muskeln. 

Asymmetriscbe  Gaumenbebung  ist  gleicbfalls  baufig.  Oft  bedingt 
eine  beiderseitige  Gaumenparese  eine  eigentbiimlicbe  naselnde  Aussprache. 

Zun  genabweicbungen  sind  sebr  baufig.  Oft  entspricht  die  Seite 
der  Abweicbung  der  Seite  der  Mundfacialisparese ; dann  ist  also  der 
Hypoglossus  aitf  derselben  Seite  betroffen  wie  der  Mundfacialis.  Oft 
verratb  sicb  die  Innervationsscbwacbe  aucb  darin,  dass  die  Zunge  bei  dem 
Vorstrecken  fortgesetzt  in  sagittaler  Ricbtung  vor-  und  zurlickscbne|lt. 

*)  Aufj  Fig.  6 der  physiognomischen  Tafeln  ist  ein  Paralytiker  im  ExaltatiQns- 
stadium  dargestellt;  die  linke  Nasolabialfalte  ist  vdllig  verstrichen,  , - .-[(.  j 


422 


Dementia  paralytica. 


Die  grobe  motoriscbe  Kraft  der  Extremitaten  ist  fast  stets  herab- 
gesetzt.  Bei  dynamometriscber  Messung  ergeben  sich  oft  schon  im  ersten 
Stadium  der  Krankheit  Wertbe,  welche  mit  der  Muskelentwicklung  ganz 
auffallig  contrastiren  und  kaum  ’/g  der  Norm  betragen.  Sehr  baufig 
iiberwiegt  diese  Parese  auf  einer  Kbrperhalfte,  so  dass  das  Bild  einer 
Hemiparese  zu  Stande  kommt.  Im  Gang  spricbt  sich  eine  solche  Hemi- 
parese  in  einem  Ueberhangen  nach  der  Seite  der  Hemiparese  aus.  Das 
bez.  Bein  wird  etwas  nacbgezogen,  die  bez.  Schulter  steht  etwas  tiefer. 

Die  Parese  der  Rumpfmuskeln  spricbt  sich  in  der  gebiickten  Haltung, 
die  Parese  der  Nackenmuskeln  in  dem  Herabsinken  des  Kopfes  auf  die 
Brust  aus. 

Alle  diese  Paresen  sind,  wie  die  Intactbeit  der  elektriscben  Erreg- 
barkeit  ergiebt,  corticalen  Ursprungs,  Seltener  sind  sie  mit  Atropbie 
und  partieller  oder  vollstandiger  Entartungsreaction  verkniipft.  So  kommt 
z.  B.  in  seltenen  Fallen  eine  balbseitige  Zungenatropbie  vor:  die  Unter- 
sucbung  p.  m.  ergiebt  alsdann  eine  graue  Degeneration  des  peripberen 
Hypoglossus  oder  einen  Schwund  des  Hypoglossuskerns.  Sehr  bezeichnend 
fiir  die  Labmungen  ist  aucb  ibre  geringe  Intensitat  — absolute  Lah- 
mungen  sind  sehr  selten  — und  ibre  Fliichtigkeit : heute  ist  der  linke,  ; 
nacb  einigen  Wocben  der  recbte  Mundfacialis  paretisch.  i 

Die  Coordination  der  willkiirlicben  Extremitatenbewegungen  i 
leidet  meist  erst  in  den  spateren  Krankheitsstadien  erbeblicb.  Die  j 
Kranken  linden  bei  geschlossenen  Augen  die  Nasenspitze  mit  den  Fingern  | 
nicht  mebr.  Oft  vereinigen  sich  Ataxie  und  Intentionstremor , um  die 
Sicherheit  der  Bewegungen  zu  stbren.  Vereinzeltes,  gelegent- 
licbes  Versagen  der  Coordination  fiir  feinere  Bewegungen  beobacbtet 
man  schon  sehr  friib:  die  Kranken  treten  fehl  beim  Tanzen,  greifen 
febl  beim  Essen,  stolpern  auf  der  Treppe  u.  a.  m,  Bei  der  sog.  Tabes- 
paralyse  d.  h.  einer  Form  der  Dementia  paralytica,  welche  mit  den 
typiscben  Symptomen  einer  Tabes  beginnt,  ist  ausgesprocbene  Ataxie 
selbstverstandlicb  eines  der  ersten  Symptome. 

Sehr  erbeblicb  und  sehr  friib  leidet  fast  stets  die  Coordination  der 
Sprech-  und  Scbreibbewegungen.  Am  characteristiscbsten  fiir  die  Spracb- 
Storung  ist  die  Hesitation  bei  den  Anfangsconsonanten  der  Worte  und 
aucb  der  einzelnen  Silben.  Namentlicb  wenn  mehrere  Consonanten  zu-  • 
sammenstossen,  „stolpert‘'  der  Kranke.  Zu  der  Hesitation  kommt  oft 
eine  Weglassung  und  Versetzung  einzelner  Consonanten:  der  Kranke 
spricbt  Artilleriebrigarde  oder  Artilleriebrigrade  statt  Artilleriebrigade. 

In  vorgeruckten  Stadien  werden  ganze  Silben  theils  weggelassen,  tbeils 
versetzt  („Dampfschliffschleppfahrt“  statt  „DampfschiffscbleppscbifffahrC').  ' 
Zugleich  leidet  aucb  die  Aussprache  bezw.  Articulation  der  einzelnen  Vo- 
cale  und  Consonanten.  Die  Vocale  werden  tremulirend  ausgesprocben 


Dementia  paralytica. 


423 


(Inteutionszittern  der  Stimmbander),  die  Consonanten  undeutlich  ai’ticulirt. 
Durcli  das  Zusammentreffen  aller  dieser  Storungen  wird  schliesslich  die 
Sprache  des  Kranken  ganz  unverstandlich.  In  anderen  Fallen  ist 
der  Endeffect  der,  dass  der  Kranke  iiberhaupt  kein  hbrbares  Wort  her- 
vorbringt:  aiis  der  atactischen  Spracbstorung  bat  sich  eine  Spracb- 
labmung,  eine  atactische  Aphasie,  entwickelt.  In  anderen  Fallen  entsteht 
die  Aphasie  plotzlich:  d.  h.  ohne  dass  eine  Coordinationsstorung  des 
. Sprechens  vorausgegangen  ware,  stellt  sich  plotzlich  eine  mehi  odei 
weniger  vollstandige  Aphasie  ein.  Der  Kranke  findet  fiir  seine  Empfin- 
dungen  und  Vorstellungen  die  Worte  nicht  mehr*).  Diese  motorische 
Aphasie  ist  von  der  erwahnten  atactischen  Sprachstorung  nur  durch  die 
Entstehungsweise  (bei  letzterer  langsame,  bei  ersterer  rasche  Entwicklung) 
und  durch  die  Intensitat  (letztere  unvollstandig,  erstere  vollstandig)  ver- 
schieden.  Beide  entstehen  durch  Zerstbrungen  in  demselben  Rinden- 
gebiet,  namlich  der  sog.  Broca’schen  Stelle,  erstere  durch  rasche  voll- 
standige Zerstbrung  dieses  Gebiets,  letztere  durch  langsame  unvollstandige. 
Durch  allmahliche  Zunahme  dieser  langsamen  Zerstbrungen  kann  hegreif- 
licher  Weise  und  entsprechend  dem  oben  angegebenen  klinischen  That- 
bestand  aus  der  atactischen  Sprachstbrung  schliesslich  eine  vollstandige 
atactische  Aphasie  werden. 

Ausser  diesen  auf  einer  Laesion  der  Broca’schen  Stelle  selbst  be- 
ruhenden  Sprachstbrungen  findet  man  nicht  selten  auch  transcorticale 
Aphasien,  so  nicht  selten  einfache  Paraphasie,  ab  und  zu  auch  optische 
Aphasie  u.  dgl.  m.  Diese  Stbrungen  beruhen  auf  Leitungsunterbrechungen 
der  zu  der  Broca’schen  Stelle  fiihrenden  langen  Associationsbahnen. 

Endhch  sind  auch  nicht  selten  die  Sprachkerne  des  Pons  und  der 
Oblongata  erkrankt.  Es  kommt  dann  zu  ahnlichen  Sprachstbrungen, 
wie  man  sie  z.  B.  bei  der  Bulbarpai’alyse  beobachtet.  Es  ist  nicht  un- 
Avahrscheinlich , dass  die  oben  schon  erwahnten  Stbrungen  in  der  Arti- 
culation der  einzelnen  Consonanten  zu  einem  grossen  Theil  auf  solchen 

infracorticalen  Laesionen  beruhen. 

In  seltenen  Fallen  beschrankt  sich  die  Sprachstbrung  auf  eineVer- 
langsamung  der  Articulation.  Selir  selten  kommt  es  zu  scandirender 
Articulation.  Durch  Paresen  einzelner  Muskeln  kommt  es  zu  weiteren 
speciellen  Stbrungen  (naselnde  Sprache  bei  Gaumenparese  u.  dgl.). 

Zur  Priifung  der  Sprache  genugt  es  nicht,  den  Kranken  einige  be- 
sonders  schwer  auszusprechende  Worte  nachsprechen  zu  lassen,  sondern 

*)  Auch  auf  anderen  Muskelgebieten  findet  man  Aehnliches.  Manche  Kranken 
haben  die  Bewegung  des  Zungenvorstreckens  oder  des  Mundspitzens  u.  s.  w.  verlernt. 
Sollen  sie  eine  seiche  Bewegung  ausfiihren , so  kommen  sie  entweder  iiberhaupt  zu 
keiner  Bewegung  (corticomotorische  Akinesie)  oder  sie  machen  eine  ialsche  (run- 
zeln  z.  B.  die  Stirn  statt  den  Mund  zu  spitzen,  Parakinesie). 


424 


Demontia  paralytica. 


man  muss  vor  allem  die  Sprache  des  Kranken  beobachten,  wenn  er  sich 
imbeobachtet  glaubt  und  keine  besondere  Sorgfalt  auf  das  Sprechen 
verwendet.  Es  gelingt  namlich  manchen  Paralytikern  eine  leichte  Sprach 
storung  bei  Aufwendung  grosser  Aufmerksamkeit  vorubergebend  aucb 
bei  scbwereren  Worten  zu  unterdriicken.  Aucb  ist  zu  beacbten,  dass 
durcb  Uebung  der  Paralytiker  einzelne  Worte  fliessend  articuliren  lernt. 
Endbcb  tritt  ofters  unter  dem  Einfluss  atfectiver  Erregung  eine  leicbtere 

Spracbstdrung  zuriick.  Man  vermisst  sie  daber  namentlicb  oft  im  Exal- 
tationsstadium. 


Schriftprote  eines  Para- 
lytikers ; dictirt  war  das 
Wort  „Schwalbe“. 


Die  Scbreibstdrung  ist  der  Spracbstorung  durcbaus  analog.  Eine 
plbtzbcbe  vollstiindige  Agrapbie  ist  ausserst  selten.  Meist  bandelt  es 
sicb  um  eine  allmablicb  sicb  entwickelnde  atactiscbe  Scbreibstorung.  Der 
EndefFect  ist  allerdmgs  scbliesslicb  oft  entweder  eine  vollige  Unleserlicb- 
keit  des  Gescbriebenen  oder  aucb  ein  volliges  Versagen  der  Scbreib- 
bewegungen.  Die  einzelnen  atactiscben  Storungen  des  Scbreibens  ent- 
sprecben  ganz  denjenigen  des  Sprecbens:  man  findet  zitternden  Verlauf 
del  Haar-  und  Grundstricbe , stockendes  Ansetzen  der  einzelnen  Bucb- 

staben,  Bucbstaben-  und  Silben-auslassungen,  -wieder- 
bolungen  und  -versetzungen.  Nicbt  selten  beobacbtet 
man,  dass  der  Kranke,  nacbdem  er  ein  Wort  gescbrie- 
ben  bat,  bei  dem  Versucbe  ein  neues  Wort  auf  Dictat 
zu  scbreiben , immer  wieder  in  die  Bucbstaben  und 
Silben  des  ersten  Wortes  bineingeratb*). 

Eine  specielle  Beacbtung  verdienen  aucb  die  Storungen  des  Gebens. 
Corticale  und  spinale  Storungen-  treffen  bier  zusammen.  Liegt  Compli- 
cation mit  Tabes  vor,  so  findet  man  den  typischen  atactiscben  Gang  des 
Tabikers.  Liegt  Complication  mit  Seitenstrangserkrankung  des  Rucken- 
marks  vor,  so  bat  der  Gang  spastiscben  Character.  In  vielen  Fallen  ist 
der  Gang  einfacb  paretiscb;  die  Kranken  beben  die  Fiisse  nur  wenig, 
macben  nur  kleine,  langsame  Scbritte  und  setzen  die  Fiisse  breitspurig’ 
d.  b.  in  weitem  Querabstand  auf.  Die  corticale  Storung  tritt  nocb  deut- 
licber  bei  complicirteren  Gebbewegungen  bervor,  so  z.  B.  beim  Steigen, 
beim  Kebrtmacben  u.  s.  f.  Die  Gebbewegungen  werdeii  der  Situation 
nicbt  angepasst,  daber  kommt  es  zu  Febltritten,  Scbwauken  etc. 

Die  sensiblen  Storungen  sind,  abgeseben  von  den  mit  Tabes 
complicirten  Fallen  sowie  abgeseben  von  der  sebr  cbaracteristiscben  Hyp- 
algesie,  wiebereitserwabnt,  sebrgeringfiigig.  Druckpuiiktefinden  sicb  selten. 


*)  Solche  Nachwirkungserscheinungeii  boobachtet  man  aucb  bei  anderen  Be- 
wegungen  des  Paralytikers.  Hat  der  Kranke  eben  auf  Befehl  die  Zunge  vorgestreckt, 
so  wiederholt  er  zuweilen  zu  seinem  eigencn  Verdruss  die  Bewogung  des  Vorstreckens, 
wenn  ihm  eine  andere  Bewegung,  z.  B.  Augenschliessen,  aufgetragen  wird. 


Dementia  paralytica. 


425 


Spontane  Schmerzen  siud  sehr  haufig,  so  namentlich  heftige 
anhaltende  Kopfschmerzen.  Meist  sind  letztere  symmetrisch,  am  hau- 
ligsten  werden  sie  in  die  Stirn  verlegt.  Die  Supraorbitalneuralgie  und 
Occipitalneuralgie,  welche  der  Krankheit  oft  vorangehen,  sind  meist  direct 
auf  Syphilis  zu  beziehen.  Bei  der  Taboparalyse  findet  man  lancinirende 
Schmerzen  (namentlich  in  den  Beinen).  Parasthesien  in  alien  Haiitgebieten 
sind  auch  in  Fallen,  welche  mit  Tabes  nicht  complicirt  sind,  haufig. 

Hbr-,  Seh-  und  Eiechstorungen  konnen  in  jedem  Stadium 
der  Dementia  paralytica  eintreten.  Meist  beruhen  sie  auf  einer  grauen 
Degeneration  der  peripherischen  Sinnesnerven.  Die  Horstorungen  beginneti' 
in  der  Regel  mit  der  Einbusse  der  Horfahigkeit  fiir  die  hoheren  Tone. 
Die  craniotympanale  Leitung  ist  auffallig  oft  erloschen.  Die  Degene- 
naration  des  Sehnerven  verrath  sich  oft  schon  bei  ophthalmoskopischer 
Untersuchuilg  durch  eine  ausgesprochene  Atrophie  der  Papille.  In  an- 
deren  Fallen  findet  man  nur  eine  ganz  characteristische  Triibung  def 
Papille  und  der  angrenzenden  Netzhautpartien.  Ausgesprochene  Stau- 
ungspapille  findet  sich  fast  nur  dann,  wenn  . eine  Complication  mit 
Haematom  der  Dura  mater  oder  ein  sehr  hochgradiger  innerer  Hydro- 
cephalus vorliegt.  Anosmie  resp.  Hyposmie  ist  haufig.  Geschmacks- 
stbrungen  sind  seltener. 

An  dieser  Stelle  sei  auch  nochmals  hervorgehoben,  dass  durch  den' 
circumscripten  Ausfall  der  Erinnerungsbilder  einer  Sinnessphiire  gelegefit- 
lich  die  Symptome  der  Seelenblindheit  u.  s.  w.  zu  Stande  kommen  konnen. 
Hierher  gehort  auch  die  Worttaubheit  und  Wortblindheit  mancher  Pa- 
ralytiker.  Haufiger  als  Worttaubheit  ist  iibrigens  ein  auffalliges  Miss. 
verstehen  aller  Worte.  Ebenso  ist  ausgesprochene  Alexie  selten.  Oefter 
zeigt  sich  die  Lesestbrung  darin,  dass  die  Kranken  Worte  auslassen, 
andere  einfiigen  und  viele  Worte  phantastisch  ohne  jede  Riicksicht  auf 
den  Sinn  durch  andere  halbwegs  ahnlich  klingende  ersetzen. 

Die  Hautreflexe  sind  zuweilen  gesteigert,  ofter  herabgesetzt,  und 
zwar  bald  einseitig,  bald  doppelseitig.  ' 

Die  Sehnenphanomene  sind  bei  der  tabischen  Form  erloschen. 
Nicht  selten  findet  man  sie  auch  herabgesetzt  bezw.  erloschen  in  solchen 
Fallen,  wo  anderweitige  tabische  Symptome  ganz  fehlen.  Bei  sehr  vielen 
Paralytikern  sind  umgekehrt  die  Sehnenphanomene  gesteigert,  so  z.  B. 
namentlich  auch  in  den  Fallen,  welche  spastischen  Gang  zeigen.  Nicht 
selten  verbindet  sich  diese  Steigerung  mit  Fussclonus.  Ungemein  haufig 
ist  auch  halbseitige  Verschiedenheit  der  Sehnenphanomene. 

Blasen-  und  Mastdarmlahmung  bleiben  im  Schlussstadium 
selten  aus ; erstere  kommt  auch  nicht  selten  als  Friihsymptom  vor.  Auch 
Impotenz  pflegt  sich  im  Verlauf  des  Leidens  sehr  oft  einzustellen. 


426 


Dementia  paralytica. 


Verlauf.  Man  unterscheiclet  im  Verlauf  cler  Dementia  paralytica 
am  zweckmassigsten  clrei  Stadien: 

1.  Ein  Prodromalstadium:  die  Bymptome  desselben  tauschen 
eine  Neurasthenie  vor. 

2.  Das  Hohestadiura  der  Krankheit  (auch  als  Stadium  der  Wakn- 
bildung  zu  bezeichnen) : bald  verlauft  dasselbe  unter  dem  Bild  einer  aus- 
gesprocbenen  Exaltation  (Exaltationsstadium),  bald  unter  dem  Bild  einer 
ausgesprochenen  Depression  (Depressionsstadium) , bald  unter  dem  Bild 
einer  ballucinatorischen  Erregung  (hallucinatorisches  Stadium),  bald  endlich 
losen  sick  diese  Stadien  in  regelmassigem  oder  unregelmassigem  Wecksel 
gegenseitig  ab. 

3.  Das  Scklussstadium:  einfacher,  kockgradiger  Sckwacksinn 
ist  eingetreten. 

Das  Prodromalstadium  entwickelt  sick  meist  ganz  ^ckleickend. 
Der  Kranke  klagt  liber  dumpfen  Stirnkopfschmerz.  Oft  leidet  der  Schlaf. 
Appetitlosigkeit  und  Verdauungsbesckwerden  stellen  sick  ein.  Die  Stim- 
mung  ist  im  Ganzen  triib,  abnorm  labil  und  zugleick  abnorm  reizbar. 
Die  Patienten  kaben  selbst  das  Gefiihl,  dass  sie  einer  schweren  Krankkeit 
entgegengeken.  Geistige  Arbeit  fallt  iknen  sckwer:  sie  versckreiben, 
versprecken  und  verrecknen  sick  oft.  Ikr  Gedacktniss  lasst  sie  oft  im 
Stick.  Der  Umgebung  fiillt  bereits  ausser  der  Langsamkeit  bei  geistiger 
Arbeit  auch  ein  Mangel  an  Umsicht  und  Kritik  auf.  Auck  mackt  sich 
bereits  eine  Gleichgiltigkeit  gegen  friiker  gepfiegte  kokere  Interessen 
geltend.  Die  kbrperliche  Untersuckung  fallt  zuweilen  negativ  aus,  zu- 
weilen  findet  sich  schon  jetzt  Hypalgesie  oder  Pupillenstarre  oder  eine 
leichte  Facialisparese  oder  auck  eine  leichte  Storung  der  Spracke. 

Im  Laufe  der  weiteren  Entwicklung  tritt  der  intellectuelle  Defect 
immer  deutlicker  hervor:  der  Kranke  verlegt  wicktige  Documente,  irrt 
sich  in  Geldangelegeukeiten  um  erkeblicke  Summen,  steigt  bei  Reisen 
auf  falscken  Stationen  aus,  vergisst  Verabredungen , lasst  auf  Briefen 
die  Angabe  des  Wohnorts  des  Adressaten  weg,  verweckselt  Personen 
und  Gegenstande.  Zugleick  andert  sick  die  Affectlage:  der  Kranke  setzt 
sick  liber  seine  geistige  Veranderung  jetzt  leickter  kinweg.  Das  Krank- 
heitsbewusstsein  nimmt  in  ganz  ckaracteristiscker  Weise  ab.  Riikrselig- 
keit  und  Jahzorn  Ibsen  sick  ganz  unvermittelt  ab.  Der  Defect  der 
ethischen  Gefiihlstbne  kommt  zur  Geltung:  ganz  gegen  seine  friikere 
Gewohnkeit  gekt  der  Kranke  jeden  Abend  und  bfter  auck  mitten  wakrend 
seiner  Geschaftszeit  in  das  Wirthshaus.  Er  lasst  sick  mit  allei'kand 
Frauenzimmern  ein  und  genirt  sick  nicht  — wenn  auch  verkeiratket 
am  hellen  Tage  mit  einer  Dime  iiber  die  Strasse  und  selbst  an  seiner 
eigenen  Wohnung  vorbeizugeken.  Auck  zu  iibereilten  Verlobungen  mit 
social  viel  tiefer  stebenden  Personen  (Kellnerinnen , die  der  Kranke  in 


Dementia  paralytica. 


427 


schwachsinniger  Weise  idealisirt  u.  s.  w.)  kommt  es  nicht  selten.  Mitunter 
kommt  es  direct  zii  sexiiellen  Delicten.  Ueber  allerhand  VergniiguDgen 
vernacblassigt  der  Kranke  seinen  Beruf.  Um  seine  Familie  kiimmert  er 
sich  nicht  mehr.  Im  ehelichen  Leben  fallt  die  Schamlosigkeit  und  Un- 
massigkeit  seiner  Forderungen  auf.  Seinen  Vorgesetzten  gegeniiber  ver- 
gisst  er  den  Kespect,  seinen  Untergebenen  gegeniiber  die  Keserve.  Er 
macht  sich  mit  Jederraann  gemein  und  gefallt  sich  in  Zoten  und  Cynis- 
men.  Fremden  gegeniiber  fallt  seine  Taktlosigkeit  auf.  Auch  vernach- 
lassigt  er  seine  Toilette;  ohne  Kravatte,  die  Kleider  nicht  zugeknbpft 
geht  er  in  Gesellschaften  und  in  das  Theater.  Oft  schlaft  er  wahrend 
eines  Diners  oder  wahrend  der  Vorstellung  ein. 

Auf  kbrperlichem  Gebiet  sind  jetzt  fast  stets  schon  deutlichere 
Symptome  vorhanden.  Insbesondere  ist  die  Sprachstorung  jetzt  meist 
schon  nachzuweisen. 

Das  Hohestadium  der  Dementia  paralytica  ist  am  haufigsten  ein 
Exaltationsstadium.  Man  bezeichnet  diesen  Verlauf  daher  auch 
als  den  „klassischen“.  Eine  krankhafte  Heiterkeit  iiberfallt  den 
Kranken.  Zugleich  stellt  sich  Ideenflucht  und  Bewegungsdrang  ein. 
Auffallig  rasch  kommt  es  zu  secundaren  (afifectiven)  Grbssenideen.  Diese 
tragen  bereits  das  Geprage  eines  hochgradigen  Intelligenzdefects  (s.  o.). 
Der  Kranke  lasst  sich  in  enorme  Speculationen  ein,  macht  sinnlose 
Waareneinkaufe,  beschenkt  alle  Welt,  verschwendet  fiir  sinnlosen  Putz 
in  wenigen  Tagen  Tausende.  Ohne  entsprechende  Mittel  tritt  er  grosse 
Keisen  an  und  bestellt  allenthalben  feine  Diners  und  Sect.  Theils  in 
Folge  der  weiteren  Steigerung  des  Bewegungsdrangs , theils  in  Folge 
des  Widerstandes,  welchen  die  Umgebung  schliesslich  dem  Kranken  ent- 
gegensetzt,  stellt  sich  voile  Tobsucht  ein.  Der  Kranke  schreit,  singt, 
zerstbrt.  Der  Intelligenzdefect  und  die  Ideenflucht  vereinigen  sich  seinen 
Vorstellungsablauf  ganz  des  Zusammenhangs  zu  berauben.  Er  zerreisst 
seine  Kleider,  schmiert  „herrliche  Gemalde"  mit  seinem  eigenen  Koth 
an  die  Wand,  trinkt  seinen  Urin  „als  Champagner".  Bald  will  er  alle 
Welt  begliicken  und  umarmen,  bald  ist  er  in  hbchstem  Maasse  aggressiv. 
Der  Schlaf  fehlt  oft  wochenlang  vollstandig.  Die  korperlichen  Symptome 
sind  z.  Th.  weniger  ausgesprochen,  wie  z.  B.  die  Sprachstorung  (s.  o.), 
theils  entziehen  sie  sich  in  Anbetracht  der  Erregung  des  Kranken  einer 
genaueren  Feststellung.  Das  Exaltationsstadium  klingt  meist  allmahlich 
ab  und  geht  oft  direct  in  das  Schlussstadium  des  einfachen  Blbdsinns  iiber. 

In  anderen  Fallen  findet  man  statt  des  Exaltationsstadiums  ein  aus- 
gesprochenes  Depressionsstadium.  Meist  schliesst  sich  ein  solches  direct 
an  die  hypochondrische  reizbare  Stimmung  des  Prodromalstadiums  an. 
Mehr  und  mehr  beherrscht  eine  primare  Depression  den  Kranken.  Schwere 
Angstaffecte  kommen  hinzu.  Die  gleichzeitig  sich  einstellende  Denkhem- 


428 


Dementia  paralytica. 


lining  llisst  den  Kranken  noch  defecter  erscheinen,  als  er  thatsachlich  ist. 
belli’  raseh  stellen  sicli  aucli  entsprechende  Walmvorstellungen  ein  und 
zwar  vorwiegend  schwachsinnige  liypochondrische  Wahnideen  (s.  o.).  Bald 
bedingt  die  Angst  ein  katatonisches  Verhalten,  bald  fiihrt  sie  zu  schwerer 
Agitation.  Selbstmordversncbe  sind  in  diesem  Stadium  (und  auch  im 
ersten  Absebnitt  des  Prodromalstadiums)  nicht  selten.  Manche  Kranken 
besebranken  sicb  aiif  ein  ununterbroebenes  monotones  Jammern.  Trotz  der 
bypoebondriseben  Vorstellungen  kommt  es  selten  zu  einer  consequenten 
Nabrungsverweigerung.  Masturbation,  welcbe  im  Exaltationsstadium 
sebr  baufig  ist,  wird  ziiweilen  aucb  im  Depressionsstadium  beobaebtet. 
Aucb  dies  Depressionsstadium  klingt  meist  allmablicb  ab  und  gebt  oft 
direct  in  die  terminale  vollige  Demenz  iiber.  Die  korperlicben  Symptome 
sind  meist  leiebt  nacbzuweisen. 

Seltener  sebliesst  sicb  an  das  Vor stadium  ein  bal lucinatorisebes 
Stadium.  Auf  Grund  zablreicber,  pldtzlicb  oder  allmablicb  auftaueben- 
der  Sinnestausebungen  gelangt  der  Kranke  zu  zablreicben  Verfolgungs- 
ideen  und  Grossenideen.  Wenn  die  Sinnestausebungen  sicb  sebr  scbnell 
baufen  oder  iiberbaupt  sebr  massenbaft  auftreten,  kommt  es  zu  beftigen 
ballucinatoriscben  Erregungszustanden.  In  anderen  Fallen  findet  man 
einen  ballucinatoriscben  Pseudostupor.  Aucb  dies  ballucinatoriscbe  Sta- 
dium kann,  allmablicb  abklingend,  direct  in  voile  Demenz  ubcrgeben. 

In  den  seitber  betraebteten  Fallen  war  das  Hobestadium  insofern 
einfacb,  als  es  aussebliesslieb  entweder  unter  dem  Bild  einer  Exal- 
tation oder  unter  dem  einer  Depression  oder  unter  dem  einer  balluci- 
natoriscben Erregung  verlief.  Sebr  oft  beobaebtet  man,  dass  innerbalb 
des  Hobestadiums  versebiedene  Pbasen,  in  regelmassiger  oder  unregel- 
massiger  Reibenfolge,  sicb  ablosen.  So  kann  z.  B.  an  die  exaltirte 
Phase  eine  Depression  sicb  ansebliessen  oder  umgekebrt.  Mitunter 
kommt  es  zu  einem  mebrmaligen  Wecbsel  eines  Exaltations-  und  eines 
Depressionsszustandes.  Man  spriebt  dann  von  circularem  Verlauf. 
Ferner  sebieben  sicb  ballucinatoriscbe  Erregungszustande  niebt  selten 
in  das  Exaltations-  oder  in  das  Depressionsstadium  oder  zwiseben  beide 
binein.  Zuweilen  gebt  wabrend  der  ganzen  Exaltation  bezw.  Depression 
eine  entspreebende  ballucinatoriscbe  Erregung  nebenber. 

Sebr  ebarakteristiseb  fiir  den  Verlauf  im  Hobestadium  sind  aucb 
die  sog.  Bemissionen.  Aucb  im  Prodromalstadium  kommen  sie  ab 
und  zu  vor,  selten  im  Scblussstadium.  Hire  Dauer  scbwankt  zwiseben 
einigen  Woeben  und  mebreren  Monaten.  Selten  sind  Bemissionen  von 
iiber  Jabreslange.  In  denselben  sebwinden  niebt  nur  die  Aftectstbrungen, 
die  Wabnvorstellungen  und  Sinnestausebungen  vollstandig,  sondern  aucb 
der  Intelligenzdefect  und  die  korperlicben  Ausfallserscbeinungen  geben 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  zuriick.  Oft  bedarf  es  einer  sebr  genauen 


Dementia  paralytica. 


4^y 

Uutersuchung,  urn  Krunklieitss])ureu  noch  aufzufiucleu.  Ain  hartniickigsten 
trotzt  auf  psychiscliem  Gebiet  in  der  Regel  der  Defect  der  complicirteren 
intellectnelleu  (jefiihlstoue  ancli  der  weitgehendsten  Remission.  Nacli 
Ablaiif  einer  solchen  Remission  Icann  sich  uochmals  ein  Depressions- 
oder  Exaltationsstadium  einstellen  oder  es  kann  direct  der  Uebergang 
in  das  Scblnsstadium  erfolgen. 

Das  S c h 1 u s s t a d i u m entwickelt  sich  meist  allmalilich  aus  dem 
vorhergehendeu.  Nicht  selten  beobachtet  man  jedoch  auch,  dass  es  zu 
einem  ausgesprochenen  Hohestadium  nicbt  kommt,  sondern  dass  nach 
dem  oben  geschilderteu  Prodromalzustand  ohne  erheblicbere  alfective, 
halliicinatorische,  wabnhafte  iind  motorische  Erregung  iinmittelbar, 
bald  rascher  bald  langsamer  eine  progressive  Demenz  sich  entwickelt, 
welche  zu  volliger  Verblodung  fiihrt.  Das  Terminalstadium  gelit  in 
diesen  Fallen  aus  dem  Prodromalstadium  ganz  allmahlicli  entsprechend 
dem  zunehmenden  intellectuellen  und  motorischen  Yerfall  hervor. 

Ab  und  zu  nimmt  der  Kranke  noch  einige  Wahnvorstellungen  in 
dies  Schlusstadium  mit  hiniiber.  So  murmelt  mancher  trotz  seiner  Hilf- 
losigkeit,  fast  sterbend,  noch  etwas  von  Kronen  und  Milliarden.  Seltener 
persistiren  Rudimente  der  hypochondrischen  Vorstellungen.  Meist  herrscht 
eine  leichte  Euphorie  vor,  oft  besteht  auch  voUige  Apathie.  Bald  herrscht 
vollige  motorische  Triigheit,  bald  besteht  bis  zum  Schluss  ein  grosserer 
Bewegungsdrang.  In  letzterem  Fall  nestelt  und  reisst  und  knopft  der 
Kranke  den  ganzen  Tag  an  seinen  Kleidern  oder  er  macht  mit  den 
Handen  Bewegungen,  als  iibte  er  seinen  friiheren  Beruf  aus.  Andere 
laufen  ruhelos  umher  und  sammeln  allerhand  Unrath  (Kiesel,  welke 
Blatter,  Papierschnitzel  u.  dgl.).  Ein  klares  Motiv  ist  fiir  diese  sog. 
Sammelsucht  oft  garnicht  festzustellen ; jedenfalls  messen  die  Kranken 
den  gesammelten  Scherben  oft  grossen  Werth  bei.  Die  Verunreinigungen 
haufen  sich. 

Zugleich  treten  jetzt  die  korperlichen  Ausfallserscheinungen  mehr 
und  mehr  in  den  Vordergrund.  Eine  constante  Reihenfolge  ihres  Auf- 
tretens  existirt  nicht,  nur  der  progressive  Charakter  wird  nie  vermisst. 
Bald  leidet  die  Sprache  zuerst  und  in  besonderem  Maasse,  bald  der  Gang, 
bald  die  Schrift,  bald  das  Greifen  der  Hande  u.  s.  w.  Zum  Schluss  kommt 
es  oft  auch  zu  Lahmungen  der  Schlundmuskeln  und  zu  Zahneknirschen. 
Meist  sind  die  Kranken  wahrend  der  letzten  Zeit  an  das  Bett  gefesselt, 
da  sie  weder  zu  steheu  noch  zu  gehen  vermogen. 

Der  Gesammtverlauf  der  Krankheit  erstreckt  sich  beim  Manne 
iiber  ca.  3 — 4 Jahre,  bei  der  Frau  iiber  5 — 6 Jahre.  *)  Durch  inter- 
currente  Krankheiten  (Pneumonie  u.  dgl.)  kommt  es  sehr  haufig  schon 


*)  Ganz  ausnahmsweise  hat  man  eine  mehr  als  lOjahrige  Dauer  beobachtet. 


430 


Dementia  paralytica. 


viel  friiher  zu  einem  todtlichen  Ende.  In  manchen  Fallen  beobachtet 
man  auch  einen  acuteren  Verlauf  der  Hirnkrankbeit  selbst.  Meist  ge- 
horen  diese  Falle  der  sog.  klassischen  Form  an.  Prodromalerscheinungen 
gehen  nur  kurze  Zeit  und  nur  in  geringer  Zahl  und  Intensitat  voraus. 
Jail  bricht  eine  bochgradige  Ideenflucht,  ein  maassloser  Grbssenwahn 
und  eine  scbwere  Tobsucbt  aus.  Dieser  Erregungszustand  dauert  einige 
Wochen.  Geht  der  Kranke  nicbt  in  ihm  zu  Grunde,  so  findet  man  bei 
seinem  Abklingen  bereits  einen  bochgradigen  Schwachsinn  und  ausge- 
breitete  Lahmungen,  kurz  einen  Verfall,  wie  man  ihn  sonst  meist  nur  nach 
jahrelangem  Verlauf  im  Scblussstadium  beobachtet.  Man  bezeicbnet 
diese  Form  auch  als  die  galoppirende  Form  der  Paralyse. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  erleidet  sehr  haufig  eine  wichtige 
Unterbrechung  durch  die  sog.  paralytischen  Anfalle.  Man  versteht 
darunter  mehrtagige  fieberhafte  Zustande,  welche  mit  schweren  corti- 
cal en  Keiz-  und  Ausfallserscheinungen  einhergehen.  Das  Bewusstsein 
ist  haufig  aufgehoben.  In  anderen  Fallen  sind  alle  psychischen  Vor- 
gange  nur  verlangsamt  und  reducirt.  Auf  Stiche  und  Anruf  reagiren 
die  Kranken  daher  garnicht  oder  nur  sehr  schwach.  Koth  und  Urin 
lassen  die  Kranken  unter  sich  gehen.  Die  Sprache  ist  aufgehoben  oder 
auf  ein  Lallen  beschrankt.  Meist  besteht  eine  sehr  deutliche  Schluck- 
storung.  Das  Fieber  steigt  bisweilen  fiber  40®.  Meist  ist  es  wahrend 
der  Dauer  des  Anfalls  continuirlich ; die  Morgenremissionen  sind  meist 
sehr  gering.  Die  Pulswelle  zeigt  eine  auffallige  Dikrotie.  Das  Gesicht 
ist  oft  stark  gerothet,*)  zuweilen  jedoch  auch  blass.  Die  Pulsfrequenz 
ist  nicht  im  Verhaltniss  zur  Fiebertemperatur  gesteigert.  Die  Reiz-  und 
Ausfallserscheinungen  spielen  sich  namentlich  auf  dem  motor ischen 
Gebiet  ab.  Man  kann  zwei  Typen  des  Anfalls  unter scheiden.  Bei  dem  ersten 
Typus  findet  man  zunachst  und  vorwiegend  Ausfallserscheinungen,  Plotz- 
lich  oder  auch  im  Laufe  einiger  Stunden  stellt  sich  eine  halbseitige  vollige 
Lahmung  oder  Parese  ein.  Hebt  man  die  Glieder  der  paretischen  Kor- 
perhalfte  in  die  Hohe  und  lasst  sie  dann  los,  so  fallen  sie  lediglich  der 
Schwerkraft  folgend  auf  die  Unterlage  zurfick.  Auf  der  anderen  Korper- 
halfte  stossen  hingegen  passive  Bewegungen  auf  einen  merklichen  Wider- 
stand,  und  die  erhobenen  Extremitaten  sinken,  wenn  man  sie  loslasst, 
langsam  auf  die  Unterlage  zurfick,  da  der  Kranke  durch  willkfirliche 
Innervation  der  Schwerkraft  entgegenwirkt.  Oft  beobachtet  man  gerade- 
zu  gesteigerte  Spannung  in  der  Muskulatur  der  nicht-gelahmten  Korper- 
halfte.  Bei  vblligem  Coma  findet  man  selbstverstandlich  beiderseits  ab- 
solute Resolution.  Erst  im  weiteren  Verlauf  konnen  in  den  gelahmten 

*)  Congestionen  sind  bei  Dementia  paralytica  aucb  ohne  paralytischen  Anfall 
Sehr  haufig-  Oft  ist  dabei  die  centrale  Temperatur  sogar  auffallig  niedrig. 


Dementia  paralytica. 


431 


Muskeln  auch  Reizerscheinungen  iiud  zwar  meist  clonische  Krampfe  auf- 
treten.  Ihr  corticaler  Charakter  verrath  sich  clarin,  dass  der  Clonus 
meist  in  einem  bestimmten  Muskelgebiet  beginnt  und  allmahlich  erst 
anf  die  iibrigen  Muskelgnippen  derselben  Korperhalfte  iibergebt.  Die 
Reibenfolge,  in  welcher  die  einzelnen  Muskelgruppen  ergrifFen  werden, 
entspricbt  der  raumlichen  Anordniing  ibrer  Centren  in  der  Hirnrinde. 
Nacbdem  der  Krainpfanfall  die  eine  Korperhalfte  ganz  durchwandert 
bat,  ergreift  er  zuweilen  aucb  nocb  die  nicbt-gelabmte  Korperhalfte. 
Der  Orbicularis  oculi  und  einige  andere  Muskeln,  welcbe  neben  der  ge- 
kreuzten  Rindeninnervation  aucb  eine  ausgiebige  gleicbseitige  Rinden- 
innervation  besitzen,  betbeiligen  sich  meist  von  Aufang  an  beiderseits 
am  Krampf,  nur  auf  der  gelahmten  Seite  etwas  starker  als  auf  der 
nicbt-gelabmten.  Statt  des  cloniscben  Krampfes  oder  aucb  neben  dem 
cloniscben  Krampf  beobacbtet  man  baufig  aucb  einen  toniscben  Krampf. 
Letzterer  ist  an  die  Reibenfolge  des  cloniscben  Krampfes  nicbt  gebunden. 
Die  Augen  zeigen  oft  einen  lebhaften  Nystagmus  oder  aucb  eine  con- 
jugirte  toniscbe  Deviation  nacb  der  krampfenden,  gelahmten  Seite.  Der 
Kopf  ist  gleichfalls  nacb  dieser  Seite  gedrebt  (fast  stets  toniscb).  Wenn 
der  Krampf  spater  auf  die  andere  Korperhalfte  uberspringt,  wecbselt 
aucb  die  Drebung  der  Augen  und  des  Kopfes:  d.  b.  Kopf  und  Augen 
wenden  sich  der  jetzt  krampfenden  nicbt-gelabmten  Korperhalfte  zu. 
Der  einzelne  Krampfanfall  dauert  meistens  einige  Minuten,  zuweilen 
uber  eine  Viertelstunde.  Gewbbnlicb  wiederbolt  er  sich  bfter.  Mit- 
unter  folgen  die  einzelnen  Anfalle  so  rascb  auf  einander,  dass  man  von 
einem  epileptiformen  Status  sprechen  kann.  Seltener  beobacbtet 
man  wabrend  des  ganzen  paralytiscben  Anfalls  vereinzelte , unregel- 
massig  vertbeilte  clonische  Krampfbewegungen.  Sebr  baufig  ist  ununter- 
brocbenes  Zabneknirscben. 

Bei  dem  soeben  bescbriebenen  paralytiscben  Anfall  ging  die  Lab- 
mung  dem  epileptiformen  Krampfbewegungen  voran.  Haufig  ist  es  um- 
gekebrt.  Bei  den  Anfallen  des  zweiten  Typus  stiirzt  der  Kranke  plotz- 
lich  unter  Krampfbewegungen  zu  Boden.  Der  Ablauf  des  Krampfanfalls 
entspricbt  ganz  der  oben  fiir  den  ersten  Typus  gegebenen  Bescbreibung. 
Nacb  dem  Krampfanfall  kann  man  fast  stets  eine  ausgesprocbene  Hemi- 
parese  in  der  von  den  Convulsionen  zuerst  und  am  intensivsten  be- 
troffenen  Korperhalfte  feststellen.  Kopf  und  Augen  zeigen  unmittelbar 
nacb  dem  Krampfanfall  oft  eine  conjugirte  Deviation  nacb  der  nicbt- 
gelabmten  Seite.  Die  Krampfanfalle  kbnnen  sich  beliebig  oft  wieder- 
bolen. 

Zwiscben  den  paralytiscben  Anfallen  des  ersten  Typus  und  den- 
jenigen  des  zweiten  Typus  bestebt  kein  scbarfer  Unterscbied.  Zuweilen 
bat  man  die  ersteren  aucb  als  apoplectiforme,  die  letzteren  als 


432 


Dementia  paralytica. 


epileptiforme  Anfalle  bezeichnet.  Oft  lasst  sicli  garnicht  feststelleu  ^ 

ob  zuerst  die  Labmung  oder  zuerst  der  cloniscbe  Krampf  aufgetreten  ^ 
ist.  Man  spricbt  daber  besser  nur  von  paralytiscben  Anfallen  scblecbt-  i 

weg  und  fiigt  je  nacb  deni  Tbatbestand  binzii  , mit“  oder  obne  eni- 
leptifornie  Kl•ampfe^^  ” ^ - 

Vergleicbt  man  die  Acbseltemperatur  der  gelabmten  und  der  nicbt 
gelabmten  Kbrperbalfte,  so  findet  man  diejenige  der  ersteren  oft  um  ' 
mebr  als  1“  bober.  Ebenso  ist  die  Hauttemperatur  in  der  Kegel  auf 
dei  gelabmten  Seite  etwas  bober  als  auf  der  nicbt  gelabmten.  Nacb  i 
jedem  epileptiformen  Anfall  ist  die  Korpertemperatur  (im  Rectum  ge-  ’ 
messen)  fast  stets  erbeblicb  gestiegen,  zuweilen  um  mebr  als  S®.  Er- 
folgen  keine  neuen  Anfalle,  so  gebt  diese  Steigerung  bald  wieder  zuriick. 

l)ie  Hautreflexe  und  Sebnenpban omene  sind  nur  in  den  ‘ 
allerscbwersten  Anfallen  beiderseits  erloscben.  In  den  meisten  Anfallen  |i 
sind  die  &ebnenpbanomene  auf  der  Seite  der  Labmung  gesteigert, 
die  Hautreflexe  auf  der  Seite  der  Labmung  berabgesetzt  oder  erloscben. 
Aucb  kann  auf  derselben  Seite  Fussclonus  bestehen.  So  ist  man  oft  in 
der  Lage  aucb  bei  vollig  bewusstlosen  Kranken  auf  der  Hohe  des  An- 
falls  zu  entscheiden,  welcbe  Seite  vorzugsweise  von  der  Labmung  ^ 
betrofien  ist.  — Die  Cornealrefiexe  sind  in  den  scbwersten  Fallen  er- 
loscben. 

Die  Beriibrungsempfindlicbkeit  liisst  sicb  nur  in  den 
leicbteren  Fallen  prufen.  In  diesen  ist,  wie  aus  den  lallenden  Ant- 
worten  des  Kranken  bezw.  seiner  Gesticulation  zu  entnebmen  ist,  auf 
der  gelabmten  Seite  die  Berubriingsempfindlicbkeit  nicbt  vollig  aufgeboben. 
Dagegen  vermag  der  Kranke  Berubrungen  dieser  Korperbalfte  gar  nicbt 
oder  nur  ganz  unvollkommen  zu  localisiren. 

Die  Scbmerzempfiudlicbkeit  ist  in  den  scbwersten  Fallen 
beiderseits  aufgeboben.  In  alien  anderen  Fallen  ist  sie  nur  auf  der  Seite 
der  Labmung  berabgesetzt:  es  ergiebt  sicb  dies  daraus,  dass  die  mi- 
miscbe  Verziebung  des  Gesicbts  sowie  die  Abwebrbewegungen  Gel 
scbwacber  sind,  bezw.  iiberbaupt  erst  bei  viel  tieferen  Sticben  erfolgen.*) 

In  leicbteren  Fallen  lasst  sicb  aucb  eine  Herabsetzung  der  Ge- 
rucbs-  und  Horscbarfe  und  eine  Hemiamblyopie  entsprecbend 
der  Seite  der  Labmung  feststellen:  der  Kranke  kommt  Aufforderungen 
nicbt  nacb,  wenn  ibm  das  Obr  auf  der  nicbt-gelabmten  Seite  zugebalten 
wird,  und  er  blinzelt  nicbt,  wenn  man  von  der  Seite  der  Labmung  ber 
mit  dem  Finger  auf  das  recbte  oder  linke  Auge  zufabrt. 

*)  Hierin  lediglich  eine  motorische  Stoning  zu  erblicken  verbietet  sicb  deshalb, 
weil  die  Gesichtsverziebung  oft  ganz  symmetriscb  ist  und  bei  Sticben  in  die  nicbt- 
gelabmte  Korperbalfte  oft  aucb  in  der  paretiscben  Gesicbtsbalfte  prompt  eine  Ver- 
ziebung eintritt. 


Dementia  paralytica. 


433 


Zuweilen  sind  diese  balbseitigen  sensiblen  und  sensorischen  Er- 
scbeinungen  aiiffallig  stark  aiisgesproclien , wiilirend  die  motorischen 
Symptome  ziiriicktreteu.  Es  besteht  dann  eiue  complete  Hemianalgesie, 
Hemianosmie  und  Hemianopsie.  Audi  macbt  der  Kranke  oft  eigen- 
tliiimlicbe  Bewegungen  mit  dem  gesunden  Arm,  als  sucbte  er  den  Arm 
der  bemianalgetiscbeu  Korperhalfte : aucb  das  Muskelgefiihl  ist  lialbseitig 
erloscheii.  In  diesen  sensorischen  paralytischen  Anfiillen  treten  aucli 
bfters  balbseitige  Hallucinationen  auf:  der  Kranke  fiihlt  sich  auf  der 
hemianalgetisclien  Seite  gezwickt,  sieht  Gestalten  in  dieser  Hiilfte  des 
Gesichtsfeldes  und  hort  sich  von  derselben  Seite  her  rufen. 

Die  Dauer  des  einzelnen  paralytischen  Anfalls  sowie  seine  Inten- 
sitiit  ist  sehr  wechselnd.  Manche  sind  so  leicht,  dass  der  Kranke  kaum 
mehr  als  einen  leichten  Schwindel,  eine  voriibergehende  Schwache  der 
einen  Korperhalfte  oder  auch  nur  ein  voriibergehendes  Versagen  der 
Sprache  bemerkt.  Namentlich  im  Prodromalstadium  sind  diese  leichten 
Anfiille  sehr  haufig  und  diagnostisch  von  grosser  Bedeutung.  Die 
spateren  Anfalle  sind  geivobnlich  intensiver  und  langer  dauernd.  Die 
Durchschnittsdauer  vom  Beginn  des  Fiebers  bis  zum  Schwinden  des- 
selben  belauft  sich  auf  2—3  Tage.  Doch  kommen  auch  Anfalle  von 
mehr  s t ii  n d i g e r Dauer  vor. 

Nach  dem  Anfall  bilden  sich  die  Erscheinungen  ausserst  rasch 
zuriick.  Man  ist  erstaunt,  wie  eine  fast  vollige  Lahmung  binnen  24  Stunden 
wieder  fast  ganz  verschwindet.  Es  hilngt  dies  damit  zusammen,  dass  diesen 
Anfallen  lediglich  Circulationsstorungen , keine  groberen  anatomischen 
Lasionen  zu  Grunde  liegen.  Die  Section  ergiebt  wenigstens  oft  keine  an- 
deren  Befunde  bei  Paralytikern,  welche  im  Anfall  gestorben  sind,  als  bei 
Paralytikern,  welche  nie  Anfalle  gehabt  haben  und  auch  nicht  im  Anfall 
gestorben  sind.  Untersucht  man  iibrigens  den  Zustand  nach  dem  Anfall 
genauer,  so  ergiebt  sich  doch,  dass  der  Status  quo  ante  nicht  vbllig 
zuriickgekehrt  ist : eine  leichte  Parese  des  einen  Mundfacialis  oder  Hypo- 
glossus  Oder  Armes  u.  s.  w.  ist  zuriickgeblieben,  die  Sprache  stockt  etwas 
mehr,  die  Intelligenz  ist  wieder  um  eine  Stufe  tiefer  gesunken. 

Ausser  den  eben  beschriebenen  paralytischen  Anfallen  beobachtet 
man  gelegentlich  auch  fieberhafte  Zustande,  welche  in  ihrem  iiusseren 
Bild  ihnen  sehr  gleichen,  fiir  welche  jedoch  die  Section  eine  acute 
Pachymeningitis  haemorrhagica  interna  als  Ursache  nach- 
weist.  Verlangsamung  und  Unregelmassigkeit  des  Pulses,  Stauungspapille, 
Miosis  sind  fiir  die  schwereren  Falle  charakteristisch.  Auch  die  mo- 
torische  Agitation  der  liranken  (allerhand  anscheinend  zweckmassige 
Greifbewegungen),  ihr  Irrereden,  die  Unorientirtheit,  der  mehr  taumelnde 
als  hangende  Gang  deuten  auf  Pachymeningitis.  Die  Riickbildung  der 
Symptome  ist  stets  eine  langsamere. 

Ziehen,  rsychiatrie. 


28 


434 


Dementia  paralytica. 


Zuweilen  kommen  im  Verlauf  einer  Dementia  paralytica  auch  echte 
epileptische  Anfalle  vor;  meist  bestand  in  diesen  Fallen  schon  vor 
AuSbruch  der  Dementia  paralytica  eine  syphilitiscbe  genuine  Epilepsie. 
— Auch  echte  choreatische  Bewegungsstbrungen  kommen  zuweilen 
zur  Beobachtung;  meist  halten  sie  einige  Wochen  oder  Monate  an  und 
verschwinden  dann  vollstandig  oder  machen  anderen  Bewegungsstorun- 
gen  Platz, 

Eine  besondere  Verlaufsweise  zeigen  manclie  Falle,  in  welchen  peri- 
pheriscbe  oder  spinale  Erscheinungen  lange  Zeit  isolirt  bestehen  und  erst 
spat  cerebrale  bezw.  corticale  Symptome  hinzutreten.  So  kann  z.  B. 
eine  peripherisclie  Peroneus-  oder  Abducenslahmung  jahrelang  dem  Aus- 
bruch’der  corticalen  Stbrungen  vorausgehen.  In  anderen  Fallen  geht 
z.  B.  eine  spinale  Paraparese  der  Beine,  welche  geradezu  eine  Trans- 
versalmyelitis  vortauschen  kann,  der  Dementia  paralytica  voraus.  Die 
haufigste  dieser  Varietaten  ist  die  sog.  Tabesparalyse.  Bei  dieser 
besteht  jahrelang  zunachst  eine  Tabes  in  typischer  Form  und  erst  nach 
Jahren  schliesst  sich  an  die  Tabes  der  Symptomencomplex  der  Dementia 
paralytica  an.  Der  ganze  Verlauf  erstreckt  sich  dementsprechend  zu- 
weilen iiber  10  und  mehr  Jahre. 

Ausgange  und  Prognose.  "Die  Dementia  paralytica  ist  un- 
heilbar.*)  Die  Remissionen  tauschen,  wenn  sie  erheblich  sind  und 
langer  wahren,  mitunter  Heilung  vor.  Stets  endet  die  Krankheit  binnen 
der  oben  angegebenen  Zeit  todtlich.  Der  Tod  erfolgt  bald  in  Folge 
einer  Lungenentzundung  (Schluckpneumonie  u.  dgl.)  bald  in  Folge  einer 
Cystitis  und  Pyelonephritis , bald  in  Folge  eines  schweren  Darm- 
katarrhs.  Bei  anderen  fiihrt  der  Decubitus  zum  Tode.  Auch  ein  all- 
gemeiner  Marasmus  kann  im  Schlussstadium  zu  tbdtlicher  Herzschwache 
fiihren.  Nicht  wenige  Kranke  gehen  schon  vor  dem  Schlussstadium  zu 
Grunde,  so  namentlich  in  einem  paralytischen  Anfall;  letzterer  fiihrt 
mitunter  ohne  weitere  Complication  an  sich  zum  Tode,  bald  zieht  sich 
der  Kranke  im  Anfall  eine  tbdtliche  Pneumonie  zu. 

Varietaten.  Zahlreiche  Varietaten  sind  bei  der  Besprechung 
des  Krankheits  V e r 1 a u f s bereits  erortert  worden.  Die  iibrigen  werden 
im  Anschluss  an  die  Aetiologie  (s.  u.)  behandelt. 

Aetiologie.  Erbliche  Belastung  ist  in  40%  Falle 
nachweisbar,  schwere  erbliche  Belastung  kaum  in  10  %.  Das  Auf- 
treten  der  Krankheit  fallt  am  haufigsten  in  das  4.  und5.  Lebens- 
jahrzehnt.  Im  3.  Lebensjahrzehnt  sowie  im  6.  ist  sie  bereits  er- 
heblich weniger  haufig.  Vor  dem  20.  Lebensjahr,  also  im  ersten  und 


*)  In  der  ganzen  Literatur  finden  sich  nur  etwa  12  Heilungeii,  welche  der  Kritik 
einigermaassen  Stand  halten. 


Dementia  paralytica. 


435 


zweiten  Lebeusjahrzelmt  siud  iu  cler  ganzen  Literatur  nur  etwa  40FalIe 
bekauut.  Diese  sog.  infantile  Paralyse  zeigt  sehr  selten  den  klassischen 
Verlaiif;  aucli  schwere  Depressionsstadien  sind  selten.  In  zwei  Drittel 
der  zugehorigen  Falle  ist  liereditare  Syphilis  nachweisbar.  Es  handelt 
sicli  fast  um  ebensoviele  Madchen  wie  Knaben. 

Die  Paralyse  des  mittleren  Lebensalters  ist  bei  dem  inannlichen 
Geschlecht  7 bis  8 mal  hanfiger  als  bei  dem  weiblichen.  Bei  dem 
Manne  ist  sie  im  mittleren  Alter  fast  ebenso  haufig  wie  die  Paranoia. 
Der  Verlauf  der  Dementia  paralytica  bei  der  Frau  deckt  sich  im  Ganzen 
mit  dem  oben  beschriebenen  bei  dem  Manne.  Die  Grossenideen  haben 
oft  einen  sehr  stereotypen  Inhalt.  Die  Kranke  hat  zahllose  Kleider,  viele 
Geliebten,  tansend  Kinder  u.  dgl.  Depressive  Zustande  sind  etwas  seltener. 
Die  sexuelle  Schamlosigkeit  tritt  meist  schon  friih  in  den  Vordergrund. 

Die  Hauptursache  ist  imzweifelhaft  die  Syphilis.  In  mehr  als 
50  % aller  Falle  lasst  sich  mit  Sicherheit  eine  vorausgegangene  Infection 
nachweisen.  Auf  Grund  einer  anderen  statistischen  Berechnung  hat  man 
die  atiologische  Bedeutung  der  Syphilis  auch  durch  folgenden  Satz  aus- 
gedruckt:  Der  Syphilitische  ist  16  mal  mehr  der  Gefahr  ausgesetzt  an 
Paralyse  zu  erkranken  als  der  Nicht  - Syphilitische.  Zwischen  der  In- 
fection and  dem  Ausbruch  der  Dementia  paralytica  liegen  oft  mehr  als 
10  Jahre.  Die  Secundarerscheinungen  sind  oft  auffallig  geringfiigig.  — 
Ausser  der  Syphilis  scheint  auch  die  Rachitis  eine  Pradisposition  fiir 
Paralyse  zii  schaffen. 

Chronischer  Alkoholi  smus  findet  sich  bei  ca.  20  %.*) 
Kopftraumen  spielen  gleichfalls  ab  und  zu  eine  atiologische  Rolle. 
Von  grosser  atiologischer  Bedeutung  sind  intellect uelle  Ueber- 
anstrengung  und  affective  Erregung.  Letztere  ist  namentlich 
dann  wirksam,  wenn  es  sich  um  chronische  Gemlithsbewegungen  handelt. 
Rheumatische  Schadlichkeiten  und  sexuelle  Excesse 
spielen  eine  geringere  Rolle. 

In  den  meisten  Fallen  entsteht  die  Dementia  paralytica  auf  Grund 

mehrerer  atiologischer  Momente.  Selten  geniigt  ein  einziges.  

Aus  der  obigen  Darstellung  lasst  sich  ohne  Schwierigkeit  verstehen, 
dass  manche  S t a n d e besonders  zur  Paralyse  zu  disponiren  scheinen. 
So  ist  z.  B.  unzweifelhaft,  dass  Offiziere,  Grosskaufleute  u.  s.  w. 
in  besonders  grosser  Zahl  erkranken.  Alkoholexcesse,  Syphilis,  mangel- 
hafte  Nachtruhe  treffen  bei  beiden  zusammen;  Zuriicksetzungen  und 
Krankungen  im  Dienst  kommen  bei  den  ersteren,  die  Sorgen  der  Con- 
currenz  und  das  iiberhastete  Arbeiten  im  Affect  bei  letzteren  hinzu.  

*)  Man  muss  sich  httten,  die  Alkoholexcesse  'im  Exaltationsstadium  mit  chroni- 
schem  Alkoholismus  zu  verwechseln.  — Auch  der'Abusus  Nicotianae  kommt  zuweilen 
als  Mitursache  in  Bctracht. 


28* 


436 


Dementia  paral3'tica. 


In  friiheren  Jahrliuuderten  sclieint  die  Dementia  paralytica  iiberhaupt 
niclit  oder  nur  liochst  selten  vorgekommen  zu  sein,  in  manchen  ausser- 
europixischen  Liindern  (z.  B.  Japan)  ist  sie  nocli  jetzt  sehr  selten.  In 
anderen  (z.  B.  Algier)  ist  sie  von  Jalirzehnt  zu  Jahrzehnt  mit  dem  Ein- 
dringen  der  Syphilis  und  des  europaisclien  Culturlebens  haufiger  gevvorden. 

Diagnose.  Im  Brodromalstadium  ist  namentlich  die  Verweclislung 
mit  Neur astlienie  naheliegend  und  gefahrlich,  letzteres  namentlich 
deshalb,  xveil  der  Kranke,  wenn  der  Arzt  ihn  falschlich  fiir  einen  Neur- 
astheniker  halt  und  daher  nicht  der  geschlossenen  Anstalt  iiberweist, 
durch  Excesse  sich  und  seine  Eamilie  um  Ruf  und  -Vermogen  bringt. 
Differentialdiagnostisch  ist  Folgendes  zu  beriicksichtigen.  Ein  acuter, 
pldtzlicher  Zusammenbruch  der  intellectuellen  Leistungsfahigkeit  spricht 
im  Allgemeinen  fiir  Neurasthenie,  eine  schleichende  Entwicklung  der 
Symptome  fiir  Paralyse.  Die  Denkhemmung  des  Neurasthenikers  ist 
nicht  mit  dem  Defect  der  asthetischen  und  .ethischen  Gefiihlstdne  ver- 
kniipft,  welch er  fiir  die  beginnende  Demenz  des  Paralytikers  bezeichnend 
ist.  Verdachtig  auf  Paralyse  ist  stets  auch  eine  erheblichere  Stimmungs- 
labilitat.  In  der  Zeitrechnung  irrt  sich  der  Neurastheniker  hochstens 
um  drei  Page,  der  Paralytiker  oft  um  mehr.  Unter  den  korperlichen 
Symptomen  sind  Parasthesien,  Schwindel,  Kopfschmerz,  Schlaflosigkeit 
beiden  Krankheiten  gemeinsam.  Schwindelanfalle  mit  voriibergehender 
Aphasie  sprechen  in  hohem  Maasse  fiir  Dementia  paralytica.  Bei  der 
Verwerthung  einer  Sprachstorung  fiir  die  Diagnose  bedarf  es  einiger 
Vorsicht,  da  Neurastheniker  im  Affect  und  in  der  Ermiidung  zuweilen 
stockend  und  zitternd  sprechen  und  gelegentlich  selbst  auch  Worte  und 
Konsonanten  versetzen.  Auch  die  hypochondrische  Besorgniss,  die  para- 
lytische  Sprachstorung  sei  vorhanden,  kann  bei  dem  Neurastheniker  ge- 
legentlich Articulationsstorungen  bedingen.  Facialis-  und  Hypoglossus- 
paresen  sind  nur  zu  verwerthen , wenn  ihr  e r w o r b e n e r Charakter 
feststeht  (s.  S'.  170).  Hypalgesie  spricht  sehr  entschieden  fiir  Paralyse. 
Noch  beweisender  sind  Pupillenstarre  und  WestphaPsches  Zeichen:  aus 
beiden  ist  direct  auf  organische  Lasion  zu  schliessen,  Neurasthenie  kommt 
nicht  mehr  in  Frage,  und  nur  die  Moglichkeit  der  Hirnsyphilis  (s.  u.) 
•bedarf  noch  der  Erwagung.  Auch  einseitige  Steigerung  der  Sehnen- 
phiinomene  sowie  Aufhebung  des  Achillessehnenphanomens  ist  stets  sehr 
verdachtig.  Auf  der  Krankheitshohe  sind  Verwechslungen  mit  Manie 
(im  Exaltationsstadium)*),  mit  Melancholie  (im  Depressionsstadium) 
und  mit  Paranoia  im  hallucinatorischen  Stadium  moglich.  Die  eiuschla- 


*)  Hierzu  ist  auch  Fig.  1 und  Fig.  6 der  physiognomischen  Tafeln  zu  vergleichen. 
Erstere  stellt  eine  Manie,  letztere  eine  Paralyse  dar.  Der  Gesichtsausdruck  der  Exal- 
tation ist  beiden  gemeinsam,  die  Mundfacialisliihmung  lasst  den  Paralytiker  erkennen. 


Dementia  paralytica. 


437 


gigen  Differentialdiagnosen  sincl  bei  Darstellung  cler  Manie , Melan- 
cholie  unci  Paranoia  bereits  eingebeud  erortert  worden. 

Die  Unterscheidung  von  H e e r d e r k r a n k u n g e n des  Gehirns  bietet 
zuweilen  grossere  Schwierigkeit.  Es  giebt  Ealle  cler  Dementia  para- 
lytica, in  welcben  im  Beginn  cler  Krankheit  zu  einer  Zeit,  wo  cler  In- 
telligenzclefect  noch  ganz  imerbeblich  ist,  ein  isolirtes,  markantes  Heercl- 
symptom,  z.  B.  eine  motoriscbe  Apbasie  ocler  eine  Paraphasie  ocler  eine 
isolirte  Hemianopsie  besteht.  Der  weitere  Verlauf  lehrt  in  diesen  Fallen 
iinzweideutig , dass  es  sich  um  eine  Dementia  paralytica  lianclelt.  Die 
Section  liefert  spater  fiir  den  eigenartigen  Beginn  des  Leiclens  oft  keine 
Erklarung,  unci  nur  in  seltenen  Fallen  ergiebt  die  makroskopische  ocler 
mikroskopische  Untersuchnng  neben  cler  diffusen  Rinclenerkrankung  eine 
circumscripte , besonclers  scbwere  Rinclenerkrankung  an  cler  erwarteten 
Stelle  (z.  B.  eine  Sclerose  cler  linksseitigen  Temporalwindimgen  bei  ini- 
tialer  sensoriscber  Apbasie).  Diese  monoplegisch  beginn en den 
Formen  der  Dementia  paralytica  nun  tanschen  begreiflicber  Weise  leicbt 
eine  Heerclerkrankung  vor.  Nur  eine  genaue  anamnestiscbe  Erbebung 
iiber  das  Verbalten  cler  Intelligenz  unci  eingebende  Priifung  des  gegen- 
wiirtigen  intellectuellen  Besitzstancles  scbiitzen  vor  Verwecbslung. 

Specielle  Scbwierigkeit  macbt  die  Unterscbeiclung  von  der  Syphilis 
des  Gebirns,  cl.  b.  einer  organiscben  Erkrankung  des  Gebirns,  bei  wel- 
cber  nur  specifiscbe  gummose  Processe  an  circumscripten  Stellen  des 
Gebirns  sicb  vorfinclen.  Da  die  sypbilitiscbe  Heerclerkrankung  Fern- 
wirkungen  auf  die  ganze  Hirnrincle  ausiiben  kann,  so  kommt  es  oft  zu 
scbwerer  Incobarenz  und  Unorientirtbeit,  zu  allerband  Wabnvorstellungen 
unci  ballucinatoriscben  Erregungszustanclen , in  ancleren  Fallen  zu  pro- 
trabirten  soporosen  Zustiinden  mit  auffalliger  Apatbie  und  Denkbem- 
mung.  Damit  ist  offenbar  die  Gelegenbeit  zu  Verwecbslungen  gegeben. 
Differentialcliagnostiscb  ist  zu  beriicksicbtigen,  class  bei  der  Syphilis  des 
Gehirns  nur  Hemmung  und  Incobarenz  vorliegen,  wabrend  fiir  Dementia 
paralytica  cler  Defect  charakteristiscb  ist.  Lasst  bei  ersterer  die  Er- 
regung  bezw.  in  ancleren  Fallen  die  Hemmung  etwas  nacb,  so  ist  man 
uber  die  auffallige  Klarbeit  mancher  Urtbeile  erstaunt,  wabrend  in  den 
freieren,  rubigeren  Pbasen  cler  Dementia  paralytica  cler  Defect  meist  ge- 
rade  erst  recbt  zu  Tage  tritt.  Dazu  kommt  die  Stabilitat  der  Lahmungs- 
erscbeinungen  bei  cler  Syphilis  des  Gebirns,  cler  Wecbsel  derselben  bei 
der  Dementia  paralytica.  Fncllich  kommt  besitirende  Spracbe  nur  ,der 
letzteren  zu.  Freilicb  reicbt  in  manchen  Fallen  dies  alles  zu  einer 
sicberen  Diagnose  nicht  aus.  Entscbeidend  ist  clann  cler  Ausfall  der 
antisyphilitischen  Tberapie.  Aucb  ist  zu  beriicksicbtigen , class  im  An- 
schluss an  eine  sypbilitiscbe  Heerderkrankung  (Syphilis  cerebri)  eine 
diffuse  Rindenveranclerung  sicb  entwickeln  kann,  welcbe  ganz  derjenigen 


438 


Dementia  paralytica. 


der  Dementia  paralytica  entspriclit ; demeiitsprecheud  beobachtet  man 
klinisch,  dass  zu  den  uncomplicirten  Symptomen  eines  Syphiloms  bezw. 
einer  gummosen  Meningitis  spater  die  typischen  Symptome  einer  Dementia 
paralytica  hinzutreten:  *)  die  Hirnsypbilis  ist  in  Dementia  paralytica  iiber- 
gegangen.  Schliesslicli  kommt  nocb  in  Betracbt,  dass  auch  anatomiscb  von 
Anfang  an  zwiscben  der  diffusen  paralytischen  Rindenerkrankung  und  der 
sog.  gummosen  Infiltration  Uebergangsformen  existiren.  Man  wird  daher 
selbst  aiif  Grund  des  ganzen  klinischen  Verlaufes  und  des  Sectionsbefun- 
des  nicbt  in  alien  Fallen  eine  absolut  scharfe  Diagnose  stellen  konnen. 

Auch  im  Prodromalstadium  der  Dementia  paralytica  ist  mitunter 
eine  Verwechslung  mit  Hirnsyphilis  und  zwar  mit  der  sog.  Forme 
cephalalgique  moglich.  Man  findet  Pupillenstarre,  Kopfschmerzen 
und  geistige  Erschbpfung.  Handelt  es  sich  nun  urn  Dementia  paralytica 
incipiens  oder  urn  eine  Form  der  Hirnsyphilis?  Maassgebend  ist,  ob  die 
Sprache  hesitirend  ist  und  ein  ethischer  Defect,  eine  Charakterveran- 
derung  nachweisbar  ist.  Ist  die  Sprache  intact,  sind  keine  Tactlosig- 
keiten  und  selbstverstandlich  auch  keine  groben  Gedachtniss-  und  Urtheils- 
defecte  vorgekommen,  so  wird  man  vorlaufig  Dementia  paralytica 
ausschliessen  — vorlaufig:  denn  eine  weitere  Beobachtung  solcher 
Falle  lehrt,  dass  viele  schliesslich  nach  Jahren  doch  noch  der  Dementia 
paralytica  verfallen. 

Mit  Dementia  senilis  konnen  diejenigen  Formen  der  Dementia 
paralytica  verwechselt  werden,  welche  jenseits  des  60.  Jahres  beginnen. 
Die  Spatformen  der  Dementia  paralytica  und  die  Friihformen  der  De- 
mentia senilis  (bei  Senium  praecox)  gehen  fliessend  in  einander  iiber 
sowohl  hinsichtlich  des  klinischen  Symptomencomplexes  wie  beziiglich 
des  anatomischen  Befundes.  Im  Allgemeinen  wird  man  sich,  wenn  aus- 
gesprochene  Riickenmarkssymptome,  hesitirende  Sprache,  Pupillenstarre 
Oder  Grossenideen  vorliegen,  fiir  Dementia  paralytica  entscheiden. 

Schwer  ist  zuweilen  auch  die  Unterscheidung  der  Dementia  para- 
lytica von  der  Demenz,  mit  welcher  der  chronische  Alkoholismus 
zuweilen  abschliesst.  Die  psychische  Degeneration  des  Alkoholisten 
(S.  223)  steigert  sich  zuweilen  zu  einer  volligen  Verblbdung;  der  Sec- 
tionsbefund  ist  negativ  oder  wenigstens  von  demjenigen  der  Dementia 
paralytica  verschieden.  Der  klinische  Symptomencomplex  kann  mit 
demjenigen  der  Dementia  paralytica  grosse  Aehnlichkeit  zeigen.  Speciell 
kommen  Lahmungen  auch  bei  chronischem  Alkoholismus  vor.  Nur 

*)  Hiermit  ist  die  eigenartige  intellectuelle  Abschwachung  nicht  zu  verwechseln, 
welche  sich  im  Gefolge  der  Hirnsyphilis  (s.  d.)  oft  einstellt.  Von  dem  Defect  der 
Dementia  paralytica  unterschieidet  sich  dieser  Defect  durch  stationares,  (d.  h.  nicht- 
progressives)  Verbal  ten  sowie  durch  das  Fehlen  der  fiir  Dementia  paralytica  be- 
zeichnenden  ethischen  Charakterveranderung  (s.  o.).  Auch  fehlt  die  hesitirende  Sprache. 


Dementia  paralytica. 


439 


die  Spraclistdruug  ist  meist  die  tremulireude  des  Alkoliolisten,  nicht  die 
hesitirende  des  Paralytikers.  Der  Verlauf  klart  die  Diagnose  insofern 
auf,  als  bei  der  alkoholistischen  Demenz*)  Defectheilungen  und 
dauernde  Stillstande  des  Leidens  bei  Entziebimg  des  Alkobols  vorkommen: 
der  progressive  Charakter  der  Dementia  paralytica  fehlt.  Dabei  ist 
jedoch  zu  betonen,  dass  auf  dem  Boden  des  chronischen  Alkobolismus 
sich  nicht  selten  auch  eine  typische  Dementia  paralytica  mit  alien  ihren 
charakteristischen  Symptomen  imd  fast  vollig  gleichem  Sectionsbefunde 
entwickelt. 

Therapie.  Sobald  die  Diagnose  Dementia  paralytica  sicherge- 
stellt  ist,  ist  die  Ueberfuhrung  in  eine  geschlossene  Anstalt  in  der  iiber- 
grossen  Mehrzahl  der  Falle  geboten,  um  den  Excessen  des  Kranken  ein 
Ende  zu  machen,  bezw.  vorzubeugen.  In  zahlreichen  Fallen  zogert  der 
Arzt  mit  diesem  Schritt  zu  lange  und  lasst  so  dem  Kranken  Zeit  sich 
und  seine  Familie  zu  compromittiren  und  finanziell  zu  ruiniren. 

In  der  Anstalt  empfiehlt  sich  in  alien  noch  nicht  zu  weit  vor- 
geschrittenen  Fallen,  in  welchen  atiologisch  Syphilis  in  Frage  kommt, 
dringend  eine  energische  Quecksilberkur  (10 — 12  Calomelinjectionen  zu  je 
0,1  in  1 — 2 wbchentlichenZwischenraumen  oder  80 — 100  Inunctionen  zu  je 
5,0  Ung.  ciner.)  mit  gleichzeitiger  oder  nachfolgender  Jodbehandlung 
(3,0  Natr.  jodat.  p.  die).  Dieser  Versuch  empfiehlt  sich,  wenn  er  auch  nur 
eine  Kemission  und  fast  niemals  eine  Heilung  herbeizufiihren  vermag, 
schon  deshalb,  weil,  wie  oben  erwahnt,  eine  Verwechslung  mit  Hirnsyphilis 
zuweilen  nicht  sicher  zu  vermeiden  ist. 

Vesicantien,  kalte  Bader,  Ergotin  sind  auch  neuerdings  noch  oft, 
jedoch  ohne  Erfolg,  angewendet  worden.  Alkoholica  verbietet  man  am 
besten  vollstandig.  Das  Rauchen  ist  einzuschranken.  Im  Uebrigen  sorge 
man  fiir  korperliche  und  namentlich  fiir  geistige  Rube. 

Gegen  die  depressiven  Erregungszustande  ist  Opium,  gegen  die 
Exaltationszustande  Hyoscin  anzuwenden.  Im  paralytischen  Anfall  ist 
die  Controle  der  Ernahrung  am  wichtigsten;  eventuell  wird  Schlund- 
sondenfiitterung  nothwendig.  Bei  epileptiformen  Convulsionen  hewahren 
sich  Chloralklysmen.  Bei  hallucinatorischen  Erregungszustanden  ist  Chloral 
mit  Morphium  am  wirksamsten. 

Im  Schlussstadium  der  Krankheit  ist  — bei  giinstigen  ausseren  Ver- 
haltnissen  — oft  Familienpflege  moglich.  Es  bedarf  dann  namentlich 
grosser  Sorgfalt  zur  Verhiitung  des  Decubitus  (taglich  warme  Vollbader!), 
genauer  Ueberwachung  der  Ernahrung  (Gefahr  des  Erstickens  durch 
Eindringen  grbsserer  Bissen  in  die  Kehle  und  Trachea!)  und  steter  Fiir- 
sorge  fiir  regelmassige  Urinentleerung  (ev.  Katheterismus). 


*)  Auch  alkoholistische  Pseudoparalyse  genannt, 


440 


Uenientia  paralytica. 


Audi  in  cten  Remissionon  ivircl  man  oft  den  Kranken  wieder  seiner 
Familie  libergeben  konnen.  Dabei  ist  jedocb  eine  genaue  arztliche 
Uebeiwacliuiig  erforclerlich , clamit  cler  Wiederausbruch  der  Krankheit 

rechtzeitig  bemerkt  und  die  Wiedereinliefcrung  in  die  Austalt  reclitzeitig 
veranlasst  wird.  ^ 

Patliologische  Anatomie.  Die  Section  ergiebt  bei  Dementia 
paralytica  folgende  makroskopische  Befimde : *) 

1.  Pachymeningitis  haemorrhagica  interna:  dieselbe  findet  sich  nur 
etwa  in  der  Halfte  aller  Falle.  Zuweilen  findet  man  umfangreiche 
friscbe  oder  alte  Haematome  der  Dura  mater. 

2.  Leptomeningitis  chronica:  man  erkennt  sie  an  der  weisslichen 
Triibung  und  Verdickung  der  weichen  Hirnhaut  (namentlich  langs  der 
Gefasse).  In  den  Maschen  der  Arachnoidea  findet  sich  abnorm  viel 
Iliissigkeit  (Hydrocephalus  externus). 

3.  Verkleinerung  des  Gehirngewichts  (bis  auf  1000  und  weniger). 

4.  Erweiterung  der  Ventrikel  (Hydrocephalus  internus)**)  und  Gra- 
nulirung  des  Ependyms. 

5.  Verschmalerung  der  Hirnrinde,  Klaffen  der  Sulci. 

6.  Giaue  Degeneration  im  Centrum  semiovale,  im  Hirnstamm  und 
namentlich  auf  dem  Eiickenmarksquerschnitt  in  sehr  variabler  Aus- 
dehnung. 

7.  Graiie  Degeneration  einzelner  spinaler  Wurzeln  und  einzelner 
peripherer  Nerven  (z.  B.  des  N.  opticus). 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Hirnrinde  ergiebt  namentlich 
vier  pathologische  Processe: 

1.  Veranderungen  der  Gaiiglienzellen  selbst  (Verlust  des  Kern- 
kbrperchens  und  Kerns , triibe  Schwellung , Schrumpfung  der  Proto- 
plasmafortsatze). 

2.  Untergang  markhaltiger  Nervenfasern  sowohl  in  der  Markleiste 
wie  in  der  sog.  Rand  zone  wie  auch  im  Inneren  der  Rinde. 

3.  Vermehrung  der  Gliazellen  (,,Spinnenzellen^^). 

4.  Veranderungen  der  Gefasswande,  Erweiterung  der  perivascularen 
Raume,  Auswanderung  weisser  und  rother  Blutkorperchen. 

Bald  iiberwiegt  dieser  bald  jener  Process.  Die  gegenseitige  Be- 
ziehung  derselben  festzustellen  ist  noch  nicht  mit  Sicherheit  gelungen. 
Am  ausgesprochensten  sind  die  Veranderungen  meist  im  Gyrus  rectus 
(Faserschwund)  und  im  Lobulus  paracentralis  (Ganglienzellenverander- 

*)  Die  Bezeichnung  des  Laien  „Gehirnerweichung“,  ist  ganz  unzutretfend.  Die 
Consistenz  des  paralytischen  Gehirns  ist  oft  sogar  grosser  als  diejeuige  des  nor- 
malen. 

**)  Zuweilen  ist  er  einseitig.  Intra  vitam  fallt  dann  die  gekreuzte  gemischte 
Hemianasthesie  auf. 


Dementia  senilis. 


441 


ungen).  Dock  ist  stets  die  ganze  Hirnrincle*)  ergriffen  und  die  Ver- 
theilung  der  Veriinderung  im  Einzelneu  grossen  Schwankimgen  nnter- 
worfen. 

Aus  diesem  Befunde  erklaren  sick  die  Hauptsymptome  der  Dementia 
paralytica,  der  Verlust  der  Erinnerungsbilder  und  der  Urtkeilsdefect, 
sowie  die  corticomotoriscken  Storungen  in  ausreickender  Weise  (s.  Einl. 
S.  5 und  6).  Die  iibrigen  Syinptome  sind  auf  die  infracorticalen  Zer- 
storungen,  welclie  wir  oben  aufgeziihlt  haben,  zuriickzufiikren. 

b.  Dementia  senilis. 

Die  Dementia  senilis  ist  eine  ckroniscke  organiscke  Psyckose 
des  Greisen  alters , ' deren  Hauptsymptom  ein  progressiver  Intelligenz- 
defect  ist. 

Specielle  Symptomatologie. 

Vorstellungen  und  Urtkeilsassociationen.  Die  Erin- 
nerungsbilder geken  dem  Kranken  ganz  ahnlich  verloren  wie 
dem  Paralytiker.  Auck  die  Urtkeilssckwiicke  kommt  in  ganz  akn- 
licker  Weise  zu  Stande  wie  bei  der  Dementia  paralytica.  Die  Gedackt- 
nissschwacke  fiir  die  Jiingstvergangenkeit  tritt  nock  sckarfer  kervor. 
5 Minuten,  nackdem  man  dem  Kranken  seinen  jetzigen  Woknort  ge- 
nannt  kat,  kat  er  ikn  oft  bereits  wieder  vergessen.  Mancke  Kranke 
wissen  nickt  einmal  anzugeben , in  welchem  Jakrkundert  sie  leben. 
Kindkeitserinnerungen  werden  oft  nock  reckt  genau  reproducirt,  wakrend 
die  letzten  Jakre  in  den  Kranken  iiberkaupt  keine  Erinnerung  zurilck- 
gelassen  kaben. 

Enter  den  Waknvorstell ungen  iiberwiegen  V erfolgungsideen. 
Tkeils  sind  sie  primaren,  tkeils  affectiven  oder  kallucinatoriscken  Ur- 
sprungs.  Nackstdem  findet  man  kypockondriscke  Vorstellungen  sckwack- 
sinnigen  Eikalts  am  kaufigsten.  Sekr  oft  begegnet  man  auck  Ver- 
armungsvorstellungen,  welcke  sick  zuweilen  zu  allgemeinem  Verarmungs- 
wakn  steigern.  Am  seltensten  sind  Grossenideen. 

Der  Vorstellungsablauf  zeigt  gewoknlick  nur  secundare  Storun- 
gen. Bei  patkologiscker  Heiterkeit  kann  er  besckleunigt , bei  patko- 
logischer  Depression  und  Angst  gekemmt  sein.  Zu  der  durck  den  In- 
telligenzdefect  bedingten  Incokarenz  kommt  oft  nock  eine  kallucinatorische 
Incokarenz  kinzu. 

Empfindungsstorungen.  Illusionen  und  Hallucinationen  sind 
sekr  kaufig.  Meist  sind  sie  sckreckkaften  Inkalts.  Am  massenkaftesten 
treten  sie  Nackts  auf. 

Affectstorungen.  Primare  Aifectanomalien  feklen  selten.  Die 


*)  Auch  in  clen  infracorticalen  Ganglien  findet  man  a,hnliche  Processe. 


442 


Dementia  senilis. 


Grundstimmung  des  Kranken  ist  sehr  labil,  bald  mehr  reizbar,  bald  mehr 
weinerlich,  zuweilen  auch  kindisch  heiter.  Sehr  haufig  sind  schwere 
Angstaifecte.  Auch  diese  treten  wie  die  Sinnestauschungen  vorzugsweise 
Nachts  auf.  Oft  sind  sie  typiscli  pracordial. 

Sehr  ausgesprochen  ist  stets  der  Verfall  der  hoheren  ethischen  und 
asthetischen  Gefiihlstone.  Die  Kranken  verlieren  den  Sinn  fiir  Rein- 
lichkeit.  Die  egoistische  Einengung  des  Gefiihlslebens , welche  schon 
iinter  physiologischen  Verhiiltnissen  sich  oft  genug  im  Alter  einstellt, 
ist  eine  totale.  Der  Mangel  an  ethischen  Begriffen  und  Gefiihlstonen 
fuhrt  besonders  haufig  zu  Eigenthumsvergehen  und  Verstdssen  gegen 
die  Sittlichkeit  (unziichtige  Handlungen  mit  kleinen  Madchen,  welche 
sich  mitunter  auf  einfaches  Betasten  der  Genitalien  beschranken  u.  dgl). 
Bei  dem  Zustandekommen  der  letzteren  wirkt  oft  eine  pathologisch  ge- 
steigerte  geschlechtliche  Erregbarkeit  mit. 

Handlungen.  Stuporbse  bezw.  katatonische  Phasen  sind  seltener. 
Im  Allgemeinen  iiberwiegt  eine  ausgesprochen’e  motorische  Unruhe,  welche 
sich  besonders  Nachts  geltend  macht.  Am  Tage  liegen  die  Kranken  viel 
im  Halbschlaf  und  Nachts  irren  sie  ruhelos  umher.  Bald  verwechseln 
sie  Ort  und  Tageszeit  und  wollen  mitten  in  der  Nacht  diese  oder  jene 
Tagesarbeit  thun,  bald  werden  sie  von  Sinnestauschungen  oder  Angst- 
affecten  aufgejagt.  Oft  verlaufen  sich  die  Kranken.  Da  sie  mit  dem 
Licht  sehr  unvorsichtig  umgehen,  kommt  es  nicht  selten  zu  fahrlassigen 
Brandstiftungen.  Der  Eigenthumsvergehen  und  Sittlichkeitsverbrechen 
wurde  schon  gedacht.  In  Folge  ihrer  Vergesslichkeit  verlegen  sie  ihre 
eigenen  Sachen  fortwahrend  und  wahnen  sich,  wenn  sie  dieselben  nicht 
finden,  bestohlen.  Sucht  und  zeigt  man  sie  ihnen,  so  haben  „die  Diebe 
sie  inzwischen  wieder  rasch  hingestellt^^  Manche  Kranke  wiihlen  fort- 
wahrend in  ihren  Habseligkeiten  umher.  Andere  — in  vorgeriickteren 
Stadien  — machen  den  ganzen  Tag  stereotype,  ihrem  friihern  Beruf 
entsprechende  Gewohnheitsbewegungen  (Wasch-,  Nahbewegungen  u.  s.  f.). 
Die  Angst  bedingt  nicht  selten  Suicidversuche. 

Korperliche  Symptom e.  Die  co r ti co  motorischen  Storungen 
sind  ahnliche  wie  bei  der  Dementia  paralytica,  nur  ist  die  Sprache  fast 
niemals  hesitirend.  Aphasische  und  paraphasische  Storungen  sind  haufiger. 
Der  senile  Tremor  kommt  hinzu.  Spin  ale  motorische  Storungen  sind 
selten.  Romberg’sches  Schwanken  kommt  ab  und  zu  vor.  — Hypalgesie  ist 
Sehr  haufig,  gelegentlich  kommt  auch  Hypaesthesie  vor.  Pariisthesien, 
Ohrensausen  und  Funkensehen  sind  ungemein  haufig.  Oft  liisst  sich 
schwer  entscheiden,  wieviel  auf  senile  Veranderungen  der  peripheren 
Organe  (chronischer  Paukenhbhlencatarrh , senile  Hautveranderungen 
u.  s.  w.),  wieviel  auf  periphere  senile  Neuritis  und  wieviel  auf  die 
Rindenerkrankung  zuriickzufiihren  ist.  Oft  klagen  die  Kranken  fiber 


Dementia  senilis. 


443 


allerhancl  Scbmerzen,  so  in  der  Stirn,  in  den  Extremitaten , im  Leib 
(„seniles  Giirtelgefiihb^).  Selten  fehlt  Schwindel.  — Die  Sehnenpha- 
nomene  sind  meist  gesteigert  (ziiweilen  einseitig),  die  Hautreflexe  dfter 
herabgesetzt , die  Pupillarreflexe  zuweilen  triig,  aber  sehr  selten  er- 
loscben.  Die  Piipillen  zeigen  fast  stets  die  senile  Miosis.  Sphincter- 
labmung  ist  sebr  haufig. 

Sehr  haufig  complicirt  sich  die  senile  Demenz,  d.  h.  die  diffuse 
senile  Rindenerkrankung  mit  senilen  II  e e r d erkrankungen  (Hamorrhagien, 
Erweichungsheerden).  Dann  addiren  sich  selbstverstandlich  die  bez. 
Heerdsymptome  zu  den  soeben^geschilderten  Symptomen.  Mitunter  ist  es 
infra  vitam  nicht  mbglich  bestimmt  zu  entscheiden,  ob  z.  B.  eine  Hemi- 
parese  auf  einer  H e e r d erkrankung  oder  einer  diffusen,  aber  in 
der  motorischen  Region  einer  Hemisphare  vorzugsweise  localisirten 
Rindenerkrankung  beruht. 

V e r 1 a u f.  Die  senile  Demenz  entwickelt  sich  meist  ganz  allmahlich 
aus  der  senilen  psychischen  Veranderung^'^,  welche  in  der  allgemeinen 
Aetiologie  (S.  232)  beschrieben  worden  ist.  Die  Dauer  betragt  3 bis 
5 Jahre.  Acuter  Verlauf  binnen  einiger  Monate  ist  sehr  selten.  Re- 
missionen  kommen  vor,  aber  nicht  so  haufig  wie  bei  Dementia  para- 
lytica. Paralytische  Anfalle,  welche  denjenigen  der  Dementia  paralytica 
vollig  gleichen,  *)  kommen  im  Verlauf  des  Leidens  ofter  vor.  Bestimmte 
Krankheitsstadien  lassen  sich  nicht  unterscheiden.  Angstzustande,  hallu- 
cinatorische  Erregungszustande , Exaltationszustande,  primare  Wahn- 
bildungen  und  Phasen  uncomplicirten  Defects  losen  sich  in  unregel- 
massiger  Reihenfolge  ab. 

Ausgange  und  Prognose.  Das  Leiden  ist  progressiv  und 
tbdtlich,  die  Prognose  durchaus  ungiinstig.  Der  Tod  erfolgt  aus  ganz 
denselben  Ursachen  wie  bei  Dementia  paralytica.  Remissionen  kommen 
zuweilen  vor. 

Aetiologie.  Erbliche  Belastung  findet  sich  bei  50%.  Nicht 
selten  lasst  sich  gleichartige  Hereditat  feststellen.  Intellectuelle, 
affective  und  korperliche  Strapazen  spieleu  neben  und  bei  der  senilen  In- 
volution die  Hauptrolle.  Vor  dem  60.  Lebensjahr  ist  senile  Demenz  selten 
(Senium  praecox),  vom  60.  Lebensjahr  ab  nimmt  ihre  Haufigkeit  stetig 
und  rasch  zu.  In  sehr  vielen  Fallen  ist  Arteriosklerose  bei  dem  Zu- 
standekommen  der  Krankheit  in  entscheidender  Weise  betheiligt  (vgl. 
S.  236).  Aucb  senile  Erkrankungen  des  Herzens  sind,  insofern  sie  die 
Thatigkeit  des  Herzens  und  damit  die  Circulation  beeinflussen,  von  Be- 
de utung. 

D i a'g  n 0 s e.  Alle  in  Betracht  kommenden  Differentialdiagnosen 
sind  bereits  an  anderer  Stelle  besprochen  worden.  Vgl.  unter  Manie, 


*)  Epileptiforme  Convulsionen  sind  nicht  so  haufig.] 


444 


Dementia  secundaria  nach  Heerderkranknngen  des  Gehirns. 


Melancholie , Paranoia  hallucinatoria  acuta  und  Dementia  paralytica ! 
Das  siclierste  Kriterium  gegeniiber  den  functionellen  Psychosen  ist  der 
ethische  Defect.  Facialisparesen  sind  niclit  beweisend  fiir  senile  Demenz, 
auch  wenn  ilir  erworbener  Charakter  feststeht,  weil  sie  im  Senium 
zuweilen  aucli  bei  functionellen  Psychosen  vorkommen.  Dasselbe  gilt 
von  voriibergehender  Paraphasie.  Gedachtniss-  und  Urtheilsschwiiche 
wil’d  im  Senium  sehr  leicht  mit  Denkhemmung  und  prirnarer  Incohilrenz 
verwechselt. 

Therapie.  Da  die  Ueberwachung  in  Folge  der  Altersschwache 
leichter  ist  als  bei  der  Dementia  paralytica,  so  wird  bfter  als  bei  dieser 
Fcvmilienpflege  moglich  sein.  Jedenfalls  ist  genaue  Ueberwachung  mit 
Bezug  auf  sexuelle  Vergehen,  fahrlassige  Brandstiftung  und  Suicid  ge- 
boten.  Bei  dem  ersten  Angstaffect  und  bei  der  ersten  Hallucination 
verfiigt  man  am  besten  die  Einlieferung  in  eine  Anstalt.  Regelmassiger 
Wechsel  von  Ruhe  und  Bewegung,  kraftige  Ernahrung  und  Verab- 
reichung  von  Wein  halten  den  korperlichen  und  geistigen  Verfall  etwas 
auf.  Gegen  Angstaffecte  und  hallucinatorische  Erregungen  bewahrt  sich 
Opium,  gegen  die  Schlaflosigkeit  aiisser  Bromnatrium  namentlich  auch 
Paraldehyd  (nach  einem  halbstiindigen  lauen  Bad  zu  nehmen). 

Pathologische  Anatomic.  Die  Befunde  im  Grosshirn  decken 
sich  mit  denjenigen  der  Dementia  paralytica  in  alien  wesentlichen 
Ziigen.  Die  Atrophic  der  Rincle  ist  meist  noch  augenfalliger.  Ependym- 
granulation  findet  sich  nicht  so  regelmassig.  Pachymeningitis  haemor- 
rhagica  ist  erheblich  haufiger.  Ungemein  oft  findet  man  alte  und 
frische  H-amorrhagien  und  Erweichungsheerde  als  Complication.  Die 
grosseren  Hirnarterien  zeigen  fast  ausnahmslos  vorgeschrittene  Athero- 
matose.  Auf  der  Lamina  interna  der  Schadelknochen  fallen  die  starken 
osteophytischen  Auflagerungen  auf.  Die  Verauderungen  im  Riickenmark 
und  in  den  peripheren  Nerven  sind,  wenn  auch  ziemlich  verbreitet,  doch 
nicht  so  ausgesprochen  wie  bei  der  Paralyse.  Der  mikroskopische  Be- 
fund  ergiebt  wie  bei  der  letzteren  den  Untergang  zahlreicher  Ganglien- 
zellen  und  zahlreicher  corticaler  Associationsfasern. 

c.  Dementia  secundaria  nach  Heerderkranknngen 

des  Gehirns. 

Im  Anschluss  an  Heerderkranknngen  des  Gehirns,  z.  B.  an  Hamor- 
rhagien  entwickelt  sich  zuweilen  eine  pathologische  Veranderung  der 
Hirnrinde,  welche  sich  von  derjenigen  der  Dementia  paralytica  dadurch 
unterscheidet , dass  sie  gar  nicht  oder  nur  sehr  w e n i g pro- 
g r e s s i V ist  und  zu  keinerlei  weiteren  somatischen  Symptomen  (Lah- 
mungen  u.  s.  f.)  fiihrt.  Die  psychischen  Symptome  dieser  secundaren 
Demenz  sind : 


Dementia  secundaria  nach  Heerderkrankungen  des  Goliirns. , 


445 


1 . Ein  Intelligeuzclefect,  welclier  sicli  jeclocli  fast  stets  in 
engen  Grenzen  halt:  das  Gediichtniss  fiir  Jlingstvergangenes  und  die 
Weitsichtigkeit  des  Urtlieils  haben  gelitten.  Der  Defect  der  ethischen 
und  altruistisclien  Begriffe  ist  niemals  so  ausgepriigt  wie  bei  der 
Dementia  paralytica. 

2.  Eine  krankhafte  R e i z b a r k e i t und  zugleicli  eine  krankbafte 
Labilitat  der  Stimmung.*)  Jabzornsausbriiche  sind  baufig.  Der 
Kranke  lacbt  und  weint  leichter  als  friiher.  Namentlich  seine  Rubr- 
seligkeit  fallt  auf.  Die  boberen  Gefiiblstone  des  Kranken  sind  oft 
etwas  abgestumpft,  aber  sebr  selten  kommt  es  zu  dem  fiir  Dementia 
paralytica  cbarakteristiscben  volligen  Untergang  derselben.  Der  sog, 
Cbarakter  des  Kranken  gebt  nicbt  vollig  unter.  Nicbt  selten  beobachtet 
man  ein  krankbaftes  Misstrauen  (vgl.  S.  240). 

Eine  Folgeerscbeinung  dieser  intellectuellen  und  affectiven  Veran- 
derungen  ist  die  Abnabme  der  Energie  im  Denken  und  Handeln.  Die 
Kranken  denken  langsamer  und  bandeln  triiger.  Jeder  Ebrgeiz  scbeint 
verscbwunden.  Viele  zeigen  bei  allem  Eigensinn  und  aller  Reizbarkeit 
eine  fast  kindlicbe  Unselbstandigkeit  und  Lenksamkeit. 

Am  einfacbsten  und  typiscbsten  beobachtet  man  diese  secundare 
Demenz  bei  Hamorrbagien  und  Erweicbungsbeerden**).  Sie  stellt  sicb 
in  den  meisten  Fallen  wenigstens  andeutungsweise  ein.  Wo  sie  aus- 
gesprocbener  auftritt,  fallt  sie  meist  erst  3 bis  5 Jabre  nacb  dem  Insult 
den  Angeborigen  auf.  Sie  nimmt  dann  einige  Jabre  langsam  zu,  bleibt 
aber  in  der  Regel  scbliesslich  mit  mancben  Scbwankungen  stationiir. 

Eine  ganz  besondere  Stellung  nimmt  die  Syphilis  des  G e h i r n s 
ein.  Die  Syphilis  kaun  zu  functionellen  Scbadigungen  des  Gebirns 
fubren,  also  z.  B.  eine  Melancbolie  bervorrufen.  Haufiger  ruft  das 
Sypbilisgift  organiscbe  Veriinderungen  bervor.  Letztere  sind  bald  dilfus, 
bald  beerdartig.  Im  ersteren  Falle  bedingt  die  Syphilis  eine  Dementia 
paralytica,  im  letzteren  eine  sypbilitiscbe  Heerderkrankung , die  Hirn- 
sypbilis  im  engern  Siune.  Wir  versteben  unter  der  letzteren  also 
ausscbliesslicb  die  beer dar tig en  sypbilitiscben  Hirnerkrankungen.  Meist 
bandelt  es  sicb  um  eine  Gumma  oder  um  eine  circumscripte  gummose 
Meningitis.  Oft  sind  die  Heerde  multipel.  Die  Symptome  zerfallen  in 
drei  Reiben: 

1.  Durcb  den  Heerd  direct  bedingte  Ausfallssymptome,  z.  B. 


*)  Die  Affectanomalien  treten  namentlich  bei  Alkoholgenuss  starker  hervor. 
Die  Resistenzlosigkeit  gegen  denselben  ist  fiir  diese  Kranken  sehr  charakteristisch. 

**)  Hirngeschwiilste  fiihren  zum  Tode,  bevor  eine  secundare  Demenz  sicb  ent- 
wickelt.  Die  Unorientirtheit,  Schwerbesinnlicbkeit  und  Apathie  der  Tumorkranken 
beruht  auf  Hemmung,  nicbt  auf  Defect.  Uebrigens  kommen  auch  ballucinatorische 
Erregungszustande  vor. 


446 


Dementia  secundaria  nach  functionellen  Psychosen. 

Hemiplegie  mit  gekreuzter  Oculomotoriuslahmung.  Da  auch  im  Riicken- 
maik  guminose  Processe  auftreten  uud  oft  zugleich  peripherische  Nerven 
(z.  B.  die  Aiigeumuskelnerven)  einer  syphilitischen  Degeneration  ver- 
fallen,  so  kommen  oft  sehr  complicirte,  den  Heerdcharakter  verdeckende 
Bilder  zu  Stande. 

2.  Von  dem  Heerd  ausgehende  functionelle  Fernwirkungen. 

a)  Reizerscheinungen:  hierher  gehoren  schwere  acute  hallu- 
cinatorische  Erregungszustande  mit  zahlreichen  Grossen-  und  Verfolgungs- 
ideen  und  volliger  Unorientirtheit , ferner  Krampfanfalle , welche  bald 
denjenigen  der  genuinen  Epilepsie,  bald  denjenigen  der  sog.  Jackson- 
sclien  Epilepsie  gleichen.  Auch  plbtzliche  impulsive  Handlungen  kommen 
gelegentlich  vor. 

b)  Hemmungserscbeinungen.  Diese  iiberwiegen  namentlicb 
dann,  wenn  der  syphilitiscbe  Process  im  Gebirn  in  besonderem  Maass 
raumbescbrankend  wirkt.  Solcbe  Kranke  liegen  wocben-  und  monate- 
lang  in  einem  stuporbsen,  schlafabnlicben  Zustand,  welcber  zuweilen  in 
volliges  Coma  iibergebt.  Die  einfachsten  Fragen  werden  falsch  beant- 
wortet.  Meist  ist  der  Kranke  vollig  unorientirt.  Kotb  und  Urin  lasst 
er  unter  sich  geben.  Oft  tritt  in  diesem  Zustande  der  Tod  ein. 

3.  Im  Anschluss  an  den  Heerd  auftretende  diffuse  organiscbe 
Rindenveranderungeu.  Bald  entsprecben  diese  ganz  denjenigen 
der  Dementia  paralytica  — es  tritt  dann  also  scbliesslicb  docb  nocb 
dies  Leiden  zu  der  Heerderkrankung  binzu  — , bald  entsprecben  sie, 
insofern  sie  nicbt  progressiv  sind  und  die  motoriscbe  Region  im  Wesent- 
licben  verscbonen,  der  oben  bescbriebenen  ,,secundaren  Demenz  nacb 
Heerderkrankungen".  In  letzterem  Falle  spricbt  man  von  einer  post- 
gummosen  Demenz:  leicbte  Gedacbtniss-  und  Urtbeilsscbwacbe, 
Reizbarkeit  und  Labilitat  der  Stimmung  und  leicbte  Abstumpfung 
der  complicirteren  Gefiiblstone  sind  die  Hauptsymptome.  Ueber  die 
differentialdiagnostiscbe  Abgrenzung  derselben  gegen  die  Dementia  para- 
lytica ist  in  der  Besprecbung  der  letzteren  nacbzulesen. 

Die  Diagnose  auf  Hirnsypbilis  im  Allgemeinen  — abgeseben  von 
dieser  postgummosen  Demenz  — ist  sebr  oft  mit  Sicberbeit  nicbt  zu  stellen. 
Es  ist  dann  in  letzter  Linie  der  Erfolg  einer  energiscben  antisypbiliti- 
scben  Tberapie  (vgl.  unter  Dementia  paralytica)  fiir  die  Diagnose  ent- 
scbeidend. 

d.  Dementia  secundaria  nacb  functionellen  Psycbosen. 

Die  Melancbolie,  Manie,  Stupiditat  und  die  acute  ballucinatoriscbe 
Paranoia  enden  zuweilen  mit  einer  progressiven  intellectuellen  Ver- 
blbdung.  Diese  wird  als  secundare  Demenz  s.  str.  bezeicbnet.  Ueber 
die  Haufigkeit  dieser  secundaren  Demenz  und  die  Ueber  gangs- 


Dementia  secundaria  nacli  functionellen  Psychosen. 


447 


weise  der  geuannten  functionellen  Psychosen  in  secundare  Demenz 
ist  unter  Melancholie,  bezw.  Manie,  bezw.  Stupiditat,  bezw.  Paranoia 
nachzulesen. 

Die  Symptome  sind  diejenigen  einer  jeden  Demenz:  Urtheils- 
schwache  und  Gedaclitnissschwache.  Meist  verriitb  sich  erstere 
zunachst  darin,  dass  der  logische  Zusammenbang  des  Denkens  sich  lockert. 
Die  Kranken  sprechen  incoharent  (vgl.  S.  98  und  99).  Manche  plappern 
sehr  viel;  das  einzige  Band  der  successiven  Vorstellungen  ist  die  Aehn- 
lichkeit  des  Wortklangs.  Andere  hocken  Monate  lang  stumm  in  einer 
Ecke;  die  vorstellungsarme  Hirnrinde  fiihrt  dem  Sprachcentrum  keine 
Erregungen  mehr  zu.  Die  Vergesslichkeit  tritt  in  vielen  Fallen  zu- 
nachst nicht  so  deutlich  hervor  wie  z.  B.  bei  der  Dementia  paralytica. 
Im  weiteren  Verlauf  kann  sie  fast  ebenso  hohe  Grade  erreichen  wie  bei 
dieser. 

Sinnestausch ungen  treten  haufig  auf,  namentlich  im  Beginn 
der  Entwicklung  der  secundaren  Demenz,  und  zwar  auch  in  solchen  Fallen, 
wo  die  primare  Psychose  ohne  Sinnestauschungen  verlief.  Die  Wahn- 
vorstell ungen  der  primaren  Psychose  werden  in  die  secundare  De- 
menz mit  hiniibergenommen.  Aber  der  Kranke  vermag  sie  weder  logisch 
zu  verbinden  noch  zu  motiviren.  Einzelne  werden  vergessen.  Schliess- 
lich  murmelt  der  Kranke  nur  noch  mechanisch  einige  Schlagworte,  in 
denen  nur  derjenige,  welcher  ihn  friiher  gekannt  hat,  die  Keste  ehe- 
maliger  Wahnvorstelluugen  wieder  erkennt. 

Die  Affecte  nehmen  einen  kindischen  Charakter  an : albernes  Lachen, 
weinerliches  Greinen,  brutale  Zornausbriiche  Ibsen  sich  ohne  ausreichende 
Motive  ab.  Die  Einheitlichkeit  der  Affectstbrung  der  primaren  Psychose 
ist  verloren  gegangen.  Die  complicirteren  Gefiihlstbne  gehen  zu  Grunde. 
Es  entwickelt  sich  ein  ahnlicher  ethischer  Defect  wie  bei  der  Dementia 
paralytica.  Wenn  er  bei  der  secundaren  Demenz  oft  weniger  auffallt, 
so  ist  dies  darauf  zuruckzufiihren , dass  er  von  der  gleichzeitigen  Ver- 
wirrtheit  verdeckt  bezw.  flir  die  Beobachtung  in  den  Hintergrund  ge- 
drangt  wird,  wahrend  er  bei  der  Dementia  paralytica  isolirter,  oft  zu- 
nachst als  einziges  psychisches  Krankheitssymptom  auftritt.  In  den  Schluss- 
stadien  der  secundaren  Demenz  kommt  es  oft  zu  einer  vblligen  Apathie. 
Auch  jede  Freude  und  Trauer  erlischt.  Dementsprechend  ist  schliesslich  das 
Gesicht  vblhg  ausdruckslos.  In  anderen  Fallen  bestehen  bis  zum  Tode 
zornige,  heitere  und  depressive  Affecte,  fiir  welche  sich  im  Einzelnen 
gar  keine  oder  ganz  unbedeutende  Anlasse  nachweisen  lassen.  Die 
erstere  Form  bezeichnet  man  auch  als  apathischen  Blbdsinn,  die 
letztere  als  agitirten  Blbdsinn. 

Bei  der  kbrperlichen  Untersuchung  fallt  meist  nur  die  mehr 
oder  weniger  hochgradige  allgemeine  Hypalgesie  auf.  Alle  sonstigen 


448  Dementia  epileptica. 

Stoningeii,  wie  wir  sie  bei  cler  Dementia  paralytica  kennen  gelernt 
haben,  febleii. 

Die  Handlungen  des  Secundar-Schwachsinnigen  sind,  je  nachdem 
Apatliie  oder  Erregungsaffecte  vorherrsclien,  sehr  verschieden.  Im  apa- 
tliischen  Blodsinn  hocken  die  Kranken  stumm,  zusammengesunken 
und  regungslos  in  einer  Ecke.  Der  Speichel  tropft  aus  dem  Mund, 
Kotb  und  Urin  gehen  unbeachtet  ab.  Die  Kranken  kleiden  sich  nicht 
selbst  an  und  essen  nur , wenn  ibnen  der  Loffel  in  die  Hand  gedriickt 
und  das  Fiibren  des  Loffels  zum  Munde  ibnen  erst  als  passive  Bewegung 
vorgemacbt  wird ; sind  so  die  Essbewegungen  erst  einmal  ausgelost,  so 
geben  sie  nocb  lange  Zeit  automatiscb  fort,  aucb  wenn  der  Teller  liingst 
leer  ist  und  der  zum  Mund  gefubrte  Ldlfcl  keine  Speise  mebr  entbalt. 
Triebartiges  Onaniren,  stereotype  wiegende  Bewegungen  des  Rumpfes, 
M ackelbewegungeu  des  Kopfes  und  andere  Gewobnbeitsbewegungen, 
stereotypes  Wiederbolen  derselben  Pbrasen  und  eigentbiimlicbe  kata- 
toniscbe  Stellungen  sind  nicbt  selten.  Zuweilen  besteben  ausgesprocbene 
Gewobnbeitscontracturen,  baufiger  ist  vdllige  Resolution. 

Wesentlicb  anders  gestaltet  sicb  das  Bild  des  agitirten  Blod- 
sinns.  In  diesem  scbwatzt  der  Kranke  stundenlang.  Mitunter  kommt 
es  zu  ausgesprocbener  ideenfllicbtiger  Incobarenz  (Verbigeration).  Bald 
tanzen  die  Kranken  umber,  bald  necken  und  scblagen  sie  ibre  Um- 
gebuug.  Andere  sammeln  scbmutzige  Papierstuckcben , stecken  sicb 
Gras  in  die  Knopflocber  u.  dgl.  m.  Aucb  Kotbscbmieren  ist  baufig. 

Zwiscben  dem  agitirten  und  dem  apatbiscben  Blodsinn  existiren 
zablreicbe  Zwiscbenformen  und  Uebergange. 

Der  Verlauf  der  secundaren  Demenz  ist  cbrouiscb.  Anfangs 
scbreitet  der  intellectuelle  Verfall  in  der  Regel  rascber  fort,  spater  lang- 
samer;  mitunter  bleibt  er,  nacbdem  er  eine  gewisse  Stufe  erreicbt  bat, 
fortan  stationar.  Zu  todtlicbem  Ausgang  fiibrt  die  Krankbeit  als  solcbe 
niemals.  Remission en  sind  sebr  selten.  In  der  Regel  erreicben  die 
Kranken  bei  langsam  zunebmendem  Intelligenzdefect  ein  bobes  Alter. 

Die  Tberapie  ist  vollig  obnmacbtig.  Bei  den  agitirten  Formen 
ist  Einlieferung  in  die  Anstalt  notbwendig.  Die  Agitation  ist  ev.  mit 
Hyoscin  zu  bekiimpfen.  Weitaus  die  wicbtigste  Aufgabe  der  Bebandlung 
ist  die  Gewobnung  des  Kranken  an  regelmassige  korperlicbe  Arbeit 
(Feldarbeit)  und  an  Reinlicbkeit. 

Die  patbologiscb-anatomiscbe  Untersucbung  bat  bis  jetzt 
nur  den  Untergang  corticaler  Associationsfasern  sicber  festgestellt. 

e.  Dementia  epileptica. 

Die  secundare  Demenz,  welcbe  in  20  % aller  Fiille  voii  Epilepsie 
scbliesslicb  den  Epileptiker  befallt,  gebt  continuirlicb  aus  der  friiber 


Dementia  epileptica. 


449 


beschriebenen  epileptisclien  psycbischen  Degeneration  bervor  (S.  241). 
Aus  der  Erscliwening  bezw.  Verlangsamung  des  Vorstellungsablaufs  wird 
allmahlich  ein  intellect iieller  Defect.  Dieser  ist  meist  progressiv. 
Meist  hangt  die  Schnelligkeit  imd  Intensitat  der  intellectuellen  Abnahme 
gauz  von  der  Zabl  der  Anfiille  ab.  In  manchen  Fallen  kommt  es 
schliesslicli  zu  einer  totalen  Verblddung,  d.  h.  auch  zum  Verlust  der 
einfachsten  concreten  Erinnerimgsbilder.  Der  Kranke  erkennt  die  nachsten 
Augeborigen  nicbt  mebr.  Er  weiss  weder  Jabreszabl  nocb  Aufentbalts- 
ort.  Das  Einmaleins  bat  er  vergessen.  Seine  Ideenassociation  bescbrankt 
sicb  auf  einige  Interjectionen. 

Fine  abnlicbe  Zusammenscbmelzung  wie  die  Erinnerungsbilder  er- 
fabren  aucb  die  Gefiiblstone.  Die  Kranken  werden  scbliesslich  gegen 
alles  gleicbgiiltig.  Tiefe  Hautsticbe  fiiblen  sie  kaum.  Die  meisten 
bocken  Tag  aus  Tag  ein  auf  derselben  Stelle  und  lassen  Kotb  und  Urin 
unter  sicb  geben.  Triebartige  Masturbation  wu’d  oft  bis  in  die  letzten 
Stadien  der  Krankbeit  binein  beobacbtet.  *)’  Im  Anfang  des  Leidens 
beobacbtet  man  oft  aucb  einen  sebr  labilen  Wecbsel  bypocbondriscber 
Weinerlicbkeit  und  kindiscber  Heiterkeit.  Scbwere  Zornausbriicbe  kommen 
im  ganzen  Verlauf  der  epileptisclien  Demenz  sebr  baufig  vor.  Wegen 
ibiei  Plotzlicbkeit  und  Riicksicbtslosiglceit  erbeiscben  sie  die  sorgfaltigste 
Ueberwacbung  des  Kranken.  Bald  treten  sie  ganz  obne  erkennbare 
Veranlassung,  bald  auf  Grund  einer  vereinzelten  Hallucination,  bald  auf 
Grund  einer  plotzlicben  Wabnvorstellung  auf.  Plotzlich  steigt  in  dem 
Kranken  die  Vorstellung  auf,  sein  Nacbbar  verziebe  bobniscb  oder 
di  obend  das  Gesicbt , und  alsbald  kommt  es  zu  einer  scbweren  impul- 
siven  Gewaltbandlung. 

Intercurrente  ballucinatoriscbe  Damme rzustande  kommen 
aucb  im  Verlauf  der  epileptiscben  Demenz  nocb  oft  vor. 

In  den  Scblussstadien  der  Krankbeit  leiden  aucb  die  Bewegungen 
der  Kranken.  Sie  werden  schwerfallig  und  ungescbickt,  Complicirtere 
Bewegungen  (Stricken,  Zeicbnen  u.  s.  w.)  verlernt  der  Kranke.  Ganz  be- 
sonders  macbt  sicb  diese  Stbrung  der  complicirteren  Bewegungscombi- 
nationen  auf  dem  Gebiet  der  Spracbe  geltend,  Im  Beginn  der  epi-‘ 
leptiscben  Demenz  fallt  der  Kranke  nocb  durcb  seine  Gescbwatzigkeit 
auf.  Spater  gebt  die  Gelaufigkeit  der  Spracbe  verloren.  Der  liranke 
spricbt  sebr  langsaPa,  oft  setzt  er  zwiscben  den  Worten  und  Silben  und 
scbliesslicb  sogar  innerbalb  der  Silben  ab.  Die  Pbonation  ist  ausserst 
monoton,  zuweilen  etwas  singend.  Eine  ausgesprocbene  Hesitation  wie 
diejenige  der  Dementia  paralytica  ist  selten.  Im  Endstadium  der  Krank- 

*)  Auch  tribadische  Eegungen  werden  — wie  bei  alien  weiblichen  Schwach- 
sinnigen  — sebr  haufig  beobacbtet. 

Ziehen,  Psychiatrie, 


29 


450 


Dementia  alcoholica. 


heit  finden  die  Kranken  viele  Worte  nicht  mehr.  Die  Einschmeizung  des 
Wortschatzes  gelit  scliliesslich  so  weit,  dass  dem  Kranken  auch  fiir 
concrete  Gegenstande  die  Worte  fehlen  (epileptische  Aphasie). 
Auf  die  sinnlosen  Gewalthandlungen  ist  oben  bereits  hingewiesen  worden. 

Der  Verlauf  der  epileptischen  Demenz  ist  zuweilen  selir  rapid, 
meist  erstreckt  er  sicb  jedoch  liber  mehr  als  ein  Jabrzebnt.  Ein  bbberes 
Lebensalter  erreicben  die  Kranken  meist  nicht.  Darmkatarrhe , Pneu- 
monien , Blasenkatarrbe  fiihren  meist  vor  der  Zeit  zum  Tode.  Auch 
im  Krampfanfall  oder  in  einem  Status  epilepticus  geht  mancber  Kranke 
scbliesslich  doch  einmal  zu  Grunde. 

Therapie.  Sobald  epileptische  Demenz  besteht,  ist  Anstalts- 
behandlung  wegen  Gemeingefahrlichkeit  indicirt.  In  der  Anstalt  be- 
schrankt  sicb  die  Behandlung  auf  Ueberwachung,  Beschaftigung  und  — 
im  Scblussstadium  — auf  sorgfaltige  Pflege.  Ist  die  Demenz  noch  nicht 
weit  vorgeschritten,  so  kann  man  versuchen  durch  eine  energische  Brom- 
behandlung  die  Zahl  der  Anfalle  zu  vermindern  und  so  den  intellectuellen 
Verfall  aufzuhalten.*) 

Pathologische  Anatomie.  Die  Untersuchung  p.  m.  ergiebt  in 
den  schwereren  Fallen  oft  (nicht  stets)  Verkleinerung  des  Hirngewichts, 
Verschmalerung  der  Hirnrinde,  Erweiterung  der  Ventrikel  und  ent- 
sprechenden  Markschwund , zuweilen  auch  Ependymgranulation.  Die 
Associationsfasern  der  Hirnrinde  erweisen  sich  bei  mikroskopischer  Unter- 
suchung an  Zahl  verringert. 

f.  Dementia  alcoholica. 

Wie  die  Epilepsie  flihrt  auch  der  chronische  Alkobolmissbrauch  oft 
schliesslich  zu  einer  ausgesprochenen  secundaren  Demenz.  Diese  geht 
continuirlich  aus  der  friiher  (S.  223)  beschriebenen  „alkoholistischen  psy- 
chischen  Degeneration"  hervor.  Der  Intellig enzdefect  selbst  unter- 
scheidet  sich  in  keiner  Weise  erheblich  von  demjenigen  der  epileptischen 
Demenz.  So  verschieden  die  Anfangsbilder,  die  alkoholistische  und  die 
epileptische  psychische  Degeneration,  sind,  so  ahnlich  sind  oft  die  Schluss- 
bilder  in  Bezug  auf  den  Intelligenzdefect.  Im  Ganzen  erreicht  er  jedoch 
bei  dem  Alkoholisten  selten  so  hohe  Grade  wie  bei  der  epileptischen 
Demenz.  Es  hangt  dies  wohl  meistens  damit  zusammen,  dass  die  meisten 
dieser  Kranken  noch  vor  dem  volligen  intellectuellen  V erfall  der  An- 

*)  Zu  diesem  Zwecke  wie  tiberhaupt  zur  Behandlung  der  Epilepsie  empfiehlt  sich 
auch  die  Flechsig’sche  Behandlungsmethode.  Man  verordnet  den  Kranken  zunachst 
6 Wochen  lang  Opium  bis  zu  einer  Tagesdosis  von  1,2  g,  lasst  dann  plbtzlich  das 
Opium  weg  und  ersetzt  es  durch  6 bis  8 g Bromnatrium.  Letzteres  ist  mindestens 
6 Monate  lang  zu  verabfolgen. 


Dementia  alcoholica. 


451 


stalt  zugefiihrt  werden  iind  in  dieser  durch  die  Entziehung  des  Alkohols 
dem  weitereu  Fortschreiten  des  Krankheitsprocesses  Einhalt  gethan  wird. 

Der  affective  Verfall  ist  demjenigen  der  epileptischen  Demenz 
gleichfalls  ahnlich,  aber  gleiclifalls  gewohnlich  nicht  so  hochgradig.  Auch 
die  Zornmiithigkeit  ist  nicht  so  ausgesprochen. 

Vereinzelte  Halliicinationen  und  aiich  zusammenhangendere 
interciirrente  hallucinatorische  Erregungszustande  sind  sehr  haufig. 

Korperliche  Symptome  konnen,  abgesehen  von  den  S.  223 
aufgezablten , welche  dem  Alkoholismus  chronicus  mehr  oder  weniger 
stets  zukommen,  vollig  fehlen.  Man  spricht  dann  von  einfacher 
alkoholistischer  Demenz.  In  anderen  Fallen  fallt  die  grosse  In- 
tensitat  und  die  Zahl  der  dort  aufgezablten  Bewegungsstorungen  auf. 
Diese  Form  bezeichnet  man  als  pseudoparalytische  alkoholisti- 
sche  Demenz.*)  In  den  Symptomen  bietet  sie  sehr  viel  Aehn- 
lichkeit  mit  der  echten  Dementia  paralytica,  in  deren  Aetiologie,  wie 
friiher  erwahnt,  der  chronische  Alkoholismus  auch  oft  eine  Eolle  spielt. 
Nur  die  hesitirende  Sprache  und  die  Pupillenstarre  der  typischen  De- 
mentia paralytica  fehlen  dieser  sog.  pseudoparalytischen  alkoholistischen 
Demenz  fast  stets.  Im  Verlauf  besteht  ein  wesentlicher  Unterschied, 
insofern  bei  der  pseudoparalytischen  Demenz  wie  bei  der  einfachen 
Demenz  des  Trinkers  Defectheilungen  und  dauernde  Stillstande  nicht 
selten  vorkommen.  Endlich  ist  der  Sectionsbefund  von  demjenigen 
der  Dementia  paralytica  verschieden.  Zunachst  ist  er  bei  der  alkoho- 
listischen Demenz  zuweilen  — auch  bei  genauer  mikroskopischer  Unter- 
suchung  — negativ ; in  anderen  zahlreicheren  Fallen  findet  man  allerdings 
pathologische  Veranderungen  der  corticalen  Ganglienzellen  und  ihrer 
Axencylinderfortsatze,  sowie  einen  erheblichen  Schwund  der  intracorti- 
calen  und  subcorticalen  Markfasern.  Makroskopisch  findet  sich  Ver- 
schmalerung  der  Hirnrinde  und  Hydrocephalus  externus  et  internus. 
Dagegen  fehlen  die  Veranderungen  der  Neuroglia  und  der  Blutgefass- 
wandungen,  welche  bei  der  typischen  Dementia  paralytica  fast  niemals 
fehlen,  und  meistens  auch  die  fiir  Dementia  paralytica  charakteristischen 
Ependymgranulationen.  Dabei  ist  anzuerkennen,  dass  zwischen  der  auf 
chronischem  Alkoholismus  beruhenden  typischen  Dementia  paralytica  und 
der  soeben  skizzirten  pseudoparalytischen  Dementia  alcoholica  sowohl 
beziiglich  der  Symptome  wie  beziiglich  des  \ erlaufes , wie  endlich  be- 
ziiglich  des  makroskopischen  und  mikroskopischen  Sectionsbefundes  Ueber- 
gangsformen  vorkommen. 

'*)  Auch  das  Kopftrauma  fhhrt  mitunter  zu  ahnlichen  Defectpsychosen  und  zwar 
gleichfalls  bald  zu  einer  einfachen  traumatischen  Demenz,  bald  zu  einer  pseudopara- 
lytischen  traumatischen  Demenz,  bald  zu  einer  echten  Dementia  paralytica. 

29* 


452 


Dementia  alcoholica. 


Beziiglicli  ties  Verlaufs  ist  noch  liervorzuheben,  dass  gelegentlich 
aucli  epileptiforme  imd  apoplectiforme  Aufillle,  welche  denjenigen  der 
Dementia  paralytica  gleiclien,  vorkommen.  Selir  haufig  ist  auch  die 
Complication  mit  Pachymeningitis  haemorrhagica  interna.  In  solchen 
Anfiillen  oder  durcli  solche  Complicationen  kommt  es  zuweilen  friih  zu 
tddtlichem  Ausgang.  Wird  der  Alkohol  entzogen,  so  kommt  es,  wie 
erwahnt,  ofter  zu  dauerndem  Stillstand  oder  Defectheilung ; im  Ganzen 
ist  dieser  glinstigere  Ausgang  bei  ca.  50%  zu  beobachten.  ’ 

Die  Beliandlung  deckt  sich  mit  derjenigen  ties  chronischen  Alko- 
bolismus  iiberhaupt.  Die  Plauptaufgabe  ist  Entzieliung  ties  Alkohols. 
Erfahi  ungsgemass  lasst  sich  diese  ebenso  wie  die  Entziehung  aller  an- 
deren  Gewohnheitsgifte  (Morphium  u.  dgl.)  nur  in  einer  geschlossenen 
Anstalt  Oder  einem  sog.  Trinkerasyl  mit  geniigender  Sicherheit  durch- 
fiihren.  Nur  wenn  die  Umstande  erlauben,  einen  zuverliissigen  Privat- 
warter  fiir  den  Kranken  zu  halten,  wird  man  in  seltenen  Fallen  auch 
einen  Entziehungsversuch  im  Hause  oder  in  einer  offenen  Anstalt  machen 
kbnnen.  Leider  kann  nach  Page  der  heutigen  Gesetzgebung  der  Ge- 
wohnheitstrinker  als  soldier  nicht  zu  einer  solchen  Entziehungskur  ge- 
zw ungen  werden.  Die  zwangsweise  Einlieferung  in  die  Anstalt  wird 
erst  mbglich,  wenn  eine  alkoholistische  Psychose  (Paranoia)  zu  tier  alko- 
holistischen  psychischen  Degeneration  hinzugetreten  ist,  bezw.  these  letztere 
sich  zu  einer  die  Dispositionsfahigkeit  aufhebenden  alkoholistischen  De- 
menz  entwickelt  hat. 

Die  Entziehung  selbst  kann  bei  kriiftigen  Personen  plotzlich  er- 
folgen,  bedarf  aber  tlann  einer  genauen  stetigen  Controle  (Collaps!). 
Bei  schwachlichen  Indivitluen  empfiehlt  sich  eine  allmahliche  Entziehung, 
welche  man  je  nach  dem  Zustande  tier  Herzthatigkeit  auf  einige  Tage 
Oder  selbst  auf  einige  Wochen  ausdehnen  kann.  Dringend  ist  tier  Ge- 
brauch  irgendwelcher  Narcotica  gegen  die  mit  der  Abstinenz  sich  ein- 
stellende  motorische  Unruhe,  Angst  untl  Schlaflosigkeit  zu  widerrathen. 
Man  setzt  sich  damit  nur  der  Gefahr  aus  an  die  Stelle  des  Alkoholis- 
mus  die  Gewohnung  an  ein  narcotisches  Mittel  (Morphinismus  u.  s.  w.) 
zu  setzen.  Man  beschranke  sich  also  tlarauf  durch  hydrotherapeutische 
Maassnahmen  (prolongirte  Bader,  Einpackungen)  und  korperliche  Arbeit, 
wenn  auch  langsam,  korperliche  und  geistige  Kuhe  sowie  Schlaf  wietler 
zu  erzielen.*) 

*)  Ganz  dasselbe  gilt  im  AHgemeinen  aucb  fiir.  die  Beliandlung  des  cbronischen 
Morphinismus.  Nur  kommt  es  bei  diesem  niemals  zu  einer  ausgesprochenen  Demenz. 
Auch  bei  der  Morphiumentziehung  ist  es  durchaus  contraindicirt  andere  Narcotica 
Oder  Alkohol  — ausser  im  dringendsten  Nothfall  — zu  verabreichen.  Nur  zu  oft  wird 
der  Morphinist  durch  Verabreichung  von  Spirituosen  wahrend  |der  Entziehung  zum 
Alkoholismus  geradezu  tibergefiihrt. 


Aetiologische  Uebersicht  tiber  die  Psychosen. 


453 


1st  die  Entziehiing  beendet,  so  ist  der  Kranke  jedenfalls  noch  min- 
desteus  ein  Jabr  in  der  Anstalt  bezw,  dem  Asyl  zu  belassen  und  auf 
das  Genaneste  zu  iiberwacben.  *)  Entlasst  man  die  Kranken  friiber,  so 
kommt  es  in  Folge  der  krankbaften  Willensscbwache  dieser  Individuen 
stets  zu  Kiickfallen.  Freilich  wird  auch  jetzt  wieder  die  zwangsweise 
Festbaltung  an  der  Mangelbaftigkeit  unserer  Gesetzgebung  scheitern. 

Selbstverstandlicli  sind  die  Kesultate  einer  solcben  Bebandlung  um 
so  besser,  je  weniger  vorgescbritten  die  Erkrankung  ist.  Bei  der  psy- 
cbiscben  Degeneration  des  Alkobolisten  erzielt  man  wenigstens  ab  imd 
zu  noch  eine  leidlich  vollkommene  und  einige  Jabre  dauernde  Heilung. 
Bei  der  alkoholistischen  Demenz  muss  man  sicb  begniigen,  einen  Still- 
stand  des  Leidens  oder  eine  Defectbeilung  zu  erzielen. 

Die  patbologische  Anatomie  ist  oben  bereits  erortert  worden, 
vergl.  ausserdem  S.  224  und  225. 

Aetiologische  Uebersicht  iiber  die  Psychosen. 

Ein  Ueberblick  iiber  die  zahlreicben  Psychosen,  welche  im  Vorher- 
gehenden  besprochen  worden  sind,  lehrt,  dass  zwischen  den  einzelnen 
Psychosen  allenthalben  fliessende  Uebergange  und  Zwischenformen  vor- 
handen  sind.  Ein  anderes  Resultat  war  kaum  zu  erwarten.  Die  Func- 
tionen  der  Hirnrinde  stehen  untereinander  in  den  engsten  Beziehungen, 
und  ebenso  stehen  die  anatomischen  Elemente  der  Rinde  untereinander  in 
durchgangigem  Zusammenhang.  Jeder  atiologische  Factor  wirkt  daher 
mehr  oder  weniger  auf  alle  Functionen  bezw.  alle  Elemente  der  Hirn- 
rinde. Lediglich  der  Grad  dieser  Einwirkung  auf  die  einzelnen  Functionen 
ist  bei  den  verschiedenen  Psychosen  verschieden.  Bei  dieser  Sachlage 
lag  es  und  liegt  es  natiirlich  sehr  nahe,  auf  Grund  des  Starkeverhalt- 
nisses,  in  welch em  die  einzelnen  Functionen  von  der  Schadlichkeit  be- 
troffen  sind , eine  atiologische  Classification  der  Psychosen  zu  ver- 
suchen.  Eine  solche  ist  nun  allerdings,  wie  auch  die  Geschichte  der 
Psychiatrie  gelehrt  hat,  verfehlt;  dieselbe  Schadlichkeit  bezw.  Gruppirung 
von  Schadhchkeiten  kann  sehr  verschiedene  Psychosen  hervorbringen 
und  andererseits  kann  dieselbe  Psychose  auf  Grund  sehr  verschiedener 
Schadhchkeiten  bezw.  Gruppirungen  von  Schadhchkeiten  zu  Stande 
kommen.  Immerhin  aber  wird  man  der  Bedeutung,  welche  die  Aetiologie 
gerade  fiir  die  Erkennung  der  Psychosen  hat,  Rechnung  tragen  mussen. 
Es  soli  daher  im  Folgenden  eine  Uebersicht  fiber  die  wichtigsten  atio- 
logischen  Factoren  gegeben  und  bei  jedem  einzelnen  sollen  diejenigen 
Psychosen  aufgezahlt  werden,  welche  vorzugsweise,  d.  h.  am  haufigsten 
auf  dem  Boden  der  bez.  Schadlichkeit  vorkommen. 


*)  Dasselbe  gilt  fiir  die  Bebandlung  des  Morphinismus. 


454 


Aetiologische  Uebersicht  Uber  die  Psychosen. 


1.  Erbliche  Degeneration:  Idiotie,  Imbecillitat,  Debilitat,~ein- 
facbe  acute  Paranoia,  einfache  chronische  originare  Paranoia,  periodische 
Manie,  periodische  Melancholie,  periodische  Paranoia,  circulares  Irreseinj 
Irresein  durch  Zwangsvorstellungen. 

2.  Trauma  capitis:  Hallucinatorische  acute  Paranoia  (oft  mit 
primaren  Angstaffecten  und  Schwindelsensationen  verkniipft),  incoharente 
Varietat  derselben  Psychose,  neurasthenisches  Irresein,  einfache  trau- 
matische  Demenz  (S.  221),  pseudoparalytische  traumatische  Demenz 
(S.  221,  451),  Dementia  paralytica. 

3.  Chronischer  Alkoholismus:  peracute,  acute,  subacute,  chro- 
nische hallucinatorische  Paranoia,  ideenfliichtige  Form  der  acuten  und 
subacuten  hallucinatorischen  Paranoia  (sog.  Alkoholmanie,  seltenerjreine 
Manie),  Melancholie,  Neurasthenic,  Irresein  durch  Zwangsvorstellungen, 
einfache  alkoholistische  Demenz , pseudoparalytische  alkoholistische  De- 
menz, Dementia  paralytica. 

4.  Pubertat:  Manie,  Melancholie,  circulares  Irresein,  acute  hallu- 
cinatorische Paranoia,  ideenfliichtige  und  circulare  Form  der  letzteren. 

5.  Senium:  Melancholie,  acute  hallucinatorische  Paranoia,  inco- 
harente Form  der  letzteren,  senile  Demenz. 

6.  Climakterium:  Melancholie,  chronische  hallucinatorische  und 
chronische  einfache  Paranoia,  circulares  Irresein. 

7.  Graviditat:  Melancholie. 

8.  Puerperium:  Acute  hallucinatorische  Paranoia,  incoharente 
Form  derselben.*) 

9.  Lactation:  Subacute  hallucinatorische  Paranoia,  stuporose 
Form  derselben,  Stupiditat,  Manie. 

10.  Acute  fieberhafte  Krankheiten:  Acute  hallucinatorische 
Paranoia,  ideenfliichtige  und  stuporose  Form  derselben. 

11.  Syphilis:  Dementia  paralytica,  postsyphilitische  Demenz,  sowie 
die  S.  446  unter  a und  b aufgefiihrten  Storungen. 

12.  Epilepsie:  Peracute  und  acute  hallucinatorische  Paranoia  (sog. 
epileptische  Dammerzustande),  Dementia  epileptica. 

13.  Hysterie:  Peracute  und  acute  hallucinatorische  Paranoia  (sog. 
hysterische  Dammerzustande),  chronische  hallucinatorische  und  einfache 
Paranoia  (sog.  hysterische  Paranoia). 

14.  Erschopfung:  Manie,  Stupiditat,  acute  hallucinatorische  Para- 
noia, ideenfliichtige,  incoharente  und  stuporose  Varietat  derselben. 

*)  Meistens  tritt  das  Puerperalirresein,  bei  welchem  iibrigens  die  verschiedensten 
Schidlichkeiten  zusammenwirken  (Schmerzen,  Blutverluste,  Gemutbserschutterungen, 
Mastitis,  Parametritis,  Sepsis  u.  s.  w.),  in  der  Zeit  vom  3.  bis  12.  Tag  nach  der  Ge- 
burt  auf.  Aucb  nach  Aborten  kommen  ahnliche  Psychosen  vor.  Zuweilen  kniipft  der 
Ausbruch  der  Psychose  auch  an  die  erste  Wiederkehr  der  Menses  an. 


Aetiologische  Uebersicht  liber  die  Psychosen. 


455 


Entsprechend  dieser  Uebersicht,  welche  sich  noch  leicht  auf  das 
Dreifache  vergrossern  liesse,  hat  man  auch  von  „puerperalem  Irresein", 
„Pubertatsirresein“,  „epileptischem  Irresein"  u.  s.  w.  gesprochen,  Dabei 
ist  zu  beachten,  dass  die  einzelnen  Psychosen  oft,  aber  keineswegs  stets 
unter  dem  Einfluss  eines  bestimmten  atiologiscben  Moments  eine  cha- 
rakteristiscbe  Modification  ibrer  Symptome  oder  ibres  Verlaufs  zeigen 
(hebepbrene,  erblicb-degenerative  Modification  u.  s,  w.). 

Ausser  der  Aetiologie  ist  aucb  der  zeitlicbeVerlauf  oft  znr 
Abgrenzung  bestimmter  Psychosen  benutzt  worden:  Dabei  ergiebt  sich 
Folgendes : 

Periodisch*)  treten  auf  am  haufigsten:  Manie,  Hypomanie,  zu- 
weilen  auch  Melancholic  und  acute  hallucinatorische  Paranoia.  Eine 
Varietat  dieses  periodischen  Irreseins  ist  das  polymorphe  periodi- 
sche  Irresein:  bei  diesem  tritt  in  regelmassigen  Zwischenraumen 
eine  Geistesstorung  auf,  diese  wechselt  aber  sehr.  Bald  ist  es  eine 
Manie,  bald  eine  typische  hallucinatorische,  bald  eine  ideenfliichtige 
hallucinatorische  Paranoia. 

Circular*)  losen  sich  am  haufigsten  Manie  und  Melancholic  ab. 
Vgl.  auch  circulare  Paranoia. 

Recidivirend  verlauft  namentlich  die  Manie  und  die  Melancholic, 
haufig  auch  die  acute  hallucinatorische  Paranoia.  Aus  leicht  ersicht- 
lichen  Griinden  neigen  namentlich  auch  die  acuten  hysterischen,  epilep- 
tischen  und  puerperalen  Psychosen  zu  Recidiven.  Auf  dem  Boden  der 
erblichen  Degeneration  folgen  sich  oft  in  unregelmassigen  Zwischenraumen 
die  verschiedensten  Psychosen:  man  spricht  in  diesem  Falle  von  poly- 
morphem  recidivirenden  Irr.esein. 

Transitorisches,  d.  h.  fiber  wenige  Stunden  und  hochstens 
fiber  einen  Tag  sich  erstreckendes  Irresein  findet  man  am  haufigsten  in 
folgenden  Gestalten: 

1.  Als  sog.  Raptus  melancholicus.  Dem  Anfall  gehen  zu- 
weilen  ReizRarkeit , Schwindel,  Kopfschmerz  und  Herzklopfen  voraus. 
Das  Hauptsymptom  des  Anfalls  selbst  ist  eine  extreme  Angst;  meist  ist 
sie  von  ausgesprochenen  Pracordialempfindungen  und  schwerem  Gefass- 
krampf  begleitet.  Zuweilen  bestehen  auch  schreckhafte  Sinnestauschun- 
gen.  Die  Dauer  betragt  5 Minnten,  selten  mehr  als  1 Stunde.  Nachher 
besteht  Amnesic.  Vgl.  S.  306. 

2.  Als  sog.  Mania  s.  Paranoia  hallucinatoria  transi- 
toria.  Selten  handelt  es  sich  wirklich  urn  eine  transitorische  Manie, 
vielmehr  meist  um  eine  transitorische  hallucinatorische  Paranoia.  Ab 


*)  Namentlich  die  erblich  degenerativen  Psychosen  neigen  zu  periodischem  und 
circularem  Verlauf  (s.  o.). 


456 


Aetiologische  Uebersicht  uber  die  Psychosen. 


und  zu  geht  em  leichtes  Schwindelgefuhl  imd  Congestion  zum  Kopfe 
voraus_  Das  Hauptsympt6m , die  Hallucinationen , setzt  ganz  pldtzlfch 
em.  Entsprechend  ihrer  Massenhaftigkeit  kommt  es  zu  einer  volligen 
norientirtheit.  Schreckhafte  Hallucinationen  scheinen  vorzuherrsclien. 
as  n 1 z es  ^^^^^ken  ist  meist  hochrotli,  wahrend  im  Raptus  melan- 
chohcus  die  Leichenblasse  des  Gesichts  auffallt.  Meist  schliesst  der 

Anfall  nach  einigen  Stunden  mit  einem  tiefen  Scblaf  ab.  Der  Kranke 
erwacht  mit  Amnesie. 

T-f  simplex  transitoria.  Auf  Grand  einer 

plotzhch  aufschiessenden  Wahnvorstellung,  welche  den  Kranken  vbllig 
beberrscbt,  begebt  er  scbwere  Gewaltbandlungen  (Todtscblag  wegen  ver- 
memtbcber  Vergiftung  u.  s.  w.).  Meist  scbliesst  der  Anfall  mit  langerem 
bcmat.  Die  Amnesie  ist  bfter  nur  partiell. 

Aetiologiscb  kommt  fiir  das  transitoriscbe  Irresein  meist  erbliche  Be- 
astung  Oder  cbroniscber  Alkobolismus  in  Betracbt.*)  Haufig  ist  es  auch 
ei  Epilepsm  und  Hysterie  (als  transitorischer  Dammerzustand) , des- 
gleicben  bei  Neurastbenie.  Aucb  Herzleiden  spielen  eine  Robe.  Mitunter 
begleitet  es  oder  vicarirt  es  fur  einen  Migraneanfall  oder  aucb  fur  einen 
Intermittensanfall.  Die  Gelegenbeitsveranlassung  ist  bald  ein  Alkobol- 
excess,  (namentlicb  in  beisser  Stube  bei  gleicbzeitigem  Raucben  scbwerer 
igarren),  bald  ein  beftiger  Affect,  bald  eine  scbwere  kbrperlicbe  Strapaze 
(Marscb  in  der  Sonnenbitze).  Aucb  im  Anschluss  an  den  Geburtsact 
wird  es  beobacbtet.  Oft  lasst  sicb  — namlicb  fur  den  Raptus  melan- 
cbobcus  — eine  besondere  Gelegenbeitsveranlassung  nicbt  nacbweisen. 
— Wegen  der  HaufigkeR  scbwerer  impulsiver  Gewaltbandlungen  bat 
das  transitoriscbe  Irresein  vorzugsweise  forensiscbe  Bedeutung.  Wir 
verweisen  daber  beziiglicb  genauerer  Bescbreibung  auf  die  Lebrbucber 
der  gericbtlicben  Psycbopatbologie. 

*)  Die  transitoriscbe  „Manie“  ist  am  haufigsten  bei  Mannern  im  20.  bis  30  Le 
bensjahr. 


Register. 


Abasie  160. 

Aberglaube  100. 

Abreibungen  262. 

Abstinenz  149,  150,  159,  162,  184,  260, 
302,  387  Amn. 

Abulie  149,  300. 

Acetonurie  184,  419. 

Acbillessebnenphanomen  178. 

Acusticusatrophie  10,  425. 

Acute  Psychosen  198  ff. 

Aehnlichkeitsassociation,Princip  der  75,99. 

Aetiologie,  allgemeine  208  ff.,  atiologische 
Debersicbt  453  ff. 

Affecte,  Definition  58;  Einfluss  auf  Ideen- 
association  und  flandeln  58,  147,  139  ff., 
152,  157 ; auf  den  Puls  186  ff. 

Affective  Psychosen  273,  276  ff. 

Affectkrisen  144. 

Affectstbrungen  bei  Manie  276;  bei  Me- 
lancholie  297;  bei  Neurasthenie  316; 
bei  Stupiditat  337 ; bei  Paranoia  349  ff., 
353,  366,  374,  378;  bei  Irresein  durch 
Zwangsvorstellungen  389;  bei  ange- 
borenem  Schwachsinn  400,  404,  407 , 
bei  Dementia  paralytica  417,  bei  De- 
mentia secundaria  447,  bei  Dementia 
senilis  442. 

Affecttremor  174. 

Ageusie  10. 

Agitation,  Definition  137,  139,  146;  hallu- 
cinatorische  31,  147  : cler  Angst  62,  93, 
140,  143,  147 ; der  Exaltation  65 ; des 
Zorns  147;  Beziehung  zur  Ideenflucht 
86 ; primare  147,  secundare  147 ; Unter- 
scheidung  beider  148;  incoharente  156; 
als  Ursache  secundarer  motorischer  Inco- 
harenz  157 ; Temperatursteigerung  bei 
Ag.  187,  188;  Urinzusammensefzung 
183,  184. 

Agoraphobie  s.  Platzangst. 

Agrammatismus  s.  Akataphasie. 

Agraphie  424. 

Agrypnie  s.  Schlafstbrungen. 

Aichmophobie  125. 

Akataphasie  des  Zorns J 67  Anm. ; bei  In- 
coharenz  97,  353 ; bei  Urtheilsschwache 
133. 


Akinesie  423. 

Akoasmen  s.  Gehbrstauschungen. 

Albuminurie  183,  356,  419. 

Alexie  425. 

Alkohol,  Resistenzlosigkeit  gegen  217, 
221,  240,  445. 

Alkoholexcesse,  pathologische  140,  218, 
281,  435  Anm.  S.  auch  Dipsomanie. 

A] koholintoxi cation,  acute  222,  456. 

Alkoholismus  chronicus,  Naehweis  222; 
atiologische  Bedeutung  209  ff.,  222  ff., 
226,  3.J1,  402,  435,  451,  454,  456;  Sensi- 
bilitatsstbrungen  10,  Hallucinationen  21, 
32, 354, 372 ; Personenverwechslungen  81, 
82;  Erinnerungstauschungen  81;  Tremor 
174;  Menses  191;  nach  Morphinismus 
229  Anm. ; belastender  Einfluss  211  ff. ; 
Behandlung  452;  Differentialdiagnose 
gegenuber  Dementia  paralytica  438; 
alkoholistiscbe  Demenz  439;  alkoholi- 
stische  Pseudoparalyse  439  Anm. 

Alkoholmanie  290. 

Alkoholmelancholie  307. 

Alkoholneurasthenie  327. 

Alkoholparanoia  372. 

Alter,  Einfluss  auf  die  Morbiditat  210. 

Amblyopie  223,  229,  432. 

Amenorrhoe  191. 

Amentia  342  Anm. 

Amnesie  67,  145,  156  Anm.,  163,  221,  242. 
358,  455,  456. 

Amylenhydrat  265. 

Anamie,  atiologische  Bedeutung  231,  247. 

Anasthesie  9,  223. 

Analgesie  13, 14,  243,  400, 432 ; scheinbare 
bei  motorischer  Hemmung  149,  150. 

Anamnese  205  ff. 

Anarthrie  s.  Stammeln. 

Anconeussehnenphanojmen  178. 

Angina  pectoris  s.  Stenokardie. 

Angst  60, 194;  Localisation  60,  61 ; kbrper- 
liche  Begleiterscheinungen  61 ; Angst- 
bewegungen  62,  139,  143;  Einfluss  auf 
die  Kbrpermuskeln  62 ; auf  das  Handeln 
139,  147,  152,  157 ; auf  den  Puls  186  ff.; 
Angstvorstellungen  63 ; Ausdrucksbewe- 
gungen  der  Angst  143;  Zittern  174; 


458 


Register. 


Angst  bei  Zwangsvorstellungen  122, 123, 
124,  389,  392 ; bei  Melancholie  297  ; bei 
Trinkern  224;  im  Senium  232;  bei  He- 
retlitariern  218;  bei  Bleivergiftung  225 ; 
bei  Morphinismus  227,  229. 

Anhedonie  15,  227,  228. 

Anknupfungssymptome  108,  117. 

Anorexie  15,  227,  283. 

Anosmie  10,  425. 

Anstaltsbehandlung  259  fif.,  294. 

Apathie  68  ff. ; allgemeine  68 ; circum- 
scripte  69  if.;  scbeinbare  69;  Einfluss 
auf  das  Handeln  140 ; Ausdrucksbewegun- 
gen  145 ; Apathie  bei  Stupiditat  336  ff. ; 
bei  Melancholie  298;  bei  Dementia 
paralytica  429;  bei  Dementia  secundaria 
447 ; bei  Dementia  epileptica  449. 

Aphasie,  motorische  173 ; sensorische  53, 
425,  437 ; optische  55,  80 ; Folgen  fiir 
das  Denken  50;  bei  Dementia  paraly- 
tica 423,  436,  437 ; bei  Dementia  senilis 
442,  bei  Dementia  epileptica  450. 

Apoplectiforme  Anfalle  431. 

Apperception  5. 

Aprosexie  83;  Beziehung  zur  Denkhem- 
mung  89 ; Theilerscheinung  des  Stupor 
90;  bei  angeborenem  Schwachsinn  404, 
407. 

Arteriosklerose  183,  232,  236,  443. 

Arthralgie  225. 

Articulationsstorungen  97,  160,  173,  174, 
241,  243,  338;  bei  Dementia  paralytica 
422  ff. 

Associative  Verkniipfungen,  Verlust  der 
55,  132. 

Associative  Verwandtschaft  76. 

Astasie  160,  161. 

Asthenische  Psychosen  247,  454. 

Asymmetrie,  congenitale  169,  192,  193. 

Ataxie,  scbeinbare*  96,  97,  128,  155,  161, 
353 ; echte  172  ff,  228,  229, 401, 422,  449. 

Atremie  159. 

Atropinpsychosen  229. 

Attonitat  62,  89,  90,  93,  149,  367. 

Audition  colorde  19. 

Aufmerksamkeit  5,  Storungen  der  A.  82  ff. ; 
Herabsetzung  83,  Steigerung  84;  Disso- 
ciation 85. 

Augenflimmern  21,  179,  181,  223,  228. 

Augenmigrane  180. 

Aura,  hallucinatorische  36,  241 ; illusio- 
nare  43. 

Ausdrucksbewegungen  s.  Gesichtsausdruck. 

Automatische  Acte  2,  400,  448. 

Azoospermie  192,  220. 

Aztekentypus  403. 

Bader  261,  295. 

Bauchreflex  175. 

Beach  tun  gswahn  110. 


*)  d.  h.  psychisch-bedingte. 


Begriff,  concreter  47;  allgemeiner  48; 
Beziehungsbegriffe  49;  abstracte  48, 
138. 

Beriihrungsfurcht  s.  Mysophobie. 

Beruhrungshallucinationen  22,  26,  30,  40. 

Beriihrungsillusionen  39,  40. 

Beriihrungszwang  127. 

Beruf,  Einfluss  auf  die  Morbiditat  210, 

211. 

Beschaftigung,  kbrperliche  257,  295,  332, 
363,  373,  386,  448,  450,  452;  geistige 
286  ff,  295,  332,  363,  373,  386,  450. 

Beschranktheit  135. 

Bettruhe  257,  295,  312,  332,  341,  362, 
394,  398. 

Bettsucht  159. 

Bewegungsdrang  s.  Agitation. 

Bewegungsempfindungen  4 ; hallucinato- 
rische 23;  illusionare  39. 

Bewegungsvorstellung  als  Glied  des  psycho- 
physischen  Processes  4 ; als  Zwangsvor- 
stellung  165. 

Bewusstlosigkeit  175,  171. 

Bewusstseinsstorung  96  Anm. 

Blaseninnervation  191,  425,  461. 

Bleivergiftung,  atiologische  Bedeutung  225, 
360. 

Blinzelreflex  auf  Belichtung  177. 

Blutbildung  184,  227. 

Blutsverwandtschaft  der  Eltern,  belasten- 
der  Einfluss  215. 

Blutverlust,  Hallucinationen  bei  schwerem 
36. 

Bradykardie  185,  227,  322. 

Bromsalze  266,  295,  364,  363,  394,  444, 
450. 

Bulimie  14,  283. 

Buzzardscher  Kunstgriff  178. 


Calorische  Schadlichkeiten  221,  456; 
Hallucinationen  bei  — 36. 

Canipher  313,  341,  364. 

Carcinose,  atiolog.  Bedeutung  235  fl. 

Castration  237. 

Cerebrasthenie  314. 

Charakter  59;  -veranderung  b.  erworbenem 
Schwachsinn  70 ; bei  Alkoholismus  223 ; 
bei  Morphinismus  228 ; senile  232,  442 ; 
bei  Dementia  paralytica  417  ff.,  426, 
438 ; bei  Dementia  secundaria  445,  447. 

Charakterabsonderlichkeit  211,  214,  386. 

Chinin  341,  362,  398. 

Chloralhydrat  265,  363,  439. 

Chorea,  Sensibilitatsstorung  10;  Halluci- 
nationen 36 ; Chr  magna  96,  156,  352 ; 
scbeinbare  155;  Beziehung  zu  Psychosen 
247;  choreatische  Bewegungsstbrungen 
170,  171  Anm. ; bei  Dementia  paralytica 
246,  434;  bei  Idiotie  401. 

Chronische  Psychosen  199  ff. 

Circulare  AffectstSrungen  66,  367. 


Register. 


459 


Circulare  Associationsstorungen  366. 

Circularer  Vcrlauf  197,  455;  bci  Dementia 
paralytica  428 ; bei  Paranoia  351 ; Be- 
ziehung  zu  erblicher  Belastung  216. 

Circulares  Irresein,  Klinische  Darstellung 
396;  Diagnose  287  , 309,  351,  397; 
Prognose  397 ; Therapie  398. 

Claustropbobie  125,  388. 

Cocainpsychosen  229,  360. 

Colobom  192. 

Coma  177,  siehe  aucb  Sopor. 

Commotio  cerebri  220  ff. 

Commotionsirresein  220  ff. 

Complicirende  Symptome  167. 

Coniunctivalreflex  175,  339. 

Constellation  77,  83,  120,  132,  163,  381, 
390. 

Contracturen,  Definition  172;  Unterscbei- 
dung  organischer  von  katatonischen 
Zustanden  154;  active  172;  passive  172; 
bei  Lahmungen  170;  hysterische  243. 

Coordinationsstdrungen,  siehe  Ataxie. 

Cornealreflex  175,  339,  432. 

Corollarsymptome,  Definition  193  Anm. 

Corticale  Lahmungen  168,  170,  422;  c. 
Convulsionen  170,  171,  431. 

Craniotympanale  Leitung  425. 

Cremasterreflex  175. 

Cretinismus  401. 

Cultur,  atiologische  Bedeutung  209. 

Cumulative  (convergente)  Belastung  213, 
215. 

Cylinder,  hyaline  184,  283,  419. 


D ammerzustande,  epileptische  242,  357  ff., 
364,  375,  456;  hysterische  244,  358  ff., 
364,  456. 

Darminnervation  190,  229,  321. 

Darmkatarrh,  atiologische  Bedeutung  236, 
372. 

Darmkatarrhe,  bei  Psychosen  177,  229, 
230,  253,  321. 

Darmsaftabscheidung  182. 

Debilitat,  klinische  Darstellung  407  ff., 
Symptome  407,  52;  Verlauf,  Ausgange, 
Prognose  408 ; Varietaten  409 ; Aetiologie 
409;  Diagnose  409,  294;  Beziehung  zur 
erblichen  Belastung  219. 

Decubitus  420,  439. 

Defecthandlungen  138,  166. 

Defectpsychosen  272,  399  ff. 

Degeneration,  psychische  alkoholistische 
223  ff. ; erbliche  217  ff. ; epileptische 
240  ff. ; hysterische  243  ff. ; morphini- 
stische  228  fl. ; neurasthenische  245  ff. ; 
traumatische  221  ff. 

Degenerationszeichen,  psychische  217  ff.; 
korperliche  192  ff.,  217. 

Degenerative  Psychosen  215  ff. 

Ddlire  d’emblde  101. 

Ddlire  d’dnormitd  111. 

Ddlire  de  negation  111. 


Ddlire  du  toucher  125,  388,  394. 

Delirium  156  Anm. 

Delirium  acutum  156,  183,  189,  253,  347, 
352,  363,  419. 

Delirium  tremens,  klinische  Darstellung 
354  ff. ; Albuminurie  183;  Therapie  364. 

Dementia,  Definition  273. 

Dementia  acuta  335. 

Dementia  alkoholica  450  ff. ; einfache  451 ; 
pseudoparalytische  451,  paralytische  An- 
falle  452. 

Dementia  epileptica  242,  448  ff. 

Dementia  paralytica,  klinische  Darstellung 
413  ff. ; Symptomatologie  414  ff.;  Vor- 
stellungen  414;  Associationsstorungen 
415;  Wahnvorstellungen  416;  kdrper- 
liche  Symptome  418  ff. ; Verlauf  425; 
klassische  Form  427 ; circulare  428 ; 
galoppirende  430 ; Remissionen  428 ; 
paralytische  Anfalle  430  ff. ; Ausgange 
und  Prognose  434;  Aetiologie  434; 
Diagnose  436,  445,  451;  Dift'erential- 
diagnose  gegenuber  Manie  292 ; gegen- 
iiber  Melancholie  308 ; gegenuber  Neur- 
asthenie  330;  gegenuber  Paranoia  hallu- 
cinatoria  acuta  360;  gegenuber  Paranoia 
simplex  acuta  375;  gegenuber  Paranoia 
simplex  chronica  386 , monoplegischer 
Beginn  54,  437;  Verhaltniss  zu  Tabes 
238;  Haufigkeit  209;  Therapie  439  ff., 
in  den  Anfallen  439;  pathologische 
Anatomie  433,  437,  440  ff. ; Halluci- 
nationen  37,  39,  417;  Fragesucht  126; 
primare  Agitation  147 ; Rindenconvul- 
sionen  171,431;  Sehnenphanomene  177  ff., 
425;  Pupillen  176,  420;  idiomusculare 
Erregbarkeitl79;  Parasthesien  179,  425; 
Schmerzen  180 ; Migrane  181 ; Speichel- 
secretion  181,  419;  Albuminurie  u.  s.  w. 
183,  184,  419;  Blutbildung  184;  Hypo- 
chlorhydrie  182,  419;  Mageninnervation 
189;  Polyurie  182, 420 ; Pulsveranderung 
186,  419 ; Temperatur  187  ff.,  418.  Ueber 
andere  Symptome  s.  unter  Symptomato- 
logie 414  ff. 

Dementia  secundaria  nach  Herderkran- 
kungen  444  ff.,  postsyphilitische  446. 

Dementia  secundaria  s.  str.  (nach  func- 
tionellen  Psychosen)  200,  252 ; klinische 
Darstellung  446  ff.;  nach  Manie  286; 
nach  Melancholie  304;  nach  acuter 
hallucinatorischer  Paranoia  349;  nach 
Stupiditat  339;  Kdrpergewicht  bei  — 
185. 

Dementia  senilis,  klinische  Darstellung 
441  ff.;  Symptomatologie  441  ff . ; Ver- 
lauf 443;  Ausgange  und  Prognose  443; 
Aetiologie  443;  Diagnose  443;  Difte- 
rentialdiagnose  gegenuber  Melancholie 
309 ; gegenuber  Paranoia  hallucinatoria 
acuta  361,  gegenuber  Dementia  para- 
lytica 438 ; Therapie  444 ; pathologische 
Anatomie  444;  paralytische  Anfalle  443; 


460 


Register. 


Verneinungswahn  111;  Sehnenphano- 
mene  178;  Pupillen  176 ; Schmerzen  180. 

Dementia  traumatica  221,  451  Anm. 

Denkhemmung,  Wesen  der  - 89  fl. ; pri- 
mare  91;  secuudiire  balluciiiatorisclie 
29,  90,  94:  secundare  affective  62;  Ein- 
fluss  auf  das  Wiedererkennen  79;  Be- 
ziehimg  zur  Aprosexie  83;  Beziehung 
zur  Depression  und  Angst  92,  297; 
Unterscheidung  vom  Intelligenzdefect 
93,  135;  nach  Commotio  cerebri  221; 
bei  Epilepsie  241 ; bei  Melancbolie  298; 
bei  Stupiditat  335;  bei  Paranoia  351; 
bei  Dementia  paralytica  415. 

Dentition  217. 

Depression,  Wesen  59  ff. ; primare  60; 
secundare  59  ft'.;  Einfluss  auf  Ideen- 
association  und  Handein  58,  62;  auf 
die  Korpei-musculatur  62;  secundare 
Wabnvorstellungen  bei  D.  63;  Thranen- 
secretion  bei  D.  182;  Oligurie  182; 
Ausdrucksbewegungen  der  D.  141;  Vor- 
kommen  63. 

Ddsdquilibration  218,  219. 

Diabetes,  atiologische  Bedeutung  237. 

Diagnostik,  allgemeine  201  ff. 

Digitalis  341. 

Diplopie,  ballucinatoriscbe  21 ; neurastbe- 
niscbe  323 : paralytische  420. 

Dipsomanie  302,  310. 

Dissimulation  35,  118,  119,  129. 

Dissociation  s.  Incobarenz. 

Druckpunkte  11, 14, 180,  245,  282,318, 347. 

Duboisin  265,  295,  362. 

Dyspepsie,  iiervose  236,  322. 

Dystbymie  s.  Depression. 


Echokinese  165. 

Ecbolalie  166. 

Eifersucbtswahn  101,  124. 

Einfacbe  Psychosen,  Definition  272;  Be- 
sprechung  276  ff. 

Einfalle,  wahnbafte  112,  113,  72,  116,  118, 
131,  163,  385;  paradoxe  218.  . 

Einfallsbandlungen  163. 

Einpackung,  hydropathiscbe  262,  s.  auch 
Hydrotberapie. 

Eintheilung  der  Psychosen  272  ff. 

Elektriscbe  Erregbarkeit  bei  Lahmungen 
170,  422. 

Elektrotberapie  263,  333. 

Empfindung  3,  5 ; Eigenschaften  der  nor- 
malen  E.  7 ; Intensitatsstorungen  8,  9 ; 
allgemeine  Pathologie  der  Empfindung 
9 ff. ; inhaltlicbe  Storungeu  16;  Sto- 
rungen  des  Gefiiblstons  12;  Stbrungen 
bei  Manie  277;  bei  Melancbolie  298; 
bei  Stupiditat  336 ; bei  Neurastbenie 
317;  bei  Paranoia  342,  365,  374,  378; 
bei  angeborenem  Schwachsinn  399 ; bei 
Dementia  paralytica  417 ; bei  Dementia 
senilis  441. 


Emprosthotonus  90. 

Empyem,  flallucinationen  bei  36. 

Encephalitis  402. 

Entbindung,  Hallucinationen  bei  36. 

Entwicklungsbemmungen  191  ff.,  403. 

Enuresis  217,  s.  auch  Blaseninnervation. 

Ependym  440,  444,  450,  451. 

Epigastriscbe  Reflexe  175. 

Epilepsie,  Analgesie  14 ; Affecte242 ; Denk- 
hemmung 241;  Hallucinationen  21.  36, 
240  ff. ; Illusionen  38,  39,  43;  identi- 
ficirende  Erinnerungstauscbungen  82; 
ballucinatorischer  Stupor  91;  Tremor 
174;  Pupillen  176;  Sehnenphanomene 
177  ff. ; idiomusculare  Erregbarkeit  179; 
Albuminurie  183 ; A-cetonnrie  184;  Tem- 
peratur  188;  einzelne  epileptische  An- 
falle  171,  217,  405;  belastender  Einfluss 
ffer  — 214 ; atiologische  Bedeutung 
240  ff.,  454;  epileptische  Degeneration 
241 ; epileptische  Dammerzustande  242  ff., 
357  ff.,  376,  456;  Beziehung  zur  Idiotie 
401 ; zu  Dementia  paralytica  434. 

Epileptiforme  Anfalle  171;  bei  Dementia 
paralytica  431  ff. 

Erblicbe  Belastung,  Feststellung  206 ; atio- 
logische Bedeutung  211  ff. ; Formen  der 
erblichen  Belastung  212;  Hauptgesetze 
213;  Grade  214;  specieller  Einfluss  auf 
die  Psychose  des  Descendenten  215; 
gleicbartige  220. 

Erblicbe  Degeneration,  atiologische  Be- 
deutung 215,  454,  4.56;  Einfalle  bei  113 ; 
impulsive  Zwangsbandlungen  129:  be- 
lastender Einfluss  214:  erblicb  dege- 
nerative Modification  215  ff.,  der  Debi- 
litat  409;  Zeicben  der  — 217  ff. ; Ein- 
fluss auf  die  Prognose  251 ; progressive 
erblicbe  D.  219. 

Erbrechen  181,  189  ff.,  419. 

Ergotin  363,  439. 

Ergotismus,  atiologische  Bedeutung  230. 

Erinnerungsbild  s.  Vorstellung. 

Erinnerungsentstellungen  56,  114,  243. 

Erinnerungsballucinationen  116. 

Erinnerungstauscbungen  56,  114  ff.;  iden- 
tificirende  81;  affective  114;  im  Zu- 
sammenbang  mit  anderen  Wabnvorstel- 
lungen 115;  unvermittelte  115;  bei  De- 
mentia paralytica  416. 

Ermtidbarkeit  91,  169,  173,  228,  245,  317, 
323. 

Ernahrung  (tberapeutiscb)  259 ff'.,  296,  321. 

Erscbopfung,  atiologische  Bedeutung  247, 
454;  Erscbbpfiingspsycbosen  247;  Er- 
schbpfungsstadien  nach  schweren  Psy- 
cbosen  248 ; identificirende  Erinnerungs- 
tauscbungen bei  82;  Pupillen  176;  Tre- 
mor 174. 

Erscbopfungsdelirium  s.  Inanitionsdelirium. 

Erytbropsie  38. 

Euphorie  bei  Tuberkulosen  235 ; bei  Dem. 
paralytica  418,  429. 


Register. 


461 


Exaltation,  Einfluss  auf  Ideenassociation 
und  Handlungen  58,  (35,  147 ; primare 
64,  secundare  64,  Vorkommeii  65;  re- 
active 66;  Beziehung  zurldeenflucht88: 
Ausdnicksbewegungen  144. 

1*  acialislahmiingen  bei  functionellen  Psy- 
cboseu  169,  and  Salivation  181 ; bei 
Alkobolismus  223 ; bei  Morpbinisnius  228 ; 
senile  232 ; bei  Dementia  paralytica  420, 
433,  bei  Dementia  senilis  444. 

Farbenbegriffe  51,  404. 

Fasciculare  Labmimg  168,  170. 

Fechnersebe  Formel  9. 

Fernwirkungen  167. 

Fieber.  llallucinationen  bei  36;  iitiolo- 
gisclie  Bedeutung  454;  Fieberdelirien 
233  If.;  siehe  auch  Temperatur. 

Flechsig'scbe  Behandlung  450. 

Flexibilitas  cerea  90,  150,  151,  153. 

Flimmerskotom  181. 

Folie  a deux  250. 

Folie  a double  forme  396. 

Folie  communiquee  250. 

Folie  de  doute  126. 

Folie  intermittente  216. 

Forensisebe  Beziebungen  144,  146,  147, 
158,  159,  162,  163,  164,  138,  140,  141, 
118,  67,  69,  70,  129,  221,  218,  281, 
302,  345,  355,  358,  368,  382,  400,  405, 
408,  400  ff..  427,  442,  447,  449,  456. 

Fragesuebt  126. 

Funkenseben  412. 

Fussklonus  178,  425,  432. 

Gang  bei  Beschleunigung  der  motoriseben 
Actionen  146 ; bei  motoriseber  Inco- 
barenz  l55;  bei  Grossenwabn  158;  Sto- 
rungbei  bypoebondriseben  Vorstellungen 
160;  Coordinationsstorung  173;  Stoning 
durcb  Tremor  174 ; verspatetes  Ler- 
nen  217 ; bei  Alkobolismus  223 ; bei 
Hirntumor  239 ; bei  Manie  281 ; bei  De- 
mentia paralytica  422,  424. 

Ganglienzellenveranderungen  440,  444, 
451. 

Gaumenbildung,  Storungen  der  192. 

Gaumeninnervation  421. 

Gaumenreflex  176. 

Gedacbtnisspriifung  203. 

Gedaebtnissstdrungen  53,  54  If.,  135,  223, 
232,  414,  441,  445,  447,  449. 

Gedankenlautwerden  306. 

Gefiiblstdne , der  normalen  Empfindung 
7,  56;  Abbangigkeit  von  der  Empfin- 
dungsintensitat  13,  Irradiation  16,  57; 
Reflexion  16, 58 ; qualitative  Versebieden- 
beit  58;  Einfluss  auf  die  Ideenassocia- 
tion 77,  78;  auf  die  Aufmerksamkeit  83; 
Storungen  der  sensoriellen  G.  12;  Std- 
rungen  der  intellectuellen  56,  289; 


etbisebe  G.  59;  Defect  der  etbiseben 
Gefublstdne  69,  219,  223,  228,  242,  252, 
407,  410,  417,  442,  447 ; Einfluss  des 
Defects  der  etbiseben  Gefiiblstdne  auf 
das  tlandeln  140,  219,426;  bebepbrene 
Veranderung  der  G.  231;  Veranderung 
der  G.  bei  cerebraler  Erscbdpfung  247 ; 
bei  llysterie  243,  bei  Idiotie  40ft;  bei 
Manie  16,  276:  bei  Melancbolie  16,  297; 
pathologiscbe  Reflexion  und  Irradiation 
74,  123. 

Gcfublsvermdgen  5. 

Gebirnerweiebung  440  Anm. 

Gebirntumor  445  Anm.;  llallucinationen 
bei  17,  239;  Denkbemmung  75,  239; 
Erbrecheii  189. 

Gebdrsballucinationen  21,  24,  25.  26,  27, 

30,  31,  37,  373. 

Gebdrsillusionen  38. 

Gelbseben  38. 

Gelenkrbeumatismus,  atiologiscbe  Bedeu- 
tung 233. 

Gemeingefahrlicbkeit  254. 

Gemisebte  Psyeboseu  275. 

Genitalien,  Bildungsanomalien  192. 
Genitalerkrankungen , weiblicbe  , atiolo- 
giscbe Bedeutung  237,  328,  372. 
Geograpbisebe  Verbreitung  der  Psyebosen 

209,  436. 

Gerucbsballucinationen  22,  30,  41,  239. 
Gerucbsillusionen  39,  41. 

Gescblecbt,  Einfluss  auf  die  Morbiditat 

210,  213  unten. 

Geschmackshallucinationen  22.  30,  40. 
181. 

Gescbmacksillusionen  39,  40. 
Gesicbtsausdruck  bei  motoriseber  Hem- 
mung  90,  149;  paramimiscber;,G.  96, 
352,  155,  231 ; der  Depression'141 ; der 
Angst  143;  der  Heiterkeit  144;  des 
Zorns  144;  der  Apatbie  145  ; der  Labi- 
litat  145 ; bei  motoriseber  Incobarenz 
155;  bei  Grossenwabn  158;  bei  Ver- 
siindigungswabn  158  Anm.;  bei  Trin- 
kern  223;  bei  Stupiditat  338;'J'bei  iu- 
cobarenter  Paranoia  353;  gesteigerte 
Beweglicbkeit  des  G.  146,  siebe  aucb 
unter  Grimassiren. 

Gesicbtsfeldeinengung,  concentrisebe  bei 
Hysterie  10;  bei  Morpbinismus  228- 
bei  Alkobolismus  356.  ’ 

Gesicbtsballucinationen  21,  24  25  30 

31,  37.  . . , , 

Gesicbtsillusionen  37  ff. 

Gestikulation,  Storungen  der  86,  143  144 

146,  149. 

Gleicbzeitigkeitsassociation.  Princio  der 
75,  99. 

Gliazellen  440. 

Globus  hystericus  190. 

Glykosurie  184,  419. 

Gonorrboe  235. 

Gottnomenclatur  105,  242. 


462 


Register. 


Gouvernantcnwahnsinn  249. 

Graviditat,  atiologische  Bedeutung  210, 
307,  340,  391,  454. 

Graviditiitsgeliiste  12. 

Grimassiren  127,  146,  155,  156,  165,  231. 
Grdssenwahn  104  II.  119;  atfectiver  G. 
65,  104;  scliwachsinniger  G.  105;  Ein- 
fluss  auf  die  Handlungen  158 ; bei  Manie 
279 ; bei  Paranoia  simplex  chronica  381 ; 
bei  Dementia  paralytica  416. 
Griibelsucbt  126,  389. 

Gurtelgefiibl  443. 

Gynakologische  Behandlung  237,  373. 


Haarwuchs,  Anomalie  des  192. 

Hamatom  der  Dura  mater  440. 

Hamopbilie,  bei  Morphinismus  227. 

Hasslicbkeitswabn  106. 

Haufigkeit  der  Psychosen  208  ff. 

Hallucinationen,  Definition  17 ; Qualitat 
20;  haptische  22,  26,  30;  der  Organ- 
empfindungen  23, 108, 358,  371 ; optische 
21,  24,  25,  30  31;  acustische  21,  24, 
25,  26,  27,  30,  31 ; des  Geruchs  22,  30, 
239;  des  Geschmacks  22  30;  der  Be- 
wegungsempfindungen  23,  30,  31,  372; 
zusammengesetzte  23 ; Gefiihlston  der 
H.  24;  Localisation  24;  unilaterale  33, 
433;  Entstehungsbedingungen  25;  func- 
tionelle  25  ; •willktirliche  26 ; vermittelte 
(begleitende)  27 ; im vermittelte  27 ; Sug- 
gerirbarkeit  28;  Einfluss  auf  die  Auf- 
merksamkeit  84;  auf  die  Ideenassocia- 
tion  28,  87 ; auf  das  Handeln  30,  137, 
147,  151, 156;  Verhaltniss  zuden  Wahn- 
vorstellungen  28,  30,  101,  108.  116;  pir 
Incoharenz  97;  fascinirende  31,  90;  im- 
perative 31,  91 ; hypnagogiscbe  36,  317 ; 
Tbeorie  der  H.  31;  Diagnose  34;  Vor- 
kommen  35;  bei  Commotio  cerebri  221 ; 
bei  Bleivergifturtg  225 ; bei  Alkoholisten 
224,  355,  372 ; bei  Dementia  paralytica 
417,  433 ; bei  Dementia  senilis  441 ; bei 
Manie  277 : bei  Melancholie  298,  306; 
bei  Morphinismus  228,  229;  bei  Epi- 
lepsie  241  ff.,  357  ff. ; bei  Hysterie  21, 
36,  358,  371;  bei  Paranoia  342  ff. ; bei 
Zwangsvorstellungen  123;  bei  Neuras- 
thenie  317 ; bei  Hereditariern  217 ; bei 
Schwachsinn  412 ; bei  transitorischem 
Irresein  455. 

Handlungen  2,  5 ; Storungen  des  Handelns 
136  ff.;  bei  Manie  280;  bei  Melancholie 
300;  bei  Irresein  durch  Zwangsvorstel- 
lungen 389 ; bei  Stupiditat  337 ; bei  an- 
geborenem  Schwachsinn  400,  405,  408 ; 
bei  Dementia  paralytica  426  ff. ; bei  De- 
mentia senilis  442;  bei  Paranoia  345, 
367,  379;  bei  Irresein  durch  Zwangs- 
vorstellungen 389 ; Beeinflussung  durch 
Hallucinationen  30,  137,  147,  151,  156, 
367;  durch  Affecte  58,  65,  139  ff.,  147, 


152,  1.57;  impulsive  221,  242,  118,  129, 
163;  Beeinflussung  durch  Wahnvor- 
stcllungen  177  ff.,  157  ff. ; Beeinflussung 
durch  Zwangsvorstellungen  126,  164; 
durch  Storungen  der  Ideenassociation 
145  ff. ; Beschleunigung  145  ff. ; Ver- 
langsamung  148  ff. ; Incoharenz  154  ff.; 
Defecthandlungen  138,  166. 

Hautreflexe  175  ff.,  324,  389,  425,  432, 
443;  Beziehung  zu  Hyperasthesie  11; 
bei  Alkoholisten  223 ; bei  Dementia  pa- 
ralytica 425,  432. 

Hebephrene  Modification  231. 

Heilung  mit  Defect  252,  286,  304,  348. 

Heimweh  249,  259,  307. 

Heitere  Verstimmung,  s.  Exaltation. 

Heiterkeit,  krankhafte,  s.  Exaltation. 

Hemianasthesie,  hysterische  10,  bei  com- 
plicirter  Augenmigrane  181,  bei  Demen- 
tia paralytica  433,  440  Anm. 

Hemianopsie,  hysterische  10;  choreatische 
10;  paralytische  432,  437 ; Erkennung 
177. 

Hemmung,  motorische  148  ff.,  182;  durch 
Affecte  58,  62,139,  152;  in  Verbindung 
mit  Denkhemmung  89,  94.  139;  kata- 
tonische  89,  90,  93,  149;  primare  mo- 
torische Hemmung  151,  secundare  151; 
Unterscheidung  der  primaren  und  se- 
‘cundaren  152;  hallucinatorische  151. 

Herderkrankungen  des  Gehirns,  Beziehung 
zu  Psychosen  54,  238 ; Convulsioneu  bei 
H.  171;  Sehnenphanomene  178;  Schmer- 
zen  180;  Urinsecretion  183;  infantile 
219  Anm.;  multiple  239,  401  ff. ; Be- 
ziehung zu  Dementia  senilis  443 ; secun- 
dare Demenz  nach  - 444  ff. 

Hernien  192. 

Herzinnervation , s.  vasomotorische  Sto- 
rungen und  Pulsstorungen. 

Herzkrankheiten,  atiologische  Bedeutung 
236,  443,  456. 

Hesitation  422. 

Hexen  23,  209. 

Hippus  176. 

Hirngewicht  403,  440,  450. 

Historische  Entwicklung  der  Psychosen 


209,  436. 

Hydrocephalus  403,  440,  444,  450,  451. 
Hydrotherapie  261  ff.,  311  ff,  333,  341, 
363,  364,  439,  452. 

Hyoscin,  therapeutische  Anwendung  264, 
265,  295,  296,  312,  362,  363,  398,  439, 
448. 


oscinpsychosen  229. 

pasthesien  9,  228,  356. 

palgesien  14,  220,  228,  337,  339,  447, 

442,  436,  356. 

peraesthesia  retinae  11. 

perasthesien  11,  220,  223,  317. 

fperalgesien  13,  220,  317. 

fperchlorhydrie  182. 

'perhedonie  15. 


Register. 


463 


Hypermnesie  279. 

Hyperosniie  11,  317. 

Hyperprosexie  84,  86,  278. 

Hyperthymic,  s.  Exaltation. 

Hypliedonie  15. 

Hypnose  268,  364. 

Hypochlorhydrie  182,  227,  419. 

Hypocbondrie  330. 

Hypochondrische  Wahnvorstellungen  106, 
in,  113,  116,  120,  180;  affective  63, 
106;  Einfluss  auf  die  Handlungen  17, 
159,  170;  Ki’ampfbewegungen  bei  h.  W. 
161;  Sprachstorung  173,  161. 

Hypomaiiie  284,  292. 

Hypomelancholie  305,  310. 

Hypsophobie  123. 

Hysterie,  atiologische  Bedeutung  243  ff., 
245 , 454 ; hysteriscbe  Psycbosen  244 ; 
hysterische  psychische  Degeneration 
243  ff,  245  Anm. ; hysterischer  Dam- 
merzustand  358,  456 ; hysteriscbe  Me- 
lancholic 306 ; hysterische  Paranoia  hal- 
lucinatoria  chronica  371;  hyst.  Paranoia 
simplex  chronica  385;  traumatische 
Hysterie  221 ; alkoholistische  223 ; Blei- 
hysterie  226;  Quecksilberhysterie  226; 
Morphiumhysterie  228 ; belastender  Ein- 
fiuss  214,  erbliche  Belastung  bei  H.  216; 
Affecte  bei  H.  243;  Stimmungslabilitat 
72;  Launenhaftigkeit  73;  Handlungen 
244;  Hypasthesien  9,  10;  Hyperasthesien 
11;  Hypalgesien  14;  Hyperalgesien  14; 
Paralgesien  und  Parhedonien  12;  Hal- 
lucinationen  21,  36,  358;  Illnsionen  43; 
Einfalle  72;  hallucinatorischer  Stupor 
91;  Erinnerungsentstellungen  114;  Con- 
tracturen  172.  Erbrechen  190;  Krampf- 
anfalle  162,  243;  Lahmungen  161,  170; 
Migranel81;  Parasthesien  179 ; Pupillen 
176;  Reflexe  175  ff. ; Sehstdrung  10,  243; 
Sehnenphanomene  178 ; Temperatur  188 ; 
Tremor  174;  Urinsecretion  183;  Re- 
tentio  urinae  191;  Urindrang  191; 
Differentialdiagnose  gegeniiber  Neuras- 
thenie  331. 


Jackson’sche  Epilepsie  401,  446. 

Jactation  96,  156,  171;  Anm.  282,  346, 
353. 

Ideenassociation,  Definition  3,  5,  74,  Re- 
einflussung  durchHallucinationen28;  all- 
gemeiner  Gang  44 ; Beeinflussung  durch 
Affecte  58,  78;  Gesetze  75;  Geschwin- 
digkeit  78;  Storuiigen  74  ff;  Einthei- 
lung  der  Storungen  78;  allgemeine 
Associationsstbrungen  85  ff. ; Beschleu- 
nigung  85;  Verlangsamung  89 ; Stbrun- 
gen  des  Zusammenhangs  95;  specielle 
Storungen  99  ff. ; bei  Morphinismus  227, 
228;  bei  Paranoia  365,  378,  370,  374, 
343,  349  ff. ; bei  epileptischen  Dammer- 
zustanden  357 ; bei  Irresein  durch 


Zwangsvorstellungen  389;  bei  Manie 
278;  bei  Melancholic  298;  bei  Neur- 
asthenic 319;  bei  Stupor  336;  bei  Im- 
becillitat  404;  bei  Dementia  paralytica 
415;  bei  Dementia  senilis  441. 

Ideenflucht,  Wesen  und  Definition  85  ff'. ; 
Eintheilung  87  ; secondare , hallucina- 
torische  129,  87 ; secundare,  affective 
65;  Einfluss  auf  die  Aufmerksamkeit 
84;  Beziehung  zur  Exaltation  88;  Be- 
ziehung  zur  Incoharenz  97 ; bei  Manie 
278;  bei  Neurasthenic  88,  318;  bei  Pa- 
ranoia 350. 

Ideenfliichtigkeit  85. 

Idiomusculare  Erregbarkeit  178,  179. 

Idiotie , klinische  Darstellung  399  ff. ; 
Symptome  399;  Aetiologie  401 ; The- 
rapie  403;  Diagnose  406;  pathologische 
Anatomic  403;  Defect  der  Vorstellungs- 
bildung  51;  Zahneknirschen  171;  Phan- 
tasiemangel  218. 

Jendrassik’scher  Kunstgriff  178. 

Illusionare  Auslegung  41,  103*)  als  Ur- 
sache  von  Personenverwechslung  bO. 

Hlusionen,  Definition  17,  37  ff. ; Ent- 
stehungsbedingungen  39;  unvermittelte 
40,  116;  vermittelte  40,  116;  Theorie 
40;  Diagnose  40;  Vorkommen  42;  als 
Ursache  von  Personenverwechslung  80. 

Imbecillitat , klinische  Darstellung  404; 
Symptome  404;  Verlauf  und  Prognose 
406;  Aetiologie  406;  Diagnose  406,  409; 
Therapie  406;  pathologische  Anatomic 
406 ; Defect  e der  Vorstellungsbildung  51. 

Imitation  249. 

Impotenz  191,  228. 

Impulsive  Handlungen,  Unterscheidung 
von  Zwangshandlungen  392;  bei  De- 
mentia secundaria  446;  bei  Hysterie 
244;  bei  transitorischem  Irresein  456. 

Inanition,  Hallucinationen  bei  36;  Manie 
bei  290. 

Inanitionsdelirien  233  ff. 

Incoharenz,  Wesen  95;  secundare,  halhi- 
cinatorische  29,  97 ; secundare  ideen- 
fliichtige  65,  87,  97,  278;  secundare 
affective  98;  bei  Zornafl'ecten  67,  Ein- 
fluss auf  das  Wiedererkennen  79  ff. ; 
Ursache  von  Personenverwechslung  81; 
Einfluss  auf  die  Aufmerksamkeit  84; 
bei  Intelligenzdefect  98,  133;  incoha- 
rente  Einfalle  113  ; Unterscheidung  von 
Intelligenzdefect  98,  135;  motorische 
146,  136,  154  ff'.,  171  Anm.;  Tempe- 
ratur bei  motorischer  Incoharenz  mit 
Agitation  188;  bei  Commotio  cerebri 
221;  bei  Morphinisten  228;  senile  232; 
bei  Paranoia  352,  bei  Dementia  para- 
lytica 416. 


*)  S.  35  ist  falschlich  illusionare 
Auslegung  statt  wahnhafte  Auslegung  ge- 
druckt. 


464 


Register. 


Incontinentia  vesicae  et  alvi  191  401 

425.  ’ ’ 

Incubus  23. 

Inclucirtes  Irresein  250. 

Infection,  psycbische  249  fF. 
Infectionskrankbeitcn,  acute,  Sensibilitats- 
storungen  10;  atiologische  Recleutung 
233  ff. 


Insolation  221,  289,  456. 

Intellectuelle  Psychosen,  Definition  273- 
klinische  Darstellung  335  ff.  ’ 

Intelligenzdefect,  Wesen  132;  Beziehung 
zur  Stimniungslabilitat  72;  nach  Denk- 
hemraung  92 ; Unterscheidung  von  Denk- 
hemmung  93,  135;  Incoharenz  des  In- 
telligenzdefect 98,  133,  135;  Unter- 
scheidung von  primarer  Incoharenz  98; 
nach  primarer  Incoharenz  99;  patho- 
logisch  - anatomische  Grundlage  134- 
Einfiuss  auf  das  Handeln  152,  138,  157 ; 
secundarer  199,  200;  bei  Alkoholisten 
223 ff.;  bei  Traumatikern  221 ; bei  Here- 
ditariern  218  ff.;  bei  Bleivergiftung  225; 
bei  Ergotismus  230,  bei  multiplen  Herd- 
erkrankungen  239  ff.;  bei  Dementia 
epileptica  449 ; bei  Dementia  paralytica 
416;  bei  Dementia  senilis  441;  bei  se- 
cundarer Demenz  447. 

Intelligenzpriifung  203,  204. 

Intensitat  der  normalen  Empfindung  7 ; 
Einfiuss  auf  die  Aufmerksamkeit  82. 

Intentionspsychosen  73,  123,  160. 

Intentionszittern  174,  228,  422,  423. 

Intermissionen  198. 

Intoxicationen,  Hallucinationen  bei  acuten 
36;  Tremor  174;  Migrane  181;  atio- 
logische Bedeutung  222  ff. ; Alkoholis- 
mus  222  ff. ; Metalle  225  ff. ; Alkaloide 
226  ff'. 

Iris  192. 

Irradiation  der  Gefiihlstdne  16 ; s.  Gefuhls- 
tdne. 

Irrthum  99  ff , 118,  119. 

Isolirung  258,  295. 

Isolirzimmer  258. 

luvenile  Psychosen,  Sensibilitatsstdrungen 
11,  14;  Zahneknirschen  172;  Salivation 
181,  435. 


Kohlenoxydvergiftung  226. 

Kdrpergewicht  184  ff'. 

Korpcrliche  Krankheiten,  atiologische  Be- 
deutung 233  ff. ; acute  233  ff. ; chroni- 
sche  234  ft. ; Krankheiten  des  Nerven- 
systems  238  ff. 

Kopfdruck  317,  323. 

Kopfgalvanisation  263. 

Kopfleere  95,  204. 

Kopfsausen  317. 

Kopfschmerzen  180  ff.,  228,  425,  426. 

Kopfverletzungen,  atiologische  Bedeutung 
221,  290,  402,  435,  451  Anm.,  454. 

Koprolalie  127,  165. 

Koprophagie  158,  408. 

Krampfbewegungen  170  ff.,  223,  225 ; hy- 
pochondrische  161. 

Krankheitsbewusstsein  8,  117,  120,  130 
137,  164,  165,  369,  279. 

Krankheitswahn  106;  s.  hypochondrische 
Wahnideen. 


Ijabilitat  der  Stimmung  71  ff.  243;  Ein- 
fluss  auf  das  Handeln  141 ; Ausdrucks- 
bewegungen  145  ; bei  Hereditariern  218, 
bei  Dementia  paralytica  418;  bei  De- 
mentia secundaria  445. 

Lachweinen  145,  231. 

Lactation , atiologische  Bedeutung  210, 
307,  328,  340,  454. 

Lahmungen  168  ff. ; bei  Bleivergiftung  225 ; 
bei  Alkoholismus  223;  bei  Morphinismus 
227;  bei  Dementia  paralytica  420 ff.; 
im  paralytischen  Anfall  430  ff. ; hypo- 
chondrische 117,  160;  hysterische  161; 
auf  Grund  von  Zwangsvorstellungen  128. 

Launenhaftigkeit  73,  243;  Einfiuss  auf 
das  Handeln  141. 

Lautwerden  der  Gedanken  27. 

Leptomeningitis,  chronische  440. 

Lesestdrungen  425. 

Localisationsfehler  fiir  Beriihrungen  223. 

Logorrhoe  65,  86,  87,  144,  146,  280. 

Lugenhaftigkeit  70,  114,  216,  224,  228, 
244,  408. 

Lust  und  Unlust  5. 


Kalteempfindungen,  subjective  228. 
Kampf  urn’s  Dasein , atiologische  Bedeu- 
tung 209. 

Katalepsie  154,  372. 

Katatonie  398. 

Katatonische  Bewegungen  31,  149,  151; 
Spannung  62,  143,  149.  152,  153,  182, 
346;  Hemmung  89,  90,  93. 
Kleinheitswahn  106. 

Klimakterium.  atiologische  Bedeutung  210, 
372,  391,  397,  454. 

Kniephanomene  177  ff.,  425. 
Kochsalzinfusionen  296. 


Mageninnervation  189  ff.,  227,  321,  419. 
Magenkatarrhe  bei  Psychosen  188,  189, 
321,  atiologische  Bedeutung  236,  328. 
Magensaftsecretion  182. 

Maisvergiftung  230. 

Makrocephalie  403. 

Makropsie  38. 

Maladie  des  tics  127,  165. 

Malaria  198,  233,  456. 

Maniakalische  Exaltation  284,  292. 

Manie,  klinische  Darstellung  276  ft’,  Sym- 
ptomatologie  276  ff. ; Verlauf  283  ff. ; 
Therapie  294 ; Prognose  285 ; patho- 
logische  Anatomie  296 ; hallucinatori- 


Register. 


465 


sche  Form  278,  287;  rasonnirende  Form 
282;  periodische  287,  288  ff.,  294;  tran- 
sitorische  287 , 455 ; chronische  287, 
288;  Mania  levis  284;  Mania  gravis 
284 ; Aetiologie  289  ff. ; Alkoholmanie 
290;  erbliche  Belastung  216;  Diagnose 
290,  375;  Hyperasthesien  im  Prodro- 
malstadium  11,  Veranderung  der  Ge- 
fiihlstone  16;  Personenverwechslungen 
81 ; Temperatiir  188 ; ZahneknirscEen 
171. 

Massage  260,  261,  313,  332,  363. 

Mastication  181 ; s.  auch  Zahneknirschen 

Masturbation  140,  158,  191,  231,  247, 
270,  271,  281,  299,  302,  307.  327,  340, 
372, 386,391,  400, 408,  417,  428, 448, 449. 

Medicamente  263  ff 

Melancbolie,  klinische  Darstellung  297  ff. ; 
Symptomatologie  297  ff. ; Varietaten 
305;  Verlauf  302;  Ausgange  und  Pro- 
gnose 303;  Aetiologie  306;  Diagnose 
307 ; Therapie  310 ; pathologiscbe  Ana- 
tomie  314;  apathische  Form  298;  agi- 
tirte  301 ; bypochondrische  299,  305, 
325,  328;  periodische  301,  306;  chro- 
niscbe  304;  hallucinatorische  305,  tran- 
sitorische  306,  310,  455;  M.  passiva  300, 
attonita  300;  postneurasthenische  M. 
395 ; Blutzusammensetzuug  184 ; Gefass- 
innervation  186;  Menstruation  190;  Ob- 
stipation 190;  Speichelsecretion  182; 
Thranensecretion  182;  Urin  184;  erb- 
liche Belastung  bei  M.  216. 

Melancholische  Verstimmung  305,  310. 

Meningitis,  atiologische  Bedeutung  402. 

Menstruationsstbrungen  190;  Beziehungen 
der  Menstruation  zum  periodischen  Irre- 
sein  198;  zur  Manie  290;  bei  Stupidi- 
tat  338;  bei  Dementia  paralytica  419. 

Merycismus  189. 

Metallgifte  225  ff. 

Metamorphopsie  38. 

Meteorismus  190. 

Migrane  180,  190,  217,  228,  456. 

Mikrocephalie  402. 

Mikropsie  38. 

Minderwerthigkeit,  psychopathische  219. 

Mitbewegungen  175,  401. 

Moralisches  Irresein  70,  219,  294,  411 
Anm. 

Morbiditat,  psychische  208  ff. 

Morbus  Basedowii  174. 

Morphinismus  226  ff. ; Tremor  174,  227 ; 
Pupillen  176,  227;  Menses  191;  Pro- 
gnose 251;  Behandlung  452. 

Morphium,  therapeutische  Anwendung  264, 
265,  312,  439. 

Morphiumpsychosen,  acute  229. 

Mortalitat  252. 

Motilitatsstbrungen  168  ff. ; Lahmungen 
168  ff. ; Reizerscheinungen  170  ff. ; Stb- 
rungen  im  Ablauf  der  willkurlichen  Be- 
wegungen  172  ff. 

Ziehen,  Psycbiatrie. 


Muskelatrophie,  progressive  177 ; bei  Lah- 
mungen 170. 

Mutismus  89,  150 ; des  Zorns  141 ; der 
Angst  143;  hypochondrischer  160. 
Mydriasis  176,  227. 

Mysophobie  125,  388,  394. 

Myxoedem  401. 


Nachahmung  165  ff.,  405,  407. 

Nachstadien  196. 

Nachwirkungserscheinungen  424  Anm. 

Nahrungsverweigerung,  s.  Abstinenz. 

Nephritis,  atiologische  Bedeutung  236. 

Nervositat  s.  Neurasthenic. 

Neuralgic  180;  Beziehung  zu  Halluci- 
nationen  25;  bei  Trinkern  223';  Ur- 
sache  von  Morphinismus  226;  bei  Mor- 
phinismus 228 ; bei  Dementia  paralytica 
425;  Behandlung  263. 

Neurasthenic,  klinische  Besprechung  314  ff. 
Symptomatologie  315  ff. ; hypochondri- 
sche  Form  319 ; vasomotorische  322:';  dys- 
peptische  322;  Verlauf  324;  Ausgange 
324;  chronische  N.  324;  Varietaten 
325;  locale  327;  traumatische  221,  327; 
Diagnose  328,  436;  Therapie  332;'  pa- 
thologische  Anatomic  334;  Beziehung 
zu  Psychosen  244  ff. ; Beziehung  zum 
transitorischen  Irresein  456;  Hyper- 
asthesie  11;  Hyperalgesie  14;  secundare 
Stimmungslabilitat  72;  Stbrung  der  Auf- 
merksamkeit  85;  Ideenflucht  88 ; Denk- 
hemmung  91,  hypochondrische  'Vorstel- 
lungen  108;  Parasthesien  108, 117,  179; 
Zwangsdenken  121;  Tic  convulsif  172; 
Sehnenphanomene  178;  Topalgien  180; 
Pulsfrequenz  185 ; Darminnervation  189 ; 
Urindrang  191. 

Neuritis  multiplex,  Sensibilitatsstbrungen 
10, 223, 225 ff'. ; Lahmungen  168;  Sehnen- 
phanomene 177;  Parasthesien  179;  Be- 
ziehung zu  Psychosen  238 ; bei  Demen- 
tia paralytica  440;  bei  Dementia  se- 
nilis 442;  bei  Syphilis  cerebri  446. 

Neuritis  optica  223,  225. 

Neuropathische  Constitution,  erblich  de- 
generative 219 ; traumatische  221,  alko- 
holistische  223  ff. ; saturnine  225 ; mor- 
phinistische  228;  bei  Herderkrankungen 
des  Gehirns  240;  Beziehung  zur  Neur- 
asthenic 246,  325. 

Nicotianamissbrauch,  atiologische  Bedeu- 
tung 174,  229,  391,  435,  456. 

Nucleare  Lahmung  168,  170. 

Nystagmus  174,  193,  401,  420,  431. 


Obsession  par  un  mot  (Onomatomanie) 
121,  128. 

Obstipation  188,  190,  225,  227,  302;  Be- 
handlung 260,  311. 


30 


466 


Register. 


Ohr,  Bildungsanomalien  192. 

Ohrensausen  u.  s.  w.  17,  21,  179,  223. 

225,  228,  229,  317,  355,  442. 

Oligurie  182. 

Opisthotonus  90. 

Opiophagie  227. 

Opium,  therapeutische  Anwendung  263  ff., 
266,  270,  295,  312,  313.  333,  362,  364 
396,  398,  439,  444  450. 

Opticiisatrophie  10,  230,  399,  425. 
Organemphndungen,  hallucinatorische  23, 
108,  401;  illusionare  39,  40,  41,  108. 
Othsematom  420. 

Ovarie  11. 

Oxyakoia  11. 


Palpebralreflex  175,  339. 

Papille  des  Sehnerven  192,  223,  425. 

Paragraphie  155. 

Paraldehyd  444. 

Paralysis  agitans  174. 

Paralysis  progrediens,  siehe  Dementia  pa- 
ralytica. 

Paramimie  96,  155,  231,  352. 

Paranoia,  Stellung  im  System  273;  Ein- 
theilung  341. 

Paranoia  hallucinatoria  acuta ; klinische 
Darstellung  342  ff ; Symptomatologie 
342;  Verlauf  347;  Ausgange  und  Pi’o- 
gnose  348 ; Varietaten  349 ; ideenfliichtige 
Form  350;  stuporose  Form  351;  circu- 
lare  Form  351;  incoharente  Form  352; 
exaltirte  Form  350;  depressive  Form 
350;  alkoholistische  Form  354;  epi- 
leptische  Form  242  ff , 357 ; hysterische 
Form  244,  358;  periodische  Form  359; 
transitorische  Form  455;  Diagnose  360. 
372,  375;  Differentialdiagnose  gegen- 
iiber  Manie  293 ; gegentiber  Melan- 
cholie  308;  Therapie  362;  pathologische 
Anatomie  365;  Hyperasthesien  im  Pro- 
dromalstadium  11;  Zahneknirschen  171; 
Speichelsecretion  181,  182;  Puls  186; 
Temperatur  188;  Labilitat  derStimmung 
72 ; bei  fieberhaften  Erkrankungen  233 ; 
bei  Nephritis  236;  bei  Chorea  247. 

Paranoia  hallucinatoria  subacuta  371. 

Paranoia  hallucinatoria  chronica  349, 
365  ff.;  Symptomatologie  365;  Verlauf 
368;  Ausgang  und  Prognose  370;  Va- 
rietaten 371;  hysterische  Form  371; 
alkoholistische  372;  Diagnose  372,  386; 
Aetiologie  372;  Therapie  373;  patho- 
logische Anatomie  374. 

Paranoia  simplex  acuta  374  ff. ; Sympto- 
matologie und  Verlauf  374;  Ausgang 
375;  Diagnose  375;  Aetiologie,  Thera- 
pie, pathologische  Anatomie  376;  erb- 
liche  Belastung  216;  secundare  Stim- 
mungslabilitat  72;  transitorische  Form 
458. 


Paranoia  simplex  chronica,  Definition  376; 
klinische  Darstellung  376  ff'. ; Sympto- 
matologie 376  ff.;  Verlauf  .379;  Aus- 
gange und  Prognose  383;  Varietaten 
383;  hypocbondrische  Form  384,  325; 
originare  Form  384.  216;  hysterische 
Form  385;  Aetiologie  385;  Therapie 
386 ; Diagnose  386 ; Differentialdiagnose 
gegentiber  Neurasthenie  329;  patho- 
logische Anatomie  387. 

Paranoia  secundaria  hallucinatoria  395; 
nach  Manie  286;  nach  Melancholic  305 ; 
nach  Stupiditat  339. 

Paranoia  secundaria  simplex,  postneur- 
asthenische  hypocbondrische  Form 
395 ; postmelancholische  hypocbondrische 
Form  396. 

Paraphasie,  transcorticale  80,  155  ff. ; sen- 
sorische  414;  motorische  bei  Dem.  pa- 
ral.  437;  bei  Dementia  senilis  442. 

Parapraxie  95,  155. 

Paukenhohlencatarrh  368,  372,  442. 

Pavor  nocturnus  218. 

Periodiscber  Verlauf  197,  219,  233. 

Periodisches  Irresein  197,  216,  359,  287  ff., 
294,  301,  306,  455. 

Personenverwechslung  80  ff.,  95,  358. 

Phantasie  217,  218,  244,  404. 

Pbimose  192. 

Plantarreflex  175,  339. 

Plattfuss  192. 

Platzangst  124,  128. 

Pneumonic,  atiologische  Bedeutung  233. 

Polydactylie  192. 

Polymorpher  periodiscber  Verlauf  198, 

359,  455. 

Polymorpher  recidivirender  Verlauf  455. 

Polymorphes  Irresein  198,  216. 

Polymorphismus  der  Vererbung  220. 

Porencephalie  403. 

Primarsymptome,  Definition  193  ff. 

Prodromalstadien  196. 

Prognose  195,  196. 

Pseudoflexibilitas  cerea  150,  153. 

Pseudoparaphasie  95,  80,  96,  353. 

Pseudostupor  91,  151. 

Ptosis,  scheinbare  145. 

Pubertat , atiologische  Bedeutung  210, 

360,  391,  397,  454;  bei  erblich  Be- 
lasteten  217,  218;  verspatetes  Ein- 
treten  401. 

Puerperium,  atiologische  Bedeutung  210, 
307,  328,  340,  360,  454. 

Pulsstdrungen  185  ff. 

Pupille  im  Schlaf  und  im  apathischen 
Scheinschlaf  145;  Reflexe  176  ff.,  223; 
Verbildung  192;  bei  Idiotic  401;  bei 
Morphinismus  227 ; bei  Neurasthenie 
323;  bei  Stupiditat  338;  bei  Dementia 
paralytica  420 ; diagnostische  Bedeutung 
bei  Dementia  senilis  443. 


Register. 


467 


Qualitat  der  normalen  Empfindung  7, 
Stdrungen  der  Qn.  der  Empfindung 
16  fi: 

Qnecksilbcrvergiftung , chronische  226 ; 
Tremor  174. 

Querulantenwahn  219 ; Querulantenirre- 
sein  383. 


Rachitis  192,  400,  435. 

Rasonnirender  Charakter  282,  289,  306. 

Raumliche  Eigenschaften  der  Empfin- 
dung 7. 

Raptus  melancholicus  306,  310,  455. 

Rathlosigkeit  149,  155,  336. 

Rauschzustande,  pathologische  222. 

Reactive  Aflectstdrungen  196,  285,  303. 

Rechnen  404,  407,  414,  203,  415,  449. 

Rechthaberei  100,  383. 

Recidive  bei  Morphinismus  229 ; bei  Manie 
287;  bei  Paranoia  348  Anm. 

Recidivirender  Verlauf  197,  455. 

Reflexe,  Definition  1. 

Reflexion  der  Gefiihlstone  16. 

Reimende  Association  87,  144. 

Reizbarkeit,  krankhafte  66  ff.,  315  S'. ; 
Vorkommen  68,  240;  Einfluss  aiif  das 
Handeln  141;  bei  Epilepsie  242;  bei 
Alkobolismus  224;  bei  Dementia  secun- 
daria 445. 

Reizhdhe  8. 

Reizsch Welle  8;  Herabsetzung  der  R.  bei 
Neurasthenie  11. 

Reminiscenzenflucbt  88,  319. 

Remittirender  Verlauf  198,  370. 

Resolution  62,  89,  90,  93,  141,  145,  148, 
149,  151,  152,  153. 

Respiration  bei  Zorn  67;  bei  Angst  61, 
143. 

Retrospective  Auslegung  112,  385. 

Rheumatiscbe  Scbadlicbkeiten  435. 

Rhinhamatom  420. 

Rbotacismus  405. 

Ribot’scbes  Gesetz  55,  135. 

Rinde,  Sitz  des  psycbopbysiscben  Pro- 
cesses 5;  pathologische  Anatomie  440, 
444,  446,  450,  451. 

Rindenconvulsionen  170,  171. 

RombergschesSchwanken  223,  228 ; schein- 
bares  155,  356,  442. 

Rothsehen  38. 

Ruckenmark,  Erkranknng  bei  Dementia 
paralytica  440,  413,  424 ; s.  aucb  Tabo- 
paralyse. 

Rumination  189. 


Salivation,  s.  Speichelsecretion. 
Salzsauresecretion  182,  227,  302,  419. 
Sammeltrieb  429,  448. 

Santoninrausch  38. 

Schadelbildung  192,  201  Anm.,  402  fip. 


Schema,  allgemeines  des  psychophysischen 
Processes  4,  der  kdrperlichen  Unter- 
suchung  201  flf. ; der  psychischen  Unter- 
suchung  202  if. ; der  Anamnese  206  If. 

SCblaf,  apathischer  Scheinschlaf  145 ; Untei> 
scheidung  von  Resolution  153;  hysteri- 
scher  153;  epileptischer  153;  willkiir- 
licher  Scheinschlaf  153 ; Schlafstdrungen 
191,  225,  227,  228, 283, 302,  333, 426,  427. 

Schlingkrampfe  190. 

Schlundsondenfiitterung  260. 

Schmerzen,  spontane  180  if.,  228. 

Schrecken  307,  251. 

Schreiberscher  Kunstgriff  178. 

Schreibstorungen  424;  bei  Incoharenz  97. 

Schiittelkrampfe,  hypochondrische  161. 

Schwachsinn,  angeborener  273,  399  ff. ; apa- 
thischer und  agitirter  405,  447 ; erbliche 
Belastung  216  flf.;  Difl'erentialdiagnose 
gegeniiber  Stupiditat  340;  Hypalgesie 
14;  Hypochlorhydrie  182;  Erbrechen 
189;  Aprosexie  84;  Hyperprosexie  85; 
Erinnerungsentstelliingen  114;  Frage- 
suchtl26;  Nacbahmungstrieb  166;  De- 
fect der  Vorstellungsbildung  51 ; Defect 
der  ethischen  Gefiihlstdne  69,  140. 

Schwachsinn,  erworbener  413  ff. ; Defect 
der  ethischen  Gefiihlstone  70,  140 ; Dr- 
theilsschwache  133;  vergleiche  auch  De- 
mentia paralytica.  Dementia  secun- 
daria u.  s.  w. 

Schwangerschaftswahn  107,  190,  385. 

Schwebehaltung  des  Kopfes  90. 

Schwefelkohlenstoffvergiftung  226. 

Scbweisssecretion  283,  356. 

Schwerbesinnlichkeit  93,  221,  239,  241, 
247,  445. 

Schwindel  220,  225,  232,  318,  436,  445. 

Secundare  Sinnesempfindungen  17,  18  if., 
217. 

Secundarsymptome,  Definition  193  ff. 

Seelenblindheit  53,  414,  425. 

Seelengefiihllosigkeit  53. 

Seelentaubheit  53. 

Seelenvermogen  5. 

Sehnenphanomene  177  ff. ; bei  Contracturen 
172 ; bei  Lahmungen  170 ; bei  Alkoholis- 
mus  223;  bei  Dementia  paralytica  425; 
bei  Dementia  senilis  443;  bei  Idiotie 
401;  im  paralytischen  Anfall  432;  bei 
multipler  Sclerose  178. 

Sehstdrungen  10,  425. 

Selbstbewusstsein  96. 

Selbstmord  140,  144,  152,  158,  159,  162, 
164,  218,  233,  301,  305;  Vorbeugung 
240,  268,  311. 

Senium,  atiologische  Bedeutung210,  231  ff., 
305,  307,  360,  443 ; S.  pracox  454,  438, 
443;  physiologische  psychische  Veran- 
derung  im  S.  71,  232;  Tremor  174. 

Sensibilitatsstorungen  10,  179  ff. ; bei 
Lahmungen  170;  bei  Dementia  para- 
lytica 424;  im  paralytischen  Anfall  432. 

30* 


468 


Register. 


Sexualgefiihl,  contrares  12,  57;  Herab- 
setzung  15,  228;  Steigerung  15;  Hal- 
lucinationen  23,  107  ; Illusionen  39, 238 ; 
Storungen  bei  erworbenem  Schwachsinn 
70 ; bei  Hysterie  243 ; bei  Neurasthenie 
3M;  bei  Dementia  paralytica  417;  bei 
Dementia  senilis  44^ 

Sexuelle  Excesse,  atiologische'Bedeutung 
210,  247,  s.  auch  Masturbation. 

Sigmatismus  405. 

Simulation  331,  328. 

Sinnestauscbungen  18. 

Sklerose,  multiple,  Sensibilitatsstorungen 
10 ; Tremor  174;  Sebnenphanomene  178 ; 
Intelligenz  239. 

Sklerose,  secundare  134,  240,  402,  403. 

Skotome  228. 

Sodomie  401. 

Somatiscbe  Symptome  166  ff.,  346,  400, 
405,  408,  442,  282,  302,  321,  338. 

Sopor  175,  177,  339. 

Speichelsecretion  181,  283,  302,  419. 

Spbygmographiscbe  Untersuchung  185  ff. 

Spiel  der  Motive,  Definition  3. 

Spinalirritation  11,  318. 

Spinnenzellen  440. 

Sprachstorungen  173  ff. ; bei  traumatischem 
Irresein  221 ; bei  alkoholistiscber  Manie 
293  Anm.;  bei  Dementia  paralytica 
423  ff. ; bei  Dementia  epileptica  449; 
bei  Idiotie  401,  405,  406,  vergleicbe 
auch  Aphasie  und  Anarthrie. 

Sprechbewegungen,  Antheil  an  den  con- 
creten  Begriffen,  46 ; Bedeutung  fiir 
die  zusammengesetzten  Begriffe  49,  s. 
auch  Articulationsstorungen. 

Sprechenlernen,  verspatetes  217,  405. 

Sprechweise  bei  Zorn  67,  141,  144;  bei 
Denkhemmung  89;  bei  Incoharenz  96, 
173,  353;  bei  Exaltation  144;  bei  Angst 
143 ; bei  Depression  142 ; bei  Grbssen- 
wahn  158 ; bei  hypochondrischen  Vor- 
stellungen  160;  des  Alkoholisten  224; 
hebephrene  281 ; bei  Epilepsie  241, 
243 ; bei  Manie  280 ; bei  Stupiditat  338 ; 
bei  Paranoia  352. 

Stammeln  193.  401,  405. 

Stenocardie  62,  229. 

Stereotype  Bewegungen  89,  31,  149,  151. 

Stil  bei  Grossenwahn  119,  158 ; bei  Inco- 
harenz 353. 

Stimmung,  Definition  [58,  vgl.  Gefiihlstbne 
und  Affecte. 

Stottern  175. 

Strabismus  193. 

Stupiditat,  klinische  Darstellung  335 ; 
Symptoruatologie  335;  Verlauf  339; 
Ausgange7i|und  Prognose  339;  Varie- 
taten  339';  Aetiologie  340;  Diagnose 
340 ; Therapie  341 ; pathologische  Ana- 
tomic 341 ; Differentialdiagnose  gegen- 
iiber  Melancholie  309;  Denkhemmung 
bei  St.  92,  335  ff. ; nach  Typhus  u.  s.  w. 


233;  postmanische  und  postmelancho- 
lische  St.  395. 

Stupor,  Definition  90,  149;  primarer  91; 
secundarer  (hallucinatorischer , wahn- 
hafter)  29,  90.  151,  152,  193,  motorischer 
137,  139,  149  ff, ; apathischer  140 ; Re- 
flexe  im  St.  175  ft‘. ; Oligurie  182 ; Tem- 
peratur  187 ; Pulsverlangsamung  185. 

Suggestion  268. 

Sulfonal  265,  295,  334. 

Sympathicus,  s.  vasomotorische  Storungen, 
Darminnervation  u.  s.  w. 

Syndactylie  192. 

Syphilidophobie  107,  120. 

Syphilis,  atiologische  Bedeutung  209, 234  ff,, 
328, 435, 454 ; hereditare  235,  400,  435. 

Syphilis  des  Gehirns,  klinische  Darstellung 
445 ; Forme  cdphalalgique  438 ; Differen- 
tialdiagnose gegeniiber  Dementia  para- 
lytica 437;  Sensibilitatsstorungen  10; 
Sebnenphanomene'  177;  Pupillen  176; 
Polyurie  182,  183;  Glycosurie  184; 
Schadelbildung  192;  Therapie  439. 


Ti  abes,  Verhaltniss  zur  Dementia  para- 
lytica 238;  Sensibilitatsstorungen  10, 
14;  Pupillen  176;  Sebnenphanomene 
177;  Parasthesien  179 ; Schmerzen  180; 
Bradycardie  185  Anm.;  Impotenz  191. 

Taboparalyse  185,  422,  424,  425,  434. 

Tachycardie  185,  322. 

Temperaturveranderungen  156,  187  ff. ; 
bei  Dementia  paralytica  418,  432;  bei 
Manie  283;  bei  incoharenter  Paranoia 
352. 

Therapie,  allgemeine  253  ff.,  specielle  294, 
310,  332,  341,  362,  373,  376,  386,  393, 
398,  403,  406,  413,  439,  444,  448,  450, 
452. 

Thranensecretion  142,  144,  182. 

Tic  convulsif  172. 

Tobsucht  65,  146;  bei  Zorn  67,  144;  bei 
Dementia  paralytica  427,  bei  Paranoia 
simplex  acuta  374,  bei  chronischer  hal- 
lucinatorischer Paranoia  367 ; bei  Epi- 
lepsie 358;  Temperatur  bei  drohendem 
Collaps  187 ; bei  Manie  282 ; bei  acuter 
hallucinatorischer  Paranoia  345;  in  der 
Morphiumentziehung  229;  Behandlung 
269  ff. 

Topalgien  327,  180,  317;  Behandlung  263. 

Traume  355,  404,  103,  217,  321.  347. 

Transitorische  Geistesstorungen  180,  199, 
287,  310,  348,  455. 

Traumatisches  Irresein  220  ff. ; trauma- 
tische  Neurose  327. 

Traurigkeit,  krankhafte,  s.  Depression. 

Tremor  174  ff. ; Intentionstremor  174, 
202;  statischer  174,  202;  bei  Alkoho- 
listen 223;  bei  Stupiditat  339,  bei  Neur- 
asthenie 323;  bei  Bleivergiftung  225; 
bei  Quecksilbervergiftung  226,  bei  Mor- 


Register. 


469 


phinismus  228  ; bei  Ergotismus  230 ; bei 
Zwangsvorstellungen  390. 

Tribadie  449,  405. 

Trional  265,  295,  334. 

Trismus,  scheinbarer  90,  144,  150. 

Trophische  Storungen  184  tf.,  227, 401,  420. 

Tuberkulose,  Flalluciiiationen  bei  36 ; atio- 
logische  Bedeutung  235;  bei  Geistes- 
kranken  235  Anm. 

Typhus,  atiologische  Bedeutung  233,  328, 
402. 


Ueberburdung  209,  247,  326,  340,  391, 
435. 

Unorientirtheit  80,  94,  156  Anm.,  221, 
225,  232,  242,  336,  354,  355,  416,  446, 
456. 

Unreinlichkeit  449,  150,  270,  446,  448. 

Unschltissigkeit  149. 

Dntersuchungsmetboden,  s.  Diagnostik. 

Urinretention  188,  191. 

Urinsecretion  182  ff,  419. 

Urobilin urie  182,  184,  419. 

Urtheilsassociation  78,  94,  98;  inhaltliche 
Storungen  99  ff.;  Defect  132  ff.,  166; 
Verlangsamung  223  (s.  auch  Denkhem- 
mung). 

Urtheilsschwache  132  ff. ; Incoharenz  bei 
133 ; pathologisch  - anatomische  Grund- 
lage  134;  Verlaufl34;  Erkennung  135 ; 
bei  Dem.  paral.  415;  bei  Dem.  senil.  441, 
bei  Hirnsyphilis  445  ff. ; bei  Dem.  sec. 
447. 

Dterusatrophie  191. 


Vagabondage  146,  144,  155,  218,  221, 
289,  306,  320,  405,  408. 

Vaginalsecretion  191. 

Vaginismus  191. 

Valleix’scher  Punkt  11. 

Vasomotorische  Storungen  185  ff. ; bei  der 
Angst  61,  62;  bei  Zorn  67 ; bei  Atremie 
159;  bei  Manie  283;  bei  Melancholie 
302;  bei  Neurasthenie  322;  bei  Stupi- 
ditat  338;  bei  Paranoia  347;  bei  Mi- 
grane  180,  217 ; bei  Morphinismus  227 ; 
bei  Raptus  melancholicus  306;  bei  Neur- 
asthenie 322 ; bei  Dementia  paralytica 
419;  im  paralytischen  Anfall  430,  455, 
456. 

Verarmungswahn  109;  affectiver  63;  Ein- 
fluss  auf  die  Handlungen  159;  bei  Me- 
lancholie 299 ; bei  Dementia  senilis 
441;  bei  Dementia  paralytica  416. 

Verbigeration  87,  97,  156,  278,  351,  448. 

Verbrecher  410  ff. 

Verfolgungswahn  109  ff.,  119,  225;  Ein- 
fluss  auf  die  Handlungen  162 ; affectiver 
63;  bei  Paranoia  spl.  chron.  379  ff.; 
bei  Melancholie  299;  bei  Dementia  para- 
lytica 416. 


Vergessen  53. 

Verkennung,  s.  Personenverwechslung. 

Verlauf  der  Psychosen  193  ff. ; Ueber- 
sicht  nach  dem  Verlauf  455  ff. 

Verneinungswahn,  allgemeiner  111. 

Verriicktheit  s.  Paranoia. 

Versundigungswahn,  affectiver  63,  106; 
Einfluss  auf  die  Handlungen  159;  bei 
Melancholie  299 ; bei  Paranoia  377  ; bei 
Dementia  paralytica  416. 

Verwirrtheit  97,  155;  s.  Incoharenz. 

Vesania  typica  198. 

Visionen  s.  Gesichtstauschungen. 

Vollsinnig,  Definition  113  Anm. 

Vorstellung  3,  5;  Normale  Reproduction 
44 ; Zusammengesetzte  V.  45  ff. ; Eigen- 
schaften  50;  Storungen  der  Vorstellungs- 
bildung  51  ff. ; Defect  der  Vorstellungs- 
bildung  51  ff,  132,  399,  404,  407; 
Bildung  falscher  V.  52;  Verlust  von 
Vorstellungen  52  ff.,  79,  81,  132;  Ver- 
lust von  Vorstellungsreihen  55;  Fal- 
schung  von  Vorstellungen  56 ; mangel- 
hafte  Aufnahme  55;  Hemmung  von  V. 
bei  Stupiditat  336. 

Vorurtheil  100. 


Wahnhafte  Auslegung  34,  35,  40  ff. 

Wahnhandlungen  157  ff. 

Wahnsinn,  hallucinatorischer  342  Anm. 

"Wafinvorstellungen,  99  ff. ; primare  101, 
109, 195 ; secundare  hallucinatorische  30, 
102 ; secundare  der  Depression  und  Angst 
63,  103;  secundare  der  Exaltation  64, 
103,  117;  complementare  102,  109,  112 ; 
affective  103,  195;  contrastirende  106; 
megalomanische  104  ff. ; mikromanische 
106  ff. ; Entstehung  101  ff. ; Diagnose 
118,  130;  Unterschied  vom  Irrthum  101; 
Entstehung  aus  Traumen  103 ; Fixirung, 
Systematisirung  112,  199;  Einfluss  auf 
die  Aufmerksamkeit  84 ; auf  die  Ideen- 
association  87 ; auf  die  Empfindungen 
116;  auf  Bewegungen  und  Handlungen 
117,  152,  156,  157  ff. ; Beziehung  zur 
Incoharenz  97 ; als  Drsache  von  Stupor 
91;  als  Ursache  von  Pseudodemenz  71; 
von  Personenverwechslung  81 ; bei  Com- 
motionsirresein  221;  bei  Alkoholismus 
224;  bei  Paranoia  simplex  chron.  377; 
bei  Paranoia  hallucinatoria  acuta  343; 
bei  Paranoia  hallucin.  chron.  366,  369; 
bei  Paranoia  simplex  acuta  374;  bei 
Dementia  paralytica  416 ; bei  Dementia 
senilis  441;  bei  Dementia  secundaria 
447 ; bei  Manie  279 ; bei  Melancholie 
299 ; bei  Neurasthenie  320.  Vergl.  ausser- 
dem  Verfolgungswahn,  Verarmungswahn 
u.  8.  w. 

Weiner lichkeit  240,  277. 

Westphal’sches  Zeichen  177,  230,  436. 


470 


Register. 


Wiedererkennen,  Definition  75,  Storungen 
79  ff. 

Wiederkauen  189. 

Willenshandlung  2. 

Willensvermogen  5,  136. 

Wirbelsaule,  Verbiegungen  der  192. 
Wortbesessenheit  121. 

Worttaubheit  53. 


Zahneknirschen  156,  171,  282,  354,  429. 

Zablbegrifie  51,  52. 

Zahnbildung,  Anomalien  192. 

Zangengeburt  192. 

Zelle  258. 

Zornaffecte  bei  Exaltation  65,  277;  bei 
krankliafter  Reizbarkeit  66;  korper- 
liche  Begleiterscheinungen  67 ; Einfluss 
auf  Ideenassociation  und  Handlungen 
67, 141, 147, 154;  Ausdrucksbewegungen 
des  Zorns  144;  Zittern  174;  bei  Here- 
ditariern  218 ; bei  Epileptikern  242, 449 ; 
bei  Chorea  247. 

Zungenlahmung  201  Anm.,  223,  421. 

Zusammengesetzte  Psychosen,  Definition 
272;  klinische  Darstellung  395  fif. 

Zustande,  psychopathische  193  ff.,  196. 


Zwangsbewegungen,  hallucinatorisQbe  31; 
isolirte,  nicht  - hallucinatorische  165; 
imitatorische  166. 

Zwangsdenken  121,  131,  319. 

Zwangshandlung  112, 127ff.,  129, 164ff.,  390. 

Zwangsjacke  270. 

Zwangssprecben , hallucinatorisches  31  ; 
als  Zwangsvorstellung  127. 

Zwangsstellungen,  hallucinatorische  31. 

Zwangsvorstellungen,  Wesen.  101,  120  ff.; 
einzelne  121;  in  Urtheilsform  121  ff.; 
Entstehung  122;  Inhalt  125  ff. ; in 
Frageform  125;  Beziehung  zu  Angst- 
affecten  122,  123;  Einfluss  auf  die  Hand- 
lungen 126  ff. ; auf  die  glatte  Muskuiatur 
128,  181;  als  Ursache  von  Pseudodemenz 
71;  Vorkommen  129;  Diagnose  129, 
392;  bei  Dementia  paralytica  393;  bei 
Melancholie  306 ; bei  Neurasthenie  320. 

Irresein  durch  Zwangsvorstellungen, 
klinische  Darstellung  387;  Symptomatolo- 
gie  388;  Verlauf  390;  Ausgange  und 
Prognose  391 ; Varietaten  391 ; Aetiologie 
391 ; Diagnose  392 ; Therapie  393 ; patho- 
logische  Anatomie  394 ; Differential- 
diagnose  gegeniiber  Neurasthenie  330; 
Beziehungen  zur  Neurasthenie  325,  326, 
391;  zur  erblichen  Belastung  216. 


Figurenerklarimg. 


Die  Figuren  1 — 10  stellen  die  charakteristischsten  Formen  des  Gesichts- 
ausdrucks  und  der  Korperhaltung  bei  psycbopathischen  Zustanden  dar,  so- 
weit  sie  auch  diagnostisch  verwerthbar  sind. 

Fig.  1 und  2.  Fine  45jahrige  Patientin,  welcbe  an  circularem  Irresein 
s.  str.  (melancholisch-maniakalisches  Irresein  S.  396)  leidet,  ist  links  in  der 
maniakalischen,  recbts  in  der  melancholischen  Phase  dargestellt.  Vergleiche 
hierzu  S.  141  und  144.  In  der  ersteren  liegt  der  reine  Ausdruck  der  primaren 
heiteren,  in  der  letzteren  der  reine  Ausdruck  der  primaren  traurigen  Ver- 
stimmung  vor. 

Fig.  3 stellt  die  primare  Angst  einer  Melancholic  mit  secundarem  Ver- 
armungs-  und  Versundigungswahn  dar.  Vgl.  S.  143.  Im  Augenblick  der 
Aufnahme  iiberwiegt  der  hemmende  Einfluss  der  Angst  auf  die  Bewegung. 

Fig.  4,  Einfache  katatonische  Spannung  einer  chronischen  hallucinato- 
rischen  Paranoia.  Die  motorische  Hemmung  ist  vorzugsweise  durch  Hallu- 
cinationen  bedingt,  also  secundar.  Vgl.  S.  150  und  152. 

Fig.  5.  Acute  hallucinatorische  Paranoia  mit  beangstigenden  und  z.  Th. 
fascinirenden  Hallucinationen.  Vgl.  S.  308. 

Fig.  6.  Dementia  paralytica  im  Exaltationsstadium.  Der  Kranke  ist 
ausgesprochen  heiter  verstimmt  und  wird  von  zahlreichen  Grossenideen 
(„Weltingenieur“  u.  s.  w.)  beherrscht.  Beides  spiegelt  sich  im  Gesichtsausdruck 
wieder.  Derselbe  erinnert  ebenso  wie  die  Haltung  an  Fig.  1,  doch  verrath 
die  Verstreichung  der  linken  Nasolabialfalte  (Mundfacialisparese),  dass  keine 
Manie,  sondern  Dementia  paralytica  vorliegt.  Vgl.  S.  292. 

Fig.  7.  Paranoia  simplex  chronica  mit  vereinzelten  Hallucinationen. 
Die  Wahnideen  sind  grosstentheils  erotischen  Inhalts.  Die  Kranke  glaubt 
Kaiserin  zu  sein  und  schmilckt  sich  fiir  den  Brautigam,  den  sie  erwartet 
(sog.  erotische  Form  der  chronischen  Verriicktheit).  Die  heitere  Verstim- 
mung  ist  secundar,  d.  h.  durch  Wahnvorstellungen  bedingt.  Vgl.  S.  383. 

Fig.  8.  Imbecillitat  mit  rechtsseitiger  cerebraler  Kinderlahmung.  Vgl. 
S.  401  und  404.  Die  Lahmung  ist  mit  Contractur*)  und  Atrophic  verkniipft. 
Letztere  betrifft  auch  das  Knochengeriist  (Hemiatrophie).  Der  Gesichtsaus- 
druck verrath  den  Intelligenzdefect. 


*)  Daher  erscheint  auch  die  rechte  gelahmte  Nasolabialfalte  eher  tiefer. 


Figurenerkl&rung. 


Fig.  9.  Stuporose  Form  der  aciiten  halliicinatorischen  Paranoia.  Neben 
Hallucinationen  und  Wahnvorstellungen  besteht  bier  eine  ausgepragt  primare 
Hemmung.  Die  Kranke  verharrt  oft  stundenlang  in  der  auf  der  Figur 
wiedergegebenen  Stellung.  Bis  uber  5 Minuten  blieb  oft  in  den  weit  auf- 
gerissenen  Augen  das  Blinzein  aus.  Hallucinationen  und  Wahnvorstellungen 
traten  zeitweise  ganz  zuriick  und  doch  bestand  die  dargestellte  motorische 
Hemmung.  Vgl.  S.  351. 

Fig.  10.  Recidivirende  Formj^der^acuten  Paranoia.  Auf  Grund  massen- 
hafter  Verfolgungsideen  besteht  ausgepragte  tobsiichtige  Erregung.  Der  Ge- 
sichtsausdruck  ist  der  typische  des  Zorns.  Vgl.  S.  144. 


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