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I
CAßL m umt
ALS AHZT
MD SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE MEDICINISCHE WISSENSCHAFT.
EIN BEITRAG ZUß GESCHICHTE DEE MEDICIN
VON
DR OTTO E. A. HJELT
PROFESSOR DER MEDICIN AN DER UNIVERSITÄT ZV
HELSIN6F0RS.
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1882.
Das Ueherselznngsrecld vorbe/iaÜeti,
In Ii alt.
I. Linne als Arzt und Lehrer. Seite
Beziehung Linne's zu Boerhaave 2
Medizinische Studien und Beschäftigungen in Holland 5
Linne's Praxis in Stockholm (i
Ruf nach Holland und Göttingen !)
Medizinische Vorlesungen Linne's zu Upsala 10
Seine Beziehung zu und Briefwechsel mit Sauvages 12
Das Verhältniss Linne's zu dem Collegium medicum 21
Medizinische Verhältnisse in Stockholm 22
n. Das medizinische System Linne's.
Allgemeine Betrachtungen 24
Das pathologische System Linne's und Genera Morborum .... 28
Seine Ansichten von den Gegensätzen in der Natur 34
Die Krankheitsursachen . '. . . . 39
Die Entstehung der ansteckenden Ki'ankheiten 41
Plethora und der Puls 43
Das Stillen und die Erblichkeit der Krankheiten 46
Das intermittente Fieber 47
Der Scorbut 52
Rachitis 53
Schwindsucht 54
Keuchhusten . 56
Gehimleiden 57
Die Kriebelkrankheit 57
Hautkrankheiten imd Krätze 59
Der Aussatz 60
Elephantiasis. Panaritium. Perniones 61
Die Verdienste Linne's um die Kenntniss der Droguon und die Pluir-
makologie 62
Sein Pharmakodynamisches System 71
Linne's Eintheilung der medizinischen Pflanzen mit Rücksicht auf
Geschmack und Geruch 73
— IV —
Seite
Materia medica 80
Pharmakologische Abhandlungen Linn^'s 82
Einzelne Arzneimittel 84
Vegetabilische Heilmittel gegen Syphilis 86
Die Lehre Linn6's von den Giften 88
Allgemeine therapeutische Ansichten 89
Linn^'s Verdienste um die allgemeine Gesundheitspflege .... 90
Clavis Medicinae 92
Collegium diaeteticum Linne's 95
Die physische Erziehung der Jugend 96
Aus dem Gebiete der öfifentlichen Gesundheitspflege 97
Als die Universität in Upsala im September 1877 ihr 400jäh-
riges Jubelfest feierte, veröffentlichte der Verfasser als Ausdruck
seiner Ehrerbietung vor dieser ältesten Hochschule des Nordens, der
Heilkunst und Naturforschung auch in Finnland so grossen Dank
schulden, die vorliegende Abhandlung Uber einen ihrer ausgezeich-
netsten Männer, Carl von Linne. Das Wohlwollen , womit diese
Schilderung der Thätigkeit Linne's als Arzt und seiner Bedeutung
flir die medizinische Wissenschaft in Schweden aufgenommen wurde,
hat den Verfasser bewogen, vielseitigen Aufforderungen zu ent-
sprechen und dieselbe, wenn auch etwas verkürzt, in deutscher
Sprache herauszugeben. Linne's Einfluss auf die Entwicklung der
Naturforschung ist von so durchgreifender Bedeutung gewesen, dass
sein Name für alle Zeiten mit der Geschichte der menschlichen Cultur
verwachsen bleibt. Aus diesem Gesichtspunkt ist zu hoffen, dass
auch ein grösserer Leserkreis Linne's Thätigkeit als Arzt und medi-
zinischer Schriftsteller gern kennen lernen werde. Die Forscher in
der Geschichte der Medizin haben sein Verdienst bisher fast gänzlich
Ubersehen, obgleich er auch auf diesem wie auf allen anderen Ge-
bieten der gesammten Naturwissenschaft seiner Zeit in vielfacher
Beziehung weit voraus war. Möchte dieser Beitrag zur Kenntniss
der medizinischen Wissenschaft im Norden wohlwollende Aufnahme
finden.
Es ist überflüssig , die Jugend Linne's zu schildern und zu er-
zählen, wie viele und schwere Entbehrungen seine Liebe für wissen-
schaftliche Forschung Uberwinden musste. Eine solche Schilderung
wäre zunächst Aufgabe der Geschichte der botanischen Wissen-
HJelt, hinni als Arzt, 1
2
Schaft. Wir erwähnen hier nur, dass Carl von Linne als Sohn eines
armen Greistlichen zu Räshult in Smäland am 13 Mai 1707 geboren
wurde und dass er erst an den Hochschulen zu Lund und Upsala
studirte, bis er nach damaliger Sitte sich im Jahre 1735 auf Reisen
begab, um an einer ausländischen Universität den Grad eines Doktors
der Medizin zu erlangen.
Als Heimat der medizinischen Wissenschaften stand damals
Holland vor anderen Ländern in hohem Ansehen. Besonders lockte
der weltberühmte Name Boerhaave Schaaren wissbegieriger Jüng-
linge aus allen Ländern Europas nach den Hörsälen Leydens. Das
Studium der Anatomie und der Botanik wurden mit Vorliebe ge-
trieben, aber auch die klinische Unterrichtsmethode war bereits früh
aus Italien nach Holland verpflanzt worden. Die reichen, Blumen
liebenden Holländer besassen prachtvolle Gärten , wohin aus ent-
fernten Weltgegenden Pflanzen gebracht wurden; dort war somit
eine seltene Gelegenheit zu Forschungen auf dem Gebiete der Bota-
nik geboten. Hierher lenkte der junge schwedische Gelehrte, dessen
Ruhm bald ganz Europa erfüllen sollte, seine Schritte. Nachdem er
die vorgeschriebenen Prüfungen bestanden und eine Abhandlung
„Hypothesis nova de febrium inter mittentium causa"
herausgegeben, erhielt Linnö in Harderwyk am 24 Juni 1735 den
Grad eines Doktors der Medizin. Das von seinem Promotor Johannes
de Gorter ausgefeiügte Doktordiplom enthält unter anderem die
Worte:
„Ut Omnibus constaret, me in viro docto et nunc Medicinae
Doctore, Carolo Linnaeo, Sueco, singularem, non solum in Omni-
bus Medicinae partibus , verum etiam in Botanica invenisse peri-
tiam et doctrinam, adeo ut inter praecipuos Medicinae Doctores sit
habendus, meum nomen cum felicitatis precatione in curandis
aegris apponere non dubitavi."
Die von Linne herausgegebene Abhandlung über eine neue
Theorie der Ursache der intermittenten Fieber ist die erste medi-
zinische Arbeit, die er herausgegeben hat. und in mehrfacher Be-
zieliuug bemcrkenswerth. Obgleich durch den Zwang der Umstände
im fremden Lande veröffentlicht, berührt sie doch viele einheimische
Verhältnisse und stützt sich auf Beobachtungen , die er bereits in
Schweden gemacht hatte. Auch ist sie ohne Zweifel zum grössten
Theil ausgearbeitet, beVor Linnö seine Reise antrat. Da diese Ab-
handlung sehr selten und im Allgemeinen wenig bekannt ist, dürfte
es für die Beurtheilung von Linne's wissenschaftlich-medizinischem
Standpunkt nicht ohne Interesse sein, später, wenn wir uns mit der
Darstellung seiner medizinischen Lehrsätze beschäftigen werden,
die wichtigsten darin ausgesprochenen Ansichten mitzutheilen , um
so mehr, da jene Arbeit einige Jahre später, als davon die Rede
war, Linne an der Universität zuUpsala anzustellen, plötzlich Gegen-
stand heftiger Angriffe ward.
Es ist allgemein bekannt, dass das eingehende Studium der
Botanik imd die rastlosen, grossartigen Arbeiten, in der gesammten
Naturgeschichte, welche Linne bereits in Schweden begonnen hatte,
ihn schnell zum ersten Vertreter dieser "Wissenschaft erhoben
Weniger bekannt dagegen ist, dass Linne zu einer Zeit , als er mit
der ganzen Lebhaftigkeit seines Geistes die Durchführung der gross-
artigsten Reformen in den verschiedenen Zweigen der Naturgeschichte
anstrebte , sich doch dem Studium der Medizin widmete und eine
jede Gelegenheit zur Ausbildung in dieser Wissenschaft mit Freuden
begTüsste. Er besuchte während seines dreijährigen Aufenthaltes
in Holland fleissig Boerhaave's sowohl öffentliche als private Vor-
lesungen, wohnte seinen Ronden im Krankenhause bei und beglei-
tete ihn auf seinen Krankenbesuchen. Während Linnö sich bei
Clifford in Hartecamp aufhielt, reiste er oft nach Leyden, um Boer-
haave zu hören und aus seinem lehrreichen Umgange und seiner
gi'ossen Erfahrung Nutzen zu ziehen. Boerhaave , dessen Freund-
'i ,,Ego infclix peregrinus omnia citissime corradere debeo, aliia ciiram
preli cominittere, hinc ut fit, non miriim." „Mea oninia opuscula sunt parva
et qiialia exsiiiis vel peregrinatoris esse solent, qui oninia sccuni portaro tlo-
bet. • Im Brief an A. von Haller vom 8. Oct. 1737 (bei Stoever).
]*
— 4 —
Schaft von Vielen gesucht ; von Wenigen aber erworben wurde, be-
gegnete seinerseits Linnö mit warmer Liebe und besonderem Ver-
trauen, ja zeichnete ihn vor Allen aus. In einem Briefe, den er
Linne mitgab, als dieser den berühmten Sloane in London besuchte,
schreibt Boerhaave :
„Linnaeus qui has tibi dabit litteras , est unice dignus te vi-
dere, unice dignus a te videri: qui vos videbit simul, videbit ho-
minum par, cui simile vix dabit orbis."
Es ist rührend zu lesen , was Linne selbst vom Abschiede bei
dem sterbenden Boerhaave erzählt, welcher sich seiner Kränklich-
keit und grossen Leiden halber den Empfang von Besuchen Fremder
längst hatte versagen müssen.
„Linnaeus war der einzige, welcher hineingelassen wurde, um
mit einem traurigen Vale die Hand seines grossen Lehrmeisters zu
küssen , als der schwache Greis noch so viel Kraft in seiner Hand
besass, dass er Linnaei Hand zu seinem Munde zurückführen konnte,
mit den Worten :
„Ich habe meine Zeit und meine Jahre gelebt und gewirkt, was
ich veimocht und gekonnt. Gott schütze Dich, dem dieses alles be-
vorsteht. Was die Welt von mir gefordert, hat sie erhalten, sie for-
dert aber weit mehr von Dir. Lebe wohl, mein geliebter Linnaeus" .
Der Einfluss , den Boerhaave auf Linne's medizinische wissen-
schaftliche Entwicklung ausübte, war nicht gering. Alle seine
Schriften enthalten mehr oder weniger Spuren desselben. Der natur-
wissenschaftliche Charakter, den die ärztliche Bildung Schwedens
im vorigen Jahrhundert erhielt, und welcher sie vor der Einseitigkeit,
deren die medizinische Wissenschaft in anderen Ländern sich später
schuldig machte, bewahrte, hat, wie wir später sehen \verden , zum
nicht geringen Theil seine Wurzel in den Lehren, welche Linnö wäh-
Eigenh. Aufzeichn. S. 31 (Schwed. Orig.-Ausg.) . ,.In Boerhaavio
amisi amicum integerrimuin, praeceptorem fidelissinium, proniotorein optimunv.
Im Brief an Sauvages vom 21. Jan. 1740, gedruckt in Lettres in^dites de
Linne ä Boiasier de la Croix de Sauvages. Alais 1860.
rend seiner Berührung mit ßoerhaave sich aneignete. Es war natür-
lich, dass ßoerhaave's mechanische Krankheitstheorie und seine
Heilmethode Linn6 interessiren mussten, denn seine umfassende
Kenntniss der Natur und sein scharfes Auge für die Erscheinungen
derselben Hessen ihn die nahe und innige Verbindung zwischen der
wissenschaftlichen Medizin und der exacten Naturforschung klar
einsehen.
Es gehört nicht hierher, die Arbeiten und sonstigen Erfolge
Linn6's in Holland zu schildern. Es liegt ausserhalb der Grenzen
dieser Abhandlung die Bedeutung zu untersuchen, welche sein
Aufenthalt in dem genannten Lande und die nahe Bekanntschaft,
die er dort, sowie in England und Frankreich mit Grelehrten, wie
einem Gronow, Burmann, vanRoyen, Dillenius, Ant. und Benih.
de Jussieu, Reaumur u. A., anknüpfte, auf seine künftige Thätigkeit
als Naturforscher ausübten. Solches muss Dem überlassen bleiben,
welcher künftig Linne's säculare Bedeutung für die Naturgeschichte
ihrem inneren Zusammenhange nach darstellen will. Wir wollen
hier nur einige Beiti'äge zur Kenntniss der Verdienste Linne's um
die ärztliche Wissenschaft zu liefern versuchen.
Als Linn6 im Herbst 1738 nach Schweden zurückkehrte, war
sein Name von den Gelehrten des Auslandes hoch geachtet. Das
Ansehen, welches der junge Naturforscher erworben und welches er
während seines ganzen Lebens sich erhielt, stand in voller Blüthe.
„lam tuum nomen", schreibt Sauvages , „per ora doctoruiu
nostratium frequens volitat ; undique Tua expetuntur et advocau-
tur scripta; ea, quicunque possidet, celat et sibi servat sedulo.
Candide dixerim , Tu in naturali Scientia verus es Carolus XII,
ut ipse Rex in militia, eo discrimine, quod totum orbem Botanicum
Tibi in aeternum subjicis". ^)
In seinem Vaterlande unbekannt und unbeachtet Hess sich
Linne in Stockholm nieder, in der Absicht, sich der praktischen
1) Im Brief an Linnt; vom 12. Aug. 1740 (bei Stoever).
— () —
Ausübung der Heilkunst zu widmen. Er selbst schreibt hierüber:
„Linuaeus beabsichtigte, sich hier als Doktor zu versorgen; da er
aber Allen unbekannt war, wagte es Niemand, sein kostbares Leben,
ja nicht einmal seinen Hund in die Hände dieses unbekannten Arztes
zu geben, so dass er oft an seinem Fortkommen im Lande zweifelte.
Er. der überall im Auslande als ein princeps Botanicorum geehrt ward,
war zu Hause als wie ein Klimius aus der Unterwelt gekommen, so
dass, wenn Liunaeus nicht verliebt gewesen wäre, er sich unfehlbar
von neuem ins Ausland begeben und Schweden verlassen hätte. Nach-
dem Linnaeus gesehen , dass er in keiner Weise eine praxis medica
erhalten konnte , begann er Speiseanstalten zu frequentiren , wo er
junge Cavaliere in castris Veneris blessirt abstemios sitzen sah,
wobei er ihnen räth, guten Muths zu sein und ein Maass Rheinwein
zu trinken, mit der Versicherung, er wolle sie binnen 14 Tagen cu-
riren; zwei endlich, die vergeblich medizinirt, wagten ihr Leben in
seiue Hände zu geben. Er heilte sie sofort und hatte binnen eines
Monates sehr viele junge Leute in Behandlung. In Folge dessen
stieg sein Ansehen, und während der damals herrschenden Pocken
und Wechselfieber hatte er bereits im März „die ansehnlichste prac-
tique erhalten", Diese Art von Krankenpflege scheint anfangs die
Hauptbeschäftigung Linne's und zugleich eine recht gewinnbringende
gewesen zu sein. Er erkundigt sich sogar bei ausländischen Aerzten
über die Behandlungsweise derartiger Krankheiten. Seinen Freund
Sauvages bittet er schriftlich um Rath wegen der Behandlung von
Gonorrhoe.
„Olim in Belgio morbum hunc centies debellavi: sed vix
amplius valeo. Audivi Monspelienses vestros in hujus cura ex-
cellere; pro amore tuo in me summo, doceas me hunc tollere mor-
bum, non generali theoria, sed formulis et medeudi methodo;
quod si feceris, mihi mille nummos aureos unico in anno dederis". "^l
1) Eigenh. Aufzeichn. S. 36, 37.
-) Im Brief an Sauvages vom 21. Jan. 1740. In einem späteren Briefe vom
20. Sept. dankt Linne für die Antwort.
In demselben Jahre 1739 ward Linu6 durch die Vermittelinig
des Grafen Carl Gustav Tessin zum Admiralitätsarzt in Stockholm
ernannt. Da das Krankenhaus der Marine täglich 100 bis 200
Kranke enthielt, hatte Linne die beste Gelegenheit, seine medizi-
nische Erfahrung zu erweitern, und beschäftigte sich namentlich,
wie er selbst erzählt , mit Untersuchungen Uber die Wirkungen ein-
facher Arzneimittel. Die solcherart erworbene Erfahrung war ihm
später, wie wir sehen werden, bei der Ausarbeitung seines phar-
mako-dynamischen Systems von grossem Nutzen, Auch die patho-
logische Anatomie war ein Gegenstand, dessen Bedeutung Linne
während der praktischen Ausübung der Arzneikunst einzusehen be-
gann, und dem er seine Aufmerksamkeit widmete. Er suchte und
erhielt die Erlaubniss, im Krankenhause Leichenöffnungen, die
früher nur in ausserordentlichen Fällen gestattet waren, vorzu-
nehmen.
„Tandem obtinui Privilegium dissecandi demortuorum cada-
vera in nosocomiis classis navalis, nec antea. Si per annum vixero,
responsum dabo ad causam proximam febrium nec prius ; ne hy-
potheses dabo ullas, sed veiitates aeternas".^)
Zu den Verdiensten Linne's um die Entwickelung der Arznei-
kunst in seinem Vaterlande gehört auch sein Bestreben, die wissen-
schaftliche Untersuchung der krankhaften Veränderungen im mensch-
lichen Körper nach dem Tode einzuführen. Von dieser Zeit au findet
man in den in Schweden herausgegebenen medizinischen Schriften
einen weit grösseren Reichthum an pathologisch-anatomischen Beo-
bachtungen und ein weit tieferes Verständniss für die Nothwendig-
keit, die Auffassung der Krankheitserscheinungen auf die Kenutniss
der pathologischen Vorgänge im Organismus zu gründen, als in der
an Umfang reicheren I^iteratur vieler anderer Länder. In den eige-
', ,.In specificis multuiii profeci per nosoconiia." Im Brief an Sauvages vom
21. Jan. 174(1.
2) Im Brief an Sauvages vom 21. Jan. 1740.
nen Schriften Linne's trifft man Beobachtungen von gTossem Inte-
resse, die er in Bezug hierauf gemacht hat.
Unter diesen Verhältnissen wuchs das Ansehen Linn6's als Arzt
von Tag zu Tag, und seine Praxis vergrösserte sich in demselben
Maasse. Die Umstände fügten es , dass er vorzugsweise mit denen
bekanntwurde, die der sogen. Hutpartei angehörten. In Folge dessen
nannte man ihn scherzweise den Archiater dieser Partei. Er selbst
erzählt, dass seine Praxis ebenso gross war, wie die aller übrigen
Aerzte zusammengenommen, und dass er damals in Stockholm 9000
Daler K. M. jährlich verdiente. ^) Dass Linne, so hoch er auch die
medizinische Wissenschaft stellte, doch nicht von seiner Thätigkeit als
praktischer Arzt befriedigt war, sondern gern damit aufgehört hätte,
geht aus vielen seiner Briefe hervor. Er fühlte sich unwiderstehlich
zu seiner Jugendliebe, der Botanik, hingezogen, die vor den so ganz
verschiedenartigen Berufsarbeiten des praktischen Arztes hatte zu-
rücktreten müssen.
„ Si Upsaliam pervenero, praxin medicam interdicam : solum
plantas tum tractabo" . 2)
Ja, viele Jahre später schreibt Linn6 noch :
„Aurea jjraxis medica multum valet, cumque duae habeutur
amicae, alterius vires subtrahit alter amor".^)
Tief und bitter schmerzte ihn diese Zersplitterung seiner Kräfte
und Neigungen , und liebliche Bilder schwebten seinem Auge vor,
wenn er der Tage gedachte, die er unter den duftenden Schätzen in
dem Garten seines Freundes Clifford zugebracht hatte. Er sehnte
sich zurück nach seinen wissenschaftlichen Beschäftigungen, und
der Gedanke, doch vielleicht eine Anstellung im fremden Laude
suchen zu müssen, begann festere Gestalt anzunehmen.
Bereits während seines Aufenthaltes in Holland war Linne
I) Eigenh. Aufzeichn. S. 39.
-j Im Brief an A. von Halier vom 15. Sept. 1739.
• 3) Im Brief an P. D. Giseke vom 20. Dec. 1774 (bei Stoever).
— 9 —
mehrfach aufgefordert worden, zu bleiben , und seine Freunde be-
nutzten jede Gelegenheit, ihn zu überreden, sich dort niederzulassen.
Das feuchte Klima Hollands sagte indessen seiner Gesundheit nicht
zu und hatte ihn schon mehrmals aufs Krankenlager geworfen, vor
allem aber zog ihn die Liebe zu seiner Braut mit unwiderstehlicher
Kraft ins Vaterland zurlick. Jetzt, wo die Aussichten auf eine selb-
ständige Thätigkeit und ein gutes Auskommen unsicher waren und
die Hoffnung, sich gänzlich wissenschaftlichen Forschungen widmen
zu können, mehr und mehr in die Ferne zu rücken schien, erwachte
von Neuem der Gedanke, sich in der Fremde niederzulassen. Linnö
schreibt darüber an A. von Haller :
,, Sin vero Botanices Professio Upsaliae mea non fiat , et me
tum 'post tres menses) vocares , accederem , si cum uxorcula da-
retur". ')
Haller scheint nämlich seine Professur nebst der Aufsicht über
den botanischen Garten in Göttingen Linne angeboten zu haben,
weil er an Heimweh litt. 2)
„Tu, a quo Flora sperat plura quam ab omni alio Botanico,
utere quaeso felicibus fatis et aliquando ad mitiora climata redi.
Si unquam me patria repetit — et spero repetituram — Te qui-
dem, si tunc placuerit conditio, destinavi Horti heredem et qualis-
cunque honoris , et eam in sententiam coram eis loquutus sum, in
quorum manibus sunt omnia." — „DeHorto eadem mihi sententia
est: ego quidem paucis annis hic (Goettingae) versabor, neque
unquam tradere potero digniori."
Glücklicherweise gingen diese Pläne nicht in Erfüllung, und
Schweden war es beschieden, einen der grössten Männer seiner Ge-
Hchiclite, seinen Linn6 zu behalten.
') In Brief an A. v. HaUer vom 12. Sept. 1739.
-j In Briefen an Linn6 vom 24. Nov. 17.38 und 12. Jan. 173t) (bei Stoever,
S. 108). In meinem Aufsatz „Carl von Linne in seinen Beziehuuf^en
zu Albrecht von Hall er" 'im Arch. f. Gesch. d. Med. III) findet man
näheren Aufschluss hierüber.
— ]() —
Nach dem Tode des Prof. Koberg zu Upsala wurde Liuu6 am
5 Mai 1741 zum Professor der theoretischen und praktischen Medi-
zin ernannt und begann im Herbst desselben Jahres seine Vor-
lesungen über das System der Krankheiten (historia morborum . , ein
Gegenstand , den er später oft behandelte . Im folgenden Jahre
fand jedoch, mit Genehmigung des Kanzlers der Universität , ein
Tausch der Lehrfächer mit dem damaligen zweiten Professor der
medizinischen Fakultät, Dr. Nils Rosen (später geadelt, Rosen von
Rosenstein) , statt. In Folge dieser Uebereinkunft übernahm Rosen
Anatomie, Physiologie, Aetiologie und pharmazeutische Chemie,
nebst der Aufsicht Uber das akademische Krankenhaus , wogegen
Linne Botanik, Materia medica, Semiotik, Diätetik und Natur-
geschichte vortragen und den botanischen Garten beaufsichtigen
sollte.
Obgleich Linne von dieser Zeit an sein Interesse hauptsächlich
der Naturgeschichte widmete, so war er doch , nicht allein in Folge
seiner früheren Thätigkeit und seiner Berufsgeschäfte, sondern auch
wegen der nahen Verbindung, in welcher die Botanik und die Heil-
kunde in damaliger Zeit zu einander standen, stets mit der Erörte-
rung und Bearbeitung medizinischer wissenschaftlicher Fragen be-
schäftigt. Nach damaliger Sitte, die Ergebnisse der Forschungen in
ölfentlichen Disputationen darzulegen, gab Linne eine grosse Menge
akademischer Abhandlungen heraus , und diese sind es hauptsäch-
lich , aus denen wir die Kenntniss seiner medizinischen Ansichten
und Lehren schöpfen können. Diese Abhandlungen entstanden ge-
wöhnlich in der Weise , dass er einen seiner Schüler, der eine Ab-
handlung zur Erlangung des Doktorgrades herauszugeben hatte,
einen Gegenstand, welcher in der Vorlesung beliandelt worden war,
näher ausarbeiten, die auf ihn bezügliche Literatur durchgehen und
der Darstellung die nöthige Form geben Hess. Viele solche Abhand-
') „Nunc totus 8um in historia niovboi'mn, quam publice doceo" im Brief
«an A. von Huller vom 10. April 1747.
— 11 —
lungeu tragen zwar den Namen der betreffenden jungen Verfasser,
sind aber grösstentheils aus der Feder Linne's hervorgegangen oder
bestehen aus Aufzeichnungen während seiner Vorträge. Sie sind die
wichtigste Quelle für das Studium der medizinischen schriftstelleri-
schen Thätigkeit Linne's und geben uns das sicherste Zeugniss seines
medizinischen Standpunktes. Von den verschiedenen medizinischen
Wissenscliaften waren es namentlich die systematische Krankheits-
lehre (Nosologie), die Pharmakodynamik und die Diätetik, welche
Linne interessirten und seine Thätigkeit als Lehrer und Verfasser
in Anspruch nahmen. Einen nicht geringen Theil des Jahres wid-
mete er dem Unterricht in den ihm obliegenden medizinischen
Fächern. Während Linne im Frühjahr imd Sommer Vorlesungen in
der Botanik hielt und seine fröhlichen Excursionen in die Um-
gebungen Upsalas unternahm , trug er im Herbst und Winter ge-
wöhnlich Diätetik, Nosologie und Materia medica vor. Seinen Ein-
fluss als Lehrer auf die Entwickelung und Förderung der ärztlichen
Bildung in Schweden kann man kaum hoch genug schätzen. Wir
werden weiterhin die sprechendsten Beweise finden für die ausser-
ordentliche, bisher fast übersehene Bedeutung , welche Linne auch
in dieser Hinsicht für sein Vaterland hatte.
Linne verstand es , ein zahlreiches und aufgewecktes Audito-
rium um sich zu versammeln. Seine Vorlesungen zeichneten sich
durch Klarheit und praktische Richtung aus. Gern und oft wandte
er die Lehren der medizinischen Wissenschaft auf die Verhältnisse
des täglichen Lebens an. Dadurch erregte er nicht nur bei den Stu-
denten der Medizin , sondern auch bei dem weiteren Publikum In-
teresse und Lust , seinen Vorlesungen beizuwohnen , und weder vor
noch nach seiner Zeit dürfte irgend ein Professor der Medizin in
Schweden einen so zahlreichen Zuhörerkreis wie Linne gehabt
haben. Besonders hoch geschätzt und berühmt waren seine Vorträge
Uber Diätetik oder, wie man sie jetzt nennen würde, spezielle Ge-
sundheitspflege. Er schreibt hierüber selbst im Jahre 1743 :
„Publice Diaeteticen doceo: nullus Professor Upsalieusis ä 60
— 12 —
annis plures auditores habuit, quam hodie ego. Demonstro Diae-
teticen solis observationibus. Si hoc aliquando juris publici facere
liceret, non dubito quin multis prodesset et arrideret." ')
Die Diätetik war übrigens ein Gegenstand , welcher Linn6 im
höchsten Grade interessirte^ und für dessen Bearbeitung er lange Zeit
hindurch Material sammelte. Er schreibt darüber an A. v. Haller:
„ Avidissime evolvo Tua commentariainBoerhaavium; quaeso
ne desistas nobis dare sequentes partes de diaeta; in his meae
deliciae ; in his plura collegi quam quod novi ullus alius ; et aug-
menta habebo ex Tuo libro in Boerhaavium."
„Quid in diaeteticis colligo, tandem videbis; in his per de-
cem annos laboravi."^) —
Unter den vielen Aerzten und Naturforschern seiner Zeit,
mit denen Linne in Avissenschaftlichem Briefwechsel stand, giebt
es keinen, zu welchem er grösseres Vertrauen und innigere Freund-
schaft hegte, als Boissier de la Croix de iSauvages, Professor
an der medizinischen Schule in Montpellier (geb. 12 Mai 1706,
gest. 19 Febr. 1767). Dreissig Jahre hindurch unterhielten diese
Männer, welche einander persönlich nie gekannt oder gesehen
hatten, einen lebhaften und fleissigen Austausch von Ideen und Er-
fahinngen. Für die Beurtheilung Linne's als Arzt und medizinischer
Schriftsteller giebt es keine ergiebigere Quelle, als diesen Brief-
wechsel mit Sauvages ; er gestattet uns, einen tiefen Einblick in diese
Seite seiner Thätigkeit zu werfen. In seinen Briefen spricht Linne
seine unbegrenzte Bewunderung der Verdienste Sauvages' um die
wissenschaftliche Medizin aus.
„Tu inter medicos solus es systematicus ; tu glaciem fregisti
solus , tu viam detexisti. Ego inter medicos infimi subsellii me
ipsum numero; non sufficimus onmibus. Tibi palmam dabunt
hodierui omnes medici, ut pace ipsius invidiae hoc dicam "■'').
1) Im Brief an Saiivages vom 3. April 1743.
2j In Briefen vom 29. Mai 1744 und 15. Sept. 174U :bei Stoever).
3) Im Brief vom 11. Nov. 1748.
— 13 —
8i verum est , uti in aeteruum verum erit , quod medicina innita-
tur duobus pedibus, cog-uitione morborum et medicameutonim : si
etiam verum est, quod ipsa iuvidia concedat, quod tu solus mor-
borum coguitiouem pi'imus denudasti , utique et tibi soli debetur
alterum fuiidamentum medicinae : si enim cogiiitio medicamento-
rum innitatur cognitioue plantarum , a qua prima et praestautis-
sima medicamiua desumuntur, et si tibi debeam ego et omnes
rariorum plantarum Grallicarum cognitionem, utiqne et in bis
magnus eris ! Sed nullus propbeta in patria. Felices agricolae,
bona si suanorint". ^) „Precor immense, mittas mibi Pathologiam;
tu mihi unicus auetor, quidquid alii contrarientur, sed homines
rüdes nesciunt quid sit methodus. Tu nnicus es mortalium, qui
viam aperuisti; negant eam ingredi caecae talpae".^]
Von dem Augenblick an, als Linne zum ersten Mal Sauvages'
Schrift erblickte, erfasste ihn eine tiefe, herzliche Freundschaft für
den Mann , bei welchem er dasselbe systematisireude Genie , den-
selben ordnenden Geist wie bei sich selbst wiederfand. Obgleich
er gerade damals rastlos und mit Hingebung an der Herausgabe der-
jenigen botanischen Schriften arbeitete, die seinen Ruf begründeten
und ihn plötzlich auf den Standpunkt erhoben , den er seitdem in
der Geschichte der Wissenschaft eingenommen ; so war doch seine
Liebe zur Heilkunst gross genug, um alle literarischen Erscheinungen
auf deren Gebiet freudig zu begrüssen. Die Arbeiten von Sauvages
besonders erregten Linne' s Aufmerksamkeit und Bewunderung in
so hohem Grade, dass er sofort arii 20. Febr. 1737 an diesen schrieb,
die Bekanntschaft mit ihm einleitete und ihn um sein Buch bat. 3)
„Tuam, vir illustris, exspecto gratiam peregrinus licet et igno-
tus; sum enim ex iis, qui in eodem quo tu triumphasti campo
flores lego. Methodum tuam morborum quaesivi huc usque frustra
') Im Brief vom 14. Oct. IT.5.5.
-j Im Brief vom 20. Oct. 1758,
3) Nouvelles Classes des Maladies. Paris 1731, in 12".
per Sueciam , Lapponiam , Norvegiam , Daniani , Geimaniam,
Belgiiim, Angliam. cujus modo titulus antea innotuit. Nuper au-
tem , eandem Lugduni Bat. apud medicum vidi, inspexi, obstu-
pui, praecovdiaque intima sentii attonitus novis iutumuisse curis ;
observavi quam felicissimo successu scientiam difficillimam red-
didisti facillimam tu solus. Doleo tyronum turbam te ignorare,
tua methodo destitui, in qua plus purae methodi atque exculti ju-
dicii latet quam in practico uunquam ullo. Nulla fuit unquam me-
thodus antea m historia morborum; qui alias leges methodos
vocant, carent cerebro vel caecutiunt; a signis exposcenda est
omnis iudicatio generica. Tuo libro ego absolute carere nequeo;
me torquet omnis dies eo destitutus." „Obtusum meum ingenium
nil capit , nil intelligit , nisi quod systematlce concipiat : an alii,
nescio, haereo."
Linne erlaubt sieh sogar, Sauvages gute Ratbschläge bezüglich
seiner Schrift zu geben , und bittet ihn , Synonyme und Citate aus
anderen Verfassern , wie die Botaniker zu thun pflegen, hinzuzu-
fügen. Schliesslich bedauert er, dass diese Arbeit nicht lateinisch
herausgegeben worden, und fordert Sauvages zu wiederholten Malen
auf, dieselbe in die genannte Sprache zu übersetzen,
Nächst Boerhaave hat es wohl Niemanden gegeben, der auf die
Stellung Linne's zur medizinischen Wissenschaft einen grosseren
Einfluss ausgeübt hat, als Sauvages. Er war es, der Linne s Liebe
und Interesse für die Medizin stets wach erhielt. Es ist sogar wahr-
scheinlich, dass ohne die innige und herzliche Freundschaft, welche
diese grossen Männer der Wissenschaft mit einander vereinigte,
Linne imter der wachsenden Last seiner naturwissenschaftlichen
1) „Si preces ineae apud te valeant, iinice efflagito, ut edas Classes
tuas Morborum romana veste indiitas. Certe si feceris, non mihi soli,
non academiis nostris Sueciis, sed toti orbi te obstrictum et veneraudum imo
et aeteraura facies." „Has enim publice docere, has mihi tironibus imo doctis
commendare animus est, non novi alium librum dignum. Promisisti, quaeso
et promissis tene; per sacra medicinae obsecro. • In den Briefen vom 21. Jan.
und 20. Sept. 1740.
Arbeiten, seine Beschilftigung mit der Medizin aufgegeben hätte. Der
Einfluss der Schriften Saiivages' auf Linne's medizinische Arbeiten ist
unleugbar, und dieser Einfluss offenbart sich noch stärker in Hinsicht
auf seine Thätigkeit als Lehrer einiger Zweige der medizinischen
Wissenschaft. In den Vorlesungen Uber Nosologie folgte Linne,
wenigstens zu Anfang seiner Thätigkeit als Lehrer, Sauvages' System
und der von ihm entAvorfenen Klassifikation der verschiedenen
Krankheiten. Da diese Eintheiluug von der bisher gebräuchlichen
Methode gänzlich abwich , erregte sie grosse Aufmerksamkeit und
Linne schreibt darüber :
„Ridebat primo collega mens, cum in prima lectione morbos
secundum classes, genera, species, Synonyma etc. me traditurum
dicebam ; dixit me non aliter morbos cognoscere posse , quam uti
Botanicus plantas ; nunc minus ridet , me cum facile omnes Stu-
diosi audiunt, illum vero pauci. Fateor me Semeioticen tuo desti-
tutus opere noUe profiteri."
Die von Sauvages in die Pathologie eingeführte systematische
Kichtung, welche der Darstellung der Lehre von den Krankheiten
so grosse Aehnlichkeit mit der Methode der beschreibenden Natur-
wissenschaft verlieh, musste Linne's lebhaftes Interesse erwecken.
Es kommen zwar auch frühere Aeusseruugen in dieser Hinsicht vor.
Bereits Sydenham stellte die Forderung, die Krankheiten nach dem
Beispiele der Botaniker zu ordnen 2), und auch Baglivi fand es noth-
wendig, dass „ alle Krankheiten , um sie leichter und sicherer von
einander unterscheiden zu können, nach botanischer Methode in ge-
wisse Geschlechter und Arten gebracht werden mUssten". Sauvages
gebulirt indessen das Verdienst, den Versuch gemacht zu haben, die
Krankheiten auf Grundlage gemeinschaftlicher Symptome in gewisse
') In einem Brief an Sauvages vom 2. Dec. 1741.
„Prinio expedit, iit morbi omnes ad definitas ac certas species vevo-
centur, eadem prorsiis diligentia ac 7.-/tpißeia, qua id factum videmus a bota-
nicis scriptoribua in suis pliytologiis". Opera nni versa. Liigd. Bat.
llhi, S. J:5.
— 16 —
Klassen, Ordnungen und Familien nach ihrer grösseren oder ge-
ringeren Uebereinstimmung mit einander zu gruppiren. 80 unsicher
auch diese Grundlage in Folge der damals mangelhaften Keuntniss
der Natur der Krankheiten thatsächlich war, und so oft eine solche
Eintheihmg wesentlich verschiedene Leiden theils trennte, theils zu-
sammenlegte , so musste doch dieses System Sauvages' Linne s Be-
dürfniss nach gewissen leitenden Grundsätzen bei der Systemati-
sirung der Krankheitserscheinungen befriedigen. Mit grossem Eifer
begann er selbst die Ausarbeitiing eines medizinischen Systems und
suchte, wie wir weiterhin zeigen werden, eine Erklärung der krank-
haften Störungen in dem Organismus zu geben, gestützt nicht allein
auf eine mechanische Auffassung der verschiedenen Spannungsver-
hältnisse der festen Theile, sondern auch auf die chemische Zu-
sammensetzung der Flüssigkeiten. Linne hatte die Absicht , diese
seine Vorlesungen Uber die Nosologie als einen Wegweiser für seine
Zuhörer herauszugeben, und es erschien auch in Folge dessen später
seine Arbeit „Genera morborum".')
Linne folgte mit grosser Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen
Thätigkeit Sau vages' und den von ihm herausgegebenen Schriften.
„ Physiologiam lego quotidie; Semper assequi nequeo, non
satis in mathematicis versatus ; ubi intelligo, miror quomodo po-
tuisti penetrare interius, quam ante te ullus."-)
Als Sauvages sein medizinisches System weiter entwickelte und
die Ergebnisse seiner Forschungen und Erfahrungen zusammen-
fasste in seiner grossen Arbeit „Pathologia methodica", die
in vielen Auflagen erschienen ist und später unter dem Titel „No-
sologia methodica sistens morborum classes" heraus-
gegeben wurde, schrieb Linne :
1) „Hocce autumno 1741 publice Classes tuas morborum docebo, tua
venia; si exigant studiosi, seorsim has edere vellem, uti morbos definitos
dedisti in Pathologia.'- Im Brief vom 2. Dec. 1741.
2) Im Brief vom 14. Oct. 1755 an Sauvages, der kurz vorher seine . Phy-
siologiae Elementa", Amstelodami (Avenione) 1755, herausgegeben hatte.
— 17 —
„Novere omnes, novi et ego te fuisse maxime eruclitum mer
dicum et facile omnium antesiguanum ; sed ego neqiie alii credi-
deruut imquam te. velalium mortalem, tauta gaudeve eruditioue
medica, quanta hoc opus extra aleam prodit. Nou dabo quidquam
auribus tiüs, nee sinit hoc sincera amicitia, sed certum quam cer-
tissimum est, quod ab hoc tempore novum adeatur medicinae exer-
citium , cum jam aperuisti omnes medicorum oculos, ut videant
viam, et incedaut clara in luce quousque datur mortalibus.
Quidquid unquam didici ab aliis habeo omne, sed millena nec
mihi nec aliis antea nota. Incipiam jam e novo studere, et inci-
piant quotquot sapiunt, etiam solidissimi medici ; et, si vixero per
annum, omnia tua in sanguinem vertam" . i)
Die grosse Bedeutung für das Studium der Medizin , welche
Linne an Sauvages' Arbeiten knüpfte, ergiebt sich deutlich daraus,
dass er den Studenten der Medizin dieselben zum Lesen empfahl
und Sauvages aufforderte , eine grössere Anzahl Exemplare seiner
Pathologie nach Schweden zum Verkauf zu senden. Er sagt, er
brauche bis zu hundert Exemplaren , und verspricht , sie an einem
einzigen Tage zu verkaufen. Die Kenntniss von Sauvages' System
verbreitete sich dadurch allgemein unter den Schülern Linne's und
sein Einfluss auf die ärztliche Bildung Schwedens wurde ein sehr
bedeutender. In keinem Lande, sein Vaterland ausgenommen,
dürfte der französische Gelehrte grösseres Ausehen , als in Schwe-
den, genossen haben.
Seinerseits fand sich Sauvages durch die Anerkennung . die
Linn6 ihm widerfahren Hess, in hohem Grade geschmeichelt. Nicht
nur in seinen Briefen spricht er seine Dankbarkeit für den Beifall
aus, den Linne seineu Arbeiten und Forschungen spendete, sondern
er äussert zugleich , dass dieses beifällige Urtheil um so höher zu
schätzen sei, als es von einem Manne herrühre, der fähig sei, den
Werth einer wissenschaftlichen Methode zu beurtheilen .
') Im Brief an Sauvages vom 3. August 17G4. -j Im Brief 1751).
^) „Quod autem lianc spartam foliciter a me fuisso exoruatam putet Hl.
Hjelt, Linnö als Arzt. 2
— 18 —
Diii-eli Linn6's Vermittlung wurde der Name Sauvages' sogar
der schwedischen Literatur einverleibt. Als 1745 in Schonen eine
epidemische Seuche (Dysenteria boum febrilis) ausbrach, theilte
Sauvages auf Linne's Bitte seine Erfahrungen über die Natur und
Behandlung dieser Seuche, die auch in Stidfrankreich geherrscht
hatte, mit. Linne Ubersetzte den betreffenden Brief und veröffent-
lichte ihn in den Akten der schwedischen Akademie der Wissen-
schaften 1746. Er schreibt hierüber :
„Litterae tuae ita omnibus arrisere, ut te ad invidiam usque
colant. Jure et sancte testor me nunquam audivisse exterum, qui
majorem apud nos famam obtinuit, quam tu, pro hac unica ob-
servatione." *)
Aber nicht nur in Fragen, welche die systematische Nosologie
und die medizinischen Theorien betrafen, fand zwischen beiden
Gelehrten ein Austausch ihrer Erfahrungen und Ansichten statt.
Einerseits giebt Linne dem gelehrten Forscher im Süden wichtige
und werthvolle Angaben über die nordischen Krankheitsverhält-
nisse 2) , andererseits kommen unaufhörlich gegenseitige Mitthei-
lungen über die Natur und Behandlung einzelner Krankheiten vor.
Durch Sauvages erhielt Linne Kenntniss von der Behandlung ge-
wisser Krankheiten vermittelst Elektricität. Es scheint, als ob Sau-
vages längere Zeit hindurch sich mit diesem Gegenstande beschäftigt
habe , denn er theilt Linne als Beweis für den Werth seiner Heil-
methode eine Menge von ihm gemachter Beobachtungen mit. ^] Diese
Eques Linnaeus Avchiater suecicus, ut refert in suis Amoenitatibus aca-
demicis, Vol. VI, quod, inquam, Nosologiain magnificis extollat verbis in
suis Epistolis , hoc certe tribuo benevolo ejus animo. Cum autem ille vir in
multis, sed maxime in raethodis dijudicandis praestantissimus sit, non parum
mihi gratulor, quod haecce mea methodus ipsi potissimum arriserit.'' In der
Vorrede zur Nosologia methodica. I. Amstel. 1768. S. 90.
») Im Brief 1 747.
-) In Briefen vom 21. Januar 1740, 1744, 1753, vom 20. Dec 1754, vom
24. Febr. 1756.
3) Im Brief vom 12. April 1740.
— 19 —
Mittheilimg interessirte Linn6 aufs, höcliste und er antwortet Sau-
vages :
„Pulclira erant, quae sciubis de Electrisatione ; adhuc nullus
ineipit hanc medicinam apud nostrates adliibere; sed ego quam-
primiim instituam." „Observationes tuae de Electrisatione pul-
cherrimae sunt, et lectae fuere in societate, omnium adplausu et
approbatione et admiratione. Te laudant qui aliquoties ad nos
mittis observationes, dum alii multi nunquam."^)
Aus dieser Veranlassung scheinen Versuche Uber die Wirkung
der Elektricität auf gewisse Krankheiten angestellt worden zu sein,
denn die Fakultät erhielt auf ihren Antrag , dass derjenige Student
der Medizin, welcher hiermit beauftragt werden sollte, ein höheres
Stipendium erhalten könnte , einen königlichen Brief vom 28 Sept.
1752, der da gestattet,
.. dass doppeltes Stipendium regium ertheilt werden darf dem-
jenigen Studiosus medicinae, welcher zur Anstellung von Elektri-
sirversuchen an Kranken angenommen wird und während der
Beobachtungen darüber gebührende Controle führt und Notizen
macht." -
Man hat gemeint , dass Linne , nachdem er den Lehrstuhl der
Botanik übernommen, seine Thätigkeit als Arzt gänzlich aufgegeben
habe. Freilich äusserte er selbst: „entweder müsste die Professur
oder die Practique versäumt werden, und bediente von nun an nie
andere, als Freunde und Arme" 3), wir besitzen aber eine Menge Be-
)) Im Brief vom 22. August 1749.
2) Im Brief vom 21. Aug. 1750. — Diese Aeusserung bezieht sich auf eine
kurz vorher von Sunvages der Gesellschaft der "Wissenschaften in Upsala über-
reichte Abhandlung „Usus clectricitatis in rheumatismo", gedr. in
Acta Soc. reg. Scient. Upsal. 1744—1750. Stockholm 1751. S. 1—8. In
den Akten der Societiit 1742, gedruckt in Stockholm 1748, befindet sich ein
früher veröffentlichter Aufsatz von Sauvages, „Observationes physicae",
enthaltend Beobachtungen Uber Catalepsis delirans und Aer lethalis.
3) Eigenh. Aufzeichn. S. 201.
2*
weise dafür, dass Linnö sich der Ausübung des ärztlichen Berufs
nicht ganz entzogen habe.
In seinen Schriften Stessen wir nämlich auf zahlreiche Spuren,
die zeigen , dass er sich fortwährend für die praktische Heilkunde
interessirte und ihren Fortschritten folgte. In seinen Briefen theilte
er nicht selten die Erfahrungen mit , welche er am Krankenbett er-
worben, und zieht in schweren und verwickelten Fällen bei seinen
medizinischen Freunden Erkundigungen ein. —
Mit ungetheilter und inniger Hingebung hatte Linne während
seiner langen Lebenszeit sich dem Lehrerberuf gewidmet. Es war
ihm eine Lust und Freude gewesen, lauschenden Zuhörern die
Früchte seiner Forschungen und den Reichthum seines Wissens mit-
zutheilen. Das Unterrichten war ihm stets die liebste Beschäftigung,
Erweckung von Interesse und Lust zu Studien betrachtete er immer
als eine der wichtigsten Pflichten des Universitätslehrers. Wegen
Rosen von Rosenstein s ausgedehnter Praxis und seiner Anstellung
bei Hofe , sowie wegen seiner in Folge dessen oft vorkommenden
Abwesenheit von der Universität, scheint die Besorgung der Fakul-
tätsgeschäfte hauptsächlich Linne's Sache gewesen zu sein.
Nur sein eiserner Fleiss und die ungewöhnliche Leichtigkeit,
mit welcher er arbeitete , machten es ihm möglich , die Last der
mannigfachen und verschiedenen Beschäftigungen zu bewältigen.
Doch klagte er selbst, wie angestrengt er arbeiten müsse.
In einem vertraulichen Brief an einen Freund giebt er folgende
Schilderung seines täglichen Lebens:
„ Doceo quotidie una hora publice , una privata multis , una
Danis, duabus Ruthenis adeoque cum locutus sum ante meridiem
quinque horis, post meridiem correxi typographi impressiones,
scripsi quotidie mss. pro typographo nova, literas ad Botanicos
plurimos, curavi hortum, negotia curiosorum et studiosorum, quae
hic plura quam alibi, nec non curavi praedia mea, certe vix mihi
tempus edendi multis diebus adest, ut si me videres , doleres sor-
tem meam, qui deinde cinctus vasta familia, et debeo ^dvere cum
— 21 —
popiilaribiis et nobilibus et Peregrinis, qui huc api)ellimt." „Dum
mecum repetii, quam misere transactum aevum absolvi, eonstitui
festiuanter eolligere sarcinas meas, ne mors inopinata exhaustum
corpus sutfocet. Dum socii mei quotidie gustarunt delicias hujus
vitae , ego dies noetesque consumsi in artem extricandam , quam
mille non absolverent : ne dicam quod quotidie in commercio litera-
rio die impendi meos et sie praecocera senectutem adscivi corpori
meo. Si concedatmihiD. T. 0. ulteriores aliquot dies, solvam sene-
scentem equum, ne currat ad extremum ridendus et ilia dueat ; et
si quae mihi contingant in horto aliquot rariores plantae , iis de-
leetabor." ')
Der Abend seines Lebens wurde leider getrübt durch Streitig-
keiten zwischen der medizinischen Fakultät zu Upsala und dem
Collegium medicum in Stockholm. Die nächste Veranlassung zu
ihnen scheint gegenseitige Unzufriedenheit über stattgefundene
Examensprüfungen gewesen zu sein. Linne beklagte sich über die
schwankenden und geringen Forderungen an medizinischen Kennt-
nissen, mit denen das Collegium sich zuweilen bei Ernennung von
Aerzten begnügte. Er fürchtete, dass diese Streitigkeiten eine Ab-
nahme der medizinischen Studien zur Folge haben müssten. Das
Ansehen der Fakultät machte es für ihn zur Nothwendigkeit , die
Bedingungen zur Erlangung des medizinischen Grades hoch zu
stellen. 2] Als dieses Ansehen in Stockholm nicht mehr unbedingt
anerkannt zu werden schien, fand er sich tief verletzt.
' In Briefen an N. J. Jacquin, vom 20. März 1761 und 1. April 1764 , ge-
druckt in Caroli Linnaei Epistolae ad Nie. Jacquin, ex autogra-
phis ed. C. N. ä Schreibers. Vindobon. 1841.
2; „Gerte si doctores nostri possent maturescerc studia et annos, in majori
e.\i8timatione poneretur medicina apud omnes bonos. Memor sum consilii olim
beati Carl Gyllenborg, qiii suasit quod nullos adniitteremus ad honores medi-
co3, nisi qui etiam annis raaturuore nonniliil, quum nihil magis cedat in oppro-
brium artis, quam si pueri admittantur." ..Nisi distinguantur doctores a pseudo-
doctoribus, res acta erit de fama et fide doctorum nostratum." In Briefen an
A. Bäck vom 27. August 17.54 imd 2. März 1761. — Diese Briefe Linne s sind
in der Akademie der Wissenschaften in Stockholm aufl)e\v.ahrt, und verdanke
— 22 —
Ein fernerer Grund zur Uneinigkeit zwischen Linn6 und dem
Colleg'ium medicum lag in dem unklaren Verbältniss , welches da-
mals zwischen den Jüngern der verschiedenen Zweige der ärztlichen
Praxis noch herrschte. Wir mttssen uns erinnern, dass man. wie in
anderen Ländern, so auch in Schweden zwischen Aerzten und Chi-
rurgen einen scharfen Unterschied machte. Diejenigen, welche sich
mit dem operativen Theil der Heilkunst befassten, die sogen. Bart-
scheerer, bildeten eine eigene privilegirte Zunft, bestehend aus einer
Anzahl Meisterfeldscheerer nebst Gesellen und Lehrlingen , die von
ihren Meistern unterrichtet wurden. In Stockholm hatte sich, haupt-
sächlich nach französischem Muster, eine ähnliche Koii3oration ge-
bildet, welche schliesslich obrigkeitlich bestätigt wurde und 1717
die Benennung Chirurgische Societät erhielt. Dieser Verein von
Chirurgen hatte die Befugniss , den Unterricht unter sich zu ordnen,
und beanspruchte mithin unbedingt von einem jeden, der als Mit-
glied des Vereins anerkannt sein und in den Besitz seiner Gerecht-
same gelangen wollte , dass er die bestimmten Lehrjahre und die
einzelnen Grade durchmachen müsse. Der oberste Leiter der Chi-
rurgie im Reiche war Chef dieser Corporation, welche übrigens nicht
als unter dem Collegium medicum stehend betrachtet wurde. In
der Mitte des vorigen Jahrhunderts stand die chirurgische Societät
in Stockholm auf der höchsten Stufe ihres Ansehens durch die aus-
gezeichneten Männer, welche an ihrer Spitze gestanden und ihre
Angelegenheiten geleitet hatten, Ewald Ribe, S. Schützer, H.
Schützer (geadelt Schützercrantz) und N. Ramström. Unter dem
Einfluss mehrerer, der chirurgischen Societät angehörender Männer,
welche nicht selten eine recht ausgedehnte Praxis in Stockholm
hatten , und von denen einige Sitz und Stimme im Collegium medi-
cum besassen, wurden die rein praktischen und empirischen Studien
im Gegensatz zu den akademischen begünstigt. Diese „chirurgorum
turba" war es, die Linn6 nie anerkennen wollte.
ich die Kenntniss dieser wiclitigen Schriftstücke, so wie andere Mittlieilungeu
der Freundlichkeit des Hrn. Dr. E. Ährling zu Örebro.
— 23 —
Als schliesslich um dieselbe Zeit eine medizinisch-chirurgische
Uuterrichtsuustalt in Stockholm schnell zur BlUthe gelaugte, unter-
stützt durch tüchtige Lehrkräfte und reiche materielle Hülfsmittel
zur Erlerming der praktischen Heilkunst, so war es kein Wunder,
dass dieselbe nach und nach als Nebenbuhlerin der medizinischen
Fakultät zu Upsala auftrat und gleiche Berechtigung mit ihr bean-
spruchte. Und da ausserdem einige der bei Hofe angestellten Aerzte
einem der medizinischen Fakultät fremden Kreise angehörten oder
als Mitglieder des Collegium medicum die Entmckeluug der Medizi-
nalangelegenheitcn des Landes bestimmten, wurde der Einfluss,
welcher sich allmählich neben der Fakultät ausbildete und ihre In-
teressen nicht th eilte, um so bedeutungsvoller.
Die Selbständigkeit der medizinischen Fakultät ward in be-
denklicher Weise gefährdet. Man scheint im Jahre 1776 sogar den
Plan entworfen zu haben, der medizinischen Fakultät das Recht zur
Verleihung des Doktorgrades zu nehmen und dasselbe auf das CoUe-
gium medicum in Stockholm zu übertragen. Man glaubte selbst die
Zustimmung des Königs zu diesem Vorschlag erhalten zu körinen.
Als der Plan zur Kenntniss des Prof. Jonas Sidren gelangte , über-
redete er den hochbejahrten, kränklichen Linne, von dem Könige in
Drottningholm eine Privataudienz zu erbitten. Kaum in das Zimmer
des Königs eingetreten, stiess Linne, im höchsten Grade erregt,
stotternd die Worte aus :
„Es geht nie an, Ew. Majestät. Es richtet die Akademie und
die Wissenschaft zu Grunde. Ich kann nie dieses Unglück über-
leben."
Der König, der nicht begreifen konnte, worauf Linne anspielte,
verlangte von Sidren nähere Auskunft und geht dann mit lächelnder
Miene auf Linne zu, klopft ihn auf die Schulter und sagt :
„Das soll nie geschehen, mein lieber Linne. Reiset in Frie-
den heim und seid ruhig."
Das war der letzte öffentliche Schritt Linne's für die Hochschule,
deren Wohl ihm stets so innig am Herzen lag: es war sein Ver-
— 24 —
raächtniss an eine Fakultät , über Avelche er so hohen Glanz und so
viel Ehre verbreitet hatte. Am 10 Jan. 1778 gehörte er nicht mehr
der Hochschule in Upsala, nicht mehr den Lebenden an.
n.
Will man eine zusammenhängende Darstellung von Linnö's me-
dizinischen Ansichten geben, wie man sie in den zahlreichen aka-
demischen Abhandlungen findet, welche seinen Namen tragen, so
wird man auf eine Menge bedeutender Schwierigkeiten stosseu.
Linne hat nicht, wie einige seiner Zeitgenossen, seine Ansichten
und Erfahrungen in einer grösseren, umfassenderen Arbeit selbst
zusammengestellt , sondern sich nur begnügt , dieselben vor einem
zahlreichen Kreise von Schülern auszusprechen, die er um sich ver-
sammelte, und welche später, mit Zugrundelegung seiner Vor-
lesungen, eine Menge wissenschaftlicher Gegenstände bearbeiteten.
Wer seinen medizinischen Lehrbau zu einem Ganzen verbinden will,
muss die verschiedenen Theile, welche dieses System bilden, in
seinen zahlreichen Schriften sammeln und aufsuchen. Zwar hat
Linnö zwei systematische medizinische Abhandlungen, Genera
morborum und Clavis medicinae, selbst herausgegeben, aber
die compendiöse, ja aphoristische Kürze, welche er diesen Arbeiten
verliehen, zeigt zur Genüge, dass sie nur zur Unterlage derjenigen
mündlichen Vorträge bestimmt waren , denen er die für ihn so be-
zeichnende, praktische, anziehende Foim zu geben verstand.
Linnö hatte sich in der medizinischen Wissenschaft ein hohes
Ziel gesteckt. Ihm, dem unermüdlichen Forscher, war es klar, dass
die Medizin , wenn sie einen Platz innerhalb des Kreises der Natur-
wissenschaften beanspruchen will , für ihre Entwickelung dieselbe
Methode wie diese wählen muss. Er forderte, dass, wie der Phy-
siker seine Lehrsätze auf Experimente stützt, ebenso auch der Arzt
— 25 —
seine Ansichten durch Versuche und Beobachtungen ') begründen
muss, denn „die Heilkunst theilt das traurige Loos naheverwandter
wissenschaftlicher Zweige, durch leichtsinnige Hypothesen und Vor-
urtheile erniedrigt (deturbari) zu werden". 2] Die rein empirische
Medizin wendet von der Erfahrung geprüfte Arzneien an , ohne sich
auf eine Erklärung ihrer Wirkungsweise einzulassen ; die rationelle
Arzneikunst dagegen strebt, sobald in den mechanischen Gesetzen
des Baues und der Funktionen des Körpers Störungen auftreten, sie
auf dieselben Gesetze zurückzuführen, Durch die Vereinigung
anatomischer, botanischer, physiologischer, chemischer und mecha-
nischer Wahrheiten mit den Lehrsätzen der Medizin ist die rationelle
Heilkunst entstanden. Die wirklich wissenschaftlichen Beobach-
tungen bleiben immer bestehen und verändern sich nie , während
die Erklärungen ihrer Ursachen und Natur stetem Wechsel unter-
worfen und von der zu verschiedenen Zeiten geltenden Auffassung
abhängig sind. Die Theorie der Medizin ist so zu sagen der Schlüssel
zu den praktischen Beobachtungen , diese aber der lydische Stein,
an welchem j ene Theorie geprüft werden muss . Denn hat die Wissen-
schaft richtige Anschauungen aufgestellt, so ist der Arzt stets im
Stande, sich in dunkeln und zweifelhaften Fällen zurechtzufinden.
Fehlt es dagegen einer Methode, die von den Grundwahrheiten der
Wissenschaft Gebrauch machen sollte , an einem zuverlässigen und
festen Fundament, so wird die ganze medizinische Praxis unsicher
und schwankend.^) Man hat zwar behauptet, die Zeit sei für ein
medizinisches System noch nicht reif. Das mag wahr sein, aber es
müssen die medizinischen Lehrsätze in der Ordnung, wie ihre Natur
es gestattet, gebracht und aufgestellt und darauf durch neue und
stets wiederholte Beobachtungen verbessert und vervollkommnet
werden , denn wo es keinen Anfang giebt, da lässt sich äuch keine
'j Inebnantia (1762).
Circa fervidoniin et gelidonim usuiii paraenesis (l'GöK
Purgantia indigena (ITüO;.
*i Sapor medicamentonim (1751).
— 26 —
Entwickeluug erwarten. Theorie und Erfalirimg bilden somit die ge-
meinschaftliche Grundlage, auf welcher das medizinische System
erbaut. werden muss. ^) Der rationelle Arzt , welcher diese Benen-
nung verdienen will, muss daher lieber ein Eklektiker sein, als den
Ansichten einer gewissen Schule blind und einseitig huldigen.
Sache des Arztes ist es, die Art der Krankheit genau zu ))estim-
men und, mit Vermeidung zusammengesetzter Arzneien, am liebsten
sogen, einfache Heilmittel (simplicia) anzuwenden. Zu diesem Zweck
sind, wie es auch an gut organisirten Lehranstalten der Fall ist , an
denen das Studium der Medizin mit Ernst und Erfolg getrieben wird,
Krankenhäuser und botanische Grärten zum Bedarf des Unterrichts
einzurichten. Die medizinische Wissenschaft mrd daraus herrliche
Früchte ernten und in bemerkenswerther Weise zunehmen, denn
wenn daselbst eine Menge Kranke einer und derselben Art behan-
delt werden , wird nicht allein die Natur der Krankheit genau beo-
bachtet und beschrieben, sondern auch die Wirkung der Arznei-
mittel erforscht und, falls der Tod erfolgt, der Einfluss der Krankheit
auf die Organe dargelegt werden können. Hiermit wird jedoch kein
unvorsichtiges und kühnes Experimentiren mit neuen und unbekann-
ten Arzneimitteln bezweckt, weil jeder umsichtige Arzt genugsam
versteht, wo und in welchen Gaben dergleichen Arzneimittel, ohne
dem Kranken zu schaden, anzuwenden sind, indem man mit kleinen
Dosen beginnt und darauf zu grösseren übergeht , bis ihre Wirkung ^
ermittelt worden. 2)
Eine jede Krankheit muss mit Rücksicht auf ihre Erkennungs-
zeichen, ihr Wesen, ihre Ursachen und ihren Beginn betrachtet
werden. Die Erkennungszeichen sind die Symptome, wodurch die
Krankheiten sich von einander unterscheiden, und über diese
kann und muss man einig zu werden suchen. Im Wesen der Krank-
heit liegt der Grund der Symptome, und ohne dieselben zu kennen,
') De eflfectu et ciira vitioriim diaeteticorura (17615).
-) Purgantia indigena (17G6;.
— 27 —
vermag man ihre eigenthUmliclie Natur nicht aufzufassen. Die
Krankheitsursache, welche Linne als in den meisten Fällen und
wesentlich innerhalb des Körpers liegend sich denkt, bildet den
Ursprung der krankhaften Störung, und sobald sie gehoben , hört
die Krankheit als solche auf. Ihr Beginn steht gewöhnlich mit einer
äusseren vermittelnden Veranlassung in Verbindung. ')
Die Krankheitsbehandlung selbst ^ist entweder eine palliative
oder rationelle. Während die erstere nur die Symptome und deren
Behandlung bezweckt, sucht die letztere den Grund und die Ursachen
der Krankheit selbst zu bekämpfen, und da jene leicht zu erlenien,
ist es diese, in Bezug auf welche der wirkliche Arzt sich vom
Quacksalber und Charlatan unterscheidet. Weder muss eine jede
Bemühung der Natur, den Krankheitseinfluss zu beseitigen, be-
kämpft werden, noch ist es Hauptsache, die einzelnen Symptome
zu lindem. Ein schädliches Gewächs verschwindet nicht, indem
man Blätter und Domen entfernt, sondern dadurch, dass es mit den
Wurzeln ausgerottet wird; es ist nicht der Rauch, sondern das
Feuer, welches gelöscht werden muss, und sobald der Anführer
unterliegt, fliehen die Trabanten. 2) Der Arzt muss mindestens,
nachdem die Diagnose gestellt und die Krankheitsursachen ermit-
telt worden , sie zu beseitigen oder zu vermindern suchen , weil die
Arzneikunst sehr oft nicht mehr vermag, als die Zunahme des
Uöbels zu verhindern und die Krankheit erträglicher zu machen, —
Eine nähere Darstellung von Linne's pathologischem System,
die wir nun nach diesen allgemeinen Betrachtungen geben wollen,
findet sich in seinen Genera morborum entwickelt. In dieser
Medicamenta graveolentia (1758).
^) a. a. 0. S. 24.
De pnlsu intermittente (175(5).
* Genera morborum in auditorum usura edita. Upsallae 17^3.
80 fherausgegeben als akademische Dissertation und umgednickt inAmoe-
nitates academicae. VI. Holmiae 1763, S. 452). Von dieser Arbeit giebt
68, so viel ich weiss, folgende Auflagen. Caroli a Linne, Genera mor-
borum in auditorum usum publicata. Ed. iterata, foras dedit
— 28 —
Arbeit sind die Krankheiten in Ordnungen, Klassen und Familien
mit Beifügung' ihrer wichtigsten diagnostischen Symptome ein-
getheilt. Wie oben bemerkt wurde, übte Sauvages in Mont-
pellier einen überwiegenden Einfluss auf Linne's medizinische An-
sichten aus; in den Grenera morborum finden wir sprechende
Beweise dafür. Nicht allein die Aufstellung der Krankheitsgruppen
ist der Hauptsache nach dieselbe, sondern auch die Krankheits-
Familien sind im allgemeinen dieselben, wie die von Sauvages an-
genommenen. Linne sagt selbst, „dass ein wirkliches medizinisches
System fehlte, bis Sauvages ein solches erdachte, welches, meinem
Dafürhalten nach, an natürlicher Aufstellung, Charakteren und in-
nerer Vollendung alle früheren in dem Grade übertrifft , dass kein
anderes sich damit vergleichen lässt. Mehr als zwanzig Jahre habe
ich an der Academie in Upsala dasselbe vorgetragen und nach neue-
ren Beobachtungen fortwährend zu verbessern gesucht."
Die von Linn6 in dieser Arbeit mitgetheilte Eintheilung der
Krankheiten ist folgende :
et nomina teutonica adjecit Joh. Christ. Kerstens. Hamb, et
Gnstraw. 3. a. (1774), p. 1 — 61. — Auf Lateinisch und Französisch in „Noso-
logie raethodique etc. trad. par Gouvion. Tom. X. Lyon 1772. — Caroli
ä Linne Genera morborum in auditorum usura pubblicata (!).
Editio italica ex unica Upsaliensi iterata. Accedunt Canones quidam med!, nec
non suis quaeque locis remedia nonnulla niirabili usurpata successu et idcirco
ab eodem expertissimo auctore admirationis signo indicata. Curante Caesare
Constantino Genio. Ferrariae 1776. In der Vorrede dieser Ausgabe, die
ich nirgends angeführt gesehen, aber in der mediziui^ßchen Bibliothek in Zürich
gefunden, schreibt der Herausgeber: „illa praeterea remedia suis quoque locis
indicavi, quae Linnaeus ipse longo usu et repetitis experimentis penitilia esse
comperit". — Eine in Montpellier 1787 von Dr. Gouan herausgegebene Aus-
gabe (40) wird von Stoever erwähnt.
Morbi.
Exanthematici
Febriles (e sanguine in medullam)
— 29 —
l Sensatioüis Dolorosi
X^opvinJ ' Tu H 1 TVTah ti\\ PiR
i.AClVllll l t) Utllvll UXOli tcfclCO
( Motus ( Quietales
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c. i.- • 1 Suppressorii
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Xli A £|i Li L 11 \7 JUl c t L 1 Li i
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Pebi'is cum IJrinae hviiostasi lateritia
X UlLFgloLlL'l
l^^plirtQ Pinn Piilflii fJnvo T)olnrfi tonipo
Dolorosi
Doloris sensatio.
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V^lllv teil CO
IVTrtfns involiitnviiis
Motorii
Motus abolitio.
Suppressorii
Meatuum impeditio.
Evacuatorii
Fluidorum evacuatio.
Deformes
Solidoriim facies mutata.
Vitia
Externa palpabilia.
Dieses pathologisclie System, nach welchem Linne die ver-
schiedenen Krankheitsformen aufstellte , ist , wie man sieht , fast
gänzlich symptomatologischer Natur. Nur die Fieberkrankheiten,
für welche ein anderer Eintheilungsgrund gewählt wurde, sind
theils nach ihrer verschiedenen Verbreitungsart, theils nach dem
besonderen Charakter, den sie während ihres Verlaufs annehmen,
geordnet. Die exanthematischen Fieberkrankheiten werden z. B.
in contagiosi (Pestis, Variola, Petechia oder Fleckfieber etc.),
sporadici und solitarii eingetheilt, während die kritischen
Fieberkrankheiten dagegen ihrem Typus nach in continentes
(Synocha, Lenta), intermittentes (quotidiana, tertiana, quartana,
duplicana, errana) und exacerbantes (amphimerina , tiiitaea,
hemitritaea etc.) zerfallen. Zu den Fieberkrankheiten werden auch
die acuten Entzündungen gerechnet, und in dieser Gruppe findet
man wieder einen Versuch, hierhergehörende Krankheiten nach den
verschiedenen Organen, in denen sie auftreten, zu ordnen.
Linne theilte nämlich die phlogistischen Fieberkrankheiteu
(Entzündungen) in membranacei oder solche, welche die serösen
oder mucösen Häute angreifen, wie Phrenitis oder Meningitis, Pleu-
— 3U —
ritis, Enteritis etc., und parenchymatici, die sich innerhalb der
Organe entwickeln, wie Peripneumonia , Hepatitis, Nephritis etc.
ein. Auch Phlegmone wird zu dieser Gruppe gezählt. Stätt den
anatomischen Eintheilungsgrund beizubehalten und die verschie-
denen Krankheitszustände der besonderen Organe aufzunehmen,
soweit dieselben damals bekannt waren , umfassen alle folgenden
Gruppen, morbi dolorosi, mentales, quietales, motorii,
suppressorii und evacuatorii, eine Menge symptomatischer
Leiden , die als selbständige Krankheitsformen betrachtet oder an-
geführt werden. Die letzten Gruppen, deformes und vitia,
enthalten dagegen eine Menge wirklich anatomisch getrennter und
bestimmbarer Krankheiten, HautUbel, Geschwülste und Neubildun-
gen. Dass eine grosse Anzahl oft untergeordneter Symptome als
eigene Krankheiten aufgestellt wurden, hatte zur Folge, dass man
sich mit einer oberflächlichen Auffassung ihrer Natur und Bedeu-
tung begnügte. Der noth wendige Zusammenhang zwischen den
Symptomen eines und desselben Krankheitsprozesses ging in dem
Maasse, wie dieser in seine einzelnen Theile zersplittert wurde,
verloren. Diese Betrachtungsweise hing indessen andererseits mit
dem allgemeinen medizinischen Standpunkte der damaligen Zeit
auf das innigste zusammen und eine solche symptomatische, über-
sichtliche und leichtverständliche Aufstellung der Krankheiten be-
friedigte die Ansprüche des praktischen Arztes um so mehr, als die
Krankheitsbehandlung dadurch in wesentlichem Maasse erleichtert
wurde.
Sucht man die theoretischen Vorstellungen näher zu ergründen,
von denen Linne bei der Betrachtung des Krankheitsprozesses aus-
ging und von denen viele unter anderer Form und in anderem Ge-
wände sich in der Pathologie noch erhalten haben , so kann man
nicht umhin, den Scharfsinn, der in ihrer Aufstellung sich zeigt, zu
bewundern. Es war überhaupt für die Begabung Linne s charakte-
ristisch, dass er das Gleichartige und das Ungleichartige in den
wechselnden Erscheinungen mit Leichtigkeit unterscheiden konnte,
— 31 —
wie er auch verstand, die Maunigfaltig-keit der Erscheinungen unter
allgemeine Gesichtspunkte zu ordnen. Die scharfe Naturbetrach-
tung und die logische Gruppirung der gewonnenen Beobachtungen
waren für ihn Hauptsache. Die Grundlagen, von denen er ausging
und auf welche er stets zurückkam , sind nicht irgend welche Vor-
aussetzungen oder abstracte Sätze , sondern rein empirische Wahr-
heiten , obschon sich nicht leugnen lässt , dass auch Linne die da-
malige Neigung für das Aufstellen von Theorien und Hypothesen
innerhalb des medizinischen Gebiets theilte. Jedoch zeugen sie von
dem tiefen Bedürfniss einer wissenschaftlichen Erklärung der Natür
und des inneren Wesens der Krankheiten. Die damalige unvoll-
ständige Kenntniss des feineren Baues des menschlichen Körpers
und namentlich die mangelhafte Bekanntschaft mit dem nothwendi-
gen Zusammenhang zwischen den Krankheiten und bestimmten
anatomischen Veränderungen, sowie der Abhängigkeit jener von
diesen, machte es aber unmöglich, die theoretische Beti-achtungs-
Aveise vollständig auf das Gebiet der Erfahrung anzuwenden. Ob-
gleich in Linne's Pathologie manche tiefe und wichtige Wahrheiten
ausgesprochen werden, war er doch nicht im Stande, seine theoreti-
schen Annahmen dem System selbst oder der Eintheilung der Krank-
heiten zu Grunde zu legen. Zwischen Theorie und Praxis war eine
Lücke entstanden, die man vergebens auszufüllen suchte. Von den
verschiedenen Theilen der Pathologie hatte man die Symptomato-
logie am meisten bearbeitet, und während Jahrhunderten einen
bedeutenden Schatz von therapeutischen Erfahrungen gesammelt.
In Anbetracht dieser Richtung der Wissenschaft lässt es sich er-
klären, weshalb Linne's allgemeine pathologische Ideen in be-
raerkenswerthem Grade von seinen Ansichten über die Wirkungen
und Eigenschaften der Arzneimittel beherrscht wurden. Bei der
systematischen Darstellung der Krankheit8grui)pen konnte er, in
Folge des oben erwähnten Mangels in dem Entwiekelungsgange der
Wissenschaft, seine allgemeine pathologische Theorie nicht anwen-
den und war daher gezwungen, seine Zufluclit zu einem rein prak-
— 32 —
tischen , symptomatologischen Eintheiluugsgruiide zu uehmeu , um
so mehr, da seine Auffassung des Krankheitsprozesses durchaus auf
seiner pharmakodynamischeu Anschauungsweise fusste. Von diesem
Gesichtspunkt betrachtet ,. dürfte der scheinbare Mangel an Conse-
quenz in Linnö's pathologischem System sich leicht erklären lassen.
So grosse Aehnlichkeit auch Liune's systematische Eintheilung
der Krankheiten mit Sauvages' Nosologie darbietet , so findet man
doch zwischen ihnen wesentliche Unterschiede, nicht allein in
der Grruppirung der Krankheitsformen selbst , sondern auch in ihrer
Benennung. Während Sauvages 10 Klassen, 44 Ordnungen und 314
Familien annahm, hat Linne 11 Klassen, 37 Ordnungen und 325
Familien. Mir scheint es, dass Linne's Arbeit sich sogar durch grös-
sere Klarheit in der Aufstellung und eine mehr ausgeprägte anato-
mische Richtung auszeichnet.
Einer der wichtigsten Grundgedanken in Linne's pathologi-
schem System, worauf nicht nur die Auffassung des inneren Wesens
des Krankheitsprozesses , sondern auch die Erklärung- der Wirkun-
gen der Arzneimittel und die Aufstellung der Indicationen für die
Anwendung derselben zum Theil beruht , ist seine Ansicht von der
Zusammensetzung des menschlichen Körpers aus einer Cortical-
und einer Medullarsubstanz. Unter der Medullarsubstanz (systema
nervosum, medulläre) denkt sich Linne das Nervensystem im Gegen-
satz zu den übrigen festen und flüssigen Bestandtheilen des Körpers
(systema fibrosum et vasculosum , systema corticale corporis) . Der
menschliche Organismus wird mit einem aus doppelten Fäden zu-
sammengesetzten Gewebe verglichen , wobei die Nerven die Kette
(texturae stamen) ausmachen, während die verschiedenen Arten der
Fibern nebst den Flüssigkeiten den Einschlag (iutertextum , inter
stamina implicatum) bilden.
Auf Grund vergleichender Beobachtungen über die Entwicke-
lung des Pflanzenlebens , sowie des Verhaltens der hybriden Ge-
) Fundamenta valetudinis il756).
— 33 —
wüchse, spricht Linne die Ansicht aus, dass die Bildung des Nerven-
systems der Mutter und diejenige der Corticalsubstanz dem Vater
angehöre. ') Die Bewegung und das Gefühl des Lebens habßn
ihren Sitz in. der Medullarsubstanz, die das Ursprüngliche und zuerst
Gebildete im Körper ist. Unter ihrer Einwirkung entstehen später
aus dem Nahrungssaft sowohl die flüssigen , als die festen Theile
(corticale solidum ac liquidum). Die Ernährung der Medullar-
substanz geschieht vermittelst der feinsten Stoffe in dem flüssigen
Corticaltheil und wird von der durch die Lungen aus der Luft auf-
genommenen Elektricität unterhalten. Wenn das normale Verhält-
niss zwischen diesen constituirenden Theilen gestört wird, entsteht
Krankheit. Man kann hierbei diejenigen Krankheiten unterschei-
den , welche in einer veränderten Beschaffenheit der Flüssigkeiten
des Körpers ihren Grund haben, und diejenigen, die den festen
Theilen angehören. Das Fieber deutet eine Störung in der Zu-
sammensetzung der Flüssigkeiten (des Blutes) an. Die flüssige
Corticalsubstanz , woraus die festen Theile gebildet werden , wird
nämlich von in Oxydation oder in Verwesung begriffeneu Stoffen,
die in den Körper eindringen, aufgelöst und zerstört. Während des
Kampfes mit diesen für den Bestand des Lebens schädlichen Ein-
flüssen entstehen die verschiedenen Arten Fieber, das kritische
Fieber aus säurebildenden und das phlogistische aus septischen
Stoffen, während das exanthematische Fieber möglicherweise auf
einem lebenden Contagium beruht. Alle diese Stoffe sind dem Kör-
per fremd, feindlich und besitzen die Fähigkeit, sich schnell zu
vermehren. Die Natur beseitigt aus den Flüssigkeiten schädliche
Stoffe auf natürlichem oder künstlichem Wege, je schädlicher sie
sind, desto schneller geschieht es; gleichzeitig aber werden die
zwei Wege gewöhnlich nicht benutzt. Andererseits wird die feste
Corticalsubstanz täglich zerstört und verschlechtert, muss daher
h rA posteriori lioc manifestum est, sed quomodo hoc fiat, altioris indagi-
nis est, quod niillus hodie explicet, si non summus Sauvagesius" in einem Schrei-
bon an ihn vom 22. November 1759. — Generatio ambigena
Hjelt, Linn« als Arzt. 3
34 —
unter Beobachtung der Vorschriften der Diätetik täglich erneuert
und wiederhergestellt werden. Versäumt man diese Vorschriften
oder entspricht die sonstige Lebensweise den Anforderungen des
Körpers nicht, so entsteht ein Mangel im Organismus, entsteht
Krankheit. Um eine Krankheit zu heben, ist es erforderlich, in den
flüssigen oder festen Theilen des Körpers eine Veränderung hervor-
zurufen, entgegengesetzt demjenigen Zustande, in welchem die
Krankheit sich entwickelt hat. Zu diesem Zweck benutzt man
Arzneimittel. Ihre Fähigkeit, derartige entgegengesetzte Zustände
im Körper hervorzurufen , lernt man aus der Wirkung kennen , die
sie durch ihren Geschmack auf die flüssigen und festen Bestand-
theile des Körpers, oder durch ihren Geruch auf das Nervensystem
(Medullarsübstanz) ausüben. Die wichtigsten Arzneimittel werden
daher Pflanzen entnommen, die an Geschmack und Geruch einander
entgegengesetzt sind (sapida et olida). Darin liegt der Schlüssel
zur Materia medica. Analog den oben geschilderten Grund-
bedingungen der Pathogenesis der Krankheiten entsteht folgende
Einth eilung der Eigenschaftien der Arzneimittel :
I. Sapida.
Agunt in Corticale vitale :
in Fluidis in Solidis.
1. Aquosa Mundificantia, Humectantia
Absorbentia, Exsiccantia
2. Acida Eefrigerantia, Attenuantia
Balsamica, Tonica
3. Dulcia Edulcorantia, Impinguentia
Incidentia, Corrodcntia
4. Viscosa Inviscantia, Lixbricantia
Penetrantia, Abstergentia
5. Pinguia Obtundentia, Emollientia
Inspissantia, Adstringentia
Salsa.
Stiptica.
A ui a r a.
Acria.
Sicca.
') Genera morboruni, S. HO.
— Sö-
ll. Olida.
Agunt in Medulläre animatüm.
Sensum Excitant Aromatica, Sopiunt _ Vi rosa.
Motinn Spasticant ürgastica, Evacuant Nauseosa.
Judicium Acuunt Spirituosa, Confundunt Tetra.
Libidinem Provocant Ambro siaca, Suffocant Hircina.
Ans dieser Theorie der Gegensätze, wie man sie benennen
kann, wird das pathologische und pharmakodynamische System
entwickelt, welches mehr oder weniger klar durch Linne's medizini-
sche Schriften geht und die man , ohne es zu kennen , nicht ver-
stehen kann. Dass Linne das Nervensystem in einen gewissen Gegen-
satz zu den übrigen Geweben des Körpers stellte, scheint mir dar-
auf zu beruhen , dass sein pharmakodynamisches System , wie wir
sehen werden, einen solchen Unterschied forderte. Linne sprach
nämlich den allgemeinen Satz aus , dass Pflanzen , die sich durch
ihren Geschmack auszeichnen , die festen und flüssigen Theile im
Körper verändern, während die riechenden und flüchtigen Stoffe
auf das Gehini einwirken. ') Es muss innerhalb des Körpers ein
organisches Substrat geben, das allein empfänglich ist für die Eigen-
schaften derjenigen Arzneimittel, welche die grosse Gruppe der
olida, odorata, volatilia, spirantia u. s. w. bilden. Das Nerven-
system, als für sich bestehend, tritt in Linne's pathologischem System
nur dann auf, wenn von einer Anordnung der Arzneimittel in ge-
wissen grossen Hauptgruppen die Rede ist. Berücksichtigt man
diese Inconsequenz , so scheint sein System eine Zusammenfassung
solidar- und humoralpathologischer Ansichten zu sein, eine Ver-
mittehmg zwischen der iatromechanischen und iatrochemischen
Schule , die vor seiner Zeit um die HeiTSchaft in der Medizin ran-
gen, In Folge dessen werden die verschiedeneu Span-
nungs- und Dichtigkeitsverhältnisse innerhalb der festen
') Inebriantia (1761).
2i ..Qualis chylug, talis sanguig, qualis sanguis, tales fibrae, quales librae,
talea oriuntur morbi. • (Linne's Vorlesungen 1771).
3*
— 36 —
und flüssigen Bestandtheile des Körpers der Mittelpunkt, um
welchen Linne's patholog-ische Vorstellungen sich drehen. Obgleich
die Ansichten Boerhaave's auf die medizinische Theorie, die Linnö
in Bezug auf die Natur und das innere Wesen der Krankheiten für sich
entworfen, in bedeutendem Maasse eingewirkt haben, finden wir
doch, dass sein pathologisches System einen selbständigen und weit
entwickelteren Inhalt besitzt. ^) Während Boerhaare bei der Auf-
stellung seiner „Fibrillärpathologie" die Ursache der meisten Krank-
heitszustände in der Spannung oder Erschlaffung sucht, welcher die
Fiber, der gemeinschaftliche Bestaudtheil des Organismus , unter-
worfen ist, begnügt Linne sich nicht mit diesem allgemeinen Satze,
sondern sucht denselben in seine Details zu verfolgen und will auch
in den Flüssigkeiten des Körpers entsprechende Kategorien auf-
weisen.
Die festen Bestandtheile des Körpers können in ihren kleinsten
Fibrillen, nach Linne's Ansicht, nicht nur im Allgemeinen gespannt
oder erschlafft sein (fibrae strictae vel laxae) , sondern sie offenbaren
es in fünf verschiedenen Modifikationen. Diese sind:
a) feuchte (fibrae humidae) oder im Gegensatz dazu
trockene (fibrae torridae) ;
b) spröde (tenerae) ; z ä h e (tenaces) ;
c fette (pingues) ; magere (macrae) :
dj dicke (turgidae) ; dünne (gracil es) ;
e) weiche (fluxae); steife (rigidae).
Die flüssigen Bestandtheile des Körpers, zu denen auch das
Blut gehört und welche die eigentliche Bildungsquelle des festen
Gewebes ausmachen, können in zweifacher Art verändert sein, näm-
lich ihrer Zusammensetzung (crasis) und ihrer Mischung (diathesis)
nach. Die Flüssigkeiten können nämlich werden:
' ] .,Boerhaave schrieb die Fehler der Fibera nur zweien Zufällen zu : 1 a x u lu
et strictum ; obschon es aber der erste Haspelfaden ist, variirt derselbe doch
mehr, als dass man dadurch alle morbi fibrarum begreifen könnte.'' (Linne's
Vorlesungen 1771 .)
— 37 —
a) tenues, „sobald zu viel serum im Verhältniss zum
cruor sanguinis vorhanden ist" ; — densi, „sobald se-
rum, welches das Blut verdünnen miisste, fehlt; dies
tritt in hitzigen Fiebeni und bei Bejahrten ein und ent-
steht auch durch seri evacuatio ; "
b) aciduli, „alles, was Leben hat, soll wiederum destruirt
und zu Erde werden ; solches zu befördern, hat die Na-
tur nur zwei Auswege, Säure imd Feuer ; serum neigt
sich zur Säure und cruor zur Fäiüniss hin;" — phlo-
gistici, „in der phlogistischen, putriden Diathesis wird
das Blut angegriffen ; stagnirt es, so wird es scharf (acris
fit) und eine Inflammation entsteht; tritt eine Resolution
nicht ein , so wird das Blut verdorben und die in Folge
dessen irritirten Nerven verursachen Fieber ; das Herz
bewegt sich schneller , um den schädlichen Stoff zu ent-
feraen. und das Blut wird dicker; starke Bewegung
bringt dasselbe hervor, indem die Ausleerungen ver-
mehrt werden ; "
c) oleosi; acres;
d) plethorici, „sobald die Flüssigkeiten, namentlich das
Blut, im Körper überhand nehmen; pauperati, „wenn
die Flüssigkeiten schwach und in geringer Menge vor-
handen sind;"
e) glutinosi, pituitosi, „durch Ruhe wird im Körper zu
viel Schleim gebildet;" — muriatici, „Salz dient da-
zu, im Köiiier den Schleim zu lösen, vergrössert zugleich
den Appetit, starke Salzesser werden steif in allen Glie-
dern; Salz ist dem Schleim entgegengesetzt."')
M Nach Linne's Vorlesungen über ,, Clavis medicinae" 1771, welche
in der Bibliothek des k. Karolin'schen Instituts zu Stockholm in Abschrift ver-
wahrt werden. Herr Dr. Ährling hat diese Aufzeichnungen mir freundlichst
mitRetheilt.
— 38 —
Wirft man einen Blick auf diese verschiedenen , von Linne mit
Rücksicht auf die Beschaffenheit der Flüssigkeiten aufgestellten
Kategorien, so wird der Gedanke unwillkürlich auf die Lehre von
der Crasis gelenkt , welche noch vor einigen Jahrzehnten eine so
grosse Rolle in der Wissenschaft spielte, und man fragt sich, ob der
Unterschied in der That so gross ist. Zwischen den festen und
flüssigen Theilen des menschlichen Körpers findet jedoch ein Wech-
selverhältniss statt , und es ist nicht immer leicht zu entscheiden,
inwiefern die festen Theile durch ihre verschiedene Spannung die
Zusammensetzung der Flüssigkeiten verändern, oder ob es die
Flüssigkeiten sind, welche einen grösseren oder geringeren Grad
von Spannung und Erschlaffung in den festen Theilen hervorrufen,
indem sie auf ihre Bildung einwirken. ^)
Alle diese Verschiedenheiten in den Geweben und Flüssigkeiten
des Körpers muss der Arzt erkennen können und zugleich durch
seine Heilmittel nach Umständen zu verändern oder zu verbessern
suchen. Da die Arzneimittel und namentlich die pharmazeutischen
Pflanzen verschiedene Eigenschaften je nach ihrem verschiedenen
Geschmack besitzen, muss man darnach streben, diese Wirkung der
Arzneimittel auf die festen und flüssigen Bestandtheile im Körper
kennen zu lernen. Weil der Geschmack sich leicht zu erkennen
giebt '. kann der Arzt im Allgemeinen seine Schlüsse in Beti-eff ihrer
Anwendung ohne Schwierigkeit ziehen. So wird die schlaffe Fiber
durch bittere Mittel gestärkt und durch zusammenziehende Mittel
fester ; die zu stark gespannte Fiber wird feucht durch die Anwen-
dung wässriger Mittel (aquosa) , verdünnt durch säuerliche und er-
weicht durch fette Stoffe. Die säuerliche Diathesis vermindert man
durch bittere Stoffe und arbeitet mit bitteren Arzneien der septischen
entgegen. Sind die Flüssigkeiten scharf, so werden sie durch süsse
gemildert , durch wasserhaltige gereinigt und durch klebrige (vis-
') ,,Quemadmodiim vero fluida solidas partes progenerant, ita etiam solida
vicissim in fluida agunt eaque modificant. • (Linne s Vöries. 1771.)
— 39 —
cidu) Stoffe erweicht. Die dUnue Flüssigkeit wird durch trocknende
aufgesaugt uud durch zusammenziehende Mittel dicker. Die Arznei-
mittel wirken mithin dadurch , dass sie den kleinsten Partikeln der
festen Theile einen grösseren oder geringeren Zusammenhang (ma-
jorem vel minorem aduuationem) erth eilen, und auf die Flüssig-
keiten des Körpers dadurch, dass sie dieselben entweder verbessern,
wenn sie ihrer Zusammensetzung und Schärfe nach (crasis ac acii-
monia) verändert worden, oder auf geeignetem Wege sie von schäd-
lichen Stoffen befreien, i)
Man kann daher das Gesetz aufstellen , dass man stets ein sol-
ches Arzneimittel anwenden muss , welches im Gewebe einen Zu-
stand herbeiführt oder heiTorruft, demjenigen entgegengesetzt,
welchen man bekämpfen will (contrariorum e contrariis curatio) .
Es ist überhaupt ein in Linne' s Schriften oft wiederkehrender Ge-
danke , dass die Arbeit der Natur unter Gegensätzen verläuft (nam
contrariis fere sua omnia natura operatur) . Ja, es ist eine Grund-
ansicht in Linne's ganzer Naturanscbauung, dass das Gleichgewicht
der Natur auf dem Kampfe zwischen Gegensätzen beruht (Uni-
versum lucta discordium aequilibratur) . ^] Damit hängt die Vor-
stellung zusammen, dass die eine Krankheit die andere verdrängt,
oder dass der Organismus durch das Vorhandensein eines Krank-
heitszustandes gegen einen anderen so zu sagen geschützt oder im-
mun yvirä (hinc morbi contrariis morbis saepius curantur) ; eine
Ansicht, welcher übrigens, wie bekannt, noch bis in die neueste Zeit
in der Medizin gehuldigt wurde.
In der Pathologie hat die Frage wegen der Krankheitsur-
sachen immer eine wichtige Rolle gespielt, und sie waren für Linne
'i Sapormedicamentonim (1751).
Purgan tia indigena (1766). — Ein bei den älteren Aerzten oft wieder-
kehrender Satz.
■■') Der Körper des Menschen Itann als eine Wage betrachtet werden ; so-
bald sie äquillbrirt, befinden wir uns gut, entstellt aber ein Uebergcwicht auf
irgend einer Seite, so sind wir krank. (Linne's Vorlesungen 1771.)
*) Vires plantarum (1747;.
— 40 —
ntn so bedeutungsvoller, weil die Art der Krankheit, d. h. die Form,
in welcher eine Krankheit in dem einzelnen Falle auftrat, seiner An-
sicht nach von ihrer Ursache abhing oder mit derselben identisch
war. 1)
Gleich den älteren Aerzten nahm auch Linn6 zwei Ursachsver-
hältnisse der Krankheiten an, eine nähere und eine entferntere i causa
proxima et remota) . Die nächste Ursache liegt entweder in den ver-
schiedenen Spannungsverhältnissen der festen Theile oder in der
Zusammensetzung der Flüssigkeiten. Die entfernten Ursachen haben
gewöhnlich ihre Wurzel und Quelle in der Diät oder der Lebens-
weise , in dem verschiedenen Alter, der Körperconstitution oder in
Ansteckung (contagium) . 2)
Die Bedingungen für das Wohlbefinden des Menschen oder die
Diät in weiterer Bedeutung sind, nach Linnö's Darstellung, gute
Luft, genügende Bewegung und Schlaf, passende Nahrung , unge-
störter Gang der natürlichen Ausleerungen und gute Beschaffenheit
der Gemüthsbewegungen. Man sucht vergebens die nächste Krank-
heitsursache aufzuheben, wenn eine schlechte Diät dieselbe fort-
während unterhält. Es ist daher eine der wichtigsten Pflichten des
Arztes, die vorhandenen Mängel oder Missgriflfe in der Lebensweise
mit grösster Sorgfalt zu erforschen , und solches ist nicht möglich
ohne genaue Kenntniss der Forderungen der Diätetik. Letztere sind
gänzlich abhängig von den Wahrheiten der Naturwissenschaft ; die
Medizin und die Naturwissenschaft werden in dieser Beziehung
durch ein gemeinsames Band zusammengehalten (utraque veluti la-
pides muri firmo nititur vinculo) . ^) Ist es dem Arzt gelungen, diese
') In Linnt^'s Vorlesungen über Pathologia nosologica il756 — 175S),
die in der Bibliothek der schwedischen Akademie der Wissenschaften aufbe-
wahrt werden, finden wir z. B. folgende Arten von Phrenitis (Meningitis) an-
geführt : a) Phrenitis idiopathica a structura ; b) Phr. syuiptoniatica ; c} Phr.
ebriosa; d) Phr. phanatica a meditatione ; e) Phr. aphrodisiaca ; fj Phr. puer-
perans ; g] Phr. a retropulsis exanthematicis ; h) Phr. ab hectica; i) Phr. a
inorsu venenato ; k) Phr. a febre ; 1) Phr. a pervigilio ; m) Plir. a laeso cranio.
2), 3j De raphania (1763).
— 41 —
Krankheitsursache zu erforschen oder ihre Quelle aufzufinden,, so
wird es ihm auch klar, was er zu thun hat (certior evadit de suo in-
dicato) , nnd er kann mit Leichtigkeit zu den Indicationen für die
Behandlung gelangen. Wenn er die Arzneimittel kennt, welche an
Geschmack und Geruch miteinander tibereinstimmen , kann er die
kräftigsten und wirksamsten auswählen und dieselben in einer mit
ihrer Beschaffenheit Ubereinstimmenden "Weise verschreiben. Da-
durch wird es ihm zwar in vielen Fällen gelingen, die Krankheit zu
.. beseitigen , ihre Wiederkehr aber kann er nicht verhindern , sobald
er es unterlässt , auf die genannten , in der Lebensweise liegenden
Ursachen Acht zu geben und dem Kranken eine entgegengesetzte
oder veränderte Lebensordnung vorzuschreiben. Erst dadurch heilt
er die Krankheit vollständig. ')
Zu dem Bemerkenswerthesten in Linne's Lehre von den
Krankheitsursachen gehört die Theorie von „exanthemata viva"
oder die Vorstellung, dass die ansteckenden Krankheiten durch die
Einwanderung kleiner Thiere in den Menschenkörper hervorgerufen
werden nnd davon abhängen. Linne ist der Ansicht, dass man so-
wohl aus Analogie , als auf Grund der Erfahrung zii der Annahme
dieser Entstehungsweise verschiedener ansteckender Krankheiten
berechtigt ist 2). Zu diesen Krankheiten werden Krätze und epi-
demische Ruhr (Dysenterie) , die Linnö „Scabies intestinorum in-
teiTia" nennt, Keuchhusten (Tussis ferina), Pocken, Masern, Pest,
gerechnet ; später werden in diese Kategorie auch Aussatz (Lepra) ,
Schwindsucht ') (Phthisis) und Wechselfieber •^) aufgenommen. Ob-
gleich die envähnten kleinen Thiere noch nicht entdeckt und be-
schrieben worden , ist Linne der Ansicht , dass die Verbreitung der
ij De cffectu et cura vitiorura diaeteticoruni generali (1766).
2, .,Quain hypothesin fjuasi ex tripode dictam alii avide arripuerunt, verum
alii nt inscitiae involncrum repudianint.''
3) Exanthemata viva (1757).
de Lepra 'I76.i;, de viola ipecaciianha (177 Ij, de Ledo palustri (1775).
Miindus invisibilia (1707,'.
— 42 —
ansteckeucleu Krankheiten eine Ijemerkenswerthe Aehulichkeit hat
mit der Art und Weise, wie eine Menge Thiere, uauieutlich Insecten,
sich fortpflanzen und vermehren. Die oft plötzliche und fürchter-
liche Entwickelung der Contagien schreibt er dieser Ursache zu. Je
kleiner ein Thier im Allgemeinen ist, desto zahlreichere Nachkommen-
schaft kann es hervorbringen , und man könne daher sich recht gut
denken , dass schon eins oder das andere dieser kleinen thierischen
Wesen durch seine unerhörte Vermehrung den menschlichen Körper
binnen Kurzem zu erfüllen vermöge. Dieser Umstand zeigt sich
auch darin , dass es bei der Pockenimpfung nicht auf die grössere
oder geringere Menge Eiter ankommt, die man, um Blatterpusteln
hervorzubringen , anwendet. Als Beweis für die Ansicht von dem
parasitären Ursprünge der ansteckenden Krankheiten führt Linne
zugleich an, dass der Ansteckungsstoff durch Kälte zerstört wird,
in der Wärme aber sich vermehrt, Er spricht die Hoffnung aus,
dass, weun auch „diese lebenden Ursachen" der exanthematischen
Krankheiten noch nicht gefunden und entdeckt worden, künftige
genaue Forschungen beweisen werden, dass ihr Bau weit künst-
licher und zusammengesetzter ist, als man jetzt ahnen kann. Diese
kleinen Thiere haben der Menschheit sicherlich bedeutendere Ver-
luste zugefügt, als die grössten Kriege. Wer bestimmt, ruft Linne
aus, wo die im Grossen und Kleineu bewundernswerthe Entwicke-
lung der Natur beginnt oder aufhört? Im Pflanzenreich giebt es
eine bemerkenswerthe Analogie für einen ähnlichen Ansteckungs-
stofl", nämlich Ustilago. Besonderes Gewicht legt er darauf, dass
Arzneimittel , die sich wider Insecten und Krätzethiere wirksam er-
wiesen, auch bei Behandlung ansteckender Krankheiten sich als
wohlthätig zeigten, z. B. Moschus, Kampher, Mercurialia, Schwe-
fel u. s. w. So Hess Linne während einer verheerenden Pocken-
seuche seine Kinder Moschussäckchen am Halse tragen (wie es Sitte
in Norrland war) und glaubte sie dadurch vor Ansteckung zu
') De Lepra (1765).
— 43 —
schützen. Bei schwerem Maserahusten hat er kleine und oft
erneuerte Gaben von Flor, sulfuris besonders wirksam gefunden.
Unter Plethora versteht Linnö (mit Fr. Hoffmann) den Zustand,
wenn die Menge des Blutes grösser ist, als Herz und Blutgefässe fassen
oder in regelmässiger Bewegung erhalten köiinen. Man muss diese
Zustände von einander unterscheiden. Bei der wirklichen Plethora
wird mehr Blut erzeugt, als der Körper bedarf oder verwenden
kann ; dem letzteren Zustande dagegen liegt eine gewisse Schwäche
des Herzens und der Blutgefässe zu Grunde , und dadurch entsteht
eine scheinbare Blutüberfüllung und Erweiterung der Blutgefässe,
welche schwer kranken Personen bei Fieberanfällen, sowie kachek-
tischen Individuen eigenthUmlich ist. Congestion ist reichlicherer
Zufluss von Blut zu einem Theil des Körpers , als zu den übrigen.
Sie deutet nicht allein eine Ungleichmässigkeit im Blutumlauf an,
sondern kann ausserdem auf einer Schwäche oder einer Heizung
(Irritation) in demjenigen Theil des Körpers, wohin der Blutstrom
nach mechanischen Gesetzen geführt wird, beruhen ; sie kann ferner
durch Verengerung der Blutgefässe innerhalb eines angrenzenden
Theils hervorgerufen werden , oder sie kann in Folge von Krampf
in den Gefässen entstehen. Wenn nun durch irgend eine zufällige
Veranlassung die Blutbewegung zunimmt, so kann Blutergiessung
(Haemorrhagia) die Folge sein. 2)
Unter den Hülfsmitteln bei Aufstellung von Krankheitsdiagnosen
waren der P u 1 s u n d s e i n e V e r ä n d e r u n g e n f ür die älteren Aerzte
von der grössten Wichtigkeit und Bedeutung. Man muss in der
That den Scharfsinn und die Genauigkeit bewundern, mit denen die
älteren Aerzte , in Ermangelung anderer objectiver Umstände, den
Puls studirten. Kann man nicht, äussert Linnö, in einem jeden Falle
die Stärke und Beschaffenheit dieses Zeigers und Aufrechthalters
des Lebens beurtheilen, so vermag man auch nicht den höheren
'j De haemorrliagiis ex plethora (1772).
2) De haeinorrhagiis uteri sub statu graviditatis (1749).
— 44 —
oder geringeren Grad von Störung innerhalb der vitalen, natürlichen
und animalen Functionen, sowie die fllr den Mechanismus des Kör-
pers daraus entstehenden Gefahren berechnen. Es giebt in diagno-
stischer und prognostischer Beziehung weder eine mehr heiTor-
ragende, noch nothwendigere Lehre, als die von der Bewegung des
Blutes, dem Puls. Man kann daher nicht umhin, den Leichtsinn
mancher Aerzte zu tadeln, die den Kranken mit so leichter und
flüchtiger Hand untersuchen , dass sie kaum zwei Pulsschläge ab-
warten nnd , sobald der Kranke Zeit gehabt hat , ein oder das an-
dere Symptom zu erwähnen oder sie bloss die Benennung der
Krankheit gehört, gleich bereit sind, Arzneien zu verschreiben. Der
Arzt muss im Gegentheil in einem jeden Falle die genaueste Prü-
fung aller Krankheitszeichen imternehmen und sich daraus ein mehr
oder Aveniger sicheres oder mindestens wahrscheinliches Urtheil
bilden. ')
In einer besonderen Abhandlung von dem „intermittenteu
Puls" findet man die Ursachen seines Entstehens angegeben und sieht
daraus, dass es der Arzneikunst bereits damals nicht an Kenntniss
derjenigen Krankheitsprozesse fehlte, welche diese Unregelmässig-
keit hervorrufen. Die Ursachen des intermittenteu Pulses liegeu
vor allem im Herzen, z. B. in einer Entzündung desselben, in
einer zu starken Entwickelung seines Muskels, in Aneurysmen. Po-
lypen , Geschwülsten und Abscessen im Herzen , in Verknöcherung
der Klappen, in der Verwachsung des Herzbeutels und anderen
pericardialen Leiden, sowie in unregelmässiger Thätigkeit der
Herznerven. Nächstdem beruht der intermittente Puls auf Ur-
sachen, die in den Arterien liegen, z. B. paralytischer Zustand oder
spasmodische Contractionen der Gefässe, Stasis bei Entzündung"^ ,
1) De pulsu intermittente (1756).
2; ..Durities in tunicas arteriarum inducta, a stagnante liquldo iis in vasis,
per quae ei exitus denegatur, hinc minus flectuntur latera, sicque non cedimt
motni , sed diamctrum eandem internae superficiei vasis conservant , uti in in-
fiammationibus earum evenit "
— 45 —
Verknöcherimg der Arterien M, Aneurysmen und polypösen Con-
eretionen. Schliesslicli können die Ursachen des intermittenten
Pulses in der Beschaffenheit des Blutes selbst liegen, Bei der phlo-
gistischen Diathese in acuten und entzündlichen Fiebern wird der
flüssige Bestandtheil des Blutes vorwärts getrieben, während die
festen Theile an den Wandungen der Gefässe haften bleiben. Da-
durch kann ein Stillestehen des Pulses eintreten. Sobald Blut in
allzu grosser Menge vorhanden ist oder die Gefässe übermässig
ausgedehnt werden, wird ihre Thätigkeit gelähmt und die Gefäss-
wandungeu sind nicht im Stande, den Blutdruck zu überwinden.
Bei Blutmaugel dagegen nehmen die Ventrikel nicht soviel Blut auf,
dass das Her/; bis zur vollen Systole stimulirt würde , wie es bei
Ohnmächten und nach reichlicherem Blutverlust der Fall ist, ein
Umstand, der auch bei starken Aderlässen leicht sich beobachten
lässt. Die Zeichen, aus welchen diese besonderen Ursachen diagno-
sticirt werden, sind jedoch so mannigfach und so verschiedenen
Herzkrankheiten gemeinsam, dass man noch nicht mit Sicherheit
sich für das eine oder das andere Leiden entscheiden kann. In
dieser Arbeit wird auch erwähnt, dass fibrinöse Ablagerungen
innerhalb der Gefässe („Polypen"), von ihrer Ursprungsstelle los-
gerissen, plötzliche Erstickung verursachen können, weshalb Ruhe
Allen, die daran leiden, uothwendig ist. Die Vorstellung liegt nahe,
dass man vielleicht künftighin Arzneimittel finden werde , welche
die Fähigkeit besitzen, dergleichen Ablagerungen aufzulösen. —
Die bei kachektischen und kränklichen Personen auftretende Blässe
gilt als Folgeerscheinung davon, dass das Blut entweder an und für
sich zu wenig feste Bestandtheile enthält und zu wässrig ist , oder
dass es nicht mit der nöthigen Kraft innerhalb der Capillargefässe
vorwärts getrieben wird.
Betreffs des Entstehens sog. inflammatorischer Fieber findet
man den Gedanken ausgesprochen, dass, sobald das Blut aus irgend
'/ „Succus hic osseus eflfunditur in interiorem arteriarum cellusosam,'-
— 46 —
einer Veranlassung coagulirt, Verstopfung der kleinsten Gefässe
(obsti'uetio vasorum) und auf diese Weise phlogistische Fieber-
krankheiten, Pleuritis, Peripneumonia etc., entstehen J) Wenn die
resorbirenden Gefässe untkätig sind, so hat dieses Hydrops zur
Folge, und wenn die Seihapparate (colatoria) des Körpers die Flüssig-
keiten nicht in genügender Menge ausleeren, so hat man Anasarca^)
zu befürchten. —
Linne schrieb eine besondere Abhandlung über die Nothwendig-
keit für Mütter, ihre Kinder zu stillen, und betonte die Wichtig-
keit desselben für deren ganze Entwickelung.^) Bei Frauen verschie-
dener Körperconstitution ist die Beschaffenheit der Milch verschieden.
Wird das Kind einer Amme zur Aufziehung übergeben, so erleidet
seine Ernährung eine Veränderung, und ein besonderer Einfiuss auf
den Neugebornen wird sich bald zeigen. Nicht nur die Grundlage
zur Gesundheit des Kindes wird gelegt , sondern auch zu seinem
Temperament, welches später kaum mehr verändert werden kann. ^)
Linne ist der Ansicht, dass die Milch einer Amme nicht selten durch
die veränderte, fremde Lebensweise und das viele Stillesitzen, wo-
zu sie gezwungen wird , verschlechtert wird. Er sagt , er habe
grösseren Nutzen als von allen Arzneien davon gehabt , eine Amme
sich täglich draussen bewegen oder eine andere körperliche Arbeit
vor der Mahlzeit vornehmen zu lassen. Die in Westerbotteu übliche
Sitte, kleine Kinder, „bubulo", vermittelst eines Horns aufzuziehen,
ist nach Linne eine wichtige Ursache ihrer grossen Sterblichkeit in
diesem Theile des Landes. In der bei den höheren Ständen herr-'
sehenden Neigung, die Kinder von Ammen aufziehen zu lassenJ
') Spiritiiä frumenti (1764).
-) De effectu et cura vitiorum diaeteticorum generali (I TCti).
Nutrix noverca (1752). — Diese Abhandlung findet man ins Französische
übersetzt und eingeführt in „Les Chefs-d' Oeuvres de Mr. de Sau-i
vages, trad. par M. J. E. G*^*. Tom. II, S. 213—244, ä Lyon 1770. i
*] Liberi cum a utero, tum ab uberibus stamina valetudinis repetunt. 1
•'') Derselbe Gedanke wird ferner ausgesprochen in .,Fundamenta valetudi-'
nis (1756).
— 47 —
glaubt Linne eine Erklärung dafür zu finden, dass viele Familien aus-
arten und der sie auszeichnenden körperlichen und geistigen Eigen-
schaften verlustig gehen. ^) Ohne dringende Gründe müsste daher
eine Mutter sich dem Stillen ihres Kindes nie entziehen. Freilich
kann es wirkliche Hindernisse geben. Was Syphilis anbetrifft, so
giebt es Beispiele, dass Mütter, obgleich während der Schwanger-
schaft angesteckt , doch gesunde Kinder geboren haben , es giebt
aber keinen einzigen Beweis dafür, dass ein syphilitisches Weib ein
Kind stillen könnte, ohne dass es von dieser Krankheit befallen
würde, Nur diese letztere Krankheit, allgemeine Schwäche (Atro-
phie) und Schwindsucht können als Hindernisse für das Stillen
gelten. Im Zusammenhang hiermit möge erwähnt werden, dass
Linn6 die Erblichkeit gewisser Krankheiten und die Bedingungen,
unter denen diese eintritt, andeutet. Schwindsucht, Gicht und Nei-
gung zum Blasenstein gehen von den Eltern auf die Kinder über. •')
Nach dieser Darstellung von Linne's allgemeinen medizinischen
Ideen müssen wir seine Ansichten über einzelne Krankheiten^
insofern dieselben in seinen Schriften enthalten sind, noch, kurz
berühren.
Das intermittente Fieber, seine Natur, seine Ursachen und
Heine Behandlung hat er mit besonderer Vorliebe behandelt. Bereits
während seines ersten Aufenthalts zu Upsala, in dessen Umgebung
Wechselfieber endemisch waren, hatte er Veranlassung, dieser
Krankheit grössere Aufmerksamkeit zu widmen, und als er nach
Holland kam, fand er sie auf den feuchten Ebenen dieses Landes
wieder. Er wählte das intermittente Fieber zum Gegenstand seiner
in Harderwyk 1735 herausgegebenen Doctorabhandlung , und man
') .,Hic causa, cur nobrlea dej^enerent , acutissimi liebescant tempeiameu-
tuinque corporis Optimum plures amittant, nec non quod plurimi infantes , dum
primum esse inceperunt, esse desierint."
Nutrix noverca 11102).
Fundamenta valetudinis (1756).
— 48 —
liest nicht ohne Interesse die klare, von der Wärme der Ueber-
zeugung durchdrungene Sprache , mit welcher der junge nordische
Arzt sich über eine bisher noch ungelöste Frage der Pathologie
ausspricht. •)
In dem südöstlichen Theil Schwedens, sagt Linne, ist das
Wechselfieber sehr allgemein. . In Upland giebt es keine verbreite-
o
tere Krankheit , in der Gegend zunächst Abo kommt sie gleichfalls
oft vor. Im ganzen Westerbotten dagegen findet man sie nur bei
Kaufleuten und Seefahrern , die sich in Stockholm aufgehalten
haben. In Lappland ist sie gänzlich unbekannt. Das intermittente
Fieber trifft man überhaupt in denjenigen Theilen des Landes,
deren Boden Lehm in grosser Menge enthält. Linne meint, dass
die im Wasser gelösten Lehmpartikel (intimae solutae particulae
argillaceae) in das Blut eindringen und in den feinen arteriel-
len Gefässen haften , wodurch eine Störung in der Hautthätigkeit
entsteht. Man muss daraus den Schluss ziehen, dass Stoffe, die
vermittelst der Hautausdünstung beseitigt werden müssen, bei inter-
mittentem Fieber in gewaltsamer Weise zurückgehalten werden,
und dass man von demselben befallen wird, sobald die Haut-
absonderung verhindert ist und im Körper zugleich eine früher vor-
handene Ursache sich vorfindet , sonst nicht. Die Indicationen für
die Behandlung des Wechselfiebers sind also 1 . Internum expellens
s. vasa intendi debent, 2. Pori cutis calore aperiendi sunt. Ueber-
giessungen mit kaltem Wasser nach vorheriger Erwärmung sind
daher wohlthuend. Uebrigeus sind starke körperliche Bewegung,
sparsame Diät und genügender Schlaf vorzuschreiben. Amara,
austera und graveolentia werden als Arzneimittel benutzt.
Während Linn6 in seiner medizinischen Erstlingsarbeit die
Quelle des intermittenten Fiebers in unreiner Beschaffenheit des
Wassers suchte , steMte er in seinen späteren Schriften eine neue
') Hypothesis nova de febrium intermitteutium causa. Härder. 1735. 40.
Von neuem abgedruckt in Amoenitates academicae. Vol. I. Lugd.
Batav. 1749. 8». Pag. 1 — 19 (herausgegeben von P. Camper;.
— 49 —
Theorie für das Entstehen desselben auf und glaubte die Ursache
in der Luft und den dadurch hervorgerufenen Störungen in der
HaiitausdUnstuug (perspiratio iusensibilis) zu erblicken, i) In der
Attraction , . welche der Körper vermittelst seiner eröifneten Poren
auf die mit schädlichen Ausdunstungen und Feuchtigkeit verdor-
bene Luft ausübt, sucht er die Ursache jener Störungen. Es ist
nicht allein die vereinigte Wirkung der Kälte und der Feuchtigkeit
an und für sich, welche die Krankheit hervorbringt. In den Aus-
dünstungen, welche aus staguirenden Gewässern, geschlossenen
Kellerräumen, verwesenden Thier- und Pflanzenth eilen , Gräbern
etc. aufsteigen, finden sich zahlreiche in Fäulniss begriffene Parti-
kel vor. Dass die Luft eine eigenthümliche Säure oder einen in
steter Oxydation befindlichen Stoff enthalten muss, lässt sich daraus
schliessen , dass nicht nur thierische , sondern auch fast alle vege-
tabilischen Flüssigkeiten unter dem Einfluss desselben sauer werden.
Die nächste Ursache der intermittenten Fieber dürfte daher, nach
Linne's Auffassung , gesucht werden müssen in einer Coagulation
des serösen Bestandtheils des Blutes , herbeigeführt durch die Wir-
kung oxydirter , in der Luft enthaltener Stoffe. Bereits früher war
angedeutet worden, dass Linne die Entstehung einer Menge Seu-
chen durch das Vorhandensein kleiner, in verdorbener Luft befind-
licher Thiere zu erklären sucht. Ist man nicht, so fragt er, berech-
tigt, die Ursache der intermittenten exacerbirenden Krankheiten,
die vorzugsweise im Herbst herrschen, wo die Luft feucht und ne-
belig ist, in dergleichen äusserst winzigen Thieren zu suchen, die
ein solches ..acre", von dem hier die Rede war, enthalten? Mau
dürfte folglich annehmen können, dass die intermittenten Fieber-
krankheiten dadurch entstehen , dass ein in Oxydation begriffener
') De varia febrium interinittentium curatione (1771). In dieser Abhand-
lung heiast es S. 12 : „Palinara facile omnibus praeripit haeo ingeniosissinia tanti
viri opinio , quae intricatissiinani , in origiue hanim febrimn indaganda , acu
quasi, rem tetigisse merito videtur. Indefesso enim studio et iudagatione con-
summatissima iliius substituit loco, quam amplexus fuit, noviorem tlieoriam."
H j elt, Linn« als Arzt. 4
Stoff (acre) sich in grösserer Menge in der Luft anhäuft und vom
Körper aufgenommen wird, wie man auch nicht leugnen durfte,
dass Luft, welche mit verdorbenen pflanzlichen oder thierischen
Theilen verunreinigte Dünste enthält, zur Erzeugung derselben bei-
trägt.
Diese Theorie Linne's stützt sich hauptsächlich auf folgende
Gründe :
1) die intermittenten Fieberkrankheiten herrschen vorzugsweise
im Herbst und Frühjahr, wo die Witterung feucht und kühl ist;
2) diese Fieberkrankheiten trifft man endemisch an solchen
feuchten und schattigen, dem Luftwechsel weniger ausgesetzten
Orten, wo der Boden hauptsächlich aus Lehm besteht, welcher, wie
bekannt, Wasser hartnäckig festhält. Trockene, höher gelegene
Gegenden sind dagegen von dergleichen Krankheiten fast gänzlich
frei.i) Als Beweis für die Schädlichkeit stiller feuchter Luft wird
angeführt, dass Linne seine Zuhörer davor warnte, an der nörd-
lichen Wand des „Frigidarium" des botanischen Gartens , wo die
Vorlesungen gehalten wurden und welche ohne Fenster war, zu
sitzen, weil die Luft dort weniger bewegt war. Namentlich warnte
er diejenigen, welche eine blasse Gesichtsfarbe und schon früher au
zweitägigem Wechselfieber gelitten hatten, diesen Platz zu wählen.
Die seinen Rath nicht befolgten, wurden nicht selten vom Wechsel-
fieber befallen ; 2)
3) von dieser Krankheit werden vorzugsweise Personen er-
gi'iffen , die in einer Pilze oder Schimmel enthaltenden Luft leben,
niedrig gelegene Zimmer im untersten Stock bewohnen, im Früh-
jahr ihre Winterkleidung allzu früh ablegen oder sonst in erhitztem
Zustande sich unvorsichtig kalter, nebeliger Luft aussetzen. Nach
starkem Schweiss ist der Körper gegen eine solche feuchte und un-
reine Luft mehr als sonst empfänglich , und in Folge dessen sind
1) Respirutio diaetetica (1772).
'-) Febris Upsaliensis (1757).
— 51 —
namentlich Personen, die in solcher Luft sich lange nncl oft auf-
halten, dergleichen Krankheiten ausgesetzt; ')
4) da bittere Stoffe im Allgemeinen die Säurebildung im Kör-
per vermindern oder erscliweren , sind dergleichen Arzneimittel bei
diesen Krankheiten zugleich die wirksamsten, z.B. Cinchona, Gen-
tiana, Centaurium, Faha Ignatii, Nux vomica u. s. w. —
Der kalten Fieberkrankheiten erwähnt Linnö nicht selten. Von
einer schweren Amphimerina duplicata petechizans, an welcher
auch seine Gattin erkrankte, giebt er folgende Beschreibung :
„Uxor mea laboravit dira amphimerina duplicata petechi-
zante: quae eonvaluit et ego pristino animo restitutus. Febris exa-
cerbata quavis vespera hora 5 ; paroxismus durabat in horam 7
vespertinam per duas horas. Alter paroxismus eadem vespera in-
surgebat hora noctis undecima: durabat in horam matutinam 7
vel in meridiem. Alternis diebus paroxismi duplo vehementiores
fuere. Solvebatur demum morbus vomitu et expectoratus per pul-
mones viscosi, glutinosi insigni copia ; quibus , ubi relinquebatur
morbus, diarrhoea, quibus vero non diarrhoea, illis petechia."^)
Von dem sogen. Upsaliensischen Fieber schreibt Linne an Sau-
vages :
„Hemitriteus frequentissimus ab aliquot annis evasit morbus
Upsaliae. Ab eo morbo restitui innumeros. Primis diebus dedi
Ipecacuanham pro vomitu; dein infusum vinosum Chinae (non
vero in substantia juvat cortex) et omni nocte Laudanum liqui-
dum."
'i Morbi expeditionis classicae 1756 (1757).
In seinem Briefe an Sauvages vom 20. März 1755.
In einem Brief vom 22. April 175f;. — Die von Linn6 benutzten Formeln
waren, den noch aufbewahrten Reccpten nach, folgende :
Ree. Aqu. fontanae .5ijj , Pulv. Ipecacuanh. gr. xii , Tartari tartarisat. gr.
vljj, Oxymel. scillit. 3iii. M. Dr. in vitro. S. Einen Löffel jede 8 Minuten, bis
Erbrechen erfolgt.
Ree. Cort. Chinae Vin. rubri .^v, digere per 4 horas, express. filtretur,
4»
— 52 —
lieber S cor bat giebt es eiue besondere Abhandlung von
Linnö. \, Diese Krankheit wird zwar nicht als eine im Norden ende-
misch vorkommende angesehen, jedoch eingeräumt, dass sie spora-
disch und vielleicht auch im kalten öfter als im warmen Klima vor-
kommt. Dass der Scorbut epidemisch auftritt und namentlich auf
längeren Seereisen viele Unglücksfälle herbeigeführt hat, ist be-
kannt. Die nächste Ursache seines Entstehens glaubt Linne in all-
gemeinen diätetischen und äusseren Verhältnissen suchen zu müssen.
Von dieser Krankheit werden vorzugsweise solche Personen er-
griffen, die ein sitzendes und unthätiges Leben führen, wie die-
jenigen, welche an intermittenten oder anderen Fieberkrankheiten
gelitten haben. Die kalte Luft macht die Flüssigkeiten des Körpers
zur Ausscheidung salzhaltiger Bestandtheile geneigter, und die
festen Gewebe desselben werden dadurch steif und rigide, Wenn
ausserdem in der feuchten Luft die Poren sich schliessen , wird die
Ausdünstung verhindert. Von der Beschaffenheit der Kahrungsmittel
und der Geti'änke hängt in hohem Maasse die Zusammensetzung der
Flüssigkeiten des Körpers ab ; viel Salz enthaltende Speisen wirken
auflösend auf das Blut und die leimartigen Stoffe der Gewebe. Wird
eine solche Nahrung oft und lange in grösseren Mengen genossen,
so wirkt sie sogar zerfressend. Was körperliche Bewegung anbe-
trifft, so ist sie für die Gesundheit ebenso nothwendig, wie die Nah-
rung für den Bestand des Lebens unumgänglich ist. Alle körper-
lichen Uebungen befördern den Umlauf der Flüssigkeiten , erhöhen
die Wärnie und erleichtern besonders die Hautausdünstung. Die im
Blute angehäuften scharfen und salzigen oder sonst zur Zersetzung
geneigten Partikel werden durch körperliche Bewegung aus dem
Organismus entfernt. Wer salzige Speisen in grösserer Menge ver-
reaid. coque in Aqu. fönt. q. s. Colaturae 5vjjj , adele priori Syr. aurant. 5jjj-
M. D. S. Jede Stunde eine Tasse voll, sobald das Fieber nachlässt.
12 Tropfen eines Schlafmittel^ werden uni Mitternacht gereicht.
1) De scorbuto (1775).
-) Clavis medicinae, S. 8.
— 53 —
zehrt, bedarf daher starker Körperarbeit. Unter den gegen Scorbut
anwendbaren Arzneimitteln spielen die zur Klasse der Tetradyna-
misten gehörenden Pflanzen eine hervorragende Rolle, ebenso vege-
tabilische Säuren, Cider, Fruchtsäfte, Chinarinde etc. Speciell wird
der Gebrauch von Sauerkohl zur Verhütung von Scorbut auf Schiffen
empfohlen und der ausserordentliche Nutzen von Malzinfusion nach
der Bereitungsraethode des englischen Arztes Macbride hervorge-
hoben. — Schon früher hatte Linne brieflich Sauvages niitgetheilt,
dass im J. 1740 nach einem sebr kalten Winter eine grössere Anzahl
Menschen an Scorbut gestorben waren , als in den letzten fünfzig
Jahren. Namentlich war dies der Fall mit Militärpersonen und Ma-
trosen. Alle Säufer und dem Trunk ergebenen Leute waren unrettbar
dem Tode verfallen. ')
Rachitis beruht nach Linne auf excessiver Säurebildung im
Körper, Avobei die Knochen ihre Festigkeit verlieren und die Mus-
keln sowie die Ligamente schlaff werden. Rachitische Kinder heilt
man am sichersten durch Kneten (Massage) , Bewegung und solche
Mittel, die dem Entstehen von Säure in den ersten Wegen entgegen-
wirken. — Was man eine Zeitlang bei Kindern Tabes mesenterica
nannte, heisst bei Linne „Hectica puerilis Sy denhamii", ..Febris
lenta infantum Junkeri." An dieser Krankheit, die sich durch stark
geschwollene Mesenterial drüsen , Wunden im Darm (intestina in-
flammata) und Zerstörung der Lungen auszeichnet, sterben in
Schweden nach seiner Angabe eine grössere Anzahl Kinder, als an
irgend einer anderen Krankheit, mit Ausnahme der Pocken. Linne
sagt , er habe in einer recht grossen Menge von Fällen (plusquam
centies) ein wirksames Arzneimittel in der Rhabarbertinctur (aniraa
rhei) , zu einer Drachme täglich , gefunden , und hält dieses Mittel
für specifisch. 2) — Gegen Ruhr, sagt Linne, kenne er kein siche-
reres Mittel als ein Eigelb , aufgelöst in einem Theelöffel Brannt-
') In einem Briefe vom 20. Sept. 1740.
2) Rhabarbarnm (1752).
— 54 —
weiu, zwei bis dreiiual täglich geuommen. Soviel er sonst gegen den
Missbrauch von Branntwein eifert, so hält er ihn doch für ein Schutz-
mittel gegen Kühr und erzählt , dass während einer Epidemie alle
diejenigen Mitglieder dreier Familien, die Branntwein l^enutzten,
gesund blieben. ') Die Ruhr wirkt nach seiner Ansicht durch die
Ausleerungen ansteckend.
Unter den Ursachen der Schwindsucht führt Linne an meh-
reren Stellen seiner Schriften das Einathmen feiner Staubpartikel
an. Bei Personen, die sich mit dem Behauen von Steinen beschäf-
tigen oder sich längere Zeit in stauberfüllter Luft aufhalten, dringen
diese Partikel in die Lungen ein und kleben dort durch den Schleim
zusammen. Es entsteht ein trockener Husten, wodurch dieselben
zwar oft entfernt werden (Tussis calculosa), nicht selten aber bleiben
sie in den Lungen zurück und verursachen Schwindsucht. Sprechende
Beweise hierfür findet man namentlich unter den Steinmetzen in Orsa
in Dalekarlien, die in grosser Anzahl und gewöhnlich vor dem 30.
Lebensjahre an dieser Krankheit sterben.'^) Mit welcher Leichtigkeit
ein solcher feiner Staub Körper, mit denen er in Berührung kommt,
durchdringt, sieht man daraus, dass eine in einer Steinmetz- Werk-
stätte aufgehängte , gut geschlossene und fest zugebundene Thier-
blase nach einiger Zeit mit Staub gefüllt ist. Die Luft ist überhaupt
niemals frei von fremdartigen Bestandtheilen ; sie enthält im Gegen-
theil, wie das Mikroskop zeigt, eine grosse Menge winziger, in der-
selben schwebender Stoffe, sei es Sandpartikel, Haare, Staub, Feder-
chen etc., die beim Athmen in die Lungen eindringen und die erste
Veranlassung zum Entstehen von Schwindsucht sind. Man muss da-
her vermeiden, mit offenem Munde zu athmen, denn es werden nach
Linne's Auffassung diejenigen, .welche sich daran gewöhnt haben, '
nicht selten schwindsüchtig. Daraus erklärt sich zum Theil die
Schädlichkeit des Gebrauches von Kleidein und Kissen, welche mit
1) In seinem Brief an Sauvages vom 20. Sept. 1741.
-) Do generatione calculi (1749), Morbi Artificum (1765).
— 55 —
Federn gefüllt sind, weil sie viel Staub verbreiten, i) Die Auf-
fassung der Schwindsuclit als ansteckende Kranklieit ist Linn6's
Pathologie nicht ganz fremd. Man findet Spuren davon an mehreren
Stelleu seiner Schriften.
Die Ursachen der Blutung aus den Luftwegen sind entweder
Praedisposition, sowie natürliche oder erbliche Anlage, übermässige
Fleischnahrung, Stillsitzen, Missbrauch geistiger Getränke etc., oder
zufallige, z. B. plötzliche Unterbrecliung hämorrhoidaler und men-
strueller Blutungen, Ansti'engung der Lungen durch Fallen, Schreien,
Tanzen, Laufen und Husten, krankhafte Veränderungen in den-
selben oder auch Gemüthsbewegung. Wenn eine Lungenblutung
nicht stark ist und schaumiges Blut zusammen mit coagulirtem aus-
geworfen wird, so ist Gefahr für das Leben selten vorhanden; ver-
bleibt aber das extravasirte Blut in den Luftwegen, so wird es durch
die Körperwärme zersetzt und geht in Eiter Uber, welcher das
Lungengewebe nach und nach zerfrisst und zerstört, es entsteht
Phthisis und ständige Neigung zu Blutungen verbleibt. 2) Um die
Blutung zu stillen, wird Aderlass am Fuss vorgeschlagen, und dieser
muss erneuert werden, falls der Puls voll und die Körperwärme
hoch ist. Linne führt an , dass in kaltes Wasser getauchte und aiif
den Hodensack gelegte Schwämme zum Stillen der Blutimg aus den
Lungen mit Erfolg angewandt worden seien. Ein besonders wirk-
sames Mittel gegen beginnende Schwindsucht sei das Reiten, „ uam
in phthisi incipiente tam certa est medicina, quam cortex peruvianus
in febribus intermittentibus", und Linne erzählt, dass er zwei Asth-
matikern gerathen habe , aus Stockholm nach Ystad zu reiteu, und
dass sie gesund Aviedergekehrt seien. Auf Grund eigener Erfah-
rung preist er auch den Gebrauch von Hypericum in gewissen Arten
von Schwindsucht.
•) Respiratio cUaetetica (1772).
2) De haemoptyai (1767), de haemorrhagiis ex plethora (1772).
•■5) De haeraoptysi (1767).
*) Motns polychreatiis (1763). •'"') Hypericum (1776).
— 56 —
Schon oben wurde erwähnt , dass Linn6 den Keuchhusten
(Tussis ferina) zu denjenigen Krankheiten zählte, deren Ursprung
in einem animalischen Ansteckungsstoff zu suchen sei. Nur dadurch
glaubt er die epidemische Verbreitung desselben erklären zu können
(contagium suum quasi ipsa pestis dispergens) und diese seine An-
sicht von „animalcula viva" stand in Uebereinstimmung mit den
schon früher von vielen Aerzten ausgesprochenen Gedanken. Es
dürfte überflüssig sein, an die gegenwärtige Auffassung der Patho-
genesis des Keuchhustens zu erinnern. Als eins der kräftigsten
Mittel gegen diese Krankheit empfiehlt er die Anwendung von Le-
dum palustre als Infusum oder Decoct.') Bemerkenswerth ist, was
Linne sonst von Ledum schreibt :
„Uebrigens hat hier Husten allgemein geherrscht. Ich pro-
birte allerhand, auch Extr. Nicotianae, das in Stockholm 1740
half, wo alles andere fehlschlug, es half aber nichts. Endlich Hess
ich sowohl die Meinigen, als auch Andere Infusum foliorum Ledi
trinken, wodurch alle binnen 3 Tagen total curirt wurden. "2) —
Der wesentliche Unterschied zwischen Gehirnhämorrhagie
und Gehirncongestionen ist Linne nicht entgangen. Er deutet
darauf hin , dass die apoplektischen Anfälle, welche in vollständige
Genesung übergehen (ut ne minimi dein percipiat aeger molestiam) ,
auf einer Blutcongestion nach den Gefässen des Gehirns beruhen,
oder auch durch eine seröse Ergiessung in seine Höhlen bedingt
werden. 3) — Hemicranie kommt nach seiner Ansicht bei gelehrten
und stillsitzenden Personen oft vor. Er erzählt von sich selbst, dass
er sechszehn Jahre hindurch daran gelitten und alle seine medizi-
nischen Freunde in Europa um Rath befrag-t habe. ^) Die Anfälle
dauerten stets 24 Stunden und zeichneten sich zugleich durch reich-
1) De Ledo palustri (1775).
2j In einem Brief an Abr. Bäck vom 15». Febr. 1751.
3) De haemorrhagiis ex plethora (1772).
*) :,Hemicrania multoties me excruciat, unde iiic morbus? An novisti medi-
cinam, quaeso, communices." In einem Brief an Sauvages vom 22. April 1 750.
— 57 —
liebes Strömen heisser Thränen aus dem Auge der kranken Seite
aus. Selten entging- er einem Anfall innerhalb acht Tagen, und je
länger die Zwischenzeit dauerte, desto schwerer waren die Paroxys-
men. Durch Trinken guten Quellwassers früh morgens und körper-
liche Bewegung v^or der Mittagsmahlzeit glaubte er hergestellt wor-
den zu sein.') Aus seiner Praxis theilt Linnö einen Fall von Aphasie
mit, in welchem der Kranke während eines halben Jahres „alle
Substantiva vergessen, so dass er sich keines einzigen, ja nicht ein-
mal des Namens seiner Kinder, seiner Frau oder seines eigenen,
geschweige denn anderer Menschen , erinnerte. Bat man ihn nach-
zusprechen, so antwortete er : „kann nicht" . Wollte er einen seiner
Amtskollegen nennen , so zeigte er auf den Vorlesungskatalog , wo
sein Name stand, —
In verschiedenen Theilen Schwedens trat während der Jahre
1746 — 47 und 1754— 55 „die Kriebelkrankheit" auf, die durch
ihre eigenthümlichen Symptome und die starken Schmerzen , woran
alle von ihr befallenen Personen litten, allgemeine Besorgniss eiTcgte.
Linne widmete dieser Seuche grosse Aufmerksamkeit und fasste
seine Beobachtungen in folgende Sätze zusammen. Die Krankheit
befällt 1 ) nur Bauersleute, 2) nie Kinder, 3) sie tritt nur im Herbst
auf, 4] zeigt sich ausnahmsweise bei Hausthieren, 5) dauert oft zwei
bis drei Monate , 6) erkrankt Jemand in einem Hause , so werden
die meisten , wenn nicht alle Bewohner davon ergriffen , 7) kommt
nur in Skdne, Blekinge, Hailand und Westergothland , nie aber in
den nördlichen Gegenden Schwedens vor, 8) sie ist nicht an-
steckend. Durch seine Untersuchungen der Umstände , unter
denen die Krankheit auftrat , fand Linne , dass die Ursache ihres
Entstehens in dem Getreide , das die Kranken verzehrten, gesucht
'j Motus polychrestus (17(53).
2j Llnnö'a Aufsatz .,Verges8en aller Substantiva und nament-
lich von Namen- in Svenska Vetensk. Acad. Hand). 1842. 116.
^; In einem Brief an Sauvages vom 22. Nov. 1759, worin er schreibt: „quo
hunc morbum refers? An vobis etiara innotuitV"
— 58 —
Averdeu müsse. ^) Er fand zugieicli , dass es vor Kurzem geerutetes
Getreide war, welclies die Krankheit meistens hervorrief, je länger
es aber lag und trocknete , desto mehr hatte es diese Eigenschaft
eingebüsst. Da die Arbeiter damals in Schweden hauptsächlich
Gerste zum Brodbacken benutzten , war Linn6 der Meinung , dass
die Krankheitsursache in dieser Getreideart läge. Er hatte zugleich
beobachtet, dass nasse imd regenreiche Sommer dem Auftreten
der Krankheit vorangingen , und schloss daraus , dass dergleichen
unreines Getreide mit Unkraut stark vermischt wäre. Er glaubte,
dass Raphanus raphanistrum , welches in nassen Sommern bemer-
kenswerth scharf wird und auf Gerstenfeldern sehr allgemein vor-
kommt, die eigentliche Ursache der Kriebelkrankheit sei. Diese
Pflanze erhielt daher den Namen Krampfsamen. 2) Die Samen
hielt man in dieser Beziehung für das wirksamste Mittel, und Linne
hatte sogar mit Hülsen dieser Pflanze, die er unter die Nahrung von
Truthuhnern mischte , Versuche angestellt ; er fand , dass eins der
Versuch sthiere von Krampf in den Füssen befallen wurde. Auch
Hühner und Schweine, die mit dergleichen unreiner Gerste gefüttert
wurden, erkrankten. Weshalb die Krankheit in Paroxysmen auftrat,
glaubte Linne ebenso wenig erklären zu können , wie die Ursache
der periodischen Anfälle des intermittenten Fiebers, „ubi massa
sanguinea acido est infecta. " Die Erscheinungen des Nervensystems
sind noch nicht ermittelt, „neiTosi enim systematis historia uondum,
quod fatemur, ad umbilicum- perducta est." Auf Grund dieser Beo-
bachtungen führte Linn6 den Namen Raphania ein, als die so-
genannte Kriebelkrankheit bezeichnend, eine Benennung, die sich
in der Pathologie erhalten hat, bis neuerdings eine richtigere Ein-
sicht des ursächlichen Verhältnisses der Krankheit ihr einen neuen
Namen gab. Dass es aber Linne war, welcher diese Krankheits-
foiTO sorgfältig untersucht hat, dürfte ebenso wie die Veranlassung
De raphania (1763).
-) Flora Suecica. Ed. altera. Holmiae 17.35. 612.
— 59 —
ihrer ursprUuglicheu Beueuuung allmälilicli iu Vergessenheit ge-
ratheu sein. Unter den wirksamsten Heilmitteln werden genannt
Ead. Valerian., minor, und Angel, sylvestris, sowie namentlich Tra
Alchemillae vulgaris.
Ebenso dürfte nunmehr fast ganz vergessen oder wenigstens
ziemlich unbekannt sein, dass Linne eine genaue Kenntniss des
Krätzethiers besass. Während die damaligen Aerzte in den
verschiedenartigsten Umständen die Erklärung des Entstehens von
Hautausschlägen suchten und die eigentlichen Ursachen derselben
in der Schärfe der Flüssigkeiten zu erblicken glaubten, sprach Linn6
mit Bestimmtheit aus , dass das Eindringen des Krätzethiers in die
Haut den diese Krankheit begleitenden Ausschlag hervorruft. Die-
sen „Acarus humanus subcutaneus" stellt er als eine Abart des Aca-
rus Siro auf und schreibt darüber : „habitat sub cute hominis sca-
biem caussans, ubi vesiculam excitavit, parum recedit, corporis rugas
secutus , quiescit iterum et titillationem excitat ; nudis oculis sub
cuticula delitescens observatur ab adsueto, acu facile eximitur, un-
gui impositus vix movetur , si vero oris calido halitu affletur , agilis
in ungue cursitat."
Da man früher verschiedenartige Formen von Hautkrankheit
verwechselt und in der Voraussetzung, dass sie von allgemeinen
Störungen in den Flüssigkeiten des Körpers abhingen , alle mit
innerlichen Mitteln behandelt hatte , unterschied Linn6 die Krätze
als eine eigene Krankheit, und man findet in seinen Schriften mehr
oder weniger specifische Mittel gegen dieselbe vorgeschlagen , wie
z. B. Ledum palustre. Er, schreibt über diesen Gegenstand an
Sauvages :
„Medicamentum tuum conti'a scabiem tentabo, sed mihi suf-
fecit Semper unguentum vulgare cum unguent. rosat., quod Sem-
per curat, absque repulsionis metu."^)
1) Fauna Suecica. Ed. altera. Stockli. 1761. 482.
2) In einem Briefe an Sauvages 17ti2.
— 60 —
Im Zusammenhange hiemit kann angeflihrt werden, dass aucli
Linn6 die ältere Vermutbiing aussprach, die Eier von Ascaris gingen in
den menschlichen Körper mit Trinkwasser oder anderen Geti-änken,
in welche sie aus der Erde gelangten, über. ') Dagegen hat die An-
sicht, welche in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ausgesprochen
wurde , dass das Entstehen des Aussatzes auf dem Eindringen eines
Wurms in die Haut beruhe , keine Bestätigung gefunden. Da man
fand, dass der Aussatz hauptsächlich an der Meeresküste vorkam,
glaubte man seine Erscheinung dadurch erklären zu müssen , dass
die Bewohner dieser Gegenden fast ausschliesslich von Fischen
lebten, und man nahm an, dass eine Made, Gordius fluviatilis, die
in verschiedenen Fischarten angetroffen wird, in den Körper ein-
dringe und in der Haut und den inneren Theilen harte Geschwülste
bilde, welche diese Krankheit charakterisiren. 2) Diese Knoten (tuber-
cula) werden als beweglich, schmerzlos, blauroth, hauptsächlich au
der Stirn , den Wangen , Armen , Händen und Schenkeln vorkom-
mend beschrieben. Knoten von einer mehr gelblichen oder schwach
lividen Farbe kommen auch im Munde , Gaumen, Schlünde und au
der Zungenwurzel vor ; Geschwüre entstellen die Nase, die Lippen
sind dick, Hände und Füsse geschwollen. In einigen Fällen findet
man auf der Haut Wunden oder Risse mit geschwollenen, harten,
manchmal blutenden Rändern. Bei allen daran erkrankten Perso-
nen sind die leprösen Knoten gefühllos, die Umgebung aber ist
juckend. 3) —
') De Spigelia Anthelmia (1758).
2) Anton K. Martin sprach diese Ansieht in den Akten der Schwed. Aka-
demie der Wissensch. 1760, S. 307, zuerst aus. In Linn^'s Abhandlung de
Ledo palustri (1775) wird angegeben, dass diese Pflanze von den Kauitscha-
daleii als Infusion mit besonders gutem Erfolg gegen Lepra , die unter ihnen
sehr allgemein vorkommt, gebraucht wird. Auch J. L. Odhelius lobt in den
Akten derselben Akademie 1774. 266, 1779. 218, 1783. 222, die Wirkungen
von Ledum palustre gegen Lepra, von welcher er glaubt , dass sie durch über-
wiegend salzige Nahrung entsteht.
•') Lepra (1765).
— 61 —
Linuö erzählt, dass Elephantiasis unter den Fischern sehr allge-
mein ist, >Yeil sie auf ihren Fischfangreisen von altem Seehunds-
fleisch leben. Die von dieser" Krankheit Ergriffenen werden aus der
Gemeinschaft anderer Menschen ausgeschlossen. ^) — Ein Zuge-
ständniss gegenüber der damaligen Auffassungsweise ist sein Aus-
spruch, dass Kinder kränklich werden, falls ulcerirende Ausschläge
am Kopf mit kaltem Wasser gewaschen werden, und dass das all-
gemeine Vorkommen der Epilepsie im südlichen Smäland seinen
Grund in dieser Sitte hat. -) —
Betreffs des Entstehens von Panaritium (Paronychia) hatte
Linne die Vorstellung, dass dieses Leiden hervorgerufen werde, sobald
die Hände starken Temperaturwechseln ausgesetzt werden , und er
erzählt von sich selbst, dass er davon befallen wurde, als seine
Hand auf der Kückreise aus Frankreich nass ward , nachdem sie
sehr warm gewesen war. 3) — Gegen nicht ulcerirende Frostschä-
den (Perniones) behauptet er'i) mit vielem Erfolg Spiritus salis
acidus (Salzsäure) , womit der Frostschaden bestrichen wird . bis er
verschwunden , angewandt zu haben. — Gegen Hühneraugen wird
der Saft vonEuphorbia empfohlen.^) Uebelriechende und bösartige
Wunden (Ulcera cachoetica) werden, nach Linne' s Erfahrung, nicht
selten mit Feigensaft oder auch Rad. britanicae (Rumex maximus)
geheilt. Dergleichen Wunden gehen oft nicht anders in Heilung
ij In eiuem Brief an Sauvages vom 20. Sept. 1710.
-j In Briefen an Sauvages vom 2. Dec. 1741 und 1744. Diese Ansicht findet
man fex-ner ausgesprochen in Linnu's Aufsatz ..lieber die Ursache des
Vorkommens der Fallsucht in Schonen und dem Kreise Wern
in Sm&land", veröffentlicht in den Akten der Schwed. Akad. d. Wissenech.
1742, S. 27».
>*) De morbis ex Iiyeme (1752j.
*) In einem Brief an Sauvages 1753. „Expertus sum in plus, quam centum
pernionibus laborantibns.'-
•■') Euphorbia (17.52).
Linne hegte zu dieser Pflanze grosses Vertrauen. In einem Brief an Prof.
A. G. Liedbeck vom 7. Sept. 17.50, aufbewahrt in der Universitätsbibliothek zu
Lund, von welchem man mir eine Abschrift freundlichst mitgctheilt hat, äussert
— 62 —
über, als wenn gegen dieselben ein Vesicatorium von Canth ariden,
welches die verdorbenen Stoife zerstört und die Wunde reinigt, an-
gewandt wird. 1) In der Heilkunst sind nämlich zwei Umstände zu
beobachten, welche die Wirkung äusserer Reizmittel erklären, der
eine, dass ein Schmerz den andern vertreibt; und der andere, dass
zwei Ausleerungen gleichzeitig nicht bestehen können. —
Gegen Gangraena , kalten Brand und Scorbutwunden wandte
Linne eine Formel an, welcher er grossen Werth beilegte und die,
aus der damaligen Zeichensprache in technische Ausdrücke über-
tragen, folgendermaassen lautet: Ree. Ciner. Clavell. (= potass.
venal.) ^j, Salis ammoniaci ^jß, Calc. vivae ^jV, Urinae tl 120.
Distilles per vesicam cupream, evadat aqua coerulea: pro usu
externo.2) — Rothe und entzündete Augen werden vom Landvolk
nach Linne's Angabe vermittelst Decoct von Pyrola uniflora behan-
delt , womit die Augen gewaschen werden ; oder die Pflanze "^vird
auch gekaut und das kranke Auge darauf mit dem Speichel be-
feuchtet. 3)
Von den verschiedenen medizinischen Wissenschaften war es
die Kenntniss der Droguen und die Pharmakodynamik oder, wie
die älteren Aerzte sie benannten, Materiamedica, welche Linne
mit Vorliebe bearbeitete. Der nahe Zusammenhang, in welchem
die Botanik und die Pharmakognosie zu einander stehen . macht es
erklärlich, weshalb die Mehrzahl seiner medizinischen Arbeiten
Linne : Uns wurde erzählt , dass Sie ein Ulcus oris malignum erhalten haben
sollen. Ist es cariosum oder fistulosinn, so muss Ead. Britanicae gebraucht
werden , ist es cancrosum , so ist Infusum Belladonnae unverzüglich anzu-
wenden."
') De Meloe vesicatorio (1762).
-] „Est mihi formula in magno pretio quam tibi revelabo, sed rogo ipse ex-
periaris nec alii nulli reveles." Brief an Sauvages vom 22. Aug. 1754.
In einem Brief an Sauvages vom 22. Aug. 1754.
— 63 —
gerade diese Seite der Wissenschaft umfassen. Die meisten seiner
Abhandlungen auf dem Gebiete der Pharmakologie enthalten ge-
naue botanische Beschreibungen derjenigen Kräuter, deren Anwen-
dung in der Medizin der Gegenstand derselben ist. Zugleich wer-
den nicht selten Angaben mitgetheilt über die chemischen Bestand-
theile solcher Droguen, soweit sie bekannt waren, und ebenso Uber
die verschiedenen pharmazeutischen Präparate, welche in den Apo-
theken entweder bereits vorkamen oder in denselben bereitet wer-
den konnten. Die Lehre von den Wirkungen und der Anwendung
der Arzneimittel in verschiedenen Krankheiten wird überdies aus-
führlich behandelt. Es war übrigens damals Sitte, in botanischen
Schriften den medizinischen Nutzen der Pflanzen anzuführen, und
die älteren Botaniker unterliessen es in ihren Arbeiten selten, län-
gere oder kürzere Ausflüge in das Gebiet der Arzneiwissenschaft zu
unternehmen. Den medizinischen Schriften Linne's ist überhaupt
eigenthümlich , dass er in kurzen bestimmten Sätzen solche Wahr-
heiten zusammenzufassen oder auszusprechen sucht, namentlich in
der Pharmakodynamik , welche er für allgemein gültig erachtete,
und seine Abhandlungen über die medizinischen Eigenschaften und
Wirkungen der Pflanzen zeigen daher in ihrer Aufstellung viele
Aehnlichkeit mit dem , was er in seiner Philosophia botanica
auf die reine Botanik anwenden wollte. Eine Frage, die fast im-
mer, sobald Gelegenheit sich dazu bietet, in diesen Abhandlungen
wiederkehrt, ist die, inwiefern die theuren ausländischen Arznei-
mittel durch gleich kräftige, in Schweden wachsende Kräuter etwa
ersetzt werden könnten. Als Fingerzeig für die Entdeckung und
Benutzung dieser Succedanea werden diejenigen wild wachsenden
Pflanzen angeführt, die den entsprechenden ausländischen am näch-
sten verwandt sind, und man muss gestehen, dass in Folge dieser
Arbeiten Linne's manche einheimische Droguen mehr Verwendung
gefunden und sogar in die nordischen Pharmakopoeen aufgenom-
men worden sind, wie Khamnüs franguhi, Solanum Dulcaniara,
Pimpinella Saxifraga, Arcto8tai)hylos Ilvae Ursi, Ceti'aria islandica
— 64 —
u. a. Es ist nämlich ein von Linn6 ausgesprochener und speciell
betonter Satz , dass Pflanzen , welche dem Geschlechte nach über-
einstimmen, auch den Eigenschaften nach übereinstimmend sind,
und dass Pflanzen, die derselben natürlichen Familie angehören,
auch in Bezug auf ihre medizinischen Wirkungen einander nahe
stehen. Die Eigenschaften der Pflanzen werden daher am sicher-
sten nach den natürlichen Familien, denen sie augehören, bestimmt,
sobald mau nur den Nutzen der einen oder der andern solcher Pflan-
zen durch die Erfahrung kennen gelernt hat. So enthält die Fa-
milie Stellatae Pflanzen mit diuretischen Eigenschaften ; zur Familie
Luridae gehören eine Menge verdächtiger Kräuter , wie Solanum.
Hyoscyamus , Nicotiana , Atropa , Datura : die Umbellatae sind,
wenn sie in trockenen Gegenden wachsen, aromaticae, calefacientes
et pellentes, werden aber an feuchten Stellen giftig, die Wurzel und
die Samen enthalten die wirksamsten Bestandtheile : die zur Classe
Polyandria gehörenden Pflanzen sind im Allgemeinen giftig, ebenso
diejenigen, deren Blüten einen von den Kronenblättern getrennten
Honigkelch besitzen: die Verticillatae sind „fragrantes, nernnae.
resolventes et pellentes, folia virtute pollent " : die Pflanzen der Fa-
milie Siliquosae sind in frischem Zustande „acres, iucidentes, ab-
stergentes et diureticae, " beim Trocknen aber wird ihre Kraft ver-
ringert ; die Compositae haben im Allgemeinen einen bittereu Ge-
schmack, die Orchideen sind aphrodisiacae, die Coniferae „resiui-
ferae et diureticae." Kräuter, die an ti-ockenen Stellen wachsen,
sind aromatisch und haben einen eigenthümlichen Geschmack, wie
Thymus, Salvia, Origanum, Hyssopus, Lavandula u. a. Saftiger
Boden erzeugt geschmacklose Pflanzen (olera pleraque] und an nas-
sen Stellen werden die Pflanzen nicht selten scharf und corrosiv.
wie Ranunculus, Calla, Nymphaea, Phellandrium, Cicuta u. a. ;
Frühlingspflanzen besitzen meisteutheils scharfen Geschmack und
die medizinisclien Kräuter haben im frischen Zustande bei weitem
Philosophia botanica. Stockholm 1751. §33".
— 65 —
nicht denselben Geschmack, den sie nach dem Trocknen erhalten.
Alle aromatischen Pflanzen sind im trockenen Zustande am kräf-
tigsten. —
Als Linne seine in damaliger Zeit so hoch gepriesene- Materia
medica herausgab , welche während einer längeren Reihe von Jah-
ren den Verfassern auf diesem Gebiet zum Vorbilde diente, ordnete
er die pharmazeutischen Pflanzen nach seinem botanischen System.
Sein systematisirendes Genie offenbarte sich hier wie überall,
und man dürfte in keiner pharmakologischen Arbeit aus der medi-
zinischen Literatur der früheren oder zunächst folgenden Zeit eine
solche Klarheit und Uebersichtlichkeit finden, wie in Linne's Materia
medica. Die Arbeit trägt freilich den eigenthümlichen Charakter
der damaligen Zeit und zeigt die damals herrschende Neigung, eine
Menge Pflanzen aufzunehmen , deren Bedeutung und Werth für die
praktische Medizin vollkommen illusorisch ist. Je weniger ent-
wickelt die Wissenschaft, desto grösser war auch die Mannigfaltig-
keit der Arzneimittel, welche sie der leidenden Menschheit bieten
zu müssen glaubte. Das Kindesalter der Wissenschaft hatte ihren
Jüngern einen Ueberfluss an Stoffen, Arcana und Droguen über-
liefert, vor welchem sie rathlos und erstaunt standen. 2) Mit über-
zeugender und kräftiger Stimme warnte Linne vor diesem Miss-
brauch und drang darauf, dass man lieber die Wirkungen der ein-
fachen Arzneimittel kennen lernen müsste, als die in damaliger
Zeit so gewöhnlichen zusammengesetzten Formeln zu verschreiben.
Hierüber schreibt er:
„Gerade die langen formulae sind es, welche die ganze Me-
dizin verdorben haben, ich wundere mich, wie so Viele ohne
Hülfe von simplicium eflfectu Aerzte sein können. Ich lehre nun
1) Philosophifi botanica, §§ 339—3.57.
2) „Tanta enim hodierna medicina superbit virium medicinalium copia , ut
non arcto libello capiatur, sed potius proprio pondere ruat." Linne, Mate ria
medica.
Hjelt, Linne als Arzt.
5
— 66 —
diese Sache und glaube mit Nutzen für meine Studiosi, dass sie
erfahren, was demonstriret ist und was nicht. ^)
Er hat daher eine grosse Menge Pflanzen aus dem Kreise der
„offizinellen Kräuter" ausgeschlossen und die Anzahl der Droguen,
welche die Apotheker verpflichtet waren zum Gebrauch vorräthig
zu halten, in wesentlichem Maasse A^erringert. 2) Ueber diesen
Gegenstand schreibt er an Abrah. Bäck :
„Wir können in unseren Apotheken recht gut folgende ent-
behren: Rd. Pastinacae, Saxifr. alb., rubr., Herb. Adianthi,
Agerati, Beccabungae, Hb. Perfoliatae, Ptarmicae, Pulsatillae,
Flores Beilid. minor., Endiviae, Sem. Brassicae, Calend. etc.
Sie, mein Freund, welcher im Collegio medico der Einzige
ist, der etwas thun kann, müssten die Pharmacopoeen raffiniren.^)
Ich arbeite Tags Uber mit der Materia medica , um simplicia
flir das k. Collegium gut aufgestellt zu bekommen, eine Menge
schliesse ich aus und viele werden von neuem aufgenommen. " ^)
Linnö's Materia medica ist eine seiner wichtigsten medizini-
schen Schriften und fand bei seinen Zeitgenossen allgemeine An-
erkennung ; er schreibt darüber :
„Ich erhielt heute Briefe von Gronovius und van Royen, mit
mehr Schmeicheleien für die Materia medica, als ich von der
ganzen Welt jemals zu erhalten hoffte.'-
Sogar A. von Haller nennt diese Arbeit „comraodissimum prae-
lectionibus compendium, inter optima auctoris". Bei ihrer Ausarbei-
tung holte er den Rath seiner gelehrten Freunde ein betreffs mebre-
^1 In einem Brief an Abr. Bäck vom 30. Oct. 1749.
-j „Nostrates medici in eo sunt, ut dispensatorium reformetur, secundum
quod phai-macojoolae tenentur medicamenta praestare. Dedi itaque disserta-
tionem de simplicibus 1) exchidendis, 2) de introducendis.'' Im Briefe an Sau-
vages vom 15. Jan. 1754.
■'') Im Brief vom 23. Oct. 1749.
*] Im Briefe vom 24. Sept. 1753. Vgl. die Abhandlung Linn^'s: Censura
medicamentorum simplicium vegetabilium (1753).
■') Im Brief an Abr. Biiclc vom 10. Nov. 1749.
— 67 —
rer darin aufgeuommenen Püauzen, über deren Platz im System
und richtige Bestimmung er nicht sicher war. An Bernhard de
Jussieu schreibt Linne :
„Materiam raedicam (absoluta Flora Zeylanica) edam com-
pendiosissimam , evitabo omnia quae nec propria experientia nec
aliorum fidi casus confirmarnnt. Tu qui in his multrim vales, mihi
unicam vel alteram observationem mittas , ut liceat honorificam
tuara facere mentionem.
Non novi ad quaenam genera sequentes sunt referendae.
Myrobalani indae; Chebulae, Belliorcae, Citrinae; Anisum stella-
tum; Gum. elemi, Sagapenum, Carannae, Bdellii, Myi-rhae, Oli-
bani, Ammoniac, Opobalsamum, Balsam, penivianum, Copaiva,
Lignum Aloes: Sang. Draconis, Lign. rhodium, Simaruba. Si
novisti herum aliquam, candide et amice genus mihi dicas ; pu-
blicas tibi grates agam." i)
Auch an A. von Haller richtet er fast dieselben Fragen :
Materiam medicam fere absolvi , sed Agallochum , Lignum
Rhodium, Carannam, Elemi. Sagapenum s. Ammonicum, Myr-
rham, Thus, Balsamum peruv., Anisum stellatum, Myrobalanus
Chebul. Bellirric. citrinum non novi ; scilicet plantas unde desu-
mantur : si novisti, quaeso impertias." 2) i -
Linne suchte seine Arbeit fortwährend so vollständig als mög-
lich zu machen und derselben eine den Fortschritten der Wissen-
schaft entsprechende Form zu geben. Diese Verbesserungen imd
Zusätze theilte er jedoch nur bei seinen Vorlesungen öder in einzel-
nen medizinischen Abhandlungen mit, hatte aber die Absicht, eine
neue Auflage herauszugeben, „die, wie ich hoffe, anders wird als
die frühere. "-3)
') Im Brief an Bernh. de Jussieu vom 24. April 17 17, gedruckt in Me moir s
of the American Academy of arts and sciences. N. Sor. Vol. V.
Cambridge and Boston 1 8.55, S. 200.
'■i; Im Brief vom 2.3. Oct. 1717 /bei Stoever).
Im Brief an J. A. Murray vom 24. Jan. 1765. (Eigenh. Aufzeichn.
S. 190.)
5*
— 68 —
Mit Bemitzung der hiuterlassenen SammluDgeu des Vaterf*
beabsichtigte auch sein Sohii; die ..Materia medica" von neuem her-
auszugeben, der Plan wurde aber durch seinen frühen Tod ver-
eitelt. 1)
Linne's Materia medica gestattet uns: einen tiefen Einblick in
seine Auffassung des praktischen Zieles der Arzneikunst zu werfen,
und diese Arbeit besitzt für uns ein um so -grösseres Interesse, da
sie in wesentlichem Maasse dazu beigetragen hat, die Liebe für und
die Einsicht in die medizinische Naturgeschichte und Pharmakologie
ins Leben zu rufen, durch welche seit langer Zeit die Aerzte und
Apotheker Schwedens in einer so hervorragenden Weise sich aus-
gezeichnet haben. Betrachtet man die Entwickeluug der medizini-
schen Wissenschaft in Schweden seit der Mitte des vorigen Jahi-
hunderts näher, so gelangt man unwillkürlich zu der Ueberzeugung.
dass es der überwältigende Einfluss Linne's war, welcher ihr jenes
naturwissenschaftliche Gepräge ertheilte, das sie seitdem getreu
bewahrt hat. In Folge der Richtung , die der grosse Botaniker der
Wissenschaft gab, hat die seit Jahrhunderten existirende Verbin-
dung zwischen Naturgeschichte und Medizin sich in Schweden län-
ger erhalten, als Adelleicht in irgend einem andern Laude, und zu
beiderseitigem Frommen die herrlichsten Früchte getragen.
Linne's Materia medica wurde, wie er selbst sagt, „in gratiam
discipulorum studiosorum Upsaliensium" herausgegeben und sollte,
weil sie für die Aerzte Schwedens bestimmt war, hauptsächlich die-
jenigen offizineilen Pflanzen umfassen, welche in die vom CoUegium
medicum 1741 herausgegebene Medizinalverordnung aufgenommen
worden waren. ..et eas quidem omnes uulla exclusa, quamvis
1) „Materiam medicam postea edam, sed exspecto adhuc proxima aestate
varia ex America, quae emenda commisi Botauicis meis ibi degentibus, vellem
quoad ortum ut botanicus nullius pharmaci originem ignorare." Im Brief an
P. D. Giseke vom 1. Nov. 1779 (bei Stoever).
— 69 —
nmltae et excludi possent et deberent." Doch hat Linne geglai^ht,
anch einige solche Pflanzen aufnehmen zu müssen, deren wirksame
Eigenschaften zwar anerkannt worden, welche aber die Aerzte
nicht das Recht hatten , als in den Apotheken vorräthig vorauszu-
setzen, weil sie in der eben angeführten Medizinalverordnung fehlten,
lieber diese wird ein besonderes Verzeichniss gegeben , in welches
unter anderem Rad. Saleb, Stipites Dnlcamarae, Herba Liunaei,
Uvae ursi, Muse, islandic., Semina Daturae, Herba Laurocerasi,
Bacc. Belladonnae, Rad. Senegae, Cort. Simarubae aufgenommen
waren. Linne hat mit der ihm eigenen Klarheit und Kürze bei einer
jeden offizineilen Pflanze alles angegeben, was von derselben in
pharmakologischer und therapeutischer Hinsicht sich sagen lässt.
Dadurch wurde seine Materia medica ein wirkliches Handbuch nicht
nur für Schwedens Aerzte, sondern auch für seine Apotheker; es ent-
hielt die wichtigsten und zuverlässigsten Aufschlüsse und verhalf,
indem es sich auf die „Flora Suecica" berief, den Apothekern zur
Kenntniss derjenigen Droguen, die im eigenen Lande zu erhalten
waren. Durch die Hinweisung auf den „Hör tu s Upsaliensis"
bekamen sie Aufschlüsse über offizineile Pflanzen, die Linne mit
mehr oder weniger Erfolg in Schweden einzuführen und zu culti-
vireu gesucht hatte, „damit die Apotheker weder die von mir unter-
nommenen Versuche vergeblich wiederholen, noch aus fremdem
Lande verschreiben möchten , was in unseren Gärten ebensogut wie
in den ausländischen wächst und gedeiht." ') Durch sein leb-
haftes Interesse für die Einführung ausländischer Medizinalpflanzen
und deren Kultur in Schweden, sowie seine fleissigen Versuche.
>; Auf Ersuchen der schwedischen Akademie der Wissenschaften lieferte
Linne in den Akten 1741, S. 81 ff., einen „Aufsatz Uber diej enigeu Me -
dizinalpflanzen, die in den Apotheken vorräthig sind und bei
uns im Vaterlande wachsen." Hierher gehört auch die Abhandlung
Plantae officinales (1753). S. A. Hedin erwähnt in seiner Dissertation :
,Quid Linnaeo Patri debeat medicina," Ups. 1784, der einzigen Ab-
handlung, welche, soviel mir bekannt, sich mit Linne als medizinischem Schrift-
steller beschäftigt, seine Verdienste um die Pharmakologie.
— 70 —
durch sorgfältige Pflege die Eigenschaften der einheimischen phar-
mazeutisch en Kräuter so zu sagen zu verbessern und zu veredehi.
wurde die Anlegung sog. Medizinalgärten in den Städten befördert J
Auf Grund seiner Erfahrungen ertheilte Linne manche wichtige Auf-
schlüsse, wie die offizineilen Pflanzen gesammelt und aufbewahrt
werden müssten , damit sie ihre Eigenschaften besitzen oder beibe-
halten könnten.-^) Ueber die medizinischen Pflanzen, die botanisch
noch nicht genau bestimmt worden , enthält die Materia medica be-
sondere Angaben, und unter den Pflanzen kommen Benennungen
vor, welche zu ermitteln der Forschung einer späteren Zeit vorbe-
halten blieb. Bei einer jeden Pflanze findet sich kurz angegeben :
ihr Heimathland , die Art ihrer Kultur und ihres Wachsens , sowie
ihre pharmazeutische Benennung, ausserdem die in Apotheken be-
nutzten Pflanzentheile und Präparate, als radix, lignum, cortex.
folia, flos, fructus, semina et aqua destillata , oleum stillatitium.
oleum empyreumaticum , Spiritus, Extracte u. s. w. Die Natur und
die Eigenschaften (qualitates) der Pflanzen werden nach ihrem Ge-
ruch, Geschmack und äusseren Aussehen bestimmt; ihr höherer
oder geringerer offizineller Werth vrird bezeichnet mit den Worten
dubia, infida, eximia, heroica, trita, usitata, exoleta etc. Schliess-
lich werden die verschiedenen Krankheitszustände , in denen die
pharmazeutischen Pflanzen zur Verwendung kommen, genannt.
Linne sagt jedoch, er habe nur solche aufgenommen, von denen zu-
verlässige Verfasser oder er selbst wirklichen Nutzen gehabt, und
erzählt , vne er als Arzt am Krankenhause der Marine so viel als
möglich alle Arzneimittel geprüft : „et infida atro carbone, tuta albc
calculo notavi." Nichtsdestoweniger sah er sich genöthigt, in zwei-
felhaften Fällen ein Fragezeichen hinzuzufügen ; war er aber von
der spezifischen Wirkung des Mittels überzeugt, ein Ausrufungs-
zeichen. Von allen zusammengesetzten Arzneimitteln hatte Linne,
'/ Hortus Upsaliensis I. Ups. 174S. Horticiiltura acadeiuica J751).
-I Obstaciila mcdicinae (1 752).
— 71 —
wie er selbst sagt, seine besondere Ansicht. Was er sonst von den
medizinischen Eigenschaften (vires) der Pflanzen äussert , giebt be-
nierkenswerthe Aufschlüsse über seinen hohen wissenschaftlichen
Standpunkt in damaliger Zeit. Eine jede darauf sich beziehende
Angabe beruht, seinem Dafürhalten nach, ausschliesslich auf der
Theorie der Wirkungsart der Arzneimittel , obschon diese Theorie
recht oft rein speculativer Natur ist. In seiner Materia medica hat
Linne zugleich eine Anordnung der Pflanzen nach therapeutischen
Gesichtspunkten in gewissen , von der Erfahrung gut geheissenen
Klassen gegeben. Wir wollen hier eine Uebersicht dieses seines
pharmakodynamischen Systems mittheilen. ^]
Classes.
Ordines.
Liquida
Evaciiator ia,
e corpore exterminantia
massam
Nervina,
in nervös agentia
Orgastica.
Convulsiva.
Medica-
m e n t a
agunt
vel in
< Excitantia.
Stupefacientia.
Solida
Phantastica,
Eelaxantia.
Muscularia,
in musculosas fibras
agentia
Corrodentia.
Si)irituosa.
Corroborantia.
Solido-
Liquida
Topica,
extei'ne applicabilia
VisccTalia,
viscera petentia
Seinen Grundzligen nach liat dieses System grosse Aohnliclikcit mit
der Aufstellung Boerhaave's in dessen Tractattis de viribus med! ca-
mentorum. Ed. secunda. Parisiis 1726.
— 72 —
Dieser rein empirische Eintheilungsgrund für ein pharmakody-
namisches Pflanzensystem wurde jedoch später von Linn6 aufge-
geben, als er den von ihm ausgesprochenen Satz : „was Geschmack
hat, wirkt auf die festen und flüssigen Theile des Körpers, was Ge-
ruch hat, wirkt auf die Nerven", mehr oder weniger consequent.
durchzuführen suchte. ^) In diesem Satz ist eine unbewusste Vor-
stellung des nothwendigen und nahen Verhältnisses zwischen den
medizinischen Wirkungen der Pflanzen und deren chemischen Be-
standth eilen enthalten. Es war, kann man sagen, eine dunkle
Ahnung des Zieles, zu dem die Pharmakodynamik streben muss.
Zufolge des unentwickelten Standpunktes, auf welchem die Chemie
sich noch befand , konnte Linne ebensowenig wie irgend ein An-
derer gewisse bestimmte Kriterien aufstellen für die verschiedenen
Grappen, in welche die Pflanzen laut diesem Princip hinsichtlich
.ihrer Wirkungen eingetheilt wurden. Hier gab es keinen anderen
Bestimmungsgrund , als die äusseren , in die Augen fallenden Er-
scheinungen bei den einzelnen Pflanzen und eine so zu sagen in-
stinktive Auffassung ihrer Eigenschaften. Er ging von der Voraus-
setzung aus , dass gewisse Arzneimittel auf die festen Gewebe ein-
wirken könnten, indem sie den Zusammenhang zwischen deren
kleinsten Theilen verminderten oder vergrösserten, während andere
die Fähigkeit besassen, theils die Beschaffenheit der Flüssigkeiten
in Bezug auf ihre Zusammensetzung und Schärfe zu verbessern,
theils solche Flüssigkeiten, deren Menge für den Organismus schäd-
lich wäre, auf geeigneten Wegen zu entfernen. —
Da Linne, wie bereits früher erwähnt wurde, fünf verschiedene
pathologische Zustände sowohl in den Spannungsverhältnissen der
') „Medicamenta agunt odorc in maternam (seu internam et nerveam) par-
tem corporis, sapore in paternam (seu externam et fibrosam)", heisst es in dev
Abhandlung ,.,De Menthae usu" (1767). ,,Linnaeus medicamentorum vires sapore
et odore dijudicandos primus rite intellexit, evicit ac erudito aperuit orbi. ' 5
Vgl. Medicamenta graveolentia (1758).
■') Sapor medicamentorum (1751).
— 73 —
festen Theile, als auch in der chemischen Zusammensetzung der
Flüssigkeiten des Organismus annahm , fand er auch mit Rücksicht
auf die medizinischen Eigenschaften der Pflanzen fünf verschiedene
Arten von Geschmack und Geruch, nebst ihren Gegensätzen. Er
betrachtete überhaupt die FUnfzahl als den Ausdruck der Vollen-
dung der organischen Form, und sowie die Pflanzen, deren einzelne
Blütenblätter auf diese Zahl zurückgeführt werden konnten , seiner
Auffassung nach die entwickeltsten waren , ebenso suchte er auch
in der Gesammtheit aller Krankheiten und der gegen sie ange-
wandten Arzneimittel diese bedeutungsvolle Zahl wiederzufinden.
Namentlich in seiner „Clavis medicinae" tritt dieser Versuch
hervor, die Arzneimittel und speciell die medizinischen Pflanzen in
Bezug auf Geschmack und Geruch der FUnfzahl unterzuordnen.
Linne nahm verschiedene Arten von Geschmack an, näm-
lich den wässrigen, sauren, fetten, süssen und schleimigen Ge-
schmack, sowie deren Gegensätze, den trockenen, bittern, zusam-
menziehenden, scharfen und salzigen. Dieser Eintheilung nach
zerfallen die Arzneimittel und speciell die Pflanzen in folgende
Gruppen :
1 ) A q u 0 s a , welche die Flüssigkeiten verdünnen und reinigen
und die festen Theile feuchter machen. Zu diesen Arzneimitteln ge-
hören die säuerlichen Getränke (acetaria), die bereitet werden „ex
oleribus et fructibus horaeis s. Melo, Chamaemorus, Fraga, Cerasus,
Prunus alba und ausgepressten Kräutersäften, sowie unter den
Pflanzen Rad. Rapae, Brassicae, Pastinacae, Daucus, Portulaca,
Spinachia, Taraxacum etc.
2) Sicca stärken die Fibern des Körpers und saugen Flüssig-
keiten auf, wie Lign. Guajacum, Sassafras, Juniperi, Rad. Sarsae-
parillae, Chinae, Semina Pisi, Fabae, Phaseoli, Ervi. Sie werden
auch äusserlich gebraucht bei schwammigen Wunden , wie Semina
Lycopodii, Herbae capillares.
3) Acida wirken auf die festen Theile verkleinernd ein. Ge-
braucht man saure Mittel im Uebermaass . so entstehen dadurch
— 74 —
Bleichsucht, Leucorrlioea, Hydrops und allgemeine kachektische Zu-
stände. Auf die flüssigen Bestaudtheile des Körpers wirken sie
kühlend. Zu dieser Gruppe gehören unter den Pflanzen Citi'us. Ber-
beris, Oxycoccus, Vitis idaea, Kubus, Tamarindus, Acetosa etc.
4) Amara wirken auf die festen Theile stärkend und werden
daher tonica genannt: sie befördern den Appetit, die Digestion, die
Diaphorese und die Körperwärme und stirauliren das Gefässsystem.
Durch ihre balsamischen Eigenschaften verhindern sie Fäulniss und
Säurebildung in den Flüssigkeiten , durch welche alle Pflanzen und
Thiere aufgelöst und zerstört werden, i) Es ist eine alte Erfahrung,
dass Wermuth das Sauerwerden des Bieres verhindert, Hierher
gehören Fei tauri , Aloe, Myrrha, Faha St. Ignatii, Nüx vomica.
Quassia, China, Pareira, Gentiana, Centaurium, Trifolium aquati-
cum, Carduus benedictus, Tanacetüm, Artemisia, Absinthium etc.
5) Pinguia wirken auf die festen Theile erweichend und auf
die Flüssigkeiten einhüllend. Durch diese ihre Eigenschaft stossen
sie den Wundschorf (Escara) ab und vermindern die Schmerzen in
Wunden , sind von Nutzen bei Verbrennungen und lindern Kolik
und Husten. Beleibte Menschen sind gewöhnlich froh gesinnt, wäh-
rend ältere, magere und trockene Personen (rigidi) oft melancholisch
sind und ein unruhiges Gemüth besitzen. Hierher gehören Oele.
Sperma ceti, Vitellus, Balsamum copaivae, Tolu. opobalsamum.
peruvianum, Terebinthina.
6) Styptica sind zusammenziehende Mittel: zu denselben ge-
hören Quefcus, Acacia, Uvaursi, Tamarix, Catechu, Rad. Bistortae,
Tormentillae, Caryophyllatae, Pimpinellae. Fructus Granatum. Cy-
donia: ' •
7) Dulcia machen die festen Gewebe nachgiebig relaxando)
und versüssen die Flüssigkeiten (edulcorando).''; „Kein Chylus ist
') .,Ainari8 acida et piitrida franguntur." Lign. Quassiae (1763).
2) Sapor medicamentorum (1751).
3) ,,SoIida incrassant non eodem modo ac styptica et amara, crassiores qui-
dem reddendo fibras, sed simul laxas. '
— 75 —
nutrieus, sobald er nicht süss ist." Alte Personen und diejenigen,
deren Fibern steif sind , thun gut , Zucker zu essen, wogegen Kin-
dern und solchen, deren Gewebe weich und nachgiebig sind, dessen
übermässiger Genuss schädlich ist. Je milder die Flüssigkeiten des
Körpers sind, desto gesunder ist der Mensch und auf eine desto
längere Lebenszeit kann er hoffen.^) Zu den dulcia werden ge-
rechnet Lac dulce, Emulsiones, Saccharum, Syrupi, Conserven, Con-
fectiones, Mel, Rad; Liquiritiae, Polypodium, Cacao, Amygdala etc.
8) Acria reizen die festen Gewebe. und machen die Flüssig-
keiten scharf (coiTodunt solida et incidunt humores). Dieselben
finden da Anwendung, wo die Absonderungen träge und die Flüssig-
keiten klebrig sind , wie „in gewissen morbi soporosi und Kache-
xien, bei Hydrops, Asthma und Scorbut. « In grosser Menge
genommen, wirken sie erwärmend, irritirend und sogar zerstö-
rend auf die kleinsten Fibern. Aeusserlich angewandt, rufen sie
Rothe hervor, und bei innerlichem Gebrauch werden sie aus dem
Körper durch dessen Ausfuhrwege ausgeschieden. „Will man die
Ausleerungen des Körpers befördern, so muss man Acria hinzu-
fügen, wodurch man weniger vom Purgirmittel braucht." Zu dieser
Gruppe zählt Linne Euphorbia, Arum, Capsicum, Cicuta, Ledum,
Ranunculus, Sinapis, Armoracia, Raphanus, Allium. Porrum, Cepa,
Scilla, eine Menge Umbellaten etc.
9) Mucosa wirken einhüllend auf die festen Theile und ver-
mindern die Schärfe in den Flüssigkeiten (agunt in solida lubri-
cando et in fluida acria involvendo, inviscando) . Sie finden daher
Anwendung bei Steinkrankheiten, bei Kolik, Dysenterie, Strangu-
rie. Heiserkeit und Husten und werden benutzt als Emulsionen,
Gargarismen, Augenwasser etc. Zu diesen Mitteln rechnet Linne
Semina Ocymi, Psyllii, Cydonii, Gmi arabicum, Cerasi, Traga-
canthae. Radix Pulmonariae, Herb. Malvae, Althaeae, Meliloti,
Fructus Caricae.
') Dulcia nntriimt, si simul mucosa s. pinguia.
— 76 —
10) Salsa irritiren die Gewebe und durchdringen die Flüssig-
keiten (agunt in solida irritando et fluida penetrando) . Sie beför-
dern die Absonderungen und lösen Schleim ; im Uebermaass an-
gewandt, wirken sie auf das Blut, wie bei Scorbut, so dass das-
selbe aus den Gefässen herausdringt. Zu dieser Gruppe von Arznei-
mitteln gehören Sauerbrunnen (acidulae), Meerwasser, Pisces salsi.
Salicornia, Salsola, Chenopodium marit. etc. —
Ebenso wie der Geschmack der Arzneimittel, nach Linnes Auf-
fassung, einen Fingerzeig für die Beurtheilung ihrer Eigenschaften
gab, war auch der Geruch für die Entscheidung ihrer therapeu-
tischen Anwendung von grosser Bedeutung. Es ist bereits erwähnt
worden, dass Linnö den allgemeinen Satz aufstellte, dass diejenigen
Arzneimittel , welche Geruch besitzen , ihre Wirkung auf und durch
die Nerven ausüben. Er ging hiebei von der physiologischen Vor-
stellung aus , dass der Geruch durch eine Bewegung innerhalb der
Nerven hervorgerufen werde.') Analog den verschiedenen Arten de>
Geschmacks stellte Linne gleichfalls zehn Kategorien von Ge-
ruch auf.
1) Ambrosiaca verbreiten einen starken erstickenden Ge-
ruch, wie Ambra, Moschus, Vanilla, Orchis, Abelmosch (Abel-
moschus moschatus) , Matrisylva (Asperula odorata) , Balsama plera-
(fue. -) Es wird angenommen , dass sie vor Ansteckung schützen,
sowie anticontagiös und aphrodisiaca seien. Linne führte in Schwe-
den den Gebrauch von Moschus bei der Behandlung exanthemati-
scher Fieberkrankheiten ein, und nach seiner Angabe wurde der-
selbe später von allen Aerzten mit grösstem Erfolg angewandt,
2) Hircosa haben einen stinlcenden Geruqh , wie Geranium,
Vulvaria, Linaria, Valeriana, Mentha, Salvia. Sie sind repellentia.
3) Fragrantia verbreiten einen süssen Geruch , wie Flores
citi*i, aurantiorum, tiliae, violae, rosae, Lign. Santali, Lign. Sassa-
') Odorea medicamentoruni (17.52).
2; Ambrosiaca (1759). Im Brief an Sauvages vom 15. Jan. 1754.
fras, Crocus, Rad. Iris florent., Rad. Caryopbyllat., Herb. Meliloti
u. 3. w. Sie wirken beruliigeud und scblafbef ordernd.
4) Nidorosa haben einen herben Geruch, wie Humulus,
Rosmarinns Sylv., Vitex, Absinthium, Tanacetum, Matricaria, Hys-
sopus, Coffea etc. Sie sind grösstentheils bittere Stoffe und ver-
ursachen, im Uebermaass gebraucht, Rausch und Kopfschmerzen.
5) Spirantia verbreiten Kräutergeruch, wie Marum, Thy-
mus , Salvia , Melissa , sowie eine Menge Verticillatae, fermentata
dosi refracta s.Vina, Spiritus destillatus, Spiritus salis ammon. Sie
sind Analeptica und vermehren gewisse Absonderungen ; die hier-
her gehörenden Pflanzen besitzen vertheilende Eigenschaften , und
ihre Wirkung liegt nicht in ihrem Safte oder ihrer Substanz, son-
dern darin, dass sie durch ihren Duft (halitus) auf die Nerven wir-
ken ; solcherart leiten sie die Aufsaugung in geschwollenen Theileu
ein. ') Durch die erhöhte Nerventhätigkeit entsteht in den festen
Theilen eine Bewegung vor- und rückwärts , durch welche die in-
flammatorische Stasis so zu sagen zerschüttelt und verdünnt wird.-)
6) Tetra zeichnen sich durch einen „ verdriesslichen und
tibelstinkenden" Geruch aus, wie Papaver, Opium, Cimicifuga,
Paeonia, Sambucus, Umbellatae s. Coriaudnim, Anethum, Conium,
Cicuta, Castoreum. Bei dem Gebrauch grösserer Dosen wird die
Pupille erweitert und die Iris paralytisch , wodurch eine Verminde-
nmg der Sehkraft entsteht (Scotomia) ; öfter benutzt , wirken sie
lähmend, in passenden Gaben aber stillen sie Schmerzen und Spas-
men. Namentlich was Opium anbetrifft, müssen bei Bestimmung
der Krankheitsfoimen, in denen es benutzt werden kann, stets die
Krankheitsursachen berücksichtigt werden. Linnö giebt den wich-
tigen Aufschluss , dass man für Narcotica die Dosis nicht vergrös-
sem oder deren Gebrauch nicht fortsetzen darf, sobald die Pupille
erweitert wird und die Augen einen ungewöhnlichen Glanz erhal-
' De Menthaeusu (1767).
■2) De Maro (1774).
— 78 —
tenJ) Bereits Kaij hatte die Aufmerksamkeit auf die Wirkung der
Belladonna auf die Pupille gelenkt.
7) Aromatica haben einen sog. „Spezerei-Geruch", wie
Cinnamomum, Cassia lign., Canella alb.. Laurus, Camphora, Ca-
ryophyllus, Myrtus, Piper, Cardamomum, Zingiber, Acorus, An-
gelica, Gentiana alba, Carum, Cyminum, Petroselinum mac, Cere-
folium, Foeniculum, Anisum stellatum etc. Sie beschleunigen die
Blutbewegung.
8) Nauseosa verbreiten einen Ekel erregenden Geruch. Sie
sind theils a mar a, wie Aloe, Elaterium, Colocynthis extr., Bryo-
nia, Scammonium, Senna, Gratiola, theils acria, wie Veratrum,
Helleborus, Jalapa, Ipecacuanha, Sambucus, theils styptica, wie
Rheum, Lapathnm, theils acida, wie Tamarindus, theils dulcia,
wie Cassia fist. , Polypodium, Dulcamara. Die hierher gehörenden
Mittel sind emetica, cathartica, diuretica, sudorifera, errhina.
9; Orgastica haben einen stechenden Geruch, wie Scilla.
Allium, Cepa, Porrum, Scordium, Alliaria, Thlaspi, Armoracia.
Sinapis, Raphanus, Nasturtium, Erysimum, Asa foetida, Ammo-
niacum.
10)''Virosa zeichnen sich durch einen eigenthümlich scharfen
Geruch aus, wie Datura, Hyoscyamus, Belladonna, Solanum, Ta-
bacum, Arnica, Cannabis.
Ausser dieser, mit Rücksicht auf Geschmack und Geruch ge-
ordneten &rüppirung der in der Arzneikunst augewandten Pflan-
zen findet man in dem pharmakodynamischen System Linne's noch
weitere zehn Abtheilungen, grösstentheils die bereits angeflihrten
Kräuter enthaltend, aber theils nach äusseren Kennzeichen auf-
gestellt , theils auf Grund gemeinschaftlicher medizinischer Eigen-
schaften zusammengesetzt. Schon in der Philosophia bota-
nica hatte Linne erwähnt, dass, abgesehen von dem Geschmack
und Geruch , die Farbe der Pflanzen bei Beurtheilung ihrer medi-
ij OpiutB (1775).
— 79 —
zinischen Anwendbarkeit nicht ganz ohne Bedeutung sei. Wir
finden daher unter diesen Abtheiluugen eine Gruppe, die Linn6
Colorata nennt, und bei welcher er hinzufügt, dass die rothen Pflan-
zen gewöhnlich styptica sind und die Ausleerungen verhindern, wie
Catechu, Bistorta, Tormentilla, Rosae rubr. fl. , dass die gelben
(lutea) auf die Galle Avirken , wie Berberis , Frangula, Gmi gutta,
Crocus, Rheum, Lapathum, und dass die schwarzen Pflanzen Blut-
flüsse stillen, wie Hypocistis, Fungus melitensis, Orobus niger,
Anacardium. Man wird hiebei unwillkürlich an die Signaturlehre
von Paracelsus erinnert. Man dachte sich nämlich, dass die äussere
Form- und das Aussehen der Pflanzen ein Ausdruck für die ihnen
innewohnende Kraft seien, und dass man bei genauer Beobachtung
gewisser Eigenthümlichkeiten in ihrem Bau etwas den Krankheits-
symptomen, gegen welche sie angewandt werden. Entsprechendes
finden würde. Diese aus dem vorhergehenden Jahrhundert her-
stammenden, im Geist der damaligen Zeit tief wurzelnden aber-
gläubischen Vorstellungen werden an mehreren Stellen in Linne's
Schriften zwar bekämpft, aber der Gedanke kehrt dessenunge-
achtet unter der einen oder anderen Form oft wieder. So werden
als Toxica, welche hinsichtlich ihres Geschmacks acria corrosiva
sind oder hinsichtlich ihres Geruchs den Tetra , Nauseosa und Vi-
rosa angehören, „ lactescentia pleraque, polyandrae polygonae
(ord. natur. XXVI], luridae omnes (ord. natur. XXVIII], contortae
omnes [ord. natur. XXX), tricoccae omnes (ord. natur. XXXVIII),
umbellatae aquaticae" und gewisse Liliaceen aufgenommen. Der-
gleichen phannakodynamisch zusammengestellte Gruppen sind fer-
ner die Lactariae, „welche die Milch in der Brust färben oder
verändern", die Urinariae, Anthelminthica, Phthiriaca
und Exanthematica. Die Ordnung Causaria enthält sogar
eine Menge medizinischer Pflanzen , zusammengestellt nach den
verschiedenen Krankheitszuständen, in denen sie gebraucht werden.
Die Namen Crepitantia und Lactescentia beziehen sich auf
die äusseren Eigenschaften der zu ihnen gehfirenden Pflanzen. —
— so —
Linnes Materia medica wurde in Deutscliland in mehreren Auf-
lagen von seinem Schüler J. Chr. D. Schreber herausgegeben, wel-
cher hiebei nicht allein Aufklärungen und Eathschläge von Linn6
selbst, der „seine Aufmerksamkeit auf Umstände lenkte, die vor-
zugsweise beachtet werden müssten", sondern auch Notizen nach
seinen Vorlesungen, „quarum a variis amicis omni diligentia calamo
exceptarum copia mihi fuit", benutzte. In Schreber s. Ausgabe sind
ausserdem sowohl die offizineilen Stoffe enthalten, die- aus dem
Thier- und Pflanzenreich genommen werden und die Linne in zwei
besonderen Abhandlungen beschrieben i) , als auch die Pflanzen,
welche nachLiune's Ansicht unter die Venalia aufgenommen werden
müssten , alles nach „Speeles plantarum", „Systema naturae" und
„Mantissae" geordnet. Hinsichtlich der Eigenschaften, Wirkungen
und Anwendung der Pflanzen hat Schreber zahlreiche Zusätze ein-
geführt: wie er selbst sagt, alles jedoch weggelassen, was Linne
wahrscheinlich nicht gebilligt hätte. -) Linne scheint indessen mit
der von Schreber besorgten Ausgabe nicht ganz zufrieden gewesen
zu sein, denn er schreibt an Abr. Bäck :
„Vor kurzem habe ich Materiam medicam erhalten, auf-
gelegt in Leipzig, sehr wenig und fast gar nicht verändert. Hätte
ich sie auflegen können, so wäre sie gewiss eine andere ge-
worden." 3)
Seinem Schüler und Freunde Prof. Andr. Murraj in Göttin-
gen schreibt Linne :
^) Materia medica in regno animali (1750). — Materia medica in regno lapi-
deo (1752).
2) Caroli Linnaei Materia medica per regna tria naturae.
Ed. altera, auctior. Curante J. Chr. D. Schrebero. Lips. et Erlang. 1772. S».
— Ein Abdruck dieser Auflage wurde in Wien 1774, 80 herausgegeben. — Fer-
ner eine Auflage in Leipzig und Erlangen 1782. 8». — Ed. quinta, auctior. Ed.
J. Chr. D. Schreberus. Lips. et Erl. 1787. Schon vor den Schreber'schen Auf-
lagen soll Linnö's Materia medica 1762, SO in A^'enedig von L. Tessari
herausgegeben worden sein, eine Arbeit, die ich jedoch nicht gesehen habe.
3) Im Brief vom 12. März 1773.
— 81 —
„Ich habe gehört, dass Prof. Schreber meine Materia medica
herausgegeben hat, es wundert mich, dass er mir nicht ein Exem-
plar zugeschickt; hat er darin etwas neues hinzugefügt?^) — Ich
höre, dass Herr Prof. Schreber meine Materiam medicam heraus-
gegeben , habe sie aber nie zu sehen bekommen , was von ihm
inraisonable ist.2)
Die von Linne eingeführte Richtung und Methode für die Be-
arbeitung der „Materia medica" ward später von mehreren Ver-
fassern aufgenommen, die alle mehr oder weniger seinem Beispiel
folgten. Vondiesennennen wirnur J. Gr. Grleditsch, J.R. Spiel-
mann, J. Andr. Murray und P. J. Bergius.^) —
Aus der vorstehenden Darstellung wird man sehen , dass die
Pharmakodynamik oder, richtiger gesagt , die Lehre von der An-
wendung der medizinischen Gewächse in der praktischen Heilkunst,
für Linne ein Lieblingsthema war, womit er sich gern beschäftigte
und zu welchem er stets zurückkehrte. Ueberblickt man die medi-
zinische Literatur, so kann man , ohne zu übertreiben , behaupten,
dass es sein Verdienst ist, nicht nur diesen wichtigen Theil der
medizinischen Wissenschaft geordnet und gesichtet, sondern zu-
gleich durch die systematische Behandlung desselben den Grund zu
seiner selbständigen Entwickelung und Bearbeitung gelegt zu haben.
Linn6's Interesse für die Pharmakologie offenbart sich in den
zahlreichen Abhandlungen, in denen er innerhalb dieses Gebiets
') Im Brief vom 26. Oct. 1772.
2) Im Brief vom 15. Febr. 1773.
3] Die zum grossen Theil unbefugten Anmerkungen , welche Vicq-d'Azyr
in seiner „Eloge de Mr. de Linne" gegen seine Materia medica (und Ge-
nera Morbonim) macht, widerlegt C. M. Blom in Sämling af rön och
upptäckter, gjorde i senaretider uti physik, medicin, Chirur-
gie u. s. w. I. Gütheb. 1781. S. 257—284.
*) Deberent vestrates medici Wiennenses, qui'omnia tentant in morbis de-
speratis, et imprimia tentare, quid hae duae plantae (Gliome gigantea et Lobelia
longiflora) valercnt,'' schreibt Linne an N. J. Jacquin im Brief vom 9. Oct. 1769,
gedruckt in Caroli Linnaei Epistolae ad Nie. Jacquin, ex auto-
graphis ed. C. N. a Schreibers. Vindobon. 1841.
Hjelt, Liniiü als Arzt. ()
— 82 —
liegende Fragen behandelt. Er bearbeitete in diesen Schriften theils
grössere Abtheilnngen seines pharmakologischen Systems ausführ-
lich , theils beschrieb er die Naturgeschichte und die medizinischen
Eigenschaften einzelner wichtiger Pflanzen. Von diesen Abhand-
lungen mögen erwähnt werden die „Medicamenta graveo-
lentia" (1758), in welcher er die hierher gehörenden Pflanzen in
subinsipida, acria und amara eintheilt; eine jede dieser Gruppen
zerfällt wiederum in zwei Ordnungen, fortiora und debiliora. Zu
den graveolentia subinsipida fortiora werden solche Pflanzen ge-
rechnet, wie Datura, Hyoscyamus, Tabacum, Mandragora, Bella-
donna, Dulcamara, Cannabis, während Orobus, Calendula, Nerium,
Viola und Tilia die Ordnung debiliora bilden. Zu den graveolentia
acria fortiora gehören Valeriana major et minor, Iris, Jalapa, Colchi-
cum, Paeonia, Aconitum u. s. w. Graveolentia amara fortiora be-
stehen unter anderen aus Nux vomica, Aloe, Rhabarbarum, Senna,
Colocynthis u. s. w. Ein grosser Theil der graveolentia sind sopori-
fera, narcotica, anodyna. während andere repellentia und purificantia
sind. Sie wirken theils auf die Gefühls-, theils auf die Bewegungs-
nerven. In einer späteren Arbeit „Medicamen,ta purgantia"
(1775) werden ferner die verschiedenen Gruppen der graveolentia
behandelt, welche zunächst angewandt werden, um die Auslee-
rungen des Körpers zu befördern. Sie gehören grösstentheils zu der
Ordnung Nauseosa und zerfallen, ihren physiologischen Wirkungen
nach,invomitoria, purgantia proprie sie dicta, diaphoretica, diuretica,
emmenagoga , sialagoga und sternutatoria. Hier wird die Ansicht
ausgesprochen, dass Abführmittel benutzt werden müssen, nicht nur
um unverdaute Ansammlungen aus dem Darmkanal zu entfernen,
durch deren Gährung und Zersetzimg Krankheiten entstehen, sondern
auch um die Natur zu unterstützen in ihrem Bestreben, den Körper
und namentlich die Blutmasse von schädlichen und überflüssigen
Stoffen zu befreien. Die Natur führt dies um so leichter aus, wenn
ihr von der Kunst hierbei nachgeholfen wird , und sobald ihr ein
Ausweg eröffnet worden, beseitigt sie ohne Schwierigkeit Alles.
— 83 —
was für sie niclit geeignet ist. Die Natur strebt stets danach , den
Krauklieitsstoff nach einer angegriffenen Stelle zu versetzen. ')
Rhamnus frangnla wird besonders gelobt, obgleich die Rinde dieses
Baumes in damaliger Zeit mehr vom Volk, als von den Aerzten ge-
braucht wurde ; ihre Wirkung ist zuverlässig und bei [Benutzung
derselben bedarf es keiner Vorsichtsmaassregeln. Der Rhabarber ist
ein Tonicum bei Schwächezuständen im Venti-ikel und im Darm-
kanal und wirkt auf die Leber, weshalb Tinctura (anima) rhei von
älteren Aerzten Anima hepatis benannt wurde. Von einheimischen
Pflanzen , die lösende Eigenschaften besitzen und welche die viel-
fach theureren ausländischen Arzneimittel ersetzen können, werden,
ausser Rhamnus frangula, auch Rh. catharticus, Linum catharticum,
Eui)atorium cannabinum, Genista tinctoria, Prunus spinosa, Berbe-
ris vulgaris, Convolvulus sepium , Valeriana officinalis, Bryonia
alba , Sambucus ebulus (purgans hydragogum) , Liehen aphthosus
(Flor. Suec. 1098) etc. aufgenommen. Von kultivirten Pflanzen,
welche das Klima verti'agen, werden genannt Gratiola officinalis,
Asarum europaeum, Rheum palmatum, Mirabilis longiflora, Momor-
dica elaterium. — Die therapeutische Anwendung von Mentha ist
Gegenstand einer besonderen Abhandlung (1767), und in dieser Ar-
beit entwickelt Linn6 seine Ansicht von dem Geruch der Pflanzen
näher. Seine Anschauung von der Wirkung der Spirantia ist be-
reits früher erwähnt \yorden. Jede Entzündung ist begleitet von
einem qualvollen Gefühl oder Schmerz, denn „die gespannte, nahezu
zen-eissende Fiber schmerzt." In Entzündungskrankheiten wird da-
Iier Mentha gebraucht , um die Thätigkeit der Nerven zu erregen,
wodurch die Entzündung gelöst und der Schmerz aufgehoben wird.
Auch die Fibern,, welche ihre Elasticität verlieren, sobald sie nicht
unter dem Einfluss der Nerven stehen ; erhalten durch dieses Mittel
ihre Spannkraft wieder. Auf diese Weise lässt sich die Wirkung
') .,Qua data porta, incongrua ista felicius exterminat natura. lila enim ad
locum aflfectum materiam deducere stiulet morbosani."
6*
— 84 —
der Carmiuativa , unter cleueu Mentha einen liervon-agenden Platz
einnimmt , bei Kolikleideu und Blähungen im Darmkanal erklären,
wenn die Fibern in den Wandungen desselben erschlafft sind.
Mentha verhindert das Entstehen von Säure bei Ammen , und mau
nimmt an, dass sie die Bildung von Milch und Käse vermindert: sie
wird mit Vortheil benutzt bei Hysterie, welche oft auf Stönmgen in
den Geschlechtsorganen beruht, und soll ein kräftiges Mittel zur
Herbeiführung von Unfruchtbarkeit sein , weshalb schon Aristoteles
den Rath gab, „mentham tempore belli nec edito, nec bibito."
Nachdem Linne die Quassiarinde von Dr. Dahlberg erhalten,
führte er sie in die Therapie ein unter den bitteren und tonisireudeu
Stoffen zur Behandlung der intermittenten und exacerbirenden Fie-
berkrankheiten. Er schreibt darüber :
„Ich habe Eadix Quassiae gegen Upsala-Fieber versucht und
sie unvergleichlich gefunden." ^)
Mehrere andere Pflanzen wurden zu Linn6's Zeit unter die Zahl
der Arzneimittel aufgenommen. So finden wir, dass das Infus von
Blättern der Linnaea gegen Rheumatismus gepriesen wird, und
Linne sagt, er habe diese Pflanze in der genannten Krankheit ebenso
specifisch gefunden, wie China bei kaltem Fieber. Darüber
äussert er :
„Iii nosocomiis classis navalis, quorum medicus primarius
sum, innumeris casibus expertus sum vires plantae, quam Lin-
naeae nomine indigitavit Gronovius, eamqne certo Rheumatismum
tollere, si per octiduum propinetur foliorum infusum, ac China in
febribus." 2]
') lu einem Briefe an Abr. Bäck vom 22. März 1763. — Ligniim Quassiae
(1763).
2) In einem Briefe an Bernh. de Jussieu vom 5. Febr. 1740, gedruckt in
Memoirs of the American Academy etc.. Vol. V, S. 190. Dieselben
Aeusserungen findet man in Briefen an Sauvages vom 21. Januar 1740 und in
einem anderen (1762), worin erzählt wird, dass Linnaea in allen dänischen Apo-
theken vorräthig ist. Die von Gronov nach Linu6 benannte Pflanze erliielt
gleichzeitig von Linnö's Gegner Siegesbeck den Namen Obolaria, um den
geringen Werth seiner botanischen Arbeiten anzudeuten.
— 85 -
Mit Spigelia anthelmia stellte Linii^ Versuclie gegen Würmer
mit Erfolg an. ') Den Gebrauch .von Senega bei der Behandlung von
Brustkraukheiten führte Linn6 in Schweden ein und theilt verschie-
dene Fälle aus seiner Praxis mit , in denen dieses Arzneimittel von
augenfälliger Wirkung gewesen war. Bemerkenswerth ist , dass er
auf Grund der in Amerika erworbenen Erfahrungen Senega gegen
Schlangenbiss empfiehlt. Als entsprechende schwedische Pflanze
wird Polygala vorgeschlagen. 2)
Zu denjenigen Droguen, deren Einführung in die Medizin Linne
sich als vorzügliches Verdienst anrechnet, gehört Solanum Dul-
camara. Es giebt keine Pflanze in der ganzen. Materia medica,
äussert er, die bei der Behandlung von Gicht , Scorbut , Gelbsucht
und Rheumatismus mit diesem Mittel verglichen, geschweige denn
demselben vorgezogen werden kann. 3) Mit besonderem Erfolg
brauchte er Dulcamara gegen Syphilis und deren Folgen und er-
zählt selbst , wie ein schwedischer Edelmann , der da glaiibte , er
könne im eigenen Lande von dieser Krankheit nicht befreit werden,
nach dem südlichen Frankreich gereist war, um Sauvages zu con-
sultiren , und von diesem den Rath erhielt, Dulcamara zu brauchen
nach Linn6's Anweisung , die er durch eigene Erfahrung bestätigt
gefunden habe. Die Behandlung von Syphilis mit vegetabilischen
') Im Brief an Stiiivages vom 22. April 175ö.
-) Radix Senegae (1749). Im Brief an Sauvages vom 24. Febr. 1756. In der
Abhandlung „Spelcifica Canadensium" (1756), S. 28, schreibt Linnö es
dem Gebrauch von Senega zu, dass er von einer Peripneumonie hergestellt
wurde, und in der Dissertation ,,de Morsura Serpentum'- (1762) wird S. 17
erzählt, dass er ein Weib von den Folgen eines Schlangenbisses durch den Ge-
brauch von Senega in der Form von Pulver geheilt habe.
•'') De Dulcamara (1771). „Dulcamara ward durch Versuche besonders spe-
cifique in lochiis retentis , Arthritide vaga, rheumatismis befunden ; nur ergiebt
sich der Uebelstand , dass sie den Magen grawirt und Ekel erregt, etwas laxirt
und den Appetit ein wenig benimmt, namentlich anfangs, bevor man sich daran
gewöhnt; mit Milch getrunken , gravirt sie weniger.'' Im Brief an Abr. Bäck
vom 21. Nov. 1746.
L
— 86 —
Arzneimitteln war eine Frage, die Linn6 überhaupt in hohem Grade
inte.ressirte. Er schreibt an Bernh. de Jussieu:
„Kalmius autem noster redibit ex America proximo vere. Ille
■ detexit nobis stupendam medicinam , specificum scilicet Indoruni
sylvestrium contra luem veneream, quam extollit tanquam medica-
mentum nunquam incassum propinatum ; ut eo aegri semiputridie
lue intra 10 vel 16 dies perfecte curati, absque incommodo absque
dolore; dum e contra quamplurimi methodo usitata mercuriali
saepe diem curantur dolorifice, pereunt sub cura. At vero novum
medicamentum curat absque recidiva, absque dolore, absque diffi-
cultate, absque ulla fere observatione in diaeta. Gerte si Helve-
tius vester hanc medicinam detexisset, integros auri montes a rege
vestro reportasset. Est haec medicina radicis Geauothi ame-
ricani infusum. cui additur, si morbus sit nimis radicatus, „ra-
dix Ranunculi fol. subrotundo virginici", flore parvo Henn. Lugdh.
514 (Ranunculus abortivus L. Sp.).
Hoc infusum s. debile decoctum hauritur mane, vacuo ventri-
culo, si vero purgat, tam insequentibus diebus parciori dosi et
debiliori infuso. Radix Ranunculi tarnen parcissime addenda,
cum illa ventriculo infesta sit.
In debiliori morbo sufficiunt solae radices Lobeliae secundae
Hort. Cliff. (Lobelia syiihilitica) in infuso s. decocto, non diu de-
cocto, et quotidie pro potu ordinario poto."
Jussieu antwortet darauf :
„ Kalmius alter discipulus pretiosam ex America mercedem
tibi renuntiavit, specificum Indorum sylvestrium adversus luem
veneream, medicamentum nobile experimeutis et observationibus
saepe confirmatum , cujus vires eximiae probantur facili medica-
tione et prompta morbi hujus curatione. Optandum superest. ut
'j Im Brief aus Upsala 1750 (ohne Datum), gedruckt in Memoirs of the
American Academy etc.
— 87 —
eosdem sahitares apud uos sortiatur eflfectus, mediciua aegris tau-
topere utilis." ')
Scherzhaft schreibt Liuu6 wegen dieser Pflanze seinem Freunde
Ahr. Bäck:
„Ich bin besorgt um Ceanothus, nachdem ich von Kalm
ihre Kraft erfuhr, und habe dem Gärtner befohlen , täglich nach-
zusehen, damit ich im Stande wäre, Ihnen zu dienen, falls ein
Unglück sich ereignen sollte, ich besitze aber nur drei Exemplare.
Sobald Sie verheirathet worden, bin ich diese Sorge los." 2)
Dass Linne sich übrigens mit venerischen Krankheiten befasst
haben sollte, ist wenig wahrscheinlich. Vielleicht war sein Interesse
für die Heilung derartiger Uebel eine Erinnerung au seine erste ärzt-
liche Thätigkeit. Er schreibt in Bezug darauf an Ahr. Bäck :
„Mein Remedium gegen Movbos syphiliticos ist im Auslande
probiret worden und hat sich ungemein bewährt, sowohl in Syphi-
litide vera, als auch in Gonorrhoea."^)
Die Zusammensetzung von Guy's berühmtem Mittel gegen Krebs,
dessen Bestandtheile nicht bekannt waren , behauptet Linne ent-
deckt zu haben. Die Haut zunächst der Wunde ist in geeigneter
Weise blosszulegen und das Pulver dort einzustreuen , wodurch der
kranke Theil von dem gesunden abgestossen wird und zuletzt
wegfallt. Er erzählt. Viele seien in dieser Art geheilt worden. ') —
Folia uvae ursi, von Sauvages gegen Krankheiten der Harnwege
empfohlen, wurden von Linn6 in die Praxis der schwedischen Aerzte
eingeführt. ^) — Ueber die Benutzung von Conium gegen chronische
Anschwellung der Lymphdrüsen schreibt er: „der bisher geprie-
sene Gebrauch von Conium und Cicuta beginnt abzunehmen." —
I, Iiu Brief an Linne, dat. Paris den 19. Febr. 17.51, dieselbe Arbeit S. 218.
h Im Brief 17.51.
Im Brief vom 29. Jan. 1751.
*J Im Brief an Sauvages vom 2(3. Jan. 1701.
Im Brief an Sauvages vom 25. Aug. 17()1.
— 88 -
Sowohl in Linnö's Flora Lapponica und Suecica, als
auch in der Beschreibung seiner Oeländischen und Gothländischen,
Skäneschen und Westgothischen Reise findet man eine grosse An-
zahl äusserst interessanter und werthvoller Angaben Uber die An-
wendung einheimischer Pflanzen in der Medizin. Es werden in
Folge dieser Beobachtungen eine Menge einheimischer Drgguen in
den Arzneischatz aufgenommen und daraus entwickelte sich zum
Theil die schwedische Hausarzneikunst, welche in dem dünn be-
völkerten Lande von so grossem Nutzen gewesen ist und soviel
Segen verbreitet hat.
„ Occupatus sum , " schreibt Linne , „ in tradendo publice et
privatim materiam medicam et doceo imprimis studiosos curare
rusticos inempta medicina."
Grosse und dauernde Verdienste um die Entwickelung der
Pharmakodynamik hat sich Linne dadurch erworben, dass er näher
ermittelte, was unter Gift im Verhältniss zu anderen Arzneien zu
verstehen sei, und dass er den stark wirkenden Mitteln ihren rich-
tigen Platz in der Therapie angewiesen hat. Unsere Arzneimittel
gegen Krankheiten , sagt Linne , sind theils Nahrungsmittel , theils
Gifte (toxica), jene erhalten die Gesundheit, indem sie die Körper-
kräfte unterhalten, die letzteren stellen dieselben wieder her, indem
sie den Organismus verändern. Das schärfste Gift kann als Arznei-
mittel wirken, sobald es in kleinen Dosen angewandt wird, und ein
gewöhnliches Arzneimittel vermag in grossen Gaben die Natur von
Gift anzunehmen , ja sogar Nahrungsmittel , im Uebermaass ge-
nossen, werden für uns schädlich. Jedes Arzneimittel wirkt daher,
im Grunde genommen , in derselben Art wie Gifte , indem es Ver-
änderungen im Körper einleitet. 2) Man hat zwischen Arzneimittel
und Gift einen scharfen Unterschied machen wollen und geglaubt,
M Im Brief an Abr. Bäck vom 19. Nov. 1754.
2; Lign. Colubrimim (1749). Denselben Satz findet man, ausser an anderen
Stellen, anch in Materia niedica fcanon 16 und 17 ausgesprochen.
-- 89 —
die Gifte zerstörten sogar in kleinen Gaben den Körper ; dies sei
aber ein Vorurtheil , ja ein Irrthum , welcher aus der Wissenschaft
entfernt werden müsse. Denn kein verständiger und kenntnissvoller
Arzt darf Bedenken tragen, nach Umständen Gifte in passendem
Verhältniss und geeigneten Gaben zu verschreiben. Dagegen können
die vortrefflichsten Arzneimittel in der Hand des Unwissenden zum
Schwerte des Rasenden werden, i) Als Linne den Satz aussprach,
dass die widerwärtigsten Gifte bei richtiger Anwendung uns die
vortrefflichsten Arzneimittel liefern, führte er der Wissenschaft und
der Erfahrung das Wort. Ich kann nicht sagen, äussert er selbst,
von wie gi'ossem Nutzen mir dieser Lehrsatz bei Erörterung der
wichtigsten und schwierigsten Fragen der medizinischen Wissen-
schaft gewesen ist. 2) —
In der letzten medizinischen Abhandlung, die Linne's Namen
trägt, werden die allgemeinen therapeutischen Ansich-
ten, welche aus seinem System hervorgehen und dem prakti-
schen Verfahren des Arztes zu Grunde gelegt werden müssten,
unter folgende Gesichtspunkte zusammengefasst. Die Natur ist der
beste Arzt. Wider die Natur vermag die Arznei nichts. Wohin die
Natur sti-ebt, dahin muss sie geleitet werden, und wird ihr ein Aus-
weg eröffnet , so wählt sie ihn. Zweierlei Arten von Ausleerungen
können kaum gleichzeitig bestehen. Ein Schmerz vertreibt den an-
deren. Eine jede Absonderung schwächt. Gifte heilen, Nahrungs-
mittel erhalten den Körper. Die Natur beseitigt , nebst dem Gift,
auch andere unreine Stoffe. Die schärfsten Gifte werden, in ge-
eigneter Weise in geringen Gaben gebraucht, die wirksamsten
Arzneimittel. Die Gewohnheit schwächt die Wirkungen der Arznei-
mittel ab, stetiger Wechsel derselben verräth Unwissenheit. Die
Wirkung der Arzneimittel umfasst die Krankheitsarteu , nicht die
Krankheitsgruppen, und wird von deren Geschmack und Geruch
'j Vires plantaruin (1747).
2i Mediciunenta graveolentia (1758).
— 90 —
bestimmt, so wie durch die Erfahrung- bestätigt. Wer entgegen-
gesetzte Stoffe mit einander mischt, ist ein Idiot. Die Gegensätze
heilen ihre Gegensätze, die eine Krankheit die andere. Wenn nur
ein einziger Ausweg zur Rettimg bleibt, so muss man ihn versuchen,
auch wenn er gefährlich ist.^)
Ausser den bereits erwähnten Schriften von Linne, welche
Gegenstände aus dem Gebiete der Pharmakologie und Pharmakody-
namik abhandeln, gehören hierher noch die Abhandlungen de
Methodo investigandi vires- medicamentorum chemica (1753;, Con-
sectaria electrico-medica (1753), de Cortice peruviano (1758), Opo-
balsamum declaratum (1764), de Fraga vesca (1772), Observatio-
nes in Materiam medicam (1772), Planta Cimicifuga (1774)', de Maro
(1774), Opium (1775). —
Unter den medizinischen Wissenschaften, welche Linne mit
besonderem Interesse bearbeitete und die er verpflichtet war vor-
zutragen, war auch die Diätetik oder die Lehre von der Gesund-
heit des Individuums. Es ist bezeichnend , dass er in den auf die
Diätetik bezüglichen Fragen seinen Ansichten durch zahlreiche
scharfsinnige Beobachtungen Geltung und Verwendung zu ver-
schaffen verstand. Seine Vorträge über diese Gegenstände lenkten
in Folge ihrer Vielseitigkeit und des Reichthums an treffenden Bil-
dern aus dem täglichen Leben die allgemeine Aufmerksamkeit auf
manche bisher übersehene, für die Gesundheit äusserst wichtige
Wahrheiten. Linn^'s Vorlesungen verbreiteten unter den Aerzten
Schwedens ein Interesse und Verständniss für die Hygiene, welche
höchst beachtenswerth sind. Mehrere ihrer hervorragendsten Cory-
phäen, ein David Schulz von Schulzenheim, Abr. Bäck, J. G.
Wahlbom, Nils Dahlberg, J. L. Odhelius, C. H. af Hjärne
U.A., veröffentlichten Schriften von hohem Werthe aus dem Gebiete
der öffentlichen Gesundheitspflege, wodurch allmählich die Auf-
merksamkeit auch, des grossen Publikums auf die Wichtigkeit ihrer
') Canones medici 1775 .
— 91 —
Forderungen gelenkt wurde. Während die hygienische Wissen-
schaft in den grossen Culturländern im allgemeinen noch unbe-
arl)eitet und zurltckgesetzt war, vermochte die medizinische Literatur
in Schweden nicht wenige Schriften auf diesem Grebiete aufzu-
weisen. Mit tiefer Dankbarkeit erkennen wir, dass die Aussaat
ärztlicher Bildung, die Linne in Schweden ausgestreut, gekeimt
\md reiche Früchte getragen hat.
Die Diätetik oder die Lehre von der naturgemässen Lebens-
weise des Menschen beruht, nach den damals herrschenden An-
sichten, auf sechs Hauptbedingungen (res non naturales) : frische
Luft, köi*perliche Bewegung, Schlaf, Nahrungsmittel, Ausleerungen
des Körpers und Gemiithsbewegungen . In genauer Uebereinstimmung
mit seinen oben geschilderten pathologischen und therapeutischen
Theorien ging Linne auch bei der Darstellung der Lehre der Diä-
tetik von denselben allgemeinen Lehrsätzen aus und suchte diesel-
ben auf dem G-ebiete der Gresundheitslehre durchzuführen. Der-
gleichen Sätze sind folgende Aussprüche. Die Luft wirkt auf un-
seren Körper durch Wärme und Kälte. Die Kälte macht die Fibern
steif und die Flüssigkeiten mehr salz artig (muriaticos) ; die Wärme
dagegen verursacht in den festen Theilen Erschlalfung und beför-
dert die Bildung von Leimstoflf (Gluten). Je weicher die Fibern
sind, desto schneller gehen sie in einen gemssen Grad von Klebrig-
keit über (oritur viscidum), der Gegensatz hiezu ist das Salzartige.
Bewegung macht die Flüssigkeiten feurig, lebhaft (phlogisticos)
und die Fibern zähe: bei Bewegung entsteht Wärme, die Flüssig-
keiten werden vertheilt und alle Theile nähern sich einander. Ruhe
befördert Bildung von Säure in den Flüssigkeiten und macht die
Fibern mürbe (teneras). Stillsitzen ist eine Hauptursache, weshalb
', Do effectu et cura vitiorum diaeteticorum generali (1766). Beinabe die-
selben Gedanken findet man ausgesprochen in den Abhandlungen de varietate
ciborum (1767) und de medico sni ipsius (1768). Die letztere Abhandlung ist
ins Schwedische übersetzt unter dem Titel ., Siittet att vara sin egen liikare"
(Die Art und Weise, sein eigener Arzt zu sein"). Westeräs 1770. 8o.
— 92 —
die höheren Stände weit mehr als die niederen an Hysterie leiden :
Blasenstein und Podagra kommen öfter bei älteren und wohlhaben-
den Personen vor. Schlaf befördert Fettbildung in den festen Thei-
len und macht die Flüssigkeiten ölig , während die Fibern durch
Schlaflosigkeit mager macilentas) und die Flüssigkeiten scharf
(acres) werden. Diejenigen, welche die Nächte wachend zubrin-
gen, sind Fieberkrankheiten , Blutflüssen , Schwindel und Kopfweh
ausgesetzt", daher das SprUchwort „aut Stüdes aut amas," - Das
beste , ja ein specifisches Mittel gegen allzu grosse Beleibtheit ist
Nachtwachen , und darin liegt die Ursache , weshalb beleibte Per-:
sonen , die Wittwer geworden sind und an Schlaflosigkeit leiden,
binnen kurzem an Leib und Seele erschlaffen. Bei Hunger werden
die Flüssigkeiten vermindert oder erschöpft und die Fibern dünn,
während genügende Nahrung sie anschwellen lässt und die Flüssig-
keiten vermehrt. Was die Ausleerungen anbetrifft, so ist es be-
kannt, dass der Körper nicht weniger verliert, wenn seine Flüssig-
keiten austi'ocknen (si succi laudabiles amittantur) , als wenn excre-
mentielle Stoffe, die während der Lebensarbeit in der Blutmasse
sich ständig bilden, in Uebermaass zurückgehalten werden. Bei
reichlichen und starken Ausleerungen werden die Flüssigkeiten
dick und die Fibern trocken (torrida), der Körper wird geschwächt
und Magerkeit tritt ein , während die festen Theile feucht und die
Flüssigkeiten dünn werden , sobald die Absonderungen nicht regel-
mässig erfolgen. —
Diese Auffassung der wichtigsten Bedingungen für die Erhal-
tung der Gesundheit finden wir in Linne's Clavis medicinae
wieder, in welchem er dieselben in Bezug auf die Therapie behan-
delt. Uebertretung der Vorschriften der Diätetik ruft Krankheits-
zuständß hervor, die bekämpft werden müssen durch die der Natur
innewohnenden heilenden Kräfte, deren Kenntniss und Anwen-
dung die praktische Erfahrung lehrt. Die oben erwähnte Theorie
von dem Gegensatze zwischen der Natur und den Ursachen der
Krankheiten, sowie von den gegen dieselben angewandten Arz-
— 93 —
ueien tritt somit auch hier hervor. Gegenüber einer jeden der oben
genannten diätetischen Lebensbedingungen, deren Bedeutung Linne
durch ein einziges charakteristisches Wort andeutet, werden die
bereits angeführten Hauptgruppen- von Arzneimitteln zusammen-
gestellt und zugleich ihre Eigenschaften angegeben. Da diese Zu-
sammenstellung die ganze pathologisch-therapeutische Anschau-
ungsweise Linne's in ihrem inneren Zusammenhange sinnreich ver-
anschaulicht und das Verständniss seiner technischen Ausdrücke
unter Benutzung der oben gegebenen Darstellung seines Systems
nicht schwer fallen dürfte , so wollen wir dieses Schema hier an-
führen. 1)
Flui da.
Solida;
I.
E X c r e t a
densa
torrida '
tenuia
humida
Ketenta
II.
III.
Motio
phlogistica
tenacia
acidula
tenera
Quies
IV.
V.
Vigiliae
acria
macra
oleosa
pinguia
Somnus
VI.
VII.
Farnes
paiiperata
gracilia
plethorica
turgida
Cibus
VIII.
IX.
• Frigus
muriatica
rigida
glutinosa
fluxa
Calor
X.
Effectus.
Der Clavismedicinaeist eine in hohem Grade bemerkens-
werthe Erscheinung in der medizinischen Literatur. 2) In gedräng-
tester Form stellt diese Arbeit die Grundgedanken der rnedizini-
schen Anschauungsweise Linnö's dar. Sie ist ein geistreicher Ver-
such , den Bau der ganzen medizinischen Lehre auf der Grundlage
gewisser theoretischer Vorstellungen zu construiren, iind zugleich
•) Clavis Medicinae, S. 8.
2) Caroli a Linne, Clavis Medicinae duplex, extorior et in-
terior. Holmiae 1766. 29 S. 8o. Die Arbeit ist gewidmet ,, Medicis secula-
ribus : Siegfr. Albino, Anatomico summo, Alb. von Haller, Physiologo summo,
Gerardo van Swieten, Observatori summo, Franc, de Sauvages, Patbologo
summo, Nicol. v. Rosenstein, Therapeutico summo. — Iterata editio foras de-
dit et praefatus est Em. Godofr. Baldinger. Longosalissae 1767. 59 pag. 8<'.
— 94 —
ein sprechendes Zeugniss für die umfassende Fähigkeit Linne's, die
verschiedenen Theile der Wissenschaft unter gemeinschaftlichen
Gesichtspunkten zu einem Ganzen zu vereinigen. Die aphoristische
Kürze , in welcher Linne es liebte , in dem Clavis Medicinae seine
Gedanken auszusprechen, macht die Arbeit schwer fasslich, ja fast
xmverständlich für einen Jeden, der sich nicht die Mühe gegeben,
in die Tiefe seines Gedankenganges einzudringen. Es ist auch klar,
dass der mündliche Vortrag dieser Schilderung erst das richtige Re-
lief zu verleihen bezweckte. i). Von Interesse ist zu sehen, wie
Linnö selbst seine Arbeit beurtheilt; wir finden in seinem Brief-
wechsel darüber folgende Aeusserung :
„Es ist mir genug Satisfaction , dass ich Ihre und Arch.
Rosenstein's Approbation meines kleinen Clavis medicinae erhal-
ten. Könnte ich mit Ihnen denselben durchgehen und meine De-
monstrationen zeigen, so hoffe ich, er würde mehr begreiflich
werden." -)
An seinen Freund, Prof. A. Murray in Göttingen, schreibt
Linne über seinen Clavis :
„Finden Sie , Herr Prof. , etwas anstössiges , so lassen Sie
mich es wissen. Archiater Rosenstein hat auf Ersuchen alles exa-
miniret und mir das ehi-enhafteste Zeugniss ertheilt und nichts
gefunden, was ich nicht genügend demonstriren könnte. Hält es
Probe, so muss es etwas thun zur materiae medicae certitudo.'*^) —
Bereits oben wurde erwähnt , dass Linne oft und mit besonde-
Nach den Indices praelectionum zuurtheilen, scheint Linn6 nur
ein einziges Mal (1771) den Clavis bei seinen Vorlesungen vorgetragen zu haben.
Wahrscheinlich sind es diese Vorlesungen, worüber P. D. Giseke in ..Termini
botanici" etc. Hamburg 1781, S. 103 schreibt: „Ich habe diesen Abschnitt
unerklärt gelassen, da er im Clavis Medicinae umständlicher enthalten ist, über
welchen ich dereinst die Vorlesungen des Verf. herauszugeben gedenke." Diese
Arbeit ist jedoch nicht erschienen.
2) Im Brief an Abr. Bäck vom 3. April 1766.
3) Im Brief vom 27. März 1766. — Linn(5's Briefe an A. Murray hat der
jetzt verstorbene Prof. 0. Glas zu Upsala mir freundlichst niitgetheilt.
— 95 —
rem Interesse Diätetik vortrug. Von diesen Vorlesungen befinden
sich in den Bibliotheken eine Menge Abschriften und wir erhalten
dadurch eine Uebersicht ihres Inhalts. Es wäre zu weitläufig, uns
mit den Details dieser Vorti-äge hier zu beschäftigen, vielleicht lohnt
es aber der Mühe, zu untersuchen, welche hygienische Fragen er
in den Kreis seiner Darstellung hineinzog. Linnö's „CoUegium
diaeteticum" (1757) hat folgenden Inhalt. Nach einer Einlei-
tung über die Entwickelung des Menschenlebens (ein Gegenstand,
der in mehreren von Liune's akademischen Abhandlungen vor-
kommt) , enthält der erste Theil der Diätetik „regulas generales" :
1] infantis figura naturalis est servanda; 2) infans enutriatur lacte
matenia; 3) omne parit sui simile; 4) Juventus facit vires senectuti;
5 consuetudo est quasi altera natura ; 6) omnis subita mutatio peri-
culosa ; 7) omne nimium nocet ; 8) varietas delectat. Von der Luft ;
von der Witterung ; respiratio ; transpiratio ; attractio ; vestimenta ;
lectus et cubile ; Schlaf; aedes et domicilia. Der zweite Theil be-
rührt motus et quies, morbi artificum. Der dritte Theil handelt
von „ingesta, potus et cibus oder allem, welches proprie Diät ge-
nannt wird. Vom Wasser , dessen Prüfung und Reinigung ; de spi-
rituosis; vinum; Thee, Kaffee, Branntwein, Bier, Rauch- und
Schnupftabak ; cibus, schädliche Zusätze ; von Salz, Essig, Zucker,
Honig , Oel , Butter, Schweinefleisch ; lacticinia oder Milchspeisen,
praeparata lactea; Brod; carnes, Fleischspeisen, Blut; Vegeta-
bilien, aromata, fructus horaei, Gewürze ; Thierreich. Gift in ge-
nere, Gift im Thierreich, Gift im Mineralreich, Gift von Pflanzen.
Vierter Theil. Excreta et retenta, sensus externi et interni; die
Affecte; venus. Conjugium, wobei zu berücksichtigen a) dona na-
turae sanitatis, aetatis et pulchritudinis) , b) dona educationis, wie
Temperament, Fähigkeit und Kenntnisse, c) dona animae, ein gutes
und aufrichtiges Gemüth, xl) dona Status, ehrbarer Stand und Name,
Befindet sich in der Universitiitsbibliotliek zu Upsala.
— 96 —
e) doua fortunae; hierher gehören 1) divitiae, dass die Frau vou
reicher Herkunft, 2) prosapiae, dass die Verwandtschaft klein ist.
Obgleich Linne seine Vorlesungen über die Diätetik herauszu-
geben beabsichtigt zu haben scheint, und obgleich er dieselben
mehrere Mal umgearbeitet hat, so erschienen sie doch nie im Druck,
wie man auch darauf hoffte. In einem Briefe von J. Zoega in
Kopenhagen) an Linne d. J. heisst es :
„Audivi collegium diaeteticum parentis optimi in lucem pro-
diisse ; an ita est? Respondeas quaeso ad has quaestiones." . —
Ein Gegenstand, dessen grosse Wichtigkeit und Bedeutung
Linne in mehreren seiner Abhandlungen hervorhebt und worauf er
oft zurückkommt, ist die Erziehung des heranwachsenden Ge-
schlechts. Er spricht hiebei Wahrheiten aus . die gewiss dazu bei-
getragen haben, das Interesse nicht allein der Aerzte, sondern auch
des Publikums für diese aussei'ordentlich wichtige Frage zu erre-
gen, wenn sie auch nur allmählich . tiefer eindringen und im Be-
wusstsein des Volks Wurzel schlagen konnten. Linne lenkt die
Aufmerksamkeit darauf hin, dass der Grund zur Gesundheit des
einzelnen Menschen oder die Bedingungen eines gesunden und nor-
malen Körpers theils bei der Zeugung, theils in der Kindheit und
in den Jugendjahren gelegt werden. Er giebt daher Vorschriften,
in welcher Art die Verhältnisse während der verschiedenen Lebens-
perioden iii Uebereinstimmuug mit den Anforderungen sowohl der
Diätetik als auch der intellectuellen Entwickeluug geordnet werden
müssen. 2) Dass Linne den Müttern als unabweisbare Pflicht ein-
schärfte, ihre Kinder selbst zu stillen , wurde bereits erwähnt. Er
fordert die Jugend auf, im Verlaufe ihrer Studienzeit körperliche
Uebungen vorzunehmen, und hebt oft hervor, wie wichtig der Aufeut-
1) Im Brief vom 26. Oct. 1765, gedruckt in J. C. Scliiodte, Naturbisto-
ri sk Tidskrift. III. 7, 3. Kopenhagen 1871, S. 474.
-) Fundamenta valetudinis (1756j. Diaeta per scalam aetatis bumanae ob-
servanda (1764).
— 97 —
halt in frischer Luft sei. Stillsitzende Personen leiden oft an Säure
in den ersten Wegen und diese Säurebildung veranlasst G-ährung
der genossenen Speisen, sie zerfrisst (rodit et vellicat) die festen
Theile, krystallisirt leicht und bildet „in viscido concretiones tarta-
reas", welche späterhin zu habitueller Obstruction, Hypochondrie,
Gicht und manchen anderen Leiden den Grund legen. Das beste
Mittel dagegen ist körperliche Bewegung bis zum Schweiss.^) —
Der Nutzen geräumiger Wohnstätten und frischer, reiner
Luft wird klar und überzeugend angedeutet, die Gefahr, in neu-
erbaute Häuser allzu früh einzuziehen, betont und ebenso die Nach-
theile der in damaliger Zeit allgemein gebräuchlichen Bestattungen
in Kirchen hervorgehoben. 2) Wer seine Gesundheit bewahren will,
muss nicht allein genau und sorgfältig die Luft , welche er einath-
met, sondern auch die Speisen, die er geniesst, auswählen. Man darf
daher nicht in zu niedrigen Zimmern schlafen oder in einer Luft sich
aufhalten, die mit Nebeln, mit unreinen, verwesenden Stoffen und
Ausdünstungen stehender Gewässer erfüllt ist.^) Es ist Sache der
städtischen Behörden, dafür zu sorgen, dass unreine Stoffe jeglicher
Art sorgfältig aus den Strassen entfernt werden. ') — Die Winde
spielen eine wichtige Rolle in Bezug auf die Reinigung der Luft,
und es ist überhaupt lieilsam, solche Plätze zu bewohnen, zu denen
die Sonne und die Winde Zutritt haben. Dort sind die Einwohner
im allgemeinen gesund und kräftig, ebenso wie die Fische in Strö-
men mit starkfliessendem Wasser kräftiger und wohlschmeckender
werden.'^) Linn6 spricht den Gedanken aus, dass, da die Haut-
ausdünstung von der verschiedenen Beschaffenheit der Luft abhän-
gig ist , auch eine Menge krankhafter Störungen sowohl der festen,
') Motuspolychrestiis (17t)3).
^) Respinitio diiietetica (1772).
'») Aer habitabilis (1759). „Omno putriduin est septicum et coiTosivuni,
ipsi veluti naturiie horrendum." '
*] Febris Upsaiiensis (1757).
5) Respiratio diaetetica (1772).
lljo't', Linnä ala Arzt. 7
— 98 —
als der flüssigen Tlieile in dieser Luftconstitution ihren Ursprung
haben.*) Bei trockener und kalter Luft entstehen entzündliche
Krankheiten, wie Pleuritis, Peripneumonia, Angina, Rheumatismus.
Bei trockener und wanner Luft zeigen sich Störungen in den Wegen
der Galle, Cholera nostras, Dysenterie etc. ; bei feuchter und kalter
Luft Husten, Erkältungen, katarrhale und intermittente Fieber und
bei feuchter, warmer Luft Faulfieber. 2)
Was die Nahrungsmittel anbetrifft, warnte Linn6 vor dem Ge-
brauch sowohl zu heisser wie zu kalter Getränke und Speisen.
Diese sind heiss, sobald ihre Temperatur die Bluttemperatur bei
einem gesunden Menschen, d. h. 37» C, übersteigt. Täglicher
oder lange fortgesetzter Gebrauch von dergleichen Speisen oder
Getränken ist in mehrfacher Beziehung schädlich, ebenso sind kalte,
gefrorene Speisen und Getränke zu vermeiden. 3) — Chocolade wird
von Linne als ein kräftiges Nahrungsmittel gepriesen und nament-
lich gegen allgemeine Magerkeit und Schwindsucht empfohlen.
Auch bei Haemorrhoiden behauptet er diese mit vielem Erfolg an-
gewandt zu haben *) . — Thee soll nur für stai-ke Personen , nicht
aber für magere sich eignen und „attenuans et exsiccans" wirken.
Linne glaubte, die Theepflanze müsste im südlichen Schweden fort-
kommen, und stellte viele Versuche zu diesem Zwecke an. Er
schlug Gmelin in St. Petersburg vor , er möchte mit den aus China
zurückkehrenden Karawanen Samen von dieser Pflanze zu erhalten
suchen, und erzählt, welche Schmerigkeiten die Chinesen dagegen
erhoben. Jedoch fand er bald, dass die Samen, in Folge ihres
Reichthums an öligen Bestandtheilen, ihre Keimkraft nicht lange be-
hielten. Osbeck nahm Theepflanzen aus China mit, ein auf der Rück-
reise entstandener starker Sturm schleuderte aber am Cap der guten
') Dyscrasiae tarn fluidorum, quam solidorum a diversa aeris constitutione
oriuntur."
-) De perspiratione insensibili (1775).
^) Circa fervidorura et gelidorum usum paraenesis (1765).
De potu chocolatae (1765).
— 99 —
Hoffnung dieselben ins Meer. Der Kommerzienrath Lagerström
schickte an Linne zwei Sträucher , die er 'aus China erhalten und
welche man für Theepfianzen hielt ; als aber die Bllithen sich zeig-
ten, stellte es sich heraus, dass die Chinesen den Absender ge-
täuscht hatten und dass die Bllithen einer Cameliaart angehörten.
Schliesslich säete der Schiffscapitain CG. Ekeberg auf Linne's Auf-
forderung Samen der Theepflanze aus ; diese keimten auf der Rück-
reise imd blühten 1763 in dem botanischen Garten zu Upsala. Mit
Entzücken ruft Linne aus, dass die Theepflanze nie früher in irgend
einem der Gärten Europas gewachsen sei*), und hofft, er werde
nunmehr ebenso allgemein wie der nahverwandte spanische Flieder
cultivirt werden. 2) —
In einer Abhandlung „Inebrianti a" (1762) schildert Linnö
beredt die Wirkung der geistigen Getränke, sowie ihren Ein-
flnss auf die Körper- und Geisteskräfte, und erhebt seine warnende
Stimme gegen die Erniedrigung, welche der Gebrauch berauschen-
der Getränke zur Folge hat. Sie werden verglichen mit dem Feuer,
welches erquickt, wärmt, brennt und verzehrt. Als Folgen der
Wirkung des Branntweins auf den Körper werden Verhärtungen in
der Leber, der Milz, den Drüsen etc. angeführt. Wassersucht,
Schwindsucht u. s. w. entstehen, nach seiner Ansicht, nicht selten
durch Missbrauch von Branntwein. In der Beschreibung seiner Reise
durch Schonen spricht Linnö sein Erstaunen darüber aus, dass Per-
sonen , die sich dem Trünke ergeben , früh altern. Als diätetisches
Mittel könne der Branntwein unter keiner Bedingung anempfohlen
werden. Ein jedes Volk, das sich dem unmässigen Genuss dessel-
ben ergiebt, wird schwach und elend. Wer diesen Feind des Volkes
') De potu Theae (1765). — Linn6's Briefe Uber die Theepflanze an den
C'apitän Ekeberg vom 23. Aug. und 17. Sept. 1763 sind verüfTentlicht in der
Zeitung Stockholms Posten vom 14. Febr. 1813.
2) ,,Theam, demum post 17 frustra iterata tentamina vivam e China obtinui,
quae procul dubio erit adeo frequens in Europaeorum hortis, ac unquam ejus
popularis Syringa." Im Brief an A. J. Jacquin, dat. den 4. Jan. 1764.
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vertreiben könnte, bringt dem Vaterlando mehr Nutzen, als wer
einen Aufruhr niederdrückt.') Dagegen redet Linne einem allge-
meineren Gebrauch gutgebrauten Biers das Wort ; letzteres sei ein
gesundes Getränk, dessen Zubereitung aber vieler Aufmerksamkeit
bedarf. 2) ^
Diätetische Rathschläge über Brunnenkuren, Vielehe noch
heutigen Tages befolgt werden, ertheilt Linn6 auf Grund der damals
herrschenden Vorstellungen von den Wirkungen der Mineralwässer.
Sie werden aufgefasst als Lösungsmittel einer Menge tiberflüssiger
Salze im Körper, welche durch die Harnwege entfernt werden.
Dem Eisen, welches in den meisten sog. Sauerbrunnen Schwedens
vorkommt , misst er die Kraft bei , die Neigung zu Säurebildung,
welche in erschlafften Geweben entsteht, zu verringern und den-
selben ihren Tonus wiederzugeben. Beim Trinken des Brunnens
ist die Diät und die Lebensweise in angemessener Art zu ordnen.
Der Sommer ist die passendste Jahreszeit für Brunnenkuren , alte
und sehr geschwächte Personen können das Wasser im Bett liegend
trinken ; die Abendkälte und der Aufenthalt an seichten und stehen-
den Gewässern sind zu vermeiden , der Schlaf darf nicht zu lange
dauern und der Neigung dazu muss am Tage sorgfältig entgegen-
gearbeitet werden. Saureu und fetten Speisen muss der Kranke
entsagen, denn sie verhindern den Einfluss des Mineralwassers.
Um alle Unannehmlichkeiten und Sorgen, die das häusliche Leben
und die tägliche Arbeit mit sich bringen, zu vermeiden, muss die
Brunnenkur, damit Besserung erfolgt, nicht zu Hause unternommen
und jeglicher Briefwechsel vermieden werden. 3)
') Spiritus fi'umenti (1764).
-) Bemerkungen über Bier in den Akten der k. Akad. d. Wissensch. 1763,
52; aucli veröffentlicht in Stockholms Posten vom 4. Nov. 1786.
Diaeta acidularis (1761).
Druck von brcitkopf <t- Uürtol in Leii)/.ig.