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Full text of "Carl von Linné als Arzt und seine Bedeutung für die medicinische Wissenschaft : ein Beitrag zur Geschichte der Medicin"

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I 


CAßL  m  umt 


ALS  AHZT 

MD  SEINE  BEDEUTUNG  FÜR  DIE  MEDICINISCHE  WISSENSCHAFT. 


EIN  BEITRAG  ZUß  GESCHICHTE  DEE  MEDICIN 

VON 

DR  OTTO  E.  A.  HJELT 

PROFESSOR  DER  MEDICIN  AN  DER  UNIVERSITÄT  ZV 
HELSIN6F0RS. 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  WILHELM  ENGELMANN 
1882. 


Das  Ueherselznngsrecld  vorbe/iaÜeti, 


In  Ii  alt. 


I.   Linne  als  Arzt  und  Lehrer.  Seite 

Beziehung  Linne's  zu  Boerhaave   2 

Medizinische  Studien  und  Beschäftigungen  in  Holland   5 

Linne's  Praxis  in  Stockholm   (i 

Ruf  nach  Holland  und  Göttingen   !) 

Medizinische  Vorlesungen  Linne's  zu  Upsala   10 

Seine  Beziehung  zu  und  Briefwechsel  mit  Sauvages   12 

Das  Verhältniss  Linne's  zu  dem  Collegium  medicum   21 

Medizinische  Verhältnisse  in  Stockholm   22 

n.  Das  medizinische  System  Linne's. 

Allgemeine  Betrachtungen  24 

Das  pathologische  System  Linne's  und  Genera  Morborum    ....  28 

Seine  Ansichten  von  den  Gegensätzen  in  der  Natur  34 

Die  Krankheitsursachen .  '.    .    .    .  39 

Die  Entstehung  der  ansteckenden  Ki'ankheiten  41 

Plethora  und  der  Puls  43 

Das  Stillen  und  die  Erblichkeit  der  Krankheiten  46 

Das  intermittente  Fieber  47 

Der  Scorbut  52 

Rachitis  53 

Schwindsucht  54 

Keuchhusten   .  56 

Gehimleiden  57 

Die  Kriebelkrankheit  57 

Hautkrankheiten  imd  Krätze  59 

Der  Aussatz  60 

Elephantiasis.   Panaritium.   Perniones  61 

Die  Verdienste  Linne's  um  die  Kenntniss  der  Droguon  und  die  Pluir- 

makologie  62 

Sein  Pharmakodynamisches  System  71 

Linne's  Eintheilung  der  medizinischen  Pflanzen  mit  Rücksicht  auf 
Geschmack  und  Geruch  73 


—    IV  — 


Seite 

Materia  medica   80 

Pharmakologische  Abhandlungen  Linn^'s   82 

Einzelne  Arzneimittel   84 

Vegetabilische  Heilmittel  gegen  Syphilis   86 

Die  Lehre  Linn6's  von  den  Giften   88 

Allgemeine  therapeutische  Ansichten   89 

Linn^'s  Verdienste  um  die  allgemeine  Gesundheitspflege  ....  90 

Clavis  Medicinae   92 

Collegium  diaeteticum  Linne's   95 

Die  physische  Erziehung  der  Jugend   96 

Aus  dem  Gebiete  der  öfifentlichen  Gesundheitspflege   97 


Als  die  Universität  in  Upsala  im  September  1877  ihr  400jäh- 
riges  Jubelfest  feierte,  veröffentlichte  der  Verfasser  als  Ausdruck 
seiner  Ehrerbietung  vor  dieser  ältesten  Hochschule  des  Nordens,  der 
Heilkunst  und  Naturforschung  auch  in  Finnland  so  grossen  Dank 
schulden,  die  vorliegende  Abhandlung  Uber  einen  ihrer  ausgezeich- 
netsten Männer,  Carl  von  Linne.  Das  Wohlwollen ,  womit  diese 
Schilderung  der  Thätigkeit  Linne's  als  Arzt  und  seiner  Bedeutung 
flir  die  medizinische  Wissenschaft  in  Schweden  aufgenommen  wurde, 
hat  den  Verfasser  bewogen,  vielseitigen  Aufforderungen  zu  ent- 
sprechen und  dieselbe,  wenn  auch  etwas  verkürzt,  in  deutscher 
Sprache  herauszugeben.  Linne's  Einfluss  auf  die  Entwicklung  der 
Naturforschung  ist  von  so  durchgreifender  Bedeutung  gewesen,  dass 
sein  Name  für  alle  Zeiten  mit  der  Geschichte  der  menschlichen  Cultur 
verwachsen  bleibt.  Aus  diesem  Gesichtspunkt  ist  zu  hoffen,  dass 
auch  ein  grösserer  Leserkreis  Linne's  Thätigkeit  als  Arzt  und  medi- 
zinischer Schriftsteller  gern  kennen  lernen  werde.  Die  Forscher  in 
der  Geschichte  der  Medizin  haben  sein  Verdienst  bisher  fast  gänzlich 
Ubersehen,  obgleich  er  auch  auf  diesem  wie  auf  allen  anderen  Ge- 
bieten der  gesammten  Naturwissenschaft  seiner  Zeit  in  vielfacher 
Beziehung  weit  voraus  war.  Möchte  dieser  Beitrag  zur  Kenntniss 
der  medizinischen  Wissenschaft  im  Norden  wohlwollende  Aufnahme 
finden. 


Es  ist  überflüssig ,  die  Jugend  Linne's  zu  schildern  und  zu  er- 
zählen, wie  viele  und  schwere  Entbehrungen  seine  Liebe  für  wissen- 
schaftliche Forschung  Uberwinden  musste.  Eine  solche  Schilderung 
wäre  zunächst  Aufgabe  der  Geschichte  der  botanischen  Wissen- 

HJelt,  hinni  als  Arzt,  1 


  2   

Schaft.  Wir  erwähnen  hier  nur,  dass  Carl  von  Linne  als  Sohn  eines 
armen  Greistlichen  zu  Räshult  in  Smäland  am  13  Mai  1707  geboren 
wurde  und  dass  er  erst  an  den  Hochschulen  zu  Lund  und  Upsala 
studirte,  bis  er  nach  damaliger  Sitte  sich  im  Jahre  1735  auf  Reisen 
begab,  um  an  einer  ausländischen  Universität  den  Grad  eines  Doktors 
der  Medizin  zu  erlangen. 

Als  Heimat  der  medizinischen  Wissenschaften  stand  damals 
Holland  vor  anderen  Ländern  in  hohem  Ansehen.  Besonders  lockte 
der  weltberühmte  Name  Boerhaave  Schaaren  wissbegieriger  Jüng- 
linge aus  allen  Ländern  Europas  nach  den  Hörsälen  Leydens.  Das 
Studium  der  Anatomie  und  der  Botanik  wurden  mit  Vorliebe  ge- 
trieben, aber  auch  die  klinische  Unterrichtsmethode  war  bereits  früh 
aus  Italien  nach  Holland  verpflanzt  worden.  Die  reichen,  Blumen 
liebenden  Holländer  besassen  prachtvolle  Gärten ,  wohin  aus  ent- 
fernten Weltgegenden  Pflanzen  gebracht  wurden;  dort  war  somit 
eine  seltene  Gelegenheit  zu  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  Bota- 
nik geboten.  Hierher  lenkte  der  junge  schwedische  Gelehrte,  dessen 
Ruhm  bald  ganz  Europa  erfüllen  sollte,  seine  Schritte.  Nachdem  er 
die  vorgeschriebenen  Prüfungen  bestanden  und  eine  Abhandlung 
„Hypothesis  nova  de  febrium  inter mittentium  causa" 
herausgegeben,  erhielt  Linnö  in  Harderwyk  am  24  Juni  1735  den 
Grad  eines  Doktors  der  Medizin.  Das  von  seinem  Promotor  Johannes 
de  Gorter  ausgefeiügte  Doktordiplom  enthält  unter  anderem  die 
Worte: 

„Ut  Omnibus  constaret,  me  in  viro  docto  et  nunc  Medicinae 
Doctore,  Carolo  Linnaeo,  Sueco,  singularem,  non  solum  in  Omni- 
bus Medicinae  partibus ,  verum  etiam  in  Botanica  invenisse  peri- 
tiam  et  doctrinam,  adeo  ut  inter  praecipuos  Medicinae  Doctores  sit 
habendus,  meum  nomen  cum  felicitatis  precatione  in  curandis 
aegris  apponere  non  dubitavi." 
Die  von  Linne  herausgegebene  Abhandlung  über  eine  neue 
Theorie  der  Ursache  der  intermittenten  Fieber  ist  die  erste  medi- 
zinische Arbeit,  die  er  herausgegeben  hat.  und  in  mehrfacher  Be- 


zieliuug  bemcrkenswerth.  Obgleich  durch  den  Zwang  der  Umstände 
im  fremden  Lande  veröffentlicht,  berührt  sie  doch  viele  einheimische 
Verhältnisse  und  stützt  sich  auf  Beobachtungen ,  die  er  bereits  in 
Schweden  gemacht  hatte.  Auch  ist  sie  ohne  Zweifel  zum  grössten 
Theil  ausgearbeitet,  beVor  Linnö  seine  Reise  antrat.  Da  diese  Ab- 
handlung sehr  selten  und  im  Allgemeinen  wenig  bekannt  ist,  dürfte 
es  für  die  Beurtheilung  von  Linne's  wissenschaftlich-medizinischem 
Standpunkt  nicht  ohne  Interesse  sein,  später,  wenn  wir  uns  mit  der 
Darstellung  seiner  medizinischen  Lehrsätze  beschäftigen  werden, 
die  wichtigsten  darin  ausgesprochenen  Ansichten  mitzutheilen ,  um 
so  mehr,  da  jene  Arbeit  einige  Jahre  später,  als  davon  die  Rede 
war,  Linne  an  der  Universität  zuUpsala  anzustellen,  plötzlich  Gegen- 
stand heftiger  Angriffe  ward. 

Es  ist  allgemein  bekannt,  dass  das  eingehende  Studium  der 
Botanik  imd  die  rastlosen,  grossartigen  Arbeiten,  in  der  gesammten 
Naturgeschichte,  welche  Linne  bereits  in  Schweden  begonnen  hatte, 
ihn  schnell  zum  ersten  Vertreter  dieser  "Wissenschaft  erhoben 
Weniger  bekannt  dagegen  ist,  dass  Linne  zu  einer  Zeit ,  als  er  mit 
der  ganzen  Lebhaftigkeit  seines  Geistes  die  Durchführung  der  gross- 
artigsten Reformen  in  den  verschiedenen  Zweigen  der  Naturgeschichte 
anstrebte ,  sich  doch  dem  Studium  der  Medizin  widmete  und  eine 
jede  Gelegenheit  zur  Ausbildung  in  dieser  Wissenschaft  mit  Freuden 
begTüsste.  Er  besuchte  während  seines  dreijährigen  Aufenthaltes 
in  Holland  fleissig  Boerhaave's  sowohl  öffentliche  als  private  Vor- 
lesungen, wohnte  seinen  Ronden  im  Krankenhause  bei  und  beglei- 
tete ihn  auf  seinen  Krankenbesuchen.  Während  Linnö  sich  bei 
Clifford  in  Hartecamp  aufhielt,  reiste  er  oft  nach  Leyden,  um  Boer- 
haave  zu  hören  und  aus  seinem  lehrreichen  Umgange  und  seiner 
gi'ossen  Erfahrung  Nutzen  zu  ziehen.   Boerhaave ,  dessen  Freund- 


'i  ,,Ego  infclix  peregrinus  omnia  citissime  corradere  debeo,  aliia  ciiram 
preli  cominittere,  hinc  ut  fit,  non  miriim."  „Mea  oninia  opuscula  sunt  parva 
et  qiialia  exsiiiis  vel  peregrinatoris  esse  solent,  qui  oninia  sccuni  portaro  tlo- 
bet.  •  Im  Brief  an  A.  von  Haller  vom  8.  Oct.  1737  (bei  Stoever). 

]* 


—    4  — 


Schaft  von  Vielen  gesucht ;  von  Wenigen  aber  erworben  wurde,  be- 
gegnete seinerseits  Linnö  mit  warmer  Liebe  und  besonderem  Ver- 
trauen, ja  zeichnete  ihn  vor  Allen  aus.  In  einem  Briefe,  den  er 
Linne  mitgab,  als  dieser  den  berühmten  Sloane  in  London  besuchte, 
schreibt  Boerhaave : 

„Linnaeus  qui  has  tibi  dabit  litteras ,  est  unice  dignus  te  vi- 

dere,  unice  dignus  a  te  videri:  qui  vos  videbit  simul,  videbit  ho- 

minum  par,  cui  simile  vix  dabit  orbis." 

Es  ist  rührend  zu  lesen ,  was  Linne  selbst  vom  Abschiede  bei 
dem  sterbenden  Boerhaave  erzählt,  welcher  sich  seiner  Kränklich- 
keit und  grossen  Leiden  halber  den  Empfang  von  Besuchen  Fremder 
längst  hatte  versagen  müssen. 

„Linnaeus  war  der  einzige,  welcher  hineingelassen  wurde,  um 
mit  einem  traurigen  Vale  die  Hand  seines  grossen  Lehrmeisters  zu 
küssen ,  als  der  schwache  Greis  noch  so  viel  Kraft  in  seiner  Hand 
besass,  dass  er  Linnaei  Hand  zu  seinem  Munde  zurückführen  konnte, 
mit  den  Worten : 

„Ich  habe  meine  Zeit  und  meine  Jahre  gelebt  und  gewirkt,  was 
ich  veimocht  und  gekonnt.  Gott  schütze  Dich,  dem  dieses  alles  be- 
vorsteht. Was  die  Welt  von  mir  gefordert,  hat  sie  erhalten,  sie  for- 
dert aber  weit  mehr  von  Dir.  Lebe  wohl,  mein  geliebter  Linnaeus" . 

Der  Einfluss ,  den  Boerhaave  auf  Linne's  medizinische  wissen- 
schaftliche Entwicklung  ausübte,  war  nicht  gering.  Alle  seine 
Schriften  enthalten  mehr  oder  weniger  Spuren  desselben.  Der  natur- 
wissenschaftliche Charakter,  den  die  ärztliche  Bildung  Schwedens 
im  vorigen  Jahrhundert  erhielt,  und  welcher  sie  vor  der  Einseitigkeit, 
deren  die  medizinische  Wissenschaft  in  anderen  Ländern  sich  später 
schuldig  machte,  bewahrte,  hat,  wie  wir  später  sehen  \verden ,  zum 
nicht  geringen  Theil  seine  Wurzel  in  den  Lehren,  welche  Linnö  wäh- 


Eigenh.  Aufzeichn.  S.  31  (Schwed.  Orig.-Ausg.)  .  ,.In  Boerhaavio 
amisi  amicum  integerrimuin,  praeceptorem  fidelissinium,  proniotorein  optimunv. 
Im  Brief  an  Sauvages  vom  21.  Jan.  1740,  gedruckt  in  Lettres  in^dites  de 
Linne  ä  Boiasier  de  la  Croix  de  Sauvages.  Alais  1860. 


rend  seiner  Berührung  mit  ßoerhaave  sich  aneignete.  Es  war  natür- 
lich, dass  ßoerhaave's  mechanische  Krankheitstheorie  und  seine 
Heilmethode  Linn6  interessiren  mussten,  denn  seine  umfassende 
Kenntniss  der  Natur  und  sein  scharfes  Auge  für  die  Erscheinungen 
derselben  Hessen  ihn  die  nahe  und  innige  Verbindung  zwischen  der 
wissenschaftlichen  Medizin  und  der  exacten  Naturforschung  klar 
einsehen. 

Es  gehört  nicht  hierher,  die  Arbeiten  und  sonstigen  Erfolge 
Linn6's  in  Holland  zu  schildern.  Es  liegt  ausserhalb  der  Grenzen 
dieser  Abhandlung  die  Bedeutung  zu  untersuchen,  welche  sein 
Aufenthalt  in  dem  genannten  Lande  und  die  nahe  Bekanntschaft, 
die  er  dort,  sowie  in  England  und  Frankreich  mit  Grelehrten,  wie 
einem  Gronow,  Burmann,  vanRoyen,  Dillenius,  Ant.  und  Benih. 
de  Jussieu,  Reaumur  u.  A.,  anknüpfte,  auf  seine  künftige  Thätigkeit 
als  Naturforscher  ausübten.  Solches  muss  Dem  überlassen  bleiben, 
welcher  künftig  Linne's  säculare  Bedeutung  für  die  Naturgeschichte 
ihrem  inneren  Zusammenhange  nach  darstellen  will.  Wir  wollen 
hier  nur  einige  Beiti'äge  zur  Kenntniss  der  Verdienste  Linne's  um 
die  ärztliche  Wissenschaft  zu  liefern  versuchen. 

Als  Linn6  im  Herbst  1738  nach  Schweden  zurückkehrte,  war 
sein  Name  von  den  Gelehrten  des  Auslandes  hoch  geachtet.  Das 
Ansehen,  welches  der  junge  Naturforscher  erworben  und  welches  er 
während  seines  ganzen  Lebens  sich  erhielt,  stand  in  voller  Blüthe. 
„lam  tuum  nomen",  schreibt  Sauvages ,  „per  ora  doctoruiu 
nostratium  frequens  volitat ;  undique  Tua  expetuntur  et  advocau- 
tur  scripta;  ea,  quicunque  possidet,  celat  et  sibi  servat  sedulo. 
Candide  dixerim ,  Tu  in  naturali  Scientia  verus  es  Carolus  XII, 
ut  ipse  Rex  in  militia,  eo  discrimine,  quod  totum  orbem  Botanicum 
Tibi  in  aeternum  subjicis".  ^) 

In  seinem  Vaterlande  unbekannt  und  unbeachtet  Hess  sich 
Linne  in  Stockholm  nieder,  in  der  Absicht,  sich  der  praktischen 


1)  Im  Brief  an  Linnt;  vom  12.  Aug.  1740  (bei  Stoever). 


—  ()  — 


Ausübung  der  Heilkunst  zu  widmen.  Er  selbst  schreibt  hierüber: 
„Linuaeus  beabsichtigte,  sich  hier  als  Doktor  zu  versorgen;  da  er 
aber  Allen  unbekannt  war,  wagte  es  Niemand,  sein  kostbares  Leben, 
ja  nicht  einmal  seinen  Hund  in  die  Hände  dieses  unbekannten  Arztes 
zu  geben,  so  dass  er  oft  an  seinem  Fortkommen  im  Lande  zweifelte. 
Er.  der  überall  im  Auslande  als  ein  princeps  Botanicorum  geehrt  ward, 
war  zu  Hause  als  wie  ein  Klimius  aus  der  Unterwelt  gekommen,  so 
dass,  wenn  Liunaeus  nicht  verliebt  gewesen  wäre,  er  sich  unfehlbar 
von  neuem  ins  Ausland  begeben  und  Schweden  verlassen  hätte.  Nach- 
dem Linnaeus  gesehen ,  dass  er  in  keiner  Weise  eine  praxis  medica 
erhalten  konnte ,  begann  er  Speiseanstalten  zu  frequentiren ,  wo  er 
junge  Cavaliere  in  castris  Veneris  blessirt  abstemios  sitzen  sah, 
wobei  er  ihnen  räth,  guten  Muths  zu  sein  und  ein  Maass  Rheinwein 
zu  trinken,  mit  der  Versicherung,  er  wolle  sie  binnen  14  Tagen  cu- 
riren;  zwei  endlich,  die  vergeblich  medizinirt,  wagten  ihr  Leben  in 
seiue  Hände  zu  geben.  Er  heilte  sie  sofort  und  hatte  binnen  eines 
Monates  sehr  viele  junge  Leute  in  Behandlung.  In  Folge  dessen 
stieg  sein  Ansehen,  und  während  der  damals  herrschenden  Pocken 
und  Wechselfieber  hatte  er  bereits  im  März  „die  ansehnlichste  prac- 
tique  erhalten",  Diese  Art  von  Krankenpflege  scheint  anfangs  die 
Hauptbeschäftigung  Linne's  und  zugleich  eine  recht  gewinnbringende 
gewesen  zu  sein.  Er  erkundigt  sich  sogar  bei  ausländischen  Aerzten 
über  die  Behandlungsweise  derartiger  Krankheiten.  Seinen  Freund 
Sauvages  bittet  er  schriftlich  um  Rath  wegen  der  Behandlung  von 
Gonorrhoe. 

„Olim  in  Belgio  morbum  hunc  centies  debellavi:  sed  vix 
amplius  valeo.  Audivi  Monspelienses  vestros  in  hujus  cura  ex- 
cellere; pro  amore  tuo  in  me  summo,  doceas  me  hunc  tollere  mor- 
bum, non  generali  theoria,  sed  formulis  et  medeudi  methodo; 
quod  si  feceris,  mihi  mille  nummos  aureos  unico  in  anno  dederis".  "^l 

1)  Eigenh.  Aufzeichn.  S.  36,  37. 

-)  Im  Brief  an  Sauvages  vom  21.  Jan.  1740.  In  einem  späteren  Briefe  vom 
20.  Sept.  dankt  Linne  für  die  Antwort. 


In  demselben  Jahre  1739  ward  Linu6  durch  die  Vermittelinig 
des  Grafen  Carl  Gustav  Tessin  zum  Admiralitätsarzt  in  Stockholm 
ernannt.  Da  das  Krankenhaus  der  Marine  täglich  100  bis  200 
Kranke  enthielt,  hatte  Linne  die  beste  Gelegenheit,  seine  medizi- 
nische Erfahrung  zu  erweitern,  und  beschäftigte  sich  namentlich, 
wie  er  selbst  erzählt ,  mit  Untersuchungen  Uber  die  Wirkungen  ein- 
facher Arzneimittel.  Die  solcherart  erworbene  Erfahrung  war  ihm 
später,  wie  wir  sehen  werden,  bei  der  Ausarbeitung  seines  phar- 
mako-dynamischen  Systems  von  grossem  Nutzen,  Auch  die  patho- 
logische Anatomie  war  ein  Gegenstand,  dessen  Bedeutung  Linne 
während  der  praktischen  Ausübung  der  Arzneikunst  einzusehen  be- 
gann, und  dem  er  seine  Aufmerksamkeit  widmete.  Er  suchte  und 
erhielt  die  Erlaubniss,  im  Krankenhause  Leichenöffnungen,  die 
früher  nur  in  ausserordentlichen  Fällen  gestattet  waren,  vorzu- 
nehmen. 

„Tandem  obtinui  Privilegium  dissecandi  demortuorum  cada- 
vera  in  nosocomiis  classis  navalis,  nec  antea.  Si  per  annum  vixero, 
responsum  dabo  ad  causam  proximam  febrium  nec  prius ;  ne  hy- 
potheses  dabo  ullas,  sed  veiitates  aeternas".^) 

Zu  den  Verdiensten  Linne's  um  die  Entwickelung  der  Arznei- 
kunst in  seinem  Vaterlande  gehört  auch  sein  Bestreben,  die  wissen- 
schaftliche Untersuchung  der  krankhaften  Veränderungen  im  mensch- 
lichen Körper  nach  dem  Tode  einzuführen.  Von  dieser  Zeit  au  findet 
man  in  den  in  Schweden  herausgegebenen  medizinischen  Schriften 
einen  weit  grösseren  Reichthum  an  pathologisch-anatomischen  Beo- 
bachtungen und  ein  weit  tieferes  Verständniss  für  die  Nothwendig- 
keit,  die  Auffassung  der  Krankheitserscheinungen  auf  die  Kenutniss 
der  pathologischen  Vorgänge  im  Organismus  zu  gründen,  als  in  der 
an  Umfang  reicheren  I^iteratur  vieler  anderer  Länder.  In  den  eige- 


',  ,.In  specificis  multuiii  profeci  per  nosoconiia."  Im  Brief  an  Sauvages  vom 
21.  Jan.  174(1. 

2)  Im  Brief  an  Sauvages  vom  21.  Jan.  1740. 


nen  Schriften  Linne's  trifft  man  Beobachtungen  von  gTossem  Inte- 
resse, die  er  in  Bezug  hierauf  gemacht  hat. 

Unter  diesen  Verhältnissen  wuchs  das  Ansehen  Linn6's  als  Arzt 
von  Tag  zu  Tag,  und  seine  Praxis  vergrösserte  sich  in  demselben 
Maasse.  Die  Umstände  fügten  es ,  dass  er  vorzugsweise  mit  denen 
bekanntwurde,  die  der  sogen.  Hutpartei  angehörten.  In  Folge  dessen 
nannte  man  ihn  scherzweise  den  Archiater  dieser  Partei.  Er  selbst 
erzählt,  dass  seine  Praxis  ebenso  gross  war,  wie  die  aller  übrigen 
Aerzte  zusammengenommen,  und  dass  er  damals  in  Stockholm  9000 
Daler  K.  M.  jährlich  verdiente.  ^)  Dass  Linne,  so  hoch  er  auch  die 
medizinische  Wissenschaft  stellte,  doch  nicht  von  seiner  Thätigkeit  als 
praktischer  Arzt  befriedigt  war,  sondern  gern  damit  aufgehört  hätte, 
geht  aus  vielen  seiner  Briefe  hervor.  Er  fühlte  sich  unwiderstehlich 
zu  seiner  Jugendliebe,  der  Botanik,  hingezogen,  die  vor  den  so  ganz 
verschiedenartigen  Berufsarbeiten  des  praktischen  Arztes  hatte  zu- 
rücktreten müssen. 

„  Si  Upsaliam  pervenero,  praxin  medicam  interdicam :  solum 
plantas  tum  tractabo" .  2) 

Ja,  viele  Jahre  später  schreibt  Linn6  noch  : 

„Aurea  jjraxis  medica  multum  valet,  cumque  duae  habeutur 
amicae,  alterius  vires  subtrahit  alter  amor".^) 
Tief  und  bitter  schmerzte  ihn  diese  Zersplitterung  seiner  Kräfte 
und  Neigungen ,  und  liebliche  Bilder  schwebten  seinem  Auge  vor, 
wenn  er  der  Tage  gedachte,  die  er  unter  den  duftenden  Schätzen  in 
dem  Garten  seines  Freundes  Clifford  zugebracht  hatte.  Er  sehnte 
sich  zurück  nach  seinen  wissenschaftlichen  Beschäftigungen,  und 
der  Gedanke,  doch  vielleicht  eine  Anstellung  im  fremden  Laude 
suchen  zu  müssen,  begann  festere  Gestalt  anzunehmen. 

Bereits  während  seines  Aufenthaltes  in  Holland  war  Linne 


I)  Eigenh.  Aufzeichn.  S.  39. 
-j  Im  Brief  an  A.  von  Halier  vom  15.  Sept.  1739. 
•  3)  Im  Brief  an  P.  D.  Giseke  vom  20.  Dec.  1774  (bei  Stoever). 


—    9  — 


mehrfach  aufgefordert  worden,  zu  bleiben ,  und  seine  Freunde  be- 
nutzten jede  Gelegenheit,  ihn  zu  überreden,  sich  dort  niederzulassen. 
Das  feuchte  Klima  Hollands  sagte  indessen  seiner  Gesundheit  nicht 
zu  und  hatte  ihn  schon  mehrmals  aufs  Krankenlager  geworfen,  vor 
allem  aber  zog  ihn  die  Liebe  zu  seiner  Braut  mit  unwiderstehlicher 
Kraft  ins  Vaterland  zurlick.  Jetzt,  wo  die  Aussichten  auf  eine  selb- 
ständige Thätigkeit  und  ein  gutes  Auskommen  unsicher  waren  und 
die  Hoffnung,  sich  gänzlich  wissenschaftlichen  Forschungen  widmen 
zu  können,  mehr  und  mehr  in  die  Ferne  zu  rücken  schien,  erwachte 
von  Neuem  der  Gedanke,  sich  in  der  Fremde  niederzulassen.  Linnö 
schreibt  darüber  an  A.  von  Haller  : 

,,  Sin  vero  Botanices  Professio  Upsaliae  mea  non  fiat ,  et  me 

tum  'post  tres  menses)  vocares ,  accederem ,  si  cum  uxorcula  da- 

retur".  ') 

Haller  scheint  nämlich  seine  Professur  nebst  der  Aufsicht  über 
den  botanischen  Garten  in  Göttingen  Linne  angeboten  zu  haben, 
weil  er  an  Heimweh  litt.  2) 

„Tu,  a  quo  Flora  sperat  plura  quam  ab  omni  alio  Botanico, 
utere  quaeso  felicibus  fatis  et  aliquando  ad  mitiora  climata  redi. 
Si  unquam  me  patria  repetit  —  et  spero  repetituram  —  Te  qui- 
dem,  si  tunc  placuerit  conditio,  destinavi  Horti  heredem  et  qualis- 
cunque  honoris ,  et  eam  in  sententiam  coram  eis  loquutus  sum,  in 
quorum  manibus  sunt  omnia."  —  „DeHorto  eadem  mihi  sententia 
est:  ego  quidem  paucis  annis  hic  (Goettingae)  versabor,  neque 
unquam  tradere  potero  digniori." 

Glücklicherweise  gingen  diese  Pläne  nicht  in  Erfüllung,  und 
Schweden  war  es  beschieden,  einen  der  grössten  Männer  seiner  Ge- 
Hchiclite,  seinen  Linn6  zu  behalten. 

')  In  Brief  an  A.  v.  HaUer  vom  12.  Sept.  1739. 

-j  In  Briefen  an  Linn6  vom  24.  Nov.  17.38  und  12.  Jan.  173t)  (bei  Stoever, 
S.  108).  In  meinem  Aufsatz  „Carl  von  Linne  in  seinen  Beziehuuf^en 
zu  Albrecht  von  Hall  er"  'im  Arch.  f.  Gesch.  d.  Med.  III)  findet  man 
näheren  Aufschluss  hierüber. 


—  ]()  — 


Nach  dem  Tode  des  Prof.  Koberg  zu  Upsala  wurde  Liuu6  am 
5  Mai  1741  zum  Professor  der  theoretischen  und  praktischen  Medi- 
zin ernannt  und  begann  im  Herbst  desselben  Jahres  seine  Vor- 
lesungen über  das  System  der  Krankheiten  (historia  morborum . ,  ein 
Gegenstand ,  den  er  später  oft  behandelte  .  Im  folgenden  Jahre 
fand  jedoch,  mit  Genehmigung  des  Kanzlers  der  Universität ,  ein 
Tausch  der  Lehrfächer  mit  dem  damaligen  zweiten  Professor  der 
medizinischen  Fakultät,  Dr.  Nils  Rosen  (später  geadelt,  Rosen  von 
Rosenstein) ,  statt.  In  Folge  dieser  Uebereinkunft  übernahm  Rosen 
Anatomie,  Physiologie,  Aetiologie  und  pharmazeutische  Chemie, 
nebst  der  Aufsicht  Uber  das  akademische  Krankenhaus ,  wogegen 
Linne  Botanik,  Materia  medica,  Semiotik,  Diätetik  und  Natur- 
geschichte vortragen  und  den  botanischen  Garten  beaufsichtigen 
sollte. 

Obgleich  Linne  von  dieser  Zeit  an  sein  Interesse  hauptsächlich 
der  Naturgeschichte  widmete,  so  war  er  doch ,  nicht  allein  in  Folge 
seiner  früheren  Thätigkeit  und  seiner  Berufsgeschäfte,  sondern  auch 
wegen  der  nahen  Verbindung,  in  welcher  die  Botanik  und  die  Heil- 
kunde in  damaliger  Zeit  zu  einander  standen,  stets  mit  der  Erörte- 
rung und  Bearbeitung  medizinischer  wissenschaftlicher  Fragen  be- 
schäftigt. Nach  damaliger  Sitte,  die  Ergebnisse  der  Forschungen  in 
ölfentlichen  Disputationen  darzulegen,  gab  Linne  eine  grosse  Menge 
akademischer  Abhandlungen  heraus ,  und  diese  sind  es  hauptsäch- 
lich ,  aus  denen  wir  die  Kenntniss  seiner  medizinischen  Ansichten 
und  Lehren  schöpfen  können.  Diese  Abhandlungen  entstanden  ge- 
wöhnlich in  der  Weise ,  dass  er  einen  seiner  Schüler,  der  eine  Ab- 
handlung zur  Erlangung  des  Doktorgrades  herauszugeben  hatte, 
einen  Gegenstand,  welcher  in  der  Vorlesung  beliandelt  worden  war, 
näher  ausarbeiten,  die  auf  ihn  bezügliche  Literatur  durchgehen  und 
der  Darstellung  die  nöthige  Form  geben  Hess.  Viele  solche  Abhand- 


')  „Nunc  totus  8um  in  historia  niovboi'mn,  quam  publice  doceo"  im  Brief 
«an  A.  von  Huller  vom  10.  April  1747. 


—  11  — 


lungeu  tragen  zwar  den  Namen  der  betreffenden  jungen  Verfasser, 
sind  aber  grösstentheils  aus  der  Feder  Linne's  hervorgegangen  oder 
bestehen  aus  Aufzeichnungen  während  seiner  Vorträge.  Sie  sind  die 
wichtigste  Quelle  für  das  Studium  der  medizinischen  schriftstelleri- 
schen Thätigkeit  Linne's  und  geben  uns  das  sicherste  Zeugniss  seines 
medizinischen  Standpunktes.  Von  den  verschiedenen  medizinischen 
Wissenscliaften  waren  es  namentlich  die  systematische  Krankheits- 
lehre (Nosologie),  die  Pharmakodynamik  und  die  Diätetik,  welche 
Linne  interessirten  und  seine  Thätigkeit  als  Lehrer  und  Verfasser 
in  Anspruch  nahmen.  Einen  nicht  geringen  Theil  des  Jahres  wid- 
mete er  dem  Unterricht  in  den  ihm  obliegenden  medizinischen 
Fächern.  Während  Linne  im  Frühjahr  imd  Sommer  Vorlesungen  in 
der  Botanik  hielt  und  seine  fröhlichen  Excursionen  in  die  Um- 
gebungen Upsalas  unternahm ,  trug  er  im  Herbst  und  Winter  ge- 
wöhnlich Diätetik,  Nosologie  und  Materia  medica  vor.  Seinen  Ein- 
fluss  als  Lehrer  auf  die  Entwickelung  und  Förderung  der  ärztlichen 
Bildung  in  Schweden  kann  man  kaum  hoch  genug  schätzen.  Wir 
werden  weiterhin  die  sprechendsten  Beweise  finden  für  die  ausser- 
ordentliche, bisher  fast  übersehene  Bedeutung ,  welche  Linne  auch 
in  dieser  Hinsicht  für  sein  Vaterland  hatte. 

Linne  verstand  es ,  ein  zahlreiches  und  aufgewecktes  Audito- 
rium um  sich  zu  versammeln.  Seine  Vorlesungen  zeichneten  sich 
durch  Klarheit  und  praktische  Richtung  aus.  Gern  und  oft  wandte 
er  die  Lehren  der  medizinischen  Wissenschaft  auf  die  Verhältnisse 
des  täglichen  Lebens  an.  Dadurch  erregte  er  nicht  nur  bei  den  Stu- 
denten der  Medizin ,  sondern  auch  bei  dem  weiteren  Publikum  In- 
teresse und  Lust ,  seinen  Vorlesungen  beizuwohnen ,  und  weder  vor 
noch  nach  seiner  Zeit  dürfte  irgend  ein  Professor  der  Medizin  in 
Schweden  einen  so  zahlreichen  Zuhörerkreis  wie  Linne  gehabt 
haben.  Besonders  hoch  geschätzt  und  berühmt  waren  seine  Vorträge 
Uber  Diätetik  oder,  wie  man  sie  jetzt  nennen  würde,  spezielle  Ge- 
sundheitspflege. Er  schreibt  hierüber  selbst  im  Jahre  1743 : 

„Publice  Diaeteticen  doceo:  nullus  Professor  Upsalieusis  ä  60 


—    12  — 


annis  plures  auditores  habuit,  quam  hodie  ego.  Demonstro  Diae- 
teticen  solis  observationibus.  Si  hoc  aliquando  juris  publici  facere 
liceret,  non  dubito  quin  multis  prodesset  et  arrideret."  ') 
Die  Diätetik  war  übrigens  ein  Gegenstand ,  welcher  Linn6  im 
höchsten  Grade  interessirte^  und  für  dessen  Bearbeitung  er  lange  Zeit 
hindurch  Material  sammelte.   Er  schreibt  darüber  an  A.  v.  Haller: 
„ Avidissime  evolvo  Tua  commentariainBoerhaavium;  quaeso 
ne  desistas  nobis  dare  sequentes  partes  de  diaeta;  in  his  meae 
deliciae ;  in  his  plura  collegi  quam  quod  novi  ullus  alius ;  et  aug- 
menta  habebo  ex  Tuo  libro  in  Boerhaavium." 

„Quid  in  diaeteticis  colligo,  tandem  videbis;  in  his  per  de- 
cem  annos  laboravi."^)  — 

Unter  den  vielen  Aerzten  und  Naturforschern  seiner  Zeit, 
mit  denen  Linne  in  Avissenschaftlichem  Briefwechsel  stand,  giebt 
es  keinen,  zu  welchem  er  grösseres  Vertrauen  und  innigere  Freund- 
schaft hegte,  als  Boissier  de la  Croix  de  iSauvages,  Professor 
an  der  medizinischen  Schule  in  Montpellier  (geb.  12  Mai  1706, 
gest.  19  Febr.  1767).  Dreissig  Jahre  hindurch  unterhielten  diese 
Männer,  welche  einander  persönlich  nie  gekannt  oder  gesehen 
hatten,  einen  lebhaften  und  fleissigen  Austausch  von  Ideen  und  Er- 
fahinngen.  Für  die  Beurtheilung  Linne's  als  Arzt  und  medizinischer 
Schriftsteller  giebt  es  keine  ergiebigere  Quelle,  als  diesen  Brief- 
wechsel mit  Sauvages ;  er  gestattet  uns,  einen  tiefen  Einblick  in  diese 
Seite  seiner  Thätigkeit  zu  werfen.  In  seinen  Briefen  spricht  Linne 
seine  unbegrenzte  Bewunderung  der  Verdienste  Sauvages'  um  die 
wissenschaftliche  Medizin  aus. 

„Tu  inter  medicos  solus  es  systematicus ;  tu  glaciem  fregisti 
solus ,  tu  viam  detexisti.  Ego  inter  medicos  infimi  subsellii  me 
ipsum  numero;  non  sufficimus  onmibus.  Tibi  palmam  dabunt 
hodierui  omnes  medici,  ut  pace  ipsius  invidiae  hoc  dicam  "■''). 

1)  Im  Brief  an  Saiivages  vom  3.  April  1743. 

2j  In  Briefen  vom  29.  Mai  1744  und  15.  Sept.  174U  :bei  Stoever). 

3)  Im  Brief  vom  11.  Nov.  1748. 


—    13  — 

8i  verum  est ,  uti  in  aeteruum  verum  erit ,  quod  medicina  innita- 
tur  duobus  pedibus,  cog-uitione  morborum  et  medicameutonim :  si 
etiam  verum  est,  quod  ipsa  iuvidia  concedat,  quod  tu  solus  mor- 
borum coguitiouem  pi'imus  denudasti ,  utique  et  tibi  soli  debetur 
alterum  fuiidamentum  medicinae :  si  enim  cogiiitio  medicamento- 
rum  innitatur  cognitioue  plantarum ,  a  qua  prima  et  praestautis- 
sima  medicamiua  desumuntur,  et  si  tibi  debeam  ego  et  omnes 
rariorum  plantarum  Grallicarum  cognitionem,  utiqne  et  in  bis 
magnus  eris  !  Sed  nullus  propbeta  in  patria.  Felices  agricolae, 
bona  si  suanorint".  ^)  „Precor  immense,  mittas  mibi  Pathologiam; 
tu  mihi  unicus  auetor,  quidquid  alii  contrarientur,  sed  homines 
rüdes  nesciunt  quid  sit  methodus.  Tu  nnicus  es  mortalium,  qui 
viam  aperuisti;  negant  eam  ingredi  caecae  talpae".^] 

Von  dem  Augenblick  an,  als  Linne  zum  ersten  Mal  Sauvages' 
Schrift  erblickte,  erfasste  ihn  eine  tiefe,  herzliche  Freundschaft  für 
den  Mann ,  bei  welchem  er  dasselbe  systematisireude  Genie ,  den- 
selben ordnenden  Geist  wie  bei  sich  selbst  wiederfand.  Obgleich 
er  gerade  damals  rastlos  und  mit  Hingebung  an  der  Herausgabe  der- 
jenigen botanischen  Schriften  arbeitete,  die  seinen  Ruf  begründeten 
und  ihn  plötzlich  auf  den  Standpunkt  erhoben ,  den  er  seitdem  in 
der  Geschichte  der  Wissenschaft  eingenommen ;  so  war  doch  seine 
Liebe  zur  Heilkunst  gross  genug,  um  alle  literarischen  Erscheinungen 
auf  deren  Gebiet  freudig  zu  begrüssen.  Die  Arbeiten  von  Sauvages 
besonders  erregten  Linne' s  Aufmerksamkeit  und  Bewunderung  in 
so  hohem  Grade,  dass  er  sofort  arii  20.  Febr.  1737  an  diesen  schrieb, 
die  Bekanntschaft  mit  ihm  einleitete  und  ihn  um  sein  Buch  bat.  3) 

„Tuam,  vir  illustris,  exspecto  gratiam  peregrinus  licet  et  igno- 
tus;  sum  enim  ex  iis,  qui  in  eodem  quo  tu  triumphasti  campo 
flores  lego.  Methodum  tuam  morborum  quaesivi  huc  usque  frustra 

')  Im  Brief  vom  14.  Oct.  IT.5.5. 
-j  Im  Brief  vom  20.  Oct.  1758, 

3)  Nouvelles  Classes  des  Maladies.   Paris  1731,  in  12". 


per  Sueciam ,  Lapponiam ,  Norvegiam ,  Daniani ,  Geimaniam, 
Belgiiim,  Angliam.  cujus  modo  titulus  antea  innotuit.  Nuper  au- 
tem  ,  eandem  Lugduni  Bat.  apud  medicum  vidi,  inspexi,  obstu- 
pui,  praecovdiaque  intima  sentii  attonitus  novis  iutumuisse  curis ; 
observavi  quam  felicissimo  successu  scientiam  difficillimam  red- 
didisti  facillimam  tu  solus.  Doleo  tyronum  turbam  te  ignorare, 
tua  methodo  destitui,  in  qua  plus  purae  methodi  atque  exculti  ju- 
dicii  latet  quam  in  practico  uunquam  ullo.  Nulla  fuit  unquam  me- 
thodus  antea  m  historia  morborum;  qui  alias  leges  methodos 
vocant,  carent  cerebro  vel  caecutiunt;  a  signis  exposcenda  est 
omnis  iudicatio  generica.  Tuo  libro  ego  absolute  carere  nequeo; 
me  torquet  omnis  dies  eo  destitutus."  „Obtusum  meum  ingenium 
nil  capit ,  nil  intelligit ,  nisi  quod  systematlce  concipiat :  an  alii, 
nescio,  haereo." 

Linne  erlaubt  sieh  sogar,  Sauvages  gute  Ratbschläge  bezüglich 
seiner  Schrift  zu  geben ,  und  bittet  ihn ,  Synonyme  und  Citate  aus 
anderen  Verfassern ,  wie  die  Botaniker  zu  thun  pflegen,  hinzuzu- 
fügen. Schliesslich  bedauert  er,  dass  diese  Arbeit  nicht  lateinisch 
herausgegeben  worden,  und  fordert  Sauvages  zu  wiederholten  Malen 
auf,  dieselbe  in  die  genannte  Sprache  zu  übersetzen, 

Nächst  Boerhaave  hat  es  wohl  Niemanden  gegeben,  der  auf  die 
Stellung  Linne's  zur  medizinischen  Wissenschaft  einen  grosseren 
Einfluss  ausgeübt  hat,  als  Sauvages.  Er  war  es,  der  Linne  s  Liebe 
und  Interesse  für  die  Medizin  stets  wach  erhielt.  Es  ist  sogar  wahr- 
scheinlich, dass  ohne  die  innige  und  herzliche  Freundschaft,  welche 
diese  grossen  Männer  der  Wissenschaft  mit  einander  vereinigte, 
Linne  imter  der  wachsenden  Last  seiner  naturwissenschaftlichen 


1)  „Si  preces  ineae  apud  te  valeant,  iinice  efflagito,  ut  edas  Classes 
tuas  Morborum  romana  veste  indiitas.  Certe  si  feceris,  non  mihi  soli, 
non  academiis  nostris  Sueciis,  sed  toti  orbi  te  obstrictum  et  veneraudum  imo 
et  aeteraura  facies."  „Has  enim  publice  docere,  has  mihi  tironibus  imo  doctis 
commendare  animus  est,  non  novi  alium  librum  dignum.  Promisisti,  quaeso 
et  promissis  tene;  per  sacra  medicinae  obsecro.  •  In  den  Briefen  vom  21.  Jan. 
und  20.  Sept.  1740. 


Arbeiten,  seine  Beschilftigung  mit  der  Medizin  aufgegeben  hätte.  Der 
Einfluss  der  Schriften  Saiivages'  auf  Linne's  medizinische  Arbeiten  ist 
unleugbar,  und  dieser  Einfluss  offenbart  sich  noch  stärker  in  Hinsicht 
auf  seine  Thätigkeit  als  Lehrer  einiger  Zweige  der  medizinischen 
Wissenschaft.  In  den  Vorlesungen  Uber  Nosologie  folgte  Linne, 
wenigstens  zu  Anfang  seiner  Thätigkeit  als  Lehrer,  Sauvages' System 
und  der  von  ihm  entAvorfenen  Klassifikation  der  verschiedenen 
Krankheiten.  Da  diese  Eintheiluug  von  der  bisher  gebräuchlichen 
Methode  gänzlich  abwich ,  erregte  sie  grosse  Aufmerksamkeit  und 
Linne  schreibt  darüber : 

„Ridebat  primo  collega  mens,  cum  in  prima  lectione  morbos 
secundum  classes,  genera,  species,  Synonyma  etc.  me  traditurum 
dicebam ;  dixit  me  non  aliter  morbos  cognoscere  posse ,  quam  uti 
Botanicus  plantas ;  nunc  minus  ridet ,  me  cum  facile  omnes  Stu- 
diosi audiunt,  illum  vero  pauci.  Fateor  me  Semeioticen  tuo  desti- 
tutus  opere  noUe  profiteri." 

Die  von  Sauvages  in  die  Pathologie  eingeführte  systematische 
Kichtung,  welche  der  Darstellung  der  Lehre  von  den  Krankheiten 
so  grosse  Aehnlichkeit  mit  der  Methode  der  beschreibenden  Natur- 
wissenschaft verlieh,  musste  Linne's  lebhaftes  Interesse  erwecken. 
Es  kommen  zwar  auch  frühere  Aeusseruugen  in  dieser  Hinsicht  vor. 
Bereits  Sydenham  stellte  die  Forderung,  die  Krankheiten  nach  dem 
Beispiele  der  Botaniker  zu  ordnen  2),  und  auch  Baglivi  fand  es  noth- 
wendig,  dass  „  alle  Krankheiten ,  um  sie  leichter  und  sicherer  von 
einander  unterscheiden  zu  können,  nach  botanischer  Methode  in  ge- 
wisse Geschlechter  und  Arten  gebracht  werden  mUssten".  Sauvages 
gebulirt  indessen  das  Verdienst,  den  Versuch  gemacht  zu  haben,  die 
Krankheiten  auf  Grundlage  gemeinschaftlicher  Symptome  in  gewisse 

')  In  einem  Brief  an  Sauvages  vom  2.  Dec.  1741. 
„Prinio  expedit,  iit  morbi  omnes  ad  definitas  ac  certas  species  vevo- 
centur,  eadem  prorsiis  diligentia  ac  7.-/tpißeia,  qua  id  factum  videmus  a  bota- 
nicis  scriptoribua  in  suis  pliytologiis".    Opera  nni versa.    Liigd.  Bat. 
llhi,  S.  J:5. 


—    16  — 


Klassen,  Ordnungen  und  Familien  nach  ihrer  grösseren  oder  ge- 
ringeren Uebereinstimmung  mit  einander  zu  gruppiren.  80  unsicher 
auch  diese  Grundlage  in  Folge  der  damals  mangelhaften  Keuntniss 
der  Natur  der  Krankheiten  thatsächlich  war,  und  so  oft  eine  solche 
Eintheihmg  wesentlich  verschiedene  Leiden  theils  trennte,  theils  zu- 
sammenlegte ,  so  musste  doch  dieses  System  Sauvages'  Linne  s  Be- 
dürfniss  nach  gewissen  leitenden  Grundsätzen  bei  der  Systemati- 
sirung  der  Krankheitserscheinungen  befriedigen.  Mit  grossem  Eifer 
begann  er  selbst  die  Ausarbeitiing  eines  medizinischen  Systems  und 
suchte,  wie  wir  weiterhin  zeigen  werden,  eine  Erklärung  der  krank- 
haften Störungen  in  dem  Organismus  zu  geben,  gestützt  nicht  allein 
auf  eine  mechanische  Auffassung  der  verschiedenen  Spannungsver- 
hältnisse der  festen  Theile,  sondern  auch  auf  die  chemische  Zu- 
sammensetzung der  Flüssigkeiten.  Linne  hatte  die  Absicht ,  diese 
seine  Vorlesungen  Uber  die  Nosologie  als  einen  Wegweiser  für  seine 
Zuhörer  herauszugeben,  und  es  erschien  auch  in  Folge  dessen  später 
seine  Arbeit  „Genera  morborum".') 

Linne  folgte  mit  grosser  Aufmerksamkeit  der  wissenschaftlichen 
Thätigkeit  Sau  vages'  und  den  von  ihm  herausgegebenen  Schriften. 
„  Physiologiam  lego  quotidie;  Semper  assequi  nequeo,  non 

satis  in  mathematicis  versatus ;  ubi  intelligo,  miror  quomodo  po- 

tuisti  penetrare  interius,  quam  ante  te  ullus."-) 

Als  Sauvages  sein  medizinisches  System  weiter  entwickelte  und 
die  Ergebnisse  seiner  Forschungen  und  Erfahrungen  zusammen- 
fasste  in  seiner  grossen  Arbeit  „Pathologia  methodica",  die 
in  vielen  Auflagen  erschienen  ist  und  später  unter  dem  Titel  „No- 
sologia  methodica  sistens  morborum  classes"  heraus- 
gegeben wurde,  schrieb  Linne : 


1)  „Hocce  autumno  1741  publice  Classes  tuas  morborum  docebo,  tua 
venia;  si  exigant  studiosi,  seorsim  has  edere  vellem,  uti  morbos  definitos 
dedisti  in  Pathologia.'-   Im  Brief  vom  2.  Dec.  1741. 

2)  Im  Brief  vom  14.  Oct.  1755  an  Sauvages,  der  kurz  vorher  seine  .  Phy- 
siologiae  Elementa",  Amstelodami  (Avenione)  1755,  herausgegeben  hatte. 


—    17  — 


„Novere  omnes,  novi  et  ego  te  fuisse  maxime  eruclitum  mer 
dicum  et  facile  omnium  antesiguanum ;  sed  ego  neqiie  alii  credi- 
deruut  imquam  te.  velalium  mortalem,  tauta  gaudeve  eruditioue 
medica,  quanta  hoc  opus  extra  aleam  prodit.  Nou  dabo  quidquam 
auribus  tiüs,  nee  sinit  hoc  sincera  amicitia,  sed  certum  quam  cer- 
tissimum  est,  quod  ab  hoc  tempore  novum  adeatur  medicinae  exer- 
citium ,  cum  jam  aperuisti  omnes  medicorum  oculos,  ut  videant 
viam,   et  incedaut  clara  in  luce  quousque  datur  mortalibus. 
Quidquid  unquam  didici  ab  aliis  habeo  omne,  sed  millena  nec 
mihi  nec  aliis  antea  nota.  Incipiam  jam  e  novo  studere,  et  inci- 
piant  quotquot  sapiunt,  etiam  solidissimi  medici ;  et,  si  vixero  per 
annum,  omnia  tua  in  sanguinem  vertam" .  i) 
Die  grosse  Bedeutung  für  das  Studium  der  Medizin ,  welche 
Linne  an  Sauvages'  Arbeiten  knüpfte,  ergiebt  sich  deutlich  daraus, 
dass  er  den  Studenten  der  Medizin  dieselben  zum  Lesen  empfahl 
und  Sauvages  aufforderte ,  eine  grössere  Anzahl  Exemplare  seiner 
Pathologie  nach  Schweden  zum  Verkauf  zu  senden.   Er  sagt,  er 
brauche  bis  zu  hundert  Exemplaren ,  und  verspricht ,  sie  an  einem 
einzigen  Tage  zu  verkaufen. Die  Kenntniss  von  Sauvages'  System 
verbreitete  sich  dadurch  allgemein  unter  den  Schülern  Linne's  und 
sein  Einfluss  auf  die  ärztliche  Bildung  Schwedens  wurde  ein  sehr 
bedeutender.    In  keinem  Lande,  sein  Vaterland  ausgenommen, 
dürfte  der  französische  Gelehrte  grösseres  Ausehen ,  als  in  Schwe- 
den, genossen  haben. 

Seinerseits  fand  sich  Sauvages  durch  die  Anerkennung .  die 
Linn6  ihm  widerfahren  Hess,  in  hohem  Grade  geschmeichelt.  Nicht 
nur  in  seinen  Briefen  spricht  er  seine  Dankbarkeit  für  den  Beifall 
aus,  den  Linne  seineu  Arbeiten  und  Forschungen  spendete,  sondern 
er  äussert  zugleich ,  dass  dieses  beifällige  Urtheil  um  so  höher  zu 
schätzen  sei,  als  es  von  einem  Manne  herrühre,  der  fähig  sei,  den 
Werth  einer  wissenschaftlichen  Methode  zu  beurtheilen  . 

')  Im  Brief  an  Sauvages  vom  3.  August  17G4.         -j  Im  Brief  1751). 

^)  „Quod  autem  lianc  spartam  foliciter  a  me  fuisso  exoruatam  putet  Hl. 

Hjelt,  Linnö  als  Arzt.  2 


—    18  — 


Diii-eli  Linn6's  Vermittlung  wurde  der  Name  Sauvages'  sogar 
der  schwedischen  Literatur  einverleibt.  Als  1745  in  Schonen  eine 
epidemische  Seuche  (Dysenteria  boum  febrilis)  ausbrach,  theilte 
Sauvages  auf  Linne's  Bitte  seine  Erfahrungen  über  die  Natur  und 
Behandlung  dieser  Seuche,  die  auch  in  Stidfrankreich  geherrscht 
hatte,  mit.  Linne  Ubersetzte  den  betreffenden  Brief  und  veröffent- 
lichte ihn  in  den  Akten  der  schwedischen  Akademie  der  Wissen- 
schaften 1746.  Er  schreibt  hierüber : 

„Litterae  tuae  ita  omnibus  arrisere,  ut  te  ad  invidiam  usque 
colant.  Jure  et  sancte  testor  me  nunquam  audivisse  exterum,  qui 
majorem  apud  nos  famam  obtinuit,  quam  tu,  pro  hac  unica  ob- 
servatione."  *) 

Aber  nicht  nur  in  Fragen,  welche  die  systematische  Nosologie 
und  die  medizinischen  Theorien  betrafen,  fand  zwischen  beiden 
Gelehrten  ein  Austausch  ihrer  Erfahrungen  und  Ansichten  statt. 
Einerseits  giebt  Linne  dem  gelehrten  Forscher  im  Süden  wichtige 
und  werthvolle  Angaben  über  die  nordischen  Krankheitsverhält- 
nisse 2) ,  andererseits  kommen  unaufhörlich  gegenseitige  Mitthei- 
lungen über  die  Natur  und  Behandlung  einzelner  Krankheiten  vor. 
Durch  Sauvages  erhielt  Linne  Kenntniss  von  der  Behandlung  ge- 
wisser Krankheiten  vermittelst  Elektricität.  Es  scheint,  als  ob  Sau- 
vages längere  Zeit  hindurch  sich  mit  diesem  Gegenstande  beschäftigt 
habe ,  denn  er  theilt  Linne  als  Beweis  für  den  Werth  seiner  Heil- 
methode eine  Menge  von  ihm  gemachter  Beobachtungen  mit.  ^]  Diese 


Eques  Linnaeus  Avchiater  suecicus,  ut  refert  in  suis  Amoenitatibus  aca- 
demicis,  Vol.  VI,  quod,  inquam,  Nosologiain  magnificis  extollat  verbis  in 
suis  Epistolis ,  hoc  certe  tribuo  benevolo  ejus  animo.  Cum  autem  ille  vir  in 
multis,  sed  maxime  in  raethodis  dijudicandis  praestantissimus  sit,  non  parum 
mihi  gratulor,  quod  haecce  mea  methodus  ipsi  potissimum  arriserit.''  In  der 
Vorrede  zur  Nosologia  methodica.  I.  Amstel.  1768.  S.  90. 
»)  Im  Brief  1 747. 

-)  In  Briefen  vom  21.  Januar  1740,  1744,  1753,  vom  20.  Dec  1754,  vom 
24.  Febr.  1756. 

3)  Im  Brief  vom  12.  April  1740. 


—    19  — 


Mittheilimg  interessirte  Linn6  aufs,  höcliste  und  er  antwortet  Sau- 
vages : 

„Pulclira  erant,  quae  sciubis  de  Electrisatione ;  adhuc  nullus 
ineipit  hanc  medicinam  apud  nostrates  adliibere;  sed  ego  quam- 
primiim  instituam." „Observationes  tuae  de  Electrisatione  pul- 
cherrimae  sunt,  et  lectae  fuere  in  societate,  omnium  adplausu  et 
approbatione  et  admiratione.  Te  laudant  qui  aliquoties  ad  nos 
mittis  observationes,  dum  alii  multi  nunquam."^) 

Aus  dieser  Veranlassung  scheinen  Versuche  Uber  die  Wirkung 
der  Elektricität  auf  gewisse  Krankheiten  angestellt  worden  zu  sein, 
denn  die  Fakultät  erhielt  auf  ihren  Antrag ,  dass  derjenige  Student 
der  Medizin,  welcher  hiermit  beauftragt  werden  sollte,  ein  höheres 
Stipendium  erhalten  könnte ,  einen  königlichen  Brief  vom  28  Sept. 
1752,  der  da  gestattet, 
..  dass  doppeltes  Stipendium  regium  ertheilt  werden  darf  dem- 
jenigen Studiosus  medicinae,  welcher  zur  Anstellung  von  Elektri- 
sirversuchen  an  Kranken  angenommen  wird  und  während  der 
Beobachtungen  darüber  gebührende  Controle  führt  und  Notizen 
macht."  - 

Man  hat  gemeint ,  dass  Linne ,  nachdem  er  den  Lehrstuhl  der 
Botanik  übernommen,  seine  Thätigkeit  als  Arzt  gänzlich  aufgegeben 
habe.  Freilich  äusserte  er  selbst:  „entweder  müsste  die  Professur 
oder  die  Practique  versäumt  werden,  und  bediente  von  nun  an  nie 
andere,  als  Freunde  und  Arme"  3),  wir  besitzen  aber  eine  Menge  Be- 


))  Im  Brief  vom  22.  August  1749. 

2)  Im  Brief  vom  21.  Aug.  1750.  —  Diese  Aeusserung  bezieht  sich  auf  eine 
kurz  vorher  von  Sunvages  der  Gesellschaft  der  "Wissenschaften  in  Upsala  über- 
reichte Abhandlung  „Usus  clectricitatis  in  rheumatismo",  gedr.  in 
Acta  Soc.  reg.  Scient.  Upsal.  1744—1750.  Stockholm  1751.  S.  1—8.  In 
den  Akten  der  Societiit  1742,  gedruckt  in  Stockholm  1748,  befindet  sich  ein 
früher  veröffentlichter  Aufsatz  von  Sauvages,  „Observationes  physicae", 
enthaltend  Beobachtungen  Uber  Catalepsis  delirans  und  Aer  lethalis. 

3)  Eigenh.  Aufzeichn.  S.  201. 

2* 


weise  dafür,  dass  Linnö  sich  der  Ausübung  des  ärztlichen  Berufs 
nicht  ganz  entzogen  habe. 

In  seinen  Schriften  Stessen  wir  nämlich  auf  zahlreiche  Spuren, 
die  zeigen ,  dass  er  sich  fortwährend  für  die  praktische  Heilkunde 
interessirte  und  ihren  Fortschritten  folgte.  In  seinen  Briefen  theilte 
er  nicht  selten  die  Erfahrungen  mit ,  welche  er  am  Krankenbett  er- 
worben, und  zieht  in  schweren  und  verwickelten  Fällen  bei  seinen 
medizinischen  Freunden  Erkundigungen  ein.  — 

Mit  ungetheilter  und  inniger  Hingebung  hatte  Linne  während 
seiner  langen  Lebenszeit  sich  dem  Lehrerberuf  gewidmet.  Es  war 
ihm  eine  Lust  und  Freude  gewesen,  lauschenden  Zuhörern  die 
Früchte  seiner  Forschungen  und  den  Reichthum  seines  Wissens  mit- 
zutheilen.  Das  Unterrichten  war  ihm  stets  die  liebste  Beschäftigung, 
Erweckung  von  Interesse  und  Lust  zu  Studien  betrachtete  er  immer 
als  eine  der  wichtigsten  Pflichten  des  Universitätslehrers.  Wegen 
Rosen  von  Rosenstein  s  ausgedehnter  Praxis  und  seiner  Anstellung 
bei  Hofe ,  sowie  wegen  seiner  in  Folge  dessen  oft  vorkommenden 
Abwesenheit  von  der  Universität,  scheint  die  Besorgung  der  Fakul- 
tätsgeschäfte hauptsächlich  Linne's  Sache  gewesen  zu  sein. 

Nur  sein  eiserner  Fleiss  und  die  ungewöhnliche  Leichtigkeit, 
mit  welcher  er  arbeitete ,  machten  es  ihm  möglich ,  die  Last  der 
mannigfachen  und  verschiedenen  Beschäftigungen  zu  bewältigen. 
Doch  klagte  er  selbst,  wie  angestrengt  er  arbeiten  müsse. 

In  einem  vertraulichen  Brief  an  einen  Freund  giebt  er  folgende 
Schilderung  seines  täglichen  Lebens: 

„  Doceo  quotidie  una  hora  publice ,  una  privata  multis  ,  una 
Danis,  duabus  Ruthenis  adeoque  cum  locutus  sum  ante  meridiem 
quinque  horis,  post  meridiem  correxi  typographi  impressiones, 
scripsi  quotidie  mss.  pro  typographo  nova,  literas  ad  Botanicos 
plurimos,  curavi  hortum,  negotia  curiosorum  et  studiosorum,  quae 
hic  plura  quam  alibi,  nec  non  curavi  praedia  mea,  certe  vix  mihi 
tempus  edendi  multis  diebus  adest,  ut  si  me  videres ,  doleres  sor- 
tem  meam,  qui  deinde  cinctus  vasta  familia,  et  debeo  ^dvere  cum 


—    21  — 

popiilaribiis  et  nobilibus  et  Peregrinis,  qui  huc  api)ellimt."  „Dum 
mecum  repetii,  quam  misere  transactum  aevum  absolvi,  eonstitui 
festiuanter  eolligere  sarcinas  meas,  ne  mors  inopinata  exhaustum 
corpus  sutfocet.  Dum  socii  mei  quotidie  gustarunt  delicias  hujus 
vitae ,  ego  dies  noetesque  consumsi  in  artem  extricandam ,  quam 
mille  non  absolverent :  ne  dicam  quod  quotidie  in  commercio  litera- 
rio  die  impendi  meos  et  sie  praecocera  senectutem  adscivi  corpori 
meo.  Si  concedatmihiD.  T.  0.  ulteriores  aliquot  dies,  solvam  sene- 
scentem  equum,  ne  currat  ad  extremum  ridendus  et  ilia  dueat ;  et 
si  quae  mihi  contingant  in  horto  aliquot  rariores  plantae ,  iis  de- 
leetabor." ') 

Der  Abend  seines  Lebens  wurde  leider  getrübt  durch  Streitig- 
keiten zwischen  der  medizinischen  Fakultät  zu  Upsala  und  dem 
Collegium  medicum  in  Stockholm.  Die  nächste  Veranlassung  zu 
ihnen  scheint  gegenseitige  Unzufriedenheit  über  stattgefundene 
Examensprüfungen  gewesen  zu  sein.  Linne  beklagte  sich  über  die 
schwankenden  und  geringen  Forderungen  an  medizinischen  Kennt- 
nissen, mit  denen  das  Collegium  sich  zuweilen  bei  Ernennung  von 
Aerzten  begnügte.  Er  fürchtete,  dass  diese  Streitigkeiten  eine  Ab- 
nahme der  medizinischen  Studien  zur  Folge  haben  müssten.  Das 
Ansehen  der  Fakultät  machte  es  für  ihn  zur  Nothwendigkeit ,  die 
Bedingungen  zur  Erlangung  des  medizinischen  Grades  hoch  zu 
stellen.  2]  Als  dieses  Ansehen  in  Stockholm  nicht  mehr  unbedingt 
anerkannt  zu  werden  schien,  fand  er  sich  tief  verletzt. 

'  In  Briefen  an  N.  J.  Jacquin,  vom  20.  März  1761  und  1.  April  1764  ,  ge- 
druckt in  Caroli  Linnaei  Epistolae  ad  Nie.  Jacquin,  ex  autogra- 
phis  ed.  C.  N.  ä  Schreibers.   Vindobon.  1841. 

2;  „Gerte  si  doctores  nostri  possent  maturescerc  studia  et  annos,  in  majori 
e.\i8timatione  poneretur  medicina  apud  omnes  bonos.  Memor  sum  consilii  olim 
beati  Carl  Gyllenborg,  qiii  suasit  quod  nullos  adniitteremus  ad  honores  medi- 
co3,  nisi  qui  etiam  annis  raaturuore  nonniliil,  quum  nihil  magis  cedat  in  oppro- 
brium  artis,  quam  si  pueri  admittantur."  ..Nisi  distinguantur  doctores  a  pseudo- 
doctoribus,  res  acta  erit  de  fama  et  fide  doctorum  nostratum."  In  Briefen  an 
A.  Bäck  vom  27.  August  17.54  imd  2.  März  1761.  —  Diese  Briefe  Linne  s  sind 
in  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Stockholm  aufl)e\v.ahrt,  und  verdanke 


—    22  — 


Ein  fernerer  Grund  zur  Uneinigkeit  zwischen  Linn6  und  dem 
Colleg'ium  medicum  lag  in  dem  unklaren  Verbältniss ,  welches  da- 
mals zwischen  den  Jüngern  der  verschiedenen  Zweige  der  ärztlichen 
Praxis  noch  herrschte.  Wir  mttssen  uns  erinnern,  dass  man.  wie  in 
anderen  Ländern,  so  auch  in  Schweden  zwischen  Aerzten  und  Chi- 
rurgen einen  scharfen  Unterschied  machte.  Diejenigen,  welche  sich 
mit  dem  operativen  Theil  der  Heilkunst  befassten,  die  sogen.  Bart- 
scheerer,  bildeten  eine  eigene  privilegirte  Zunft,  bestehend  aus  einer 
Anzahl  Meisterfeldscheerer  nebst  Gesellen  und  Lehrlingen ,  die  von 
ihren  Meistern  unterrichtet  wurden.  In  Stockholm  hatte  sich,  haupt- 
sächlich nach  französischem  Muster,  eine  ähnliche  Koii3oration  ge- 
bildet, welche  schliesslich  obrigkeitlich  bestätigt  wurde  und  1717 
die  Benennung  Chirurgische  Societät  erhielt.  Dieser  Verein  von 
Chirurgen  hatte  die  Befugniss ,  den  Unterricht  unter  sich  zu  ordnen, 
und  beanspruchte  mithin  unbedingt  von  einem  jeden,  der  als  Mit- 
glied des  Vereins  anerkannt  sein  und  in  den  Besitz  seiner  Gerecht- 
same gelangen  wollte ,  dass  er  die  bestimmten  Lehrjahre  und  die 
einzelnen  Grade  durchmachen  müsse.  Der  oberste  Leiter  der  Chi- 
rurgie im  Reiche  war  Chef  dieser  Corporation,  welche  übrigens  nicht 
als  unter  dem  Collegium  medicum  stehend  betrachtet  wurde.  In 
der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  stand  die  chirurgische  Societät 
in  Stockholm  auf  der  höchsten  Stufe  ihres  Ansehens  durch  die  aus- 
gezeichneten Männer,  welche  an  ihrer  Spitze  gestanden  und  ihre 
Angelegenheiten  geleitet  hatten,  Ewald  Ribe,  S.  Schützer,  H. 
Schützer  (geadelt  Schützercrantz)  und  N.  Ramström.  Unter  dem 
Einfluss  mehrerer,  der  chirurgischen  Societät  angehörender  Männer, 
welche  nicht  selten  eine  recht  ausgedehnte  Praxis  in  Stockholm 
hatten ,  und  von  denen  einige  Sitz  und  Stimme  im  Collegium  medi- 
cum besassen,  wurden  die  rein  praktischen  und  empirischen  Studien 
im  Gegensatz  zu  den  akademischen  begünstigt.  Diese  „chirurgorum 
turba"  war  es,  die  Linn6  nie  anerkennen  wollte. 

ich  die  Kenntniss  dieser  wiclitigen  Schriftstücke,  so  wie  andere  Mittlieilungeu 
der  Freundlichkeit  des  Hrn.  Dr.  E.  Ährling  zu  Örebro. 


—    23  — 


Als  schliesslich  um  dieselbe  Zeit  eine  medizinisch-chirurgische 
Uuterrichtsuustalt  in  Stockholm  schnell  zur  BlUthe  gelaugte,  unter- 
stützt durch  tüchtige  Lehrkräfte  und  reiche  materielle  Hülfsmittel 
zur  Erlerming  der  praktischen  Heilkunst,  so  war  es  kein  Wunder, 
dass  dieselbe  nach  und  nach  als  Nebenbuhlerin  der  medizinischen 
Fakultät  zu  Upsala  auftrat  und  gleiche  Berechtigung  mit  ihr  bean- 
spruchte. Und  da  ausserdem  einige  der  bei  Hofe  angestellten  Aerzte 
einem  der  medizinischen  Fakultät  fremden  Kreise  angehörten  oder 
als  Mitglieder  des  Collegium  medicum  die  Entmckeluug  der  Medizi- 
nalangelegenheitcn  des  Landes  bestimmten,  wurde  der  Einfluss, 
welcher  sich  allmählich  neben  der  Fakultät  ausbildete  und  ihre  In- 
teressen nicht  th eilte,  um  so  bedeutungsvoller. 

Die  Selbständigkeit  der  medizinischen  Fakultät  ward  in  be- 
denklicher Weise  gefährdet.  Man  scheint  im  Jahre  1776  sogar  den 
Plan  entworfen  zu  haben,  der  medizinischen  Fakultät  das  Recht  zur 
Verleihung  des  Doktorgrades  zu  nehmen  und  dasselbe  auf  das  CoUe- 
gium  medicum  in  Stockholm  zu  übertragen.  Man  glaubte  selbst  die 
Zustimmung  des  Königs  zu  diesem  Vorschlag  erhalten  zu  körinen. 
Als  der  Plan  zur  Kenntniss  des  Prof.  Jonas  Sidren  gelangte ,  über- 
redete er  den  hochbejahrten,  kränklichen  Linne,  von  dem  Könige  in 
Drottningholm  eine  Privataudienz  zu  erbitten.  Kaum  in  das  Zimmer 
des  Königs  eingetreten,  stiess  Linne,  im  höchsten  Grade  erregt, 
stotternd  die  Worte  aus  : 

„Es  geht  nie  an,  Ew.  Majestät.  Es  richtet  die  Akademie  und 
die  Wissenschaft  zu  Grunde.  Ich  kann  nie  dieses  Unglück  über- 
leben." 

Der  König,  der  nicht  begreifen  konnte,  worauf  Linne  anspielte, 
verlangte  von  Sidren  nähere  Auskunft  und  geht  dann  mit  lächelnder 
Miene  auf  Linne  zu,  klopft  ihn  auf  die  Schulter  und  sagt : 

„Das  soll  nie  geschehen,  mein  lieber  Linne.   Reiset  in  Frie- 
den heim  und  seid  ruhig." 
Das  war  der  letzte  öffentliche  Schritt  Linne's  für  die  Hochschule, 
deren  Wohl  ihm  stets  so  innig  am  Herzen  lag:  es  war  sein  Ver- 


—    24  — 


raächtniss  an  eine  Fakultät ,  über  Avelche  er  so  hohen  Glanz  und  so 
viel  Ehre  verbreitet  hatte.  Am  10  Jan.  1778  gehörte  er  nicht  mehr 
der  Hochschule  in  Upsala,  nicht  mehr  den  Lebenden  an. 


n. 

Will  man  eine  zusammenhängende  Darstellung  von  Linnö's  me- 
dizinischen Ansichten  geben,  wie  man  sie  in  den  zahlreichen  aka- 
demischen Abhandlungen  findet,  welche  seinen  Namen  tragen,  so 
wird  man  auf  eine  Menge  bedeutender  Schwierigkeiten  stosseu. 
Linne  hat  nicht,  wie  einige  seiner  Zeitgenossen,  seine  Ansichten 
und  Erfahrungen  in  einer  grösseren,  umfassenderen  Arbeit  selbst 
zusammengestellt ,  sondern  sich  nur  begnügt ,  dieselben  vor  einem 
zahlreichen  Kreise  von  Schülern  auszusprechen,  die  er  um  sich  ver- 
sammelte, und  welche  später,  mit  Zugrundelegung  seiner  Vor- 
lesungen, eine  Menge  wissenschaftlicher  Gegenstände  bearbeiteten. 
Wer  seinen  medizinischen  Lehrbau  zu  einem  Ganzen  verbinden  will, 
muss  die  verschiedenen  Theile,  welche  dieses  System  bilden,  in 
seinen  zahlreichen  Schriften  sammeln  und  aufsuchen.  Zwar  hat 
Linnö  zwei  systematische  medizinische  Abhandlungen,  Genera 
morborum  und  Clavis  medicinae,  selbst  herausgegeben,  aber 
die  compendiöse,  ja  aphoristische  Kürze,  welche  er  diesen  Arbeiten 
verliehen,  zeigt  zur  Genüge,  dass  sie  nur  zur  Unterlage  derjenigen 
mündlichen  Vorträge  bestimmt  waren ,  denen  er  die  für  ihn  so  be- 
zeichnende, praktische,  anziehende  Foim  zu  geben  verstand. 

Linnö  hatte  sich  in  der  medizinischen  Wissenschaft  ein  hohes 
Ziel  gesteckt.  Ihm,  dem  unermüdlichen  Forscher,  war  es  klar,  dass 
die  Medizin ,  wenn  sie  einen  Platz  innerhalb  des  Kreises  der  Natur- 
wissenschaften beanspruchen  will ,  für  ihre  Entwickelung  dieselbe 
Methode  wie  diese  wählen  muss.  Er  forderte,  dass,  wie  der  Phy- 
siker seine  Lehrsätze  auf  Experimente  stützt,  ebenso  auch  der  Arzt 


—    25  — 


seine  Ansichten  durch  Versuche  und  Beobachtungen ')  begründen 
muss,  denn  „die  Heilkunst  theilt  das  traurige  Loos  naheverwandter 
wissenschaftlicher  Zweige,  durch  leichtsinnige  Hypothesen  und  Vor- 
urtheile  erniedrigt  (deturbari)  zu  werden". 2]  Die  rein  empirische 
Medizin  wendet  von  der  Erfahrung  geprüfte  Arzneien  an ,  ohne  sich 
auf  eine  Erklärung  ihrer  Wirkungsweise  einzulassen ;  die  rationelle 
Arzneikunst  dagegen  strebt,  sobald  in  den  mechanischen  Gesetzen 
des  Baues  und  der  Funktionen  des  Körpers  Störungen  auftreten,  sie 
auf  dieselben  Gesetze  zurückzuführen,  Durch  die  Vereinigung 
anatomischer,  botanischer,  physiologischer,  chemischer  und  mecha- 
nischer Wahrheiten  mit  den  Lehrsätzen  der  Medizin  ist  die  rationelle 
Heilkunst  entstanden.  Die  wirklich  wissenschaftlichen  Beobach- 
tungen bleiben  immer  bestehen  und  verändern  sich  nie ,  während 
die  Erklärungen  ihrer  Ursachen  und  Natur  stetem  Wechsel  unter- 
worfen und  von  der  zu  verschiedenen  Zeiten  geltenden  Auffassung 
abhängig  sind.  Die  Theorie  der  Medizin  ist  so  zu  sagen  der  Schlüssel 
zu  den  praktischen  Beobachtungen ,  diese  aber  der  lydische  Stein, 
an  welchem  j  ene  Theorie  geprüft  werden  muss .  Denn  hat  die  Wissen- 
schaft richtige  Anschauungen  aufgestellt,  so  ist  der  Arzt  stets  im 
Stande,  sich  in  dunkeln  und  zweifelhaften  Fällen  zurechtzufinden. 
Fehlt  es  dagegen  einer  Methode,  die  von  den  Grundwahrheiten  der 
Wissenschaft  Gebrauch  machen  sollte ,  an  einem  zuverlässigen  und 
festen  Fundament,  so  wird  die  ganze  medizinische  Praxis  unsicher 
und  schwankend.^)  Man  hat  zwar  behauptet,  die  Zeit  sei  für  ein 
medizinisches  System  noch  nicht  reif.  Das  mag  wahr  sein,  aber  es 
müssen  die  medizinischen  Lehrsätze  in  der  Ordnung,  wie  ihre  Natur 
es  gestattet,  gebracht  und  aufgestellt  und  darauf  durch  neue  und 
stets  wiederholte  Beobachtungen  verbessert  und  vervollkommnet 
werden ,  denn  wo  es  keinen  Anfang  giebt,  da  lässt  sich  äuch  keine 


'j  Inebnantia  (1762). 

Circa  fervidoniin  et  gelidonim  usuiii  paraenesis  (l'GöK 

Purgantia  indigena  (ITüO;. 
*i  Sapor  medicamentonim  (1751). 


—    26  — 


Entwickeluug  erwarten.  Theorie  und  Erfalirimg  bilden  somit  die  ge- 
meinschaftliche Grundlage,  auf  welcher  das  medizinische  System 
erbaut. werden  muss.  ^)  Der  rationelle  Arzt ,  welcher  diese  Benen- 
nung verdienen  will,  muss  daher  lieber  ein  Eklektiker  sein,  als  den 
Ansichten  einer  gewissen  Schule  blind  und  einseitig  huldigen. 

Sache  des  Arztes  ist  es,  die  Art  der  Krankheit  genau  zu  ))estim- 
men  und,  mit  Vermeidung  zusammengesetzter  Arzneien,  am  liebsten 
sogen,  einfache  Heilmittel  (simplicia)  anzuwenden.  Zu  diesem  Zweck 
sind,  wie  es  auch  an  gut  organisirten  Lehranstalten  der  Fall  ist ,  an 
denen  das  Studium  der  Medizin  mit  Ernst  und  Erfolg  getrieben  wird, 
Krankenhäuser  und  botanische  Grärten  zum  Bedarf  des  Unterrichts 
einzurichten.  Die  medizinische  Wissenschaft  mrd  daraus  herrliche 
Früchte  ernten  und  in  bemerkenswerther  Weise  zunehmen,  denn 
wenn  daselbst  eine  Menge  Kranke  einer  und  derselben  Art  behan- 
delt werden ,  wird  nicht  allein  die  Natur  der  Krankheit  genau  beo- 
bachtet und  beschrieben,  sondern  auch  die  Wirkung  der  Arznei- 
mittel erforscht  und,  falls  der  Tod  erfolgt,  der  Einfluss  der  Krankheit 
auf  die  Organe  dargelegt  werden  können.  Hiermit  wird  jedoch  kein 
unvorsichtiges  und  kühnes  Experimentiren  mit  neuen  und  unbekann- 
ten Arzneimitteln  bezweckt,  weil  jeder  umsichtige  Arzt  genugsam 
versteht,  wo  und  in  welchen  Gaben  dergleichen  Arzneimittel,  ohne 
dem  Kranken  zu  schaden,  anzuwenden  sind,  indem  man  mit  kleinen 
Dosen  beginnt  und  darauf  zu  grösseren  übergeht ,  bis  ihre  Wirkung  ^ 
ermittelt  worden.  2) 

Eine  jede  Krankheit  muss  mit  Rücksicht  auf  ihre  Erkennungs- 
zeichen, ihr  Wesen,  ihre  Ursachen  und  ihren  Beginn  betrachtet 
werden.  Die  Erkennungszeichen  sind  die  Symptome,  wodurch  die 
Krankheiten  sich  von  einander  unterscheiden,  und  über  diese 
kann  und  muss  man  einig  zu  werden  suchen.  Im  Wesen  der  Krank- 
heit liegt  der  Grund  der  Symptome,  und  ohne  dieselben  zu  kennen, 


')  De  eflfectu  et  ciira  vitioriim  diaeteticorura  (17615). 
-)  Purgantia  indigena  (17G6;. 


—    27  — 


vermag  man  ihre  eigenthUmliclie  Natur  nicht  aufzufassen.  Die 
Krankheitsursache,  welche  Linne  als  in  den  meisten  Fällen  und 
wesentlich  innerhalb  des  Körpers  liegend  sich  denkt,  bildet  den 
Ursprung  der  krankhaften  Störung,  und  sobald  sie  gehoben ,  hört 
die  Krankheit  als  solche  auf.  Ihr  Beginn  steht  gewöhnlich  mit  einer 
äusseren  vermittelnden  Veranlassung  in  Verbindung. ') 

Die  Krankheitsbehandlung  selbst  ^ist  entweder  eine  palliative 
oder  rationelle.  Während  die  erstere  nur  die  Symptome  und  deren 
Behandlung  bezweckt,  sucht  die  letztere  den  Grund  und  die  Ursachen 
der  Krankheit  selbst  zu  bekämpfen,  und  da  jene  leicht  zu  erlenien, 
ist  es  diese,  in  Bezug  auf  welche  der  wirkliche  Arzt  sich  vom 
Quacksalber  und  Charlatan  unterscheidet.  Weder  muss  eine  jede 
Bemühung  der  Natur,  den  Krankheitseinfluss  zu  beseitigen,  be- 
kämpft werden,  noch  ist  es  Hauptsache,  die  einzelnen  Symptome 
zu  lindem.  Ein  schädliches  Gewächs  verschwindet  nicht,  indem 
man  Blätter  und  Domen  entfernt,  sondern  dadurch,  dass  es  mit  den 
Wurzeln  ausgerottet  wird;  es  ist  nicht  der  Rauch,  sondern  das 
Feuer,  welches  gelöscht  werden  muss,  und  sobald  der  Anführer 
unterliegt,  fliehen  die  Trabanten.  2)  Der  Arzt  muss  mindestens, 
nachdem  die  Diagnose  gestellt  und  die  Krankheitsursachen  ermit- 
telt worden ,  sie  zu  beseitigen  oder  zu  vermindern  suchen ,  weil  die 
Arzneikunst  sehr  oft  nicht  mehr  vermag,  als  die  Zunahme  des 
Uöbels  zu  verhindern  und  die  Krankheit  erträglicher  zu  machen,  — 

Eine  nähere  Darstellung  von  Linne's  pathologischem  System, 
die  wir  nun  nach  diesen  allgemeinen  Betrachtungen  geben  wollen, 
findet  sich  in  seinen  Genera  morborum  entwickelt.     In  dieser 


Medicamenta  graveolentia  (1758). 
^)  a.  a.  0.  S.  24. 

De  pnlsu  intermittente  (175(5). 
*  Genera  morborum  in  auditorum  usura  edita.  Upsallae  17^3. 
80  fherausgegeben  als  akademische  Dissertation  und  umgednickt  inAmoe- 
nitates  academicae.  VI.  Holmiae  1763,  S.  452).  Von  dieser  Arbeit  giebt 
68,  so  viel  ich  weiss,  folgende  Auflagen.  Caroli  a  Linne,  Genera  mor- 
borum in  auditorum  usum  publicata.   Ed.  iterata,  foras  dedit 


—    28  — 


Arbeit  sind  die  Krankheiten  in  Ordnungen,  Klassen  und  Familien 
mit  Beifügung'  ihrer  wichtigsten  diagnostischen  Symptome  ein- 
getheilt.  Wie  oben  bemerkt  wurde,  übte  Sauvages  in  Mont- 
pellier einen  überwiegenden  Einfluss  auf  Linne's  medizinische  An- 
sichten aus;  in  den  Grenera  morborum  finden  wir  sprechende 
Beweise  dafür.  Nicht  allein  die  Aufstellung  der  Krankheitsgruppen 
ist  der  Hauptsache  nach  dieselbe,  sondern  auch  die  Krankheits- 
Familien  sind  im  allgemeinen  dieselben,  wie  die  von  Sauvages  an- 
genommenen. Linne  sagt  selbst,  „dass  ein  wirkliches  medizinisches 
System  fehlte,  bis  Sauvages  ein  solches  erdachte,  welches,  meinem 
Dafürhalten  nach,  an  natürlicher  Aufstellung,  Charakteren  und  in- 
nerer Vollendung  alle  früheren  in  dem  Grade  übertrifft ,  dass  kein 
anderes  sich  damit  vergleichen  lässt.  Mehr  als  zwanzig  Jahre  habe 
ich  an  der  Academie  in  Upsala  dasselbe  vorgetragen  und  nach  neue- 
ren Beobachtungen  fortwährend  zu  verbessern  gesucht." 

Die  von  Linn6  in  dieser  Arbeit  mitgetheilte  Eintheilung  der 
Krankheiten  ist  folgende : 


et  nomina  teutonica  adjecit  Joh.  Christ.  Kerstens.  Hamb,  et 
Gnstraw.  3.  a.  (1774),  p.  1 — 61.  —  Auf  Lateinisch  und  Französisch  in  „Noso- 
logie raethodique  etc.  trad.  par  Gouvion.  Tom.  X.  Lyon  1772.  —  Caroli 
ä  Linne  Genera  morborum  in  auditorum  usura  pubblicata  (!). 
Editio  italica  ex  unica  Upsaliensi  iterata.  Accedunt  Canones  quidam  med!,  nec 
non  suis  quaeque  locis  remedia  nonnulla  niirabili  usurpata  successu  et  idcirco 
ab  eodem  expertissimo  auctore  admirationis  signo  indicata.  Curante  Caesare 
Constantino  Genio.  Ferrariae  1776.  In  der  Vorrede  dieser  Ausgabe,  die 
ich  nirgends  angeführt  gesehen,  aber  in  der  mediziui^ßchen  Bibliothek  in  Zürich 
gefunden,  schreibt  der  Herausgeber:  „illa  praeterea  remedia  suis  quoque  locis 
indicavi,  quae  Linnaeus  ipse  longo  usu  et  repetitis  experimentis  penitilia  esse 
comperit".  —  Eine  in  Montpellier  1787  von  Dr.  Gouan  herausgegebene  Aus- 
gabe (40)  wird  von  Stoever  erwähnt. 


Morbi. 


Exanthematici 


Febriles  (e  sanguine  in  medullam) 


—    29  — 


l  Sensatioüis  Dolorosi 

X^opvinJ    '    Tu  H     1               TVTah  ti\\  PiR 

i.AClVllll      l    t)  Utllvll                       UXOli  tcfclCO 

(  Motus          (  Quietales 

Teiuperati  • 

(  Motorii 

c.      i.-    •     1  Suppressorii 
Fluidi      Secretioms    i           ^  .. 

1  Lvacuatoru 

n          l  Interni  Deformes 

Solldl      {  -c  ^      •  xr-i.- 

(  Exterm  Vitia 

Xli  A  £|i  Li  L 11  \7  JUl  c  t  L 1  Li  i 

"Fpliris  011111  fifflnvftaP-fttitia  onHa  iiiJi,P,iilnt5i 

V/11  liit~'l 

Pebi'is  cum  IJrinae  hviiostasi  lateritia 

X  UlLFgloLlL'l 

l^^plirtQ  Pinn  Piilflii  fJnvo  T)olnrfi  tonipo 

Dolorosi 

Doloris  sensatio. 

iT1.0ii  Ict 

.Tiidipii  5il  1  PTifi f"i o 

V^lllv  teil  CO 

IVTrtfns  involiitnviiis 

Motorii 

Motus  abolitio. 

Suppressorii 

Meatuum  impeditio. 

Evacuatorii 

Fluidorum  evacuatio. 

Deformes 

Solidoriim  facies  mutata. 

Vitia 

Externa  palpabilia. 

Dieses  pathologisclie  System,  nach  welchem  Linne  die  ver- 
schiedenen Krankheitsformen  aufstellte ,  ist ,  wie  man  sieht ,  fast 
gänzlich  symptomatologischer  Natur.  Nur  die  Fieberkrankheiten, 
für  welche  ein  anderer  Eintheilungsgrund  gewählt  wurde,  sind 
theils  nach  ihrer  verschiedenen  Verbreitungsart,  theils  nach  dem 
besonderen  Charakter,  den  sie  während  ihres  Verlaufs  annehmen, 
geordnet.  Die  exanthematischen  Fieberkrankheiten  werden  z.  B. 
in  contagiosi  (Pestis,  Variola,  Petechia  oder  Fleckfieber  etc.), 
sporadici  und  solitarii  eingetheilt,  während  die  kritischen 
Fieberkrankheiten  dagegen  ihrem  Typus  nach  in  continentes 
(Synocha,  Lenta),  intermittentes  (quotidiana,  tertiana,  quartana, 
duplicana,  errana)  und  exacerbantes  (amphimerina ,  tiiitaea, 
hemitritaea  etc.)  zerfallen.  Zu  den  Fieberkrankheiten  werden  auch 
die  acuten  Entzündungen  gerechnet,  und  in  dieser  Gruppe  findet 
man  wieder  einen  Versuch,  hierhergehörende  Krankheiten  nach  den 
verschiedenen  Organen,  in  denen  sie  auftreten,  zu  ordnen. 

Linne  theilte  nämlich  die  phlogistischen  Fieberkrankheiteu 
(Entzündungen)  in  membranacei  oder  solche,  welche  die  serösen 
oder  mucösen  Häute  angreifen,  wie  Phrenitis  oder  Meningitis,  Pleu- 


—    3U  — 


ritis,  Enteritis  etc.,  und  parenchymatici,  die  sich  innerhalb  der 
Organe  entwickeln,  wie  Peripneumonia ,  Hepatitis,  Nephritis  etc. 
ein.  Auch  Phlegmone  wird  zu  dieser  Gruppe  gezählt.  Stätt  den 
anatomischen  Eintheilungsgrund  beizubehalten  und  die  verschie- 
denen Krankheitszustände  der  besonderen  Organe  aufzunehmen, 
soweit  dieselben  damals  bekannt  waren ,  umfassen  alle  folgenden 
Gruppen,  morbi  dolorosi,  mentales,  quietales,  motorii, 
suppressorii  und  evacuatorii,  eine  Menge  symptomatischer 
Leiden ,  die  als  selbständige  Krankheitsformen  betrachtet  oder  an- 
geführt werden.  Die  letzten  Gruppen,  deformes  und  vitia, 
enthalten  dagegen  eine  Menge  wirklich  anatomisch  getrennter  und 
bestimmbarer  Krankheiten,  HautUbel,  Geschwülste  und  Neubildun- 
gen. Dass  eine  grosse  Anzahl  oft  untergeordneter  Symptome  als 
eigene  Krankheiten  aufgestellt  wurden,  hatte  zur  Folge,  dass  man 
sich  mit  einer  oberflächlichen  Auffassung  ihrer  Natur  und  Bedeu- 
tung begnügte.  Der  noth wendige  Zusammenhang  zwischen  den 
Symptomen  eines  und  desselben  Krankheitsprozesses  ging  in  dem 
Maasse,  wie  dieser  in  seine  einzelnen  Theile  zersplittert  wurde, 
verloren.  Diese  Betrachtungsweise  hing  indessen  andererseits  mit 
dem  allgemeinen  medizinischen  Standpunkte  der  damaligen  Zeit 
auf  das  innigste  zusammen  und  eine  solche  symptomatische,  über- 
sichtliche und  leichtverständliche  Aufstellung  der  Krankheiten  be- 
friedigte die  Ansprüche  des  praktischen  Arztes  um  so  mehr,  als  die 
Krankheitsbehandlung  dadurch  in  wesentlichem  Maasse  erleichtert 
wurde. 

Sucht  man  die  theoretischen  Vorstellungen  näher  zu  ergründen, 
von  denen  Linne  bei  der  Betrachtung  des  Krankheitsprozesses  aus- 
ging und  von  denen  viele  unter  anderer  Form  und  in  anderem  Ge- 
wände sich  in  der  Pathologie  noch  erhalten  haben ,  so  kann  man 
nicht  umhin,  den  Scharfsinn,  der  in  ihrer  Aufstellung  sich  zeigt,  zu 
bewundern.  Es  war  überhaupt  für  die  Begabung  Linne  s  charakte- 
ristisch, dass  er  das  Gleichartige  und  das  Ungleichartige  in  den 
wechselnden  Erscheinungen  mit  Leichtigkeit  unterscheiden  konnte, 


—   31  — 


wie  er  auch  verstand,  die  Maunigfaltig-keit  der  Erscheinungen  unter 
allgemeine  Gesichtspunkte  zu  ordnen.  Die  scharfe  Naturbetrach- 
tung  und  die  logische  Gruppirung  der  gewonnenen  Beobachtungen 
waren  für  ihn  Hauptsache.  Die  Grundlagen,  von  denen  er  ausging 
und  auf  welche  er  stets  zurückkam ,  sind  nicht  irgend  welche  Vor- 
aussetzungen oder  abstracte  Sätze ,  sondern  rein  empirische  Wahr- 
heiten ,  obschon  sich  nicht  leugnen  lässt ,  dass  auch  Linne  die  da- 
malige Neigung  für  das  Aufstellen  von  Theorien  und  Hypothesen 
innerhalb  des  medizinischen  Gebiets  theilte.  Jedoch  zeugen  sie  von 
dem  tiefen  Bedürfniss  einer  wissenschaftlichen  Erklärung  der  Natür 
und  des  inneren  Wesens  der  Krankheiten.  Die  damalige  unvoll- 
ständige Kenntniss  des  feineren  Baues  des  menschlichen  Körpers 
und  namentlich  die  mangelhafte  Bekanntschaft  mit  dem  nothwendi- 
gen  Zusammenhang  zwischen  den  Krankheiten  und  bestimmten 
anatomischen  Veränderungen,  sowie  der  Abhängigkeit  jener  von 
diesen,  machte  es  aber  unmöglich,  die  theoretische  Beti-achtungs- 
Aveise  vollständig  auf  das  Gebiet  der  Erfahrung  anzuwenden.  Ob- 
gleich in  Linne's  Pathologie  manche  tiefe  und  wichtige  Wahrheiten 
ausgesprochen  werden,  war  er  doch  nicht  im  Stande,  seine  theoreti- 
schen Annahmen  dem  System  selbst  oder  der  Eintheilung  der  Krank- 
heiten zu  Grunde  zu  legen.  Zwischen  Theorie  und  Praxis  war  eine 
Lücke  entstanden,  die  man  vergebens  auszufüllen  suchte.  Von  den 
verschiedenen  Theilen  der  Pathologie  hatte  man  die  Symptomato- 
logie am  meisten  bearbeitet,  und  während  Jahrhunderten  einen 
bedeutenden  Schatz  von  therapeutischen  Erfahrungen  gesammelt. 
In  Anbetracht  dieser  Richtung  der  Wissenschaft  lässt  es  sich  er- 
klären, weshalb  Linne's  allgemeine  pathologische  Ideen  in  be- 
raerkenswerthem  Grade  von  seinen  Ansichten  über  die  Wirkungen 
und  Eigenschaften  der  Arzneimittel  beherrscht  wurden.  Bei  der 
systematischen  Darstellung  der  Krankheit8grui)pen  konnte  er,  in 
Folge  des  oben  erwähnten  Mangels  in  dem  Entwiekelungsgange  der 
Wissenschaft,  seine  allgemeine  pathologische  Theorie  nicht  anwen- 
den und  war  daher  gezwungen,  seine  Zufluclit  zu  einem  rein  prak- 


—    32  — 


tischen ,  symptomatologischen  Eintheiluugsgruiide  zu  uehmeu ,  um 
so  mehr,  da  seine  Auffassung  des  Krankheitsprozesses  durchaus  auf 
seiner  pharmakodynamischeu  Anschauungsweise  fusste.  Von  diesem 
Gesichtspunkt  betrachtet ,.  dürfte  der  scheinbare  Mangel  an  Conse- 
quenz  in  Linnö's  pathologischem  System  sich  leicht  erklären  lassen. 

So  grosse  Aehnlichkeit  auch  Liune's  systematische  Eintheilung 
der  Krankheiten  mit  Sauvages'  Nosologie  darbietet ,  so  findet  man 
doch  zwischen  ihnen  wesentliche  Unterschiede,  nicht  allein  in 
der  Grruppirung  der  Krankheitsformen  selbst ,  sondern  auch  in  ihrer 
Benennung.  Während  Sauvages  10  Klassen,  44  Ordnungen  und  314 
Familien  annahm,  hat  Linne  11  Klassen,  37  Ordnungen  und  325 
Familien.  Mir  scheint  es,  dass  Linne's  Arbeit  sich  sogar  durch  grös- 
sere Klarheit  in  der  Aufstellung  und  eine  mehr  ausgeprägte  anato- 
mische Richtung  auszeichnet. 

Einer  der  wichtigsten  Grundgedanken  in  Linne's  pathologi- 
schem System,  worauf  nicht  nur  die  Auffassung  des  inneren  Wesens 
des  Krankheitsprozesses ,  sondern  auch  die  Erklärung-  der  Wirkun- 
gen der  Arzneimittel  und  die  Aufstellung  der  Indicationen  für  die 
Anwendung  derselben  zum  Theil  beruht ,  ist  seine  Ansicht  von  der 
Zusammensetzung  des  menschlichen  Körpers  aus  einer  Cortical- 
und  einer  Medullarsubstanz.  Unter  der  Medullarsubstanz  (systema 
nervosum,  medulläre)  denkt  sich  Linne  das  Nervensystem  im  Gegen- 
satz zu  den  übrigen  festen  und  flüssigen  Bestandtheilen  des  Körpers 
(systema  fibrosum  et  vasculosum  ,  systema  corticale  corporis) .  Der 
menschliche  Organismus  wird  mit  einem  aus  doppelten  Fäden  zu- 
sammengesetzten Gewebe  verglichen ,  wobei  die  Nerven  die  Kette 
(texturae  stamen)  ausmachen,  während  die  verschiedenen  Arten  der 
Fibern  nebst  den  Flüssigkeiten  den  Einschlag  (iutertextum ,  inter 
stamina  implicatum)  bilden. 

Auf  Grund  vergleichender  Beobachtungen  über  die  Entwicke- 
lung  des  Pflanzenlebens ,  sowie  des  Verhaltens  der  hybriden  Ge- 


)  Fundamenta  valetudinis  il756). 


—    33  — 


wüchse,  spricht  Linne  die  Ansicht  aus,  dass  die  Bildung  des  Nerven- 
systems der  Mutter  und  diejenige  der  Corticalsubstanz  dem  Vater 
angehöre.  ')  Die  Bewegung  und  das  Gefühl  des  Lebens  habßn 
ihren  Sitz  in.  der  Medullarsubstanz,  die  das  Ursprüngliche  und  zuerst 
Gebildete  im  Körper  ist.  Unter  ihrer  Einwirkung  entstehen  später 
aus  dem  Nahrungssaft  sowohl  die  flüssigen ,  als  die  festen  Theile 
(corticale  solidum  ac  liquidum).  Die  Ernährung  der  Medullar- 
substanz geschieht  vermittelst  der  feinsten  Stoffe  in  dem  flüssigen 
Corticaltheil  und  wird  von  der  durch  die  Lungen  aus  der  Luft  auf- 
genommenen Elektricität  unterhalten.  Wenn  das  normale  Verhält- 
niss  zwischen  diesen  constituirenden  Theilen  gestört  wird,  entsteht 
Krankheit.  Man  kann  hierbei  diejenigen  Krankheiten  unterschei- 
den ,  welche  in  einer  veränderten  Beschaffenheit  der  Flüssigkeiten 
des  Körpers  ihren  Grund  haben,  und  diejenigen,  die  den  festen 
Theilen  angehören.  Das  Fieber  deutet  eine  Störung  in  der  Zu- 
sammensetzung der  Flüssigkeiten  (des  Blutes)  an.  Die  flüssige 
Corticalsubstanz ,  woraus  die  festen  Theile  gebildet  werden ,  wird 
nämlich  von  in  Oxydation  oder  in  Verwesung  begriffeneu  Stoffen, 
die  in  den  Körper  eindringen,  aufgelöst  und  zerstört.  Während  des 
Kampfes  mit  diesen  für  den  Bestand  des  Lebens  schädlichen  Ein- 
flüssen entstehen  die  verschiedenen  Arten  Fieber,  das  kritische 
Fieber  aus  säurebildenden  und  das  phlogistische  aus  septischen 
Stoffen,  während  das  exanthematische  Fieber  möglicherweise  auf 
einem  lebenden  Contagium  beruht.  Alle  diese  Stoffe  sind  dem  Kör- 
per fremd,  feindlich  und  besitzen  die  Fähigkeit,  sich  schnell  zu 
vermehren.  Die  Natur  beseitigt  aus  den  Flüssigkeiten  schädliche 
Stoffe  auf  natürlichem  oder  künstlichem  Wege,  je  schädlicher  sie 
sind,  desto  schneller  geschieht  es;  gleichzeitig  aber  werden  die 
zwei  Wege  gewöhnlich  nicht  benutzt.  Andererseits  wird  die  feste 
Corticalsubstanz  täglich  zerstört  und  verschlechtert,  muss  daher 

h  rA  posteriori  lioc  manifestum  est,  sed  quomodo  hoc  fiat,  altioris  indagi- 
nis  est,  quod  niillus  hodie  explicet,  si  non  summus  Sauvagesius"  in  einem  Schrei- 
bon an  ihn  vom  22.  November  1759.  —  Generatio  ambigena 

Hjelt,  Linn«  als  Arzt.  3 


34  — 


unter  Beobachtung  der  Vorschriften  der  Diätetik  täglich  erneuert 
und  wiederhergestellt  werden.  Versäumt  man  diese  Vorschriften 
oder  entspricht  die  sonstige  Lebensweise  den  Anforderungen  des 
Körpers  nicht,  so  entsteht  ein  Mangel  im  Organismus,  entsteht 
Krankheit.  Um  eine  Krankheit  zu  heben,  ist  es  erforderlich,  in  den 
flüssigen  oder  festen  Theilen  des  Körpers  eine  Veränderung  hervor- 
zurufen, entgegengesetzt  demjenigen  Zustande,  in  welchem  die 
Krankheit  sich  entwickelt  hat.  Zu  diesem  Zweck  benutzt  man 
Arzneimittel.  Ihre  Fähigkeit,  derartige  entgegengesetzte  Zustände 
im  Körper  hervorzurufen ,  lernt  man  aus  der  Wirkung  kennen ,  die 
sie  durch  ihren  Geschmack  auf  die  flüssigen  und  festen  Bestand- 
theile  des  Körpers,  oder  durch  ihren  Geruch  auf  das  Nervensystem 
(Medullarsübstanz)  ausüben.  Die  wichtigsten  Arzneimittel  werden 
daher  Pflanzen  entnommen,  die  an  Geschmack  und  Geruch  einander 
entgegengesetzt  sind  (sapida  et  olida).  Darin  liegt  der  Schlüssel 
zur  Materia  medica. Analog  den  oben  geschilderten  Grund- 
bedingungen der  Pathogenesis  der  Krankheiten  entsteht  folgende 
Einth  eilung  der  Eigenschaftien  der  Arzneimittel : 


I.  Sapida. 


Agunt  in  Corticale  vitale : 


in  Fluidis  in  Solidis. 

1.  Aquosa    Mundificantia,  Humectantia 

Absorbentia,  Exsiccantia 

2.  Acida      Eefrigerantia,  Attenuantia 

Balsamica,  Tonica 

3.  Dulcia     Edulcorantia,  Impinguentia 

Incidentia,  Corrodcntia 

4.  Viscosa    Inviscantia,  Lixbricantia 

Penetrantia,  Abstergentia 

5.  Pinguia   Obtundentia,  Emollientia 

Inspissantia,  Adstringentia 


Salsa. 


Stiptica. 


A  ui  a  r  a. 


Acria. 


Sicca. 


')  Genera  morboruni,  S.  HO. 


—  Sö- 


ll. Olida. 
Agunt  in  Medulläre  animatüm. 

Sensum  Excitant  Aromatica,  Sopiunt       _  Vi  rosa. 

Motinn  Spasticant  ürgastica,  Evacuant  Nauseosa. 

Judicium  Acuunt  Spirituosa,  Confundunt  Tetra. 

Libidinem  Provocant  Ambro  siaca,  Suffocant  Hircina. 

Ans  dieser  Theorie  der  Gegensätze,  wie  man  sie  benennen 
kann,  wird  das  pathologische  und  pharmakodynamische  System 
entwickelt,  welches  mehr  oder  weniger  klar  durch  Linne's  medizini- 
sche Schriften  geht  und  die  man ,  ohne  es  zu  kennen ,  nicht  ver- 
stehen kann.  Dass  Linne  das  Nervensystem  in  einen  gewissen  Gegen- 
satz zu  den  übrigen  Geweben  des  Körpers  stellte,  scheint  mir  dar- 
auf zu  beruhen ,  dass  sein  pharmakodynamisches  System ,  wie  wir 
sehen  werden,  einen  solchen  Unterschied  forderte.  Linne  sprach 
nämlich  den  allgemeinen  Satz  aus ,  dass  Pflanzen ,  die  sich  durch 
ihren  Geschmack  auszeichnen ,  die  festen  und  flüssigen  Theile  im 
Körper  verändern,  während  die  riechenden  und  flüchtigen  Stoffe 
auf  das  Gehini  einwirken. ')  Es  muss  innerhalb  des  Körpers  ein 
organisches  Substrat  geben,  das  allein  empfänglich  ist  für  die  Eigen- 
schaften derjenigen  Arzneimittel,  welche  die  grosse  Gruppe  der 
olida,  odorata,  volatilia,  spirantia  u.  s.  w.  bilden.  Das  Nerven- 
system, als  für  sich  bestehend,  tritt  in  Linne's  pathologischem  System 
nur  dann  auf,  wenn  von  einer  Anordnung  der  Arzneimittel  in  ge- 
wissen grossen  Hauptgruppen  die  Rede  ist.  Berücksichtigt  man 
diese  Inconsequenz ,  so  scheint  sein  System  eine  Zusammenfassung 
solidar-  und  humoralpathologischer  Ansichten  zu  sein,  eine  Ver- 
mittehmg  zwischen  der  iatromechanischen  und  iatrochemischen 
Schule ,  die  vor  seiner  Zeit  um  die  HeiTSchaft  in  der  Medizin  ran- 
gen, In  Folge  dessen  werden  die  verschiedeneu  Span- 
nungs-  und  Dichtigkeitsverhältnisse  innerhalb  der  festen 


')  Inebriantia  (1761). 

2i  ..Qualis  chylug,  talis  sanguig,  qualis  sanguis,  tales  fibrae,  quales  librae, 
talea  oriuntur  morbi.  •  (Linne's  Vorlesungen  1771). 

3* 


—    36  — 


und  flüssigen  Bestandtheile  des  Körpers  der  Mittelpunkt,  um 
welchen  Linne's  patholog-ische  Vorstellungen  sich  drehen.  Obgleich 
die  Ansichten  Boerhaave's  auf  die  medizinische  Theorie,  die  Linnö 
in  Bezug  auf  die  Natur  und  das  innere  Wesen  der  Krankheiten  für  sich 
entworfen,  in  bedeutendem  Maasse  eingewirkt  haben,  finden  wir 
doch,  dass  sein  pathologisches  System  einen  selbständigen  und  weit 
entwickelteren  Inhalt  besitzt.  ^)  Während  Boerhaare  bei  der  Auf- 
stellung seiner  „Fibrillärpathologie"  die  Ursache  der  meisten  Krank- 
heitszustände  in  der  Spannung  oder  Erschlaffung  sucht,  welcher  die 
Fiber,  der  gemeinschaftliche  Bestaudtheil  des  Organismus ,  unter- 
worfen ist,  begnügt  Linne  sich  nicht  mit  diesem  allgemeinen  Satze, 
sondern  sucht  denselben  in  seine  Details  zu  verfolgen  und  will  auch 
in  den  Flüssigkeiten  des  Körpers  entsprechende  Kategorien  auf- 
weisen. 

Die  festen  Bestandtheile  des  Körpers  können  in  ihren  kleinsten 
Fibrillen,  nach  Linne's  Ansicht,  nicht  nur  im  Allgemeinen  gespannt 
oder  erschlafft  sein  (fibrae  strictae  vel  laxae) ,  sondern  sie  offenbaren 
es  in  fünf  verschiedenen  Modifikationen.  Diese  sind: 

a)  feuchte  (fibrae  humidae)  oder  im  Gegensatz  dazu 
trockene  (fibrae  torridae) ; 

b)  spröde  (tenerae) ;  z  ä  h  e  (tenaces) ; 

c    fette  (pingues) ;  magere  (macrae) : 

dj   dicke  (turgidae) ;  dünne  (gracil es) ; 

e)  weiche  (fluxae);  steife  (rigidae). 
Die  flüssigen  Bestandtheile  des  Körpers,  zu  denen  auch  das 
Blut  gehört  und  welche  die  eigentliche  Bildungsquelle  des  festen 
Gewebes  ausmachen,  können  in  zweifacher  Art  verändert  sein,  näm- 
lich ihrer  Zusammensetzung  (crasis)  und  ihrer  Mischung  (diathesis) 
nach.  Die  Flüssigkeiten  können  nämlich  werden: 

'  ]  .,Boerhaave  schrieb  die  Fehler  der  Fibera  nur  zweien  Zufällen  zu :  1  a  x u  lu 
et  strictum  ;  obschon  es  aber  der  erste  Haspelfaden  ist,  variirt  derselbe  doch 
mehr,  als  dass  man  dadurch  alle  morbi  fibrarum  begreifen  könnte.''  (Linne's 
Vorlesungen  1771 .) 


—    37  — 


a)  tenues,  „sobald  zu  viel  serum  im  Verhältniss  zum 
cruor  sanguinis  vorhanden  ist"  ;  —  densi,  „sobald  se- 
rum, welches  das  Blut  verdünnen  miisste,  fehlt;  dies 
tritt  in  hitzigen  Fiebeni  und  bei  Bejahrten  ein  und  ent- 
steht auch  durch  seri  evacuatio ; " 

b)  aciduli,  „alles,  was  Leben  hat,  soll  wiederum  destruirt 
und  zu  Erde  werden ;  solches  zu  befördern,  hat  die  Na- 
tur nur  zwei  Auswege,  Säure  imd  Feuer ;  serum  neigt 
sich  zur  Säure  und  cruor  zur  Fäiüniss  hin;"  —  phlo- 
gistici,  „in  der  phlogistischen,  putriden  Diathesis  wird 
das  Blut  angegriffen ;  stagnirt  es,  so  wird  es  scharf  (acris 
fit)  und  eine  Inflammation  entsteht;  tritt  eine  Resolution 
nicht  ein ,  so  wird  das  Blut  verdorben  und  die  in  Folge 
dessen  irritirten  Nerven  verursachen  Fieber ;  das  Herz 
bewegt  sich  schneller ,  um  den  schädlichen  Stoff  zu  ent- 
feraen.  und  das  Blut  wird  dicker;  starke  Bewegung 
bringt  dasselbe  hervor,  indem  die  Ausleerungen  ver- 
mehrt werden ; " 

c)  oleosi;  acres; 

d)  plethorici,  „sobald  die  Flüssigkeiten,  namentlich  das 
Blut,  im  Körper  überhand  nehmen;  pauperati,  „wenn 
die  Flüssigkeiten  schwach  und  in  geringer  Menge  vor- 
handen sind;" 

e)  glutinosi,  pituitosi,  „durch  Ruhe  wird  im  Körper  zu 
viel  Schleim  gebildet;"  —  muriatici,  „Salz  dient  da- 
zu, im  Köiiier  den  Schleim  zu  lösen,  vergrössert  zugleich 
den  Appetit,  starke  Salzesser  werden  steif  in  allen  Glie- 
dern; Salz  ist  dem  Schleim  entgegengesetzt."') 


M  Nach  Linne's  Vorlesungen  über  ,, Clavis  medicinae"  1771,  welche 
in  der  Bibliothek  des  k.  Karolin'schen  Instituts  zu  Stockholm  in  Abschrift  ver- 
wahrt werden.  Herr  Dr.  Ährling  hat  diese  Aufzeichnungen  mir  freundlichst 
mitRetheilt. 


—    38  — 


Wirft  man  einen  Blick  auf  diese  verschiedenen ,  von  Linne  mit 
Rücksicht  auf  die  Beschaffenheit  der  Flüssigkeiten  aufgestellten 
Kategorien,  so  wird  der  Gedanke  unwillkürlich  auf  die  Lehre  von 
der  Crasis  gelenkt ,  welche  noch  vor  einigen  Jahrzehnten  eine  so 
grosse  Rolle  in  der  Wissenschaft  spielte,  und  man  fragt  sich,  ob  der 
Unterschied  in  der  That  so  gross  ist.  Zwischen  den  festen  und 
flüssigen  Theilen  des  menschlichen  Körpers  findet  jedoch  ein  Wech- 
selverhältniss  statt ,  und  es  ist  nicht  immer  leicht  zu  entscheiden, 
inwiefern  die  festen  Theile  durch  ihre  verschiedene  Spannung  die 
Zusammensetzung  der  Flüssigkeiten  verändern,  oder  ob  es  die 
Flüssigkeiten  sind,  welche  einen  grösseren  oder  geringeren  Grad 
von  Spannung  und  Erschlaffung  in  den  festen  Theilen  hervorrufen, 
indem  sie  auf  ihre  Bildung  einwirken.  ^) 

Alle  diese  Verschiedenheiten  in  den  Geweben  und  Flüssigkeiten 
des  Körpers  muss  der  Arzt  erkennen  können  und  zugleich  durch 
seine  Heilmittel  nach  Umständen  zu  verändern  oder  zu  verbessern 
suchen.  Da  die  Arzneimittel  und  namentlich  die  pharmazeutischen 
Pflanzen  verschiedene  Eigenschaften  je  nach  ihrem  verschiedenen 
Geschmack  besitzen,  muss  man  darnach  streben,  diese  Wirkung  der 
Arzneimittel  auf  die  festen  und  flüssigen  Bestandtheile  im  Körper 
kennen  zu  lernen.  Weil  der  Geschmack  sich  leicht  zu  erkennen 
giebt '.  kann  der  Arzt  im  Allgemeinen  seine  Schlüsse  in  Beti-eff  ihrer 
Anwendung  ohne  Schwierigkeit  ziehen.  So  wird  die  schlaffe  Fiber 
durch  bittere  Mittel  gestärkt  und  durch  zusammenziehende  Mittel 
fester ;  die  zu  stark  gespannte  Fiber  wird  feucht  durch  die  Anwen- 
dung wässriger  Mittel  (aquosa) ,  verdünnt  durch  säuerliche  und  er- 
weicht durch  fette  Stoffe.  Die  säuerliche  Diathesis  vermindert  man 
durch  bittere  Stoffe  und  arbeitet  mit  bitteren  Arzneien  der  septischen 
entgegen.  Sind  die  Flüssigkeiten  scharf,  so  werden  sie  durch  süsse 
gemildert ,  durch  wasserhaltige  gereinigt  und  durch  klebrige  (vis- 


')  ,,Quemadmodiim  vero  fluida  solidas  partes  progenerant,  ita  etiam  solida 
vicissim  in  fluida  agunt  eaque  modificant.  •  (Linne  s  Vöries.  1771.) 


—   39  — 

cidu)  Stoffe  erweicht.  Die  dUnue  Flüssigkeit  wird  durch  trocknende 
aufgesaugt  uud  durch  zusammenziehende  Mittel  dicker.  Die  Arznei- 
mittel wirken  mithin  dadurch ,  dass  sie  den  kleinsten  Partikeln  der 
festen  Theile  einen  grösseren  oder  geringeren  Zusammenhang  (ma- 
jorem vel  minorem  aduuationem)  erth eilen,  und  auf  die  Flüssig- 
keiten des  Körpers  dadurch,  dass  sie  dieselben  entweder  verbessern, 
wenn  sie  ihrer  Zusammensetzung  und  Schärfe  nach  (crasis  ac  acii- 
monia)  verändert  worden,  oder  auf  geeignetem  Wege  sie  von  schäd- 
lichen Stoffen  befreien,  i) 

Man  kann  daher  das  Gesetz  aufstellen ,  dass  man  stets  ein  sol- 
ches Arzneimittel  anwenden  muss ,  welches  im  Gewebe  einen  Zu- 
stand herbeiführt  oder  heiTorruft,  demjenigen  entgegengesetzt, 
welchen  man  bekämpfen  will  (contrariorum  e  contrariis  curatio) . 
Es  ist  überhaupt  ein  in  Linne' s  Schriften  oft  wiederkehrender  Ge- 
danke ,  dass  die  Arbeit  der  Natur  unter  Gegensätzen  verläuft  (nam 
contrariis  fere  sua  omnia  natura  operatur) .  Ja,  es  ist  eine  Grund- 
ansicht in  Linne's  ganzer  Naturanscbauung,  dass  das  Gleichgewicht 
der  Natur  auf  dem  Kampfe  zwischen  Gegensätzen  beruht  (Uni- 
versum lucta  discordium  aequilibratur) .  ^]  Damit  hängt  die  Vor- 
stellung zusammen,  dass  die  eine  Krankheit  die  andere  verdrängt, 
oder  dass  der  Organismus  durch  das  Vorhandensein  eines  Krank- 
heitszustandes gegen  einen  anderen  so  zu  sagen  geschützt  oder  im- 
mun yvirä  (hinc  morbi  contrariis  morbis  saepius  curantur) ;  eine 
Ansicht,  welcher  übrigens,  wie  bekannt,  noch  bis  in  die  neueste  Zeit 
in  der  Medizin  gehuldigt  wurde. 

In  der  Pathologie  hat  die  Frage  wegen  der  Krankheitsur- 
sachen immer  eine  wichtige  Rolle  gespielt,  und  sie  waren  für  Linne 

'i  Sapormedicamentonim  (1751). 
Purgan tia  indigena  (1766).  —  Ein  bei  den  älteren  Aerzten  oft  wieder- 
kehrender Satz. 

■■')  Der  Körper  des  Menschen  Itann  als  eine  Wage  betrachtet  werden ;  so- 
bald sie  äquillbrirt,  befinden  wir  uns  gut,  entstellt  aber  ein  Uebergcwicht  auf 
irgend  einer  Seite,  so  sind  wir  krank.   (Linne's  Vorlesungen  1771.) 

*)  Vires  plantarum  (1747;. 


—    40  — 


ntn  so  bedeutungsvoller,  weil  die  Art  der  Krankheit,  d.  h.  die  Form, 
in  welcher  eine  Krankheit  in  dem  einzelnen  Falle  auftrat,  seiner  An- 
sicht nach  von  ihrer  Ursache  abhing  oder  mit  derselben  identisch 
war.  1) 

Gleich  den  älteren  Aerzten  nahm  auch  Linn6  zwei  Ursachsver- 
hältnisse der  Krankheiten  an,  eine  nähere  und  eine  entferntere  i  causa 
proxima  et  remota) .  Die  nächste  Ursache  liegt  entweder  in  den  ver- 
schiedenen Spannungsverhältnissen  der  festen  Theile  oder  in  der 
Zusammensetzung  der  Flüssigkeiten.  Die  entfernten  Ursachen  haben 
gewöhnlich  ihre  Wurzel  und  Quelle  in  der  Diät  oder  der  Lebens- 
weise ,  in  dem  verschiedenen  Alter,  der  Körperconstitution  oder  in 
Ansteckung  (contagium) .  2) 

Die  Bedingungen  für  das  Wohlbefinden  des  Menschen  oder  die 
Diät  in  weiterer  Bedeutung  sind,  nach  Linnö's  Darstellung,  gute 
Luft,  genügende  Bewegung  und  Schlaf,  passende  Nahrung ,  unge- 
störter Gang  der  natürlichen  Ausleerungen  und  gute  Beschaffenheit 
der  Gemüthsbewegungen.  Man  sucht  vergebens  die  nächste  Krank- 
heitsursache aufzuheben,  wenn  eine  schlechte  Diät  dieselbe  fort- 
während unterhält.  Es  ist  daher  eine  der  wichtigsten  Pflichten  des 
Arztes,  die  vorhandenen  Mängel  oder  Missgriflfe  in  der  Lebensweise 
mit  grösster  Sorgfalt  zu  erforschen ,  und  solches  ist  nicht  möglich 
ohne  genaue  Kenntniss  der  Forderungen  der  Diätetik.  Letztere  sind 
gänzlich  abhängig  von  den  Wahrheiten  der  Naturwissenschaft ;  die 
Medizin  und  die  Naturwissenschaft  werden  in  dieser  Beziehung 
durch  ein  gemeinsames  Band  zusammengehalten  (utraque  veluti  la- 
pides  muri  firmo  nititur  vinculo) .  ^)  Ist  es  dem  Arzt  gelungen,  diese 


')  In  Linnt^'s  Vorlesungen  über  Pathologia  nosologica  il756 — 175S), 
die  in  der  Bibliothek  der  schwedischen  Akademie  der  Wissenschaften  aufbe- 
wahrt werden,  finden  wir  z.  B.  folgende  Arten  von  Phrenitis  (Meningitis)  an- 
geführt :  a)  Phrenitis  idiopathica  a  structura ;  b)  Phr.  syuiptoniatica ;  c}  Phr. 
ebriosa;  d)  Phr.  phanatica  a  meditatione ;  e)  Phr.  aphrodisiaca ;  fj  Phr.  puer- 
perans  ;  g]  Phr.  a  retropulsis  exanthematicis ;  h)  Phr.  ab  hectica;  i)  Phr.  a 
inorsu  venenato ;  k)  Phr.  a  febre ;  1)  Phr.  a  pervigilio ;  m)  Plir.  a  laeso  cranio. 

2),  3j  De  raphania  (1763). 


—    41  — 


Krankheitsursache  zu  erforschen  oder  ihre  Quelle  aufzufinden,,  so 
wird  es  ihm  auch  klar,  was  er  zu  thun  hat  (certior  evadit  de  suo  in- 
dicato) ,  nnd  er  kann  mit  Leichtigkeit  zu  den  Indicationen  für  die 
Behandlung  gelangen.  Wenn  er  die  Arzneimittel  kennt,  welche  an 
Geschmack  und  Geruch  miteinander  tibereinstimmen ,  kann  er  die 
kräftigsten  und  wirksamsten  auswählen  und  dieselben  in  einer  mit 
ihrer  Beschaffenheit  Ubereinstimmenden  "Weise  verschreiben.  Da- 
durch wird  es  ihm  zwar  in  vielen  Fällen  gelingen,  die  Krankheit  zu 
..  beseitigen ,  ihre  Wiederkehr  aber  kann  er  nicht  verhindern ,  sobald 
er  es  unterlässt ,  auf  die  genannten ,  in  der  Lebensweise  liegenden 
Ursachen  Acht  zu  geben  und  dem  Kranken  eine  entgegengesetzte 
oder  veränderte  Lebensordnung  vorzuschreiben.  Erst  dadurch  heilt 
er  die  Krankheit  vollständig. ') 

Zu  dem  Bemerkenswerthesten  in  Linne's  Lehre  von  den 
Krankheitsursachen  gehört  die  Theorie  von  „exanthemata  viva" 
oder  die  Vorstellung,  dass  die  ansteckenden  Krankheiten  durch  die 
Einwanderung  kleiner  Thiere  in  den  Menschenkörper  hervorgerufen 
werden  nnd  davon  abhängen.  Linne  ist  der  Ansicht,  dass  man  so- 
wohl aus  Analogie ,  als  auf  Grund  der  Erfahrung  zii  der  Annahme 
dieser  Entstehungsweise  verschiedener  ansteckender  Krankheiten 
berechtigt  ist  2).  Zu  diesen  Krankheiten  werden  Krätze  und  epi- 
demische Ruhr  (Dysenterie) ,  die  Linnö  „Scabies  intestinorum  in- 
teiTia"  nennt,  Keuchhusten  (Tussis  ferina),  Pocken,  Masern,  Pest, 
gerechnet ;  später  werden  in  diese  Kategorie  auch  Aussatz  (Lepra) , 
Schwindsucht  ')  (Phthisis)  und  Wechselfieber  •^)  aufgenommen.  Ob- 
gleich die  envähnten  kleinen  Thiere  noch  nicht  entdeckt  und  be- 
schrieben worden ,  ist  Linne  der  Ansicht ,  dass  die  Verbreitung  der 


ij  De  cffectu  et  cura  vitiorura  diaeteticoruni  generali  (1766). 
2,  .,Quain  hypothesin  fjuasi  ex  tripode  dictam  alii  avide  arripuerunt,  verum 
alii  nt  inscitiae  involncrum  repudianint.'' 
3)  Exanthemata  viva  (1757). 

de  Lepra  'I76.i;,  de  viola  ipecaciianha  (177  Ij,  de  Ledo  palustri  (1775). 

Miindus  invisibilia  (1707,'. 


—    42  — 


ansteckeucleu  Krankheiten  eine  Ijemerkenswerthe  Aehulichkeit  hat 
mit  der  Art  und  Weise,  wie  eine  Menge  Thiere,  uauieutlich  Insecten, 
sich  fortpflanzen  und  vermehren.  Die  oft  plötzliche  und  fürchter- 
liche Entwickelung  der  Contagien  schreibt  er  dieser  Ursache  zu.  Je 
kleiner  ein  Thier  im  Allgemeinen  ist,  desto  zahlreichere  Nachkommen- 
schaft kann  es  hervorbringen ,  und  man  könne  daher  sich  recht  gut 
denken ,  dass  schon  eins  oder  das  andere  dieser  kleinen  thierischen 
Wesen  durch  seine  unerhörte  Vermehrung  den  menschlichen  Körper 
binnen  Kurzem  zu  erfüllen  vermöge.  Dieser  Umstand  zeigt  sich 
auch  darin ,  dass  es  bei  der  Pockenimpfung  nicht  auf  die  grössere 
oder  geringere  Menge  Eiter  ankommt,  die  man,  um  Blatterpusteln 
hervorzubringen ,  anwendet.  Als  Beweis  für  die  Ansicht  von  dem 
parasitären  Ursprünge  der  ansteckenden  Krankheiten  führt  Linne 
zugleich  an,  dass  der  Ansteckungsstoff  durch  Kälte  zerstört  wird, 
in  der  Wärme  aber  sich  vermehrt,  Er  spricht  die  Hoffnung  aus, 
dass,  weun  auch  „diese  lebenden  Ursachen"  der  exanthematischen 
Krankheiten  noch  nicht  gefunden  und  entdeckt  worden,  künftige 
genaue  Forschungen  beweisen  werden,  dass  ihr  Bau  weit  künst- 
licher und  zusammengesetzter  ist,  als  man  jetzt  ahnen  kann.  Diese 
kleinen  Thiere  haben  der  Menschheit  sicherlich  bedeutendere  Ver- 
luste zugefügt,  als  die  grössten  Kriege.  Wer  bestimmt,  ruft  Linne 
aus,  wo  die  im  Grossen  und  Kleineu  bewundernswerthe  Entwicke- 
lung  der  Natur  beginnt  oder  aufhört?  Im  Pflanzenreich  giebt  es 
eine  bemerkenswerthe  Analogie  für  einen  ähnlichen  Ansteckungs- 
stofl",  nämlich  Ustilago.  Besonderes  Gewicht  legt  er  darauf,  dass 
Arzneimittel ,  die  sich  wider  Insecten  und  Krätzethiere  wirksam  er- 
wiesen, auch  bei  Behandlung  ansteckender  Krankheiten  sich  als 
wohlthätig  zeigten,  z.  B.  Moschus,  Kampher,  Mercurialia,  Schwe- 
fel u.  s.  w.  So  Hess  Linne  während  einer  verheerenden  Pocken- 
seuche seine  Kinder  Moschussäckchen  am  Halse  tragen  (wie  es  Sitte 
in  Norrland  war)  und  glaubte  sie  dadurch  vor  Ansteckung  zu 


')  De  Lepra  (1765). 


—   43  — 


schützen.  Bei  schwerem  Maserahusten  hat  er  kleine  und  oft 
erneuerte  Gaben  von  Flor,  sulfuris  besonders  wirksam  gefunden. 

Unter  Plethora  versteht  Linnö  (mit  Fr.  Hoffmann)  den  Zustand, 
wenn  die  Menge  des  Blutes  grösser  ist,  als  Herz  und  Blutgefässe  fassen 
oder  in  regelmässiger  Bewegung  erhalten  köiinen.  Man  muss  diese 
Zustände  von  einander  unterscheiden.  Bei  der  wirklichen  Plethora 
wird  mehr  Blut  erzeugt,  als  der  Körper  bedarf  oder  verwenden 
kann ;  dem  letzteren  Zustande  dagegen  liegt  eine  gewisse  Schwäche 
des  Herzens  und  der  Blutgefässe  zu  Grunde ,  und  dadurch  entsteht 
eine  scheinbare  Blutüberfüllung  und  Erweiterung  der  Blutgefässe, 
welche  schwer  kranken  Personen  bei  Fieberanfällen,  sowie  kachek- 
tischen  Individuen  eigenthUmlich  ist.  Congestion  ist  reichlicherer 
Zufluss  von  Blut  zu  einem  Theil  des  Körpers ,  als  zu  den  übrigen. 
Sie  deutet  nicht  allein  eine  Ungleichmässigkeit  im  Blutumlauf  an, 
sondern  kann  ausserdem  auf  einer  Schwäche  oder  einer  Heizung 
(Irritation)  in  demjenigen  Theil  des  Körpers,  wohin  der  Blutstrom 
nach  mechanischen  Gesetzen  geführt  wird,  beruhen ;  sie  kann  ferner 
durch  Verengerung  der  Blutgefässe  innerhalb  eines  angrenzenden 
Theils  hervorgerufen  werden ,  oder  sie  kann  in  Folge  von  Krampf 
in  den  Gefässen  entstehen.  Wenn  nun  durch  irgend  eine  zufällige 
Veranlassung  die  Blutbewegung  zunimmt,  so  kann  Blutergiessung 
(Haemorrhagia)  die  Folge  sein.  2) 

Unter  den  Hülfsmitteln  bei  Aufstellung  von  Krankheitsdiagnosen 
waren  der  P  u  1  s  u  n  d  s  e  i  n  e  V  e  r  ä  n  d  e  r  u  n  g  e  n  f ür  die  älteren  Aerzte 
von  der  grössten  Wichtigkeit  und  Bedeutung.  Man  muss  in  der 
That  den  Scharfsinn  und  die  Genauigkeit  bewundern,  mit  denen  die 
älteren  Aerzte ,  in  Ermangelung  anderer  objectiver  Umstände,  den 
Puls  studirten.  Kann  man  nicht,  äussert  Linnö,  in  einem  jeden  Falle 
die  Stärke  und  Beschaffenheit  dieses  Zeigers  und  Aufrechthalters 
des  Lebens  beurtheilen,  so  vermag  man  auch  nicht  den  höheren 


'j  De  haemorrliagiis  ex  plethora  (1772). 

2)  De  haeinorrhagiis  uteri  sub  statu  graviditatis  (1749). 


—    44  — 


oder  geringeren  Grad  von  Störung  innerhalb  der  vitalen,  natürlichen 
und  animalen  Functionen,  sowie  die  fllr  den  Mechanismus  des  Kör- 
pers daraus  entstehenden  Gefahren  berechnen.  Es  giebt  in  diagno- 
stischer und  prognostischer  Beziehung  weder  eine  mehr  heiTor- 
ragende,  noch  nothwendigere  Lehre,  als  die  von  der  Bewegung  des 
Blutes,  dem  Puls.  Man  kann  daher  nicht  umhin,  den  Leichtsinn 
mancher  Aerzte  zu  tadeln,  die  den  Kranken  mit  so  leichter  und 
flüchtiger  Hand  untersuchen ,  dass  sie  kaum  zwei  Pulsschläge  ab- 
warten nnd ,  sobald  der  Kranke  Zeit  gehabt  hat ,  ein  oder  das  an- 
dere Symptom  zu  erwähnen  oder  sie  bloss  die  Benennung  der 
Krankheit  gehört,  gleich  bereit  sind,  Arzneien  zu  verschreiben.  Der 
Arzt  muss  im  Gegentheil  in  einem  jeden  Falle  die  genaueste  Prü- 
fung aller  Krankheitszeichen  imternehmen  und  sich  daraus  ein  mehr 
oder  Aveniger  sicheres  oder  mindestens  wahrscheinliches  Urtheil 
bilden.  ') 

In  einer  besonderen  Abhandlung  von  dem  „intermittenteu 
Puls"  findet  man  die  Ursachen  seines  Entstehens  angegeben  und  sieht 
daraus,  dass  es  der  Arzneikunst  bereits  damals  nicht  an  Kenntniss 
derjenigen  Krankheitsprozesse  fehlte,  welche  diese  Unregelmässig- 
keit hervorrufen.  Die  Ursachen  des  intermittenteu  Pulses  liegeu 
vor  allem  im  Herzen,  z.  B.  in  einer  Entzündung  desselben,  in 
einer  zu  starken  Entwickelung  seines  Muskels,  in  Aneurysmen.  Po- 
lypen ,  Geschwülsten  und  Abscessen  im  Herzen ,  in  Verknöcherung 
der  Klappen,  in  der  Verwachsung  des  Herzbeutels  und  anderen 
pericardialen  Leiden,  sowie  in  unregelmässiger  Thätigkeit  der 
Herznerven.  Nächstdem  beruht  der  intermittente  Puls  auf  Ur- 
sachen, die  in  den  Arterien  liegen,  z.  B.  paralytischer  Zustand  oder 
spasmodische  Contractionen  der  Gefässe,  Stasis  bei  Entzündung"^ , 


1)  De  pulsu  intermittente  (1756). 

2;  ..Durities  in  tunicas  arteriarum  inducta,  a  stagnante  liquldo  iis  in  vasis, 
per  quae  ei  exitus  denegatur,  hinc  minus  flectuntur  latera,  sicque  non  cedimt 
motni ,  sed  diamctrum  eandem  internae  superficiei  vasis  conservant ,  uti  in  in- 
fiammationibus  earum  evenit " 


—    45  — 


Verknöcherimg  der  Arterien  M,  Aneurysmen  und  polypösen  Con- 
eretionen.  Schliesslicli  können  die  Ursachen  des  intermittenten 
Pulses  in  der  Beschaffenheit  des  Blutes  selbst  liegen,  Bei  der  phlo- 
gistischen  Diathese  in  acuten  und  entzündlichen  Fiebern  wird  der 
flüssige  Bestandtheil  des  Blutes  vorwärts  getrieben,  während  die 
festen  Theile  an  den  Wandungen  der  Gefässe  haften  bleiben.  Da- 
durch kann  ein  Stillestehen  des  Pulses  eintreten.  Sobald  Blut  in 
allzu  grosser  Menge  vorhanden  ist  oder  die  Gefässe  übermässig 
ausgedehnt  werden,  wird  ihre  Thätigkeit  gelähmt  und  die  Gefäss- 
wandungeu  sind  nicht  im  Stande,  den  Blutdruck  zu  überwinden. 
Bei  Blutmaugel  dagegen  nehmen  die  Ventrikel  nicht  soviel  Blut  auf, 
dass  das  Her/;  bis  zur  vollen  Systole  stimulirt  würde ,  wie  es  bei 
Ohnmächten  und  nach  reichlicherem  Blutverlust  der  Fall  ist,  ein 
Umstand,  der  auch  bei  starken  Aderlässen  leicht  sich  beobachten 
lässt.  Die  Zeichen,  aus  welchen  diese  besonderen  Ursachen  diagno- 
sticirt  werden,  sind  jedoch  so  mannigfach  und  so  verschiedenen 
Herzkrankheiten  gemeinsam,  dass  man  noch  nicht  mit  Sicherheit 
sich  für  das  eine  oder  das  andere  Leiden  entscheiden  kann.  In 
dieser  Arbeit  wird  auch  erwähnt,  dass  fibrinöse  Ablagerungen 
innerhalb  der  Gefässe  („Polypen"),  von  ihrer  Ursprungsstelle  los- 
gerissen, plötzliche  Erstickung  verursachen  können,  weshalb  Ruhe 
Allen,  die  daran  leiden,  uothwendig  ist.  Die  Vorstellung  liegt  nahe, 
dass  man  vielleicht  künftighin  Arzneimittel  finden  werde ,  welche 
die  Fähigkeit  besitzen,  dergleichen  Ablagerungen  aufzulösen.  — 
Die  bei  kachektischen  und  kränklichen  Personen  auftretende  Blässe 
gilt  als  Folgeerscheinung  davon,  dass  das  Blut  entweder  an  und  für 
sich  zu  wenig  feste  Bestandtheile  enthält  und  zu  wässrig  ist ,  oder 
dass  es  nicht  mit  der  nöthigen  Kraft  innerhalb  der  Capillargefässe 
vorwärts  getrieben  wird. 

Betreffs  des  Entstehens  sog.  inflammatorischer  Fieber  findet 
man  den  Gedanken  ausgesprochen,  dass,  sobald  das  Blut  aus  irgend 


'/  „Succus  hic  osseus  eflfunditur  in  interiorem  arteriarum  cellusosam,'- 


—    46  — 


einer  Veranlassung  coagulirt,  Verstopfung  der  kleinsten  Gefässe 
(obsti'uetio  vasorum)  und  auf  diese  Weise  phlogistische  Fieber- 
krankheiten,  Pleuritis,  Peripneumonia  etc.,  entstehen J)  Wenn  die 
resorbirenden  Gefässe  untkätig  sind,  so  hat  dieses  Hydrops  zur 
Folge,  und  wenn  die  Seihapparate  (colatoria)  des  Körpers  die  Flüssig- 
keiten nicht  in  genügender  Menge  ausleeren,  so  hat  man  Anasarca^) 
zu  befürchten.  — 

Linne  schrieb  eine  besondere  Abhandlung  über  die  Nothwendig- 
keit  für  Mütter,  ihre  Kinder  zu  stillen,  und  betonte  die  Wichtig- 
keit desselben  für  deren  ganze Entwickelung.^)  Bei  Frauen  verschie- 
dener Körperconstitution  ist  die  Beschaffenheit  der  Milch  verschieden. 
Wird  das  Kind  einer  Amme  zur  Aufziehung  übergeben,  so  erleidet 
seine  Ernährung  eine  Veränderung,  und  ein  besonderer  Einfiuss  auf 
den  Neugebornen  wird  sich  bald  zeigen.  Nicht  nur  die  Grundlage 
zur  Gesundheit  des  Kindes  wird  gelegt ,  sondern  auch  zu  seinem 
Temperament,  welches  später  kaum  mehr  verändert  werden  kann.  ^) 
Linne  ist  der  Ansicht,  dass  die  Milch  einer  Amme  nicht  selten  durch 
die  veränderte,  fremde  Lebensweise  und  das  viele  Stillesitzen,  wo- 
zu sie  gezwungen  wird ,  verschlechtert  wird.  Er  sagt ,  er  habe 
grösseren  Nutzen  als  von  allen  Arzneien  davon  gehabt ,  eine  Amme 
sich  täglich  draussen  bewegen  oder  eine  andere  körperliche  Arbeit 
vor  der  Mahlzeit  vornehmen  zu  lassen.  Die  in  Westerbotteu  übliche 
Sitte,  kleine  Kinder,  „bubulo",  vermittelst  eines  Horns  aufzuziehen, 
ist  nach  Linne  eine  wichtige  Ursache  ihrer  grossen  Sterblichkeit  in 
diesem  Theile  des  Landes.  In  der  bei  den  höheren  Ständen  herr-' 
sehenden  Neigung,  die  Kinder  von  Ammen  aufziehen  zu  lassenJ 


')  Spiritiiä  frumenti  (1764). 

-)  De  effectu  et  cura  vitiorum  diaeteticorum  generali  (I  TCti). 

Nutrix  noverca  (1752).  —  Diese  Abhandlung  findet  man  ins  Französische 
übersetzt  und  eingeführt  in  „Les  Chefs-d' Oeuvres  de  Mr.  de  Sau-i 
vages,  trad.  par  M.  J.  E.  G*^*.  Tom.  II,  S.  213—244,  ä  Lyon  1770.  i 
*]  Liberi  cum  a  utero,  tum  ab  uberibus  stamina  valetudinis  repetunt.  1 
•'')  Derselbe  Gedanke  wird  ferner  ausgesprochen  in  .,Fundamenta  valetudi-' 


nis  (1756). 


—    47  — 


glaubt  Linne  eine  Erklärung  dafür  zu  finden,  dass  viele  Familien  aus- 
arten und  der  sie  auszeichnenden  körperlichen  und  geistigen  Eigen- 
schaften verlustig  gehen.  ^)  Ohne  dringende  Gründe  müsste  daher 
eine  Mutter  sich  dem  Stillen  ihres  Kindes  nie  entziehen.  Freilich 
kann  es  wirkliche  Hindernisse  geben.  Was  Syphilis  anbetrifft,  so 
giebt  es  Beispiele,  dass  Mütter,  obgleich  während  der  Schwanger- 
schaft angesteckt ,  doch  gesunde  Kinder  geboren  haben ,  es  giebt 
aber  keinen  einzigen  Beweis  dafür,  dass  ein  syphilitisches  Weib  ein 
Kind  stillen  könnte,  ohne  dass  es  von  dieser  Krankheit  befallen 
würde,  Nur  diese  letztere  Krankheit,  allgemeine  Schwäche  (Atro- 
phie) und  Schwindsucht  können  als  Hindernisse  für  das  Stillen 
gelten.  Im  Zusammenhang  hiermit  möge  erwähnt  werden,  dass 
Linn6  die  Erblichkeit  gewisser  Krankheiten  und  die  Bedingungen, 
unter  denen  diese  eintritt,  andeutet.  Schwindsucht,  Gicht  und  Nei- 
gung zum  Blasenstein  gehen  von  den  Eltern  auf  die  Kinder  über.  •') 

Nach  dieser  Darstellung  von  Linne's  allgemeinen  medizinischen 
Ideen  müssen  wir  seine  Ansichten  über  einzelne  Krankheiten^ 
insofern  dieselben  in  seinen  Schriften  enthalten  sind,  noch,  kurz 
berühren. 

Das  intermittente  Fieber,  seine  Natur,  seine  Ursachen  und 
Heine  Behandlung  hat  er  mit  besonderer  Vorliebe  behandelt.  Bereits 
während  seines  ersten  Aufenthalts  zu  Upsala,  in  dessen  Umgebung 
Wechselfieber  endemisch  waren,  hatte  er  Veranlassung,  dieser 
Krankheit  grössere  Aufmerksamkeit  zu  widmen,  und  als  er  nach 
Holland  kam,  fand  er  sie  auf  den  feuchten  Ebenen  dieses  Landes 
wieder.  Er  wählte  das  intermittente  Fieber  zum  Gegenstand  seiner 
in  Harderwyk  1735  herausgegebenen  Doctorabhandlung ,  und  man 

')  .,Hic  causa,  cur  nobrlea  dej^enerent ,  acutissimi  liebescant  tempeiameu- 
tuinque  corporis  Optimum  plures  amittant,  nec  non  quod  plurimi  infantes ,  dum 
primum  esse  inceperunt,  esse  desierint." 

Nutrix  noverca  11102). 

Fundamenta  valetudinis  (1756). 


—   48  — 


liest  nicht  ohne  Interesse  die  klare,  von  der  Wärme  der  Ueber- 
zeugung  durchdrungene  Sprache ,  mit  welcher  der  junge  nordische 
Arzt  sich  über  eine  bisher  noch  ungelöste  Frage  der  Pathologie 
ausspricht.  •) 

In  dem  südöstlichen  Theil  Schwedens,  sagt  Linne,  ist  das 
Wechselfieber  sehr  allgemein. .  In  Upland  giebt  es  keine  verbreite- 

o 

tere  Krankheit ,  in  der  Gegend  zunächst  Abo  kommt  sie  gleichfalls 
oft  vor.  Im  ganzen  Westerbotten  dagegen  findet  man  sie  nur  bei 
Kaufleuten  und  Seefahrern ,  die  sich  in  Stockholm  aufgehalten 
haben.  In  Lappland  ist  sie  gänzlich  unbekannt.  Das  intermittente 
Fieber  trifft  man  überhaupt  in  denjenigen  Theilen  des  Landes, 
deren  Boden  Lehm  in  grosser  Menge  enthält.  Linne  meint,  dass 
die  im  Wasser  gelösten  Lehmpartikel  (intimae  solutae  particulae 
argillaceae)  in  das  Blut  eindringen  und  in  den  feinen  arteriel- 
len Gefässen  haften ,  wodurch  eine  Störung  in  der  Hautthätigkeit 
entsteht.  Man  muss  daraus  den  Schluss  ziehen,  dass  Stoffe,  die 
vermittelst  der  Hautausdünstung  beseitigt  werden  müssen,  bei  inter- 
mittentem  Fieber  in  gewaltsamer  Weise  zurückgehalten  werden, 
und  dass  man  von  demselben  befallen  wird,  sobald  die  Haut- 
absonderung verhindert  ist  und  im  Körper  zugleich  eine  früher  vor- 
handene Ursache  sich  vorfindet ,  sonst  nicht.  Die  Indicationen  für 
die  Behandlung  des  Wechselfiebers  sind  also  1 .  Internum  expellens 
s.  vasa  intendi  debent,  2.  Pori  cutis  calore  aperiendi  sunt.  Ueber- 
giessungen  mit  kaltem  Wasser  nach  vorheriger  Erwärmung  sind 
daher  wohlthuend.  Uebrigeus  sind  starke  körperliche  Bewegung, 
sparsame  Diät  und  genügender  Schlaf  vorzuschreiben.  Amara, 
austera  und  graveolentia  werden  als  Arzneimittel  benutzt. 

Während  Linn6  in  seiner  medizinischen  Erstlingsarbeit  die 
Quelle  des  intermittenten  Fiebers  in  unreiner  Beschaffenheit  des 
Wassers  suchte ,  steMte  er  in  seinen  späteren  Schriften  eine  neue 

')  Hypothesis  nova  de  febrium  intermitteutium  causa.  Härder.  1735.  40. 
Von  neuem  abgedruckt  in  Amoenitates  academicae.  Vol.  I.  Lugd. 
Batav.  1749.  8».  Pag.  1  — 19  (herausgegeben  von  P.  Camper;. 


—    49  — 


Theorie  für  das  Entstehen  desselben  auf  und  glaubte  die  Ursache 
in  der  Luft  und  den  dadurch  hervorgerufenen  Störungen  in  der 
HaiitausdUnstuug  (perspiratio  iusensibilis)  zu  erblicken,  i)  In  der 
Attraction , .  welche  der  Körper  vermittelst  seiner  eröifneten  Poren 
auf  die  mit  schädlichen  Ausdunstungen  und  Feuchtigkeit  verdor- 
bene Luft  ausübt,  sucht  er  die  Ursache  jener  Störungen.  Es  ist 
nicht  allein  die  vereinigte  Wirkung  der  Kälte  und  der  Feuchtigkeit 
an  und  für  sich,  welche  die  Krankheit  hervorbringt.  In  den  Aus- 
dünstungen, welche  aus  staguirenden  Gewässern,  geschlossenen 
Kellerräumen,  verwesenden  Thier-  und  Pflanzenth eilen ,  Gräbern 
etc.  aufsteigen,  finden  sich  zahlreiche  in  Fäulniss  begriffene  Parti- 
kel vor.  Dass  die  Luft  eine  eigenthümliche  Säure  oder  einen  in 
steter  Oxydation  befindlichen  Stoff  enthalten  muss,  lässt  sich  daraus 
schliessen ,  dass  nicht  nur  thierische ,  sondern  auch  fast  alle  vege- 
tabilischen Flüssigkeiten  unter  dem  Einfluss  desselben  sauer  werden. 
Die  nächste  Ursache  der  intermittenten  Fieber  dürfte  daher,  nach 
Linne's  Auffassung ,  gesucht  werden  müssen  in  einer  Coagulation 
des  serösen  Bestandtheils  des  Blutes ,  herbeigeführt  durch  die  Wir- 
kung oxydirter ,  in  der  Luft  enthaltener  Stoffe.  Bereits  früher  war 
angedeutet  worden,  dass  Linne  die  Entstehung  einer  Menge  Seu- 
chen durch  das  Vorhandensein  kleiner,  in  verdorbener  Luft  befind- 
licher Thiere  zu  erklären  sucht.  Ist  man  nicht,  so  fragt  er,  berech- 
tigt, die  Ursache  der  intermittenten  exacerbirenden  Krankheiten, 
die  vorzugsweise  im  Herbst  herrschen,  wo  die  Luft  feucht  und  ne- 
belig ist,  in  dergleichen  äusserst  winzigen  Thieren  zu  suchen,  die 
ein  solches  ..acre",  von  dem  hier  die  Rede  war,  enthalten?  Mau 
dürfte  folglich  annehmen  können,  dass  die  intermittenten  Fieber- 
krankheiten dadurch  entstehen ,  dass  ein  in  Oxydation  begriffener 

')  De  varia  febrium  interinittentium  curatione  (1771).  In  dieser  Abhand- 
lung heiast  es  S.  12 :  „Palinara  facile  omnibus  praeripit  haeo  ingeniosissinia  tanti 
viri  opinio ,  quae  intricatissiinani ,  in  origiue  hanim  febrimn  indaganda ,  acu 
quasi,  rem  tetigisse  merito  videtur.  Indefesso  enim  studio  et  iudagatione  con- 
summatissima  iliius  substituit  loco,  quam  amplexus  fuit,  noviorem  tlieoriam." 

H  j  elt,  Linn«  als  Arzt.  4 


Stoff  (acre)  sich  in  grösserer  Menge  in  der  Luft  anhäuft  und  vom 
Körper  aufgenommen  wird,  wie  man  auch  nicht  leugnen  durfte, 
dass  Luft,  welche  mit  verdorbenen  pflanzlichen  oder  thierischen 
Theilen  verunreinigte  Dünste  enthält,  zur  Erzeugung  derselben  bei- 
trägt. 

Diese  Theorie  Linne's  stützt  sich  hauptsächlich  auf  folgende 
Gründe : 

1)  die  intermittenten  Fieberkrankheiten  herrschen  vorzugsweise 
im  Herbst  und  Frühjahr,  wo  die  Witterung  feucht  und  kühl  ist; 

2)  diese  Fieberkrankheiten  trifft  man  endemisch  an  solchen 
feuchten  und  schattigen,  dem  Luftwechsel  weniger  ausgesetzten 
Orten,  wo  der  Boden  hauptsächlich  aus  Lehm  besteht,  welcher,  wie 
bekannt,  Wasser  hartnäckig  festhält.  Trockene,  höher  gelegene 
Gegenden  sind  dagegen  von  dergleichen  Krankheiten  fast  gänzlich 
frei.i)  Als  Beweis  für  die  Schädlichkeit  stiller  feuchter  Luft  wird 
angeführt,  dass  Linne  seine  Zuhörer  davor  warnte,  an  der  nörd- 
lichen Wand  des  „Frigidarium"  des  botanischen  Gartens ,  wo  die 
Vorlesungen  gehalten  wurden  und  welche  ohne  Fenster  war,  zu 
sitzen,  weil  die  Luft  dort  weniger  bewegt  war.  Namentlich  warnte 
er  diejenigen,  welche  eine  blasse  Gesichtsfarbe  und  schon  früher  au 
zweitägigem  Wechselfieber  gelitten  hatten,  diesen  Platz  zu  wählen. 
Die  seinen  Rath  nicht  befolgten,  wurden  nicht  selten  vom  Wechsel- 
fieber befallen ;  2) 

3)  von  dieser  Krankheit  werden  vorzugsweise  Personen  er- 
gi'iffen ,  die  in  einer  Pilze  oder  Schimmel  enthaltenden  Luft  leben, 
niedrig  gelegene  Zimmer  im  untersten  Stock  bewohnen,  im  Früh- 
jahr ihre  Winterkleidung  allzu  früh  ablegen  oder  sonst  in  erhitztem 
Zustande  sich  unvorsichtig  kalter,  nebeliger  Luft  aussetzen.  Nach 
starkem  Schweiss  ist  der  Körper  gegen  eine  solche  feuchte  und  un- 
reine Luft  mehr  als  sonst  empfänglich ,  und  in  Folge  dessen  sind 


1)  Respirutio  diaetetica  (1772). 
'-)  Febris  Upsaliensis  (1757). 


—    51  — 


namentlich  Personen,  die  in  solcher  Luft  sich  lange  nncl  oft  auf- 
halten, dergleichen  Krankheiten  ausgesetzt; ') 

4)  da  bittere  Stoffe  im  Allgemeinen  die  Säurebildung  im  Kör- 
per vermindern  oder  erscliweren ,  sind  dergleichen  Arzneimittel  bei 
diesen  Krankheiten  zugleich  die  wirksamsten,  z.B.  Cinchona,  Gen- 
tiana,  Centaurium,  Faha  Ignatii,  Nux  vomica  u.  s.  w.  — 

Der  kalten  Fieberkrankheiten  erwähnt  Linnö  nicht  selten.  Von 
einer  schweren  Amphimerina  duplicata  petechizans,  an  welcher 
auch  seine  Gattin  erkrankte,  giebt  er  folgende  Beschreibung : 

„Uxor  mea  laboravit  dira  amphimerina  duplicata  petechi- 
zante:  quae  eonvaluit  et  ego  pristino  animo  restitutus.  Febris  exa- 
cerbata  quavis  vespera  hora  5 ;  paroxismus  durabat  in  horam  7 
vespertinam  per  duas  horas.  Alter  paroxismus  eadem  vespera  in- 
surgebat  hora  noctis  undecima:  durabat  in  horam  matutinam  7 
vel  in  meridiem.  Alternis  diebus  paroxismi  duplo  vehementiores 
fuere.  Solvebatur  demum  morbus  vomitu  et  expectoratus  per  pul- 
mones  viscosi,  glutinosi  insigni  copia ;  quibus ,  ubi  relinquebatur 
morbus,  diarrhoea,  quibus  vero  non  diarrhoea,  illis  petechia."^) 

Von  dem  sogen.  Upsaliensischen  Fieber  schreibt  Linne  an  Sau- 
vages : 

„Hemitriteus  frequentissimus  ab  aliquot  annis  evasit  morbus 
Upsaliae.  Ab  eo  morbo  restitui  innumeros.  Primis  diebus  dedi 
Ipecacuanham  pro  vomitu;  dein  infusum  vinosum  Chinae  (non 
vero  in  substantia  juvat  cortex)  et  omni  nocte  Laudanum  liqui- 
dum." 


'i  Morbi  expeditionis  classicae  1756  (1757). 
In  seinem  Briefe  an  Sauvages  vom  20.  März  1755. 
In  einem  Brief  vom  22.  April  175f;.  —  Die  von  Linn6  benutzten  Formeln 
waren,  den  noch  aufbewahrten  Reccpten  nach,  folgende : 

Ree.  Aqu.  fontanae  .5ijj ,  Pulv.  Ipecacuanh.  gr.  xii ,  Tartari  tartarisat.  gr. 
vljj,  Oxymel.  scillit.  3iii.  M.  Dr.  in  vitro.  S.  Einen  Löffel  jede  8  Minuten,  bis 
Erbrechen  erfolgt. 

Ree.  Cort.  Chinae      Vin.  rubri  .^v,  digere  per  4  horas,  express.  filtretur, 

4» 


—    52  — 

lieber  S  cor  bat  giebt  es  eiue  besondere  Abhandlung  von 
Linnö.  \,  Diese  Krankheit  wird  zwar  nicht  als  eine  im  Norden  ende- 
misch vorkommende  angesehen,  jedoch  eingeräumt,  dass  sie  spora- 
disch und  vielleicht  auch  im  kalten  öfter  als  im  warmen  Klima  vor- 
kommt. Dass  der  Scorbut  epidemisch  auftritt  und  namentlich  auf 
längeren  Seereisen  viele  Unglücksfälle  herbeigeführt  hat,  ist  be- 
kannt. Die  nächste  Ursache  seines  Entstehens  glaubt  Linne  in  all- 
gemeinen diätetischen  und  äusseren  Verhältnissen  suchen  zu  müssen. 
Von  dieser  Krankheit  werden  vorzugsweise  solche  Personen  er- 
griffen, die  ein  sitzendes  und  unthätiges  Leben  führen,  wie  die- 
jenigen, welche  an  intermittenten  oder  anderen  Fieberkrankheiten 
gelitten  haben.  Die  kalte  Luft  macht  die  Flüssigkeiten  des  Körpers 
zur  Ausscheidung  salzhaltiger  Bestandtheile  geneigter,  und  die 
festen  Gewebe  desselben  werden  dadurch  steif  und  rigide,  Wenn 
ausserdem  in  der  feuchten  Luft  die  Poren  sich  schliessen ,  wird  die 
Ausdünstung  verhindert.  Von  der  Beschaffenheit  der  Kahrungsmittel 
und  der  Geti'änke  hängt  in  hohem  Maasse  die  Zusammensetzung  der 
Flüssigkeiten  des  Körpers  ab ;  viel  Salz  enthaltende  Speisen  wirken 
auflösend  auf  das  Blut  und  die  leimartigen  Stoffe  der  Gewebe.  Wird 
eine  solche  Nahrung  oft  und  lange  in  grösseren  Mengen  genossen, 
so  wirkt  sie  sogar  zerfressend.  Was  körperliche  Bewegung  anbe- 
trifft, so  ist  sie  für  die  Gesundheit  ebenso  nothwendig,  wie  die  Nah- 
rung für  den  Bestand  des  Lebens  unumgänglich  ist.  Alle  körper- 
lichen Uebungen  befördern  den  Umlauf  der  Flüssigkeiten ,  erhöhen 
die  Wärnie  und  erleichtern  besonders  die  Hautausdünstung.  Die  im 
Blute  angehäuften  scharfen  und  salzigen  oder  sonst  zur  Zersetzung 
geneigten  Partikel  werden  durch  körperliche  Bewegung  aus  dem 
Organismus  entfernt.   Wer  salzige  Speisen  in  grösserer  Menge  ver- 


reaid.  coque  in  Aqu.  fönt.  q.  s.  Colaturae  5vjjj ,  adele  priori  Syr.  aurant.  5jjj- 
M.  D.  S.  Jede  Stunde  eine  Tasse  voll,  sobald  das  Fieber  nachlässt. 

12  Tropfen  eines  Schlafmittel^  werden  uni  Mitternacht  gereicht. 

1)  De  scorbuto  (1775). 

-)  Clavis  medicinae,  S.  8. 


—    53  — 


zehrt,  bedarf  daher  starker  Körperarbeit.  Unter  den  gegen  Scorbut 
anwendbaren  Arzneimitteln  spielen  die  zur  Klasse  der  Tetradyna- 
misten  gehörenden  Pflanzen  eine  hervorragende  Rolle,  ebenso  vege- 
tabilische Säuren,  Cider,  Fruchtsäfte,  Chinarinde  etc.  Speciell  wird 
der  Gebrauch  von  Sauerkohl  zur  Verhütung  von  Scorbut  auf  Schiffen 
empfohlen  und  der  ausserordentliche  Nutzen  von  Malzinfusion  nach 
der  Bereitungsraethode  des  englischen  Arztes  Macbride  hervorge- 
hoben. —  Schon  früher  hatte  Linne  brieflich  Sauvages  niitgetheilt, 
dass  im  J.  1740  nach  einem  sebr  kalten  Winter  eine  grössere  Anzahl 
Menschen  an  Scorbut  gestorben  waren ,  als  in  den  letzten  fünfzig 
Jahren.  Namentlich  war  dies  der  Fall  mit  Militärpersonen  und  Ma- 
trosen. Alle  Säufer  und  dem  Trunk  ergebenen  Leute  waren  unrettbar 
dem  Tode  verfallen. ') 

Rachitis  beruht  nach  Linne  auf  excessiver  Säurebildung  im 
Körper,  Avobei  die  Knochen  ihre  Festigkeit  verlieren  und  die  Mus- 
keln sowie  die  Ligamente  schlaff  werden.  Rachitische  Kinder  heilt 
man  am  sichersten  durch  Kneten  (Massage) ,  Bewegung  und  solche 
Mittel,  die  dem  Entstehen  von  Säure  in  den  ersten  Wegen  entgegen- 
wirken. —  Was  man  eine  Zeitlang  bei  Kindern  Tabes  mesenterica 
nannte,  heisst  bei  Linne  „Hectica  puerilis  Sy  denhamii",  ..Febris 
lenta  infantum  Junkeri."  An  dieser  Krankheit,  die  sich  durch  stark 
geschwollene  Mesenterial drüsen ,  Wunden  im  Darm  (intestina  in- 
flammata)  und  Zerstörung  der  Lungen  auszeichnet,  sterben  in 
Schweden  nach  seiner  Angabe  eine  grössere  Anzahl  Kinder,  als  an 
irgend  einer  anderen  Krankheit,  mit  Ausnahme  der  Pocken.  Linne 
sagt ,  er  habe  in  einer  recht  grossen  Menge  von  Fällen  (plusquam 
centies)  ein  wirksames  Arzneimittel  in  der  Rhabarbertinctur  (aniraa 
rhei) ,  zu  einer  Drachme  täglich ,  gefunden ,  und  hält  dieses  Mittel 
für  specifisch.  2)  —  Gegen  Ruhr,  sagt  Linne,  kenne  er  kein  siche- 
reres Mittel  als  ein  Eigelb ,  aufgelöst  in  einem  Theelöffel  Brannt- 

')  In  einem  Briefe  vom  20.  Sept.  1740. 
2)  Rhabarbarnm  (1752). 


—    54  — 


weiu,  zwei  bis  dreiiual  täglich  geuommen.  Soviel  er  sonst  gegen  den 
Missbrauch  von  Branntwein  eifert,  so  hält  er  ihn  doch  für  ein  Schutz- 
mittel gegen  Kühr  und  erzählt ,  dass  während  einer  Epidemie  alle 
diejenigen  Mitglieder  dreier  Familien,  die  Branntwein  l^enutzten, 
gesund  blieben. ')  Die  Ruhr  wirkt  nach  seiner  Ansicht  durch  die 
Ausleerungen  ansteckend. 

Unter  den  Ursachen  der  Schwindsucht  führt  Linne  an  meh- 
reren Stellen  seiner  Schriften  das  Einathmen  feiner  Staubpartikel 
an.  Bei  Personen,  die  sich  mit  dem  Behauen  von  Steinen  beschäf- 
tigen oder  sich  längere  Zeit  in  stauberfüllter  Luft  aufhalten,  dringen 
diese  Partikel  in  die  Lungen  ein  und  kleben  dort  durch  den  Schleim 
zusammen.  Es  entsteht  ein  trockener  Husten,  wodurch  dieselben 
zwar  oft  entfernt  werden  (Tussis  calculosa),  nicht  selten  aber  bleiben 
sie  in  den  Lungen  zurück  und  verursachen  Schwindsucht.  Sprechende 
Beweise  hierfür  findet  man  namentlich  unter  den  Steinmetzen  in  Orsa 
in  Dalekarlien,  die  in  grosser  Anzahl  und  gewöhnlich  vor  dem  30. 
Lebensjahre  an  dieser  Krankheit  sterben.'^)  Mit  welcher  Leichtigkeit 
ein  solcher  feiner  Staub  Körper,  mit  denen  er  in  Berührung  kommt, 
durchdringt,  sieht  man  daraus,  dass  eine  in  einer  Steinmetz- Werk- 
stätte aufgehängte ,  gut  geschlossene  und  fest  zugebundene  Thier- 
blase nach  einiger  Zeit  mit  Staub  gefüllt  ist.  Die  Luft  ist  überhaupt 
niemals  frei  von  fremdartigen  Bestandtheilen ;  sie  enthält  im  Gegen- 
theil,  wie  das  Mikroskop  zeigt,  eine  grosse  Menge  winziger,  in  der- 
selben schwebender  Stoffe,  sei  es  Sandpartikel,  Haare,  Staub,  Feder- 
chen etc.,  die  beim  Athmen  in  die  Lungen  eindringen  und  die  erste 
Veranlassung  zum  Entstehen  von  Schwindsucht  sind.  Man  muss  da- 
her vermeiden,  mit  offenem  Munde  zu  athmen,  denn  es  werden  nach 
Linne's  Auffassung  diejenigen,  .welche  sich  daran  gewöhnt  haben, ' 
nicht  selten  schwindsüchtig.  Daraus  erklärt  sich  zum  Theil  die 
Schädlichkeit  des  Gebrauches  von  Kleidein  und  Kissen,  welche  mit 


1)  In  seinem  Brief  an  Sauvages  vom  20.  Sept.  1741. 

-)  Do  generatione  calculi  (1749),  Morbi  Artificum  (1765). 


—    55  — 


Federn  gefüllt  sind,  weil  sie  viel  Staub  verbreiten,  i)  Die  Auf- 
fassung der  Schwindsuclit  als  ansteckende  Kranklieit  ist  Linn6's 
Pathologie  nicht  ganz  fremd.  Man  findet  Spuren  davon  an  mehreren 
Stelleu  seiner  Schriften. 

Die  Ursachen  der  Blutung  aus  den  Luftwegen  sind  entweder 
Praedisposition,  sowie  natürliche  oder  erbliche  Anlage,  übermässige 
Fleischnahrung,  Stillsitzen,  Missbrauch  geistiger  Getränke  etc.,  oder 
zufallige,  z.  B.  plötzliche  Unterbrecliung  hämorrhoidaler  und  men- 
strueller Blutungen,  Ansti'engung  der  Lungen  durch  Fallen,  Schreien, 
Tanzen,  Laufen  und  Husten,  krankhafte  Veränderungen  in  den- 
selben oder  auch  Gemüthsbewegung.  Wenn  eine  Lungenblutung 
nicht  stark  ist  und  schaumiges  Blut  zusammen  mit  coagulirtem  aus- 
geworfen wird,  so  ist  Gefahr  für  das  Leben  selten  vorhanden;  ver- 
bleibt aber  das  extravasirte  Blut  in  den  Luftwegen,  so  wird  es  durch 
die  Körperwärme  zersetzt  und  geht  in  Eiter  Uber,  welcher  das 
Lungengewebe  nach  und  nach  zerfrisst  und  zerstört,  es  entsteht 
Phthisis  und  ständige  Neigung  zu  Blutungen  verbleibt.  2)  Um  die 
Blutung  zu  stillen,  wird  Aderlass  am  Fuss  vorgeschlagen,  und  dieser 
muss  erneuert  werden,  falls  der  Puls  voll  und  die  Körperwärme 
hoch  ist.  Linne  führt  an ,  dass  in  kaltes  Wasser  getauchte  und  aiif 
den  Hodensack  gelegte  Schwämme  zum  Stillen  der  Blutimg  aus  den 
Lungen  mit  Erfolg  angewandt  worden  seien.  Ein  besonders  wirk- 
sames Mittel  gegen  beginnende  Schwindsucht  sei  das  Reiten,  „  uam 
in  phthisi  incipiente  tam  certa  est  medicina,  quam  cortex  peruvianus 
in  febribus  intermittentibus",  und  Linne  erzählt,  dass  er  zwei  Asth- 
matikern gerathen  habe ,  aus  Stockholm  nach  Ystad  zu  reiteu,  und 
dass  sie  gesund  Aviedergekehrt  seien.  Auf  Grund  eigener  Erfah- 
rung preist  er  auch  den  Gebrauch  von  Hypericum  in  gewissen  Arten 
von  Schwindsucht. 


•)  Respiratio  cUaetetica  (1772). 

2)  De  haemoptyai  (1767),  de  haemorrhagiis  ex  plethora  (1772). 
•■5)  De  haeraoptysi  (1767). 

*)  Motns  polychreatiis  (1763).  •'"')  Hypericum  (1776). 


—    56  — 


Schon  oben  wurde  erwähnt ,  dass  Linn6  den  Keuchhusten 
(Tussis  ferina)  zu  denjenigen  Krankheiten  zählte,  deren  Ursprung 
in  einem  animalischen  Ansteckungsstoff  zu  suchen  sei.  Nur  dadurch 
glaubt  er  die  epidemische  Verbreitung  desselben  erklären  zu  können 
(contagium  suum  quasi  ipsa  pestis  dispergens)  und  diese  seine  An- 
sicht von  „animalcula  viva"  stand  in  Uebereinstimmung  mit  den 
schon  früher  von  vielen  Aerzten  ausgesprochenen  Gedanken.  Es 
dürfte  überflüssig  sein,  an  die  gegenwärtige  Auffassung  der  Patho- 
genesis  des  Keuchhustens  zu  erinnern.  Als  eins  der  kräftigsten 
Mittel  gegen  diese  Krankheit  empfiehlt  er  die  Anwendung  von  Le- 
dum  palustre  als  Infusum  oder  Decoct.')  Bemerkenswerth  ist,  was 
Linne  sonst  von  Ledum  schreibt : 

„Uebrigens  hat  hier  Husten  allgemein  geherrscht.  Ich  pro- 
birte  allerhand,  auch  Extr.  Nicotianae,  das  in  Stockholm  1740 
half,  wo  alles  andere  fehlschlug,  es  half  aber  nichts.  Endlich  Hess 
ich  sowohl  die  Meinigen,  als  auch  Andere  Infusum  foliorum  Ledi 
trinken,  wodurch  alle  binnen  3  Tagen  total  curirt  wurden. "2)  — 

Der  wesentliche  Unterschied  zwischen  Gehirnhämorrhagie 
und  Gehirncongestionen  ist  Linne  nicht  entgangen.  Er  deutet 
darauf  hin ,  dass  die  apoplektischen  Anfälle,  welche  in  vollständige 
Genesung  übergehen  (ut  ne  minimi  dein  percipiat  aeger  molestiam) , 
auf  einer  Blutcongestion  nach  den  Gefässen  des  Gehirns  beruhen, 
oder  auch  durch  eine  seröse  Ergiessung  in  seine  Höhlen  bedingt 
werden. 3)  —  Hemicranie  kommt  nach  seiner  Ansicht  bei  gelehrten 
und  stillsitzenden  Personen  oft  vor.  Er  erzählt  von  sich  selbst,  dass 
er  sechszehn  Jahre  hindurch  daran  gelitten  und  alle  seine  medizi- 
nischen Freunde  in  Europa  um  Rath  befrag-t  habe.  ^)  Die  Anfälle 
dauerten  stets  24  Stunden  und  zeichneten  sich  zugleich  durch  reich- 


1)  De  Ledo  palustri  (1775). 

2j  In  einem  Brief  an  Abr.  Bäck  vom  15».  Febr.  1751. 
3)  De  haemorrhagiis  ex  plethora  (1772). 

*)  :,Hemicrania  multoties  me  excruciat,  unde  iiic  morbus?  An  novisti  medi- 
cinam,  quaeso,  communices."  In  einem  Brief  an  Sauvages  vom  22.  April  1 750. 


—    57  — 


liebes  Strömen  heisser  Thränen  aus  dem  Auge  der  kranken  Seite 
aus.  Selten  entging-  er  einem  Anfall  innerhalb  acht  Tagen,  und  je 
länger  die  Zwischenzeit  dauerte,  desto  schwerer  waren  die  Paroxys- 
men.  Durch  Trinken  guten  Quellwassers  früh  morgens  und  körper- 
liche Bewegung  v^or  der  Mittagsmahlzeit  glaubte  er  hergestellt  wor- 
den zu  sein.')  Aus  seiner  Praxis  theilt  Linnö  einen  Fall  von  Aphasie 
mit,  in  welchem  der  Kranke  während  eines  halben  Jahres  „alle 
Substantiva  vergessen,  so  dass  er  sich  keines  einzigen,  ja  nicht  ein- 
mal des  Namens  seiner  Kinder,  seiner  Frau  oder  seines  eigenen, 
geschweige  denn  anderer  Menschen ,  erinnerte.  Bat  man  ihn  nach- 
zusprechen, so  antwortete  er :  „kann  nicht" .  Wollte  er  einen  seiner 
Amtskollegen  nennen ,  so  zeigte  er  auf  den  Vorlesungskatalog ,  wo 
sein  Name  stand,  — 

In  verschiedenen  Theilen  Schwedens  trat  während  der  Jahre 
1746 — 47  und  1754— 55  „die  Kriebelkrankheit"  auf,  die  durch 
ihre  eigenthümlichen  Symptome  und  die  starken  Schmerzen ,  woran 
alle  von  ihr  befallenen  Personen  litten,  allgemeine  Besorgniss  eiTcgte. 
Linne  widmete  dieser  Seuche  grosse  Aufmerksamkeit  und  fasste 
seine  Beobachtungen  in  folgende  Sätze  zusammen.  Die  Krankheit 
befällt  1 )  nur  Bauersleute,  2)  nie  Kinder,  3)  sie  tritt  nur  im  Herbst 
auf,  4]  zeigt  sich  ausnahmsweise  bei  Hausthieren,  5)  dauert  oft  zwei 
bis  drei  Monate ,  6)  erkrankt  Jemand  in  einem  Hause ,  so  werden 
die  meisten ,  wenn  nicht  alle  Bewohner  davon  ergriffen ,  7)  kommt 
nur  in  Skdne,  Blekinge,  Hailand  und  Westergothland ,  nie  aber  in 
den  nördlichen  Gegenden  Schwedens  vor,  8)  sie  ist  nicht  an- 
steckend. Durch  seine  Untersuchungen  der  Umstände ,  unter 
denen  die  Krankheit  auftrat ,  fand  Linne ,  dass  die  Ursache  ihres 
Entstehens  in  dem  Getreide  ,  das  die  Kranken  verzehrten,  gesucht 


'j  Motus  polychrestus  (17(53). 

2j  Llnnö'a  Aufsatz  .,Verges8en  aller  Substantiva  und  nament- 
lich von  Namen-  in  Svenska  Vetensk.  Acad.  Hand).  1842.  116. 

^;  In  einem  Brief  an  Sauvages  vom  22.  Nov.  1759,  worin  er  schreibt:  „quo 
hunc  morbum  refers?  An  vobis  etiara  innotuitV" 


—    58  — 


Averdeu  müsse.  ^)  Er  fand  zugieicli ,  dass  es  vor  Kurzem  geerutetes 
Getreide  war,  welclies  die  Krankheit  meistens  hervorrief,  je  länger 
es  aber  lag  und  trocknete ,  desto  mehr  hatte  es  diese  Eigenschaft 
eingebüsst.  Da  die  Arbeiter  damals  in  Schweden  hauptsächlich 
Gerste  zum  Brodbacken  benutzten ,  war  Linn6  der  Meinung ,  dass 
die  Krankheitsursache  in  dieser  Getreideart  läge.  Er  hatte  zugleich 
beobachtet,  dass  nasse  imd  regenreiche  Sommer  dem  Auftreten 
der  Krankheit  vorangingen ,  und  schloss  daraus ,  dass  dergleichen 
unreines  Getreide  mit  Unkraut  stark  vermischt  wäre.  Er  glaubte, 
dass  Raphanus  raphanistrum ,  welches  in  nassen  Sommern  bemer- 
kenswerth  scharf  wird  und  auf  Gerstenfeldern  sehr  allgemein  vor- 
kommt, die  eigentliche  Ursache  der  Kriebelkrankheit  sei.  Diese 
Pflanze  erhielt  daher  den  Namen  Krampfsamen.  2)  Die  Samen 
hielt  man  in  dieser  Beziehung  für  das  wirksamste  Mittel,  und  Linne 
hatte  sogar  mit  Hülsen  dieser  Pflanze,  die  er  unter  die  Nahrung  von 
Truthuhnern  mischte ,  Versuche  angestellt ;  er  fand ,  dass  eins  der 
Versuch sthiere  von  Krampf  in  den  Füssen  befallen  wurde.  Auch 
Hühner  und  Schweine,  die  mit  dergleichen  unreiner  Gerste  gefüttert 
wurden,  erkrankten.  Weshalb  die  Krankheit  in  Paroxysmen  auftrat, 
glaubte  Linne  ebenso  wenig  erklären  zu  können ,  wie  die  Ursache 
der  periodischen  Anfälle  des  intermittenten  Fiebers,  „ubi  massa 
sanguinea  acido  est  infecta. "  Die  Erscheinungen  des  Nervensystems 
sind  noch  nicht  ermittelt,  „neiTosi  enim  systematis  historia  uondum, 
quod  fatemur,  ad  umbilicum- perducta  est."  Auf  Grund  dieser  Beo- 
bachtungen führte  Linn6  den  Namen  Raphania  ein,  als  die  so- 
genannte Kriebelkrankheit  bezeichnend,  eine  Benennung,  die  sich 
in  der  Pathologie  erhalten  hat,  bis  neuerdings  eine  richtigere  Ein- 
sicht des  ursächlichen  Verhältnisses  der  Krankheit  ihr  einen  neuen 
Namen  gab.  Dass  es  aber  Linne  war,  welcher  diese  Krankheits- 
foiTO  sorgfältig  untersucht  hat,  dürfte  ebenso  wie  die  Veranlassung 


De  raphania  (1763). 
-)  Flora  Suecica.   Ed.  altera.  Holmiae  17.35.  612. 


—   59  — 


ihrer  ursprUuglicheu  Beueuuung  allmälilicli  iu  Vergessenheit  ge- 
ratheu sein.  Unter  den  wirksamsten  Heilmitteln  werden  genannt 
Ead.  Valerian., minor,  und  Angel,  sylvestris,  sowie  namentlich  Tra 
Alchemillae  vulgaris. 

Ebenso  dürfte  nunmehr  fast  ganz  vergessen  oder  wenigstens 
ziemlich  unbekannt  sein,  dass  Linne  eine  genaue  Kenntniss  des 
Krätzethiers  besass.  Während  die  damaligen  Aerzte  in  den 
verschiedenartigsten  Umständen  die  Erklärung  des  Entstehens  von 
Hautausschlägen  suchten  und  die  eigentlichen  Ursachen  derselben 
in  der  Schärfe  der  Flüssigkeiten  zu  erblicken  glaubten,  sprach  Linn6 
mit  Bestimmtheit  aus ,  dass  das  Eindringen  des  Krätzethiers  in  die 
Haut  den  diese  Krankheit  begleitenden  Ausschlag  hervorruft.  Die- 
sen „Acarus  humanus  subcutaneus"  stellt  er  als  eine  Abart  des  Aca- 
rus  Siro  auf  und  schreibt  darüber :  „habitat  sub  cute  hominis  sca- 
biem  caussans,  ubi  vesiculam  excitavit,  parum  recedit,  corporis  rugas 
secutus ,  quiescit  iterum  et  titillationem  excitat ;  nudis  oculis  sub 
cuticula  delitescens  observatur  ab  adsueto,  acu  facile  eximitur,  un- 
gui  impositus  vix  movetur ,  si  vero  oris  calido  halitu  affletur ,  agilis 
in  ungue  cursitat." 

Da  man  früher  verschiedenartige  Formen  von  Hautkrankheit 
verwechselt  und  in  der  Voraussetzung,  dass  sie  von  allgemeinen 
Störungen  in  den  Flüssigkeiten  des  Körpers  abhingen ,  alle  mit 
innerlichen  Mitteln  behandelt  hatte ,  unterschied  Linn6  die  Krätze 
als  eine  eigene  Krankheit,  und  man  findet  in  seinen  Schriften  mehr 
oder  weniger  specifische  Mittel  gegen  dieselbe  vorgeschlagen ,  wie 
z.  B.  Ledum  palustre.  Er, schreibt  über  diesen  Gegenstand  an 
Sauvages : 

„Medicamentum  tuum  conti'a  scabiem  tentabo,  sed  mihi  suf- 
fecit  Semper  unguentum  vulgare  cum  unguent.  rosat.,  quod  Sem- 
per curat,  absque  repulsionis  metu."^) 


1)  Fauna  Suecica.  Ed.  altera.  Stockli.  1761.  482. 

2)  In  einem  Briefe  an  Sauvages  17ti2. 


—   60  — 


Im  Zusammenhange  hiemit  kann  angeflihrt  werden,  dass  aucli 
Linn6  die  ältere  Vermutbiing  aussprach,  die  Eier  von  Ascaris  gingen  in 
den  menschlichen  Körper  mit  Trinkwasser  oder  anderen  Geti-änken, 
in  welche  sie  aus  der  Erde  gelangten,  über. ')  Dagegen  hat  die  An- 
sicht, welche  in  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  ausgesprochen 
wurde ,  dass  das  Entstehen  des  Aussatzes  auf  dem  Eindringen  eines 
Wurms  in  die  Haut  beruhe ,  keine  Bestätigung  gefunden.  Da  man 
fand,  dass  der  Aussatz  hauptsächlich  an  der  Meeresküste  vorkam, 
glaubte  man  seine  Erscheinung  dadurch  erklären  zu  müssen ,  dass 
die  Bewohner  dieser  Gegenden  fast  ausschliesslich  von  Fischen 
lebten,  und  man  nahm  an,  dass  eine  Made,  Gordius  fluviatilis,  die 
in  verschiedenen  Fischarten  angetroffen  wird,  in  den  Körper  ein- 
dringe und  in  der  Haut  und  den  inneren  Theilen  harte  Geschwülste 
bilde,  welche  diese  Krankheit  charakterisiren.  2)  Diese  Knoten  (tuber- 
cula)  werden  als  beweglich,  schmerzlos,  blauroth,  hauptsächlich  au 
der  Stirn ,  den  Wangen ,  Armen ,  Händen  und  Schenkeln  vorkom- 
mend beschrieben.  Knoten  von  einer  mehr  gelblichen  oder  schwach 
lividen  Farbe  kommen  auch  im  Munde ,  Gaumen,  Schlünde  und  au 
der  Zungenwurzel  vor  ;  Geschwüre  entstellen  die  Nase,  die  Lippen 
sind  dick,  Hände  und  Füsse  geschwollen.  In  einigen  Fällen  findet 
man  auf  der  Haut  Wunden  oder  Risse  mit  geschwollenen,  harten, 
manchmal  blutenden  Rändern.  Bei  allen  daran  erkrankten  Perso- 
nen sind  die  leprösen  Knoten  gefühllos,  die  Umgebung  aber  ist 
juckend.  3)  — 


')  De  Spigelia  Anthelmia  (1758). 

2)  Anton  K.  Martin  sprach  diese  Ansieht  in  den  Akten  der  Schwed.  Aka- 
demie der  Wissensch.  1760,  S.  307,  zuerst  aus.  In  Linn^'s  Abhandlung  de 
Ledo  palustri  (1775)  wird  angegeben,  dass  diese  Pflanze  von  den  Kauitscha- 
daleii  als  Infusion  mit  besonders  gutem  Erfolg  gegen  Lepra ,  die  unter  ihnen 
sehr  allgemein  vorkommt,  gebraucht  wird.  Auch  J.  L.  Odhelius  lobt  in  den 
Akten  derselben  Akademie  1774.  266,  1779.  218,  1783.  222,  die  Wirkungen 
von  Ledum  palustre  gegen  Lepra,  von  welcher  er  glaubt ,  dass  sie  durch  über- 
wiegend salzige  Nahrung  entsteht. 

•')  Lepra  (1765). 


—    61  — 


Linuö  erzählt,  dass  Elephantiasis  unter  den  Fischern  sehr  allge- 
mein ist,  >Yeil  sie  auf  ihren  Fischfangreisen  von  altem  Seehunds- 
fleisch leben.  Die  von  dieser"  Krankheit  Ergriffenen  werden  aus  der 
Gemeinschaft  anderer  Menschen  ausgeschlossen.  ^)  —  Ein  Zuge- 
ständniss  gegenüber  der  damaligen  Auffassungsweise  ist  sein  Aus- 
spruch, dass  Kinder  kränklich  werden,  falls  ulcerirende  Ausschläge 
am  Kopf  mit  kaltem  Wasser  gewaschen  werden,  und  dass  das  all- 
gemeine Vorkommen  der  Epilepsie  im  südlichen  Smäland  seinen 
Grund  in  dieser  Sitte  hat.  -)  — 

Betreffs  des  Entstehens  von  Panaritium  (Paronychia)  hatte 
Linne  die  Vorstellung,  dass  dieses  Leiden  hervorgerufen  werde,  sobald 
die  Hände  starken  Temperaturwechseln  ausgesetzt  werden ,  und  er 
erzählt  von  sich  selbst,  dass  er  davon  befallen  wurde,  als  seine 
Hand  auf  der  Kückreise  aus  Frankreich  nass  ward ,  nachdem  sie 
sehr  warm  gewesen  war. 3)  —  Gegen  nicht  ulcerirende  Frostschä- 
den (Perniones)  behauptet  er'i)  mit  vielem  Erfolg  Spiritus  salis 
acidus  (Salzsäure) ,  womit  der  Frostschaden  bestrichen  wird .  bis  er 
verschwunden ,  angewandt  zu  haben.  —  Gegen  Hühneraugen  wird 
der  Saft  vonEuphorbia  empfohlen.^)  Uebelriechende  und  bösartige 
Wunden  (Ulcera  cachoetica)  werden,  nach  Linne' s Erfahrung,  nicht 
selten  mit  Feigensaft  oder  auch  Rad.  britanicae  (Rumex  maximus) 
geheilt.     Dergleichen  Wunden  gehen  oft  nicht  anders  in  Heilung 


ij  In  eiuem  Brief  an  Sauvages  vom  20.  Sept.  1710. 

-j  In  Briefen  an  Sauvages  vom  2.  Dec.  1741  und  1744.  Diese  Ansicht  findet 
man  fex-ner  ausgesprochen  in  Linnu's  Aufsatz  ..lieber  die  Ursache  des 
Vorkommens  der  Fallsucht  in  Schonen  und  dem  Kreise  Wern 
in  Sm&land",  veröffentlicht  in  den  Akten  der  Schwed.  Akad.  d.  Wissenech. 
1742,  S.  27». 

>*)  De  morbis  ex  Iiyeme  (1752j. 

*)  In  einem  Brief  an  Sauvages  1753.  „Expertus  sum  in  plus,  quam  centum 
pernionibus  laborantibns.'- 

•■')  Euphorbia  (17.52). 

Linne  hegte  zu  dieser  Pflanze  grosses  Vertrauen.  In  einem  Brief  an  Prof. 
A.  G.  Liedbeck  vom  7.  Sept.  17.50,  aufbewahrt  in  der  Universitätsbibliothek  zu 
Lund,  von  welchem  man  mir  eine  Abschrift  freundlichst  mitgctheilt  hat,  äussert 


—    62  — 


über,  als  wenn  gegen  dieselben  ein  Vesicatorium  von  Canth ariden, 
welches  die  verdorbenen  Stoife  zerstört  und  die  Wunde  reinigt,  an- 
gewandt wird.  1)  In  der  Heilkunst  sind  nämlich  zwei  Umstände  zu 
beobachten,  welche  die  Wirkung  äusserer  Reizmittel  erklären,  der 
eine,  dass  ein  Schmerz  den  andern  vertreibt;  und  der  andere,  dass 
zwei  Ausleerungen  gleichzeitig  nicht  bestehen  können.  — 

Gegen  Gangraena ,  kalten  Brand  und  Scorbutwunden  wandte 
Linne  eine  Formel  an,  welcher  er  grossen  Werth  beilegte  und  die, 
aus  der  damaligen  Zeichensprache  in  technische  Ausdrücke  über- 
tragen, folgendermaassen  lautet:  Ree.  Ciner.  Clavell.  (=  potass. 
venal.)  ^j,  Salis  ammoniaci  ^jß,  Calc.  vivae  ^jV,  Urinae  tl  120. 
Distilles  per  vesicam  cupream,  evadat  aqua  coerulea:  pro  usu 
externo.2)  —  Rothe  und  entzündete  Augen  werden  vom  Landvolk 
nach  Linne's  Angabe  vermittelst  Decoct  von  Pyrola  uniflora  behan- 
delt ,  womit  die  Augen  gewaschen  werden ;  oder  die  Pflanze  "^vird 
auch  gekaut  und  das  kranke  Auge  darauf  mit  dem  Speichel  be- 
feuchtet. 3) 


Von  den  verschiedenen  medizinischen  Wissenschaften  war  es 
die  Kenntniss  der  Droguen  und  die  Pharmakodynamik  oder,  wie 
die  älteren  Aerzte  sie  benannten,  Materiamedica,  welche  Linne 
mit  Vorliebe  bearbeitete.  Der  nahe  Zusammenhang,  in  welchem 
die  Botanik  und  die  Pharmakognosie  zu  einander  stehen .  macht  es 
erklärlich,  weshalb  die  Mehrzahl  seiner  medizinischen  Arbeiten 


Linne :  Uns  wurde  erzählt ,  dass  Sie  ein  Ulcus  oris  malignum  erhalten  haben 
sollen.  Ist  es  cariosum  oder  fistulosinn,  so  muss  Ead.  Britanicae  gebraucht 
werden ,  ist  es  cancrosum ,  so  ist  Infusum  Belladonnae  unverzüglich  anzu- 
wenden." 

')  De  Meloe  vesicatorio  (1762). 

-]  „Est  mihi  formula  in  magno  pretio  quam  tibi  revelabo,  sed  rogo  ipse  ex- 
periaris  nec  alii  nulli  reveles."  Brief  an  Sauvages  vom  22.  Aug.  1754. 
In  einem  Brief  an  Sauvages  vom  22.  Aug.  1754. 


—    63  — 


gerade  diese  Seite  der  Wissenschaft  umfassen.  Die  meisten  seiner 
Abhandlungen  auf  dem  Gebiete  der  Pharmakologie  enthalten  ge- 
naue botanische  Beschreibungen  derjenigen  Kräuter,  deren  Anwen- 
dung in  der  Medizin  der  Gegenstand  derselben  ist.  Zugleich  wer- 
den nicht  selten  Angaben  mitgetheilt  über  die  chemischen  Bestand- 
theile  solcher  Droguen,  soweit  sie  bekannt  waren,  und  ebenso  Uber 
die  verschiedenen  pharmazeutischen  Präparate,  welche  in  den  Apo- 
theken entweder  bereits  vorkamen  oder  in  denselben  bereitet  wer- 
den konnten.  Die  Lehre  von  den  Wirkungen  und  der  Anwendung 
der  Arzneimittel  in  verschiedenen  Krankheiten  wird  überdies  aus- 
führlich behandelt.  Es  war  übrigens  damals  Sitte,  in  botanischen 
Schriften  den  medizinischen  Nutzen  der  Pflanzen  anzuführen,  und 
die  älteren  Botaniker  unterliessen  es  in  ihren  Arbeiten  selten,  län- 
gere oder  kürzere  Ausflüge  in  das  Gebiet  der  Arzneiwissenschaft  zu 
unternehmen.    Den  medizinischen  Schriften  Linne's  ist  überhaupt 
eigenthümlich ,  dass  er  in  kurzen  bestimmten  Sätzen  solche  Wahr- 
heiten zusammenzufassen  oder  auszusprechen  sucht,  namentlich  in 
der  Pharmakodynamik ,  welche  er  für  allgemein  gültig  erachtete, 
und  seine  Abhandlungen  über  die  medizinischen  Eigenschaften  und 
Wirkungen  der  Pflanzen  zeigen  daher  in  ihrer  Aufstellung  viele 
Aehnlichkeit  mit  dem ,  was  er  in  seiner  Philosophia  botanica 
auf  die  reine  Botanik  anwenden  wollte.  Eine  Frage,  die  fast  im- 
mer, sobald  Gelegenheit  sich  dazu  bietet,  in  diesen  Abhandlungen 
wiederkehrt,  ist  die,  inwiefern  die  theuren  ausländischen  Arznei- 
mittel durch  gleich  kräftige,  in  Schweden  wachsende  Kräuter  etwa 
ersetzt  werden  könnten.  Als  Fingerzeig  für  die  Entdeckung  und 
Benutzung  dieser  Succedanea  werden  diejenigen  wild  wachsenden 
Pflanzen  angeführt,  die  den  entsprechenden  ausländischen  am  näch- 
sten verwandt  sind,  und  man  muss  gestehen,  dass  in  Folge  dieser 
Arbeiten  Linne's  manche  einheimische  Droguen  mehr  Verwendung 
gefunden  und  sogar  in  die  nordischen  Pharmakopoeen  aufgenom- 
men worden  sind,  wie  Khamnüs  franguhi,  Solanum  Dulcaniara, 
Pimpinella  Saxifraga,  Arcto8tai)hylos  Ilvae  Ursi,  Ceti'aria  islandica 


—    64  — 


u.  a.  Es  ist  nämlich  ein  von  Linn6  ausgesprochener  und  speciell 
betonter  Satz ,  dass  Pflanzen ,  welche  dem  Geschlechte  nach  über- 
einstimmen, auch  den  Eigenschaften  nach  übereinstimmend  sind, 
und  dass  Pflanzen,  die  derselben  natürlichen  Familie  angehören, 
auch  in  Bezug  auf  ihre  medizinischen  Wirkungen  einander  nahe 
stehen. Die  Eigenschaften  der  Pflanzen  werden  daher  am  sicher- 
sten nach  den  natürlichen  Familien,  denen  sie  augehören,  bestimmt, 
sobald  mau  nur  den  Nutzen  der  einen  oder  der  andern  solcher  Pflan- 
zen durch  die  Erfahrung  kennen  gelernt  hat.  So  enthält  die  Fa- 
milie Stellatae  Pflanzen  mit  diuretischen  Eigenschaften ;  zur  Familie 
Luridae  gehören  eine  Menge  verdächtiger  Kräuter ,  wie  Solanum. 
Hyoscyamus ,  Nicotiana ,  Atropa ,  Datura :  die  Umbellatae  sind, 
wenn  sie  in  trockenen  Gegenden  wachsen,  aromaticae,  calefacientes 
et  pellentes,  werden  aber  an  feuchten  Stellen  giftig,  die  Wurzel  und 
die  Samen  enthalten  die  wirksamsten  Bestandtheile :  die  zur  Classe 
Polyandria  gehörenden  Pflanzen  sind  im  Allgemeinen  giftig,  ebenso 
diejenigen,  deren  Blüten  einen  von  den  Kronenblättern  getrennten 
Honigkelch  besitzen:  die  Verticillatae  sind  „fragrantes,  nernnae. 
resolventes  et  pellentes,  folia  virtute  pollent " :  die  Pflanzen  der  Fa- 
milie Siliquosae  sind  in  frischem  Zustande  „acres,  iucidentes,  ab- 
stergentes  et  diureticae, "  beim  Trocknen  aber  wird  ihre  Kraft  ver- 
ringert ;  die  Compositae  haben  im  Allgemeinen  einen  bittereu  Ge- 
schmack, die  Orchideen  sind  aphrodisiacae,  die  Coniferae  „resiui- 
ferae  et  diureticae."  Kräuter,  die  an  ti-ockenen  Stellen  wachsen, 
sind  aromatisch  und  haben  einen  eigenthümlichen  Geschmack,  wie 
Thymus,  Salvia,  Origanum,  Hyssopus,  Lavandula  u.  a.  Saftiger 
Boden  erzeugt  geschmacklose  Pflanzen  (olera  pleraque]  und  an  nas- 
sen Stellen  werden  die  Pflanzen  nicht  selten  scharf  und  corrosiv. 
wie  Ranunculus,  Calla,  Nymphaea,  Phellandrium,  Cicuta  u.  a. ; 
Frühlingspflanzen  besitzen  meisteutheils  scharfen  Geschmack  und 
die  medizinisclien  Kräuter  haben  im  frischen  Zustande  bei  weitem 


Philosophia  botanica.  Stockholm  1751.  §33". 


—    65  — 


nicht  denselben  Geschmack,  den  sie  nach  dem  Trocknen  erhalten. 
Alle  aromatischen  Pflanzen  sind  im  trockenen  Zustande  am  kräf- 
tigsten. — 

Als  Linne  seine  in  damaliger  Zeit  so  hoch  gepriesene- Materia 
medica  herausgab ,  welche  während  einer  längeren  Reihe  von  Jah- 
ren den  Verfassern  auf  diesem  Gebiet  zum  Vorbilde  diente,  ordnete 
er  die  pharmazeutischen  Pflanzen  nach  seinem  botanischen  System. 
Sein  systematisirendes  Genie  offenbarte  sich  hier  wie  überall, 
und  man  dürfte  in  keiner  pharmakologischen  Arbeit  aus  der  medi- 
zinischen Literatur  der  früheren  oder  zunächst  folgenden  Zeit  eine 
solche  Klarheit  und  Uebersichtlichkeit  finden,  wie  in  Linne's  Materia 
medica.  Die  Arbeit  trägt  freilich  den  eigenthümlichen  Charakter 
der  damaligen  Zeit  und  zeigt  die  damals  herrschende  Neigung,  eine 
Menge  Pflanzen  aufzunehmen ,  deren  Bedeutung  und  Werth  für  die 
praktische  Medizin  vollkommen  illusorisch  ist.  Je  weniger  ent- 
wickelt die  Wissenschaft,  desto  grösser  war  auch  die  Mannigfaltig- 
keit der  Arzneimittel,  welche  sie  der  leidenden  Menschheit  bieten 
zu  müssen  glaubte.  Das  Kindesalter  der  Wissenschaft  hatte  ihren 
Jüngern  einen  Ueberfluss  an  Stoffen,  Arcana  und  Droguen  über- 
liefert, vor  welchem  sie  rathlos  und  erstaunt  standen.  2)  Mit  über- 
zeugender und  kräftiger  Stimme  warnte  Linne  vor  diesem  Miss- 
brauch und  drang  darauf,  dass  man  lieber  die  Wirkungen  der  ein- 
fachen Arzneimittel  kennen  lernen  müsste,  als  die  in  damaliger 
Zeit  so  gewöhnlichen  zusammengesetzten  Formeln  zu  verschreiben. 
Hierüber  schreibt  er: 

„Gerade  die  langen  formulae  sind  es,  welche  die  ganze  Me- 
dizin verdorben  haben,  ich  wundere  mich,  wie  so  Viele  ohne 
Hülfe  von  simplicium  eflfectu  Aerzte  sein  können.  Ich  lehre  nun 


1)  Philosophifi  botanica,  §§  339—3.57. 

2)  „Tanta  enim  hodierna  medicina  superbit  virium  medicinalium  copia ,  ut 
non  arcto  libello  capiatur,  sed  potius  proprio  pondere  ruat."  Linne,  Mate ria 
medica. 


Hjelt,  Linne  als  Arzt. 


5 


—    66  — 


diese  Sache  und  glaube  mit  Nutzen  für  meine  Studiosi,  dass  sie 
erfahren,  was  demonstriret  ist  und  was  nicht.  ^) 
Er  hat  daher  eine  grosse  Menge  Pflanzen  aus  dem  Kreise  der 
„offizinellen  Kräuter"  ausgeschlossen  und  die  Anzahl  der  Droguen, 
welche  die  Apotheker  verpflichtet  waren  zum  Gebrauch  vorräthig 
zu  halten,  in  wesentlichem  Maasse  A^erringert.  2)  Ueber  diesen 
Gegenstand  schreibt  er  an  Abrah.  Bäck : 

„Wir  können  in  unseren  Apotheken  recht  gut  folgende  ent- 
behren: Rd.  Pastinacae,  Saxifr.  alb.,  rubr.,  Herb.  Adianthi, 
Agerati,  Beccabungae,  Hb.  Perfoliatae,  Ptarmicae,  Pulsatillae, 
Flores  Beilid.  minor.,  Endiviae,  Sem.  Brassicae,  Calend.  etc. 

Sie,  mein  Freund,  welcher  im  Collegio  medico  der  Einzige 
ist,  der  etwas  thun  kann,  müssten  die  Pharmacopoeen  raffiniren.^) 
Ich  arbeite  Tags  Uber  mit  der  Materia  medica ,  um  simplicia 
flir  das  k.  Collegium  gut  aufgestellt  zu  bekommen,  eine  Menge 
schliesse  ich  aus  und  viele  werden  von  neuem  aufgenommen. "  ^) 
Linnö's  Materia  medica  ist  eine  seiner  wichtigsten  medizini- 
schen Schriften  und  fand  bei  seinen  Zeitgenossen  allgemeine  An- 
erkennung ;  er  schreibt  darüber : 

„Ich  erhielt  heute  Briefe  von  Gronovius  und  van  Royen,  mit 
mehr  Schmeicheleien  für  die  Materia  medica,  als  ich  von  der 
ganzen  Welt  jemals  zu  erhalten  hoffte.'- 
Sogar  A.  von  Haller  nennt  diese  Arbeit  „comraodissimum  prae- 
lectionibus  compendium,  inter  optima  auctoris".  Bei  ihrer  Ausarbei- 
tung holte  er  den  Rath  seiner  gelehrten  Freunde  ein  betreffs  mebre- 


^1  In  einem  Brief  an  Abr.  Bäck  vom  30.  Oct.  1749. 

-j  „Nostrates  medici  in  eo  sunt,  ut  dispensatorium  reformetur,  secundum 
quod  phai-macojoolae  tenentur  medicamenta  praestare.  Dedi  itaque  disserta- 
tionem  de  simplicibus  1)  exchidendis,  2)  de  introducendis.''  Im  Briefe  an  Sau- 
vages vom  15.  Jan.  1754. 

■'')  Im  Brief  vom  23.  Oct.  1749. 

*]  Im  Briefe  vom  24.  Sept.  1753.  Vgl.  die  Abhandlung  Linn^'s:  Censura 
medicamentorum  simplicium  vegetabilium  (1753). 
■')  Im  Brief  an  Abr.  Biiclc  vom  10.  Nov.  1749. 


—    67  — 


rer  darin  aufgeuommenen  Püauzen,  über  deren  Platz  im  System 
und  richtige  Bestimmung  er  nicht  sicher  war.  An  Bernhard  de 
Jussieu  schreibt  Linne : 

„Materiam  raedicam  (absoluta  Flora  Zeylanica)  edam  com- 
pendiosissimam ,  evitabo  omnia  quae  nec  propria  experientia  nec 
aliorum  fidi  casus  confirmarnnt.  Tu  qui  in  his  multrim  vales,  mihi 
unicam  vel  alteram  observationem  mittas ,  ut  liceat  honorificam 
tuara  facere  mentionem. 

Non  novi  ad  quaenam  genera  sequentes  sunt  referendae. 
Myrobalani  indae;  Chebulae,  Belliorcae,  Citrinae;  Anisum  stella- 
tum;  Gum.  elemi,  Sagapenum,  Carannae,  Bdellii,  Myi-rhae,  Oli- 
bani,  Ammoniac,  Opobalsamum,  Balsam,  penivianum,  Copaiva, 
Lignum  Aloes:  Sang.  Draconis,  Lign.  rhodium,  Simaruba.  Si 
novisti  herum  aliquam,  candide  et  amice  genus  mihi  dicas ;  pu- 
blicas  tibi  grates  agam."  i) 
Auch  an  A.  von  Haller  richtet  er  fast  dieselben  Fragen : 
Materiam  medicam  fere  absolvi ,  sed  Agallochum ,  Lignum 
Rhodium,  Carannam,  Elemi.  Sagapenum  s.  Ammonicum,  Myr- 
rham,  Thus,  Balsamum  peruv.,  Anisum  stellatum,  Myrobalanus 
Chebul.  Bellirric.  citrinum  non  novi ;  scilicet  plantas  unde  desu- 
mantur :  si  novisti,  quaeso  impertias."  2)  i  - 

Linne  suchte  seine  Arbeit  fortwährend  so  vollständig  als  mög- 
lich zu  machen  und  derselben  eine  den  Fortschritten  der  Wissen- 
schaft entsprechende  Form  zu  geben.  Diese  Verbesserungen  imd 
Zusätze  theilte  er  jedoch  nur  bei  seinen  Vorlesungen  öder  in  einzel- 
nen medizinischen  Abhandlungen  mit,  hatte  aber  die  Absicht,  eine 
neue  Auflage  herauszugeben,  „die,  wie  ich  hoffe,  anders  wird  als 
die  frühere. "-3) 

')  Im  Brief  an  Bernh.  de  Jussieu  vom  24.  April  17 17,  gedruckt  in  Me  moir  s 
of  the  American  Academy  of  arts  and  sciences.  N.  Sor.  Vol.  V. 
Cambridge  and  Boston  1 8.55,  S.  200. 

'■i;  Im  Brief  vom  2.3.  Oct.  1717  /bei  Stoever). 

Im  Brief  an  J.  A.  Murray  vom  24.  Jan.  1765.    (Eigenh.  Aufzeichn. 
S.  190.) 

5* 


—    68  — 


Mit  Bemitzung  der  hiuterlassenen  SammluDgeu  des  Vaterf* 
beabsichtigte  auch  sein  Sohii;  die  ..Materia  medica"  von  neuem  her- 
auszugeben, der  Plan  wurde  aber  durch  seinen  frühen  Tod  ver- 
eitelt. 1) 

Linne's  Materia  medica  gestattet  uns:  einen  tiefen  Einblick  in 
seine  Auffassung  des  praktischen  Zieles  der  Arzneikunst  zu  werfen, 
und  diese  Arbeit  besitzt  für  uns  ein  um  so  -grösseres  Interesse,  da 
sie  in  wesentlichem  Maasse  dazu  beigetragen  hat,  die  Liebe  für  und 
die  Einsicht  in  die  medizinische  Naturgeschichte  und  Pharmakologie 
ins  Leben  zu  rufen,  durch  welche  seit  langer  Zeit  die  Aerzte  und 
Apotheker  Schwedens  in  einer  so  hervorragenden  Weise  sich  aus- 
gezeichnet haben.  Betrachtet  man  die  Entwickeluug  der  medizini- 
schen Wissenschaft  in  Schweden  seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahi- 
hunderts  näher,  so  gelangt  man  unwillkürlich  zu  der  Ueberzeugung. 
dass  es  der  überwältigende  Einfluss  Linne's  war,  welcher  ihr  jenes 
naturwissenschaftliche  Gepräge  ertheilte,  das  sie  seitdem  getreu 
bewahrt  hat.  In  Folge  der  Richtung ,  die  der  grosse  Botaniker  der 
Wissenschaft  gab,  hat  die  seit  Jahrhunderten  existirende  Verbin- 
dung zwischen  Naturgeschichte  und  Medizin  sich  in  Schweden  län- 
ger erhalten,  als  Adelleicht  in  irgend  einem  andern  Laude,  und  zu 
beiderseitigem  Frommen  die  herrlichsten  Früchte  getragen. 

Linne's  Materia  medica  wurde,  wie  er  selbst  sagt,  „in  gratiam 
discipulorum  studiosorum  Upsaliensium"  herausgegeben  und  sollte, 
weil  sie  für  die  Aerzte  Schwedens  bestimmt  war,  hauptsächlich  die- 
jenigen offizineilen  Pflanzen  umfassen,  welche  in  die  vom  CoUegium 
medicum  1741  herausgegebene  Medizinalverordnung  aufgenommen 
worden  waren.  ..et  eas  quidem  omnes  uulla  exclusa,  quamvis 


1)  „Materiam  medicam  postea  edam,  sed  exspecto  adhuc  proxima  aestate 
varia  ex  America,  quae  emenda  commisi  Botauicis  meis  ibi  degentibus,  vellem 
quoad  ortum  ut  botanicus  nullius  pharmaci  originem  ignorare."  Im  Brief  an 
P.  D.  Giseke  vom  1.  Nov.  1779  (bei  Stoever). 


—    69  — 


nmltae  et  excludi  possent  et  deberent."  Doch  hat  Linne  geglai^ht, 
anch  einige  solche  Pflanzen  aufnehmen  zu  müssen,  deren  wirksame 
Eigenschaften  zwar  anerkannt  worden,  welche  aber  die  Aerzte 
nicht  das  Recht  hatten ,  als  in  den  Apotheken  vorräthig  vorauszu- 
setzen, weil  sie  in  der  eben  angeführten  Medizinalverordnung  fehlten, 
lieber  diese  wird  ein  besonderes  Verzeichniss  gegeben ,  in  welches 
unter  anderem  Rad.  Saleb,  Stipites  Dnlcamarae,  Herba  Liunaei, 
Uvae  ursi,  Muse,  islandic.,  Semina  Daturae,  Herba  Laurocerasi, 
Bacc.  Belladonnae,  Rad.  Senegae,  Cort.  Simarubae  aufgenommen 
waren.  Linne  hat  mit  der  ihm  eigenen  Klarheit  und  Kürze  bei  einer 
jeden  offizineilen  Pflanze  alles  angegeben,  was  von  derselben  in 
pharmakologischer  und  therapeutischer  Hinsicht  sich  sagen  lässt. 
Dadurch  wurde  seine  Materia  medica  ein  wirkliches  Handbuch  nicht 
nur  für  Schwedens  Aerzte,  sondern  auch  für  seine  Apotheker;  es  ent- 
hielt die  wichtigsten  und  zuverlässigsten  Aufschlüsse  und  verhalf, 
indem  es  sich  auf  die  „Flora  Suecica"  berief,  den  Apothekern  zur 
Kenntniss  derjenigen  Droguen,  die  im  eigenen  Lande  zu  erhalten 
waren.  Durch  die  Hinweisung  auf  den  „Hör tu s  Upsaliensis" 
bekamen  sie  Aufschlüsse  über  offizineile  Pflanzen,  die  Linne  mit 
mehr  oder  weniger  Erfolg  in  Schweden  einzuführen  und  zu  culti- 
vireu  gesucht  hatte,  „damit  die  Apotheker  weder  die  von  mir  unter- 
nommenen Versuche  vergeblich  wiederholen,  noch  aus  fremdem 
Lande  verschreiben  möchten ,  was  in  unseren  Gärten  ebensogut  wie 
in  den  ausländischen  wächst  und  gedeiht."  ')  Durch  sein  leb- 
haftes Interesse  für  die  Einführung  ausländischer  Medizinalpflanzen 
und  deren  Kultur  in  Schweden,  sowie  seine  fleissigen  Versuche. 


>;  Auf  Ersuchen  der  schwedischen  Akademie  der  Wissenschaften  lieferte 
Linne  in  den  Akten  1741,  S.  81  ff.,  einen  „Aufsatz  Uber  diej  enigeu  Me  - 
dizinalpflanzen,  die  in  den  Apotheken  vorräthig  sind  und  bei 
uns  im  Vaterlande  wachsen."  Hierher  gehört  auch  die  Abhandlung 
Plantae  officinales  (1753).  S.  A.  Hedin  erwähnt  in  seiner  Dissertation : 
,Quid  Linnaeo  Patri  debeat  medicina,"  Ups.  1784,  der  einzigen  Ab- 
handlung, welche,  soviel  mir  bekannt,  sich  mit  Linne  als  medizinischem  Schrift- 
steller beschäftigt,  seine  Verdienste  um  die  Pharmakologie. 


—    70  — 


durch  sorgfältige  Pflege  die  Eigenschaften  der  einheimischen  phar- 
mazeutisch en  Kräuter  so  zu  sagen  zu  verbessern  und  zu  veredehi. 
wurde  die  Anlegung  sog.  Medizinalgärten  in  den  Städten  befördert  J 
Auf  Grund  seiner  Erfahrungen  ertheilte  Linne  manche  wichtige  Auf- 
schlüsse, wie  die  offizineilen  Pflanzen  gesammelt  und  aufbewahrt 
werden  müssten ,  damit  sie  ihre  Eigenschaften  besitzen  oder  beibe- 
halten könnten.-^)  Ueber  die  medizinischen  Pflanzen,  die  botanisch 
noch  nicht  genau  bestimmt  worden ,  enthält  die  Materia  medica  be- 
sondere Angaben,  und  unter  den  Pflanzen  kommen  Benennungen 
vor,  welche  zu  ermitteln  der  Forschung  einer  späteren  Zeit  vorbe- 
halten blieb.  Bei  einer  jeden  Pflanze  findet  sich  kurz  angegeben  : 
ihr  Heimathland ,  die  Art  ihrer  Kultur  und  ihres  Wachsens ,  sowie 
ihre  pharmazeutische  Benennung,  ausserdem  die  in  Apotheken  be- 
nutzten Pflanzentheile  und  Präparate,  als  radix,  lignum,  cortex. 
folia,  flos,  fructus,  semina  et  aqua  destillata ,  oleum  stillatitium. 
oleum  empyreumaticum ,  Spiritus,  Extracte  u.  s.  w.  Die  Natur  und 
die  Eigenschaften  (qualitates)  der  Pflanzen  werden  nach  ihrem  Ge- 
ruch, Geschmack  und  äusseren  Aussehen  bestimmt;  ihr  höherer 
oder  geringerer  offizineller  Werth  vrird  bezeichnet  mit  den  Worten 
dubia,  infida,  eximia,  heroica,  trita,  usitata,  exoleta  etc.  Schliess- 
lich werden  die  verschiedenen  Krankheitszustände ,  in  denen  die 
pharmazeutischen  Pflanzen  zur  Verwendung  kommen,  genannt. 
Linne  sagt  jedoch,  er  habe  nur  solche  aufgenommen,  von  denen  zu- 
verlässige Verfasser  oder  er  selbst  wirklichen  Nutzen  gehabt,  und 
erzählt ,  vne  er  als  Arzt  am  Krankenhause  der  Marine  so  viel  als 
möglich  alle  Arzneimittel  geprüft :  „et  infida  atro  carbone,  tuta  albc 
calculo  notavi."  Nichtsdestoweniger  sah  er  sich  genöthigt,  in  zwei- 
felhaften Fällen  ein  Fragezeichen  hinzuzufügen ;  war  er  aber  von 
der  spezifischen  Wirkung  des  Mittels  überzeugt,  ein  Ausrufungs- 
zeichen.  Von  allen  zusammengesetzten  Arzneimitteln  hatte  Linne, 


'/  Hortus  Upsaliensis  I.  Ups.  174S.  Horticiiltura  acadeiuica  J751). 
-I  Obstaciila  mcdicinae  (1 752). 


—    71  — 


wie  er  selbst  sagt,  seine  besondere  Ansicht.  Was  er  sonst  von  den 
medizinischen  Eigenschaften  (vires)  der  Pflanzen  äussert ,  giebt  be- 
nierkenswerthe  Aufschlüsse  über  seinen  hohen  wissenschaftlichen 
Standpunkt  in  damaliger  Zeit.  Eine  jede  darauf  sich  beziehende 
Angabe  beruht,  seinem  Dafürhalten  nach,  ausschliesslich  auf  der 
Theorie  der  Wirkungsart  der  Arzneimittel ,  obschon  diese  Theorie 
recht  oft  rein  speculativer  Natur  ist.  In  seiner  Materia  medica  hat 
Linne  zugleich  eine  Anordnung  der  Pflanzen  nach  therapeutischen 
Gesichtspunkten  in  gewissen ,  von  der  Erfahrung  gut  geheissenen 
Klassen  gegeben.  Wir  wollen  hier  eine  Uebersicht  dieses  seines 
pharmakodynamischen  Systems  mittheilen.  ^] 


Classes. 


Ordines. 


Liquida 


Evaciiator  ia, 
e  corpore  exterminantia 


massam 


Nervina, 
in  nervös  agentia 


Orgastica. 
Convulsiva. 


Medica- 
m  e  n  t  a 
agunt 
vel  in 


<  Excitantia. 


Stupefacientia. 


Solida 


Phantastica, 
Eelaxantia. 


Muscularia, 
in  musculosas  fibras 
agentia 


Corrodentia. 
Si)irituosa. 


Corroborantia. 


Solido- 
Liquida 


Topica, 
extei'ne  applicabilia 


VisccTalia, 
viscera  petentia 


Seinen  Grundzligen  nach  liat  dieses  System  grosse  Aohnliclikcit  mit 
der  Aufstellung  Boerhaave's  in  dessen  Tractattis  de  viribus  med! ca- 
mentorum.  Ed.  secunda.  Parisiis  1726. 


—    72  — 


Dieser  rein  empirische  Eintheilungsgrund  für  ein  pharmakody- 
namisches  Pflanzensystem  wurde  jedoch  später  von  Linn6  aufge- 
geben, als  er  den  von  ihm  ausgesprochenen  Satz :  „was  Geschmack 
hat,  wirkt  auf  die  festen  und  flüssigen  Theile  des  Körpers,  was  Ge- 
ruch hat,  wirkt  auf  die  Nerven",  mehr  oder  weniger  consequent. 
durchzuführen  suchte.  ^)  In  diesem  Satz  ist  eine  unbewusste  Vor- 
stellung des  nothwendigen  und  nahen  Verhältnisses  zwischen  den 
medizinischen  Wirkungen  der  Pflanzen  und  deren  chemischen  Be- 
standth eilen  enthalten.  Es  war,  kann  man  sagen,  eine  dunkle 
Ahnung  des  Zieles,  zu  dem  die  Pharmakodynamik  streben  muss. 
Zufolge  des  unentwickelten  Standpunktes,  auf  welchem  die  Chemie 
sich  noch  befand ,  konnte  Linne  ebensowenig  wie  irgend  ein  An- 
derer gewisse  bestimmte  Kriterien  aufstellen  für  die  verschiedenen 
Grappen,  in  welche  die  Pflanzen  laut  diesem  Princip  hinsichtlich 
.ihrer  Wirkungen  eingetheilt  wurden.  Hier  gab  es  keinen  anderen 
Bestimmungsgrund ,  als  die  äusseren ,  in  die  Augen  fallenden  Er- 
scheinungen bei  den  einzelnen  Pflanzen  und  eine  so  zu  sagen  in- 
stinktive Auffassung  ihrer  Eigenschaften.  Er  ging  von  der  Voraus- 
setzung aus ,  dass  gewisse  Arzneimittel  auf  die  festen  Gewebe  ein- 
wirken könnten,  indem  sie  den  Zusammenhang  zwischen  deren 
kleinsten  Theilen  verminderten  oder  vergrösserten,  während  andere 
die  Fähigkeit  besassen,  theils  die  Beschaffenheit  der  Flüssigkeiten 
in  Bezug  auf  ihre  Zusammensetzung  und  Schärfe  zu  verbessern, 
theils  solche  Flüssigkeiten,  deren  Menge  für  den  Organismus  schäd- 
lich wäre,  auf  geeigneten  Wegen  zu  entfernen. — 

Da  Linne,  wie  bereits  früher  erwähnt  wurde,  fünf  verschiedene 
pathologische  Zustände  sowohl  in  den  Spannungsverhältnissen  der 

')  „Medicamenta  agunt  odorc  in  maternam  (seu  internam  et  nerveam)  par- 
tem  corporis,  sapore  in  paternam  (seu  externam  et  fibrosam)",  heisst  es  in  dev 
Abhandlung  ,.,De  Menthae  usu"  (1767).  ,,Linnaeus  medicamentorum  vires  sapore 
et  odore  dijudicandos  primus  rite  intellexit,  evicit  ac  erudito  aperuit  orbi.  '  5 
Vgl.  Medicamenta  graveolentia  (1758). 

■')  Sapor  medicamentorum  (1751). 


—    73  — 


festen  Theile,  als  auch  in  der  chemischen  Zusammensetzung  der 
Flüssigkeiten  des  Organismus  annahm ,  fand  er  auch  mit  Rücksicht 
auf  die  medizinischen  Eigenschaften  der  Pflanzen  fünf  verschiedene 
Arten  von  Geschmack  und  Geruch,  nebst  ihren  Gegensätzen.  Er 
betrachtete  überhaupt  die  FUnfzahl  als  den  Ausdruck  der  Vollen- 
dung der  organischen  Form,  und  sowie  die  Pflanzen,  deren  einzelne 
Blütenblätter  auf  diese  Zahl  zurückgeführt  werden  konnten ,  seiner 
Auffassung  nach  die  entwickeltsten  waren ,  ebenso  suchte  er  auch 
in  der  Gesammtheit  aller  Krankheiten  und  der  gegen  sie  ange- 
wandten Arzneimittel  diese  bedeutungsvolle  Zahl  wiederzufinden. 
Namentlich  in  seiner  „Clavis  medicinae"  tritt  dieser  Versuch 
hervor,  die  Arzneimittel  und  speciell  die  medizinischen  Pflanzen  in 
Bezug  auf  Geschmack  und  Geruch  der  FUnfzahl  unterzuordnen. 

Linne  nahm  verschiedene  Arten  von  Geschmack  an,  näm- 
lich den  wässrigen,  sauren,  fetten,  süssen  und  schleimigen  Ge- 
schmack, sowie  deren  Gegensätze,  den  trockenen,  bittern,  zusam- 
menziehenden, scharfen  und  salzigen.  Dieser  Eintheilung  nach 
zerfallen  die  Arzneimittel  und  speciell  die  Pflanzen  in  folgende 
Gruppen : 

1 )  A  q  u  0  s  a ,  welche  die  Flüssigkeiten  verdünnen  und  reinigen 
und  die  festen  Theile  feuchter  machen.  Zu  diesen  Arzneimitteln  ge- 
hören die  säuerlichen  Getränke  (acetaria),  die  bereitet  werden  „ex 
oleribus  et  fructibus  horaeis  s.  Melo,  Chamaemorus,  Fraga,  Cerasus, 
Prunus  alba  und  ausgepressten  Kräutersäften,  sowie  unter  den 
Pflanzen  Rad.  Rapae,  Brassicae,  Pastinacae,  Daucus,  Portulaca, 
Spinachia,  Taraxacum  etc. 

2)  Sicca  stärken  die  Fibern  des  Körpers  und  saugen  Flüssig- 
keiten auf,  wie  Lign.  Guajacum,  Sassafras,  Juniperi,  Rad.  Sarsae- 
parillae,  Chinae,  Semina  Pisi,  Fabae,  Phaseoli,  Ervi.  Sie  werden 
auch  äusserlich  gebraucht  bei  schwammigen  Wunden ,  wie  Semina 
Lycopodii,  Herbae  capillares. 

3)  Acida  wirken  auf  die  festen  Theile  verkleinernd  ein.  Ge- 
braucht man  saure  Mittel  im  Uebermaass .  so  entstehen  dadurch 


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Bleichsucht,  Leucorrlioea,  Hydrops  und  allgemeine  kachektische  Zu- 
stände. Auf  die  flüssigen  Bestaudtheile  des  Körpers  wirken  sie 
kühlend.  Zu  dieser  Gruppe  gehören  unter  den  Pflanzen  Citi'us.  Ber- 
beris,  Oxycoccus,  Vitis  idaea,  Kubus,  Tamarindus,  Acetosa  etc. 

4)  Amara  wirken  auf  die  festen  Theile  stärkend  und  werden 
daher  tonica  genannt:  sie  befördern  den  Appetit,  die  Digestion,  die 
Diaphorese  und  die  Körperwärme  und  stirauliren  das  Gefässsystem. 
Durch  ihre  balsamischen  Eigenschaften  verhindern  sie  Fäulniss  und 
Säurebildung  in  den  Flüssigkeiten ,  durch  welche  alle  Pflanzen  und 
Thiere  aufgelöst  und  zerstört  werden,  i)  Es  ist  eine  alte  Erfahrung, 
dass  Wermuth  das  Sauerwerden  des  Bieres  verhindert,  Hierher 
gehören  Fei  tauri ,  Aloe,  Myrrha,  Faha  St.  Ignatii,  Nüx  vomica. 
Quassia,  China,  Pareira,  Gentiana,  Centaurium,  Trifolium  aquati- 
cum,  Carduus  benedictus,  Tanacetüm,  Artemisia,  Absinthium  etc. 

5)  Pinguia  wirken  auf  die  festen  Theile  erweichend  und  auf 
die  Flüssigkeiten  einhüllend.  Durch  diese  ihre  Eigenschaft  stossen 
sie  den  Wundschorf  (Escara)  ab  und  vermindern  die  Schmerzen  in 
Wunden ,  sind  von  Nutzen  bei  Verbrennungen  und  lindern  Kolik 
und  Husten.  Beleibte  Menschen  sind  gewöhnlich  froh  gesinnt,  wäh- 
rend ältere,  magere  und  trockene  Personen  (rigidi)  oft  melancholisch 
sind  und  ein  unruhiges  Gemüth  besitzen.  Hierher  gehören  Oele. 
Sperma  ceti,  Vitellus,  Balsamum  copaivae,  Tolu.  opobalsamum. 
peruvianum,  Terebinthina. 

6)  Styptica  sind  zusammenziehende  Mittel:  zu  denselben  ge- 
hören Quefcus,  Acacia,  Uvaursi,  Tamarix,  Catechu,  Rad.  Bistortae, 
Tormentillae,  Caryophyllatae,  Pimpinellae.  Fructus  Granatum.  Cy- 
donia: '  • 

7)  Dulcia  machen  die  festen  Gewebe  nachgiebig  relaxando) 
und  versüssen  die  Flüssigkeiten  (edulcorando).'';  „Kein  Chylus  ist 

')  .,Ainari8  acida  et  piitrida  franguntur."  Lign.  Quassiae  (1763). 

2)  Sapor  medicamentorum  (1751). 

3)  ,,SoIida  incrassant  non  eodem  modo  ac  styptica  et  amara,  crassiores  qui- 
dem  reddendo  fibras,  sed  simul  laxas.  ' 


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nutrieus,  sobald  er  nicht  süss  ist."  Alte  Personen  und  diejenigen, 
deren  Fibern  steif  sind ,  thun  gut ,  Zucker  zu  essen,  wogegen  Kin- 
dern und  solchen,  deren  Gewebe  weich  und  nachgiebig  sind,  dessen 
übermässiger  Genuss  schädlich  ist.  Je  milder  die  Flüssigkeiten  des 
Körpers  sind,  desto  gesunder  ist  der  Mensch  und  auf  eine  desto 
längere  Lebenszeit  kann  er  hoffen.^)  Zu  den  dulcia  werden  ge- 
rechnet Lac  dulce,  Emulsiones,  Saccharum,  Syrupi,  Conserven,  Con- 
fectiones,  Mel,  Rad;  Liquiritiae,  Polypodium,  Cacao,  Amygdala  etc. 

8)  Acria  reizen  die  festen  Gewebe. und  machen  die  Flüssig- 
keiten scharf  (coiTodunt  solida  et  incidunt  humores).  Dieselben 
finden  da  Anwendung,  wo  die  Absonderungen  träge  und  die  Flüssig- 
keiten klebrig  sind ,  wie  „in  gewissen  morbi  soporosi  und  Kache- 
xien, bei  Hydrops,  Asthma  und  Scorbut. «  In  grosser  Menge 
genommen,  wirken  sie  erwärmend,  irritirend  und  sogar  zerstö- 
rend auf  die  kleinsten  Fibern.  Aeusserlich  angewandt,  rufen  sie 
Rothe  hervor,  und  bei  innerlichem  Gebrauch  werden  sie  aus  dem 
Körper  durch  dessen  Ausfuhrwege  ausgeschieden.  „Will  man  die 
Ausleerungen  des  Körpers  befördern,  so  muss  man  Acria  hinzu- 
fügen, wodurch  man  weniger  vom  Purgirmittel  braucht."  Zu  dieser 
Gruppe  zählt  Linne  Euphorbia,  Arum,  Capsicum,  Cicuta,  Ledum, 
Ranunculus,  Sinapis,  Armoracia,  Raphanus,  Allium.  Porrum,  Cepa, 
Scilla,  eine  Menge  Umbellaten  etc. 

9)  Mucosa  wirken  einhüllend  auf  die  festen  Theile  und  ver- 
mindern die  Schärfe  in  den  Flüssigkeiten  (agunt  in  solida  lubri- 
cando  et  in  fluida  acria  involvendo,  inviscando) .  Sie  finden  daher 
Anwendung  bei  Steinkrankheiten,  bei  Kolik,  Dysenterie,  Strangu- 
rie.  Heiserkeit  und  Husten  und  werden  benutzt  als  Emulsionen, 
Gargarismen,  Augenwasser  etc.  Zu  diesen  Mitteln  rechnet  Linne 
Semina  Ocymi,  Psyllii,  Cydonii,  Gmi  arabicum,  Cerasi,  Traga- 
canthae.  Radix  Pulmonariae,  Herb.  Malvae,  Althaeae,  Meliloti, 
Fructus  Caricae. 


')  Dulcia  nntriimt,  si  simul  mucosa  s.  pinguia. 


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10)  Salsa  irritiren  die  Gewebe  und  durchdringen  die  Flüssig- 
keiten (agunt  in  solida  irritando  et  fluida  penetrando) .  Sie  beför- 
dern die  Absonderungen  und  lösen  Schleim ;  im  Uebermaass  an- 
gewandt, wirken  sie  auf  das  Blut,  wie  bei  Scorbut,  so  dass  das- 
selbe aus  den  Gefässen  herausdringt.  Zu  dieser  Gruppe  von  Arznei- 
mitteln gehören  Sauerbrunnen  (acidulae),  Meerwasser,  Pisces  salsi. 
Salicornia,  Salsola,  Chenopodium  marit.  etc.  — 

Ebenso  wie  der  Geschmack  der  Arzneimittel,  nach  Linnes  Auf- 
fassung, einen  Fingerzeig  für  die  Beurtheilung  ihrer  Eigenschaften 
gab,  war  auch  der  Geruch  für  die  Entscheidung  ihrer  therapeu- 
tischen Anwendung  von  grosser  Bedeutung.  Es  ist  bereits  erwähnt 
worden,  dass  Linnö  den  allgemeinen  Satz  aufstellte,  dass  diejenigen 
Arzneimittel ,  welche  Geruch  besitzen ,  ihre  Wirkung  auf  und  durch 
die  Nerven  ausüben.  Er  ging  hiebei  von  der  physiologischen  Vor- 
stellung aus ,  dass  der  Geruch  durch  eine  Bewegung  innerhalb  der 
Nerven  hervorgerufen  werde.')  Analog  den  verschiedenen  Arten  de> 
Geschmacks  stellte  Linne  gleichfalls  zehn  Kategorien  von  Ge- 
ruch auf. 

1)  Ambrosiaca  verbreiten  einen  starken  erstickenden  Ge- 
ruch, wie  Ambra,  Moschus,  Vanilla,  Orchis,  Abelmosch  (Abel- 
moschus moschatus) ,  Matrisylva  (Asperula  odorata) ,  Balsama  plera- 
(fue.  -)  Es  wird  angenommen ,  dass  sie  vor  Ansteckung  schützen, 
sowie  anticontagiös  und  aphrodisiaca  seien.  Linne  führte  in  Schwe- 
den den  Gebrauch  von  Moschus  bei  der  Behandlung  exanthemati- 
scher  Fieberkrankheiten  ein,  und  nach  seiner  Angabe  wurde  der- 
selbe später  von  allen  Aerzten  mit  grösstem  Erfolg  angewandt, 

2)  Hircosa  haben  einen  stinlcenden  Geruqh ,  wie  Geranium, 
Vulvaria,  Linaria,  Valeriana,  Mentha,  Salvia.  Sie  sind  repellentia. 

3)  Fragrantia  verbreiten  einen  süssen  Geruch ,  wie  Flores 
citi*i,  aurantiorum,  tiliae,  violae,  rosae,  Lign.  Santali,  Lign.  Sassa- 


')  Odorea  medicamentoruni  (17.52). 

2;  Ambrosiaca  (1759).  Im  Brief  an  Sauvages  vom  15.  Jan.  1754. 


fras,  Crocus,  Rad.  Iris  florent.,  Rad.  Caryopbyllat.,  Herb.  Meliloti 
u.  3.  w.  Sie  wirken  beruliigeud  und  scblafbef ordernd. 

4)  Nidorosa  haben  einen  herben  Geruch,  wie  Humulus, 
Rosmarinns  Sylv.,  Vitex,  Absinthium,  Tanacetum,  Matricaria,  Hys- 
sopus,  Coffea  etc.  Sie  sind  grösstentheils  bittere  Stoffe  und  ver- 
ursachen, im  Uebermaass  gebraucht,  Rausch  und  Kopfschmerzen. 

5)  Spirantia  verbreiten  Kräutergeruch,  wie  Marum,  Thy- 
mus ,  Salvia ,  Melissa ,  sowie  eine  Menge  Verticillatae,  fermentata 
dosi  refracta  s.Vina,  Spiritus  destillatus,  Spiritus  salis  ammon.  Sie 
sind  Analeptica  und  vermehren  gewisse  Absonderungen ;  die  hier- 
her gehörenden  Pflanzen  besitzen  vertheilende  Eigenschaften ,  und 
ihre  Wirkung  liegt  nicht  in  ihrem  Safte  oder  ihrer  Substanz,  son- 
dern darin,  dass  sie  durch  ihren  Duft  (halitus)  auf  die  Nerven  wir- 
ken ;  solcherart  leiten  sie  die  Aufsaugung  in  geschwollenen  Theileu 
ein. ')  Durch  die  erhöhte  Nerventhätigkeit  entsteht  in  den  festen 
Theilen  eine  Bewegung  vor-  und  rückwärts ,  durch  welche  die  in- 
flammatorische Stasis  so  zu  sagen  zerschüttelt  und  verdünnt  wird.-) 

6)  Tetra  zeichnen  sich  durch  einen  „  verdriesslichen  und 
tibelstinkenden"  Geruch  aus,  wie  Papaver,  Opium,  Cimicifuga, 
Paeonia,  Sambucus,  Umbellatae  s.  Coriaudnim,  Anethum,  Conium, 
Cicuta,  Castoreum.  Bei  dem  Gebrauch  grösserer  Dosen  wird  die 
Pupille  erweitert  und  die  Iris  paralytisch ,  wodurch  eine  Verminde- 
nmg  der  Sehkraft  entsteht  (Scotomia) ;  öfter  benutzt ,  wirken  sie 
lähmend,  in  passenden  Gaben  aber  stillen  sie  Schmerzen  und  Spas- 
men. Namentlich  was  Opium  anbetrifft,  müssen  bei  Bestimmung 
der  Krankheitsfoimen,  in  denen  es  benutzt  werden  kann,  stets  die 
Krankheitsursachen  berücksichtigt  werden.  Linnö  giebt  den  wich- 
tigen Aufschluss ,  dass  man  für  Narcotica  die  Dosis  nicht  vergrös- 
sem  oder  deren  Gebrauch  nicht  fortsetzen  darf,  sobald  die  Pupille 
erweitert  wird  und  die  Augen  einen  ungewöhnlichen  Glanz  erhal- 


'  De  Menthaeusu  (1767). 
■2)  De  Maro  (1774). 


—    78  — 


tenJ)  Bereits  Kaij  hatte  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Wirkung  der 
Belladonna  auf  die  Pupille  gelenkt. 

7)  Aromatica  haben  einen  sog.  „Spezerei-Geruch",  wie 
Cinnamomum,  Cassia  lign.,  Canella  alb..  Laurus,  Camphora,  Ca- 
ryophyllus,  Myrtus,  Piper,  Cardamomum,  Zingiber,  Acorus,  An- 
gelica,  Gentiana  alba,  Carum,  Cyminum,  Petroselinum  mac,  Cere- 
folium,  Foeniculum,  Anisum  stellatum  etc.  Sie  beschleunigen  die 
Blutbewegung. 

8)  Nauseosa  verbreiten  einen  Ekel  erregenden  Geruch.  Sie 
sind  theils  a mar a,  wie  Aloe,  Elaterium,  Colocynthis  extr.,  Bryo- 
nia,  Scammonium,  Senna,  Gratiola,  theils  acria,  wie  Veratrum, 
Helleborus,  Jalapa,  Ipecacuanha,  Sambucus,  theils  styptica,  wie 
Rheum,  Lapathnm,  theils  acida,  wie  Tamarindus,  theils  dulcia, 
wie  Cassia  fist. ,  Polypodium,  Dulcamara.  Die  hierher  gehörenden 
Mittel  sind  emetica,  cathartica,  diuretica,  sudorifera,  errhina. 

9;  Orgastica  haben  einen  stechenden  Geruch,  wie  Scilla. 
Allium,  Cepa,  Porrum,  Scordium,  Alliaria,  Thlaspi,  Armoracia. 
Sinapis,  Raphanus,  Nasturtium,  Erysimum,  Asa  foetida,  Ammo- 
niacum. 

10)''Virosa  zeichnen  sich  durch  einen  eigenthümlich  scharfen 
Geruch  aus,  wie  Datura,  Hyoscyamus,  Belladonna,  Solanum,  Ta- 
bacum,  Arnica,  Cannabis. 

Ausser  dieser,  mit  Rücksicht  auf  Geschmack  und  Geruch  ge- 
ordneten &rüppirung  der  in  der  Arzneikunst  augewandten  Pflan- 
zen findet  man  in  dem  pharmakodynamischen  System  Linne's  noch 
weitere  zehn  Abtheilungen,  grösstentheils  die  bereits  angeflihrten 
Kräuter  enthaltend,  aber  theils  nach  äusseren  Kennzeichen  auf- 
gestellt ,  theils  auf  Grund  gemeinschaftlicher  medizinischer  Eigen- 
schaften zusammengesetzt.  Schon  in  der  Philosophia  bota- 
nica  hatte  Linne  erwähnt,  dass,  abgesehen  von  dem  Geschmack 
und  Geruch ,  die  Farbe  der  Pflanzen  bei  Beurtheilung  ihrer  medi- 


ij  OpiutB  (1775). 


—    79  — 


zinischen  Anwendbarkeit  nicht  ganz  ohne  Bedeutung  sei.  Wir 
finden  daher  unter  diesen  Abtheiluugen  eine  Gruppe,  die  Linn6 
Colorata  nennt,  und  bei  welcher  er  hinzufügt,  dass  die  rothen  Pflan- 
zen gewöhnlich  styptica  sind  und  die  Ausleerungen  verhindern,  wie 
Catechu,  Bistorta,  Tormentilla,  Rosae  rubr.  fl. ,  dass  die  gelben 
(lutea)  auf  die  Galle  Avirken ,  wie  Berberis ,  Frangula,  Gmi  gutta, 
Crocus,  Rheum,  Lapathum,  und  dass  die  schwarzen  Pflanzen  Blut- 
flüsse stillen,  wie  Hypocistis,  Fungus  melitensis,  Orobus  niger, 
Anacardium.  Man  wird  hiebei  unwillkürlich  an  die  Signaturlehre 
von  Paracelsus  erinnert.  Man  dachte  sich  nämlich,  dass  die  äussere 
Form- und  das  Aussehen  der  Pflanzen  ein  Ausdruck  für  die  ihnen 
innewohnende  Kraft  seien,  und  dass  man  bei  genauer  Beobachtung 
gewisser  Eigenthümlichkeiten  in  ihrem  Bau  etwas  den  Krankheits- 
symptomen, gegen  welche  sie  angewandt  werden.  Entsprechendes 
finden  würde.  Diese  aus  dem  vorhergehenden  Jahrhundert  her- 
stammenden, im  Geist  der  damaligen  Zeit  tief  wurzelnden  aber- 
gläubischen Vorstellungen  werden  an  mehreren  Stellen  in  Linne's 
Schriften  zwar  bekämpft,  aber  der  Gedanke  kehrt  dessenunge- 
achtet unter  der  einen  oder  anderen  Form  oft  wieder.  So  werden 
als  Toxica,  welche  hinsichtlich  ihres  Geschmacks  acria  corrosiva 
sind  oder  hinsichtlich  ihres  Geruchs  den  Tetra ,  Nauseosa  und  Vi- 
rosa  angehören,  „ lactescentia  pleraque,  polyandrae  polygonae 
(ord.  natur.  XXVI],  luridae  omnes  (ord.  natur.  XXVIII],  contortae 
omnes  [ord.  natur.  XXX),  tricoccae  omnes  (ord.  natur.  XXXVIII), 
umbellatae  aquaticae"  und  gewisse  Liliaceen  aufgenommen.  Der- 
gleichen phannakodynamisch  zusammengestellte  Gruppen  sind  fer- 
ner die  Lactariae,  „welche  die  Milch  in  der  Brust  färben  oder 
verändern",  die  Urinariae,  Anthelminthica,  Phthiriaca 
und  Exanthematica.  Die  Ordnung  Causaria  enthält  sogar 
eine  Menge  medizinischer  Pflanzen ,  zusammengestellt  nach  den 
verschiedenen  Krankheitszuständen,  in  denen  sie  gebraucht  werden. 
Die  Namen  Crepitantia  und  Lactescentia  beziehen  sich  auf 
die  äusseren  Eigenschaften  der  zu  ihnen  gehfirenden  Pflanzen.  — 


—  so  — 


Linnes  Materia  medica  wurde  in  Deutscliland  in  mehreren  Auf- 
lagen von  seinem  Schüler  J.  Chr.  D.  Schreber  herausgegeben,  wel- 
cher hiebei  nicht  allein  Aufklärungen  und  Eathschläge  von  Linn6 
selbst,  der  „seine  Aufmerksamkeit  auf  Umstände  lenkte,  die  vor- 
zugsweise beachtet  werden  müssten",  sondern  auch  Notizen  nach 
seinen  Vorlesungen,  „quarum  a  variis  amicis  omni  diligentia  calamo 
exceptarum  copia  mihi  fuit",  benutzte.  In  Schreber  s.  Ausgabe  sind 
ausserdem  sowohl  die  offizineilen  Stoffe  enthalten,  die-  aus  dem 
Thier-  und  Pflanzenreich  genommen  werden  und  die  Linne  in  zwei 
besonderen  Abhandlungen  beschrieben  i) ,  als  auch  die  Pflanzen, 
welche  nachLiune's  Ansicht  unter  die  Venalia  aufgenommen  werden 
müssten ,  alles  nach  „Speeles  plantarum",  „Systema  naturae"  und 
„Mantissae"  geordnet.  Hinsichtlich  der  Eigenschaften,  Wirkungen 
und  Anwendung  der  Pflanzen  hat  Schreber  zahlreiche  Zusätze  ein- 
geführt: wie  er  selbst  sagt,  alles  jedoch  weggelassen,  was  Linne 
wahrscheinlich  nicht  gebilligt  hätte.  -)  Linne  scheint  indessen  mit 
der  von  Schreber  besorgten  Ausgabe  nicht  ganz  zufrieden  gewesen 
zu  sein,  denn  er  schreibt  an  Abr.  Bäck : 

„Vor  kurzem  habe  ich  Materiam  medicam  erhalten,  auf- 
gelegt in  Leipzig,  sehr  wenig  und  fast  gar  nicht  verändert.  Hätte 
ich  sie  auflegen  können,  so  wäre  sie  gewiss  eine  andere  ge- 
worden." 3) 

Seinem  Schüler  und  Freunde  Prof.  Andr.  Murraj  in  Göttin- 
gen schreibt  Linne : 


^)  Materia  medica  in  regno  animali  (1750).  —  Materia  medica  in  regno  lapi- 
deo  (1752). 

2)  Caroli  Linnaei  Materia  medica  per  regna  tria  naturae. 
Ed.  altera,  auctior.  Curante  J.  Chr.  D.  Schrebero.  Lips.  et  Erlang.  1772.  S». 
—  Ein  Abdruck  dieser  Auflage  wurde  in  Wien  1774,  80  herausgegeben.  —  Fer- 
ner eine  Auflage  in  Leipzig  und  Erlangen  1782.  8».  —  Ed.  quinta,  auctior.  Ed. 
J.  Chr.  D.  Schreberus.  Lips.  et  Erl.  1787.  Schon  vor  den  Schreber'schen  Auf- 
lagen soll  Linnö's  Materia  medica  1762,  SO  in  A^'enedig  von  L.  Tessari 
herausgegeben  worden  sein,  eine  Arbeit,  die  ich  jedoch  nicht  gesehen  habe. 

3)  Im  Brief  vom  12.  März  1773. 


—    81  — 


„Ich  habe  gehört,  dass  Prof.  Schreber  meine  Materia  medica 
herausgegeben  hat,  es  wundert  mich,  dass  er  mir  nicht  ein  Exem- 
plar zugeschickt;  hat  er  darin  etwas  neues  hinzugefügt?^)  —  Ich 
höre,  dass  Herr  Prof.  Schreber  meine  Materiam  medicam  heraus- 
gegeben ,  habe  sie  aber  nie  zu  sehen  bekommen ,  was  von  ihm 
inraisonable  ist.2) 
Die  von  Linne  eingeführte  Richtung  und  Methode  für  die  Be- 
arbeitung der  „Materia  medica"  ward  später  von  mehreren  Ver- 
fassern aufgenommen,  die  alle  mehr  oder  weniger  seinem  Beispiel 
folgten.  Vondiesennennen  wirnur  J.  Gr.  Grleditsch,  J.R.  Spiel- 
mann, J.  Andr.  Murray  und  P.  J.  Bergius.^)  — 

Aus  der  vorstehenden  Darstellung  wird  man  sehen ,  dass  die 
Pharmakodynamik  oder,  richtiger  gesagt ,  die  Lehre  von  der  An- 
wendung der  medizinischen  Gewächse  in  der  praktischen  Heilkunst, 
für  Linne  ein  Lieblingsthema  war,  womit  er  sich  gern  beschäftigte 
und  zu  welchem  er  stets  zurückkehrte.  Ueberblickt  man  die  medi- 
zinische Literatur,  so  kann  man ,  ohne  zu  übertreiben ,  behaupten, 
dass  es  sein  Verdienst  ist,  nicht  nur  diesen  wichtigen  Theil  der 
medizinischen  Wissenschaft  geordnet  und  gesichtet,  sondern  zu- 
gleich durch  die  systematische  Behandlung  desselben  den  Grund  zu 
seiner  selbständigen  Entwickelung  und  Bearbeitung  gelegt  zu  haben. 

Linn6's  Interesse  für  die  Pharmakologie  offenbart  sich  in  den 
zahlreichen  Abhandlungen,  in  denen  er  innerhalb  dieses  Gebiets 

')  Im  Brief  vom  26.  Oct.  1772. 
2)  Im  Brief  vom  15.  Febr.  1773. 

3]  Die  zum  grossen  Theil  unbefugten  Anmerkungen ,  welche  Vicq-d'Azyr 
in  seiner  „Eloge  de  Mr.  de  Linne"  gegen  seine  Materia  medica  (und  Ge- 
nera Morbonim)  macht,  widerlegt  C.  M.  Blom  in  Sämling  af  rön  och 
upptäckter,  gjorde  i  senaretider  uti  physik,  medicin,  Chirur- 
gie u.  s.  w.  I.    Gütheb.  1781.  S.  257—284. 

*)  Deberent  vestrates  medici  Wiennenses,  qui'omnia  tentant  in  morbis  de- 
speratis,  et  imprimia  tentare,  quid  hae  duae  plantae  (Gliome  gigantea  et  Lobelia 
longiflora)  valercnt,''  schreibt  Linne  an  N.  J.  Jacquin  im  Brief  vom  9.  Oct.  1769, 
gedruckt  in  Caroli  Linnaei  Epistolae  ad  Nie.  Jacquin,  ex  auto- 
graphis  ed.  C.  N.  a  Schreibers.  Vindobon.  1841. 

Hjelt,  Liniiü  als  Arzt.  () 


—   82  — 


liegende  Fragen  behandelt.  Er  bearbeitete  in  diesen  Schriften  theils 
grössere  Abtheilnngen  seines  pharmakologischen  Systems  ausführ- 
lich ,  theils  beschrieb  er  die  Naturgeschichte  und  die  medizinischen 
Eigenschaften  einzelner  wichtiger  Pflanzen.  Von  diesen  Abhand- 
lungen mögen  erwähnt  werden  die  „Medicamenta  graveo- 
lentia"  (1758),  in  welcher  er  die  hierher  gehörenden  Pflanzen  in 
subinsipida,  acria  und  amara  eintheilt;  eine  jede  dieser  Gruppen 
zerfällt  wiederum  in  zwei  Ordnungen,  fortiora  und  debiliora.  Zu 
den  graveolentia  subinsipida  fortiora  werden  solche  Pflanzen  ge- 
rechnet, wie  Datura,  Hyoscyamus,  Tabacum,  Mandragora,  Bella- 
donna, Dulcamara,  Cannabis,  während  Orobus,  Calendula,  Nerium, 
Viola  und  Tilia  die  Ordnung  debiliora  bilden.  Zu  den  graveolentia 
acria  fortiora  gehören  Valeriana  major  et  minor,  Iris,  Jalapa,  Colchi- 
cum, Paeonia,  Aconitum  u.  s.  w.  Graveolentia  amara  fortiora  be- 
stehen unter  anderen  aus  Nux  vomica,  Aloe,  Rhabarbarum,  Senna, 
Colocynthis  u.  s.  w.  Ein  grosser  Theil  der  graveolentia  sind  sopori- 
fera,  narcotica,  anodyna.  während  andere  repellentia  und  purificantia 
sind.  Sie  wirken  theils  auf  die  Gefühls-,  theils  auf  die  Bewegungs- 
nerven. In  einer  späteren  Arbeit  „Medicamen,ta  purgantia" 
(1775)  werden  ferner  die  verschiedenen  Gruppen  der  graveolentia 
behandelt,  welche  zunächst  angewandt  werden,  um  die  Auslee- 
rungen des  Körpers  zu  befördern.  Sie  gehören  grösstentheils  zu  der 
Ordnung  Nauseosa  und  zerfallen,  ihren  physiologischen  Wirkungen 
nach,invomitoria,  purgantia proprie  sie  dicta,  diaphoretica,  diuretica, 
emmenagoga ,  sialagoga  und  sternutatoria.  Hier  wird  die  Ansicht 
ausgesprochen,  dass  Abführmittel  benutzt  werden  müssen,  nicht  nur 
um  unverdaute  Ansammlungen  aus  dem  Darmkanal  zu  entfernen, 
durch  deren  Gährung  und  Zersetzimg  Krankheiten  entstehen,  sondern 
auch  um  die  Natur  zu  unterstützen  in  ihrem  Bestreben,  den  Körper 
und  namentlich  die  Blutmasse  von  schädlichen  und  überflüssigen 
Stoffen  zu  befreien.  Die  Natur  führt  dies  um  so  leichter  aus,  wenn 
ihr  von  der  Kunst  hierbei  nachgeholfen  wird ,  und  sobald  ihr  ein 
Ausweg  eröffnet  worden,  beseitigt  sie  ohne  Schwierigkeit  Alles. 


—    83  — 


was  für  sie  niclit  geeignet  ist.  Die  Natur  strebt  stets  danach ,  den 
Krauklieitsstoff  nach  einer  angegriffenen  Stelle  zu  versetzen. ') 
Rhamnus  frangnla  wird  besonders  gelobt,  obgleich  die  Rinde  dieses 
Baumes  in  damaliger  Zeit  mehr  vom  Volk,  als  von  den  Aerzten  ge- 
braucht wurde ;  ihre  Wirkung  ist  zuverlässig  und  bei  [Benutzung 
derselben  bedarf  es  keiner  Vorsichtsmaassregeln.  Der  Rhabarber  ist 
ein  Tonicum  bei  Schwächezuständen  im  Venti-ikel  und  im  Darm- 
kanal und  wirkt  auf  die  Leber,  weshalb  Tinctura  (anima)  rhei  von 
älteren  Aerzten  Anima  hepatis  benannt  wurde.  Von  einheimischen 
Pflanzen ,  die  lösende  Eigenschaften  besitzen  und  welche  die  viel- 
fach theureren  ausländischen  Arzneimittel  ersetzen  können,  werden, 
ausser  Rhamnus  frangula,  auch  Rh.  catharticus,  Linum  catharticum, 
Eui)atorium  cannabinum,  Genista  tinctoria,  Prunus  spinosa,  Berbe- 
ris  vulgaris,  Convolvulus  sepium ,  Valeriana  officinalis,  Bryonia 
alba ,  Sambucus  ebulus  (purgans  hydragogum) ,  Liehen  aphthosus 
(Flor.  Suec.  1098)  etc.  aufgenommen.  Von  kultivirten  Pflanzen, 
welche  das  Klima  verti'agen,  werden  genannt  Gratiola  officinalis, 
Asarum  europaeum,  Rheum  palmatum,  Mirabilis  longiflora,  Momor- 
dica  elaterium.  —  Die  therapeutische  Anwendung  von  Mentha  ist 
Gegenstand  einer  besonderen  Abhandlung  (1767),  und  in  dieser  Ar- 
beit entwickelt  Linn6  seine  Ansicht  von  dem  Geruch  der  Pflanzen 
näher.  Seine  Anschauung  von  der  Wirkung  der  Spirantia  ist  be- 
reits früher  erwähnt  \yorden.  Jede  Entzündung  ist  begleitet  von 
einem  qualvollen  Gefühl  oder  Schmerz,  denn  „die  gespannte,  nahezu 
zen-eissende  Fiber  schmerzt."  In  Entzündungskrankheiten  wird  da- 
Iier  Mentha  gebraucht ,  um  die  Thätigkeit  der  Nerven  zu  erregen, 
wodurch  die  Entzündung  gelöst  und  der  Schmerz  aufgehoben  wird. 
Auch  die  Fibern,,  welche  ihre  Elasticität  verlieren,  sobald  sie  nicht 
unter  dem  Einfluss  der  Nerven  stehen ;  erhalten  durch  dieses  Mittel 
ihre  Spannkraft  wieder.  Auf  diese  Weise  lässt  sich  die  Wirkung 


')  .,Qua  data  porta,  incongrua  ista  felicius  exterminat  natura.  lila  enim  ad 
locum  aflfectum  materiam  deducere  stiulet  morbosani." 

6* 


—    84  — 


der  Carmiuativa ,  unter  cleueu  Mentha  einen  liervon-agenden  Platz 
einnimmt ,  bei  Kolikleideu  und  Blähungen  im  Darmkanal  erklären, 
wenn  die  Fibern  in  den  Wandungen  desselben  erschlafft  sind. 
Mentha  verhindert  das  Entstehen  von  Säure  bei  Ammen ,  und  mau 
nimmt  an,  dass  sie  die  Bildung  von  Milch  und  Käse  vermindert:  sie 
wird  mit  Vortheil  benutzt  bei  Hysterie,  welche  oft  auf  Stönmgen  in 
den  Geschlechtsorganen  beruht,  und  soll  ein  kräftiges  Mittel  zur 
Herbeiführung  von  Unfruchtbarkeit  sein ,  weshalb  schon  Aristoteles 
den  Rath  gab,  „mentham  tempore  belli  nec  edito,  nec  bibito." 

Nachdem  Linne  die  Quassiarinde  von  Dr.  Dahlberg  erhalten, 
führte  er  sie  in  die  Therapie  ein  unter  den  bitteren  und  tonisireudeu 
Stoffen  zur  Behandlung  der  intermittenten  und  exacerbirenden  Fie- 
berkrankheiten. Er  schreibt  darüber  : 

„Ich  habe  Eadix  Quassiae  gegen  Upsala-Fieber  versucht  und 
sie  unvergleichlich  gefunden."  ^) 

Mehrere  andere  Pflanzen  wurden  zu  Linn6's  Zeit  unter  die  Zahl 
der  Arzneimittel  aufgenommen.  So  finden  wir,  dass  das  Infus  von 
Blättern  der  Linnaea  gegen  Rheumatismus  gepriesen  wird,  und 
Linne  sagt,  er  habe  diese  Pflanze  in  der  genannten  Krankheit  ebenso 
specifisch  gefunden,  wie  China  bei  kaltem  Fieber.  Darüber 
äussert  er : 

„Iii  nosocomiis  classis  navalis,  quorum  medicus  primarius 
sum,  innumeris  casibus  expertus  sum  vires  plantae,  quam  Lin- 
naeae  nomine  indigitavit  Gronovius,  eamqne  certo  Rheumatismum 
tollere,  si  per  octiduum  propinetur  foliorum  infusum,  ac  China  in 
febribus."  2] 

')  lu  einem  Briefe  an  Abr.  Bäck  vom  22.  März  1763.  —  Ligniim  Quassiae 
(1763). 

2)  In  einem  Briefe  an  Bernh.  de  Jussieu  vom  5.  Febr.  1740,  gedruckt  in 
Memoirs  of  the  American  Academy  etc..  Vol.  V,  S.  190.  Dieselben 
Aeusserungen  findet  man  in  Briefen  an  Sauvages  vom  21.  Januar  1740  und  in 
einem  anderen  (1762),  worin  erzählt  wird,  dass  Linnaea  in  allen  dänischen  Apo- 
theken vorräthig  ist.  Die  von  Gronov  nach  Linu6  benannte  Pflanze  erliielt 
gleichzeitig  von  Linnö's  Gegner  Siegesbeck  den  Namen  Obolaria,  um  den 
geringen  Werth  seiner  botanischen  Arbeiten  anzudeuten. 


—    85  - 


Mit  Spigelia  anthelmia  stellte  Linii^  Versuclie  gegen  Würmer 
mit  Erfolg  an. ')  Den  Gebrauch  .von  Senega  bei  der  Behandlung  von 
Brustkraukheiten  führte  Linn6  in  Schweden  ein  und  theilt  verschie- 
dene Fälle  aus  seiner  Praxis  mit ,  in  denen  dieses  Arzneimittel  von 
augenfälliger  Wirkung  gewesen  war.  Bemerkenswerth  ist ,  dass  er 
auf  Grund  der  in  Amerika  erworbenen  Erfahrungen  Senega  gegen 
Schlangenbiss  empfiehlt.  Als  entsprechende  schwedische  Pflanze 
wird  Polygala  vorgeschlagen.  2) 

Zu  denjenigen  Droguen,  deren  Einführung  in  die  Medizin  Linne 
sich  als  vorzügliches  Verdienst  anrechnet,  gehört  Solanum  Dul- 
camara.  Es  giebt  keine  Pflanze  in  der  ganzen. Materia  medica, 
äussert  er,  die  bei  der  Behandlung  von  Gicht ,  Scorbut ,  Gelbsucht 
und  Rheumatismus  mit  diesem  Mittel  verglichen,  geschweige  denn 
demselben  vorgezogen  werden  kann.  3)  Mit  besonderem  Erfolg 
brauchte  er  Dulcamara  gegen  Syphilis  und  deren  Folgen  und  er- 
zählt selbst ,  wie  ein  schwedischer  Edelmann ,  der  da  glaiibte ,  er 
könne  im  eigenen  Lande  von  dieser  Krankheit  nicht  befreit  werden, 
nach  dem  südlichen  Frankreich  gereist  war,  um  Sauvages  zu  con- 
sultiren ,  und  von  diesem  den  Rath  erhielt,  Dulcamara  zu  brauchen 
nach  Linn6's  Anweisung ,  die  er  durch  eigene  Erfahrung  bestätigt 
gefunden  habe.  Die  Behandlung  von  Syphilis  mit  vegetabilischen 


')  Im  Brief  an  Stiiivages  vom  22.  April  175ö. 

-)  Radix  Senegae  (1749).  Im  Brief  an  Sauvages  vom  24.  Febr.  1756.  In  der 
Abhandlung  „Spelcifica  Canadensium"  (1756),  S.  28,  schreibt  Linnö  es 
dem  Gebrauch  von  Senega  zu,  dass  er  von  einer  Peripneumonie  hergestellt 
wurde,  und  in  der  Dissertation  ,,de  Morsura  Serpentum'-  (1762)  wird  S.  17 
erzählt,  dass  er  ein  Weib  von  den  Folgen  eines  Schlangenbisses  durch  den  Ge- 
brauch von  Senega  in  der  Form  von  Pulver  geheilt  habe. 

•'')  De  Dulcamara  (1771).  „Dulcamara  ward  durch  Versuche  besonders  spe- 
cifique  in  lochiis  retentis ,  Arthritide  vaga,  rheumatismis  befunden ;  nur  ergiebt 
sich  der  Uebelstand ,  dass  sie  den  Magen  grawirt  und  Ekel  erregt,  etwas  laxirt 
und  den  Appetit  ein  wenig  benimmt,  namentlich  anfangs,  bevor  man  sich  daran 
gewöhnt;  mit  Milch  getrunken ,  gravirt  sie  weniger.''  Im  Brief  an  Abr.  Bäck 
vom  21.  Nov.  1746. 


L 


—    86  — 


Arzneimitteln  war  eine  Frage,  die  Linn6  überhaupt  in  hohem  Grade 
inte.ressirte.  Er  schreibt  an  Bernh.  de  Jussieu: 

„Kalmius  autem  noster  redibit  ex  America  proximo  vere.  Ille 
■  detexit  nobis  stupendam  medicinam ,  specificum  scilicet  Indoruni 
sylvestrium  contra  luem  veneream,  quam  extollit  tanquam  medica- 
mentum  nunquam  incassum  propinatum ;  ut  eo  aegri  semiputridie 
lue  intra  10  vel  16  dies  perfecte  curati,  absque  incommodo  absque 
dolore;  dum  e  contra  quamplurimi  methodo  usitata  mercuriali 
saepe  diem  curantur  dolorifice,  pereunt  sub  cura.  At  vero  novum 
medicamentum  curat  absque  recidiva,  absque  dolore,  absque  diffi- 
cultate,  absque  ulla  fere  observatione  in  diaeta.  Gerte  si  Helve- 
tius  vester  hanc  medicinam  detexisset,  integros  auri  montes  a  rege 
vestro  reportasset.  Est  haec  medicina  radicis  Geauothi  ame- 
ricani  infusum.  cui  additur,  si  morbus  sit  nimis  radicatus,  „ra- 
dix  Ranunculi  fol.  subrotundo  virginici",  flore  parvo  Henn.  Lugdh. 
514  (Ranunculus  abortivus  L.  Sp.). 

Hoc  infusum  s.  debile  decoctum  hauritur  mane,  vacuo  ventri- 
culo,  si  vero  purgat,  tam  insequentibus  diebus  parciori  dosi  et 
debiliori  infuso.  Radix  Ranunculi  tarnen  parcissime  addenda, 
cum  illa  ventriculo  infesta  sit. 

In  debiliori  morbo  sufficiunt  solae  radices  Lobeliae  secundae 
Hort.  Cliff.  (Lobelia  syiihilitica)  in  infuso  s.  decocto,  non  diu  de- 
cocto,  et  quotidie  pro  potu  ordinario  poto." 
Jussieu  antwortet  darauf : 

„  Kalmius  alter  discipulus  pretiosam  ex  America  mercedem 
tibi  renuntiavit,  specificum  Indorum  sylvestrium  adversus  luem 
veneream,  medicamentum  nobile  experimeutis  et  observationibus 
saepe  confirmatum ,  cujus  vires  eximiae  probantur  facili  medica- 
tione  et  prompta  morbi  hujus  curatione.  Optandum  superest.  ut 


'j  Im  Brief  aus  Upsala  1750  (ohne  Datum),  gedruckt  in  Memoirs  of  the 
American  Academy  etc. 


—    87  — 


eosdem  sahitares  apud  uos  sortiatur  eflfectus,  mediciua  aegris  tau- 
topere  utilis."  ') 

Scherzhaft  schreibt  Liuu6  wegen  dieser  Pflanze  seinem  Freunde 
Ahr.  Bäck: 

„Ich  bin  besorgt  um  Ceanothus,  nachdem  ich  von  Kalm 
ihre  Kraft  erfuhr,  und  habe  dem  Gärtner  befohlen ,  täglich  nach- 
zusehen, damit  ich  im  Stande  wäre,  Ihnen  zu  dienen,  falls  ein 
Unglück  sich  ereignen  sollte,  ich  besitze  aber  nur  drei  Exemplare. 
Sobald  Sie  verheirathet  worden,  bin  ich  diese  Sorge  los."  2) 
Dass  Linne  sich  übrigens  mit  venerischen  Krankheiten  befasst 
haben  sollte,  ist  wenig  wahrscheinlich.  Vielleicht  war  sein  Interesse 
für  die  Heilung  derartiger  Uebel  eine  Erinnerung  au  seine  erste  ärzt- 
liche Thätigkeit.   Er  schreibt  in  Bezug  darauf  an  Ahr.  Bäck : 

„Mein  Remedium  gegen  Movbos  syphiliticos  ist  im  Auslande 
probiret  worden  und  hat  sich  ungemein  bewährt,  sowohl  in  Syphi- 
litide  vera,  als  auch  in  Gonorrhoea."^) 
Die  Zusammensetzung  von  Guy's  berühmtem  Mittel  gegen  Krebs, 
dessen  Bestandtheile  nicht  bekannt  waren  ,  behauptet  Linne  ent- 
deckt zu  haben.   Die  Haut  zunächst  der  Wunde  ist  in  geeigneter 
Weise  blosszulegen  und  das  Pulver  dort  einzustreuen ,  wodurch  der 
kranke  Theil  von  dem  gesunden  abgestossen  wird  und  zuletzt 
wegfallt.  Er  erzählt.  Viele  seien  in  dieser  Art  geheilt  worden.  ')  — 
Folia  uvae  ursi,  von  Sauvages  gegen  Krankheiten  der  Harnwege 
empfohlen,  wurden  von  Linn6  in  die  Praxis  der  schwedischen  Aerzte 
eingeführt.  ^)  —  Ueber  die  Benutzung  von  Conium  gegen  chronische 
Anschwellung  der  Lymphdrüsen  schreibt  er:  „der  bisher  geprie- 
sene Gebrauch  von  Conium  und  Cicuta  beginnt  abzunehmen."  — 

I,  Iiu  Brief  an  Linne,  dat.  Paris  den  19.  Febr.  17.51,  dieselbe  Arbeit  S.  218. 
h  Im  Brief  17.51. 

Im  Brief  vom  29.  Jan.  1751. 
*J  Im  Brief  an  Sauvages  vom  2(3.  Jan.  1701. 

Im  Brief  an  Sauvages  vom  25.  Aug.  17()1. 


—    88  - 


Sowohl  in  Linnö's  Flora  Lapponica  und  Suecica,  als 
auch  in  der  Beschreibung  seiner  Oeländischen  und  Gothländischen, 
Skäneschen  und  Westgothischen  Reise  findet  man  eine  grosse  An- 
zahl äusserst  interessanter  und  werthvoller  Angaben  Uber  die  An- 
wendung einheimischer  Pflanzen  in  der  Medizin.  Es  werden  in 
Folge  dieser  Beobachtungen  eine  Menge  einheimischer  Drgguen  in 
den  Arzneischatz  aufgenommen  und  daraus  entwickelte  sich  zum 
Theil  die  schwedische  Hausarzneikunst,  welche  in  dem  dünn  be- 
völkerten Lande  von  so  grossem  Nutzen  gewesen  ist  und  soviel 
Segen  verbreitet  hat. 

„  Occupatus  sum , "  schreibt  Linne ,  „  in  tradendo  publice  et 

privatim  materiam  medicam  et  doceo  imprimis  studiosos  curare 

rusticos  inempta  medicina." 

Grosse  und  dauernde  Verdienste  um  die  Entwickelung  der 
Pharmakodynamik  hat  sich  Linne  dadurch  erworben,  dass  er  näher 
ermittelte,  was  unter  Gift  im  Verhältniss  zu  anderen  Arzneien  zu 
verstehen  sei,  und  dass  er  den  stark  wirkenden  Mitteln  ihren  rich- 
tigen Platz  in  der  Therapie  angewiesen  hat.  Unsere  Arzneimittel 
gegen  Krankheiten ,  sagt  Linne ,  sind  theils  Nahrungsmittel ,  theils 
Gifte  (toxica),  jene  erhalten  die  Gesundheit,  indem  sie  die  Körper- 
kräfte unterhalten,  die  letzteren  stellen  dieselben  wieder  her,  indem 
sie  den  Organismus  verändern.  Das  schärfste  Gift  kann  als  Arznei- 
mittel wirken,  sobald  es  in  kleinen  Dosen  angewandt  wird,  und  ein 
gewöhnliches  Arzneimittel  vermag  in  grossen  Gaben  die  Natur  von 
Gift  anzunehmen ,  ja  sogar  Nahrungsmittel ,  im  Uebermaass  ge- 
nossen, werden  für  uns  schädlich.  Jedes  Arzneimittel  wirkt  daher, 
im  Grunde  genommen ,  in  derselben  Art  wie  Gifte ,  indem  es  Ver- 
änderungen im  Körper  einleitet.  2)  Man  hat  zwischen  Arzneimittel 
und  Gift  einen  scharfen  Unterschied  machen  wollen  und  geglaubt, 

M  Im  Brief  an  Abr.  Bäck  vom  19.  Nov.  1754. 

2;  Lign.  Colubrimim  (1749).  Denselben  Satz  findet  man,  ausser  an  anderen 
Stellen,  anch  in  Materia  niedica  fcanon  16  und  17  ausgesprochen. 


--    89  — 

die  Gifte  zerstörten  sogar  in  kleinen  Gaben  den  Körper ;  dies  sei 
aber  ein  Vorurtheil ,  ja  ein  Irrthum ,  welcher  aus  der  Wissenschaft 
entfernt  werden  müsse.  Denn  kein  verständiger  und  kenntnissvoller 
Arzt  darf  Bedenken  tragen,  nach  Umständen  Gifte  in  passendem 
Verhältniss  und  geeigneten  Gaben  zu  verschreiben.  Dagegen  können 
die  vortrefflichsten  Arzneimittel  in  der  Hand  des  Unwissenden  zum 
Schwerte  des  Rasenden  werden,  i)  Als  Linne  den  Satz  aussprach, 
dass  die  widerwärtigsten  Gifte  bei  richtiger  Anwendung  uns  die 
vortrefflichsten  Arzneimittel  liefern,  führte  er  der  Wissenschaft  und 
der  Erfahrung  das  Wort.  Ich  kann  nicht  sagen,  äussert  er  selbst, 
von  wie  gi'ossem  Nutzen  mir  dieser  Lehrsatz  bei  Erörterung  der 
wichtigsten  und  schwierigsten  Fragen  der  medizinischen  Wissen- 
schaft gewesen  ist.  2)  — 

In  der  letzten  medizinischen  Abhandlung,  die  Linne's  Namen 
trägt,  werden  die  allgemeinen  therapeutischen  Ansich- 
ten, welche  aus  seinem  System  hervorgehen  und  dem  prakti- 
schen Verfahren  des  Arztes  zu  Grunde  gelegt  werden  müssten, 
unter  folgende  Gesichtspunkte  zusammengefasst.  Die  Natur  ist  der 
beste  Arzt.  Wider  die  Natur  vermag  die  Arznei  nichts.  Wohin  die 
Natur  sti-ebt,  dahin  muss  sie  geleitet  werden,  und  wird  ihr  ein  Aus- 
weg eröffnet ,  so  wählt  sie  ihn.  Zweierlei  Arten  von  Ausleerungen 
können  kaum  gleichzeitig  bestehen.  Ein  Schmerz  vertreibt  den  an- 
deren. Eine  jede  Absonderung  schwächt.  Gifte  heilen,  Nahrungs- 
mittel erhalten  den  Körper.  Die  Natur  beseitigt ,  nebst  dem  Gift, 
auch  andere  unreine  Stoffe.  Die  schärfsten  Gifte  werden,  in  ge- 
eigneter Weise  in  geringen  Gaben  gebraucht,  die  wirksamsten 
Arzneimittel.  Die  Gewohnheit  schwächt  die  Wirkungen  der  Arznei- 
mittel ab,  stetiger  Wechsel  derselben  verräth  Unwissenheit.  Die 
Wirkung  der  Arzneimittel  umfasst  die  Krankheitsarteu ,  nicht  die 
Krankheitsgruppen,  und  wird  von  deren  Geschmack  und  Geruch 


'j  Vires  plantaruin  (1747). 

2i  Mediciunenta  graveolentia  (1758). 


—    90  — 


bestimmt,  so  wie  durch  die  Erfahrung-  bestätigt.  Wer  entgegen- 
gesetzte Stoffe  mit  einander  mischt,  ist  ein  Idiot.  Die  Gegensätze 
heilen  ihre  Gegensätze,  die  eine  Krankheit  die  andere.  Wenn  nur 
ein  einziger  Ausweg  zur  Rettimg  bleibt,  so  muss  man  ihn  versuchen, 
auch  wenn  er  gefährlich  ist.^) 

Ausser  den  bereits  erwähnten  Schriften  von  Linne,  welche 
Gegenstände  aus  dem  Gebiete  der  Pharmakologie  und  Pharmakody- 
namik abhandeln,  gehören  hierher  noch  die  Abhandlungen  de 
Methodo  investigandi  vires- medicamentorum  chemica  (1753;,  Con- 
sectaria  electrico-medica  (1753),  de  Cortice  peruviano  (1758),  Opo- 
balsamum  declaratum  (1764),  de  Fraga  vesca  (1772),  Observatio- 
nes  in  Materiam  medicam  (1772),  Planta  Cimicifuga  (1774)',  de  Maro 
(1774),  Opium  (1775).  — 

Unter  den  medizinischen  Wissenschaften,  welche  Linne  mit 
besonderem  Interesse  bearbeitete  und  die  er  verpflichtet  war  vor- 
zutragen, war  auch  die  Diätetik  oder  die  Lehre  von  der  Gesund- 
heit des  Individuums.  Es  ist  bezeichnend ,  dass  er  in  den  auf  die 
Diätetik  bezüglichen  Fragen  seinen  Ansichten  durch  zahlreiche 
scharfsinnige  Beobachtungen  Geltung  und  Verwendung  zu  ver- 
schaffen verstand.  Seine  Vorträge  über  diese  Gegenstände  lenkten 
in  Folge  ihrer  Vielseitigkeit  und  des  Reichthums  an  treffenden  Bil- 
dern aus  dem  täglichen  Leben  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf 
manche  bisher  übersehene,  für  die  Gesundheit  äusserst  wichtige 
Wahrheiten.  Linn^'s  Vorlesungen  verbreiteten  unter  den  Aerzten 
Schwedens  ein  Interesse  und  Verständniss  für  die  Hygiene,  welche 
höchst  beachtenswerth  sind.  Mehrere  ihrer  hervorragendsten  Cory- 
phäen,  ein  David  Schulz  von  Schulzenheim,  Abr.  Bäck,  J.  G. 
Wahlbom,  Nils  Dahlberg,  J.  L.  Odhelius,  C.  H.  af  Hjärne 
U.A.,  veröffentlichten  Schriften  von  hohem  Werthe  aus  dem  Gebiete 
der  öffentlichen  Gesundheitspflege,  wodurch  allmählich  die  Auf- 
merksamkeit auch,  des  grossen  Publikums  auf  die  Wichtigkeit  ihrer 

')  Canones  medici  1775  . 


—    91  — 


Forderungen  gelenkt  wurde.  Während  die  hygienische  Wissen- 
schaft in  den  grossen  Culturländern  im  allgemeinen  noch  unbe- 
arl)eitet  und  zurltckgesetzt  war,  vermochte  die  medizinische  Literatur 
in  Schweden  nicht  wenige  Schriften  auf  diesem  Grebiete  aufzu- 
weisen. Mit  tiefer  Dankbarkeit  erkennen  wir,  dass  die  Aussaat 
ärztlicher  Bildung,  die  Linne  in  Schweden  ausgestreut,  gekeimt 
\md  reiche  Früchte  getragen  hat. 

Die  Diätetik  oder  die  Lehre  von  der  naturgemässen  Lebens- 
weise des  Menschen  beruht,  nach  den  damals  herrschenden  An- 
sichten, auf  sechs  Hauptbedingungen  (res  non  naturales) :  frische 
Luft,  köi*perliche  Bewegung,  Schlaf,  Nahrungsmittel,  Ausleerungen 
des  Körpers  und  Gemiithsbewegungen .  In  genauer  Uebereinstimmung 
mit  seinen  oben  geschilderten  pathologischen  und  therapeutischen 
Theorien  ging  Linne  auch  bei  der  Darstellung  der  Lehre  der  Diä- 
tetik von  denselben  allgemeinen  Lehrsätzen  aus  und  suchte  diesel- 
ben auf  dem  G-ebiete  der  Gresundheitslehre  durchzuführen.  Der- 
gleichen Sätze  sind  folgende  Aussprüche.  Die  Luft  wirkt  auf  un- 
seren Körper  durch  Wärme  und  Kälte.  Die  Kälte  macht  die  Fibern 
steif  und  die  Flüssigkeiten  mehr  salz  artig  (muriaticos) ;  die  Wärme 
dagegen  verursacht  in  den  festen  Theilen  Erschlalfung  und  beför- 
dert die  Bildung  von  Leimstoflf  (Gluten).  Je  weicher  die  Fibern 
sind,  desto  schneller  gehen  sie  in  einen  gemssen  Grad  von  Klebrig- 
keit über  (oritur  viscidum),  der  Gegensatz  hiezu  ist  das  Salzartige. 
Bewegung  macht  die  Flüssigkeiten  feurig,  lebhaft  (phlogisticos) 
und  die  Fibern  zähe:  bei  Bewegung  entsteht  Wärme,  die  Flüssig- 
keiten werden  vertheilt  und  alle  Theile  nähern  sich  einander.  Ruhe 
befördert  Bildung  von  Säure  in  den  Flüssigkeiten  und  macht  die 
Fibern  mürbe  (teneras).  Stillsitzen  ist  eine  Hauptursache,  weshalb 


',  Do  effectu  et  cura  vitiorum  diaeteticorum  generali  (1766).  Beinabe  die- 
selben Gedanken  findet  man  ausgesprochen  in  den  Abhandlungen  de  varietate 
ciborum  (1767)  und  de  medico  sni  ipsius  (1768).  Die  letztere  Abhandlung  ist 
ins  Schwedische  übersetzt  unter  dem  Titel  .,  Siittet  att  vara  sin  egen  liikare" 
(Die  Art  und  Weise,  sein  eigener  Arzt  zu  sein").  Westeräs  1770.  8o. 


—    92  — 


die  höheren  Stände  weit  mehr  als  die  niederen  an  Hysterie  leiden : 
Blasenstein  und  Podagra  kommen  öfter  bei  älteren  und  wohlhaben- 
den Personen  vor.  Schlaf  befördert  Fettbildung  in  den  festen  Thei- 
len  und  macht  die  Flüssigkeiten  ölig ,  während  die  Fibern  durch 
Schlaflosigkeit  mager  macilentas)  und  die  Flüssigkeiten  scharf 
(acres)  werden.  Diejenigen,  welche  die  Nächte  wachend  zubrin- 
gen, sind  Fieberkrankheiten ,  Blutflüssen ,  Schwindel  und  Kopfweh 
ausgesetzt",  daher  das  SprUchwort  „aut  Stüdes  aut  amas,"  -  Das 
beste ,  ja  ein  specifisches  Mittel  gegen  allzu  grosse  Beleibtheit  ist 
Nachtwachen ,  und  darin  liegt  die  Ursache ,  weshalb  beleibte  Per-: 
sonen ,  die  Wittwer  geworden  sind  und  an  Schlaflosigkeit  leiden, 
binnen  kurzem  an  Leib  und  Seele  erschlaffen.  Bei  Hunger  werden 
die  Flüssigkeiten  vermindert  oder  erschöpft  und  die  Fibern  dünn, 
während  genügende  Nahrung  sie  anschwellen  lässt  und  die  Flüssig- 
keiten vermehrt.  Was  die  Ausleerungen  anbetrifft,  so  ist  es  be- 
kannt, dass  der  Körper  nicht  weniger  verliert,  wenn  seine  Flüssig- 
keiten austi'ocknen  (si  succi  laudabiles  amittantur) ,  als  wenn  excre- 
mentielle  Stoffe,  die  während  der  Lebensarbeit  in  der  Blutmasse 
sich  ständig  bilden,  in  Uebermaass  zurückgehalten  werden.  Bei 
reichlichen  und  starken  Ausleerungen  werden  die  Flüssigkeiten 
dick  und  die  Fibern  trocken  (torrida),  der  Körper  wird  geschwächt 
und  Magerkeit  tritt  ein ,  während  die  festen  Theile  feucht  und  die 
Flüssigkeiten  dünn  werden ,  sobald  die  Absonderungen  nicht  regel- 
mässig erfolgen.  — 

Diese  Auffassung  der  wichtigsten  Bedingungen  für  die  Erhal- 
tung der  Gesundheit  finden  wir  in  Linne's  Clavis  medicinae 
wieder,  in  welchem  er  dieselben  in  Bezug  auf  die  Therapie  behan- 
delt. Uebertretung  der  Vorschriften  der  Diätetik  ruft  Krankheits- 
zuständß  hervor,  die  bekämpft  werden  müssen  durch  die  der  Natur 
innewohnenden  heilenden  Kräfte,  deren  Kenntniss  und  Anwen- 
dung die  praktische  Erfahrung  lehrt.  Die  oben  erwähnte  Theorie 
von  dem  Gegensatze  zwischen  der  Natur  und  den  Ursachen  der 
Krankheiten,  sowie  von  den  gegen  dieselben  angewandten  Arz- 


—    93  — 


ueien  tritt  somit  auch  hier  hervor.  Gegenüber  einer  jeden  der  oben 
genannten  diätetischen  Lebensbedingungen,  deren  Bedeutung  Linne 
durch  ein  einziges  charakteristisches  Wort  andeutet,  werden  die 
bereits  angeführten  Hauptgruppen-  von  Arzneimitteln  zusammen- 
gestellt und  zugleich  ihre  Eigenschaften  angegeben.  Da  diese  Zu- 
sammenstellung die  ganze  pathologisch-therapeutische  Anschau- 
ungsweise Linne's  in  ihrem  inneren  Zusammenhange  sinnreich  ver- 
anschaulicht und  das  Verständniss  seiner  technischen  Ausdrücke 
unter  Benutzung  der  oben  gegebenen  Darstellung  seines  Systems 
nicht  schwer  fallen  dürfte ,  so  wollen  wir  dieses  Schema  hier  an- 
führen. 1) 


Flui  da. 

Solida; 

I. 

E  X  c  r  e  t  a 

densa 

torrida  ' 

tenuia 

humida 

Ketenta 

II. 

III. 

Motio 

phlogistica 

tenacia 

acidula 

tenera 

Quies 

IV. 

V. 

Vigiliae 

acria 

macra 

oleosa 

pinguia 

Somnus 

VI. 

VII. 

Farnes 

paiiperata 

gracilia 

plethorica 

turgida 

Cibus 

VIII. 

IX. 

•  Frigus 

muriatica 

rigida 

glutinosa 

fluxa 

Calor 

X. 

Effectus. 

Der  Clavismedicinaeist  eine  in  hohem  Grade  bemerkens- 
werthe  Erscheinung  in  der  medizinischen  Literatur.  2)  In  gedräng- 
tester Form  stellt  diese  Arbeit  die  Grundgedanken  der  rnedizini- 
schen  Anschauungsweise  Linnö's  dar.  Sie  ist  ein  geistreicher  Ver- 
such ,  den  Bau  der  ganzen  medizinischen  Lehre  auf  der  Grundlage 
gewisser  theoretischer  Vorstellungen  zu  construiren,  iind  zugleich 


•)  Clavis  Medicinae,  S.  8. 

2)  Caroli  a  Linne,  Clavis  Medicinae  duplex,  extorior  et  in- 
terior.  Holmiae  1766.  29  S.  8o.  Die  Arbeit  ist  gewidmet  ,, Medicis  secula- 
ribus :  Siegfr.  Albino,  Anatomico  summo,  Alb.  von  Haller,  Physiologo  summo, 
Gerardo  van  Swieten,  Observatori  summo,  Franc,  de  Sauvages,  Patbologo 
summo,  Nicol.  v.  Rosenstein,  Therapeutico  summo.  —  Iterata  editio  foras  de- 
dit  et  praefatus  est  Em.  Godofr.  Baldinger.  Longosalissae  1767.  59  pag.  8<'. 


—   94  — 


ein  sprechendes  Zeugniss  für  die  umfassende  Fähigkeit  Linne's,  die 
verschiedenen  Theile  der  Wissenschaft  unter  gemeinschaftlichen 
Gesichtspunkten  zu  einem  Ganzen  zu  vereinigen.  Die  aphoristische 
Kürze ,  in  welcher  Linne  es  liebte ,  in  dem  Clavis  Medicinae  seine 
Gedanken  auszusprechen,  macht  die  Arbeit  schwer  fasslich,  ja  fast 
xmverständlich  für  einen  Jeden,  der  sich  nicht  die  Mühe  gegeben, 
in  die  Tiefe  seines  Gedankenganges  einzudringen.  Es  ist  auch  klar, 
dass  der  mündliche  Vortrag  dieser  Schilderung  erst  das  richtige  Re- 
lief zu  verleihen  bezweckte. i).  Von  Interesse  ist  zu  sehen,  wie 
Linnö  selbst  seine  Arbeit  beurtheilt;  wir  finden  in  seinem  Brief- 
wechsel darüber  folgende  Aeusserung : 

„Es  ist  mir  genug  Satisfaction ,  dass  ich  Ihre  und  Arch. 
Rosenstein's  Approbation  meines  kleinen  Clavis  medicinae  erhal- 
ten. Könnte  ich  mit  Ihnen  denselben  durchgehen  und  meine  De- 
monstrationen zeigen,  so  hoffe  ich,  er  würde  mehr  begreiflich 
werden."  -) 

An  seinen  Freund,  Prof.  A.  Murray  in  Göttingen,  schreibt 
Linne  über  seinen  Clavis  : 

„Finden  Sie ,  Herr  Prof. ,  etwas  anstössiges ,  so  lassen  Sie 
mich  es  wissen.  Archiater  Rosenstein  hat  auf  Ersuchen  alles  exa- 
miniret  und  mir  das  ehi-enhafteste  Zeugniss  ertheilt  und  nichts 
gefunden,  was  ich  nicht  genügend  demonstriren  könnte.  Hält  es 
Probe,  so  muss  es  etwas  thun  zur  materiae  medicae  certitudo.'*^)  — 
Bereits  oben  wurde  erwähnt ,  dass  Linne  oft  und  mit  besonde- 


Nach  den  Indices  praelectionum  zuurtheilen,  scheint  Linn6  nur 
ein  einziges  Mal  (1771)  den  Clavis  bei  seinen  Vorlesungen  vorgetragen  zu  haben. 
Wahrscheinlich  sind  es  diese  Vorlesungen,  worüber  P.  D.  Giseke  in  ..Termini 
botanici"  etc.  Hamburg  1781,  S.  103  schreibt:  „Ich  habe  diesen  Abschnitt 
unerklärt  gelassen,  da  er  im  Clavis  Medicinae  umständlicher  enthalten  ist,  über 
welchen  ich  dereinst  die  Vorlesungen  des  Verf.  herauszugeben  gedenke."  Diese 
Arbeit  ist  jedoch  nicht  erschienen. 

2)  Im  Brief  an  Abr.  Bäck  vom  3.  April  1766. 

3)  Im  Brief  vom  27.  März  1766.  —  Linn(5's  Briefe  an  A.  Murray  hat  der 
jetzt  verstorbene  Prof.  0.  Glas  zu  Upsala  mir  freundlichst  niitgetheilt. 


—    95  — 


rem  Interesse  Diätetik  vortrug.  Von  diesen  Vorlesungen  befinden 
sich  in  den  Bibliotheken  eine  Menge  Abschriften  und  wir  erhalten 
dadurch  eine  Uebersicht  ihres  Inhalts.  Es  wäre  zu  weitläufig,  uns 
mit  den  Details  dieser  Vorti-äge  hier  zu  beschäftigen,  vielleicht  lohnt 
es  aber  der  Mühe,  zu  untersuchen,  welche  hygienische  Fragen  er 
in  den  Kreis  seiner  Darstellung  hineinzog.  Linnö's  „CoUegium 
diaeteticum"  (1757)  hat  folgenden  Inhalt. Nach  einer  Einlei- 
tung über  die  Entwickelung  des  Menschenlebens  (ein  Gegenstand, 
der  in  mehreren  von  Liune's  akademischen  Abhandlungen  vor- 
kommt) ,  enthält  der  erste  Theil  der  Diätetik  „regulas  generales" : 
1]  infantis  figura  naturalis  est  servanda;  2)  infans  enutriatur  lacte 
matenia;  3)  omne  parit  sui  simile;  4)  Juventus  facit  vires  senectuti; 
5  consuetudo  est  quasi  altera  natura ;  6)  omnis  subita  mutatio  peri- 
culosa ;  7)  omne  nimium  nocet ;  8)  varietas  delectat.  Von  der  Luft ; 
von  der  Witterung ;  respiratio  ;  transpiratio ;  attractio ;  vestimenta ; 
lectus  et  cubile ;  Schlaf;  aedes  et  domicilia.  Der  zweite  Theil  be- 
rührt motus  et  quies,  morbi  artificum.  Der  dritte  Theil  handelt 
von  „ingesta,  potus  et  cibus  oder  allem,  welches  proprie  Diät  ge- 
nannt wird.  Vom  Wasser ,  dessen  Prüfung  und  Reinigung ;  de  spi- 
rituosis;  vinum;  Thee,  Kaffee,  Branntwein,  Bier,  Rauch-  und 
Schnupftabak ;  cibus,  schädliche  Zusätze ;  von  Salz,  Essig,  Zucker, 
Honig ,  Oel ,  Butter,  Schweinefleisch ;  lacticinia  oder  Milchspeisen, 
praeparata  lactea;  Brod;  carnes,  Fleischspeisen,  Blut;  Vegeta- 
bilien,  aromata,  fructus  horaei,  Gewürze ;  Thierreich.  Gift  in  ge- 
nere,  Gift  im  Thierreich,  Gift  im  Mineralreich,  Gift  von  Pflanzen. 
Vierter  Theil.  Excreta  et  retenta,  sensus  externi  et  interni;  die 
Affecte;  venus.  Conjugium,  wobei  zu  berücksichtigen  a)  dona  na- 
turae  sanitatis,  aetatis  et  pulchritudinis) ,  b)  dona  educationis,  wie 
Temperament,  Fähigkeit  und  Kenntnisse,  c)  dona  animae,  ein  gutes 
und  aufrichtiges  Gemüth,  xl)  dona  Status,  ehrbarer  Stand  und  Name, 


Befindet  sich  in  der  Universitiitsbibliotliek  zu  Upsala. 


—    96  — 


e)  doua  fortunae;  hierher  gehören  1)  divitiae,  dass  die  Frau  vou 
reicher  Herkunft,  2)  prosapiae,  dass  die  Verwandtschaft  klein  ist. 

Obgleich  Linne  seine  Vorlesungen  über  die  Diätetik  herauszu- 
geben beabsichtigt  zu  haben  scheint,  und  obgleich  er  dieselben 
mehrere  Mal  umgearbeitet  hat,  so  erschienen  sie  doch  nie  im  Druck, 
wie  man  auch  darauf  hoffte.  In  einem  Briefe  von  J.  Zoega  in 
Kopenhagen)  an  Linne  d.  J.  heisst  es  : 

„Audivi  collegium  diaeteticum  parentis  optimi  in  lucem  pro- 
diisse ;  an  ita  est?  Respondeas  quaeso  ad  has  quaestiones."   .  — 

Ein  Gegenstand,  dessen  grosse  Wichtigkeit  und  Bedeutung 
Linne  in  mehreren  seiner  Abhandlungen  hervorhebt  und  worauf  er 
oft  zurückkommt,  ist  die  Erziehung  des  heranwachsenden  Ge- 
schlechts.  Er  spricht  hiebei  Wahrheiten  aus  .  die  gewiss  dazu  bei- 
getragen haben,  das  Interesse  nicht  allein  der  Aerzte,  sondern  auch 
des  Publikums  für  diese  aussei'ordentlich  wichtige  Frage  zu  erre- 
gen, wenn  sie  auch  nur  allmählich .  tiefer  eindringen  und  im  Be- 
wusstsein  des  Volks  Wurzel  schlagen  konnten.  Linne  lenkt  die 
Aufmerksamkeit  darauf  hin,  dass  der  Grund  zur  Gesundheit  des 
einzelnen  Menschen  oder  die  Bedingungen  eines  gesunden  und  nor- 
malen Körpers  theils  bei  der  Zeugung,  theils  in  der  Kindheit  und 
in  den  Jugendjahren  gelegt  werden.  Er  giebt  daher  Vorschriften, 
in  welcher  Art  die  Verhältnisse  während  der  verschiedenen  Lebens- 
perioden iii  Uebereinstimmuug  mit  den  Anforderungen  sowohl  der 
Diätetik  als  auch  der  intellectuellen  Entwickeluug  geordnet  werden 
müssen. 2)  Dass  Linne  den  Müttern  als  unabweisbare  Pflicht  ein- 
schärfte, ihre  Kinder  selbst  zu  stillen ,  wurde  bereits  erwähnt.  Er 
fordert  die  Jugend  auf,  im  Verlaufe  ihrer  Studienzeit  körperliche 
Uebungen  vorzunehmen,  und  hebt  oft  hervor,  wie  wichtig  der  Aufeut- 


1)  Im  Brief  vom  26.  Oct.  1765,  gedruckt  in  J.  C.  Scliiodte,  Naturbisto- 
ri sk  Tidskrift.  III.  7,  3.  Kopenhagen  1871,  S.  474. 

-)  Fundamenta  valetudinis  (1756j.  Diaeta  per  scalam  aetatis  bumanae  ob- 
servanda  (1764). 


—    97  — 


halt  in  frischer  Luft  sei.  Stillsitzende  Personen  leiden  oft  an  Säure 
in  den  ersten  Wegen  und  diese  Säurebildung  veranlasst  G-ährung 
der  genossenen  Speisen,  sie  zerfrisst  (rodit  et  vellicat)  die  festen 
Theile,  krystallisirt  leicht  und  bildet  „in  viscido  concretiones  tarta- 
reas",  welche  späterhin  zu  habitueller  Obstruction,  Hypochondrie, 
Gicht  und  manchen  anderen  Leiden  den  Grund  legen.  Das  beste 
Mittel  dagegen  ist  körperliche  Bewegung  bis  zum  Schweiss.^)  — 

Der  Nutzen  geräumiger  Wohnstätten  und  frischer,  reiner 
Luft  wird  klar  und  überzeugend  angedeutet,  die  Gefahr,  in  neu- 
erbaute Häuser  allzu  früh  einzuziehen,  betont  und  ebenso  die  Nach- 
theile der  in  damaliger  Zeit  allgemein  gebräuchlichen  Bestattungen 
in  Kirchen  hervorgehoben. 2)  Wer  seine  Gesundheit  bewahren  will, 
muss  nicht  allein  genau  und  sorgfältig  die  Luft ,  welche  er  einath- 
met,  sondern  auch  die  Speisen,  die  er  geniesst,  auswählen.  Man  darf 
daher  nicht  in  zu  niedrigen  Zimmern  schlafen  oder  in  einer  Luft  sich 
aufhalten,  die  mit  Nebeln,  mit  unreinen,  verwesenden  Stoffen  und 
Ausdünstungen  stehender  Gewässer  erfüllt  ist.^)  Es  ist  Sache  der 
städtischen  Behörden,  dafür  zu  sorgen,  dass  unreine  Stoffe  jeglicher 
Art  sorgfältig  aus  den  Strassen  entfernt  werden.  ')  —  Die  Winde 
spielen  eine  wichtige  Rolle  in  Bezug  auf  die  Reinigung  der  Luft, 
und  es  ist  überhaupt  lieilsam,  solche  Plätze  zu  bewohnen,  zu  denen 
die  Sonne  und  die  Winde  Zutritt  haben.  Dort  sind  die  Einwohner 
im  allgemeinen  gesund  und  kräftig,  ebenso  wie  die  Fische  in  Strö- 
men mit  starkfliessendem  Wasser  kräftiger  und  wohlschmeckender 
werden.'^)  Linn6  spricht  den  Gedanken  aus,  dass,  da  die  Haut- 
ausdünstung von  der  verschiedenen  Beschaffenheit  der  Luft  abhän- 
gig ist ,  auch  eine  Menge  krankhafter  Störungen  sowohl  der  festen, 


')  Motuspolychrestiis  (17t)3). 
^)  Respinitio  diiietetica  (1772). 

'»)  Aer  habitabilis  (1759).   „Omno  putriduin  est  septicum  et  coiTosivuni, 
ipsi  veluti  naturiie  horrendum."  ' 
*]  Febris  Upsaiiensis  (1757). 
5)  Respiratio  diaetetica  (1772). 

lljo't',  Linnä  ala  Arzt.  7 


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als  der  flüssigen  Tlieile  in  dieser  Luftconstitution  ihren  Ursprung 
haben.*)  Bei  trockener  und  kalter  Luft  entstehen  entzündliche 
Krankheiten,  wie  Pleuritis,  Peripneumonia,  Angina,  Rheumatismus. 
Bei  trockener  und  wanner  Luft  zeigen  sich  Störungen  in  den  Wegen 
der  Galle,  Cholera  nostras,  Dysenterie  etc. ;  bei  feuchter  und  kalter 
Luft  Husten,  Erkältungen,  katarrhale  und  intermittente  Fieber  und 
bei  feuchter,  warmer  Luft  Faulfieber.  2) 

Was  die  Nahrungsmittel  anbetrifft,  warnte  Linn6  vor  dem  Ge- 
brauch sowohl  zu  heisser  wie  zu  kalter  Getränke  und  Speisen. 
Diese  sind  heiss,  sobald  ihre  Temperatur  die  Bluttemperatur  bei 
einem  gesunden  Menschen,  d.  h.  37»  C,  übersteigt.  Täglicher 
oder  lange  fortgesetzter  Gebrauch  von  dergleichen  Speisen  oder 
Getränken  ist  in  mehrfacher  Beziehung  schädlich,  ebenso  sind  kalte, 
gefrorene  Speisen  und  Getränke  zu  vermeiden.  3)  —  Chocolade  wird 
von  Linne  als  ein  kräftiges  Nahrungsmittel  gepriesen  und  nament- 
lich gegen  allgemeine  Magerkeit  und  Schwindsucht  empfohlen. 
Auch  bei  Haemorrhoiden  behauptet  er  diese  mit  vielem  Erfolg  an- 
gewandt zu  haben  *) .  —  Thee  soll  nur  für  stai-ke  Personen ,  nicht 
aber  für  magere  sich  eignen  und  „attenuans  et  exsiccans"  wirken. 
Linne  glaubte,  die  Theepflanze  müsste  im  südlichen  Schweden  fort- 
kommen, und  stellte  viele  Versuche  zu  diesem  Zwecke  an.  Er 
schlug  Gmelin  in  St.  Petersburg  vor ,  er  möchte  mit  den  aus  China 
zurückkehrenden  Karawanen  Samen  von  dieser  Pflanze  zu  erhalten 
suchen,  und  erzählt,  welche  Schmerigkeiten  die  Chinesen  dagegen 
erhoben.  Jedoch  fand  er  bald,  dass  die  Samen,  in  Folge  ihres 
Reichthums  an  öligen  Bestandtheilen,  ihre  Keimkraft  nicht  lange  be- 
hielten. Osbeck  nahm  Theepflanzen  aus  China  mit,  ein  auf  der  Rück- 
reise entstandener  starker  Sturm  schleuderte  aber  am  Cap  der  guten 


')  Dyscrasiae  tarn  fluidorum,  quam  solidorum  a  diversa  aeris  constitutione 
oriuntur." 

-)  De  perspiratione  insensibili  (1775). 
^)  Circa  fervidorura  et  gelidorum  usum  paraenesis  (1765). 
De  potu  chocolatae  (1765). 


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Hoffnung  dieselben  ins  Meer.  Der  Kommerzienrath  Lagerström 
schickte  an  Linne  zwei  Sträucher ,  die  er  'aus  China  erhalten  und 
welche  man  für  Theepfianzen  hielt ;  als  aber  die  Bllithen  sich  zeig- 
ten, stellte  es  sich  heraus,  dass  die  Chinesen  den  Absender  ge- 
täuscht hatten  und  dass  die  Bllithen  einer  Cameliaart  angehörten. 
Schliesslich  säete  der  Schiffscapitain  CG.  Ekeberg  auf  Linne's  Auf- 
forderung Samen  der  Theepflanze  aus ;  diese  keimten  auf  der  Rück- 
reise imd  blühten  1763  in  dem  botanischen  Garten  zu  Upsala.  Mit 
Entzücken  ruft  Linne  aus,  dass  die  Theepflanze  nie  früher  in  irgend 
einem  der  Gärten  Europas  gewachsen  sei*),  und  hofft,  er  werde 
nunmehr  ebenso  allgemein  wie  der  nahverwandte  spanische  Flieder 
cultivirt  werden. 2)  — 

In  einer  Abhandlung  „Inebrianti a"  (1762)  schildert  Linnö 
beredt  die  Wirkung  der  geistigen  Getränke,  sowie  ihren  Ein- 
flnss  auf  die  Körper-  und  Geisteskräfte,  und  erhebt  seine  warnende 
Stimme  gegen  die  Erniedrigung,  welche  der  Gebrauch  berauschen- 
der Getränke  zur  Folge  hat.  Sie  werden  verglichen  mit  dem  Feuer, 
welches  erquickt,  wärmt,  brennt  und  verzehrt.  Als  Folgen  der 
Wirkung  des  Branntweins  auf  den  Körper  werden  Verhärtungen  in 
der  Leber,  der  Milz,  den  Drüsen  etc.  angeführt.  Wassersucht, 
Schwindsucht  u.  s.  w.  entstehen,  nach  seiner  Ansicht,  nicht  selten 
durch  Missbrauch  von  Branntwein.  In  der  Beschreibung  seiner  Reise 
durch  Schonen  spricht  Linnö  sein  Erstaunen  darüber  aus,  dass  Per- 
sonen ,  die  sich  dem  Trünke  ergeben ,  früh  altern.  Als  diätetisches 
Mittel  könne  der  Branntwein  unter  keiner  Bedingung  anempfohlen 
werden.  Ein  jedes  Volk,  das  sich  dem  unmässigen  Genuss  dessel- 
ben ergiebt,  wird  schwach  und  elend.  Wer  diesen  Feind  des  Volkes 


')  De  potu  Theae  (1765).  —  Linn6's  Briefe  Uber  die  Theepflanze  an  den 
C'apitän  Ekeberg  vom  23.  Aug.  und  17.  Sept.  1763  sind  verüfTentlicht  in  der 
Zeitung  Stockholms  Posten  vom  14.  Febr.  1813. 

2)  ,,Theam,  demum  post  17  frustra  iterata  tentamina  vivam  e  China  obtinui, 
quae  procul  dubio  erit  adeo  frequens  in  Europaeorum  hortis,  ac  unquam  ejus 
popularis  Syringa."  Im  Brief  an  A.  J.  Jacquin,  dat.  den  4.  Jan.  1764. 

7* 


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vertreiben  könnte,  bringt  dem  Vaterlando  mehr  Nutzen,  als  wer 
einen  Aufruhr  niederdrückt.')  Dagegen  redet  Linne  einem  allge- 
meineren Gebrauch  gutgebrauten  Biers  das  Wort ;  letzteres  sei  ein 
gesundes  Getränk,  dessen  Zubereitung  aber  vieler  Aufmerksamkeit 
bedarf.  2)  ^ 

Diätetische  Rathschläge  über  Brunnenkuren,  Vielehe  noch 
heutigen  Tages  befolgt  werden,  ertheilt  Linn6  auf  Grund  der  damals 
herrschenden  Vorstellungen  von  den  Wirkungen  der  Mineralwässer. 
Sie  werden  aufgefasst  als  Lösungsmittel  einer  Menge  tiberflüssiger 
Salze  im  Körper,  welche  durch  die  Harnwege  entfernt  werden. 
Dem  Eisen,  welches  in  den  meisten  sog.  Sauerbrunnen  Schwedens 
vorkommt ,  misst  er  die  Kraft  bei ,  die  Neigung  zu  Säurebildung, 
welche  in  erschlafften  Geweben  entsteht,  zu  verringern  und  den- 
selben ihren  Tonus  wiederzugeben.  Beim  Trinken  des  Brunnens 
ist  die  Diät  und  die  Lebensweise  in  angemessener  Art  zu  ordnen. 
Der  Sommer  ist  die  passendste  Jahreszeit  für  Brunnenkuren ,  alte 
und  sehr  geschwächte  Personen  können  das  Wasser  im  Bett  liegend 
trinken ;  die  Abendkälte  und  der  Aufenthalt  an  seichten  und  stehen- 
den Gewässern  sind  zu  vermeiden ,  der  Schlaf  darf  nicht  zu  lange 
dauern  und  der  Neigung  dazu  muss  am  Tage  sorgfältig  entgegen- 
gearbeitet werden.  Saureu  und  fetten  Speisen  muss  der  Kranke 
entsagen,  denn  sie  verhindern  den  Einfluss  des  Mineralwassers. 
Um  alle  Unannehmlichkeiten  und  Sorgen,  die  das  häusliche  Leben 
und  die  tägliche  Arbeit  mit  sich  bringen,  zu  vermeiden,  muss  die 
Brunnenkur,  damit  Besserung  erfolgt,  nicht  zu  Hause  unternommen 
und  jeglicher  Briefwechsel  vermieden  werden.  3) 

')  Spiritus  fi'umenti  (1764). 

-)  Bemerkungen  über  Bier  in  den  Akten  der  k.  Akad.  d.  Wissensch.  1763, 
52;  aucli  veröffentlicht  in  Stockholms  Posten  vom  4.  Nov.  1786. 
Diaeta  acidularis  (1761). 


Druck  von  brcitkopf  <t-  Uürtol  in  Leii)/.ig.