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Full text of "Psychiatrie : ein Lehrbuch für Studirende und Aerzte"

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CHARLES  MYERS 
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Collection 

NATIONAL  INSTITUTE 
OF 

INDUSTRIAL 

PSYCHOLOGY 

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Zweiter  Band: 


Klinische  Psychiatrie. 


PSYCHIATRIE. 

EIN  LEHRBUCH 

FÜR 

STUDIRENDE  UND  AERZTE 

VON 

Dit.  EMIL  KRAEPELIN, 

PROFESSOR  AN  DER  UNIVERSITÄT  HEIDELBERG. 


SECHSTE,  VOLLSTÄNDIG  UM  GE  ARBEITETE  AUFLAGE. 


II.  BAND. 

KLINISCHE  PSYCHIATRIE. 

MIT  6 TAFELN  IN  AUTOTYPIE,  3 TAFELN  IN  PHOTOGRAPHIE,  16  CURVEN, 
3 DIAGRAMMEN  UND  13  SCHRIFTPROBEN. 


LEIPZIG, 

VERLAG  VON  JOHANN  AMBROSIUS  BARTH. 


1899. 


Uebersetzungsrecht  Vorbehalten. 


WEL.LCC:  ’MSTiTUTE 

LIBRARY 

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Coli. 

No. 

Inhaltsverzeichniss. 


Soita 


Die  Eintheilung  der  Seelenstörungen 1 

Lehrbücher  der  Psychiatrie 9 

I.  Das  infeotiöse  Irresein II 


A.  Die  Fieberdelirien 


Grade  der  Störung  — Grundlage  derselben  — Prognose 
handlung. 


Be 


B.  Die  Infectionsdelirien 

Initialdelirien  — Delirien  bei  Pocken,  Typhus,  Lyssa. 

C.  Die  infectiösen  Schwächezustände 

Verstimmung  — Wahnbildungen  — Expansive  Formen  — Poly 
neuritische  Geistestörung.  "hvui-.  jA . äuJl  \ 

II.  Das  Erschöpfungsirresein 


A.  Das  Collapsdelirium 

Krankheitsbild  — Dauer  — Ausgang  — Diagnose  (Delirium 
acutum)  — Behandlung. 

B.  Die  acute  Verwirrtheit  (Amentia)  

Meynert’s  Amentia  — Asthenische  Verwirrtheit  — Verlauf 
— Ursachen  — Diagnose  — Behandlung. 


12 

15 

19 

30 

31 

37 


G.  Die  chronische  nervöse  Erschöpfung 45 

Erworbene  Neurasthenie  — Hypochondrie  — Ursachen  — Ab- 
grenzung — Behandlung. 

III.  Die  Vergiftungen 57 

1.  Die  acuten  Vergiftungen 57 


Stoffwechselerzeuguisse  — Chemische  und  pflanzliche  Gifte. 


VI 


Inbai  IsverzeichniBB. 


Seite 


2.  Die  chronischen  Vergiftungen 59 

A.  Der  Allcoholismus 60 

Rausch  (psychologische  Versuche;  Thierbefunde) 60 

Chronischer  Alkoholismus 63 

Psychische  Störungen  (Stumpfheit,  Reizbarkeit,  WUlenssch wache) 

— Körperliche  Störungen  (Alkoholepilepsie,  Hysterie)  — Ur- 
sachen — Behandlung,  Vorbeugung. 

Delirium  tremens  der  Trinker 76 

Auffassungsstörungen  — Sinnestäuschungen  — BeschäftigungB- 
delirien  — Körperliche  Begleiterscheinungen  — Pathologische 
Anatomie  — Ursachen  — Behandlung. 

Hallucinatorischer  Wahnsinn  der  Trinker 93 

Eifersuchtswahn  der  Trinker 98 

Alkoholparalyse 100 

B.  Der  Morphinismus 101 

Acute  Morphiumwirkung  — Chronische  Vergiftung  — Abstinenz- 
erscheinungen — Behandlungsmethoden. 

C.  Der  Cocainismus 117 

Cocainrausch  — Charakterveränderung  — Cocainwahnsinn. 


IV.  Das  thyreogene  Irresein 125 

A.  Das  myxödematöse  Irresein 125 

Krankheitsbild  — Ursachen  — Kachexia  strumipriva  — Be- 
handlung. 

B.  Der  Cretinismus 131 

Krankheitsbild  — Ursachen  und  Wesen  — Bekämpfung. 

V.  Die  Dementia  praecox 137 

Allgemeines  Krankheitsbild  . 138 

Sinnestäuschungen  — Aufmerksamkeitsstörungen  — Zerfahren- 
heit — Wahnbildungen  — Gemüthliche  Verblödung  — Willens- 
störungen (Negativismus,  Stereotypen,  Automatie). 

Körperliche  Störungen 145 

Anfälle. 

Klinische  Formen 148 

Hebephrenische  Formen 149 

Katatonische  Formen 159 

Stupor  — Erregung  — Ausgänge  — Remissionen. 

Paranoide  Formen 182 

Dementia  paranoides  — Phantastische  Verrücktheit. 


Inhaltsverzeichniss. 


VII 


Seit» 

Ursachen  und  Wesen 200 

Abgrenzung 205 

Behandlung 213 

VI.  Die  Dementia  paralytica 215 

Psychische  Krankheitszeichen 215 

Gedächtnisstörung  — Erinnerungsfillsckungen  — Urteilslosig- 
keit — Wahnbildungen  — Reizbarkeit,  Stimmungswechsel  — 
Haltlosigkeit,  Bestimmbarkeit. 

Körperliche  Krankheitszeichen 227 


Analgesie  — Anfälle  — Pupillenstörungen  — Sprache  und 
Schrift— Rückenmarkserscheinungen — Allgemeine  Ernährungs- 
störungen. 


Klinische  Krankheitsbilder 245 

Depressive  Form  (hypochondrische,  ängstliche  Paralyse,  Ver- 
folgungswahn)   246 

f Expansive  Form  (classische,  circulare  Paralyse)  252 

Agitirte  Form  (galoppirende  Paralyse,  Delirium  tremens)  . . 261 

Demente  Form 264 

Verlauf  der  Krankheit  268 

Ausgang 271 

Pathologische  Anatomie 272 

Schädel,  Hirnhäute  — Zellenveränderungen  — Faserschwund  — 
Rindenschrumpfung  — Gliawucherung  (Spinnenzellen)  — Ge- 
fassveränderungen  — Rückenmarksveränderungen  — Neuritis 
— Uebrige  Organe  (Aortenatherom). 

Ursachen  und  Wesen  der  Paralyse 284 

Alter  (jugendliche  Paralyse)  — Geschlecht — Beruf  — Syphilis 
— Deutung  (Metasyphilis,  Erschöpfung). 

Erkennung 297 

Behandlung 303 

VIL  Das  Irresein  bei  Hirnerkrankungen  . 307 

Ausgebreitete  Erkrankungen 307 

Gliose  der  Hirnrinde  — Diffuse  Hirnsklerose  — Lues  hereditaria 
tarda  — Arteriosklerotische  Hirnerkrankung,  Perivasculäre 
Gliose  — Subcorticale  Encephalitis  — Multiple  Sklerose. 

Umgrenzte  Erkrankungen 310 

Geschwülste  — Abscesse  — Blutungen  — Embolien,  Throm- 
bosen — Kopfverletzungen. 


Inhaltsverzeichnis«. 


Seite 

VIII.  Das  Irresein  des  Rücktaildungsalters 317 

A.  Die  Melancholie 317 

Krankheitsbild  (Einfache,  hypochondrische  Formen)  — De- 
pressiver Wahnsinn,  nihilistischer  Wahn  — Angstmelancholie 
— Katatonische  Zeichen  — Verlauf  — Abgrenzung  — Be- 
handlung. 

B.  Der  jyraesenile  Beeinträchtigumgswahn  ? 342 

Krankheitsbild  — Abgrenzung. 

C.  Der  Ältersblödsinn 348 

Krankheitsbild  — Senile  Verwirrtheit  — Depression«-  und  Er- 
regungszustände — Seniles  Delirium  — Seniler  Verfolgungs- 
wahn — Leichenbefund  — Abgrenzung  — Behandlung. 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein 359 

Allgemeine  Krankheitszeichen 361 

Auffassungsstörungen  — Bewusstseinsstörungen  — Sinnes- 
täuschungen, Wahnbildungen  — Störungen  des  Vorstellungs- 
verlaufes (Ideenflucht,  Denkhemmung)  — Stimmungsstörung 
(Euphorie,  Depression,  Reizbarkeit)  — Beschäftigungsdrang 
(Tobsucht)  — Steigerung  der  Erregbarkeit  — Rededrang 
— Psychomotorische  Hemmung  — Schrift. 

Manische  Zustände 374 

Hypomanie  — Tobsucht  — Deliriöse  Formen  — Körperliche 
Zeichen  — Verlauf,  Dauer  — Ausgang. 

Depressive  Zustände 386 

Einfache  Hemmung  — Stupor  — Wahnbildungen  — Körper- 
liche Zeichen. 

Mischzustände 394 

Manie  mit  Denkhemmung  — Manischer  Stupor  — Nörgelnde 
Manie  — Uebergangszustände  — Ideenflüchtige  Depression. 

Ursachen 399 

Praedisposition  — Lebensalter,  Geschlecht. 

Umgrenzung 401 

Einfache  und  periodische  Formen  (Manie,  Melancholie)' — Circu- 
lares Irresein. 

Wesen  der  Krankheit 407 

Verlauf  der  Krankheit 408 

Beginn  — Dauer  der  Anfälle  — Wiederkehr  — Färbung  der 
Anfälle  — Zwischenzeiten  — Uebergänge. 

Prognose  der  Krankheit 416 

Cyclothymie  — Formen  mit  kurzen  Zwischenzeiten. 


Inhaltsverzeichnis. 


IX 


Seite 

Erkennung  der  Krankheit 419 

Behandlung • . . . . 422 

X.  Die  Verrücktheit  (Paranoia) 426 

Begriffsbestimmung 426 

Krankheitsbild . 430 

Verfolgungswahn  — Grössen  wahn  — Erotische  Verrücktheit  — 
Sinnestäuschungen,  Erinnerungsfälschungen  — Handeln  und 
Benehmen. 

Verlauf,  Wesen  (originäre  Paranoia),  Erkennung,  Behandlung  . . 442 
Der  Querulantenwahn 445 

XI.  Die  allgemeinen  Neurosen 455 

A.  Das  epileptische  Irresein 456 

Krankheitsbilder 456 

Epileptischer  Schwachsinn  — Periodische  Verstimmungen  — 
Dämmerzustände  (psychische  Epilepsie),  prae-  und  postepilep- 
tisches Irresein,  Nachtwandeln  — Epileptischer  Stupor  — 
Aengstliches  Delirium  — Besonnenes  Delirium. 

Ursachen 473 

Alkoholepilepsie  (pathologische  Rauschzustände,  Dipsomanie). 

Wesen  der  Krankheit 479 

Hirnveränderungen  — Stoffwechselstörungen. 

Prognose 482 

Diagnose 483 

Psychische  Aequivalente,  Delirium  transitorium. 

Behandlung 487 

Vorbeugung  — Ursächliche  Behandlung  — Bromsalze. 

B.  Das  hysterische  Irresein 492 

Krankheitsbilder  492 

Hysterische  Persönlichkeit  (Hypochondrische  Störungen,  Cha- 
rakterveränderung) — Körperliche  Begleiterscheinungen  — 
Dämmerzustände  (Schlafanfälle,  Nachtwandeln,  Delirien)  — 
Verstimmungen,  Aufregungszustände. 

Wesen  und  Ursachen  . • 508 

Geschlechtsunterschiede  — Hysterie  der  Kinder  (Chorea  magna) 
Genitalleiden  — Chemische,  psychologische  Theorien. 

Verlauf,  Prognose 512 

Diagnose 514 

Behandlung 516 

Vorbeugung  — Castration  — Mastkur  — Psychische  Behandlung. 

C.  Die  Schrecbneurose 520 


X 


Inhal  tsverzeichniss. 


Seite 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände  (Entartungsirresein)  . . 521* 

A.  Die  constitutionelle  Verstimmwng 530 

Depression  (periodische  Schwankungen)  — Gereiztheit  — Krank- 
hafte Zornmüthigkeit 

B.  Das  Zwangsirresein 538 

Zwangsvorstellungen  (Onomatomanie,  Anthmomanie,  Fragesucht, 


Grübelsucht)  — „Phobien“  (Platzangst,  Höhenangst,  Krankhafte 
Befangenheit,  Erythrophobie,  Kleiderangst,  Aberglaube)  — 
Hypochondrie  — Zweifelsucht  (Papierangst,  Schmutzangst  — 


Berührungsfurcht  (Waschmanie)  — Krisen. 

C.  Das  impulsive  Irresein  . . . , 557 

Brandstiftungstrieb  — Stehltrieb,  Sammeltrieb  — Mordtrieb  — 
Monomanien. 

B,  Die  conträre  Sexualempfindung 562 

Krankheitsbild  — Psychische  Hermaphrodisie  — Effeminatio, 
Viraginität  — Häufigkeit  — Erkennung  — Ursprung  und 
Wesen  des  Zustandes  — Behandlung. 

XHI.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen 572 

A.  Die  Imbeeillität 573 

Stumpfe,  anergetische  Können  — Lebhafte,  erethische  Formen 
— Moralischer  Schwachsinn  (der  „geborene“  Verbrecher). 

B.  Die  Idiotie 587 


Grade  der  Störung  — Anergetische  und  erethische  Formen  — 
Körperliche  Zeichen  (Epilepsie)  — Ursachen  (Alkohol,  Schädel- 
verletzungen, Schädelverbildungen)  — Pathologische  Anatomie 
(Entwicklungshemmungen,  Krankheitsvorgänge)  — Erkennung 
— Behandlung. 


Register 


602 


Die  Eiutlieilnng  der  Seelenstüruiigeii*). 


Den  Ausgangspunkt  einer  ärztlichen  Erkenntniss  der  Geistes- 
störungen bildet  naturgemäss  die  Begriffsbestimmung  und  Um- 
grenzung einzelner  Krankheitsformen.  Zu  einer  befriedigenden 
Lösung  dieser  Aufgabe  müssten  uns  einerseits  die  Veränderungen 
im  Ablaufe  der  physiologischen  Vorgänge  unserer  Hirnrinde,  anderer- 
seits die  mit  ihnen  zusammenhängenden  psychischen  Eunctions- 
störungen  genau  bekannt  sein.  Nur  dann  offenbar  wären  wir  im 
Stande,  aus  den  psychischen  Erscheinungen  auf  die  krankhaften 
körperlichen  Grundlagen  derselben  sowie  weiterhin  auf  die  Ur- 
sachen des  ganzen  Krankheitsvorganges  zurückzuschliessen  und  um- 
gekehrt. Leider  sind  wir  von  einer  derartigen  tieferen  Einsicht  in 
das  Zustandekommen  der  Geisteskrankheiten  heute  nur  allzuweit 
noch  entfernt.  Wir  können  uns  aber  auch  nicht  verhehlen,  dass 
gerade  die  Annäherung  an  jenes  uns  zunächst  vorschwebende  Ziel 
uns  höchst  wahrscheinlich  immer  eindringender  die  Unmöglichkeit 
einer  wirklich  durchgreifenden  Eintheilung  der  Seelenstörungen  dar- 
thun  wird. 

Ueberall,  wo  wir  den  Versuch  wagen,  Lebensvorgänge  ohne 
Best  und  ohne  Zwischenstufen  in  ein  Schema  einzuordnen,  machen 
wir  die  Erfahrung,  dass  sich  die  anfangs  scharf  erscheinenden  Grenzen 
bei  genauerer  Erkenntniss  des  Gegenstandes  immer  mehr  verwischen, 
dass  von  jedem  Beobachtungstypus  zahllose,  unmerklich  abweichende 
Glieder  zu  den  benachbarten  Typen  hinüberführen.  Der  Un- 
möglichkeit einer  durchgreifenden  Scheidung  zwischen  gesunden  und 


*)  Kahlbaum,  Die  Gruppirung  (1er  psychischen  Krankheiten.  1863;  Volk- 
mann’s  klinische  Vorträge,  126;  Oebbecke,  Vergleichende  Uebersicht  der  Classi- 
ficationen der  Psychosen,  Diss.  1886. 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Auil.  II.  Band. 


1 


2 


Eiutheilung  der  Seelenstürungeu. 


krankhaften  Zuständen  haben  wir  früher  schon  gedacht;  ebenso 
werden  wir  mit  Bestimmtheit  erwarten  müssen,  zwischen  ein- 
zelnen schulmässigen  „Krankheitsformen“  alle  möglichen  Uebergänge 
im  Leben  anzutreffen.  Sehen  wir  doch  auch  in  der  inneren  Medicin 
selbst  die  eigenartigsten  Krankheitsgruppen,  die  acuten  Infections- 
krankheiten,  sich  durch  eine  Menge  von  „nicht  ausgesprochenen“, 
„abortiven“  u.  s.  w.  Fällen  allmählich  in  anders  benannte  „Krankheit— 
species“  hinein  verlieren ! Eine  besonders  grosse  Ausdehnung  wird 
das  Gebiet  der  Zwischenformen  bei  den  Geistesstörungen  durch  den 
Umstand  gewinnen  müssen,  dass  die  einzelnen  Theile  des  Gehirns 
nicht  die  gleichen  Verrichtungen  haben.  Kicht  nur  die  Art  und 
Stärke  der  krankhaften  V eränderungen,  sondern  auch  ihr  besonderer 
Sitz  wird  daher  vermuthlich  eine  unübersehbare  Folge  feinerer  Ab- 
stufungen in  der  Gestaltung  des  psychischen  Zustandes  zu  erzeugen 
m Stande  sein. 

• Wenn  wir  somit  von  einer  glatten  Eintheilung  der  Seelen- 
störungen, etwa  im  Sinue  Linne’s,  für  alle  Zeiten  und  von  einer 
Aufstellung  wissenschaftlich  fest  begründeter  Typen  für  jetzt  noch 
absehen  müssen,  so  fordert  doch  das  praktische  Bedürfniss  schon 
heute  wenigstens  eine  ungefähre  Gruppirung  des  Erfahrungsrohstoffes, 
die  um  so  bleibenderen  Werth  besitzen  wird,  je  weniger  sie  sich 
durch  vorgefasste  Meinungen  in  der  nüchternen  Verarbeitung  der 
Thatsachen  beeinflussen  lässt. 

Die  sicherste  Grundlage  für  eine  derartige  Eintheilung  der 
Irreseinsformen  scheint,  namentlich  im  Hinblicke  auf  die  Erfahrungen 
der  inneren  Medicin,  zunächst  die  pathologische  Anatomie  zu 
versprechen.  Leider  indessen  liegt  die  Aussicht  auf  die  Feststellung 
verwerthbarer  Leichenbefunde  für  die  grosse  Mehrzahl  der  Geistes- 
störungen noch  in  weiter  Ferne.  Selbst  dort  aber,  wo  wir  schon 
heute  gröbere  Veränderungen  im  Gehirne  nachzuweisen  vermögen, 
fohlt  uus  doch  durchaus  noch  das  genauere  Verständniss  für  den 
Zusammenhang  der  anatomischen  Thatsachen  mit  den  klinischen  Er- 
scheinungen, so  dass  wir  es  nur  in  einzelnen  Ausnahmefällen  (Miss- 
oder Hemmungsbildungen,  ausgedehnte  Zerstörungen,  hochgradige 
Atrophie)  wagen  dürften,  am  Sectionstisclie  einigermasseu  zuver- 
sichtliche Vermuthungen  über  den  psychischen  Zustand  während  des 
Lebens  auszusprechen.  An  der  Unzulänglichkeit  des  Beobachtungs- 
materials wie  an  der  Schwierigkeit  des  Rückschlusses  auf  klinische 


Auatomische,  ursächliche,  klinische  Einteilungen. 


3 


Erscheinungen  sind  daher  auch  die  bisherigen  Versuche  einer  patho- 
logisch-anatomischen Einteilung  der  Geistesstörungen  sämmtlich  ge- 
scheitert. 

Kaum  weniger  schwerwiegende  Einwände  lassen  sich  gegen  den 
Versuch  einer  Einteilung  der  Psychosen  nach  den  Ursachen 
Vorbringen,  die  noch  in  neuester  Zeit  mit  Nachdruck  als  die  allein 
werthvolle  hingestellt  worden  ist.  Allerdings  kennen  wir  schon  heute 
einige  Ursachen,  deren  Einfluss  sich  in  ganz  bestimmten  klinischen 
Merkmalen  geltend  macht  und  somit  umgekehrt  aus  diesen  er- 
schlossen werden  kann.  Dahin  gehören  namentlich  die  verschiedenen 
Formen  von  Vergiftung  und  einzelne  körperliche  Erkrankungen, 
Kopfverletzungen,  ferner  wahrscheinlich  die  Erschöpfung,  vielleicht 
manche  heftige  Gern iithserschiitter ungen  und  endlich  die  schwereren 
Formen  der  erblichen  Entartung,  deren  Wesen  und  Wirkungsweise 
unserem  Verständnisse  freilich  noch  sehr  fern  liegt.  Dem  gegen- 
über sind  die  Ursachen  des  Irreseins  in  der  erdrückenden  Mehrzahl 
der  Fälle  für  uns  vollständig  dunkel,  wie  jede  ehrliche  Würdigung 
der  täglichen  Erfahrung  ohne  weiteres  wird  eingestehen  müssen. 
Das  liegt  nicht  allein  an  äusseren  Zufälligkeiten,  au  der  Schwierig- 
keit, gute  Anamnesen  zu  erhalten,  sondern  ist  wol  in  der  Natur  der 
Geistesstörungen  selbst  begründet.  Am  häufigsten  haben  wir  es  hier 
mit  solchen  Erkrankungen  zu  thun,  deren  wesentliche  Ursachen  in 
der  Veranlagung  oder  in  völlig  unbekannten  inneren  Zuständen  des 
Organismus  gelegen  sind.  Ausserdem  aber  spielt  die  Eigenart  des 
Einzelnen  auch  für  sein  Verhalten  gegen  äussere  Schädlichkeiten 
in  diesem  Gebiete  vielfach  eine  entscheidende  Bolle.  Gerade  die 
Erforschung  und  Zergliederung  geistiger  und  körperlicher  Persönlich- 
keiten ist  indessen  leider  bisher  nicht  über  die  allerersten  Anfänge 
hinausgekommen.  Endlich  wird  zu  berücksichtigen  sein,  dass  die 
Ursachen  der  Geistesstörungen  anscheinend  vielfach  in  Verbindung 
mit  einander  wirken,  so  dass  sich  auch  aus  diesem  Grunde  der  innere 
Zusammenhang  der  gegebenen  Erscheinungen  fast  niemals  mit  jener 
Klarheit  durchschauen  lässt  wie  etwa  bei  dem  Entstehen  einer  In- 
fectionskrankheit. 

Bei  weitem  am  häufigsten  ist  der  Weg  einer  Eintheilung  der 
Geistesstörungen  nach  ihren  klinischen  Zeichen  eingeschlagen 
worden,  weil  die  Erscheinungen  des  Irreseins  dem  Beobachter  am 
unmittelbarsten  in  die  Augen  fallen.  Auch  dieses  Verfahren  stösst 

l* 


4 


Eintheilung  der  Seelenstörungen. 


sehr  bald  auf  Schwierigkeiten,  sobald  es  gilt,  das  Wesentliche  vom 
Zufälligen  und  Nebensächlichen  zu  unterscheiden.  Es  führt  mit  einer 
gewissen  Nothwendigkeit  zur  Ueberschätzung  des  einzelnen  Merk- 
mals, zu  der  Neigung,  alle  Krankheitsfälle  zu  einer  Form  zusammen- 
zufassen, denen  eine  bestimmte  auffallendere  Störung  gemeinsam  ist 
Die  Geschichte  der  Psychiatrie  bis  auf  die  Gegenwart  herab  ist  voll 
von  derartigen  Verirrungen.  Heute  freilich  sollte  allein  das  Bei- 
spiel der  Dementia  paralytica  lehren,  dass  es  einzelne  untrügliche 
Kennzeichen  auf  dem  Gebiete  des  Irreseins  schlechterdings  nicht 
giebt,  sondern  dass  nur  das  Gesammtbild  eines  Krankheits- 
falles in  seiner  Entwicklung  vom  Anfang  bis  zum  Ende  die 
Berechtigung  zur  Vereinigung  mit  anderen  gleichartigen  Beobach- 
tungen gewähren  kann.  Dieselben  Einzelerscheinungen  können  sich, 
wie  die  Erfahrung  zeigt,  unter  gewissen  Umständen  in  sonst  völlig 
auseinandergehenden  Fällen  einstellen,  wie  etwa  Fieber,  Husten, 
Brustschmerzen  u.  s.  f.  bei  den  verschiedenartigsten  Lungenerkran- 
kungen. Dazu  kommt,  dass  uns  bei  der  Unvollkommenheit  unserer 
Forschungsmittel  die  vielleicht  durchaus  verschiedene  Ehtstehungs- 
weise  und  Bedeutung  für  wesensgleich  gehaltener  Erscheinungen 
gänzlich  verborgen  bleiben  kann.  Man  denke  mir  an  die  Verwirrung, 
welche  etwa  ein  Zusammenwerfen  aller  körperlichen  Erkrankungen 
mit  Albuminurie  zur  Folge  haben  würde! 

Besässen  wir  auf  einem  der  drei  Gebiete,  der  pathologischen 
Anatomie,  der  Aetiologie  oder  der  Symptomatologie  des  Irreseins 
eine  durchaus  erschöpfende  Kenntniss  aller  Einzelheiten,  so  würde 
sich  nicht  nur  von  jedem  derselben  her  eine  einheitliche  und  durch- 
greifende Eintheilung  der  Psychosen  auffinden  lassen,  sondern  jede 
dieser  drei  Gruppirungen  würde  auch  — diese  Forderung  ist 
der  Grundpfeiler  unserer  wissenschaftlichen  Forschung  überhaupt 
— mit  den  beiden  anderen  wesentlich  zusammenfallen. 
Die  aus  den  gleichen  Ursachen  hervorgegangenen  Krankheitsfälle 
würden  stets  auch  dieselben  Erscheinungen  und  denselben  Leichen- 
befund darbieten  müssen.  Aus  dieser  Grundanschauung  ergiebt 
sich,  dass  die  klinische  Gruppirung  der  psychischen  Störungen  sich 
auf  alle  drei  Hiilfsmittel  der  Eintheilung,  denen  man  noch  die  aus 
dem  Verlaufe,  dem  Ausgange,  ja  der  Behandlung  gewonnenen  Er- 
fahrungen hinzufügen  muss,  gleichzeitig  zu  stützen  haben  wird. 
Je  mehr  sich  dabei  die  aus  der  verschiedenartigen  Betrachtung  ge- 


Praktische  Gesichtspunkte. 


5 


wonnenen  Formen  mit  einander  decken,  desto  grösser  ist  die  Sicher- 
heit, dass  diese  letzteren  wirklich  eigenartige  Krankheitszustände 
darstellen. 

Gerade  dieses  Verfahren  ist  auf  der  heutigen  Entwicklungs- 
stufe unserer  Wissenschaft  das  einzige,  welches  auch  die  an  uns 
herantretenden  praktischen  Forderungen  einigermassen  zu  be- 
friedigen vermag.  Die  erste  Aufgabe  des  Arztes  am  Krankenbette 
ist  es,  sich  ein  Urtheil  über  den  voraussichtlichen  weiteren  Ver- 
lauf des  Krankheitsfalles  zu  bilden.  Diese  Frage  wird  unter  allen 
Umständen  zunächst  an  ihn  gerichtet.  Der  Werth  jeder  Diagnose  für 
die  praktische  Thätigkeit  des  Irrenarztes  bemisst  sich  daher  ganz 
wesentlich  danach,  wie  weit  sie  sichere  Ausblicke  in  die 
Zukunft  eröffnet.  Gleiche  Krankheitsursachen  werden  im  all- 
gemeinen auch  einen  gleichen  Verlauf  des  Leidens  bedingen,  und 
aus  den  klinischen  Zeichen  müssen  wir  im  Stande  sein,  die  weiteren 
Schicksale  unseres  Kranken  in  grossen  Zügen  herauszulesen.  Zur 
Erreichung  dieses  Zieles  ist  es  nöthig,  alle  Handhaben  zu  ergreifen, 
welche  die  Beobachtung  uns  irgend  zu  bieten  vermag:  das  ist 
der  Grundsatz,  der  uns  überall  leiten  sollte,  wo  wir  es  mit  der 
Abgrenzung  und  Begriffsbestimmung  einzelner  Krankheitsformen  zu 
thun  haben. 

Wenn  wir  in  diesem  Sinne  auch  heute  schon  thatsächlich  eine 
ganze  Reihe  von  Psychosen  kennen,  die  mindestens  ebensogut  ge- 
kennzeichnet sind  wie  die  Mehrzahl  der  körperlichen  Krankheiten“, 
so  setzen  doch  grosse  Gebiete  des  Irreseins  den  Eintheilungs- 
bestrebungen  derartige  Schwierigkeiten  entgegen,  dass  man  nicht 
selten  eine  befriedigende  Gruppirung  der  Seelenstörungen  als  eine 
vielleicht  überhaupt  unlösbare  Aufgabe  betrachtet  hat.  Ich  kann 
diese  Anschauung  nur  insoweit  theilen,  als  sie  die  oben  erwähnten 
grundsätzlichen  Hindernisse  einer  Einzwängung  von  Lebens- 
vorgängen in  scharf  abgegrenzte  Formen  im  Auge  hat.  Dagegen 
scheint  mir  der  soeben  angedeutete  Weg  durchaus  gangbar.  Jedem 
Irrenarzte  ist  es  bekannt,  dass  uns  bisweilen  Fälle  begegnen,  welche 
in  jeder  Beziehung,  nach  Entstehungsart,  allen  Einzelheiten  der 
Krankheitserscheinungen  und  weiterem  Verlaufe  eine  geradezu  ver- 
blüffende Uebereinstimmung  mit  einander  darbieten.  Derartige  Be- 
obachtungen werden  den  natürlichen  Ausgangspunkt  unserer  Ein- 
theilungsbestrebungen  zu  bilden  haben.  Durch  strenge  Ausscheidung 


6 


Eintheilung  der  Seelenßtörungen. 


aller  nicht  ganz  dem  ersten  Typus  entsprechenden  Fälle  werden 
wir  zunächst  zur  Aufstellung  zahlreicher  kleinerer,  wenig  von 
einander  abweichender  Gruppen  geführt,  deren  nähere  und  fernere 
Verwandtschaft  sich  beim  Ueberblick  über  grosse  Beobachtungs- 
reihen unschwer  wird  erkennen  lassen.  Die  gewissenhafte  Zer- 
splitterung der  Formen  in  ihre  kleinsten  und  anscheinend  unbe- 
deutendsten Abänderungen,  wie  wir  sie  etwa  heute  in  der  Lehre 
von  der  Muskelatrophie  wiederfinden,  ist  somit  die  unerlässliche  A'or- 
stufe  für  die  Gewinnung  wirklich  einheitlicher,  der  Natur  entsprechen- 
der Krankheitsbilder. 

Bis  zur  Erreichung  dieses  Zieles  bedarf  es  noch  lange  fort- 
gesetzter, sorgfältiger  Einzelbeobachtung.  Niemand  wird  daher  die 
lediglich  vorläufige  Bedeutung  aller  heute  möglichen  Aufstellungen 
verkennen  wollen,  aber  man  darf  dennoch  hoffen,  dass  die  weitere 
Entwicklung  der  klinischen,  alle  Eigentümlichkeiten  unseres 
Gegenstandes  gleichmässig  verwertenden  Betrachtungsweise  uns  in 
nicht  allzu  langer  Zeit  zu  einer  Gruppirung  der  Psychosen  führen 
wird,  welche  sich  den  entsprechenden  Leistungen  im  Bereiche  der 
übrigen  Medicin  völlig  gleichberechtigt  an  die  Seite  zu  stellen  vermag. 

Die  von  mir  im  folgenden  durchgeführte  Eintheilung  beginnt 
mit  denjenigen  Formen  des  Irreseins,  die  durch  äussere  Ursachen 
hervorgerufen  werden.  Dahin  gehören  die  Geistesstörungen  nach 
infectiösen  Erkrankungen,  die  Erschöpfungspsychosen,  in- 
sofern sie  ebenfalls  in  der  Regel  durch  schwere  körperliche 
Schädigungen  erzeugt  werden,  endlich  die 'Vergiftungen.  An  die 
Vergiftungen  durch  von  aussen  eindringende  Stoffe  schliessen  sich 
die  Selbstvergiftungen  durch  Stoffwechselerzeugnisse  an,  von 
denen  wir  allerdings  auf  unserem  Gebiete  etwas  genauer  heute  nur 
die  Folgezustände  der  Schilddrüsenerkrankungen  kennen.  Es 
liegen  indessen,  wie  ich  glaube,  eine  Reihe  von  Anhaltspunkten  für 
die  Annahme  vor,  dass  auch  noch  andere  Formen  des  Irreseins,  ins- 
besondere die  Dementia  praecox  und  die  Paralyse,  auf  Selbst- 
vergiftungen beruhen,  deren  Wesen  und  Entstehung  dort  freilich 
noch  gänzlich  unbekannt  ist,  während  wir  hier  als  letzte  Ursache 
in  der  Regel  eine  syphilitische  Ansteckung  zu  verzeichnen  haben. 

Als  weitere  kleine  Untergruppe  wurde  das  Irresein  bei 
Hirn erkrankungen  zusammengefasst.  Hier  ist  meist  von  äusseren 
Ursachen  nicht  mehr  die  Rede,  wenn  wir  von  den  Geistesstörungen 


Eigene  Einteilung. 


7 


nach  Kopfverletzungen  absehen.  Höchstens  können  wir  bei  manchen 
Geschwülsten,  bei  den  Embolien,  bei  syphilitischen  Veränderungen 
die  Himerkrankung  auf  allgemeinere  oder  an  anderen  Punkten  des 
Körpers  gelegene  Leiden  zurückführen.  Dagegen  bestellen  gewisse 
klinische  Beziehungen  zu  den  schweren  Vergiftungen  und  zur  Para- 
lyse, insofern  wir  es  in  allen  diesen  Fällen  mit  ausgebreiteten  Zer- 
störungen des  Hirngewebes  zu  thun  haben,  die  nicht  nur  in  psychi- 
schen, sondern  auch  in  körperlichen  Krankheitszeichen  sich  be- 
merkbar machen.  Aehnliches  gilt  für  die  Geistesstörungen  der 
höheren  Lebensalter.  Allerdings  finden  wir  hier  gröbere  Erkrank- 
ungen des  Hirns  in  Gestalt  von  Altersveränderungen  nur  bei  den 
eigentlich  senilen  Formen.  Wir  sehen  indessen  das  Irresein  der 
Rückbildungsjahre  so  unmerklich  in  den  eigentlichen  Altersblödsinn 
übergehen,  dass  es  unmöglich  erscheint,  beide  Gruppen  grundsätzlicli 
von  einander  zu  trennen.  Vielmehr  dürfen  wir  vielleicht  annehmen, 
dass  schon  in  der  Rückbildungszeit  sich  die  ersten  Andeutungen 
jener  Störungen  kundgeben,  die  späterhin  zu  schwerem  geistigen 
Siechthume  führen  können. 

Die  Gruppe  der  Rückbildungspsychosen  leitet  uns  hinüber  zu 
denjenigen  Formen  des  Irreseins,  bei  deren  Entstehung  mehr  und 
mehr  die  krankhafte  Veranlagung  in  den  Vordergrund  tritt. 
Zweifellos  spielt  schon  dort  ausser  den  aufreibenden  Einflüssen  der 
Lebensarbeit  auch  die  ursprüngliche  Widerstandsfähigkeit  eine 
wichtige  Rolle.  In  noch  höherem  Grade  aber  scheint  das  bei 
jener  allmählichen  krankhaften  Umwandlung  der  gesammten  psychi- 
schen Persönlichkeit  der  Fall  zu  sein,  die  wir  als  Verrücktheit 
bezeichnen.  Dasselbe  gilt  ohne  jeden  Zweifel  vom  manisch-depres- 
siven Irresein.  Der  einzelne  Anfall  des  Leidens  kann  dabei  aller- 
dings recht  wrol  durch  äussere  Schädigungen  ausgelöst  werden.  Da- 
gegen zeigt  uns  die  häufige  Entstehung  ohne  Anlass  und  namentlich 
die  Uebereinstimmung  der  klinischen  Krankheitsbilder  unter  den 
verschiedensten  Bedingungen,  dass  die  eigentliche  Ursache  nicht  in 
äusseren  Anstössen,  sondern  in  der  besonderen  krankhaften  Ver- 
anlagung des  Einzelnen  gelegen  ist. 

Ist  hier  die  grundlegende  krankhafte  Eigentümlichkeit  während 
der  Zwischenzeiten  zwischen  den  Anfällen  meist  gar  nicht  erkenn- 
bar, so  macht  sie  sich  in  der  Regel  dauernd  recht  deutlich  bemerk- 
bar bei  der  nun  folgenden  Gruppe  von  Erkrankungen,  die  unter 


8 


Eintheilung  der  Seelenstörungen. 


dem  gebräuchlichen  Namen  der  allgemeinen  Neurosen  zusammen- 
gefasst werden  sollen.  Hier  können  mit  oder  ohne  besonderen  An- 
stoss  mannigfaltige,  aber  klinisch  gut  gekennzeichnete  Psychosen  zu 
Stande  kommen,  meist  von  kürzerer  Dauer,  nach  deren  Ablauf  der 
krankhafte  Grundzustand  unverändert  wieder  hervortritt.  Was  diese 
Gruppe  vor  anderen  auszeichnet,  ist  die  Häufigkeit  der  verschieden- 
artigsten functioneilen  nervösen  Störungen. 

Den  allgemeinen  Neurosen  nahe  verwandt  sind  die  einfachen 
psychopathischen  Zustände,  die  mit  geringen  Schwankungen  das 
ganze  Leben  hindurch  wesentlich  unverändert  andauern.  Wir  haben 
es  hier  mit  krankhaft  gearteten  Persönlichkeiten  zu  thun,  welche 
nach  irgend  einer  Richtung  hin  aus  dem  Rahmen  des  gesunden 
Seelenlebens  heraustreten.  Vorübergehende  stärkere  Störungen  ihres 
psychischen  Gleichgewichtes,  Erregungen,  Verstimmungen,  kommen 
auch  hier  nicht  selten  zur  Beobachtung,  aber  es  handelt  sich  dabei 
nicht  um  abgegrenzte  Krankheitsbilder,  wie  bei  den  allgemeinen 
Neurosen,  sondern  einfach  um  Verschlimmerungen  des  mehr  oder 
weniger  deutlich  fortbestehenden  eigenthümlichen  Zustandes. 

Den  Schluss  der  langen  Reihe  bilden  diejenigen  Zustände, 
welche  wesentlich  seelische  Entwicklungshemmungen  bedeuten. 
Das  klinische  Bild  entspricht  hier  noch  weniger,  als  in  der  vorigen 
Gruppe,  einer  eigentlichen  Krankheit,  sondern  nur  einer  unvoll- 
kommenen Ausbildung  der  psychischen  Persönlichkeit.  Bisweilen 
liegen  diesen  Defectzuständen  geradezu  körperliche  Entwicklungs- 
hemmungen zu  Grunde.  Häufiger  aber  sind,  wie  es  scheint.  Krank- 
heitsvorgänge im  unentwickelten  Gehirne,  die  durch  theilweise  Ver- 
nichtung desselben  die  psychische  Ausbildung  unmöglich  machen. 
Streng  genommen  sollte  man  die  Eälle  letzterer  Art  den  Hirnkrank- 
heiten zurechnen.  Allein  wir  sind  auf  der  einen  Seite  heute  noch 
nicht  im  Stande,  hier  im  Leben  überall  sicher  zwischen  Entwicklungs- 
hemmung und  Hirnerkrankung  zu  unterscheiden;  andererseits  aber 
wird  das  klinische  Bild  in  so  hohem  Grade  durch  das  gemeinsame 
Merkmal  der  angeborenen  psychischen  Unfähigkeit  beherrscht,  dass 
sich  einstweilen  wenigstens  die  Trennung  jener  beiden  ursächlich 
auseinandenveichenden  Gruppen  nicht  empfiehlt.  Ja,  wir  werden 
sogar  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  diesen  Defectzuständen 
auch  diejenigen  Schwachsinnsformen  zurechnen,  welche  in  den  ersten 
Lebensjahren  durch  schwere  Hirnerkrankungen  erzeugt  werden.  Auch 


Eigene  Einteilung. 


9 


bei  ihnen  wird  die  Entwicklung  einer  psychischen  Persönlichkeit  in 
der  ersten  Anlage  vernichtet. 

Am  Schlüsse  dieser  Ausführungen  darf  ich  nicht  unterlassen, 
nachdrücklich  darauf  hinzuweisen,  dass  so  manche  der  im  folgenden 
abgegrenzten  Krankheitsbilder  nur  Versuche  sind,  einen  gewissen 
Theil  des  Beobachtungsmaterials  wenigstens  vorläufig  in  der  Form 
des  klinischen  Lehrstoffes  darzustellen.  Ueber  ihre  wahre  Bedeutung 
und  über  ihr  gegenseitiges  Verhältniss  wird  erst  die  dringend  not- 
wendige monographische  Durcharbeitung  des  ganzen  Gebietes  allmäh- 
lich Klarheit  bringen.  Es  ist  ferner  unbestreitbar,  dass  es  uns  heute 
trotz  redlichsten  Bemühens  noch  in  einer  recht  erheblichen  Zahl  von 
Fällen  schlechterdings  nicht  gelingt,  sie  in  den  Kähmen  einer  der 
bekannten  Formen  des  „Systems“  einzuordnen.  Ja,  nach  manchen 
Richtungen  hat  die  Anzahl  derartiger  Beobachtungen  sogar  zuge- 
nommen, und  an  die  Stelle  zuversichtlichen  Wissens  ist  vielfach  Un- 
sicherheit und  Zweifel  getreten.  Für  den  Schüler  hat  diese  That- 
sache  gewiss  etwas  Beunruhigendes  — dem  Forscher  bedeutet  sie 
nichts,  als  den  Bruch  mit  der  herkömmlichen  Verschwommenheit 
unserer  Diagnosen  zu  Gunsten  einer  schärferen  Begriffsbestimmung 
und  eines  tieferdringenden  Verständnisses  der  klinischen  Erfahrungen. 


Lehrbücher  der  Psychiatrie. 

W.  Griesinger,  Die  Pathologie  und  Therapie  der  psychischen  Krankheiten. 
4.  Aufl.  1876.  Eine  5.  Auflage  ist  1892  von  Levinstein-Sehlegel 
herausgegeben  worden. 

H.  Schtile,  Klinische  Psychiatrie  (v.  Ziemssen’s  Handbuch  der  Pathologie  und 
Therapie,  XVI).  3.  Auflage.  1886. 

E.  v.  Krafft-Ebing,  Lehrbuch  der  Psychiatrie.  6.  Auflage.  1897. 

J.  Salgö  (Weiss),  Compendium  der  Psychiatrie.  2.  Auflage.  1889. 

R.  Arndt,  Lehrbuch  der  Psychiatrie.  1888. 

H.  Neumann,  Leidfaden  der  Psychiatrie  für  Mediriner  und  Juristen.  1883. 

Th.  Meynert,  Psychiatrie.  Klinik  der  Erkrankungen  des  Vorderhirns.  Erste 
Hälfte.  1884. 

J.  L.  A.  Koch,  Kurzgefasster  Leitfaden  der  Psychiatrie.  2.  Auflage.  1889. 

Th.  Meynert,  Klinische  Vorlesungen  über  Psychiatrie.  1890. 

Th.  Kirchhoff,  Lehrbuch  der  Psychiatrie.  1892. 

Fr.  Scholz,  Lehrbuch  der  Irrenheilkunde.  1892. 


10 


0.  Dornblüth,  Compendiutn  der  Psychiatrie.  1894. 

Th.  Ziehen,  Psychiatrie.  1894. 

C.  Wernicke,  Grundriss  der  Psychiatrie,  Theil  I.  1894;  II.  1896. 

Aus  der  neueren  französischen  Literatur  wären  hier  zu  erwähnen  die  grösseren 
Werke  von  Dagonet  (1876,  Neue  Bearbeitung  1894),  Luys  (1881),  Ball  (2.  AufL, 
1890),  dann  die  kleineren  von  Bra  (1883),  Cullerre  (1889),  Regis  (2.  Auflage,  1892)^ 
Max  Simon  (1891),  Sollier  (1893).  Dazu  kommen  die  gesammelten  Abhandlungen 
von  A.  Voisin  (1883),  Baillarger  (1890),  Cotard  (1890),  Falret  (1890),  Magnan 
(1893),  Seglas  (1895),  endlich  der  Abschnitt  über  Geisteskrankheiten  von  Ballet 
aus  dem  grossen  Handbuche  der  Medicin  von  Bouchard  (1895).  In  England  sind 
Lehrbücher  erschienen  von  Clouston  (4.  Auflage,  1896),  Savage  (1894,  deutsch 
von  Knecht,  1887),  Lewis  (1890),  Blandford  (4.  Auflage,  1894),  Shaw  (1892), 
Campbell  Clarke  (1897),  Kellogg  (1897),  sowie  das  grosse  Sammelwerk  von 
Hack  Tuke  (1892),  in  America  die  Werke  von  Spitzka  (1887)  und  Hammond 
(1883),  in  Italien  das  kurze  Lehrbuch  von  Agostini  (1897)  und  die  Bearbeitung 
des  Ballet’schen  Werkes  mit  Blocq’s  Darstellung  der  progressiven  Paralyse 
von  Morselli,  weiterhin  in  Dänemark  die  Vorlesungen  von  Pontoppidan  (1892 
und  1893),  endlich  in  Russland  das  Buch  von  Kowalewski  (1887)  und  dasjenige 
von  Korssakow  (1893). 


I.  Das  infectiöse  Irresein. 


Wir  beginnen  unsere  Darstellung  der  klinischen  Krankheits- 
formen mit  denjenigen  Geistesstörungen,  die  durch  Infectionsgifte 
erzeugt  werden.  Gemeinsam  ist  ihnen  die  Verbindung  mit  den 
körperlichen  Allgemeinerscheinungen,  welche  das  Eindringen  und 
Wuchern  der  verschiedenen  Krankheitserzeuger  begleiten.  Ob  die 
Rindenveränderungen,  die  sich  hier  abspielen,  überall  auf  dieselbe 
Weise,  durch  unmittelbare  Giftwirkung  bestimmter  Toxine,  zu  Stande 
kommen,  erscheint  noch  zweifelhaft;  für  gewisse  Formen  liegt  die 
Annahme  nahe,  dass  wir  es  mit  gütigen  Zerfallsstoffen  zu  thun  haben, 
die  erst  mittelbar  aus  den  Störungen  des  Körperhaushaltes  hervor- 
gehen. Höchst  wahrscheinlich  aber  haben  wir  jedem  Krankheitsgifte 
eigenartige  Wirkungen  zuzuschreiben,  auch  wenn  wir  heute  die  ein- 
zelnen Formen  klinisch  und  anatomisch  noch  nicht  klar  auseinander 
zu  halten  vermögen.  Ansätze  zu  einer  derartigen  Scheidung  sind 
immerhin  schon  vorhanden;  auch  giebt  es  Infectionskrankheiten, 
wie  z.  B.  den  Tetanus,  die  trotz  der  schwersten  nervösen  Störungen 
das  Seelenleben  fast  unberührt  lassen.  Die  bei  anderen  Giften 
immer  deutlicher  hervortretende  Verschiedenheit  in  Art  und  Richtung 
der  Beeinflussung,  zu  der  unsere  electiven  Färbe  verfahren  ein  Seiten- 
stück liefern,  dürfte  sich  demnach  auch  für  die  durch  Infectionen 
erzeugten  Gifte  allmählich  nachweisen  lassen.  Vor  der  Haud  frei- 
lich werden  wir  uns  hier  darauf  beschränken  müssen,  einzelne, 
klinisch  schon  etwas  besser  gekannte  Krankheitsgruppen  in  groben 
Umrissen  zu  zeichnen.  Es  sei  uns  gestattet,  dabei  die  gewöhnlichen 
Fieberdelirien,  die  eigenartigen  Infectionsdelirien  und  die 
infectiösen  Schwächezustände  auseinander  zu  halten,  wie  wir 
sie  als  länger  dauernde  Nachkrankheiten  schwerer  Infectionen  be- 
obachten. 


12 


T.  Das  infectiöse  Irresein. 


A.  Die  Fieberdelirien. 

Den  Fieberdelirien  hat  man  wegen  ihrer  kurzen  Dauer  und 
ihrer  nur  ,, symptomatischen“  Bedeutung  häufig  die  Zugehörigkeit  zu 
den  Geisteskrankheiten  überhaupt  streitig  gemacht:  eine  fortschreitende 
Erfahrung  hat  uns  indessen  noch  weit  kürzer  dauernde  Psychosen 
kennen  gelehrt  und  uns  zu  einer  wesentlich  symptomatischen  Auf- 
fassung jeglichen  Irreseins  geführt.  Das  Krankheitsbild,  welches  die 
Fieberdelirien  darbieten,  ist  kein  gleichförmiges;  vielmehr  können 
wir  mit  Liebermeister*)  mehrere  Grade  der  Störung  unter- 
scheiden, welche  augenscheinlich  der  Ausbildung  des  krankhaften 
Vorganges  im  Gehirn  entsprechen  und  uns  von  den  Erscheinungen 
der  Beizung  allmählich  in  diejenigen  der  Lähmung  und  völligen 
Vernichtung  des  Seelenlebens  hinüberführen. 

Der  erste  Grad  des  Fieberdeliriums  kennzeichnet  sich  durch 
allgemeines  Unbehagen,  Eingenommenheit  des  Kopfes,  Empfindlich- 
keit gegen  stärkere  Sinneseindrücke,  Reizbarkeit,  Unlust  zu  geistiger 
Arbeit,  leichte  Unruhe  und  Störung  des  Schlafes  mit  lebhaften, 
ängstlichen  Träumen.  Im  zweiten  Grade  greift  die  Bewusstseins- 
störung tiefer;  die  Wahrnehmung  wird  durch  illusionäre  und 
hallucinatorische,  rasch  sich  mehrende  Sinnestäuschungen  verfälscht. 
Die  Vorstellungen  gewinnen  eine  grosse  Lebendigkeit:  der  Verlauf 
derselbeu  entzieht  sich  in  buntem,  traumartigem  Zusammenhänge 
dem  bewussten  Einflüsse  der  Kranken.  Sie  glauben  sich  von  fabel- 
haften Gestalten  bedroht  und  ringen  in  verzweifeltem  Kampfe  mit 
vermeintlichen  Gegnern ; sie  sehen  aus  den  Mustern  der  Tapete  sich 
grinsende  Fratzen  oder  Engelsköpfe  bilden , die  sich  loslösen  und 
im  Zimmer  herumfliegen;  sie  fühlen,  wie  ihnen  der  Kopf  abgenommen 
wird,  wie  Jemand  an  ihrer  Bettdecke  zupft.  Federleicht,  schwebend 
werden  sie  über  bunte,  fabelhafte  Gegenden,  durch  prächtig  ge- 
schmückte Räume  getragen:  Glockenläuten  ertönt  und  wirres 

Schreien,  ein  feindliches  Verdammungsurtheil  oder  liebliche  Musik. 
In  alle  diese  zusammenhangslosen  Einbildungen  hinein  mischen  sich 
dann  einzelne  wirkliche  Wahrnehmungen,  die  auch  wol  für  Augen- 
blicke den  Kranken  zur  Besonnenheit  zurückrufen;  alsbald  aber 


*)  Liebermeister,  Deutsches  Archiv  für  Min.  Medicin  I,  548. 


Fieberdelirien. 


18 


versinkt  er  wieder  in  die  Fluth  der  massenhaft  hereindringenden 
Täuschungen.  Zugleich  wächst  die  Unruhe;  lebhafte  heitere  oder 
traurige  Stimmungen  tauchen  auf  und  entwickeln  sich  zu  Gemüts- 
bewegungen, bis  dann  auf  der  Höhe  des  dritten  Grades  das  Krank- 
heitsbild einer  starken  Bewusstseinstrübung  mit  völliger  Unbesinn- 
lichkeit, verworrener  Ideenjagd,  heftigen,  oft  wechselnden  Gefühls- 
ausbrüchen und  mächtigem,  selbst  rasendem  Bewegungsdrange  zur 
Ausbildung  gelangt  ist.  Allerdings  gesellen  sich  nun  schon  häufig 
einzelne  Lähmungszeichen  diesen  psychischen  Reizungserscheinungen 
hinzu  (vorübergehende  Schlafsucht,  Schwäche  und  Unsicherheit  der 
Bewegungen)  und  deuten  bereits  den  Uebergang  in  den  völligen 
Verfall  des  psychischen  Lebens  an.  Im  vierten  Grade  schwächt 
sich  die  Erregung  zum  Flockenlesen  und  unsicheren  Herumtasten 
ab.  Der  Kranke  murmelt  einzelne  zusammenhangslose  AVorte  oder 
Sätze  vor  sich  hin  (blande,  mussitirende  Delirien)  und  versinkt 
schliesslich  in  einen  Zustand  dauernder  Betäubung  (Koma,  Lethargie), 
aus  dem  er  gar  nicht  oder  doch  nur  durch  sehr  kräftige  Reize  vor- 
übergehend erweckt  werden  kann  (Koma  vigil). 

Die  besondere  Art  der  fieberhaften  Erkrankung  scheint  die  Ge- 
staltung der  Delirien  im  ganzen  wenig  zu  beeinflussen.  Nur  die 
Schnelligkeit,  mit  welcher  sich  das  Fieber  entwickelt,  die  Stärke 
und  Dauer  desselben  sowie  der  Zustand  der  lebenswichtigen  Organe 
ist  massgebend.  Immerhin  dürften  bei  Variola,  Scharlach,  Erysipel, 
bisweilen  auch  beim  Gelenkrheumatismus,  rasch  ausbrechende  ver- 
wirrte Aufregungszustände  überwiegen,  während  in  der  Pneumonie 
und  im  Typhus  mehr  die  deliriöse  Benommenheit  und  leichte  Be- 
täubung beobachtet  werden.  Eine  eigenartige  Gruppe  der  Fieber- 
delirien bilden  die  bisweilen  beim  Gelenkrheumatismus,  seltener 
auch  bei  Scharlach  und  einigen  anderen  Erkrankungen  beobachteten 
Fälle  mit  plötzlicher  Entwicklung  hyperpyretischer  Temperaturen 
( — 44°).  Hier  pflegen  nach  leichten  Vorboten,  Unruhe,  Sprechen  im 
Schlafe,  Geschwätzigkeit  oder  Stumpfheit,  rasch  ausserordentlich  heftige 
deliriöse  Erregungszustände  einzutreten,  die  bis  zum  Tode  andauern 
oder  allmählich  in  schwere  Benommenheit  übergehen. 

Als  die  krankhafte  Grundlage  der  Fieberdelirien  können 
einmal  das  Fieber  selbst  (Temperatursteigerung,  Beschleunigung  des 
Stoffwechsels,  Auftreten  besonderer  Zerfallsstoffe),  sodann  Kreislaufs- 
störungen (Wallungen,  später  Stauungen,  namentlich  bei  Beein- 


14 


I.  Das  infectiöse  Irresein. 


trächtigung  der  Herzthätigkeit),  Organerkrankungen  und  endlich  die 
Wirkung  infectiöser  Krankheitsgifte  angesehen  werden.  Möglicher- 
weise sind  sogar  diese  letzteren  die  eigentlich  massgebenden  Ur- 
sachen, so  dass  wir  die  Fieberdelirien  vielleicht  nur  als  eine  be- 
sondere Form  der  Infectionsdelirien  anzusehen  haben.  Nicht  selten 
kommt  jedoch  auch  dem  Alkoholismus  eine  wesentliche  ursächliche 
Bedeutung  zu,  vor  allem  bei  der  Pneumonie.  Im  übrigen  spielt  die 
Veranlagung  bei  der  eingreifenden  Natur  der  Krankheitsursachen 
eine  verhältnissmässig  geringe  Bolle,  doch  ist  es  eine  sehr  bekannte 
Erfahrung,  dass  jüngere  Lebensalter,  Frauen  und  nervöse  Menschen 
schon  bei  niedrigeren  Fiebergraden  leichter  zu  Delirien  geneigt  sind. 

Die  Prognose  dieser  Störungen  wird  durch  den  Umstand  ge- 
trübt, dass  sie  vorzugsweise  schwerere  Erkrankungsfälle  zu  begleiten 
pflegen;  nach  meiner  Statistik  starben  35,6%  der  Kranken,  doch 
haben  dabei  nur  sehr  ausgeprägte  Formen  der  Delirien  Verwerthung 
gefunden.  Von  den  hyperpyretischen  Fällen  scheinen  nur  etwa  % 
mit  dem  Leben  davonzukommen.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der 
Fälle  (70,6%)  übersteigt  die  Dauer  des  Irreseins  eine  Woche  nicht: 
fast  regelmässig  schwindet  die  Störung  mit  dem  Abfalle  des  Fiebers. 
Nicht  allzu  selten  indessen  bestehen  wenigstens  einzelne  auf  der 
Höhe  der  Erkrankung  entstandene  Einbildungen  noch  einige  Zeit 
lang  fort.  Der  im  Delirium  gesammelte  Reichthum,  die  prächtigen 
Kutschen,  über  welche  der  Kranke  verfügte,  das  über  ihn  gesprochene 
Todesurtheil,  die  Unthat,  die  er  begangen  hat,  beglücken  und  quälen 
ihn  noch  so  lange,  bis  allmählich  die  getrübte  Besonnenheit  sich 
vollständig  wieder  klärt.  In  einzelnen  Fällen  gehen  die  Fieber- 
delirien unmittelbar  in  die  später  zu  schildernden  infectiöseu 
Schwächezustände  über,  oder  es  entwickeln  sich  nach  dem  Abfalle 
des  Fiebers  jene  Krankheitsbilder,  die  wir  als  Erschöpfungspsychoseu 
zu  betrachten  pflegen.  Endlich  kann  natürlich  die  fieberhafte  Krank- 
heit unter  Umständen  auch  solche  Formen  des  Irreseins  auslösen, 
die  eigentlich  eine  ganz  andere  Entstehungsweise  haben.  Nament- 
lich die  einzelnen  Anfälle  des  manisch-depressiven  Irreseins  kommen 
hier  in  Betracht,  ferner  bisweilen  die  Paralyse  und  die  Dementia 
praecox;  so  sah  ich  z.  B.  eine  Katatonie  sich  an  eine  Lungen- 
entzündung anschliesscn.  Natürlich  ist  in  solchen  Fällen  das  Fieber 
nicht  die  Ursache,  sondern  nur  der  äussere  Anstoss  zum  Ausbruche 
der  anderweitig  vorbereiteten  Geistesstörung. 


Infectiousdelirieu. 


15 


Die  Behandlung  der  Fieberdelirien  ist  im  allgemeinen  die- 
jenige des  Grundleidens.  Ausserdem  kann  man  sich  des  Eisbeutels 
auf  den  Kopf  zur  Bekämpfung  der  Hirnhyperaomie  bedienen.  Einen 
sehr  entschiedenen  Einfluss  auf  die  Milderung  der  Fieberdelirien 
üben  ferner  die  Anwendung  kühler  Bäder  sowie  kalte  Einwickelungen 
und  Abreibungen  aus,  die  man  bei  gleichzeitiger  Herzschwäche 
zweckmässig  mit  der  Darreichung  von  starkem  Kaffee  verbindet. 
Wenig  oder  gar  nichts  leisten  die  eigentlichen  Fiebermittel,  die  ja 
zum  Theil  selbst  Delirien  zu  erzeugen  im  Stande  sind.  Ausser  den 
durch  die  körperliche  Erkrankung  selbst  erforderten  Massnahmen  ist 
auf  sorgfältige  Ueberwachung  deliriöser  Kranker  Bedacht  zu 
nehmen,  da  dieselben  unter  allen  Umständen  sich  und  Andern  ge- 
fährlich werden  (Gewaltthaten  begehen,  entfliehen,  aus  dem  Fenster 
springen)  können.  Heftige  Aufregungszustände  pflegen  in  Kranken- 
häusern mit  der  Zwangsjacke  behandelt  zu  werden;  in  der  Irren- 
anstalt gelingt  es  unter  dem  Beistände  eines  ruhigen  und  gewandten 
Personals  regelmässig,  ohne  jenes  bedenkliche  Hülfsmittol  mit  der 
einfachen  Bettbehandlung  oder  Dauerbädern,  im  äussersten  Nothfalle 
mit  Polsterbett  oder  Polsterzimmer  durchzukommen.  Die  Anwendung 
von  Schlafmitteln  oder  Narkoticis  dürfte  sich  meist  eher  schädlich, 
als  nützlich  erweisen.  Nach  dem  Fieberabfalle  ist  planmässige 
Wiederherstellung  des  gesunkenen  Kräftezustandes  die  wesentliche 
Aufgabe  der  Behandlung. 


B.  Die  Infectiousdelirieu. 

Wenn  wir  schon  bei  der  Entstehung  der  Fieberdelirien  an  die 
Mitwirkung  infectiöser  Gifte  denken  müssen,  so  begegnen  uns  bei 
einer  Reihe  von  Infectionskrankheiten  weiterhin  geistige  Störungen, 
die  mit  Sicherheit  auf  eigenartige  Vergiftungen  zurückgeführt  werden 
dürfen. 

Dahin  gehören  namentlich  die  Delirien  der  Lyssa,  dann  die 
im  ersten  Beginne  der  Erkrankung  auftretenden  „Initialdelirien“  des 
Typhus  und  der  Variola,  ferner  jene  Formen  der  Intermittens 
larvata*),  bei  denen  an  Stelle  der  typischen  Fieberanfälle  Delirien 


')  v.  Ivrafft-Ebing,  Psychiatrische  Arbeiten,  I,  161. 


1(3 


I.  Das  infectiöse  Irresein. 


treten,  bisweilen  ganz  ohne  Fieber.  Am  besten  bekannt  sind  die 
Initialdelirien  beim  Typhus.  Aschaffen  bürg*)  unterscheidet 
zwei  Formen.  Bei  der  ersten  handelt  es  sich  um  ruhige  Delirien 
mit  ausgeprägten  Wahnbildungen  und  Sinnestäuschungen.  Die 
Kranken  glauben  sich  vergiftet,  in  mannigfacher  Weise  verfolgt, 
sind  verdammt,  verworfen,  haben  eine  schadhafte  Luftröhre;  sie 
hören  ihre  fernen  Angehörigen  reden,  sehen  drohende  Gestalten, 
Feuer  u.  dergl.  Bisweilen  erzählen  sie  ausführlich  eingebildete, 
abenteuerliche  Erlebnisse.  Dabei  besteht  lebhafte  ängstliche  oder 
traurige  Verstimmung.  Die  zweite  Form,  die  sich  auch  aus  der 
ersten  entwickeln  kann,  trägt  die  Züge  der  manischen  Erregung, 
die  im  Beginne  bisweilen  eine  ganz  gelinde  ist,  wie  ich  auch  bei 
einem  Falle  von  Flecktyphus  beobachtete.  Doch  steigert  sich  die 
Störung  rasch  zu  völliger  deliriöser  Verwirrtheit  mit  Ideenflucbt, 
Sinnestäuschungen,  zusammenhangslosen  Wahnvorstellungen,  heftigster 
Angst  und  sinnlosem  Bewegungsdrang.  Diesen  letzteren  Zuständen 
pflegen  die  Initialdelirien  der  Variola  und  das  Irresein  bei  larvirter 
Intermittens  zu  gleichen.  Dagegen  erinnern  die  Delirien  bei  schwerer 
Sepsis  mit  ihrer  Unbesinnlichkeit  und  ihrem  mussitirenden  Charakter 
häufig  mehr  an  gewisse  Fieberdelirien,  auch  wenn  die  Temperatur 
nahezu  oder  ganz  normal  ist.  Ob  wir  es  hier  mit  Giftwirkungen 
oder  einfach  mit  den  Folgezuständen  der  Herzschwäche  zu  thun 
haben,  mag  dahingestellt  bleiben  ; vielleicht  ist  nicht  die  Art,  sondern 
der  Grad  der  Störung  die  Ursache,  dass  hier  die  Lähmungserschei- 
nungen gegenüber  den  Reizsymptomen  in  den  Vordergrund  treten. 

Endlich  giebt  es  im  Verlaufe  der  Blatternerkrankung  zwischen 
dem  Eruptions-  und  dem  Eiterungsfieber  eigenthümliche  Geistes- 
störungen, bei  denen  ebenfalls  an  eine  Entstehungsweise  durch  Ver- 
giftung gedacht  werden  muss.  Es  handelt  sich  um  das  plötzliche 
Auftreten  sehr  deutlicher  Gehörs-  und  Gesichtstäuschungen  bei 
Kranken,  die  nicht  verwirrt,  sondern  völlig  besonnen  und  nur  durch 
die  Trugwahrnehmungen  beunruhigt  sind.  Die  Kranken  sehen  Per- 
sonen in  das  Zimmer  treten,  Tauben  und  Blumen  in  der  Luft  herum  - 
fliegen,  hören  Musik,  Beschuldigungen,  Drohungen,  sollen  Rechen- 
schaft ablegen,  haben  gestohlen,  werden  von  der  Polizei  gesucht. 
Diese  Zustände  erinnern  so  sehr  an  die  erste  Form  der  Iuitial- 


*)  Aschaffenburg,  AU  gern.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  III. 


Infectionsdelirien. 


17 


delirien  und  an  gewisse  Fälle  von  Alkohol-  und  Cocainwahnsinn, 
dass  ich  im  Gegensätze  zu  einer  früher  von  mir  geäussorten  An- 
schauung geneigt  bin,  sie  auf  eine  Vergiftung  zurückzuführen, 
welche  durch  die  Variola  erzeugt  wird.  Emminghaus  hat  die  von 
ihm  im  Harn  Pockenkranker  gefundenen  Fettsäuren  mit  jenen  eigen- 
tümlichen, rasch  günstig  verlaufenden  Zuständen  in  ursächliche  Be- 
ziehung gebracht. 

Zu  den  psychischen  Störungen  gesellen  sich  die  körperlichen 
Anzeichen  der  einzelnen  Erkrankungen,  die  Reflexkrämpfe  der  Lyssa, 
die  Hinfälligkeit  und  die  Kopfschmerzen  des  Typhus,  das  Prodro- 
malexanthem der  Variola,  die  Milzschwellung  der  Iutermittens,  end- 
lich leicht  erhöhte,  bisweilen  aber  auch  auffallend  niedrige  Temperatur, 
nicht  selten  Eiweiss  im  Harn,  sowie  fast  völliger  Mangel  des  Schlafes 
und  der  Esslust..  Ausserdem  treten  hie  und  da  die  Zeichen  schwererer 
Hirnveränderungen  auf,  namentlich  epileptiforme  Krämpfe,  Hemi- 
paresen, Sprachstörungen.  Der  Verlauf  ist  vielfach  ein  schwanken- 
der. Bei  der  Lyssa  schieben  sich  nicht  selten  kürzere  Zeiten  völliger 
Besonnenheit  ein,  in  denen  der  Kranke  seine  Umgebung  selber  vor 
sich  warnt.  Ebenso  bieten  die  Initialdelirien  öfters  Nachlässe  dar, 
namentlich  am  Tage,  aber  der  Kranke  befindet  sich  auch  dann  in 
einem  Zustande  dumpfer  Benommenheit,  die  ihn  keine  rechte  Klar- 
heit über  seine  Lage  gewinnen  lässt.  Die  Dauer  der  Störung 
beträgt  in  der  Regel  nur  einige  Tage,  selten  mehr  als  eine  Woche. 
Beim  Wechselfieber  pflegen  sich  die  eine  Reihe  von  Stunden 
dauernden  Anfälle  in  intermittirendem  Typus  mehrmals  zu  wieder- 
holen. 

Die  Prognose  gestaltet  sich  sehr  verschieden.  Die  Delirien 
der  Lyssa  endigen  regelmässig  im  tödtlichen  Collaps.  Beim  Typhus 
kann  die  Störung  gerade  mit  dem  stärkeren  Ansteigen  des  Fiebers 
gänzlich  verschwinden,  wie  ich  zweimal  beobachtete,  oder  aber  sie 
geht  unmittelbar  in  eigentliche  Fieberdelirien  über.  In  jedem  Falle 
ist  hier  die  Gefahr  eines  tödtlichen  Ausganges  der  Erkrankung  eine 
ganz  ungewöhnlich  grosse:  nur  40 — 50 °/0  der  Kranken  bleiben  am 
Leben  und  gelangen  zur  Genesung.  Dem  gegenüber  ist  die  Prognose 
der  Intermittensdelirien,  abgesehen  von  der  Selbstmordgefahr,  eine 
durchaus  günstige. 

Die  Erkennung  dieser  Psychosen  hat,  namentlich  beim  Initial- 
delirium, bisweilen  Schwierigkeiten.  Nicht  allzuselten  kommt  es 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  2 


18 


I.  Das  infectiose  Irresein. 


vor,  dass  dasselbe  für  einen  epileptischen  Dämmerzustand  gehalten 
wird,  mit  dem  es  in  der  That  sehr  grosse  Aehnlichkeit  besitzen  kann. 
Yor  der  Verwechselung  schützt  die  Beachtung  der  Ideenflucht,  die 
der  Epilepsie  fremd  ist.  Ausserdem  wird  hier  der  weitere  Verlauf 
natürlich  immer  Aufklärung  bringen.  So  habe  ich  es  bisher  vier- 
mal erlebt,  dass  mir  Kranke  mit  beginnendem  Typhus  (einmal 
exanthematischem)  als  geistesgestört  zugeführt  -wurden.  Jedesmal  ge- 
lang es,  aus  dem  eigenthümlichen  Symptomenbilde  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit die  Diagnose  eines  Initialdeliriuras  zu  stellen.  Im 
ersten  Beginn  können  einzelne  Kranke  für  manisch  gehalten  werden, 
doch  stellt  sich  bald  eine  gewisse  Betäubung  ein,  wie  sie  der  Manie 
fehlt.  Gegenüber  den  Erschöpfungspsychosen  und  der  Paralyse 
kann  die  Abgrenzung  äusserst  schwierig  sein.  Die  Vorgeschichte 
muss  hier  die  wichtigsten  Anhaltspunkte  liefern,  das  Fehlen  er- 
schöpfender Ursachen  einerseits,  der  durchaus  plötzliche  Ausbruch 
der  Krankheit  andererseits.  Ausserdem  wird  wiederum  auf  die 
Schwerbesinnlichkeit  und  Betäubung  der  Kranken,  gegenüber  der 
Paralyse  auch  auf  das  Lebensalter  Gewicht  gelegt  werden  müssen. 
Für  die  Unterscheidung  von  der  Katatonie  ist  ebenfalls  die  schwere 
Benommenheit  gegenüber  der  guten  Auffassung  katatonischer 
Kranker  zu  beachten,  ferner  das  Fehlen  von  Negativismus  und 
Befehlsautomatie.  Die  Intermittensdelirien  können  mit  epileptischen 
Aequivalenten  verwechselt  wrerden;  die  Beachtung  der  Malaria- 
vergiftung, wol  auch  die  typische  Wiederkehr  der  Anfälle  kann  davor 
schützen. 

Ein  sehr  wichtiger  Fortschritt  in  der  Lehre  von  den  Initial- 
delirien ist  dem  Umstande  zu  verdanken,  dass  Nissl  in  einem  von 
mir  beobachteten  Falle  die  genauere  Untersuchung  der  Hirnrinde 
vornehmen  konnte.  Es  fanden  sich  starke  Füllung  aller  Blut- 
gefässe, Vermehrung  der  weissen  Blutzellen,  vor  allem  aber  aus- 
gebreitete Zerfallsvorgänge  an  den  Nervenzellen,  ähnlich  denen,  die 
durch  künstliche  Infection  erzeugt  werden.  Der  Zellleib  war  ge- 
schwollen, die  gefärbte  Substanz  zerfallen,  so  dass  der  feinere  Bau 
vollständig  unkenntlich  geworden  war.  Die  Fortsätze  waren  auf 
weite  Strecken  diffus  gefärbt.  Auf  Tafel  IV  ist  in  Figur  2 eine 
solche  Pyramidenzelle  wiodergegeben,  deren  schwere  Veränderung 
durch  den  Vergleich  mit  der  gesunden  Zelle  Figur  1 ohne  weiteres 
erkennbar  ist.  Ausserdem  liess  sich  Karyokinese  an  den  Gliakernen 


Infectiöse  Schwächezustände. 


19 


nachweisen.  Damit  ist  nicht  nur  die  infectiöse  Natur  jenes  Falles 
gesichert,  sondern  wir  können  auf  Grund  desselben  auch  mit  grösster 
Wahrscheinlichkeit  annehmen,  dass  wir  es  bei  derartigen  Vergiftungs- 
delirien thatsächlich  mit  mehr  oder  weniger  schweren,  greifbaren 
Veränderungen  in  der  Hirnrinde  zu  thun  haben.  Die  vielfachen 
früheren,  auf  ein  ähnliches  Ergebniss  hinauslaufenden  anatomischen 
Untersuchungen  über  Typhusdelirien  erhalten  durch  diesen  klaren 
Befund  ihre  bestimmte  Deutung. 

Die  Behandlung  der  Delirien  fällt  mit  derjenigen  der  zu 
Grunde  liegenden  Erkrankungen  zusammen.  Vielleicht  kann  man 
im  Hinblicke  auf  die  Vergiftung  an  eine  reichliche  Durchspülung 
des  Körpers  denken,  unter  Umständen  mit  Hülfe  von  Kochsalz- 
infusionen. In  einem  so  behandelten  Falle  vermochten  wir  zwar 
nicht  den  tödtlichen  Ausgang  zu  verhindern,  erzielten  aber  jedesmal 
eine  deutliche,  vorübergehende  Besserung.  Ferner  verdient  erwähnt 
zu  werden,  dass  die  Intermittenspsychose  dem  günstigen  Einflüsse 
des  Chinin  sich  zugänglich  zu  erweisen  pflegt.  Genaue  Ueberwachung 
ist  begreiflicherweise  überall  dringend  geboten. 


C.  Die  infectiösen  Schwächezustände. 

Da  die  Veränderungen  der  Rindenzellen,  die  durch  infectiöse 
Gifte  erzeugt  werden,  sich  unter  Umständen  nur  allmählich  oder 
selbst  gar  nicht  vollständig  wieder  ausgleichen,  werden  wir  es  er- 
klärlich finden,  dass  geistige  Störungen  hier  bisweilen  auch  dann 
noch  fortdauern  können,  wenn  die  Grundkrankheit  bereits  abgelaufen 
ist.  Der  Beginn  derartiger  Psychosen  fällt  meist  schon  in  die  fieberhafte 
Zeit  der  Krankheit,  doch  werden  wir  auch  wol  manche  noch  später 
einsetzende  Störungen  als  infectiöse  betrachten  dürfen,  mit  demselben 
Rechte,  mit  dem  wir  die  neuritischen  Nachkrankheiten  des  Typhus,  der 
Pocken,  der  Diphtherie  u.  s.  f.  auf  das  Krankheitsgift  zurückführen. 
Bestärkt  werden  wir  in  dieser  Auffassung  durch  den  Umstand,  dass 
anscheinend  jede  Infectionskrankheit  gewisse  klinische  Bilder  be- 
sonders häufig  hervorruft.  Allerdings  dürfte  es  heute  kaum  möglich 
sein,  hier  aus  den  psychischen  Krankheitserscheinungon  allein  mit 
einiger  Sicherheit  auf  die  bestimmte  Ursache  zurückzuschliessen.  Wir 
werden  uns  daher  mit  einer  kurzen  Schilderung  der  häufigsten  Zu- 

2* 


20 


I.  Das  infoctiöse  Irresein. 


standsbilder  begnügen  müssen.  Gemeinsam  ist  allen  ein  mehr 
oder  weniger  hoher  Grad  geistiger  und  gemüthlicher  Schwäche, 
zu  der  sich  meist  traurige  oder  ängstliche  Verstimmungen,  vielfach 
auch  ausgeprägte  Wahnbildungen  hinzugesellen.  Freilich  gehören 
durchaus  nicht  alle  länger  dauernden  Geistesstörungen  nach  Infections- 
krankheiten  dieser  Gruppe  an.  Ausser  den  später  zu  besprechenden 
Erschöpfungszuständen  können  durch  die  schwere  körperliche  Schädi- 
gung auch  die  verschiedenartigsten  anderen  Formen  des  Irreseins 
ausgelöst  werden,  deren  besondere  Gestaltung  dann  aber  natür- 
lich gar  keine  engere  Beziehung  zu  der  Grundkrankheit  mehr  er- 
kennen lässt. 

Die  leichtesten  Formen  der  infectiösen  Schwächezustände  schliessen 
sich  unmittelbar  der  gewöhnlichen  geistigen  und  körperlichen  Hin- 
fälligkeit der  Reconvalescenten  nach  schweren  Infectionskrankheiten 
an.  Die  Kranken  fühlen  sich  nach  dem  Schwinden  des  Fiebers 
nicht  befreit  und  erleichtert,  erholen  sich  nicht  rasch,  sondern  sind 
matt,  denkunfähig,  ermüden  ausserordentlich  leicht,  bringen  ihre 
Gedanken  nicht  mehr  zusammen,  sind  unfähig  zu  lesen,  einen  Brief 
zu  schreiben.  Ihre  geistige  Regsamkeit  ist  gelähmt;  sie  sind  theil- 
nahmlos,  gleichgültig,  liegen  unthätig  im  Bette,  vermögen  sich  nicht 
aufzuraffen,  Entschlüsse  zu  fassen,  lassen  alles  gehen  wie  es  geht. 
Die  Besonnenheit  und  Orientirung  ist  dabei  ungestört,  ebenso  die 
Wahrnehmung,  doch  stellen  sich  bisweilen  beim  Augenschluss  leb- 
hafte Gesichtsbilder  ein,  unverständliche,  flüsternde  Geräusche  in 
den  Ohren,  eigentümliche  Empfindungen  im  Körper,  die  als  schwere 
Krankheitserscheinungen  gedeutet  werden.  Die  Stimmung  ist  trübe, 
finster,  oft  mürrisch,  reizbar,  launenhaft;  nicht  selten  sind  plötzliche 
Angstanfälle,  besonders  des  Nachts.  Düstere  Ahnungen  steigen  auf, 
Todesgedanken,  Misstrauen  gegen  Arzt  und  Umgebung,  Yergiftungs- 
furcht,  hypochondrische  Vorstellungen,  wol  auch  Versündigungsideen. 
In  Folge  dessen  kann  es  zu  heftigen  Ausbrüchen  gegen  die  Um- 
gebung, Selbstmordversuchen,  Nahrungsverweigerung  kommen.  Eine 
meiner  Kranken  machte  ihr  Testament  und  berief  telegraphisch  ihre 
Verwandten  an  ihr  vermeintliches  Todtenbett.  Meist  sind  die 
Kranken  sebr  zurückhaltend  und  wortkarg,  selbst  stuporös,  äussern 
wenig  von  ihren  Wahnvorstellungen;  erst  später  in  der  Genesungs- 
zeit erfährt  man  dann  die  Einzelheiten.  Schlaf  und  Esslust  sind 
regelmässig  sehr  gestört;  das  Körpergewicht  ist  stark  gesunken. 


Infectiöse  Schwächezustände. 


21 


Diese  leichtesten  Formen  der  infectiösen  Schwächezustände  be- 
obachten wir  namentlich  nach  Influenza  und  Gelenkrheumatismus, 
bisweilen  auch  bei  Kindern  nach  Keuchhusten.  Ihre  Dauer  beträgt 
in  der  Regel  einige  Wochen  oder  Monate;  dann  pflegt  Genesung 
einzutreten.  Sie  erinnern  vielfach  an  das  Bild  der  nervösen  Er- 
schöpfung, doch  sind  die  Erscheinungen  erheblich  schwerer  und 
hartnäckiger  als  dort,  weichen  nicht  so  rasch  der  Ruhe  und  Er- 
holung; zudem  fehlt  das  klare  Krankheitsbewusstsein. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Beobachtungen  ist  durch  das  Auftreten 
von  ausgeprägten  Sinnestäuschungen,  abenteuerlichen  Wahnbildungen 
und  lebhaften  ängstlichen  Erregungszuständen  gekennzeichnet.  Den 
Beginn  bilden  in  der  Regel  schwere  Benommenheit  und  Delirien 
während  des  Fiebers.  Die  Kranken  sind  unklar  über  ihre  Lage, 
verkennen  Ort  und  Personen,  denken  und  reden  zusammenhangslos. 
Zugleich  bestehen  zahlreiche  Sinnestäuschungen.  Hinter  dem  Bette 
schreien  die  Todten;  auf  der  andern  Seite  steht  ein  Sarg;  Wände 
und  Ofen  bewegen  sich;  Frauenzimmer  setzen  sich  auf  das  Bett; 
der  Teufel  und  die  Mutter  Gottes  erscheinen.  Der  Kranke  weiss 
nicht,  ob  er  im  Himmel  oder  in  der  Hölle  ist;  man  trachtet  ihm 
nach  dem  Leben;  sein  Leib  verfault;  die  Genitalien  stinken;  der 
Kopf  ist  nicht  am  Leibe.  Alles  drückt  auf  ihn;  er  ist  im  Bette  an- 
genagelt, schon  gestorben. 

Dieser  Zustand  von  Verworrenheit  dauert  fort,  auch  wenn  die 
Eigenwärme  gesunken  ist  und  die  übrigen  Krankheitserscheinungen 
schwinden.  Der  Kranke  wird  wol  allmählich  etwas  klarer  und  ge- 
ordneter, findet  sich  in  seiner  Umgebung  besser  zurecht,  aber  Sinnes- 
täuschungen und  Wahnideen  verlieren  sich  zunächst  nicht.  Er  hört 
drohende,  beschimpfende  Stimmen;  durch  das  Fenster  sehen  Fratzen 
hinein,  die  auf  ihn  spucken ; er  wird  aus  dem  Bette  gezogen,  muss 
darin  ersticken;  es  hängt  so  viel  an  seinem  Kopfe;  man  bohrt  und 
dreht  an  seinem  Körper  herum,  zupft  an  seinen  Kleidern.  Das 
Essen  ist  Pferdefleisch;  er  wird  verfolgt  und  unterdrückt,  wider 
alles  Recht  zurückgehalten.  Ein  Arzt  hatte  die  heimliche  Furcht, 
dass  seine  Collegen  ihn  zu  wissenschaftlichen  Zwecken  lebendig  zer- 
schneiden würden. 

Die  Stimmung  der  Kranken  ist  niedergeschlagen,  ängstlich,  ver- 
driesslich,  missmuthig;  zeitweise  kommt  es  zu  heftigen  Gefühls- 
ausbrüchen mit  Selbstmordversuchen,  Gewalttaten,  Angriffen  gegen 


22 


I.  Das  infectiöse  Irresein. 


die  Umgebung.  Die  Kranken  sind  unzufrieden,  nörgelnd,  störrisch, 
■widerstreben,  verweigern  die  Nahrung.  Meist  sind  sie  hochgradig 
abgemagert,  schlafen  wenig  und  unruhig,  lassen  oft  lange  Zeit  alles 
unter  sich  gehen. 

Im  weiteren  Verlaufe  verlieren  sich  unter  Auftreten  reger  Ess- 
lust und  grossen  Schlafbedürfnisses  nach  und  nach  Sinnestäuschungen 
und  Wahnvorstellungen.  Das  Körpergewicht  hebt  sich;  die  Stimmung 
wird  freier;  der  Kranke  gewinnt  Verständniss  für  seine  Störung,  be- 
ginnt sich  zu  beschäftigen  und  knüpft  in  seinem  Denken  und  Fühlen 
allmählich  wieder  an  die  früheren  gesunden  Zeiten  an.  Gleichwol 
pflegt  noch  ziemlich  lange  grosse  Ermüdbarkeit,  Herabsetzung  der 
geistigen  und  körperlichen  Leistungsfähigkeit  und  Gedächtnisschwäche 
zurückzubleiben.  Bisweilen  scheint  überhaupt  keine  völlige  Wieder- 
herstellung einzutreten,  sondern  ein  Schwächezustand  mit  un- 
vollkommener Berichtigung  der  Wahnvorstellungen  den  Ausgang  zu 
bilden;  in  einzelnen  Fällen  erfolgt  der  Tod  durch  Erschöpfung  oder 
complicirende  Erkrankungen.  Die  Dauer  der  geistigen  Störung  be- 
trägt auch  im  günstigsten  Falle  eine  Reihe  von  Monaten,  nicht 
selten  über  ein  Jahr.  Sie  entwickelt  sich  am  häufigsten  nach  Typhus, 
ferner  nach  den  Pocken,  in  leichterer  Form  nach  Gelenkrheumatis- 
mus und  Cholera.  Die  Erkennung  dieser  Form  wird  an  der  Hand 
der  Vorgeschichte  keine  Schwierigkeiten  bieten;  höchstens  könnte 
bei  älteren  Kranken  die  Verwechselung  mit  einer  Melancholie  in 
Frage  kommen,  die  nur  durch  die  acute  Krankheit  ausgelöst  wurde. 
Das  starke  Hervortreten  der  Sinnestäuschungen,  das  Ueberwiegen 
der  Verfolgungsideen  über  den  Versündigungswahn,  die  eigenthiim- 
lich  reizbare  Stimmung  im  Gegensätze  zu  der  Angst  der  Melancho- 
lischen könnte  hier  die  Unterscheidung  ermöglichen.  Gegenüber 
der  Dementia  praecox  ist  auf  den  stärkeren  Affect  und  namentlich 
auf  die  anfängliche  schwere  Störung  der  Auffassung,  Besonnenheit 
und  Orientirung  hinzuweisen,  ferner  auf  das  Fehlen  von  Negativis- 
mus und  Stereotypie,  gegenüber  den  Depressionszuständen  des  eircu- 
lären  Irreseins  auf  das  Fehlen  der  psychomotorischen  Hemmung 
und  den  körperlichen  Zustand. 

Auch  die  dritte,  schwerste  Form  der  infectiösen  Schwäche- 
zustände pflegt  mit  heftigen  Delirien  zu  beginnen,  geht  aber  bald 
in  stuporöse  Zustände  über.  Die  Kranken  werden  trotz  Besserung 
der  körperlichen  Erscheinungen  blöde,  unfähig,  äussere  Eindrücke 


Infectiöse  Schwäckezustände. 


23 


aufzufassen  und  zu  verarbeiten,  gedächtnisschwach,  urtheilslos. 
Tlire  Stimmung  ist  gleichgültig,  bisweilen  weinerlich;  sie  sind  still, 
stumpf  oder  kindisch  unruhig,  liegen  unter  Umständen  regungslos 
im  Bette,  ausser  Stande,  Nahrung  zu  sich  zu  nehmen  oder  sich  rein 
zu  halten,  müssen  gefüttert  und  gepflegt  werden  wie  kleine  Kinder. 
Die  Ernährung  ist  meist  auf  das  äusserste  gesunken,  die  Muskulatur 
geschwunden;  hie  und  da  machen  sich  die  Anzeichen  einer  schweren 
Hirnerkrankung  bemerkbar,  halbseitige  Lähmungen,  Sprachstörungen, 
epileptiforme  Krämpfe. 

Die  Prognose  dieser  Erkrankungen,  die  hauptsächlich  nach 
Typhus,  in  leichterer  Form  auch  nach  Cholera  beobachtet  werden, 
ist  eine  sehr  zweifelhafte.  Nur  in  etwa  der  Hälfte  der  Fälle  erfolgt, 
nach  meist  sehr  langer,  über  viele  Monate  sich  erstreckender  Dauer, 
ziemlich  rasch  völlige  Genesung.  In  den  übrigen  Fällen  kommt  es 
wol  meist  zu  einer  allmählichen  Besserung,  aber  die  Kranken  bleiben 
geistig  und  gemüthlich  unfähig,  gedankenarm,  vergesslich,  urtheilslos, 
gleichgültig  und  willensschwach.  Tn  zwei  derartigen  Fällen  sah  ich 
dauernd  epileptische  Anfälle  Zurückbleiben.  Die  Erkennung  dieser 
Zustände  stützt  sich  gegenüber  dem  katatonischen  Stupor,  abgesehen 
von  der  Entstehungsgeschichte  und  den  etwa  vorhandenen  Hirn- 
erscheinungen, auf  das  Fehlen  des  Negativismus,  gegenüber  dem 
circulären  auf  das  Fehlen  der  Hemmung,  sodann  auf  die  Unbesinn- 
lichkeit und  Gedächtnissschwäche. 

Die  Behandlung  aller  dieser  Formen  besteht  wesentlich  in  einer 
sehr  sorgfältigen  körperlichen  Pflege,  deren  Hauptpunkte  Bettruhe, 
reichlichste  Ernährung,  Reinlichkeit  und  gute  Ueberwachung  bilden. 
In  den  schwersten  Fällen  kann  späterhin  wegen  des  Muskelschwundes 
Massage  und  allgemeine  Faradisation  angezeigt  sein. 

Ein  wesentlich  anderes  Gepräge,  als  die  bisher  betrachteten 
Störungen,  trägt  eine  grössere  Gruppe  von  Fällen,  wie  sie  ebenfalls 
vorzugsweise  nach  Typhus,  bisweilen  vielleicht  auch  nach  Cholera 
beobachtet  werden.  Es  handelt  sich  hier  um  die  rasche  Entwicklung 
lebhafter  verwirrter  Erregungszustände  mit  ausgeprägter 
Ideenflucht  und  abenteuerlichen  Grössenideen.  Nach  un- 
bedeutenden Vorboten  beginnen  die  Kranken,  öfters  schon  während 
der  Fieberzeit,  sehr  unruhig  zu  werden.  Sie  verlieren  die  Orientirung, 
fassen  mangelhaft  auf,  sind  ungemein  ablenkbar,  hören  Stimmen, 
sehen  Engel  an  der  Decke,  Blumen  im  Zimmer,  Theatergestalten, 


24 


T.  D>>3  ii  f.ictlöKe  Irresein. 


mit  denen  sie  sich  unterhalten.  Zugleich  tritt  ein  blühender  Grössen- 
Avahn  hervor,  der  ungemein  dem  paralytischen  ähnelt.  Der  Kranke 
ist  Gott,  sein  Getränk  Nektar;  er  besitzt  zahllose  Schlösser,  empfängt 
Besuche  von  Königen  und  Kaisern,  verkehrt  geschlechtlich  mit 
Prinzessinnen.  Dem  entsprechend  werden  Personen  und  Vorkomm- 
nisse gedeutet.  Die  Mitkranken  sind  hohe  Persönlichkeiten,  einige 
Papierfetzen  werthvolle  Banknoten,  Acnepusteln  die  Spuren  feind- 
licher Kugeln;  aus  Koth  und  Sputum  werden  unschätzbare  Kunst- 
werke, Brillanten  geformt.  Der  Kranke  fabulirt  in  der  unsinnigsten 
Weise,  lässt  sich  dabei  ungemein  leicht  lenken.  Die  Stimmung  ist 
bald  mehr  unwillig  und  reizbar,  bald  heiter  und  überschwänglich, 
aber  wechselnd,  leicht  in  Weinen  umschlagend.  Jede  Spur  von 
Krankheitsgefühl  fehlt;  ein  äusserst  hinfälliger  Kranker  mit  schweren 
Muskelcontracturen  an  beiden  Beinen  behauptete,  das  Göthedenkmal 
in  Frankfurt  mit  einer  Hand  heben  zu  können.  Dabei  besteht  leb- 
hafter Rededrang,  Ideenflucht,  Neigung,  sinnlos  zu  reimen,  ver- 
worrene Schriftstücke  und  Zeichnungen  zu  liefern.  Die  Kranken 
sind  unruhig,  bleiben  nicht  im  Bette,  singen,  schmieren,  schlafen 
wenig  und  nehmen  unregelmässig  Nahrung  zu  sich.  Der  Ernährungs- 
zustand ist  ein  sehr  schlechter. 

Das  hier  gezeichnete  Krankheitsbild,  das  ich  selbst  bisher  in 
zwei  Fällen  beobachten  konnte,  ist  vielleicht  nur  eine  weitere  Ent- 
wicklung der  zweiten  oben  geschilderten  Form  des  Initialdeliriums. 
Ob  es  gegenüber  den  Depressionszuständen  als  besondere  Erkrankung 
zu  betrachten  ist,  erscheint  zweifelhaft,  wenn  wir  bedenken,  dass  uns 
bei  der  Paralyse  ähnlich  verschiedene  Bilder  als  Erscheinungsformen 
des  gleichen  Krankheitsvorganges  begegnen.  Die  äusserliche  Aehn- 
lichkeit  gerade  dieses  Bildes  mit  demjenigen  der  expansiven  Para- 
lyse ist  eine  sehr  auffallende;  wir  werden  dabei  unwillkürlich  an 
die  anscheinende  Verwandtschaft  gewisser  Rindenzelleuveränderungen 
erinnert,  welche  im  Typhus  und  in  manchen  Formen  der  Paralyse 
gefunden  Averden.  Die  klinische  Unterscheidung  wird  übrigens 
durch  die  Vorgeschichte,  das  Fehlen  der  Pupillenstarre  und  Sprach- 
störung, unter  Umständen  auch  durch  das  Alter  ermöglicht;  meine 
beiden  Kranken  waren  ganz  junge  Leute.  Vielleicht  Aväre  übrigens 
dieses  Bild  besser  dem  Erschöpfungsirresein  anzureihen,  da  es  etwas 
der  acuten  Verwirrtheit  ähnelt.  Massgebend  für  die  hier  vertretene 
Auffassung  ist  der  Umstand  geAvesen,  dass  die  Störung  bisweilen 


Infectiöse  Schwächezustände. 


25 


schon  in  der  ersten  Zeit  des  Typhus  einsetzt  und  ferner  in  ihrer 
Eigenart  fast  nur  nach  Typhus,  nicht  aber  nach  anderen  erschöpfen- 
den Ursachen  beobachtet  wird.  Zudem  ist  die  Auffassung  und  Ver- 
arbeitung der  Eindrücke  hier  weit  weniger  gestört,  als  bei  der 
acuten  Verworrenheit.  Gegenüber  manischen  Erregungszuständen 
ist  auf  die  schwere  Beeinträchtigung  der  Orientirung  und  die  üppige 
Erzeugung  unsinniger  Wahnbildungen  hinzuweisen. 

DerVerlauf  der  Erkrankung  ist  in  einem  Theil  der  Beobachtungen 
ein  rascher  und  günstiger.  Meist  indessen  schwinden  Erregung  und 
Wahnideen  erst  allmählich  im  Verlaufe  von  Monaten.  Die  Kranken 
bleiben  dann  noch  längere  Zeit  erregbar,  leicht  ermüdbar,  gerathen 
bei  geistiger  Anstrengung  ausserordentlich  leicht  wieder  in  ihre 
Ideenflucht  und  in  das  walmhafte  Fabuliren  hinein,  bis  sich  unter 
bedeutendem  Ansteigen  des  Körpergewichtes  die  endgültige  Ge- 
nesung vollzieht.  In  einer  nicht  ganz  geringen  Zahl  von  Fällen 
scheint  sich  aber  der  Schwächezustand  überhaupt  nicht  völlig  aus- 
zugleichen, sondern  es  kommt  unter  Fortbestehen  abenteuerlicher 
Wahnvorstellungen  zur  Entwicklung  einer  dauernden  Verblödung. 
Die  Behandlung  hat  auch  hier  nichts  zu  thun,  als  das  kranke  Hirn 
durch  Fernhaltung  aller  Schädigungen  (Bettruhe,  Dauerbäder)  zu 
schonen  und  für  die  körperliche  Erholung  möglichst  günstige  Be- 
dingungen herzustellen  (reichlichste  Ernährung). 

Eine  eigenartige  Stellung  unter  den  infectiösen  Schwächezuständen 
nimmt  die  von  Korssakow  zuerst  genauer  beschriebene  polyneuri- 
tische  Geistesstörung*)  ein.  Dieselbe  ist  namentlich  durch  das 
Auftreten  einer  schweren  Störung  der  Merkfähigkeit  und  des  Ge- 
dächtnisses mit  ausgeprägten  Erinnerungsfälschungen  neben  den 
körperlichen  Zeichen  einer  polyneuritischen  Erkrankung  gekenn- 
zeichnet. Das  Leiden  entwickelt  sich  meist  ziemlich  rasch,  bisweilen 
mit  einem  deliriösen  Aufregungszustande.  Die  Kranken  verlieren 
die  Orientirung  und  werden  verwirrt,  unruhig,  ängstlich,  namentlich 
in  der  Nacht;  öfters  treten  deutliche  Sinnestäuschungen,  besonders 
des  Gesichtes  auf.  Die  bei  weitem  hervorstechendste  Erscheinung 
aber  ist  die  Unfähigkeit,  die  Ereignisse  der  jüngsten  Vergangenheit 

*)  Korssakow,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXI,  669;  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psy- 
chiatrie XI/VI,  475;  Tiling,  ebenda  XL VIII,  549;  Derselbe,  über  alkoholische 
Paralyse  und  infectiöse  Neuritis  multiplex.  1897;  Jolly,  Chariteannalen,  XXII; 
Mönkemöller,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  LIV,  806. 


26 


I.  Das  infcctiösc  Irresein. 


im  Gedächtnisse  zu  behalten.  Obgleich  die  Auffassung  selbst  keine 
erheblicheren  Störungen  erkennen  lässt,  schwindet  der  Inhalt  des 
Erlebten  doch  schon  nach  kurzer  Zeit,  sogar  nach  wenigen  Minuten- 
vollständig  aus  der  Erinnerung.  Die  Kranken  wissen  nicht,  was  sie 
gestern,  vor  einer  halben  Stunde  gethan.  ob  sie  schon  zu  Mittag  ge- 
gessen, den  Arzt  schon  einmal  gesehen  haben;  sie  sind  also  gänzlich 
unfähig,  irgend  welche  neuen  Erfahrungen  zu  sammeln,  lassen  sich 
ohne  Widerspruch  immer  wieder  dieselben  oder  auch  ganz  unverein- 
bare Dinge  erzählen,  wiederholen  ungezählte  Male  die  gleichen 
Fragen  und  Wünsche.  Besonders  schwer  geschädigt  pflegt  die 
Fähigkeit  der  zeitlichen  Localisation  zu  sein;  die  Kranken  wissen 
nicht  anzugeben,  ob  ein  Ereigniss  vor  einem  Jahre  oder  gestern 
stattgefunden  hat.  Dabei  kann  das  Gedächtniss  für  lange  zurück- 
liegende Erfahrungen  vollständig  ungestört  sein,  doch  scheinen  auch 
Erinnerungsverluste  vorzukommen,  die  viele  Jahre  umfassen,  so  dass 
die  Kranken  alle  Schicksale  aus  ihren  letzten  Lebensabschnitten 
vergessen  haben  und  sich  in  längst  vergangenen  Tagen  zu  befinden 
glauben. 

Alle  diese  Lücken  werden  nun  aber  durch  flottes  Fabuliren 
ausgefüllt.  Wirkliche  und  frei  erfundene  Erinnerungen  werden  von 
den  Kranken  mit  voller  Seelenruhe  und  im  Tone  der  Ueberzeugung 
vorgebracht,  sobald  sie  über  ihre  Vergangenheit  Auskunft  geben  sollen. 
Sie  schildern  genau  mit  allen  Einzelheiten  die  Reisen  und  Spazier- 
gänge, die  sie  in  den  letzten  Tagen  angeblich  unternommen  haben,  sind 
von  längst  verstorbenen  Verwandten  besucht  worden,  haben  dem 
Begräbnisse  eines  Bruders  beigewohnt,  deu  sie  nie  besassen,  sprechen 
von  Kindern,  die  gar  nicht  vorhanden  sind,  erzählen  denselben  Vor- 
gang immer  wieder  mit  anderen  Einzelheiten,  werden  gereizt,  wenn 
man  sie  auf  diese  Widersprüche  aufmerksam  macht.  Meist  gelingt 
es  dabei,  durch  geeignete  Fragen  den  Inhalt  der  Erinnerungen  nach 
Belieben  zu  lenken. 

Die  Stimmung  ist  im  Beginue  ängstlich,  später  meist  gleich- 
gültig, stumpf,  oder  reizbar,  unzufrieden,  nörgelnd;  vorübergehend 
kommt  es  auch  einmal  zu  lebhafterer  Erregung.  Bisweilen  herrscht 
mehr  eine  kindisch-heitere1  Stimmung  vor,  die  jedoch  leicht  in 
Weinerlichkeit  umschlägt.  Die  Reden  der  Kranken  sind  öfters  leid- 
lich verständig,  aber  abgerissen;  bie  und  da  werden  Störungen  in 
der  Satzbildung  beobachtet.  Auch  das  Benehmen  scheint,  abgesehen 


InfectiÖse  Schwärhezuständo. 


27 


von  stärkeren  Erregungszuständen,  äusserlich  geordnet  zu  sein,  wenn 
die  Kranken  auch  wegen  ihrer  Gedächtnissstörung  zu  irgend  einer 
selbständigen  Beschäftigung  nicht  fähig  sind. 

Auf  körperlichem  Gebiete  bestehen  die  Erscheinungen  der  Poly- 
neuritis, Lähmung  oder  Schwäche  in  verschiedenen  Nervengebieten, 
Druckempfindlichkeit  von  Nerven  und  Muskeln,  Sensibilitätsstörungen, 
Herabsetzung  der  Reflexe,  in  schweren  Fällen  auch  Pulsbeschleunigung 
und  Athemnoth.  Die  befallenen  Muskelgruppen  sind  atrophisch,  zeigen 
unter  Umständen  Entartungsreaction ; auch  Contracturen  und  ört- 
liche Krämpfe  werden  beobachtet.  Die  allgemeine  Ernährung  liegt 
sehr  darnieder;  die  Nahrungsaufnahme  ist  mangelhaft,  der  Schlaf 
meist  unruhig.  Im  Beginne  der  Erkrankung  tritt  nicht  selten  hart- 
näckiges Erbrechen  auf. 

Der  ersten  stürmischeren  Entwicklung  folgt  in  der  Regel  eine 
Zeit  langsameren  Verlaufes,  doch  kann  in  einzelnen  Fällen  mit  zu- 
nehmender Herz-  und  Athmungslähmung  und  dem  Eintreten  soporöser 
Zustände  der  Tod  erfolgen.  Meist  jedoch  pflegt  sich  nach  einigen 
Monaten  allmählich  eine  fortschreitende  Besserung  einzustellen,  Rück- 
kehr der  Orientirung  und  Nachlassen  der  Vergesslichkeit.  In  einer 
gewissen  Zahl  von  Fällen  schreitet  diese  Besserung  im  Verlaufe  von 
5 — 9 Monaten  bis  zur  völligen  Genesung  fort,  wenn  auch  noch 
längere  Zeit  grosse  Ermüdbarkeit,  Gedächtnisschwäche  und  gemüth- 
liche  Reizbarkeit  zurückbleibt.  Vielfach  aber,  namentlich  bei  aus- 
geprägtem Alkoholismus,  ist  der  Ausgang  ein  dauernder,  unheilbarer 
Schwachsinn,  der  seinen  Ursprung  noch  durch  das  Fortbestehen  der 
Erinnerungsfälschungen  erkennen  lässt. 

Die  Grundlage  der  hier  geschilderten  Störung  muss  nach  der 
übereinstimmenden  Ansicht  der  meisten  Forscher  in  einer  Vergiftung 
gesucht  werden,  die  anscheinend  durch  eine  Reihe  der  verschieden- 
sten Krankheitsvorgänge  erzeugt  werden  kann,  durch  Magendarm- 
katarrhe, Typhus,  Zersetzungen  in  Geschwülsten,  todtfaulen  Früch- 
ten u.  s.  f.  Eine  ganz  hervorragende  ursächliche  Rolle  spielt  aber 
ohne  Zweifel  der  Alkohol.  Jolly  ist  geneigt,  die  Erkrankung  gerade- 
zu als  eine  schwerere  Erscheinungsform  des  Delirium  tremens 
zu  betrachten.  Dennoch  geht  es,  wie  Jolly  ebenfalls  betont,  offen- 
bar nicht  an,  hier  einfach  von  einer  alkoholischen  Geistesstörung  zu 
sprechen;  vielmehr  dürften  die  schweren  Schädigungen  des  Alkohol- 
missbrauches nur  die  günstigen  Bedingungen  für  das  Zustande- 


28 


I.  Das  infectiöse  Irresein. 


kommen  dieser  Form  des  Irreseins  bieten,  wie  durch  die  immerhin 
nicht  geringe  Zahl  von  Fällen  ohne  jene  Grundlage  dargethan  wird. 
Aber  auch  die  Beziehungen  der  besonderen  Geistesstörung  zur 
Polyneuritis  scheinen  keineswegs  unverbrüchliche  zu  sein,  da  es 
nicht  nur  sehr  zahlreiche  Fälle  von  letzterer  Krankheit  ohne  Irre- 
sein, sondern  auch  Beobachtungen  giebt,  in  denen  genau  das  gleiche 
psychische  Krankheitsbild  ohne  neuritische  Erscheinungen  auftritt. 
Dabei  ist  übrigens  zu  bemerken,  dass  die  verschiedenen  Fälle  von 
Polyneuritis  wegen  ihrer  ganz  verschiedenen  Ursachen  schwerlich 
als  einheitliche  Krankheit  anzusehen  sind.  Wir  kommen  demnach 
zu  dem  Schlüsse,  dass  die  hier  beschriebene  Geistesstörung  höchst 
wahrscheinlich  durch  Gifte  entsteht,  die  meist,  aber  nicht  immer, 
auch  Polyneuritis  erzeugen,  und  deren  Auftreten  durch  chronischen 
Alkoholismus  ganz  besonders  begünstigt  wird.  Da  die  Bedeutung, 
die  hier  gewissen  Infectionen  vom  Darm  aus,  dem  Typhus,  der 
Tuberculose  u.  s.  f.  zukommt,  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  auf 
Bakteriengifte  hinweist,  haben  wir  diese  Form  zu  den  infectiösen 
Schwächezuständen  gestellt,  mit  deren  zuletzt  besprochener  Gruppe 
sie  auch  eine  ungefähre  klinische  Verwandtschaft  aufweisen  dürfte. 
Einer  der  dort  erwähnten  Kranken  bot  in  der  That  ebenfalls  die 
Zeichen  einer  ziemlich  schweren  Polyneuritis  nach  Typhus  dar. 

Die  Eigenart  des  klinischen  Bildes,  namentlich  in  Begleitung 
der  neuritischen  Störungen,  wird  zumeist  die  Erkennung  der  Er- 
krankung leicht  machen.  Immerhin  können  Verwechselungen  mit 
der  Paralyse  Vorkommen,  um  so  leichter,  als  wir  auch  dort  nicht 
selten  eine  ähnliche  Gedächtnissschwäche  mit  Erinnerungsfälschungen, 
ja  sogar  hie  und  da  Andeutungen  von  neuritischen  Störungen  be- 
obachten. Die  Unterscheidung  wird  einmal  durch  die  ursächlichen 
Verhältnisse  ermöglicht,  durch  die  meist  langsamere  Entwicklung  der 
Paralyse  mit  den  bekannten  Vorboten,  ferner  durch  die  eigenartige 
Sprachstörung  sowie  die  Pupillenstarre  der  Paralytiker.  Sehr  aus- 
geprägte Neuritis  spricht  weit  mehr  für  die  hier  beschriebene  Form. 
Vielleicht  ist  auch  der  Umstand  zu  verwerthen,  dass  in  der  Paralyse 
das  Urtheil  mindestens  ebenso  stark  gestört  zu  sein  pflegt  wie  das 
Gedächtniss,  während  beim  polyneuritischen  Irresein  die  ungemein 
starke  Beeinträchtigung  auf  letzterem  Gebiete  durchaus  in  den 
Vordergrund  tritt.  Tn  der  senilen  Verwirrtheit  kommt  ebenfalls  ein 
ähnliches  Bild  zu  Stande.  Abgesehen  von  der  verschiedenen  Ent- 


Infectiöse  Schwächezustände. 


29 


stehungsweise  dürfte  hier  namentlich  die  grössere  Zerfahrenheit  der 
Senilen,  die  läppische  Erregung,  der  Eigensinn  und  die  Stereotypie 
dieser  Kranken  für  die  Unterscheidung  zu  verwerthen  sein. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Hirnrinde  hat  bisher  nur 
„erheblichen  Schwund  der  Tangentialfasern  bei  mehr  oder  weniger 
ausgesprochener  Atrophie  der  Rinde“  ergeben,  hat  sich  aber  auch 
nur  auf  die  Fasern  erstreckt.  Die  Behandlung  hat  die  gleichen 
Aufgaben  wie  bei  den  übrigen  infectiösen  Schwächezuständen,  wenn 
wir  von  den  besonderen  Anforderungen  absehen,  welche  die  neu- 
ritische  Erkrankung  an  die  Thätigkeit  des  Arztes  stellt. 


II.  Das  Erschöpfungsirresein. 


Als  Erschöpfungsirresein  wollen  wir  diejenigen  Formen  geistiger 
Störung  bezeichnen,  als  deren  Ursache  wir  einen  übermässigen  Ver- 
brauch oder  einen  ungenügenden  Ersatz  von  Nervenmaterial  in  der 
Hirnrinde  ansehen  dürfen.  Am  meisten  Berechtigung  hat  die  An- 
nahme einer  Erschöpfung  zunächst  bei  denjenigen  Psychosen,  die 
sich  unmittelbar  an  schwere  körperliche  Umwälzungen,  na- 
mentlich an  acute  Krankheiten,  grosse  Blutverluste,  das  Wochenbett 
anschliessen.  Wie  die  Erfahrung  lehrt,  kommt  es  in  der  That  unter 
der  Einwirkung  der  genannten  und  ähnlicher  Schädlichkeiten  zur 
Entwicklung  gewisser  gleichartiger  psychischer  Krankheitsbilder, 
denen  eine  tiefe  Störung  der  Auffassung,  des  Gedankenzusammen- 
hanges und  der  Benkthätigkeit  gemeinsam  ist.  Dazu  pflegen  sich 
Sinnestäuschungen,  Ideenflucht  und  motorische  Erregung  zu  gesellen. 
Nach  dem  mehr  oder  weniger  stürmischen  Auftreten  und  Ablaufe 
dieser  Erscheinungen  empfiehlt  es  sich,  zwei  Krankheitsbilder,  das 
Collapsdelirium  uud  die  Amen tia (acute Verwirrtheit)  auseinander- 
zuhalten. Dagegen  scheint  mir  die  früher  ebenfalls  zu  den  Er- 
schöpfungskrankheiten gerechnete  acute  Demenz  ausschliesslich  den 
infectiösen  Schwächezuständen  anzugehören,  soweit  sie  sich  nicht  als 
der  Beginn  einer  Katatonie  oder  des  manisch-depressiven  Irre- 
seins herausstellt,  wie  ich  es  in  den  letzten  Jahren  regelmässig  er- 
lebt habe. 

Eine  weitere  wichtige  Ursache  der  Erschöpfung  ist  die  geistige 
und  gemüthliche  Ueberanstrengung,  ferner  dauerndes  körper- 
liches Siechthum.  Die  Kraukheitserscheinungen,  die  uns  im 
Gefolge  dieser  Schädigungen  entgegen  treten,  sind  weit  weniger 
stürmische  und  in  die  Augen  fallende,  aber  sie  sind  vielleicht 
noch  wichtiger,  als  die  acuten  Erschöpfungspsychosen,  weil  sie 


Collapsdeliviuin. 


0 1 
D L 

ausserordentlich  viel  häufiger  sind.  Es  sei  uns  gestattet,  sie  unter 
dem  Namen  der  chronischen  nervösen  Erschöpfung  hier  zu- 
sammenzufassen. 


A.  Das  Collapsdelirium. 

Das  Collapsdelirium  ist  ein  äusserst  stürmisch  sich  entwickeln- 
der Zustand  hochgradiger  Benommenheit  und  Verwirrtheit 
mit  traumhaften  Sinnestäuschungen,  Ideenflucht,  Stim- 
mungswechsel und  lebhafter  motorischer  Erregung.  Die 
Krankheit  beginnt  in  der  Regel  ziemlich  plötzlich;  bisweilen  macht 
sich  Schlaflosigkeit  und  leichte  Unruhe  schon  kurze  Zeit  vorher  be- 
merkbar. Die  Kranken  verlieren  rasch  die  Orientirung  in  ihrer 
Umgebung,  die  ihnen  verändert  und  unheimlich  vorkommt.  Das 
Bewusstsein  trübt  sich;  es  stellen  sich  allerlei  abenteuerliche  Illusionen, 
fast  immer  auch  Hallucinationen  ein,  oft  in  grossen  Massen.  Die 
Tapeten  schneiden  Fratzen;  ein  Crucifix  nickt  mit  dem  Kopfe;  Engel 
fliegen  zum  Fenster  herein;  die  Nachbarn  rufen  draussen;  das 
Armensünderglöckchen  läutet.  Die  Kranken  glauben  sich  in  fabel- 
haften Lebenslagen,  wohnen  dem  Weltuntergänge,  ihrem  eigenen 
Begräbnisse  bei,  erleben  eine  Fülle  merkwürdiger,  traumhaft  zu- 
sammengewürfelter Ereignisse.  Ihre  Gedanken  und  Reden  verwirren 
sich;  sie  werden  ideenflüchtig  und  beginnen  in  unsinnigen  Allitera- 
tionen, Aufzählungen,  selbst  in  Versen  und  Reimen  zu  sprechen 
oder  zu  singen.  Regelmässig  bestehen  zusammenhangslose,  wechselnde 
Wahnideen,  bald  mehr  expansiven,  bald  mehr  depressiven  Inhalts. 
Sie  haben  den  Welterlöser  geboren,  tragen  die  Dornenkrone,  sollen 
deswegen  ans  Kreuz  genagelt,  ertränkt  werden,  aber  eine  Heilige 
kann  nicht  untergehen.  Der  böse  Feind  stellt  ihnen  nach,  hat  sie 
vergiftet,  in  drei  Theile  zerschnitten;  die  Mächte  der  Finsterniss  sind 
überwunden.  Die  Umgebung  wird  vollständig  verkannt;  das  Kranken- 
zimmer ist  die  Hölle,  ein  Gotteshaus,  der  Arzt  Christus,  der  Pfarrer 
oder  irgend  ein  Bekannter. 

Die  Stimmung  ist  vorwiegend  heiter,  bisweilen  etwas  erotisch, 
doch  schieben  sich  leicht  vorübergehend  ängstliche  oder  zornige  Ge- 
fühlsausbrüche ein.  Stets  ist  lebhafte  motorische  Erregung  vor- 
handen. Die  Kranken  bleiben  nicht  im  Bett,  drängen  hinaus,  auch 


32 


II.  Das  Erschöpf Hngsirresein. 


zum  Fenster,  kriechen  zu  ihren  Mitpatienten  hinein,  entkleiden  sich, 
zerreissen,  schmieren.  Sie  schwatzen  lebhaft,  bald  laut  und  hochtrabend, 
bald  geheimnissvoll  flüsternd,  gesticuliren,  schneiden  Fratzen,  klatschen 
in  die  Hände.  Meist  ist  es  unmöglich,  von  ihnen  eine  besonnene 
Antwort  zu  erhalten;  nur  hie  und  da  geben  sie  einmal  auf  eine  ein- 
fache Frage  flüchtige  Auskunft  oder  folgen  sie  einer  Aufforderung. 
Vielfach  stösst  man  beim  Baden,  Entkleiden  und  sonstigen  noth- 
wendigen  Massregeln  auf  ein  unsinniges,  ganz  planloses  Widerstreben. 
Zuweilen  scheint  ein  dumpfes  Krankheitsgefühl  zu  bestehen.  Der 
Schlaf  ist  auf  der  Höhe  der  Krankheit  völlig  aufgehoben : höchstens 
kommt  es  einmal  zu  einem  ganz  kurzen,  rasch  durch  die  Unruhe 
wieder  unterbrochenen  Schlummer.  Die  Nahrungsaufnahme  ist 
sehr  unregelmässig.  Die  Kranken  stossen  zeitweise  alles  zurück, 
spucken  aus,  während  sie  kurz  nachher  das  Dargebotene  gierig 
hinunterschlingen  oder  es  sich  wenigstens  einlöffeln  lassen. 

Tn  schweren  Fällen  wird  das  ganze  Krankheitsbild  sehr  bald 
ausschliesslich  durch  den  rücksichtslosesten  Bewegungsdrang  be- 
herrscht. Die  psychische  Thätigkeit  scheint  sich  völlig  in  ein  Ge- 
misch verworrener  Antriebe  aufzulösen.  Die  spärlichen  Zeichen 
einer  Auffassung  äusserer  Reize,  die  Andeutungen  von  Sinnes- 
täuschungen schwinden;  die  sprachlichen  Aeusserungen  zerfallen  in 
eine  Folge  einzelner  sinnloser  Laute.  Dabei  besteht  eine  triebartige 
Unruhe,  die  sich  in  einfachen,  zuweilen  ganz  gleichförmigen  Be- 
wegungen, in  unablässigem  Trommeln,  Wälzen,  Zappeln,  Wischen, 
Schnauben  u.  dgl.  entladet. 

Der  Ernährungszustand  ist  im  Collapsdelirium  stets  ein  sein- 
schlechter.  Die  Kranken  sind  kühl,  blass,  oft  erschreckend  abge- 
magert und  schwach,  obgleich  sie  das  in  ihrer  Unruhe  nicht  zu 
empfinden  scheinen.  Das  Körpergewicht  sinkt  ungemein  schnell. 
Der  Puls  ist  klein,  häufig  sehr  verlangsamt.  Die  Reflexe  sind 
gesteigert;  einige  Male  sah  ich  lebhaftes  Zittern.  Au  der  Haut 
finden  sich  nicht  selten  Abschürfungen,  blaue  Flecke  und  dergl. 
in  Folge  der  Rücksichtslosigkeit,  mit  der  die  Kranken  ihre  Glieder 
bewegen. 

Die  Dauer  des  Collapsdeliriums  beträgt  in  der  Regel  nur  einige 
Tage,  bisweilen  nur  Stunden,  selten  mehr  als  ein  bis  zwei  Wochen. 
Die  Besonnenheit  tritt  fast  immer  plötzlich  wieder  hervor,  oft  nach 
einem  längeren  Schlafe.  Die  Täuschungen  sind  verschwunden;  die 


Collapsdelirium. 


33 


Kranken  beginnen  sich  zu  orientiren,  erkennen  die  Umgebung,  haben 
Krankheitseinsicht,  nehmen  Nahrung  zu  sich.  In  einzelnen  Fällen 
kann  vorübergehend  Klarheit  mit  neuerlicher  Wiederkehr  der  Ver- 
wirrtheit sich  einstellen.  Die  Erinnerung  an  die  überstandene 
Psychose  ist  meist  eine  ganz  unklare;  seltener  sind  die  Kranken 
im  Stande,  einzelne  deliriöse  Erlebnisse  zusammenhängend  zu  er- 
zählen. Die  motorischen  Reizerscheinungen  verlieren  sich  in  der 
Regel  langsam.  Eine  leichte  Ideenflucht,  grosse  Wankelmüthigkeit 
der  meist  gehobenen  Stimmung,  nörgelndes,  missvergnügtes  Wesen, 
Neigung  zu  vielem  Sprechen  und  eine  gewisse  Unruhe  können  noch 
wochenlang  die  Wiederkehr  der  Besonnenheit  überdauern.  Meist 
tritt  übrigens  allmählich  sehr  deutlich  das  Gefühl  der  Denkträgheit 
und  Schwerbesinnlichkeit  sowie  grosser  körperlicher  Hinfälligkeit  und 
Schwäche  hervor,  welches  dem  Kranken  die  Bettruhe 
erwünscht  erscheinen  lässt.  Der  Appetit  wird  gewöhn- 
lich sehr  stark,  und  das  Körpergewicht  steigt  fast 
ebenso  schnell,  wie  es  gesunken  war,  zeitweise  täglich 
1 — 2 Pfund,  im  ganzen  nicht  selten  um  20,  30,  ja 
40  Pfund  innerhalb  weniger  Wochen,  wie  die  neben- 
stehende Curve*)  zeigt. 

Der  Ausgang  des  Collapsdeliriums  ist  regelmässig 
ein  günstiger,  wenn  es  gelingt,  die  Kranken  am  Leben 
zu  erhalten.  Die  Gefahr  eines  körperlichen  Zusammen- 
bruches ist  allerdings  wegen  des  elenden  Zustandes 
der  Kranken  oft  eine  recht  grosse,  namentlich  wenn 
etwa  das  ursächliche  Leiden  noch  besondere  Schädi-  ' ""'S"""" 

. . . . . „ . . . . Gelenkrheumatismus. 

gangen  nach  sich  zieht.  Bei  einigen  anscheinend  hier- 
her  gehörigen  Fällen  sah  Alzheimer  in  der  ganzen  Rinde  ver- 
breiteten feinkörnigen  Zerfall  der  gefärbten  Substanz  mit  leichter 
Färbung  der  ungefärbten  Bahnen  ohne  Gliawucherung  und  meist 
auch  ohne  Erkrankung  des  Kernes.  Andererseits  hat  man  bei  dem 
schnellen  Verlaufe  der  Psychose  selbst  in  anscheinend  ganz  ver- 
zweifelten Fällen  bisweilen  die  Genugthuung,  plötzliche,  überraschende 
günstige  Wendungen  zu  sehen.  So  konnte  ich  vor  einigen  Jahren 
einen  jungen  Menschen  geheilt  entlassen,  der  wenige  Wochen  früher 

*)  B<i  dieser  wie  bei  allen  folgenden  Cnrven  bedeuten  die  Abschnitte  der 
Abscissenacbse  je  5 Wochen,  diejenigen  der  Ordinateuachso  je  5 Pfund. 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl,  3 


34 


II.  Das  Krschopfungeirresein. 


während  eines  Collapsdeliriuras  nach  Gelenkrheumatismus,  Endokar- 
ditis und  Chorea,  mit  Eiweiss  im  Ham,  mächtigem  Druckbrand,  einer 
Temperatur  von  33,8°  und  im  Zustande  schwerster  therapeutischer 
Morphiumvergiftung  fast  sterbend  in  die  Klinik  aufgenommen  wurde. 
Bei  den  genesenen  Kranken  sieht  man  übrigens  oft  noch  recht  lange 
eine  mehr  oder  weniger  deutliche  Erhöhung  der  gemüthlichen  Er- 
regbarkeit fortbesteheu. 

Die  erste,  ausgezeichnete  Beschreibung  des  Collapsdeliriums 
hat  1866  Hermann  Weber  gegeben,  der  dasselbe  im  Anschlüsse 
an  den  Temperaturabfall  nach  acuten  Krankheiten  beobachtete.  Die 
weitere  klinische  Erfahrung  hat,  wie  ich  glaube,  gelehrt,  dass  die 
gleichen  Krankheitserscheinungen  überall  da  zu  Stande  kommen 
können,  wo  auf  irgend  eine  Weise  tief  eingreifende  äussere  Schäd- 
lichkeiten eine  plötzliche  Erschöpfung  herbeiführen.  Es  scheint  sich 
dabei  um  eine  ganz  acute  Gleichgewichtsschwankung  in  unserem 
Centralnervensystem  zu  handeln,  welche  mit  Steigerung  der  cen- 
tralen motorischen  Erregbarkeit,  Abstumpfung  gegen  äussere  Ein- 
drücke und  sensorischen  Eigenerregungen  einhergeht,  Erscheinungen, 
deren  erste  Andeutungen  sich  durch  den  psychologischen  Versuch 
schon  bei  der  Erschöpfung  im  Verlaufe  einer  durcharbeiteten  Nacht 
nachweisen  lassen.  Möglich,  ja  wahrscheinlich  ist  es  allerdings, 
dass  neben  der  Erschöpfung  öfters  noch  andersartige  Ursachen  wirk- 
sam sind,  namentlich  etwa  gewisse  Krankheitsgifte  und  Zerfallstofie. 

Ausser  den  acuten  Krankheiten,  von  denen  besonders  Pneu- 
monie und  Influenza,  ferner  Erysipel,  Masern,  Scharlach  und  Cholera 
zu  nennen  sind,  kommen  als  Ursachen  vor  allem  das  Wochenbett  in 
Betracht,  Blutverluste,  fortgesetzte  Nachtwachen,  vielleicht  auch  heftige 
gemtithliche  Erregungen.  Diese  letzteren  scheinen  besonders  als 
auslösende  Ursachen  bei  einer  schon  vorbereiteten  Herabsetzung 
der  psychischen  Widerstandsfähigkeit  von  Bedeutung  zu  sein.  Nicht 
selten  sieht  man  z.  B.  gegen  Ende  der  ersten  Woche  des  Kind- 
betts oder  gar  noch  später  die  Störung  an  einen  Schreck,  einen 
Streit  sich  anschliessen.  Erbliche  Veranlagung  liess  sich  etwa  in 
der  Hälfte  der  von  mir  aus  den  letzten  Jahren  gesammelten  Fälle 
nachweisen;  wichtiger  dürften  erworbene  Schwächungen  sein,  wie 
sie  durch  chronische  Leiden,  schlechte  Ernährung,  Kummer  und 
widrige  Lebensschicksale  erzeugt  werden.  Einmal  konnte  ich  die 
Entwicklung  des  Collapsdeliriums  in  der  Anstalt  bei  einer  bis  dahin 


Collapsdelirium. 


35 


nur  leicht  melancholisch  verstimmten  Frau  von  Anfang  an  verfolgen, 
als  sie  eine  schwere  Influenza  mit  nachfolgender  Sprach-  und  Schluck- 
lähmung durchmachte;  im  Verlaufe  einer  periodischen  Manie  beob- 
achtete ich  ein  Collapsdelirium  während  der  Genesung  von  einem 
schweren  Erysipel.  Eine  Frau  erkrankte  nach  angestrengten  Nacht- 
wachen mit  dem  Eintritte  der  Menses,  eine  andere  zum  ersten 
Male  in  der  Lactation,  zum  zweiten  Male  18  Jahre  später  nach  einer 
fieberhaften  Lungenerkrankung.  Frauen  sind,  schon  wegen  der  Ge- 
fahren des  Fortpflanzungsgeschäftes,  erheblich  mehr  zum  Collaps- 
delirium  geneigt,  als  Männer. 

Die  Erkennung  des  Collapsdeliriums  ist  namentlich  für  die 
Behandlung  von  Wichtigkeit.  Sie  stützt  sich  in  erster  Linie  auf  die 
ursächlichen  Verhältnisse,  den  Ernährungszustand  und  die  plötzliche 
Entstehung  der  Psychose,  kann  aber  auch  aus  dem  psychischen 
Verhalten  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  abgeleitet  werden.  Die 
Verwirrtheit  und  Desorientirtheit  der  Kranken  sowie  ihre  Sinnes- 
täuschungen lassen  in  erster  Linie  Verwechselungen  mit  epileptischen 
Dämmerzuständen  oder  dem  Delirium  tremens  möglich  erscheinen. 
Von  beiden  Formen  unterscheidet  sich  das  Collapsdelirium  deutlich 
durch  die  Ideenflucht  und  den  triebartigen,  nicht,  wie  dort,  durch 
Vorstellungen  oder  Angstaffecte  ausgelösten  Bewegungsdrang.  Ferner 
können  die  triebartigen  Erregungen  der  Katatoniker  dem  Collaps- 
delirium äusserlich  ungemein  ähnlich  sehen.  Was  sie  aber  deutlich 
davon  unterscheidet,  ist  die  gute  Erhaltung  der  Besonnenheit  sowie 
die  geringe  Störung  der  Auffassung,  des  Denkens  und  der  Orientirung, 
im  Gegensätze  zu  der  traumartigen  Benommenheit  im  Collapsdelirium. 
Dagegen  begegnen  wir  in  der  Dementia  paralytica  deliriösen  Auf- 
regungszuständen, die  nur  unter  Berücksichtigung  des  ganzen  bis- 
herigen Krankheitsverlaufes  oder  der  freilich  oft  unsicheren,  eigen- 
artig paralytischen  Zeichen  (geistige  Schwäche,  unsinnige  Grössen- 
oder Kleinheitsideen,  nervöse  Störungen)  vom  Collapsdelirium  zu 
unterscheiden  sind.  Der  Nachweis  länger  zurückgehender  Vorläufer- 
erscheinungen und  das  Fehlen  einer  eingreifenden  äusseren  Schäd- 
lichkeit sprechen  für  Paralyse.  Der  weitere  Verlauf  entscheidet 
natürlich  die  Frage  früher  oder  später,  wenn  nicht  der  Tod  die  Be- 
obachtung abschneidet. 

Es  ist  daher  erklärlich,  dass  man  bisweilen  die  schwereren 
Formen  des  Collapsdeliriums  mit  gewissen  tödtlich  verlaufenden 

3* 


36 


II.  Das  Erschöpfungßirresein. 


Fällen  des  paralytischen  Deliriums  und  der  Katatonie  als  be- 
sondere Krankheit  unter  dem  Namen  des  ..Delirium  acutum“ 
zusammengefasst  hat,  dem  sogar  bestimmte  anatomische  Verände- 
rungen (Hirnhyperaemie,  Oedem,  Auswanderung  von  weissen  und 
seiht  rothen  Blutkörperchen  in  die  Lymphräume  des  Hirns)  zu  Grunde 
liegen  sollen.  Ich  habe  mich  von  der  selbständigen  Berechtigung 
dieser  Krankheitsform  bisher  nicht  überzeugen  können.  Von  ge- 
wissen deliriösen  Anfällen  des  manisch-depressiven  Irreseins  ist  das 
Collapsdelirium  ohne  Kenntniss  der  Vorgeschichte  (Ursachen,  frühere 
Anfälle)  nur  sehr  schwierig  zu  unterscheiden.  Mir  scheint  indessen, 
dass  die  Auffassung  äusserer  Eindrücke  im  Erschöpfnngsdelirium 
weit  stärker  gestört  ist,  als  bei  jenen  Kranken;  zudem  ist  der  körper- 
liche  Zustand  zu  berücksichtigen.  Gegenüber  der  nahe  verwandten 
Amentia  kommt  die  stürmischere  Entwicklung,  die  grosse  Heftigkeit 
der  gesammten  körperlichen  und  psychischen  Krankheitserscheinungen 
und  der  rasche  Verlauf  des  Collapsdeliriums  in  Betracht. 

Die  Behandlung  dieser  Krankheit  hat  ungemein  wichtige  und 
zugleich  dankbare  Aufgabeu  zu  erfüllen;  es  giebt  keine  Geistes- 
störung, bei  welcher  das  Können  des  Arztes  so  entscheidend  in  das 
Schicksal  des  Kranken  einzugreifen  vermag.  Selbstverständlich  ge- 
hören derartige  Kranke  so  schnell  wie  möglich  auf  die  Wach- 
abtheilung einer  Irrenanstalt.  Hier  sind  hauptsächlich  zwei  Auf- 
gaben zu  erfüllen:  es  gilt,  die  Kräfte  des  Kranken  zu  erhalten  und 
womöglich  zu  heben,  andererseits  ihn  vor  Verletzungen  und  Schä- 
digungen durch  die  eigene  Unruhe  oder  durch  seine  Umgebung  zu 
schützen.  Gerade  bei  diesen  Kranken  pflegt  sich  in  ausgezeichneter 
Weise  das  Dauerbad  zu  bewähren.  In  demselben  tritt  meist  sehr 
bald  eine  gewisse  Beruhigung  ein;  die  Kranken  bleiben  dann  gern 
im  Bad  und  fangen  häufig  an,  reichlich  Nahrung  zu  sich  zu  nehmen. 
Man  wird  daher  von  Einwicklungen,  die  wegen  der  Behinderung  der 
Athnning  unter  Umständen  nicht  unbedenklich  sind,  vom  Festhalten 
im  Bett  und  von  der  Anwendung  des  Polsterzimmers  fast  immer 
absehen  können.  Ebenso  möchte  ich  den  Gebrauch  von  narko- 
tischen oder  Schlafmitteln  ganz  allgemein  widerrathen,  da  ihre  Ge- 
fahren hier  zu  ihrem  Nutzen  in  keinem  richtigen  Verhältnisse  stellen. 
Doch  ist  der  Alkohol  in  kräftigeren  Gaben  sehr  am  Platze;  er  bringt 
Ruhe,  oft  raschen  Schlaf  und  wird  ausgezeichnet  vertragen.  Auch 
das  Paraldehyd  mag  man  versuchen.  Bei  sehr  grosser  (Schwäche 


Acute  Verwirrtheit. 


37 


habe  ich  starken  Kaffee,  Coffeineinspritzungen  und  Campher  vorüber- 
gehend angewendet. 

Die  Nahrungsaufnahme  erfordert  sehr  sorgfältige  Berücksichtigung. 
Häufiges  Anbieten,  Auswahl  nahrhafter  Speisen,  besonders  flüssiger 
oder  breiiger  (Milch,  Cognac  mit  Ei  und  Zucker,  Fleischbrühe  mit 
zerhacktem  Fleisch),  kann  hier  viel  leisten.  Im  Nothfalle  muss  zur 
Ernährung  durch  die  Sonde  gegriffen  werden,  bei  der  man  den  Alkohol 
nicht  vergesse.  Nicht  selten  schlafen  die  Kranken  nach  einer  solchen 
Fütterung  sofort  ein.  Wo  sie  vertragen  wird,  erweist  sich  geradezu 
eine  gewisse  Ueberernährung  als  zweckmässig.  Sobald  die  Sonde 
aus  irgend  einem  Grunde  (Magenblutung,  Erbrechen)  nicht  anwend- 
bar ist  oder  die  hochgradige  Erschöpfung  sehr  rasches  Eingreifen 
erfordert,  zögere  man  nicht,  zur  Kochsalzinfusion  zu  schreiten.  Rasche 
Aufhellung  des  Bewusstseins  und  willige  Aufnahme  von  Nahrung 
ist  die  gewöhnliche,  freilich  zunächst  nur  vorübergehende  Wirkung, 
die  nach  Bedarf  durch  Wiederholung  der  Massregel  erneuert  werden 
kann.  Bisweilen  genügen  auch  schon  häufige,  vorsichtige  Kochsalz- 
klystiere.  Wenn  die  volle  Besonnenheit  zurückgekehrt  ist,  hat  die 
Behandlung  nur  die  Aufgabe,  von  dem  noch  sehr  empfindlichen 
Reconvalescenten  alle  äusseren  Schädlichkeiten,  namentlich  gemiith- 
liche  Erregungen,  fernzuhalten,  bis  das  frühere  körperliche  und 
psychische  Gleichgewicht  vollkommen  erreicht  ist.  Massgebend  für 
die  Beurtheilung  der  Genesung  ist  dabei  in  erster  Linie  die  Wieder- 
erlangung des  früheren  Körpergewichts. 

B.  Die  acute  Verwirrtheit  (Ameutia)  *), 

Unter  dem  Namen  der  Verwirrtheit  (Amentia)  hat  Meynert 
eine  Krankheitsform  beschrieben,  die  hauptsächlich  durch  das  Auf- 
treten einer  leichteren  oder  tieferen  Bewusstseinstrübung  mit  mannig- 
fachen Reizerscheinungen  auf  sensorischem  und  motorischem  Ge- 
biete gekennzeichnet  ist.  In  Folge  einer  wesentlich  symptomatischen 
Auffassung  des  Krankheitsbildes  finden  sich  in  demselben  eine  Reihe 
von  Zuständen  vereinigt,  die  meiner  Ueberzeugung  nach  durchaus 

*)  Meynert,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  1881;  Klinische  Vorlesungen  über  Psy- 
chiatrie, S.  33  ff;  Mayser,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XL1I,  1;  Wille, 
Archiv  f.  Psychiatrie,  XIX,  2;  Chaslin,  la  confusion  mentale  primitive.  1895; 
Poulsen,  Studier  over  primaer  idiopathisk  amentia.  1896. 


IT.  Bas  Erschöpfiingsirresein. 


38 


von  einander  unterschieden  werden  sollten,  ausser  dem  soeben  be- 
schriebenen Collapsdelirium  z.  B.  gewisse  epileptische  und  perio- 
dische Geistesstörungen.  Es  scheint  mir  daher  zweckmässiger,  die 
Bezeichnung  der  Amentia  nur  für  den  eigentlichen  Kern  der  Mey- 
nert’schen  Beobachtungen  festzuhalten,  für  diejenigen  Fälle,  bei 
welchen  sich  in  Folge  einer  greifbaren  äusseren  Schädlich- 
keit acut  ein  Zustand  traumhafter  Verworrenheit,  illu- 
sionärer oder  hallucinatorischer  Verfälschung  der  Wahr- 
nehmung und  motorischer  Erregung  entwickelt,  der  bei  günsti- 
gem Verlaufe  frühestens  nach  2 — 3 Monaten  zur  Genesung  führt. 
Vielleicht  können  wir  diese  Krankheitsgruppe  geradezu  als  ein  ver- 
längertes Collapsdelirium  bezeichnen.  Sie  deckt  sich  zum  grossen 
Theile  mit  dem  von  Fiirstner  beschriebenen  „hallucinatorischen 
Irresein  der  Wöchnerinnen“. 

Den  Beginn  der  Krankheit  bilden  gewöhnlich  Schlaflosigkeit  und 
innere  Unruhe.  Die  Kranken  fühlen  sich  beängstigt,  aufgeregt,  ver- 
gesslich, haben  Todesahnungen,  können  ihre  Gedanken  nicht  mehr 
recht  sammeln  und  klagen  über  Benommenheit  und  Verwirrtheit 
im  Kopfe.  Im  Laufe  weniger  Tage  steigert  sich  die  Störung  rasch 
bis  zu  völliger  Unfähigkeit,  sich  in  der  Umgebung  und  in  den  Er- 
eignissen zurechtzufinden.  Alles  erscheint  verändert;  die  Personen 
werden  verkannt;  vereinzelte  oder  zahlreichere  Hallucinationen 
stellen  sich  auf  verschiedenen  Sinnesgebieten  ein,  um  ebenso  wie  die 
verfälschten  wirklichen  Eindrücke  zu  traumhaft  verworrenen,  wider- 
spruchsvollen Wahnideen  verarbeitet  zu  werden.  Die  Kranken  sehen 
Gesichter  in  der  Luft,  den  ewigen  Juden,  den  Teufel  im  Ofen, 
fliegende  Vögel,  wilde  Thiere  unter  dem  Bett,  zwei  Gehängte  am 
Fenster;  sie  werden  verspottet,  hören  Vorwürfe,  Drohungen,  Ver- 
heissungen.  Man  ruft  sie;  es  wird  ein  Lied  gesungen,  „als  ob  es 
keinen  Gott  mehr  gäbe“.  Alles  ist.  todt  zu  Hause;  eine  Schlacht  ist 
geschlagen  durch  ihre  Schuld;  das  Gottesgericht  wird  abgehalten; 
sie  müssen  den  Doppelkampf  in  Gethsemane  durchmachen.  Es 
giebt  Anfechtungen  in  der  Luft  mit  Spiegeln  und  Magnetismus, 
Verschwörungen,  Schlangen  und  Geister;  der  Teufel  kommt  in 
dreierlei  Gestalt,  Sie  fürchten,  vergiftet,  todtgescliossen,  gesotten  und 
gebraten,  im  Keller  hingerichtet  zu  werden,  da  sie  „der  schrecklichste 
aller  Drachen“  sind;  sie  sind  schon  gestorben;  der  Todtenwagen 
fährt  schon  draussen. 


Acute  Verwirrtheit. 


39 


In  einzelnen  Fällen  überwiegen  Grössenideen:  die  Kranken  sind 
hohe  Personen,  sind  im  Himmel  gewesen,  haben  den  Heiland  ge- 
sehen, reisen  nach  Amerika.  Nicht  selten  gerathen  die  Kranken 
dabei  in  ein  eigentümlich  deliriöses  Fabuliren.  Die  Auffassung  der 
wirklichen  Umgebung  ist  stets  eine  sehr  unvollkommene.  Die 
Kranken  sind  zerstreut,  schwer  zu  fixiren,  wissen  nicht,  wo  sie  sich 
befinden,  verkennen  die  Personen,  meist  ohne  jede  Rücksicht  auf  die 
Aehnlichkeit,  halten  aber  an  den  einmal  gemachten  falschen  Be- 
zeichnungen oft  längere  Zeit  hindurch  fest. 

Dabei  ist  die  Aufmerksamkeit  der  Kranken  auf  die  Um- 
gebung gerichtet;  sie  bemühen  sich,  aufzufassen  und  zu- begreifen, 
was  um  sie  herum  vorgeht.  Fast  immer  gelingt  es,  durch  vorge- 
haltene Gegenstände,  Geberden,  zugerufene  Worte  den  Gedanken- 
gang in  bestimmte  Richtung  zu  lenken.  Um  so  auffallender  ist 
aber  regelmässig  die  Unfähigkeit,  auch  nur  die  einfachsten  Vorgänge 
richtig  zu  verstehen.  Manchen  derartigen  Kranken  erscheint  alles 
falsch,  verwechselt,  verdreht.  Sie  werden  mit  falschen  Thermometern 
gemessen;  es  sind  „falsche  Zeitungen“,  die  man  ihnen  giebt;  es  ist 
„immer  alles  anders“;  sie  sind  an  einen  „ganz  verkehrten  Ort“  ge- 
rathen, „gehören  gar  nicht  hierher“,  „sind  gar  nicht  der  Richtige“ 
und  wissen  nicht,  „was  das  alles  bedeuten  soll“.  Die  alltäglichsten 
Dinge  gewinnen  auf  diese  Weise  für  den  Kranken  den  Anschein 
des  Rätselhaften,  Unverständlichen  und  Unheimlichen;  er  fühlt  sich 
ihnen  gegenüber  rathlos,  was  sich  meist  in  seinem  ganzen  Verhalten 
sehr  deutlich  ausdrückt.  Es  werden  immer  so  die  Thiiren  auf-  und 
zugemacht;  da  wird  ein  Packet  auf  den  Tisch  gelegt,  und  dann 
nickt  Einer  mit  dem  Kopfe;  bald  heisst  es  so,  bald  heisst  es  so;  da 
sind  mit  einem  Mal  so  viele  Frauen  — warum  stellen  die  sich  Alle 
so?  Dabei  äussert  sich  gewöhnlich  ein  deutliches  Gefühl  dieser 
Unfähigkeit,  zu  verstehen;  der  Kranke  klagt,  dass  er  nicht  recht 
denken  könne,  dass  man  ihn  „ganz  irre“  mache,  wünscht  sich  leb- 
haft fort,  damit  er  endlich  aus  dieser  Verwirrung  herauskomme. 
Diese  letzteren  Fälle,  in  denen  die  eigentlichen  Sinnestäuschungen 
gänzlich  hinter  der  Auffassungsstörung  zurücktreten,  sind  es,  die  ich 
früher  als  „asthenische  Verwirrtheit“  der  hallucinatorischen  Form 
gegenübergestellt  habe.  Die  weitere  Erfahrung  hat  mir  indessen 
gezeigt,  dass  die  beiden  Krankheitsbilder  zweckmässiger  unter  ge- 
meinsamer Bezeichnung  zusammengefasst  werden. 


40 


II.  Das  Ei'scliöpfungßirresein. 


Offenbar  haben  wir  es  mit  einer  schweren  Denkstörung  zu 
thun.  Dieselbetritt  sehr  deutlich  auch  in  der  Verworrenheit  des 
Gedankengangcs  hervor,  die  der  Psychose  den  Namen  gegeben 
hat.  Die  Kranken  sind  unfähig,  eineErzählung  zu  Ende  zu 
führen,  weil  sich  immer  wieder  andere  Vorstellungen  dazwischen 
schieben.  Zufällig  aufgefasste  AVorte  oder  Geräusche  flechten  sie 
sofort  in  ihre  Reden  ein.  Bisweilen  lösen  sich  die  Aeusserungen 
der  Kranken  in  einzelne  abgerissene  und  zusammenhangslose  AVorte 
auf.  Vielfach  treten  dabei  AVortanklänge  und  Reime  in  den  Vorder- 
grund. Ein  Beispiel  giebt  die  folgende  Nachschrift: 

„Sie  brauchen  keine  goldene  Brille,  Silber,  Edelsteine  — und  hat  so  oft  in  das 
Meer  der  Ewigkeit  gesenkt  — und  Alle  wollen  verurtbeilt  werden  — und  ich  soll  mich 
meiner  ersten  Eltern  nicht  schämen  — und  ich  habe  doch  einen  Lorbeerkranz  ver- 
dient, aber  ich  habe  ihn  noch  nicht  Angesichts  des  Herrn  erhalten,  und  diese 
Fahnenweihe  (sieht  draussen  die  Fahnen  von  Kaisers  Geburtstag)  war  es  doch 
nicht,  wo  ich  vor  meinen  Schulkindern  — ich  will  aber  doch  den  Sieg  erlangen 
und  richtige  Fahnenweih  mitfeiern  und  für  ganz  Deutschland  eine  Fahne  weihen, 
nicht  eher,  bis  ich  meine  Fahne  sehe,  die  mir  gehört  in  Richtigkeit.  — Diese  richtige 
Fahne  habe  ich  weder  Blutvergiessen  noch  Unschuld,  wohin  Alle  noch  zu  gelangen 
wünschten,  nicht  eher  bis  sie  die  richtige  Fahne  sehen;  sie  ist  nicht  gold,  nicht 
rotb,  nicht  schwarz,  nicht  gelb  wie  die  Falschheit  — zu  viel  Falschheit  treiben 
die  Kindermädchen  und  schütten  Einem  Gift  ins  Essen,  damit  die  Todten  wieder 
lebendig  werden.“ 

Neben  den  Zeichen  von  Ideenflucht  und  Ablenkbarkeit  macht 
sieb  das  Kleben  an  einzelnen  Abstellungen  geltend,  ferner  völlige 
Zusammenhangslosigkeit,  unklare  Abfolgungsideen  und  das  Ge- 
fühl, dass  es  „nicht  richtig“  ist..  Das  Bewusstsein  ist  traum- 
haft getrübt,  die  Ordnung  der  Eindrücke  und  Abstellungen  unge- 
mein erschwert.  Am  auffallendsten  treten  diese  Erscheinungen  in 
den  Zeiten  hervor,  in  denen  die  Kranken  ruhig  sind.  Die  tiefe  Ab- 
wirrtheit  bei  völlig  ruhiger,  gleichmüthiger  Stimmung  bietet  ein  sehr 
eigenartiges  Bild. 

Die  Stimmung  ist  in  der  Amentia  eine  sehr  verschiedene.  Bis- 
weilen überwiegt  dauernd  die  freudige  Gehobenheit,  häufiger  eine 
gewisse  Depression.  Fast  immer  findet  sich  ein  deutlicher  AVechsel 
des  Zustandes:  kurze  Zeiten  unvermittelter  Heiterkeit  mit  geschlecht- 
licher Erregung,  Lachen  und  Singen  oder  Ausbrüche  zorniger  Ge- 
reiztheit entwickeln  sich  auf  einer  Grundlage  leichten  ängstlichen 
Unbehagens  und  Misstrauens.  Zeitweise  treten  auch  Anzeichen  von 


Acute  Verwirrtheit. 


41 


Stumpfheit  oder  von  inneren  Spannungszuständen  mit  heftiger  Auf- 
regung, Schreien,  Weinen,  Schimpfen  hervor. 

Im  Benehmen  der  Kranken  macht  sich  ein  mehr  oder  weniger 
ausgeprägter  Bewegungsdrang  geltend.  Sic  sind  unruhig,  bleiben  nicht 
im  Bette,  machen  Fluchtversuche,  entkleiden  sich,  zerreissen,  knoten 
die  Betttücher  zusammen,  trommeln,  klappen,  klettern,  greifen  nach 
glänzenden  Gegenständen,  klammern  sich  an.  Sie  singen,  schwatzen, 
predigen,  verdrehen  in  kindischer  Weise  die  Worte;  zeitweise  werden 
sie  ärgerlich,  schlagen,  stossen  und  spucken,  werfen  das  Essen  ins 
Zimmer,  bringen  verwirrte  Schimpfereien  vor.  Ihre  Handlungen 
werden  nicht  sehr  schnell,  ohne  grossen  Nachdruck,  planlos,  zu- 
sammenhangslos ausgeführt;  die  Erregung  tritt  mehr  anfallsweise 
auf,  während  dazwischen  vollkommene  Beruhigung  vorhanden  sein 
kann.  Der  Gesichtsausdruck  ist  abwesend,  verständnislos. 

Der  Schlaf  der  Kranken  ist  stets  sehr  gestört;  nicht  selten 
pflegt  sich  gerade  in  der  Nacht  grössere  Unruhe  einzustellen.  Die 
Nahrungsaufnahme  ist  von  Anfang  an  gering;  zeitweise  kommt 
es  wegen  der  verwirrten  Unruhe  und  wegen  des  ängstlichen  Miss- 
trauens der  Kranken  zu  völliger  Nahrungsverweigerung.  Das  Körper- 
gewicht sinkt  daher  beträchtlich;  gleichwol  bleibt  der  Ernährungs- 
zustand meist  ein  bessere]',  als  im  Collapsdelirium.  Die  Reflexe  sind 
häufig  erhöht,  der  Puls  verlangsamt,  die  Temperatur  niedrig  normal; 
vielfach  besteht  Unreinlichkeit. 

Die  volle  Höhe  der  Erkrankung  wird  gewöhnlich  schon  inner- 
halb der  ersten  zwei  Wochen  erreicht.  Der  weitere  Verlauf  ist 
regelmässig  ein  eigenthümlich  schwankender.  Die  stürmischen  Er- 
scheinungen lassen  im  ganzen  allmählich  nach;  die  Kranken  werden 
etwas  zusammenhängender  in  Gedanken  und  Reden,  um  vorüber- 
gehend doch  wieder  völlig  desorientirt  und  sehr  unruhig  zu  sein. 
Nicht  selten  kommt  es  schon  im  Beginne  der  Krankheit  zu  kurzen, 
ganz  tiefen  Nachlässen,  in  denen  für  Stunden  und  selbst  Tage 
vollständige  Klarheit,  Einsicht  und  Schwinden  der  Täuschungen  be- 
obachtet wird.  Treten  solche  Besserungen  plötzlich  und  unver- 
mittelt ein,  so  sind  sie  nicht  von  Bestaud.  Vielmehr  pflegt  sich  die 
wirkliche  Genesung  fast  immer  unter  ganz  langsamer  Abnahme 
aller  Krankheitserscheinungen  zu  entwickeln.  Regelmässig  sind  die 
Kranken  schon  längere  Zeit  ruhig,  während  sie  noch  immer  nicht 
recht  ihre  Gedanken  zu  sammeln,  die  Vorgänge  in  ihrer  Um- 


4 2 II.  Das  Erschüjifungsirresein. 

gebung  zu  verstehen,  sich  in  ihrer  Lage  zurechtzufinden  ver- 
mögen. 

Bei  Längerem  Sprechen,  in  Briefen  gerathen  die  Kranken  in 
Folge  ihrer  grossen  Ermüdbarkeit  noch  ungemein  leicht  in  die  frühere 
Verworrenheit  hinein,  auch  wenn  sie  anfangs  völlig  klar  und  zusammen- 
hängend gewesen  sind.  In  den  leichtesten,  häufigeren  Fällen  wird 
ausserdem  der  Eintritt  völliger  Besonnenheit  vielfach  noch  kürzere  Zeit, 
einige  Wochen  etwa,  überdauert  von  einer  einfachen,  leicht  manischen 
oder  depressiven  Verstimmung,  die  sich  je  nachdem  in  Geschäftig- 
keit, vielem  Sprechen,  gehobenem  Selbstgefühl  oder  in  Misstrauen. 
Kleinmüthigkeit,  Aengstlichkeit,  Todesgedanken,  vielleicht  auch  in 
grosser  Reizbarkeit  äussert.  Die  Gesammtdauer  der  Krankheit  pflegt 
hier  3 — 4 Monate  nicht  zu  überschreiten. 

Bei  schwererer  Störung  werden  die  Kranken  zwar  auch  nach 
einigen  Monaten  klar,  aber  einzelne  Sinnestäuschungen  dauern  noch 
längere  Zeit  hindurch  fort,  ohne  indessen  Irgendwie  wahnhaft  ver- 
arbeitet zu  werden.  Die  Kranken  hören  Zurufe,  vernehmen  im 
Zwitschern  der  Vögel,  in  entferntem  Pfeifen  gelegentlich  eine  Auf- 
forderung oder  Drohung.  Ganz  vorübergehend  taucht  auch  wol  ein- 
mal eine  unsinnige  Grössen-  oder  Verfolgungsidee  auf,  um  sehr  bald 
wieder  vergessen  zu  werden.  Dabei  besteht  ein  eigentümlich  nör- 
gelndes, reizbares,  unzufriedenes,  auch  wol  hochfahrendes  und  ge- 
spreiztes Wesen.  Die  Anstalt  ist  ein  Gefängniss,  in  dem  sich  die 
Kranken  widerrechtlich  zurückgehalten  glauben.  Sie  sind  gar  nicht 
krank,  auch  nicht  krank  gewesen,  nur  etwas  aufgeregt  über  dio 
schlechte  Behandlung  und  das  miserable  Essen.  Alles  ist  nicht  gut 
genug  für  sie;  man  soll  sie  nur  nach  Hause  lassen;  sie  seien  lange 
genug  da.  Namentlich  zur  Zeit  der  Menses  können  sich  noch 
stärkere  Erregungen  einstellen.  Ganz  allmählich  verlieren  sich  auch 
diese  Krankheitserscheinungen.  Die  Täuschungen  und  Wahnideen 
verschwinden  ganz;  die  Kranken  werden  freundlicher,  zugänglicher 
und  etwas  einsichtiger,  aber  in  ihrer  geringen  gemütlichen  Wider- 
standsfähigkeit und  einem  gewissen  Mangel  an  klarem  Verständnisse 
ihrer  Krankheit  erkennt  man  deutlich,  dass  eine  dauernde  psychische 
Schwäche  zurückgeblieben  ist.  Bis  zur  Ausbildung  eines  einigermassen 
feststehenden  Zustandes  können  hier  viele  Monate,  selbst  Jahr  und 
Tag  vergehen;  auch  schwere  Rückfälle  nach  gemütlichen  Erregungen 
oder  körperlichen  Schädigungen  werden  beobachtet. 


Acute  Verwirrtheit. 


43 


Der  Abschluss  des  Krankheitsvorganges  wird  durch  das  An- 
steigen des  Körpergewichtes  angezeigt,  welches  in  leichteren  Fällen 
sehr  rasch,  bei  dem  letzterwähnten  Ausgange  dagegen  langsam  und 
mit  vielen  Schwankungen  zu  erfolgen  pflegt.  Die  beigefügte  Curve  TT 
zeigt  einen  über  10 ’/a  Monate  sich  erstreckenden  Krankheitsverlauf 
mit  mehrfachen  Verschlechterungen  und  endlicher  Genesung. 

Der  Ausgang  in  Tod  ist  bei  der  Amentia  nicht  gerade  häufig; 
doch  kann  bei  sehr  hochgradiger  Erregung  im  Beginne  oder  bei 
besonders  ungünstigem  Körperzustande  (Herzfehler,  Phthise,  Sepsis) 
ein  Collaps  erfolgen ; ausserdem  bleibt  natürlich  die  Selbstmordgefahr 
immerhin  zu  beachten. 

Ursachen  der  Amentia  sind  erschöpfende  Einflüsse,  nament- 
lich das  Wochenbett,  ferner  acute  Krankheiten  (Rheumatismus,  Ery- 
sipel, Typhus),  Blutverluste,  vielleicht  auch  schwere  körperliche  Ueber- 
anstrengung,  Nachtwachen.  Tm  ganzen  bat  es  den  Anschein,  als  ob 
hier  gegenüber  dem  Collapsdelirium  die  langsamer  einwirkenden, 
den  Boden  erst  allmählich  vorbe- 

120 

reitenden  Krankheitsursachen  iiber- 
wiegen.  Dem  entsprechend  spielt  auch 
die  erbliche  Veranlagung  hier  an-  110 
scheinend  eine  etwas  grössere  Rolle, 
als  dort.  Die  letzte  Gelegenheits-  m 
Ursache  zum  Ausbruche  der  Stö- 
rung giebt  nicht  selten  eine  heftige 
Gemütsbewegung  (König  Lear). 

Das  weibliche  Geschlecht  ist  aus 

80 

nahe  liegenden  Gründen  weit 
stärker  vertreten  als  das  männ- 
liche. 

Die  Diagnose  der  Amentia  wird  unter  Berücksichtigung  dei 
ursächlichen  Verhältnisse,  des  acuten  Beginnes  und  der  eigenartigen 
Krankheitszeichen  — Erschwerung  der  Auffassung  trotz  vorhandener 
Aufmerksamkeit,  illusionäre  oder  hall ucinatori sehe  Täuschungen,  Ab- 
lenkbarkeit, tiefe  Denkstörung  bis  zur  Verworrenheit,  Ideenflucht, 
wechselnde  Stimmung,  motorische  Erregung  — meist  sehr  bald  mög- 
lich sein.  Schwierigkeiten,  und  zwar  erhebliche,  entstehen  nur 
gegenüber  der  Katatonie  und  gewissen  manischen  Erregungszuständen. 
Vor  allem  wird  man  hier  auf  den  Anschluss  der  Krankheit  an  eine 


Curve  II. 

Amontia  iin  Wochenbett. 


44 


II.  Das  Erschöpfungsirresein. 


erschöpfende  Ursache  Worth  legen  müssen.  Das  klinische  Bild 
selbst  lässt  sich  von  der  Manie  abgrenzen  durch  das  entschiedene 
Missverhältniss  zwischen  der  schweren  Störung  der  Auflassung  und 
des  Verstandes  einerseits,  der  psychischen  Erregung  andererseits, 
wie  es  bei  der  Amentia  noch  bis  weit  in  die  Genesungszeit  hinein 
fortzudauern  pflegt.  Die  Kranken  sind  noch  verworren  und  geistig 
unfähig,  wenn  die  Erregung  längst  geschwunden  ist,  während  manische 
Kranke  auch  bei  grosser  Unruhe  ziemlich  gut  aufzufassen  und  ihre 
Umgebung  zu  verstehen  pflegen.  Zudem  spielt  sich  die  Erregung 
in  der  Amentia  weit  langsamer,  planloser  ab,  als  der  Bewegungs- 
drang der  Manie;  die  Kranken  sprechen  und  handeln  langsamer, 
weniger  überstürzt,  und  sind  dazwischen  oft  ganz  ruhig,  aber  trotz- 
dem unklar,  rathlos,  verworren.  Gegenüber  der  Katatonie  ist  nament- 
lich auf  die  schwere  Störung  der  Auffassung  und  Orientirung  bei 
erhaltener  Aufmerksamkeit  hinzuweisen.  Katatoniker  pflegen  auch  in 
der  stärksten  Erregung  durch  ihr  genaues  Verständniss  der  Um- 
gebung, ihre  richtige  Zeitrechnung,  ihre  Personenkenntniss,  ihr  gutes 
Gedächtniss  für  die  Vorgänge  der  letzten  Zeit  zu  überraschen.  Da- 
gegen vermögen  die  Kranken  mit  Amentia  sich  selbst  in  der  Ruhe, 
wenn  wir  von  den  Nachlässen  im  Anfänge  absehen,  weder  zeitlich 
noch  örtlich  zu  orientiren,  haben  keine  Ahnung  von  den  Personen 
in  der  Umgebung,  vergessen  rasch  wieder,  was  sich  zuträgt  Dazu 
kommt  das  Fehlen  ausgeprägt  katatonischer  Krankheitszeichen.  Zwar 
kann  Katalepsie  und  in  Andeutungen  wol  auch  diese  oder  jene 
andere  Form  der  Befehl  sau  tomatie  vorhanden  sein,  aber  echter  Ne- 
gativismus, Verbigeration,  Mutacismus,  Stellungsstereotypen.  Manieren 
und  Schrullen  dürften  unter  allen  Umständen  gegen  Amentia  sprechen. 

Di  der  hier  gegebenen  Umgrenzung  ist  die  Amentia  eine  ziem- 
lich seltene  Krankheit.  Unter  etwa  1500  Kranken  der  letzten  Jahre 
möchte  ich  mit  Bestimmtheit  nur  6,  also  noch  nicht  '/« °/o;  m dieser 
Krankheitsform  rechnen.  Die  übergrosse  Mehrzahl  der  Fälle,  die 
mit  dem  Namen  der  hallucinatorischcn  Verwirrtheit  belegt  zu  werden 
pflegen,  gehört  nach  meiner  Ueberzeugung  in  Wirklichkeit  dem 
manisch-depressiven  oder  katatonischen  Irresein  an. 

Schon  aus  diesem  Grunde  kann  ich  mich  nicht  zu  einer  Be- 
handlung der  Amentia  mit  Bakteriengiften  entsehliessen,  wie  sie 
neuerdings  von  Binswangcr*)  vorgeschlagen  wurde.  Vielmehr 

*)  Bi us wanger,  Berliner  klinische  Wochenschrift,  1897,  23. 


Chronische  nervöse  Erschöpfung. 


45 


glaube  ich,  dass  wir  einfach  diejenigen  Anzeigen  zu  erfüllen  haben, 
die  sich  aus  der  bestehenden  Erschöpfung  unmittelbar  ergehen. 
Beruhigung  wird  durch  Bettlagerung  oder  Dauerbäder  erreicht; 
auch  der  Alkohol  thut  oft  sehr  gute  Dienste.  Gelegentliche  Gaben 
von  Hypnoticis  (Brom,  Trional,  Paraldehyd)  sind  hier  bei  grosser, 
unbesiegbarer  Unruhe  eher  einmal  gestattet.  Die  Ernährung  er- 
fordert sorgfältige  Berücksichtigung.  Bei  drohender  Erschöpfung 
zögere  man  nicht,  zur  Sonde  zu  greifen,  um  eine  reichliche  Nahrungs- 
zufuhr zu  erreichen.  Wenn  der  Magen  gut  ist,  empfiehlt  es  sich 
auch  hier,  Ueberernährung  anzustreben,  die  nicht  selten  Beruhigung 
bringt.  Bei  drohendem  Collapse  sind  Kochsalzklystiere  oder  In- 
fusionen am  Platze.  Wegen  der  grossen  Neigung  zu  Rückfällen 
muss  man  hier  den  Kranken  in  der  Genesungszeit  besonders  vor- 
sichtig vor  Schädigungen,  namentlich  zu  frühzeitiger  Entlassung 
hüten.  Jedenfalls  ist  ausser  völliger,  dauernder  Rückkehr  der 
Ruhe,  Klarheit  und  Einsicht  immer  auch  die  Wiedererreichung 
des  gesunden  Köpergewichts  abzuwarten,  bei  dem  Drängen  der 
Kranken  bisweilen  eine  unangenehme,  aber  durchaus  nothwendige 
Geduldsprobe. 


C.  Die  chronische  nervöse  Erschöpfung. 

Die  chronische  nervöse  Erschöpfung,  wie  sie  im  folgenden  be- 
schrieben werden  soll,  deckt  sich  mit  denjenigen  Zuständen,  die  man 
gewöhnlich  mit  dem  Namen  der  erworbenen  Neurasthenie  zu 
bezeichnen  pflegt.  Ohne  Zweifel  bestehen  zwischen  dieser  Erkrankung 
und  den  psychopathischen  Zuständen  der  angeborenen  Neurasthenie 
fliessende  Uebergänge  je  nach  dem  Verhältnisse,  in  welchem  äussere 
Ursachen  einerseits,  krankhafte  Veranlagung  andererseits  an  der 
Entwicklung  des  Leidens  betheiligt  sind.  Dennoch  habe  wol  ich 
nicht  allein  die  Unklarheit  empfunden,  welche  durch  das  Zusammen- 
werfen so  weit  auseinanderweichender  Krankheitsbilder  in  die 
klinischen  Darstellungen  der  Neurasthenie  hineingetragen  wird.  Ich 
habe  daher  den  Versuch  gemacht,  hier  zunächst  diejenigen  Krankheits- 
erscheinungen auszuscheiden,  welche  auch  bei  gesunder  Veranlagung 
durch  dauernd  einwirkende  erschöpfende  Ursachen  erzeugt  werden. 

Die  gesunde  Erfahrung  lehrt  uns  die  ersten  Anfänge  der  Er- 


4ß 


II.  Das  Erschöpfungsirresein. 


Schöpfung  in  der  Reizbarkeitssteigerung  kennen,  die  sich  bei 
fortgesetzter  Arbeit  nach  Ueberwindung  des  Müdigkeitsgefühls  ein- 
stellt. Wir  sind  bekanntlich  im  Stande,  jenes  Warnungszeichen 
durch  eine  Willensanstrengung  zu  unterdrücken;  unter  dem  Einflüsse 
gemüthlicher  Erregung  bleibt  es  von  selbst  aus.  In  beiden  Fällen 
jedoch  gestaltet  sich  das  Verhältniss  zwischen  Verbrauch  und  Ersatz 
rasch  immer  ungünstiger;  die  Bedingungen  für  den  Eintritt  der  Er- 
schöpfung bilden  sich  heraus.  Leider  fehlt  es  uns  noch  an  Ver- 
suchen über  die  Wirkung  dauernder  Ueberanstrengung  auf  das 
Seelenleben.  Wir  wissen  jedoch  aus  vielfacher  Erfahrung,  dass  bei 
fortgesetzt  ungenügendem  Ausgleiche  der  Ermüdungswirkungen  zur 
nächst  die  Fähigkeit  zu  gleichmässiger  Anspannung  der  Aufmerksam- 
keit abnimmt.  Der  Kranke  vermag  nicht  mehr,  klar  und  scharf  zu 
denken,  längere  Zeit  hindurch  bei  demselben  Gegenstände  zu  ver- 
weilen, sondern  er  wird  leicht  durch  irgend  welche  zufälligen  Ein- 
flüsse nach  dieser  oder  jener  Richtung  hin  abgezogen;  er  wird  un- 
aufmerksam, zerstreut,  vergesslich,  namentlich  in  Bezug  auf  Namen 
und  Zahlen.  Seine  Ermüdbarkeit  steigert  sich;  nach  immer 
kürzerer  Arbeitszeit  stellt  sich  eine  rasch  stärker  anwachsende  Er- 
schwerung der  geistigen  Thätigkeit,  ein  Gefühl  der  Ermattung 
ein,  das  zu  baldigem  Aufhören  zwingt.  Zugleich  verliert  der  Krauke 
die  Freude  an  der  gewohnten  Beschäftigung.  Nur  noch  mit  ganz 
unverhältnissmässiger  Anstrengung  vermag  er  die  Aufgaben  zu  lösen, 
die  ihm  bis  dahin  nicht  die  geringste  Schwierigkeit  verursachten; 
er  muss  sich  mit  Gewalt  zwingen  zu  der  Arbeit,  die  er  sonst  mit 
Lust  und  Befriedigung  verrichtete. 

Unter  dem  Drucke  dieser  Veränderungen,  des  immer  deutlicher 
hervortretenden  Gefühls  der  mangelnden  Leistungsfähigkeit,  pflegt 
sehr  bald  die  Stimmung  in  erheblichem  Maasse  zu  leiden.  Der 
Kranke  wird  aufgeregt,  missmuthig,  verdriesslich,  reizbar,  heftig  und 
ungerecht;  er  fühlt  sich  unbehaglich  und  unbefriedigt  von  seinem 
Berufe  und  seinen  Lebensverhältnissen.  Lächerlich  kleine  Anlässe, 
eine  Unart  seiner  Kinder,  kleine  geschäftliche  Unannehmlichkeiten, 
die  ihn  in  gesunden  Tagen  unberührt  gelassen  hätten,  vermögen 
ihm  für  Stunden  und  Tage  die  Laune  zu  verderben  und  ihn  zu 
lieftigkeitsausbriichen  hinzureissen,  die  er  später  selber  bedauert. 
ln  anderen  Fällen  dagegen  bemächtigt  sich  des  Kranken  das  Gefühl 
einer  unüberwindlichen  Schlaffheit  und  Müdigkeit;  er  verliert  die 


Chronische  nervöse  Erschöpfung.  47 

Freude  an  seinen  liebsten  Vergnügungen  und  vermag  sich  zu 
keinem  Entschlüsse  mehr  aufzuraffen,  da  ihm  alles  gleichgültig  ge- 
worden ist. 

Hand  in  Hand  mit  diesen  psychischen  Veränderungen  gehen 
stets  auch  eine  Reihe  von  körperlichen  Krankheitszeichen. 
Zunächst  und  am  stärksten  wird  der  Kopf  in  Mitleidenschaft  ge- 
zogen. Am  häufigsten  ist  es  das  Gefühl  eines  dumpfen,  allgemeinen 
Druckes,  welches  dem  Kranken  die  Arbeitsfreudigkeit  raubt  und  in 
der  Regel  bei  irgend  einer  Anstrengung  sich  rasch  bis  zum  Uner- 
träglichen steigert.  Die  Localisation  dieser  Empfindung  ist  eine  ver- 
schiedene. Am  meisten  scheint  dabei  die  Stirngegend  betheiligt  zu 
sein,  ferner  die  Scheitelhöhe,  seltener  der  Hinterkopf;  bisweilen  haben 
die  Kranken  das  Gefühl  eines  festen  Reifens,  der  sich  rings  um  den 
Kopf  spannt,  oder  des  Zusammenpressens  von  beiden  Seiten  her, 
In  anderen  Fällen  sind  es  wirkliche  Schmerzen,  über  welche  die 
Kranken  zu  klagen  haben,  bisweilen  halbseitiger  (Migräne),  häufiger 
doppelseitiger  Natur.  Namentlich  die  Augengegend  und  das  Hinter- 
haupt sind  der  Lieblingssitz  solcher  schmerzhaften  Empfindungen; 
häufig  erweisen  sich  dann  die  Austrittsstellen  der  Trigeminusäste 
und  des  Occipitalis  major  als  auf  Druck  empfindlich.  Nicht  selten 
wird  von  den  Kranken  auch  das  Auftreten  leichter,  rasch  vorüber- 
gehender Schwindelanfälle  oder  Beängstigungen  berichtet.  In  den 
Augen  stellen  sich  bei  geringen  Anstrengungen  lebhafte  Schmerzen. 
Verschwimmen  der  Eindrücke  und  mouches  volantes  ein  (neurasthe- 
nische  Asthenopie). 

Sehr  häufig  ist  das  Gefühl  allgemeiner  körperlicher  Schwäche 
und  Hinfälligkeit.  Der  Kranke  fühlt  sich  ermüdet  und  angestrengt, 
wenn  er  einen  kurzen  Spaziergang  gemacht,  ein  Schwimmbad  ge- 
nommen hat  oder  einige  Treppen  gestiegen  ist.  Eine  wirkliche 
Abnahme  der  Muskelkraft  lässt  sich  jedoch  dabei  gewöhnlich  nicht 
nachweisen;  vielmehr  scheint  es  wesentlich  der  Mangel  an  Thatkraft 
zu  sein,  welcher  den  Kranken  schon  bei  geringen  Leistungen  zu  sehr 
bedeutenden  Anstrengungen  zwingt  und  ihn  daher  verhältnissmässig 
leicht  ermüden  lässt.  Bisweilen  werden  leichte  Zuckungen  in  ein- 
zelnen Muskeln,  besonders  des  Gesichts,  von  dem  Kranken  wahr- 
genommen, die  ihn  sehr  beunruhigen;  auch  über  erschwertes 
Sprechen,  leichtes  Stottern  wird  geklagt,  namentlich  in  grösserer 
Gesellschaft  oder  bei  besonderer  Gelegenheit.  Bei  der  Untersuchung 


48 


II.  Das  ErfichöpfungsirreBoin. 


pflegt  der  Bewegungsapparat  keinerlei  wesentliche  Störungen  aufzu- 
weisen; nur  lebhaftes  Zittern  der  Lider  bei  kräftigem  Augenschluss 
sowie  starke  fibrilläre  Zuckungen  in  der  Zunge  sieht  man  sehr  häufig. 
Weiterhin  können  sich  allerlei  schmerzhafte  und  unangenehme  Em- 
pfindungen mannigfachsten  Inhalts  und  Sitzes  einstellen.  Längs  der 
Wirbelsäule  werden  rieselnde,  schauernde,  ziehende  Paraesthesien 
wahrgenommen;  in  den  Beinen,  den  Hoden,  den  Armen  stellen  sich 
ausstrahlende  oder  zuckende  Schmerzen,  das  Gefühl  von  Unruhe, 
Brennen,  Jucken,  Ameisenkriechen,  Pelzigwerden,  Yertauben  ein. 
Objectiv  sind  Empfindungsstörungen  nicht  nachzuweisen;  die  Pieflexe 
erscheinen  oft  erhöht. 

Seitens  der  Kreislaufsorgane  sind  es  namentlich  das  Herz- 
klopfen, bisweilen  auch  noch  andersartige,  nagende  oder  brennende 
Empfindungen  am  Herzen,  welche  den  Kranken  ängstigen.  Nicht 
selten  macht  sich  ihm  auch  das  Gefühl  des  Klopfens  und  Pulsirens 
im  Kopfe  und  in  anderen  Theilen  des  Körpers,  fliegende  Hitze, 
leichtes  Erröthen,  abnorme  Trockenheit  der  Haut  oder  übermässige 
Schweissabsonderung  unangenehm  bemerkbar.  Die  Zahl  der  Pulse 
zeigt  grosse  Schwankungen,  auch  wol  leichte  Unregelmässigkeiten, 
wird  durch  Arbeit  und  Gemüthsbewegungen  stark  beeinflusst 
Auf  dem  Gebiete  der  Geschlechtsfunctionen  wird  erhöhte  Erregbar- 
keit, Neigung  zu  häufigen  Pollutionen  oder  psychisch  bedingte  Im- 
potenz beobachtet.  Der  Appetit  ist  meist  gering,  der  Leib  aufge- 
trieben, die  Zunge  belegt,  der  Stuhlgang  träge  und  nur  durch  Nach- 
hülfe zu  erreichen;  seltener  besteht  Neigung  zu  plötzlichen  Durch- 
fällen. Bei  leerem  Magen  stellen  sich  peinliche,  nagende  Empfindungen 
ein,  die  durch  Essen  sich  rasch  beseitigen  lassen  (Heisshunger).  Der 
Schlaf  ist  fast  immer  schlecht;  die  Kranken  liegen  sehr  lange  wach, 
bevor  sie  einschlafen,  oder  wachen  unter  plötzlichem  Zusammen- 
schrecken bald  wieder  auf.  Sie  träumen  viel  und  lebhaft  und  sind 
am  Morgen  nicht  erquickt,  sondern  unsäglich  müde  und  abgespannt. 
Erst  im  Laufe  des  Tages  pflegt  sich  dann  wenigstens  ein  Theil  ihrer 
früheren  Regsamkeit  wiederherzustellen.  In  anderen  Fällen  besteht 
dauernd  eine  unüberwindliche  Schläfrigkeit,  die  den  Kranken  bei 
der  geringsten  Anstrengung,  selbst  in  grosser  Gesellschaft,  im  Theater 
zum  Einschlafen  bringt. 

Regelmässig  stellt  sich  im  Anschlüsse  an  die  geschilderten, 
mehr  oder  weniger  entwickelten  Störungen  ein  ausgeprägtes  Krank- 


Chronische  nervöse  Erschöpfung. 


49 


heitsgefühl  ein.  Der  Kranke  empfindet  die  Veränderung,  welche 
sich  mit  ihm  vollzogen  hat,  und  Avenn  er  auch,  namentlich  in  Augen- 
blicken missmuthiger  Erregung,  alle  möglichen  äusseren  Umstände 
dafür  verantwortlich  macht,  so  ist  er  doch  darüber  vollständig  klar, 
dass  sein  Zustand  als  ein  ungesunder  betrachtet  werden  müsse. 
Leicht  bemächtigt  sich  seiner  die  bange  Befürchtung,  dass  er  im 
Beginne  eines  schweren,  verhängnissvollen  Leidens  stehe,  und  dem 
befangenen  Blicke  bieten  sich  auch  Anhaltspunkte  genug  zur  Be- 
gründung dieser  Anschauung  dar.  Auf  diese  Weise  entwickelt  sich 
sehr  häufig  jene  Störung,  die  man  früher  als  leichteste  Form  psy- 
chischer Erkrankung  mit  dem  Namen  der  Hypochondrie  be- 
zeichnete,  Aväkrend  man  sie  jetzt  als  eine  Theilerscheinung  des 
neurasthenischen  Irreseins  kennen  gelernt  hat.  Je  nach  dem 
Bildungsgänge  und  den  Anschauungen  des  Kranken  gestalten  sich 
natürlich  die  hypochondrischen  Vorstellungen  verschieden.  Meist 
ist  es  dasjenige  Leiden,  welches  dem  Kranken  am  geläufigsten  ist 
und  am  schrecklichsten  vorschwebt,  dessen  Zeichen  er  an  sich  zu 
entdecken  glaubt.  Ein  chronischer  Rackenkatarrh  mit  starkem 
Auswurf  erscheint  ihm  als  die  beginnende  Sclnvindsuckt;  einzelne 
Akneknötchen  lassen  ihn  den  Ausbruch  der  Syphilis  befürchten,  der 
Bodensatz  im  Nachtgeschirr  eine  schAvere  Nierenerkrankung,  das 
Herzklopfen  beim  Treppensteigen  und  das  Pulsiren  einen  Herzfehler. 
Die  Vergesslichkeit  bedeutet  dem  Mediciner  das  Heran  nahen  der 
Paralyse,  der  Kopfdruck  den  Hirntumor,  die  Paraesthesien  in  den 
Beinen  die  Tabes. 

In  der  Regel  Averden  diese  Befürchtungen,  anfangs  wenigstens, 
von  dem  Kranken  als  unsinnig  zurückgewiesen,  aber  gerade  hier, 
wo  es  sich  um  das  eigene  Wohl  und  Wehe  handelt,  geht  am 
leichtesten  der  kritische  Widerstand  gegenüber  der  Krankheit  ver- 
loren. Die  hypochondrischen  Vorstellungen  können  daher  unter 
Umständen  den  Kranken  in  eine  so  hoffnungslose,  verzweiflungsvolle 
Stimmung  versetzen,  dass  er  sein  Testament  macht,  sein  Lebensglück 
für  unwiederbringlich  verloren  hält,  vielleicht  sogar  sich  mit  Selbst- 
mordgedanken trägt. 

Die  EntAvicklung  der  nervösen  Erschöpfung  ist  in  der  Regel 
eine  allmähliche,  doch  scheint  es  auch  vorzukommen,  dass  im  An- 
schlüsse an  rasch  eintretende  und  heftig  wirkende  Schädlichkeiten 
(Gemüthsbewegungen,  acute  Krankheiten,  besonders  Influenza)  die 

Kraopelin,  Psychiatrie.  G.  Aull.  II.  Baiul.  4 


50 


II.  Das  Erschöpf ungfiirreseni. 


ganzen  Erscheinungen  sich  ziemlich  plötzlich  einstellen.  Dabei  ist 
allerdings  die  Frage  offen,  ob  wir  derartige  Zustände  mit  der  hier 
besprochenen  Erkrankung  zusammenwerfen  dürfen.  Für  die  nach 
Schreck  beobachteten  Fälle  glaube  ich  die  Frage  ohne  weiteres  ver- 
neinen zu  müssen.  Aber  auch  die  bekannte  nervöse  Schwäche  in 
der  Genesung  nach  schweren  Krankheiten  ist  wol  nur  zum  Theile 
auf  einfache  Erschöpfung  zurückzuführen.  Im  Wochenbette,  nach 
Blutungen,  Operationen  kann  man  sich  damit  zufrieden  geben;  bei 
allen  Infectionskrankheiten  dagegen  werden  wir  immer  mit  der  Mög- 
lichkeit von  Giftwirkungen  und  -nachwirkungen  zu  rechnen  haben. 
Die  „Neurasthenie“  im  Gefolge  chronischer  Vergiftungen  hat  mit  der 
nervösen  Erschöpfung  nur  eine  ganz  äusserliche  Aehnlichkeit. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  vollzieht  sich  fast  immer  in  viel- 
fachen Schwankungen.  Abgesehen  von  den  häufigen  Besserungen 
gegen  Abend,  können  sich  die  Kranken  bei  besonderem  äusserem  An- 
lasse gewöhnlich  soweit  „zusammennehmen“,  dass  die  Erscheinungen 
vorübergehend  in  den  Hintergrund  treten,  um  allerdings  mit  dem 
Nachlasse  der  Anspannung  gewöhnlich  in  um  so  grösserer  Heftig- 
keit zurückzukehren.  Wir  sehen  in  diesen  Erfahrungen  nur  Er- 
weiterungen der  Thatsachen,  die  uns  der  psychologische  Versuch 
über  die  Wirkung  der  Anregung  und  gemiithlicher  Schwankungen 
auf  die  Beseitigung  der  Müdigkeit  liefert. 

Die  leichtesten  Formen  der  nervösen  Erschöpfung  sind  überaus 
häufige  Erkrankungen.  Trotzdem  wurde  eine  eingehendere  Kennt- 
niss  des  ganzen  Krankheitsbildes  erst  durch  Beard*)  im  Jahre  1S80 
vermittelt,  welcher  in  dem  rastlosen  Treiben  des  amerikanischen 
Lebens  ganz  besonders  häufig  Gelegenheit  hatte,  die  Krankheit  zu 
beobachten.  Ohne  Zweifel  liegen  wesentliche  Entstehungsbedingungen 
des  Leidens  in  einer  Ueberanstrengung  des  Gehirns.  Namentlich 
scheint  es  die  mit  lebhafter  gemüthlicher  Erregung,  mit  grosser  Ver- 


*)  Die  Nervenschwäche,  ihro  Symptome,  Natur,  Folgezustände  und  Behand- 
lung, deutsch  von  Neisser,  2.  Aufl.  1883;  v.  Ziemssen,  Klinische  Vorträge  IV,  2. 
1888;  Bouveret,  Die  Neurasthenie,  deutsch  von  Dornhlüth  1893;  F.  C.Müller, 
Handbuch  der  Neurasthenie.  1893;  Löwenfeld,  Pathologie  und  Therapie  der 
Neurasthenie  und  Hysterie.  1893;  Möbius,  Neurologische  Beiträge,  LI,  8.  62.  1864; 
Levillain,  Essais  de  neurologie  clinique,  Neurasthenie  de  Beard  et  etats  neur- 
astheniformcs.  1896.  Vergl.  auch  den  späteren  Abschnitt  über  das  Entartungs- 


Chronische  nervöse  Erschöpfung. 


51 


antwortung  verbundene  Tbätigkeit  zu  sein,  welche  das  Zustande- 
kommen der  chronischen  Erschöpfung  in  besonderem  Maasse  be- 
günstigt. Der  stille  Gelehrte  ist  ihr  in  weit  geringerem  Grade  aus- 
gesetzt, als  der  Kaufmann,  der  Offizier  im  Kriege,  der  Politiker,  der 
beschäftigte  Arzt.  Es  liegt  daher  in  der  Natur  der  Sache,  dass  vor- 
zugsweise die  begabteren,  lebhafteren  und  gebildeteren  Menschen  den 
Gefahren  der  Neurasthenie  zugänglich  sind.  Vielleicht  ist  dabei  der 
Umstand  nicht  ohne  Bedeutung,  dass  anscheinend  grosse  Uebungs- 
fähigkeit  sich  häufig  mit  grosser  Ermüdbarkeit  verbindet.  Frauen 
mit  ihrer  grösseren  gemüthlichen  Erregbarkeit  und  geringeren  Wider- 
standsfähigkeit sind  etwas  stärker  gefährdet,  als  das  männliche  Ge- 
schlecht, namentlich  überlastete  Mütter,  Lehrerinnen,  Kranken- 
pflegerinnen. Andererseits  können  unzweifelhaft  auch  regelmässige 
körperliche  Ueberanstrengungen,  wie  sie  im  Kriege,  in  Manövern, 
aber  auch  bei  übertriebenen  Leibesübungen  (Bergsteigen,  Rudern, 
Radfahren)  Vorkommen,  das  Bild  der  nervösen  Erschöpfung  erzeugen. 
Weiterhin  ist  natürlich  die  allgemeine  Lebensweise  und  die  Er- 
nährung von  grosser  Bedeutung.  Ein  überlastetes,  unregelmässiges 
und  ausschweifendes  Leben  ohne  die  ausreichende  Erholung  durch 
Ruhe  und  Schlaf  führt  auch  bei  weit  geringeren  Leistlingen  viel 
rascher  zur  Neurasthenie,  als  der  geregeltere  Tageslauf  etwa  des  Be- 
amten und  Lehrers. 

Auf  der  anderen  Seite  ist  es  unzweifelhaft,  dass  die  Erschöpfung 
natürlich  um  so  leichter  eintritt,  je  geringer  die  ursprüngliche 
Widerstandsfähigkeit  des  Einzelnen  ist.  Von  jenen  beneidenswerthen 
Naturen,  deren  Nervensystem  mit  staunenswerther  Geschwindigkeit 
und  Spannkraft  alle  Schädigungen  sofort  wieder  ausgleicht,  die  ihm 
durch  die  unermüdliche  Lebensarbeit  zugefügt  werden,  führt  eine 
stetige  Reihe  von  Uebergängen  hinüber  zu  solchen,  die  sich  den 
Anforderungen  des  Lebens  schon  nach  sehr  kurzer  Zeit  nicht 
mehr  gewachsen  fühlen,  deren  Arbeitskraft  schon  bei  mässigen 
Leistungen  sich  rasch  und  vollständig  erschöpft,  und  denen  daher 
jede  ernstere  Anstrengung  von  vornherein  durch  neurasthenische 
Nachwehen  verbittert  wird.  Je  entscheidender  indessen  bei  dem 
Zustandekommen  der  Erschöpfung  die  persönliche  Anlage  mitgewirkt 
hat,  desto  mehr  mischen  sich  in  das  Krankheitsbild  die  Züge  des 
Entartungsirreseins,  dessen  wir  späterhin  eingehender  zu  gedenken 
haben  werden. 


4* 


52 


II.  Das  Erschöpfungsirresein, 


Dass  die  eigentliche  Grundlage  der  hier  besprochenen  Erkrankung 
eine  Erschöpfung  bildet,  ist  wol  am  folgerichtigsten  von  Möbius 
ausgeführt  worden.  Er  denkt  geradezu  an  eine  Art  chronischer 
Vergiftung  durch  Ermüdungsstoffe,  entsprechend  etwa  der  sich 
häufenden  Wirkung  regelmässigen  Alkoholmissbrauches.  Demgemäss 
sucht  er  auch  die  einzelnen  Krankheitszeichen  in  der  gesunden  Er- 
müdung wiederzufinden.  Ich  halte  diese  Auffassung  für  recht  frucht- 
bar, da  sie  uns  den  Weg  weist,  der  aus  der  jetzigen  Unklarheit  in 
der  Lehre  von  der  Neurasthenie  herausführt.  Gerade  darum  aber 
erscheint  mir  eine  Abtrennung  derjenigen  Krankheitsbilder,  die  sich 
aus  der  einfachen  Häufung  von  Ermüdungswirkungen  begreifen 
lassen,  von  jenen  angezeigt,  bei  denen  die  krankhafte  Veranlagung, 
die  angeborene  Herabsetzung  der  nervösen  Widerstandsfähigkeit 
die  wesentlichste  Rolle  spielt.  Das  hier  abgegrenzte  Bild  der  er- 
worbenen Neurasthenie  enthält,  wie  ich  glaube,  in  der  That  nur 
Störungen,  welche  sich  durch  den  Versuch  überall  würden  wieder 
erzeugen  lassen;  freilich  bin  ich  heute  nicht  im  Stande,  den  genauen 
Beweis  dafür  zu  erbringen.  Auch  für  die  hypochondrischen  Vor- 
stellungen, die  Möbius  ausnimmt,  halte  ich  einstweilen  an  der 
Entstehung  aus  der  Erschöpfung  fest.  Sie  wachsen,  wie  mir  scheint, 
aus  der  Verstimmung  hervor,  die  sich  auch  des  kräftig  veranlagten 
Mannes  bemächtigt,  wenn  er  abgearbeitet  und  gehetzt  die  Abnahme 
der  Leistungsfähigkeit  in  der  wachsenden  Erschwerung  seiner  Arbeit 
empfindet. 

Die  Prognose  der  einfachen  nervösen  Erschöpfung  ist  als 
günstig  zu  bezeichnen,  sofern  es  gelingt,  die  Ursachen  derselben  zu 
beseitigen.  Die  Genesung  wird  eine  um  so  vollkommenere  sein,  je 
widerstandsfähiger  der  Kranke  vorher  war,  und  je  mein-  es  gelingt, 
etwa  in  seiner  Lebensführung  liegende  Schädlichkeiten  zu  beseitigen. 
Vor  allem  sind  natürlich  beide  Gesichtspunkte  massgebend  für  die 
grössere  oder  geringere  Wahrscheinlichkeit  des  Rückfalls;  die  im 
Augenblicke  vorhandenen  Störungen  wird  man  bei  ausreichender 
Zeit  und  sonst  günstigen  Verhältnissen  regelmässig  zu  beseitigen  im 
Stande  sein. 

Die  Abgrenzung  der  nervösen  Erschöpfung  von  manchen 
anderen  Krankheitsformen  ist  in  prognostischer  und  therapeutischer 
Beziehung  von  hervorragender  Wichtigkeit.  Zunächst  kommt  man 
häufig  in  die  Lage,  sich  darüber  Gewissheit  verschaffen  zu  müssen, 


Chronische  nervöse  Erschöpfung. 


53 


dass  die  hypochondrischen  Befürchtungen  des  Kranken  nicht  wirk- 
lich begründet  sind.  Namentlich  kann  es  ernste  Schwierigkeiten 
bereiten,  hinsichtlich  der  Gefahr  einer  beginnenden  Paralyse  ein 
endgültiges  Urtheil  zu  gewinnen.  "Die  grössere  Besonnenheit  der 
Kranken,  die  klare  Auffassung  aller  Krankheitszeichen,  der  Mangel 
einer  greifbaren  Gedächtnisstörung  trotz  ihrer  Klagen  darüber,  das 
Fehlen  nachweisbarer  nervöser  Störungen  (Pupillenstarre,  Sprach- 
störung, Analgesie,  Anfälle)  wird  den  Arzt  über  die  neurasthenische 
Natur  des  vielleicht  sehr  verdächtigen  Krankheitsbildes  aufklären. 
Yor  allem  aber  wird  er  das  Lebensalter  des  Kranken  und  die  Ent- 
stehungsgeschichte des  Leidens  zu  beachten  haben.  Erscheinungen 
von  „Nervosität“,  die  ohne  bestimmt  greifbaren  Anlass  bei  einem 
nicht  krankhaft  veranlagten  Manne  erstmals  in  mittleren  Jahren  auf- 
treten,  sind  fast  immer  die  Einleitung  der  Paralyse. 

Sehr  häufig  wird  auch  das  depressive  Vorstadium  anderer 
Psychosen  mit  neurasthenischen  Zuständen  verwechselt.  Indessen 
der  Erschöpfte  ist  verstimmt  und  reizbar,  weil  er  merkt,  dass  seine 
geistige  Leistungsfähigkeit  gestört  ist;  seine  Stimmung  wird  freier 
und  leichter,  sobald  eine  äussere  Anregung,  eine  fröhliche  Gesell- 
schaft ihn  vorübergehend  seine  Beschwerde  vergessen  macht,  oder 
sobald  er,  von  allen  Sorgen  und  Pflichten  seines  Berufes  entlastet, 
rückhaltlos  Ruhe  und  Erholung  geniessen  kann.  Dort  aber  entsteht 
das  Gefühl  der  Beängstigimg  der  Schwere  ohne  irgend  welche  klare 
Begründung,  und  es  wird  durch  Zerstreuungs-  und  Ablenkungs- 
versuche nicht  nur  nicht  gemildert,  sondern  im  Gegentheil  oft  genug 
bis  zum  Unerträglichen  gesteigert.  Die  Yerstandesabnahme  und 
Verstimmung  im  Beginne  der  Dementia  praecox  ist  gegenüber  der 
nervösen  Erschöpfung  namentlich  durch  die  gemiithliche  Stumpfheit 
der  Kranken,  ihre  Gleichgültigkeit  im  Hinblicke  auf  die  Zukunft, 
zuweilen  auch  durch  die  Unsinnigkeit  der  hypochondrischen  Klagen 
und  die  Unbelehrbarkeit  gekennzeichnet. 

Die  Behandlung  der  nervösen  Erschöpfung  bietet  der  Thätig- 
keit  des  Arztes  ein  sehr  ausgedehntes  und  ergiebiges  Arbeitsfeld. 
Zunächst  vermag  gerade  hier  die  Vorbeugung  ausserordentlich 
viel  zu  leisten.  Man  hat,  nicht  ganz  mit  Unrecht,  die  Nervosität 
als  die  Krankheit  unserer  Zeit  bezeichnet.  In  der  That  liegen  in 
der  raschen  Steigerung  der  Anforderungen,  die  der  hastige  Fort- 
schritt unserer  Culturentwicklung  an  die  geistige,  sittliche  und  körper- 


54 


II.  Das  Ersc]K»|ifungsirresein. 


liehe  Leistungsfähigkeit  des  Einzelnen  stellt,  wichtige  Ursachen  ner- 
vöser Ueberreizung.  Da  wir  diese  allgemeinen  Ursachen  nicht  be- 
seitigen können,  so  wird  es  unsere  Aufgabe  sein  müssen,  das 
kommende  Geschlecht  widerstandsfähig  und  tüchtig  zu  machen  und 
für  den  Kampf  ums  Dasein  gehörig  auszurüsten.  Alle  jene  früher 
geschilderten  Bestrebungen,  welche  darauf  hinausgehen,  die  geistige 
Ueberbiirdung  der  heranwaclisenden  Jugend  mit  todtem  Gedächtniss- 
krarn  zu  bekämpfen  und  der  Sorge  für  die  gelehrte  Erziehung  die- 
jenige für  die  körperliche  Ausbildung  zur  Seite  zu  setzen,  dienen 
diesem  Zwecke  in  hervorragendem  Maasse.  Weiterhin  ist  auf  Fern- 
haltung der  Jugend  von  anstrengenden  und  aufregenden  Vergnügungen, 
vom  Alkoholgenusse,  auf  Vermeidung  von  Ausschweifungen,  Ein- 
haltung einfacher  Lebensgewohnheiten  ohne  Verwöhnung  und  ohne 
Verzärtelung  zu  achten. 

Ganz  besondere  Aufmerksamkeit  aber  erfordert  die  ausreichende 
Befriedigung  des  Schlafbediu-fnisses.  Es  kann  nicht  oft  genug 
wiederholt  werden,  dass  in  diesem  Punkte  sehr  bedeutende  und 
tief  begründete  Verschiedenheiten  zwischen  den  einzelnen  Menschen 
bestehen,  die  nicht  ohne  schweren  Schaden  vernachlässigt  werden 
dürfen.  Gerade  in  dieser  Beziehung  wirken  so  manche  unserer  so- 
genannten Erholungen  schädlich,  indem  sie  spätes  Aufbleiben  und 
abendliche  geistige  Anregung  mit  sich  bringen.  Für  angestrengt 
arbeitende  oder  sehr  erregbare  Menschen  sind  späte  Theater-  und 
Musikaufführungen,  Geselligkeit  mit  Magenüberladung  und  reich- 
lichem Alkoholgenusse  recht  sichere  Mittel,  den  so  nothwendigen 
Schlaf  empfindlich  zu  stören.  Müdigkeit  und  Abgespanntheit  am 
Morgen  ist  ein  Zeichen  ungenügenden  Schlafes;  sie  soll  daher  nicht 
durch  GewaJtinassregeln,  sondern  durch  frühes  Schlafengehen  und 
durch  sorgfältige  Beseitigung  aller  Ursachen  bekämpft  werden, 
welche  die  Schlaftiefe  verringern.  Weiterhin  aber  wird  der  Haus- 
arzt Gelegenheit  genug  haben,  durch  eine  gesimdheitsgemässe 
Regelung  der  Lebensweise  den  Gefahren  der  Uebcranstrengung  vor- 
zubeugen und  namentlich  bei  den  ersten  Anzeichen  eintretender 
Erschöpfung  sofort  einzugreifen,  weil  dann  in  der  Regel  leicht  ein 
Erfolg  zu  erreichen  ist,  der  später  nur  mit  bedeutenden  Opfern  au 
Zeit  und  Geld  erkauft  werden  kann.  Die  erste  Aufgabe,  welche 
hier  erfüllt  werden  müsste  und  doch  nur  allzuselton  in  ausreichen- 
dem Maasse  erfüllt  worden  kann,  ist  die  Beseitigung  aller  jener 


Chronische  nervöse  Erschöpfung.  55 

schädigenden  Einflüsse,  welche  die  Krankheit  erzeugten.  Regelung 
der  Lebensweise  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin,  sodann 
Entfernung  aus  der  Berufsarbeit,  womöglich  auch  aus  den  gewohnten 
Verhältnissen,  Versetzung  in  eine  andere,  ruhige  und  anziehendo 
Umgebung  wird  die  wichtigste  Vorbedingung  einer  jeden  Behand- 
lung bilden  müssen.  Für  leichtere  Formen  genügt  oft  schon  eine 
einfache  Sommerfrische,  ein  Landaufenthalt  oder  eine  behagliche, 
keinesfalls  ermüdende  Reise  ins  Gebirge  oder  an  die  See,  um 
ein  Ausruhen  des  überreizten  Nervensystems  und  damit  das  rasche 
Schwinden  aller  der  vielfachen  körperlichen  und  psychischen  Be- 
schwerden herbeizuführen. 

Bei  längerer  Dauer  und  stärkerer  Ausbildung  der  Störungen 
pflegt  die  Durchführung  einer  vorzugsweise  diätetischen  Cur  unter 
ärztlicher  Aufsicht  vorzügliche  Dienste  zu  leisten.  Allen  den  zahl- 
reichen Nerven-  und  Wasserheilanstalten  strömen  immerwährend 
in  Schaaren  derartige  Kranke  zu.  Ausser  der  Befreiung  von  den 
Geschäften  und  Plackereien  des  täglichen  Berufes  muss  hier  vor 
allem  eine  einfache,  sorgfältig  geregelte  und  gesundheitsgemässe 
Lebensweise  mit  angemessener  Vertheilung  von  Thätigkeit,  Ruhe 
und  Schlaf  durchgeführt  werden.  Die  Kranken  sollen  kräftig  und 
reichlich,  aber  ohne  Schlemmerei  ernährt  werden;  der  gewohnheits- 
mässige  Genuss  von  Alkohol,  starkem  Kaffee  oder  Thee  fällt  fort. 
Störungen  des  Appetits,  der  Verdauung,  des  Schlafes  werden  mit  den 
gebräuchlichen  Mitteln,  namentlich  aber  durch  regelmässige,  nicht 
bis  zur  Ermüdung  ausgedehnte  Spaziergänge  sowie  durch  ärztlich 
überwachte  Leibesübungen  verschiedener  Art  bekämpft.  Ferner  sucht 
man  durch  Wasserbehandlung,  durch  Gymnastik,  Massage  und  all- 
gemeine Earadisation  den  Kreislauf  und  den  Stoffumsatz  soviel  wie 
möglich  zu  fördern.  Unter  dem  Einflüsse  aller  dieser  Massregeln 
pflegt  sich  die  öfters  stark  gesunkene  Ernährung  stetig  und  beträcht- 
lich zu  heben.  Gleichzeitig  bessert  sich  der  Schlaf,  die  Stimmung 
und  die  Beschäftigungsfähigkeit.  Als  Arzneimittel  zur  Bekämpfung 
der  nervösen  Unruhe  und  zur  Erzielung  von  Schlaf  sind  mit  gutem 
Rechte  die  Bromsalze  (3  mal  täglich  1 — 2 gr  oder  eine  abendliche 
Gabe  von  2 — 5 gr)  in  Gebrauch;  nur  im  Nothfalle  wird  man  vor- 
übergehend seine  Zuflucht  zu  den  eigentlichen  Schlafmitteln  nehmen. 
Man  hüte  sich  vor  dem  Morphium! 

Eine  recht  wesentliche  Bedeutung  hat  bei  neurasthenischen  Zu- 


56 


II.  Das  ErHchftpfnngsirresein. 


ständen  fast  immer  dio  psychische  Behandlung.  Vielfach  kannein 
vorsichtiges  Suggestiv  verfahren  den  Eintritt  gemiithlicher  Be- 
ruhigung, die  Wiederkehr  des  Schlafes  und  die  Beseitigung  mancher 
quälender  Beschwerden  überraschend  schnell  herbeiführen.  Ausser- 
dem aber  trägt  eine  aufmerksame,  geduldige,  aber  feste  ärztliche 
Führung  sehr  viel  dazu  bei,  dass  der  Kranke  nach  und  nach  sein 
stark  erschüttertes  Selbstvertrauen  und  die  Herrschaft  über  seinen 
Willen  wiedergewinnt.  Hach  dem  Verschwinden  der  eigentlichen 
Krankheitszeichen  bleibt  häufig  noch  eine  Herabsetzung  der  psychi- 
schen Widerstandsfähigkeit  bei  dem  Kranken  zurück,  welche  leicht 
zu  Rückfällen  führt,  wenn  nicht  die  Berufsverhältnisse  und  die 
Lebensweise  dauernd  derart  geregelt  werden,  dass  sie  sich  der 
persönlichen  Eigenart  in  geeigneter  Weise  anpassen.  Wer  die 
Folgen  der  täglichen  Arbeit  in  einer  fortschreitenden  Abstumpfung 
seiner  Leistungsfähigkeit  empfindet,  sollte  daher  unbedingt  wenigstens 
einmal  im  Jahre  für  einige  Wochen  aus  dem  Joche  der  gewohnten 
Verhältnisse  sich  herausreissen;  nur  dann  ist  er  einigermassen 
sicher,  im  Kampfe  mit  dem  Leben  nicht  immer  und  immer  wieder 
zu  erliegen. 


III.  Die  Vergiftungen. 


Obgleich  wir  in  gewissem  Sinne  auch  die  Infeotionen  und  viel- 
leicht sogar  die  Erschöpfung  als  Vergiftungen  ansehen  können,  möchte 
ich  denselben  doch  als  Vergiftungen  im  engeren  Sinne  diejenigen 
Schädigungen  gegenüberstellen,  die  durch  die  Einführung  be- 
stimmter wirksamer  Stoffe  in  unseren  Körper  zustande  kommen. 
Sie  verhalten  sich  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  wesent- 
lich anders,  als  jene  Geistesstörungen,  deren  giftige  Ursache  erst  im 
Körper  selbst  durch  krankhafte  Zersetzungen  oder  die  Lebensvorgängo 
von  Krankheitserregern  erzeugt  wird.  Es  wird  sich  ferner  empfehlen, 
acute  und  chronische  Vergiftungen  auseinanderzuhalten,  je  nach- 
dem die  Einfuhr  des  Giftes  nur  vorübergehend  oder  längere  Zeit 
hindurch  erfolgt;  freilich  werden  wir  dabei  aus  praktischen  Gründen 
die  acuten  Wirkungen  derjenigen  Gifte,  die  häufig  gewohnheits- 
mässig  eingeführt  werden,  gemeinsam  mit  den  durch  sie  erzeugten 
chronischen  Veränderungen  besprechen. 


1.  Die  acuten  Vergiftungen. 

Die  acuten  Vergiftungen  haben  im  allgemeinen  wegen  ihres 
raschen  Ablaufes  nur  eine  geringe  psychiatrische  Bedeutung; 
zudem  sind  die  meisten  derselben  verhältnissmässig  recht  selten. 
Dagegen  ist  die  wissenschaftliche  Tragweite  dieser  Störungen  eine 
sehr  grosse,  weil  bei  ihnen  die  ursächliche  Abhängigkeit  ganz  be- 
stimmter psychischer  Veränderungen  von  eindeutigen  chemischen 
Einwirkungen  auf  die  Hirnrinde  klar  vor  Augen  liegt.  Dazu  kommt, 
dass  wir  diesen  Zusammenhang  durch  den  Thierversuch  einerseits, 
durch  die  feinere  psychologische  Untersuchung  beim  Menschen 
andererseits  genauer  verfolgen  können,  als  auf  irgend  einem  anderen 


58 


III.  Die  Vergiftungen. 


Gebiete  psychischer  Erkrankungen.  Wir  dürfen  daher  erwarten,  dass 
gerade  die  acuten  Vergiftungen  uns  einmal  so  manche  Anhalts- 
punkte für  ein  tiefer  dringendes  Verständniss  des  Vorganges  der 
geistigen  Störung  zu  liefern  im  Stande  sein  werden. 

Für  jetzt  wissen  wir  allerdings  über  die  grosse  Mehrzahl  der 
acuten  psychischen  Giftwirkungen  kaum  mehr,  als  dass  es  sich  hier 
in  der  Regel  um  deliriöse  Zustände  handelt.  Im  allgemeinen  pflegen 
ausgeprägtere  Trugwahrnehmungen  auf  den  verschiedensten  Sinnes- 
gebieten, traumhafte,  buut  wechselnde  Einbildungen,  vielfach  mit  leb- 
haften Lustgefühlen  und  Verzückungszuständen,  meist  ohne  stärkere 
motorische  Erregung,  die  Grundzüge  der  Krankheitsbilder  zu  liefern. 
Eine  genauere  Durchforschung  derselben  ist  bisher  fast  nur  für  die 
gewohnheitsmässig  gebrauchten  Mittel,  Alkohol,  Morphium  und  Cocain, 
begonnen  worden.  Die  einfache  Beobachtung  und  Selbstbeobachtung 
hat  sich  aber  gegenüber  diesen  Zuständen  als  so  trügerisch  erwiesen, 
dass  wir  von  ihr  irgend  zuverlässige  Aufschlüsse  über  die  feineren 
Unterschiede  der  einzelnen  Vergiftungsdelirien  schlechterdings  nicht 
erwarten  können. 

Wir  werden  uns  daher  darauf  beschränken  müssen,  in  wenigen 
Worten  hier  der  hauptsächlichsten  Formen  zu  gedenken.  Zunächst  wären 
die  Delirien  bei  Vergiftung  durch  gewisse  krankhafte  Stoffwechsel- 
erzeugnisse zu  erwähnen,  deren  bereits  im  allgemeinen  Theile 
kurz  gedacht  worden  ist.  Dahin  gehören  die  mit  Sinnestäuschungen 
verbundenen  Erregungszustände  bei  Tetanie,  Morbus  Basedowii,  bei 
Chorea*),  die  schwere  Unbesinnlichkeit  bei  Urämie,  vielleicht  auch 
die  Delirien  beim  Phosphorikterus  und  so  manche  andere,  noch  un- 
aufgeklärte Störung. 

Unter  den  übrigen  Giften  erzeugt  das  Chloroform  nament- 
lich eine  eigenthümliche  Unbesinnlichkeit  mit  einzelnen  Gehörs- 
täuschungen, das  Santonin  Gesichtshallucinationen  und  das  „Gelb- 
sehen“.  Das  Haschischdelirium**)  dagegen  scheint  ganz  besonders 
gewisse  Störungen  des  Muskel-  und  Tastsinnes  herbeizuführen,  wie  sie 
sich  in  den  illusionären  Veränderungen  der  äusseren  und  der  Ab- 
messungen des  eigenen  Körpers  psychologisch  widerspiegeln.  Ausser- 
dem entrückt  der  Opium-  und  der  Haschischrausch  den  Kranken 


*)  Möbius,  Neurologische  Beiträge,  IT,  123.  1894. 

**) 'Wamock,  Journal  of  mental  scienee,  XL1I,  790. 


Chronische  Vergiftungen. 


59 


einer  wirklichen  Umgebung,  gaukelt  ihm  angenehme,  traumartige 
Bilder  und  Erlebnisse  vor  und  vorsetzt  ihn  in  heitere,  selbstzufriedene 
Stimmung.  Die  Stickstoffoxydulnarkose  scheint  demselben,  ab- 
gesehen von  der  viel  kürzeren  Dauer,  hinsichtlich  der  Färbung  des 
Deliriums  ähnlich  zu  sein;  sie  hat  eine  gewisse  praktische  Wichtig- 
keit erlangt  wegen  der  bei  ihr  beobachteten  Häufigkeit  und  Deut- 
lichkeit geschlechtlicher  Hallucinationen,  welche  schon  mehrfach  zu 
falscher  Anschuldigung  der  narkotisirenden  Zahnärzte  geführt  hat. 
Die  Atropin  Vergiftung  scheint  neben  einer  sehr  schweren  Auf- 
fassungsstörung mit  vereinzelten  Sinnestäuschungen  auch  eine  tief- 
greifende Beeinträchtigung  des  Denkens  (Verwirrtheit),  heitere  Ver- 
stimmung und  lebhafte  motorische  Unruhe  zu  erzeugen;  nach  kurzer 
Dauer  erfolgt  der  Tod  oder  rasche  Aufhellung  des  Bewusstseins  ohne 
Erinnerung  an  das  Vorgefallene.  Auf  eine  eingehendere  Schilderung 
aller  dieser  und  so  vieler  ähnlicher  deliriöser  Zustände  sowie  ihrer 
körperlichen  Begleiterscheinungen  kann  hier  natürlich  nicht  ein- 
gegangen werden. 

Die  Dauer  solcher  Vergiftungsdelirien  ist  regelmässig  eine  kurze, 
selten  einige  Stunden  oder  höchstens  Tage  überschreitende;  die 
Prognose  richtet  sich  ganz  nach  der  Schwere  der  Vergiftung  über- 
haupt. Die  Diagnose  wird  zumeist  aus  den  begleitenden  Umständen 
wie  aus  den  körperlichen  Zeichen  gestellt  werden  müssen;  die  Be- 
handlung ist  eine  einfach  ursächliche  nach  den  von  der  Toxikologie 
vorgeschriebenen  Grundsätzen. 


2.  Die  chronischen  Vergiftungen. 

Die  Zahl  derjenigen  Gifte,  welche  bei  dauernder  Einwirkung 
auf  den  Körper  Störungen  des  Nervensystems  und  ins- 
besondere auch  dos  Seelenlebens  herbeizuführen  vermögen,  ist 
eine  sehr  grosse.  Hervorragende  praktische  Bedeutung  haben  in- 
dessen nur  diejenigen  unter  ihnen  erlangt,  welche  als  Genussmittel, 
zur  Erzeugung  von  Wohlbehagen,  in  Anwendung  gezogen  werden, 
da  nur  bei  ihnon  in  der  Wirkung  des  Mittels  selbst  die  Anreizung 
zu  häufiger  Herbeiführung  derselben  gelegen  ist.  Vor  allem  aber 
sind  es  jene  Gifte,  deren  Aussetzen  unangenehme  Störungen  im 
Organismus,  sog.  „Abstinenzerscheinungon“,  hervorruft,  welche  eine 


GO 


III.  Die  Vergiftungen. 


mit  jeder  Wiederholung  sich  steigernde  und  schliesslich  zur  un- 
bezwinglichen  Leidenschaft  werdende  Neigung  erzeugen,  immer  von 
neuem  den  verderblichen  Reiz  einwirken  zu  lassen,  der  für  den 
behaglichen  Ablauf  der  Lebensvorgänge  bereits  unentbehrlich  ge- 
worden ist.  Wie  die  anthropologische  Forschung  lehrt,  giebt  es 
kaum  ein  einziges  Yolk,  welches  nicht  durch  irgend  ein  derartiges, 
gewohnheitsmässig  angewandtes  Genussmittel  sich  über  die  kleinen 
Sorgen  und  Mühen  des  Daseins  hinwegzutäuschen  verstände,  und 
die  Mannigfaltigkeit  dieser  giftigen  Quellen  des  Wohlbehagens  ist 
daher  eine  merkwürdig  reiche.  Für  die  psychiatrische  Erfahrung  in 
unserer  Heimath  kommen  indessen  naturgemäss  nur  einige  wenige 
derartige  Mittel  in  Betracht,  von  denen  sich  als  die  bei  weitem 
wichtigsten  der  Alkohol,  das  Morphium  und  das  Cocain  heraus- 
lieben lassen. 


A.  Der  Alkoliolismns*). 

Die  Einwirkung,  welche  die  acute  Alkoholvergiftung,  der  Rausch, 
auf  unser  Seelenleben  ausübt,  besteht,  soweit  bis  jetzt  bekannt  ist, 
wesentlich  in  einer  dauernden  Erschwerung  der  Auffassung  und 
Verarbeitung  äusserer  Eindrücke  sowie  in  einer  centralen  Er- 
leichterung der  Auslösung  von  Willensantrieben.  Die  Wahrnehmung 
und  Erkennung  von  Sinnesreizen  ist  verlangsamt  und  erschwert, 
ihre  Zuverlässigkeit  herabgesetzt;  die  fortlaufende  Lösung  einfacher 
Rechenaufgaben  lässt  ein  deutliches  Sinken  der  Leistimgsfähigkeit 
erkennen.  Auf  sprachlichem  Gebiete  kommt  es  zu  den  ersten  An- 
deutungen der  Ideeuflucht,  zu  einem  sehr  auffallenden  Ueberwiegen 
derjenigen  Vorstellungsverbindungen,  welche  durch  die  motorischen 
Bestandtheile  unserer  Sprach  Vorstellungen  vermittelt  werden,  der 
Wortzusammensetzungen,  sprachlichen  Reminiscenzen  und  Reime. 
Die  Auslösung  von  Bewegungsantrieben  ist  dauernd  erheblich  er- 
leichtert; so  geht  das  rein  mechanische  Auswendiglernen  besser  von 
statten.  Die  Wahl  zwischen  zwei  Bewegungen  wird  überstürzt, 


*)  Magnus  Huss,  Chronische  Alkoholkrankheit  oder  Alkoholismns  chronicus, 
deutsch  von  v.  d.  Busch.  1852;  Maguan,  do  Falcoholisme.  IS74;  v.  Speyr,  Die 
alkoholischen  Geisteskrankheiten,  Dias.  1882. 


Alkoholismus. 


01 


häufig  falsch  und  zuweilen  bereits  ausgeführt,  bevor  noch  das  mass- 
gebende Zeichen  die  Richtung  der  Bewegung  bestimmen  konnte. 
Im  weiteren  Verlaufe  und  bei  stärkeren  Gaben  des  Giftes  ergreift 
die  Lähmung  allmählich  auch  die  psychomotorischen  Leistungen. 
Je  grösser  die  Alkoholgabe  und  je  grösser  die  persönliche  Empfind- 
lichkeit gegen  das  Gift,  desto  rascher  und  stärker  macht  sich  die 
lähmende  Wirkung  geltend,  bis  sie  schliesslich  schon  von  Anfang 
an,  wenige  Minuten  nach  dem  Genüsse  des  Alkohols,  deutlich  in 
den  Vordergrund  tritt.  Die  Muskelkraft  wird  durch  den  Alkohol 
nur  ganz  kurze  Zeit  und  in  sehr  unbedeutendem  Maasse  gesteigert, 
darauf  aber  andauernd  und  erheblich  herabgesetzt. 

Alle  diese  zunächst  durch  den  Versuch  gefundenen  und  ge- 
nauer zergliederten  Einzelheiten  finden  wir  ohne  weiteres  in  dem 
aus  der  täglichen  Erfahrung  bekannten  Bilde  des  Rausches  wieder. 
Schon  sehr  kleine  Mengen  Alkohol  beeinträchtigen,  wie  alle  guten 
Beobachter  übereinstimmend  angeben,  deutlich  die  Fähigkeit  zu 
höherer  geistiger  Arbeit.  Wir  vermögen  unsere  Gedanken  nicht  mehr 
so  gut  zu  sammeln,  längeren,  verwickelteren  Auseinandersetzungen 
nur  ungenügend  zu  folgen.  Bei  stärkerer  Vergiftung  fällt  die  Er- 
schwerung der  Auffassung  und  der  Verstandesthätigkeit  immer  mehr 
ins  Auge.  Der  Betrunkene  versteht  nicht  mehr  recht,  was  man  ihm 
sagt  und  was  um  ihn  herum  vorgeht,  vermag  nicht  zuzuhören,  auf- 
zupassen, irgend  einen  Gedankengang  festzuhalten.  Er  verliert  jedes 
Urtheil  über  seine  eigenen  und  fremde  Verstandesleistungen,  jeden 
Ueberblick  über  die  Bedeutung  und  Tragweite  seiner  Handlungen. 
Gleichzeitig  stellen  sich  gewisse  inhaltliche  Störungen  im  Ablaufe 
der  Vorstellungsverbindungen  ein.  Einerseits  fällt  die  Neigung  zur 
Wiederholung  derselben  Wendungen,  gewohnheitsmässiger  Redens- 
arten auf,  andererseits  die  Freude  an  öden  Reimereien,  die  an  den 
Haaren  herbeigezogenen  Wortwitze,  das  Sprechen  im  Jargon,  das 
Radebrechen  in  fremden  Sprachen.  Zum  Schlüsse  geht  die  Fähig- 
keit zur  Auffassung  und  geistigen  Verarbeitung  immer  mehr  ver- 
loren; der  Berauschte  wird  unempfindlich  und  unbesinnlich  bis  zur 
vollständigen  Bewusstlosigkeit.  Die  Erinnerung  pflegt  nach  dem 
Verfliegen  des  Rausches  auch  für  diejenigen  Zeitabschnitte  nur  sehr 
mangelhaft  zu  sein,  in  denen  der  psychische  Zusammenhang  im 
Sprechen  und  Handeln  noch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  er- 
halten war. 


(52 


III.  Die  Vergiftungen. 


Mit  den  Störungen  der  Verstandesleistungen  hält  die  Entwick- 
lung der  psychomotorischen  Reizerscheinungen  gleichen 
Schritt.  Sie  beginnt  mit  jener  leichten  „Angeregtheit“,  wie  wir  sie 
schon  bei  kleinen  Alkoholgaben  empfinden,  mit  dem  Wegfall  der 
feinen  Hemmungen,  die  im  täglichen  Leben  unser  Handeln  und 
Benehmen  jederzeit  auf  das  genaueste  regeln.  Wir  werden  unbe- 
kümmerter, lebhafter,  muthiger,  fühlen  uns  sorgloser,  ungebundener, 
sprechen  und  handeln  freimüthiger,  aber  auch  rücksichtsloser.  Wegen 
der  Erleichterung  der  motorischen  Auslösung  erscheint  uns  unsere 
Kraft  und  Leistungsfähigkeit  erhöht,  im  Gegensätze  zu  deren  mess- 
barer Herabsetzung.  Daher  die  leider  weit  verbreitete,  vollkommen 
unrichtige  Anschauung,  dass  der  Alkohol  „stärke“.  Bei  fortschreiten- 
der Berauschung  nimmt  die  motorische  Erregbarkeit  zunächst  noch 
zu.  Die  Ausdrucksbewegungen  werden  massloser;  der  Betrunkene 
fängt  an,  sich  auffallend  zu  benehmen,  überlaut  zu  sprechen,  Reden 
zu  halten,  zu  grölen,  zu  lärmen,  auf  den  Tisch  zu  schlagen.  Ein 
Wort,  ein  Einfall  genügt,  um  irgend  eine  unsinnige  Reaction  hervor- 
zurufen, und  es  kommt  auf  diese  Weise  zu  allerlei  triebartigen, 
unüberlegten,  ja  verbrecherischen  Handlungen,  über  deren  Ent- 
stehungsweise der  Thäter  sich  selbst  nachträglich  kaum  oder  gar 
nicht  Rechenschaft  zu  geben  vermag.  Das  Ende  bilden  schwere  Be- 
wegungsstörungen, lallende  Sprache,  schwankender  Gang,  vollständige 
Lähmung. 

Auf  gemüthlichem  Gebiete  entspricht  dem  ersten  Abschnitte 
des  Rausches  ein  entschiedenes  Wohlbehagen,  heitere,  rosige 
Stimmung,  Zurücktreten  der  Sorgen  und  Verdriesslichkeiten  des 
Alltagslebens.  Wir  werden  leichtlebiger,  zugänglicher,  liebens- 
würdiger. Sehr  bald  indessen  steigert  sich  die  Reizbarkeit.  Es 
kommt  nun  leicht  zu  stärkeren  Affeetschwankungen,  zu  tactloser 
Ueberschwänglichkeit  oder  zu  Zornausbrüchen  und  leidenschaftlichen 
Aufwallungen  mit  heftigen  Ausschreitungen.  Die  höheren  sittlichen 
Gefühle  treten  zurück;  der  Betrunkene  wird  roh,  gemein,  schamlos 
die  wachsende  geschlechtliche  Erregbarkeit  führt  ihn  zu  wüsten  Aus- 
schweifungen. 

Der  allgemeine  Verlauf  des  Rausches  wird  in  sehr  verschiedener 
Weise  beeinflusst  durch  die  persönliche  Eigenart.  Bei  grosser 
Ermüdbarkeit  stellt  sich  die  Lähmung  auch  auf  motorischem  Gebiete 
verhältnissmässig  früh  und  ohne  ausgeprägtere  Reizerscheinungen  ein. 


Alkohol  ismus. 


63 


Andererseits  können  bei  Personen  mit  stärkerer  gemüthlicker  Er- 
regbarkeit gerade  jene  letzteren  in  den  Vordergrund  treten.  Während 
dort  rasch  Schläfrigkeit  und  Stumpfheit  die  Oberhand  gewinnen, 
kommt  es  liier  sofort  zu  unbändiger  Streitsucht,  grobem  Unfug  und 
selbst  blutigen  Gewalttaten.  Lebhafte  Gemüthserschütterungen 
können  im  ersteren  Falle,  bei  Vorwiegen  der  Lähmungserscheinungen, 
zu  plötzlicher  Ernüchterung  führen.  Im  letzteren  Falle  dagegen  wird 
durch  sie  die  Erregung  noch  gesteigert,  so  dass  unter  dem  Einflüsse 
einer  verhältnissmässig  sehr  geringfügigen  Alkoholmenge  ganz  un- 
vermittelt die  unsinnigsten  und  gefährlichsten  Handlungen  begangen 
werden. 

Ueber  die  anatomischen  Grundlagen  der  acuten  Alkoholvergiftung 
hat  uns  der  Thierversuch  einige  Aufschlüsse  geliefert.  Nissl  konnte 
nackweisen,  dass  bei  Kaninchen,  die  eine  Reihe  von  Tagen  hindurch 
möglichst  grosse  Alkoholmengen  bekommen  hatten,  eine  beträchtliche 
Zahl  von  Rindenzellen  zu  Grunde  gegangen  war.  Es  kommt  zu- 
nächst zu  einer  Abblassung  und  unregelmässigen  Einschmelzung  der 
färbbaren  Substanz.  Dann  wird  der  Kem  kleiner,  verliert  seine 
rundliche  Form,  sein  Kernkörperchen  und  schliesslich  auch  die  Mem- 
bran, um  allmählich  ganz  zu  verschwinden.  Aehnliche  Vorgänge 
beobachtete  Dehio  an  den  Purkin  je’schen  Zellen. 

Die  schwersten  Störungen  des  Rausches  pflegen  sich  verhält- 
nissmässig rasch  wieder  zu  verlieren,  doch  lässt  sich,  wie  früher  er- 
wähnt, der  Nachweis  führen,  dass  eine  gewisse  Nachwirkung  selbst 
bei  mässiger  Vergiftung  noch  24  — 36  Stunden  lang  deutlich  fort- 
besteht. Bei  längerer  Fortsetzung  der  Alkoholeinfuhr  wird  diese 
Nachwirkung  eine  dauernde.  Es  kommt  zu  einer  allmählichen  Um- 
wandlung im  psychischen  Verhalten  des  Menschen,  welche  mehr 
und  mehr  in  das  Krankheitsbild  des  chronischen  Alkoholismus 
hinüberführt. 

Auch  klinisch  finden  wir  im  chronischen  Alkoholismus  eine 
Reihe  jener  Züge  wieder,  die  uns  aus  dem  Rausche  bekannt  sind. 
Verhältnissmässig  am  wenigsten  pflegt  zunächst  die  Beeinträchtigung 
der  geistigen  Leistungsfähigkeit  in  die  Augen  zu  fallen.  Indessen 
beginnt  sich  regelmässig  beim  Trinker  eine  merkliche  Herabsetzung 
seiner  Arbeitskraft  herauszubilden.  Eine  wesentliche  Rolle  scheint 
dabei  die  Steigerung  der  Ermüdbarkeit  zu  spielen.  Es  wird  ihm 
schwer,  seine  Aufmerksamkeit  längere  Zeit  anzuspannen,  neue,  un- 


64 


III.  Die  Vergiftungen. 


gewohnte  Eindrücke  zu  verarbeiten,  sich  in  verwickelter«  geistige 
Aufgaben  hineinzufinden.  Er  liebt  es  daher,  sich  in  bekanntem  Ge- 
leise zu  bewegen,  hat  weder  Neigung  noch  Fälligkeit  zu  schöpfe- 
rischer Gedankenarbeit.  In  Folge  dessen  verengt  sicli  sein  Gesichts- 
kreis; seine  geistige  Ausbildung  steht  zunächst  still,  macht  aber 
dmrn  Rückschritte  und  führt  zu  Verarmung  seines  Vorstellungs- 
schatzes und  Abnahme  seiner  Urtheilsfähigkeit.  Dieser  Vorgang 
wird  ganz  besonders  begünstigt  durch  die  niemals  fehlenden  Stö- 
rungen des  Gedächtnisses.  Schon  der  Versuch  hat  gezeigt,  dass 
die  Festigkeit,  mit  welcher  der  Lernstoff  haftet,  unter  dem  Einflüsse 
einer  einmaligen  Alkoholgabe  erheblich  abnimmt.  In  noch  höherem 
Maasse  ist  das  beim  Gewohnheitstrinker  zu  bemerken.  Er  nimmt  nicht 
nur  die  Eindrücke  nur  unklar  und  flüchtig  in  sich  auf,  sondern  er 
vermag  sich  dieselben  auch  nur  in  den  allgemeinsten  Umrissen  wieder 
zu  vergegenwärtigen.  So  kommt  es,  dass  er  Neues  nicht  mehr  lernt, 
dass  er  wichtige  Dinge  vergisst  und  von  seinen  Erlebnissen  viel- 
fach ein  ganz  verzerrtes,  verschwommenes  Bild  auf  bewahrt  Die 
Schwäche  des  Urtheils  und  des  Erinnerungsvermögens  giebt  den 
günstigen  Boden  ab  für  die  recht  häufigen,  mehr  oder  weniger  aus- 
geprägten Wahnbildungen.  Dieselben  halten  sich  bald  nur  in  dem 
Rahmen  einer  auffallenden  Einsichtslosigkeit  gegenüber  dem  eigenen 
Zustande,  bald  erheben  sie  sich  zu  eigenartigen  Beeinträchtigungs- 
ideen. In  manchen  Fällen  werden  sie  unterstützt  durch  das  Auf- 
treten einzelner  wirklicher  Sinnestäuschungen,  häufiger  durch  halb- 
richtige, wahnhaft  gedeutete  Trugwahrnehmungen.  In  schweren 
Fällen  kommt  es  schliesslich  zur  Entwicklung  eines  ausgeprägten 
Schwachsinns. 

Bei  weitem  die  wichtigste  und  folgenschwerste  Erscheinung  im 
Bilde  des  chronischen  Alkoholismus  ist  die  sittliche  Entartung 
des  Trinkers,  das  allmähliche  Schwinden  jener  tieferen  Beweggründe 
des  Handelns,  welche  die  Einheitlichkeit  und  Geschlossenheit  des 
Charakters  bedingen.  Der  Trinker  verliert  mehr  und  mehr  die  Fähig- 
keit, nach  feststehenden  Grundsätzen  zu  handeln,  und  wird  auf  diese 
Weise  zum  willenlosen  Spielball  zufälliger  äusserer  Verlockungen, 
namentlich  aber  der  immer  unbezwinglicher  werdenden  Neigung 
zum  Alkoh ol.  In  sehr  naiver  Weise  pflegt  er  diese  Willensschwäche 
einzugestehen,  indem  er  als  vollständig  genügende  Entschuldigung 
für  seine  Unmässigkeit  die  Thatsache  anführt,  dass  man  ihn  zum 


Alkoholismus. 


65 


Trinken  aufgefordert,  ihm  etwas  bezahlt  habe,  dass  Wein  „auf  dem 
Tische  stand“.  Er  begreift  gar  nicht  recht,  wie  man  ihm  aus  dem 
Trinken  einen  Vorwurf  machen  kann.  „Ich  hab’  doch  für  mein 
Geld  getrunken,“  entschuldigte  sich  ein  solcher  Kranker.  Fast  alle 
Trinker  fassen  zeitweise  den  festen  Entschluss,  dem  Alkohol,  den  sie 
mehr  oder  weniger  klar  als  die  Quelle  ihres  körperlichen,  sittlichen, 
gesellschaftlichen  und  wirthschaftlichen  Unterganges  erkennen,  end- 
gültig und  für  immer  zu  entsagen.  „Ich  kann’s  auch  lassen,“  „ich 
trink’  Milch  und  Selters,“  erklären  sie  siegesgewiss,  bekräftigen  viel- 
leicht unaufgefordert  ihre  guten  Vorsätze  mit  den  heiligsten  Ver- 
sprechungen und  Schwüren  und  fühlen  sich  beleidigt,  sobald  man 
leise  Zweifel  an  der  Aufrichtigkeit  derselben  äussert.  Dennoch 
aber  pflegt  nahezu  ausnahmslos  bereits  die  erste  beste  Gelegenheit 
den  schwachen  Willen  zu  überwältigen  und  alle  die  auf  Sand  ge- 
bauten Vorsätze  ohne  weiteres  über  den  Haufen  zu  werfen.  Eine 
halbe  Stunde  später  kann  man  sie  nicht  selten  bereits  wieder  im 
Wirthshause  sitzen  sehen,  und  wenige  Tage  genügen,  um  auch  die 
letzte  Spur  von  Scham  oder  Reue  über  den  schmählichen  Wortbruch 
hinwegzuwischen.  Ist  es  doch  gerade  der  Alkoholdusel,  der  dem 
Trinker  die  Fähigkeit  zu  ruhiger  Würdigung  seiner  Lage  raubt 
und  alle  besseren  Regungen  in  der  rohesten  Selbstsucht  unter- 
gehen lässt.  Das  Ende  ist  die  nur  zu  wohlbekannte  Gestalt  des 
Schnapslumpen. 

Unter  immer  wiederholtem  Siege  der  wachsenden  Leidenschaft 
über  das  sich  abstumpfende  Pflichtgefühl  nimmt  die  sittliche  Ent- 
artung des  Trinkers  mit  Riesenschritten  zu.  Die  mächtigen  Beweg- 
gründe der  Ehrliebe,  der  Gatten-  und  Kinderliebe,  der  Scham  ver- 
lieren ihre  Wirkung  über  ihn.  Er  kümmert  sich  nicht  mehr  um 
das  Wohl  und  Wehe  seiner  Angehörigen,  giebt  sie  einfach  dem 
Elend  Preis,  wird  gleichgültig  gegen  ihre  Bitten  und  Vorwürfe,  sieht 
hülflos  der  wirklichen  Untreue  seiner  Frau,  der  sittlichen  Verwahr- 
losung seiner  Kinder  zu,  lässt  stumpf  die  gesellschaftlichen  Mass- 
regelungen  und  die  Verachtung  seiner  Standesgenossen  über  sich 
ergehen.  Ohne  Rücksicht  auf  seine  Bildung,  seine  Stellung  betrinkt 
er  sich  öffentlich,  schliesst  wahllos  Duzbrüderschaften,  verhandelt 
seine  zartesten  Familienangelegenheiten  mit  wildfremden  Menschen. 
Meist  entwickelt  sich  dabei  ein  gewisses  erhöhtes  Selbstgefühl, 
welches  in  handgreiflichen  Prahlereien  einen  um  so  stärkeren  Aus- 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  5 


66 


III.  Die  Vergiftungen. 


druck  findet,  je  weniger  der  Kranke  seine  zwingendsten  Pflichten 
zu  erfüllen  im  Stande  ist.  Ausserdem  ist  es  der  in  seinen  ersten 
Andeutungen  schon  dem  einfachen  Kausche  angehörige  Trinker- 
humor, der  in  hohem  Maasse  die  Gemüthslage  dieser  Kranken 
kennzeichnet.  Ihnen  ist  die  Fähigkeit  verloren  gegangen,  ernste 
Dinge  ernst  aufzufassen;  sie  schwanken  im  dunklen  Gefühle  ihrer 
Willensschwäche  zwischen  unmännlicher  Weinerlichkeit  und  würde- 
losem Galgenhumor,  der  auch  in  der  eigenen  Erniedrigung  nur 
die  komische  Seite  empfindet.  Wer  wird  hier  nicht  an  die  ge- 
räuschvolle Fröhlichkeit  erinnert,  mit  welcher  eine  angeheiterte  Tafel- 
runde auch  die  gewagtesten  Verletzungen  der  eigenen  Würde  zu 
begleiten  pflegt! 

Es  giebt  wol  kaum  einen  einzigen  ausgebildeten  Trinker,  welcher 
sich  selber  irgend  welche  Verschuldung  au  seiner  Trunksucht 
beizumessen  geneigt  wäre.  Viele  stellen  überhaupt  trotz  der  be- 
wegendsten Anzeichen  das  Trinken  schlankweg  in  Abrede  und 
suchen  die  allenfalls  gelegentlich  genossenen  Alkoholmengen  als 
äusserst  harmlos  und  in  bedeutend  verkleinertem  Massstabe  hinzu- 
stellen; sie  haben  nur  soviel  getrunken,  „wie  sich’s  gehört“,  weisen 
namentlich  darauf  hin,  dass  sie  niemals  oder  doch  nur  selten  wirk- 
lich „betrunken“  gewesen  seien,  eine  Beweisführung,  welche  selbst 
bei  Voraussetzung  völliger  Glaubwürdigkeit  angesichts  des  sehr 
persönlichen  Massstabes  und  der  sehr  verschiedenen  Empfindlichkeit 
gegen  den  Alkohol  selbstverständlich  nur  geringen  Werth  hat.  Andere 
geben  zwar  mit  einigen  Umschweifen  ihre  Unmässigkeit  zu,  stellen 
dieselbe  jedoch  als  durchaus  nothwendig,  durch  ihre  besonderen 
Lebensverhältnisse  bedingt  dar.  „Wie  kann  man  ohne  Wein  und 
Bier  schwer  arbeiten!“  sagte  mir  ein  Lastträger;  die  Andern  würden 
ihn  ja  auslachen,  wenn  er  nicht  tränke.  Es  ist  interessant,  zu  sehen, 
wie  kein  einziger  Beruf  sich  völlig  unfruchtbar  an  zwingenden  Be- 
weggründen für  den  Alkoholgenuss  erweist.  Während  den  Schmied, 
den  Schlosser,  den  Glasarbeiter  die  Hitze  des  Feuers  zur  Schnaps- 
flasche treibt,  thut  beim  Droschkenkutscher,  beim  Nachtwächter  die 
nächtliche  Kälte  denselben  Dienst;  die  Metzger  „trinken  Alle“;  die 
Kaufleute  müssen  „wegen  der  Kundschaft“  trinken.  Die  Ziegelarbeiter 
finden  beim  Kneten  in  der  Nässe,  die  Müller  und  Maurer  beim  Ein- 
athmen  des  trockenen  Staubes  ihre  Rettung  im  Trinken,  ja  ein  An- 
gestellter einer  Dampfschifffahrtsgesellschaft  gab  mir  an,  dass  man 


Alkoholismus. 


67 


„in  einem  so  grossen  Geschäft“  ohne  den  Alkohol  nicht  auskommen 
könne.  Die  Ueberzeugung  von  der  unbedingten  Nothwendigkeit  des 
Alkoholgenusses  sitzt  in  der  Regel  so  fest,  dass  die  Trinker  allen 
Einwendungen  das  äusserste  Misstrauen  entgegen  bringen.  „Ach, 
gehen  Sie,  Herr  Doctor,  der  Herr  Professor  trinkt  auch  seinen 
Schoppen,“  sagte  ein  Trinker,  als  er  vom  Arzte  auf  mein  Beispiel 
völliger  Enthaltsamkeit  hingewiesen  wurde. 

Fast  noch  häufiger,  als  durch  die  Beschäftigung,  wird  die 
Trunksucht  durch  wirthschaftliche  und  häusliche  Verhältnisse  be- 
gründet. Bald  ist  es  der  Kummer  über  den  Rückgang  des  Ver- 
dienstes, das  Aufkommen  eines  „Concurrenten“,  über  den  Verlust 
einer  Stellung,  den  Tod  eines  Angehörigen,  bald  ist  es  die 
schlechte  Wohnung  oder  die  ungenügende  Ernährung,  vor  allem 
aber  das  unglückliche  eheliche  Leben,  welches  den  Trinker  nach 
seiner  Angabe  zum  Schnapsmissbrauche  getrieben  hat.  „Die  Frau 
hätte  sollen  zart  und  liebevoll  sein,  wenn  ich  getrunken  hatte,“ 
meinte  ein  solcher  Gatte.  Regelmässig  ergiebt  sich  hier  bei  ge- 
nauer Nachforschung,  dass  der  Zusammenhang  ein  umgekehrter  ge- 
wesen ist,  dass  die  angeblichen  Ursachen  der  Trunksucht  in  Wirklich- 
keit als  mittelbare  oder  unmittelbare  Folgen  derselben  angesehen 
werden  müssen. 

Hand  in  Hand  mit  der  sittlichen  Verblödung  geht  eine  Er- 
höhung der  gemüthlichen  Reizbarkeit,  namentlich  während  der 
Alkoholwirkung.  Aus  ihr  entwickelt  sich  dann  die  berüchtigte  Streit- 
sucht der  Trinker,  ihre  Neigung  zu  unfläthigem  Schimpfen,  raschen 
Gewaltthaten  und  Rohheiten,  Misshandlungen  der  Angehörigen,  zweck- 
losen Zerstörungen.  In  bemerkenswerthem  Gegensätze  zu  der  Rück- 
sichtslosigkeit und  Heftigkeit  des  Trinkers  in  seinen  häuslichen 
Verhältnissen  steht  die  Gefügigkeit  und  Lenksamkeit  desselben  bei 
längerer  Enthaltsamkeit  unter  dem  Drucke  äusseren  Zwanges  in  der 
Irrenanstalt,  im  Gefängnisse  u.  s.  w.  Dem  Unerfahrenen  erscheipt 
es  oft  vollkommen  unbegreiflich,  wie  es  denn  möglich  war,  dass  der 
anscheinend  ganz  ruhige  und  gutmiithige  Mensch  in  der  Freiheit  so 
rohe  und  unsinnige  Gewaltthaten  begehen  konnte.  Sehr  eigenartig 
ist  dabei  vielfach  der  reumüthige,  ja  süssliche  Ton  der  Briefe,  welche 
von  Betheuerungen,  guten  Vorsätzen  und  frommen,  erbaulichen  Redens- 
arten strotzen,  während  ein  Entlassungsversuch  binnen  kürzester  Frist 
die  ganze  Haltlosigkeit  des  Trinkers  aufs  deutlichste  vor  Augen  führt. 

5» 


68 


III.  Die  Vergiftungen. 


Regelmässig  entwickelt  sich  endlich  beim  Trinker  im  Laufe  der 
Zeit  eine  gewisse  Unruhe  und  Unstetigkeit.  Er  kann  nicht  lange 
stillsitzen,  treibt  sich  gern  ziellos  herum,  in  den  Kneipen  oder  auf  der 
Landstrasse.  Seine  Arbeitsfähigkeit  zeigt  daher  eine  sehr  bedeutende 
Abnahme,  nicht  nur,  weil  häufige  Räusche  die  Stetigkeit  der  Be- 
schäftigung durchbrechen,  sondern  namentlich  auch,  weil  er  zu  jeder 
nachhaltigen  und  länger  dauernden  Anstrengung  seiner  körperlichen 
und  geistigen  Kräfte  unfähig  geworden  ist.  In  Folge  dessen  pflegt 
es  mit  seinen  wirtschaftlichen  Verhältnissen  rasch  bergab  zu  gehen. 
Er  verdient  wenig  oder  garnichts  mehr,  verbraucht  aber  verhältniss- 
mässig  viel  und  greift  nun  zu  allerlei  Auskunftsmitteln,  um  sich 
das  Geld  zum  Trinken  zu  verschaffen.  Zunächst  hört  er  auf,  für 
seine  Familie  zu  sorgen,  sucht  im  Gegenteil  noch  von  ihr  so  viel 
wie  möglich  zu  erpressen.  Mehr  und  mehr  bevorzugt  er  die  Ge- 
tränke, die  ihn  am  raschesten  und  billigsten  in  den  Rauschzustand 
versetzen,  treibt  sich  in  den  schmutzigsten  Winkelkneipen  und  in  der 
verkommensten  Gesellschaft  herum.  Sobald  der  Credit  bei  Kneip- 
wirten und  Saufkameraden  erschöpft  ist,  geht  es  ans  Versetzen  und 
Verkaufen  des  persönlichen,  dann  aber  auch  des  Eigentums  der 
Angehörigen,  und  häufig  genug  schliesst  die  weitere  Laufbahn  mit 
Bettel  und  Landstreicherei,  mit  Zechprellereien,  Schwindeleien,  Be- 
trügereien, mit  Hehlerei  und  Diebstahl  ab. 

Von  den  allgemeinen  Störungen,  welche  der  chronische  Alkoholis- 
mus in  den  verschiedensten  Organen  des  Körpers  regelmässig  er- 
zeugt, sollen  hier  die  vielfachen  alkoholischen  Organerkrankungen 
nur  kurz  erwähnt  werden,  die  Herzverfettung,  der  Magenkatarrh, 
die  Lebercirrhose,  die  Nierenschrumpfung,  endlich  die  tiefgreifenden 
Veränderungen  in  der  Zusammensetzung  des  Blutes.  Im  Gehirne 
finden  sich  Gefässerkrankungen  mit  dauernden  Kreislaufstörungen 
und  deren  Folgezuständen,  Blutaustritte,  Trübungen  und  Verdickungen 
der  Hirnhäute,  insbesondere  Pachymeningitis,  endlich  höchst  wahr- 
scheinlich mehr  oder  weniger  schwere  Veränderungen  an  den  Nerven- 
zellen. Nissl  fand  bei  chronisch  mit  Alkohol  vergifteten  Kaninchen 
leichte  Verdickung  der  Pia,  besonders  an  der  Basis,  und  Vermehrung 
der  Glia.  In  der  Rinde  waren  zahlreiche  Zellen  zerstört;  daneben 
zeigten  sich  ausgebreitete,  eigenartige  Veränderungen,  deren  Deutung 
allerdings  zur  Zeit  noch  nicht  ganz  feststeht  An  den  peripheren 
Nerven  entwickeln  sich  bekanntlich  recht  häufig  neuritische  Er- 


Alkoholismns. 


69 


kr  an  kungen.  Den  klinischen  Ausdruck  aller  dieser  Veränderungen 
im  Bereiche  des  Nervensystems  bilden  zunächst  Schwindel  und 
Kopfschmerzen,  ein  sehr  feinschlägiges  Zittern  an  Zunge  und  ge- 
spreizten Fingern,  die  bekannten  neuritischen  Störungen,  Schwäche 
der  Arme  und  Beine,  Unsicherheit  beim  Stehen  und  Gehen,  Muskel- 
atrophie, schmerzhafte  Druckpunkte,  Anaesthesien,  Hyperaesthesien, 
Paraesthesien.  Die  Reflexe  sind  vielfach  gesteigert,  seltener  erloschen. 
Ami  Opticus  hat  man  ebenfalls  eine  alkoholische  Neuritis  (Abblassung 
der  temporalen  Papillenhälfte)  kennen  gelernt;  bisweilen  bestehen 
Augenmuskellähmungen. 

Bei  einer  grösseren  Anzahl  von  Trinkern  werden  epileptische 
Anfälle  beobachtet,  sowol  im  Anschlüsse  an  schwere  Räusche  wie 
im  einfachen  Verlaufe  des  chronischen  Alkoholismus,  selbst  nach 
längerer  Enthaltsamkeit.  Am  häufigsten  aber  ist  das  Eintreten 
solcher  Anfälle  vor  oder  während  eines  Delirium  tremens.  In  Berlin, 
wo  die  Alkoholepilepsie  besonders  oft  aufzutreten  scheint,  fanden 
sich  nach  den  Zusammenstellungen  von  Fürstner,  Möli,  Siemer- 
ling  epileptische  Anfälle  bei  Trinkern  in  etwa  30 — 35 °/0,  bei  den 
chronischen  alkoholischen  Geistesstörungen  nur  in  10%  der  Fälle. 
Gegenüber  diesen  Erfahrungen  hat  Wildermuth  angegeben,  dass 
er  nur  in  1,4%  bei  den  von  ihm  beobachteten  Epileptikern  die 
Krankheit  ausschliesslich  auf  Alkoholmissbrauch  zurückführen  konnte; 
in  allen  übrigen  Fällen  bestanden  entweder  von  Jugend  auf  schon 
die  Zeichen  einer  epileptischen  Veranlagung,  oder  es  wirkten  noch 
andere  Ursachen  ein,  die  erfahrungsgemäss  Epilepsie  zu  erzeugen 
im  Stande  sind.  Er  kommt  daher  zu  dem  Schlüsse,  dass  der  Alkohol 
in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  die  Epilepsie  nur  auslöse, 
nicht  aber  hervorbringe.  Aehnliche  Anschauungen  hat  schon  Magnan 
vertreten,  der  für  die  epileptischen  Anfälle  der  Trinker  auf  Grund  seiner 
Thierversuche  überhaupt  nicht  den  Alkohol,  sondern  das  Absinthöl  ver- 
antwortlich machte,  eine  Ansicht,  die  indessen  in  Deutschland  schon 
deswegen  keinen  Anklang  gefunden  hat,  weil  bei  uns  die  Alkohol- 
epilepsie trotz  fast  gänzlichen  Fehlens  von  Absinthmissbrauch  überaus 
häufig  ist.  Dagegen  scheint  allerdings  besonders  das  Schnapstrinken 
die  Entstehung  epileptischer  Krämpfe  zu  begünstigen.  Möli  fand 
dieselben  in  40%  bei  Schnapstrinkem,  aber  nur  bei  5%  derjenigen 
Personen,  die  neben  Bier  und  Wein  fast  keinen  Schnaps  zu  sich 
nahmen. 


70 


III.  Die  Vergiftungen. 


Um  nun  den  grossen  Widerspruch  zu  lösen,  der  zwischen 
der  Häufigkeit  von  Krampfanfällen  bei  Trinkern  und  der  Seltenheit 
wirklich  durch  Alkohol  verursachter  Epilepsie  besteht,  vertritt 
Wildermuth  die  ebenfalls  schon  von  Magnan  ausgesprochene 
Ansicht,  dass  die  Krampfanfälle  der  Trinker  wie  die  urämischen 
oder  paralytischen  Anfälle  nicht  als  echte  Epilepsie  aufzufassen  seien. 
Zu  dem  gleichen  Ergebnisse  gelangte  Wartmann*),  der  bei  einer 
grösseren  Anzahl  von  Epileptikern  die  Entstehungsgeschichte  der 
Krankheit  prüfte.  Eine  wichtige  Stütze  erhält  dieser  Statz  gerade 
durch  die  häufige  Verbindung  der  Anfälle  mit  dem  Delirium  tremens, 
das  wir  Ursache  haben,  auf  das  Eintreten  einer  eigenartigen  Ver- 
giftung zurückzuführen.  Allerdings  wird  man  in  dieser  Frage  so 
lange  zweifelhaft  bleiben  müssen,  wie  uns  die  Ursachen  der  echten 
Epilepsie  noch  unbekannt  sind.  Dass  übrigens  der  Alkoholismus 
der  Eltern  eine  der  wichtigsten  Ursachen  der  Epilepsie  bei  den 
Kindern  bildet,  Avird  von  allen  Seiten  bestätigt  und  späterhin  näher 
ausgeführt  werden.  Auf  die  Beziehungen  des  Alkoholismus  zur 
Hysterie  ist  in  neuerer  Zeit  bei  uns  besonders  von  Lührmann 
hingewiesen  worden.  Er  fand  unter  60  männlichen  Hysterischen  16. 
bei  denen  die  Erscheinungen  wesentlich  durch  Alkoholismus  aus- 
gelöst wurden.  Es  handelte  sich  meist  um  Dämmerzustände  mit 
den  Stigmata  der  Hysterie,  Hemianaesthesien,  Sehstörungen,  Krampf- 
anfällen. Die  eigentliche  Ursache  des  Leidens  lag  hier  wol  immer 
in  der  krankhaften  Veranlagung,  die  durch  die  Schädigung  des 
Alkoholismus  zu  weiterer  Entwicklung  gebracht  wurde. 

Unter  den  Ursachen  des  chronischen  Alkoholismus  spielt  eine 
nicht  geringe  Bolle  die  angeborene  oder  ererbte  Veranlagung.  Die 
Neigung  zum  Trinken  wird  in  hohem  Maasse  auf  die  Nachkommen- 
schaft übertragen,  wahrscheinlich  in  Form  einer  verringerten  sitt- 
lichen Widerstandsfähigkeit  überhaupt.  Unter  den  von  mir  in 
den  letzten  Jahren  beobachteten  Trinkern  waren  s/4  in  irgend 
einer  Weise  erblich  belastet;  in  der  Hälfte  dieser  letzteren 
Fälle  war  der  Vater  Trinker  gewesen.  Männer  sind  unver- 
gleichlich mehr  gefährdet  als  Frauen ; unter  den  von  mir  zu- 
sammengestellten Fällen  befanden  sich  kaum  6°/0  Frauen.  Die  Ver- 

*)  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXIX,  933;  Wildermuth,  Zeitschr.  f.  d.  Behandlung 
Schwachsinniger  u.  Epileptischer,  1897,  Mai,  49;  Neumann,  Ueber  die  Beziehungen 
zwischen  Alkoholismus  und  Epilepsie.  1897.  (Literatur.) 


Alkoholismus. 


71 


führung  zum  Alkoholismus  wird  insbesondere  durch  staatliche  Ein- 
richtungen und  gesellige  Gewohnheiten  in  mehr  als  ausreichender 
Weise  besorgt.  Namentlich  die  Zeiten  „flotten“  Lebensgenusses 
fordern  unter  den  haltlos  veranlagten  Personen  ihre  sicheren  Opfer. 
Andererseits  ist  es  die  Noth,  das  Elend,  namentlich  aber  die 
verhängnissvolle  Gedankenlosigkeit  und  Unwissenheit  der 
Massen,  welche  sie  wehrlos  dem  für  unentbehrlich  gehaltenen 
Missbrauche  in  die  Arme  treiben.  Tagtäglich  trinken  Tausende  und 
Abertausende  gerade  deswegen  Wein,  'Bier  oder  Schnaps,  weil  sie 
davon  überzeugt  sind,  dass  der  Alkohol  die  körperliche  Leistungs- 
fähigkeit erhöhe,  eine  „Stärkung“  des  Organismus  bewirke.  Wenn 
diese  Anschauung  schon  für  die  acute  Alkoholwirkung  durch  die 
Messung  im  wesentlichen  widerlegt  wird,  so  ist  sie  für  den  dauernden 
Gebrauch  geistiger  Getränke  zweifellos  grundfalsch.  Gegen  diesen 
gefährlichen  Unfug,  an  dem  wir  Aerzte  zum  guten  Theil  mit  Schuld 
tragen,  kann  nicht  thatkräftig  genug  zu  Felde  gezogen  werden. 
Gar  nicht  selten  knüpft  sich  die  Entwicklung  des  chronischen  Alko- 
holismus geradezu  an  das  zum  Frühstück  verordnete  Gläschen  Port- 
wein oder  Sherry  an.  So  beobachtete  ich  kurz  hintereinander 
zwei  Frauen,  welche  dadurch  schwerer  Trunksucht  verfallen  waren, 
dass  ihnen  vom  Arzte  „zur  Stärkung“  nach  hartnäckigen  Meno- 
rhagien  der  regelmässige  Genuss  alkoholreichen  Weines  empfohlen 
wurde. 

Die  Mengen  alkoholischer  Getränke,  welche  der  Einzelne  zu 
sich  nimmt,  sind  sehr  verschieden.  Manche  Personen  vertragen  von 
vorn  herein  sehr  wenig,  und  umgekehrt  scheint  sich  auch  bei  alten 
Trinkern  bisweilen  wieder  eine  verminderte  Widerstandsfähigkeit 
gegen  den  Schnaps  einzustellen.  Andererseits  berichtet  Siemerling*) 
von  einem  Arbeiter,  der  in  24  Stunden  3 Liter  Nordhäuser  mit 
Bittern,  von  einem  andern,  der  2 Liter  Spiritus  mit  Kümmel  trank, 
sowie  von  einer  Reihe  ähnlicher  Leistungen.  Der  Schnaps  ist  überall 
bevorzugt. 

Die  Prognose  des  ausgeprägten  chronischen  Alkoholismus  ist 
gewöhnlich  eine  sehr  trübe.  Allerdings  vermag  man  durch  recht- 
zeitiges, zielbewusstes  Eingreifen  in  einer  Anzahl  von  Fällen  die 
dauernde  Entwöhnung  vom  Schnaps  durchzusetzen  und  damit  die 
durch  ihn  erzeugten  Störungen  zum  Verschwinden  zu  bringen.  Die 


*)  Charit«- Annalen,  XVI,  S.  373  ff.  1891. 


72 


III.  Die  Vergiftungen. 


freilich  noch  nicht  sehr  ausgedehnten  Erfahrungen  der  Trinkerasyle 
scheinen  zu  zeigen,  dass  immerhin  1/i — 1/3  derjenigen  Kranken, 
welche  sich  einer  längeren,  planmässigen  Behandlung  unterwerfen, 
dauernd  und  vollständig  geheilt  werden,  während  ein  gleicher  Brueh- 
theil  wenigstens  eine  sehr  wesentliche,  anhaltende  Besserung  erfährt. 
In  der  Trinkerheilanstalt  Ellikon  ist  die  Zahl  der  dauernd  enthaltsam 
gebliebenen  Kranken  von  26,8  °/0  1889  sogar  auf  52,9  % im  Jahre 
1894  gestiegen*).  Leider  hat  die  Behandlung  der  Alkoholisten  heute 
noch  mit  sehr  grossen  praktischen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen, 
zu  deren  Beseitigung  bis  jetzt  nicht  mehr  als  die  ersten  Schritte 
haben  gethan  werden  können.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl, 
der  Fälle  sinkt  daher  der  Gewohnheitstrinker  nach  jeder  Richtung 
hin  allmählich  tiefer  und  immer  tiefer,  bis  zum  völligen  körper- 
lichen und  geistigen  Yerfall,  wenn  nicht  irgend  eine  der  zahl- 
reichen, seine  geschwächte  Constitution  vor  allem  bedrohenden 
Krankheiten  (Pneumonie,  Apoplexie,  Nephritis)  das  Ende  schon 
früher  herbeiführt. 

Die  Erkennung  des  Trinkers  ist  in  den  vorgeschritteneren 
Stadien  sehr  leicht.  Abgesehen  von  dem  vernachlässigten,  herunter- 
gekommenen Aeusseren,  welches  in  lebhaftem  Widerspruche  mit 
seiner  gesellschaftlichen  Stellung  zu  stehen  pflegt,  deuten  die 
schwimmenden  Augen,  das  gedunsene,  häufig  durch  kleine  erweiterte 
Venen  geröthete  Gesicht,  die  stark  belegte,  oft  zitternde  Zunge,  ein 
feines  Zittern  der  gespreizten  Finger  und  der  fuselige  Geruch  des 
Athems  unverkennbar  auf  die  chronische  Vergiftung  hiu.  Vielfach 
fällt  frühzeitiges  Altem  auf.  Die  genauere  Prüfung  lässt  ausserdem 
fast  immer  leichtere  oder  schwerere  neuritische  Anzeichen  entdecken, 
besonders  an  den  Beinen.  Seltener  gelingt  auch  der  Nachweis  einer 
der  sonstigen,  dem  chronischen  Alkoholismus  eigenthüinlichen  Organ- 
erkrankungen. 

Die  einzige  Aufgabe,  welche  die  Behandlung  des  chronischen 
Alkoholismus  zu  lösen  hat,  ist  die  Herbeiführung  einer  dauernden, 
völligen  Enthaltsamkeit  vom  Alkohol  in  jeder  Form.  Alle 
Versuche,  den  ausgeprägten  Trinker  etwa  zu  einem  massigen  Ge- 
nüsse geistiger  Getränke  zurückzuführen,  scheitern  erfahrungsgemäss 
an  dem  Umstande,  dass  eben  gerade  der  Alkohol  die  Selbstbeherrschung 


*)  Oberdieck,  Archiv  f.  Psychiatrie,  1897,2. 


Alkoholismus. 


73 


vernichtet,  die  Ausführung  unüberlegter  Handlungen  begünstigt  und 
zu  Ausschreitungen  verführt.  Wer  einmal,  sei  es  aus  Anlage  oder 
durch  äussere  Verhältnisse,  zum  Trinker  geworden  ist,  kann  nur 
durch  bedingungslose  Enthaltsamkeit  den  Gefahren  eines  Rückfalles 
entgehen,  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  jene  letztere  unvergleichlich 
leichter  durchzuführen  ist,  ausserordentlich  viel  geringere  Anforde- 
rungen an  die  Willenskraft  stellt,  als  das  Einhalten  irgendwie  vorge- 
schriebener Mässigkeitsgrenzen.  Wenn  mir  demnach  auch  die  grund- 
sätzliche Verdammung  jedes  Alkoholgenusses  für  den  gesunden 
Menschen  wesentlich  den  Werth  eines  sittlichen  Beispiels  zu  haben 
scheint,  so  muss  für  den  Trinker  die  unverbrüchliche  Bewahrung 
voller  Enthaltsamkeit  als  die  nothwendige  Vorbedingung  seiner 
Wiederherstellung  betrachtet  werden. 

In  einer  grossen  Anzahl  von  Fällen  empfinden  die  Kranken  ihre 
hiilflose  Ohnmacht  gegenüber  dem  Genussmittel  stark  genug,  um 
selbst  den  hier  angedeuteten,  einzig  möglichen  Ausweg  aus  ihrem 
Zustande  einzuschlagen.  Bei  kurzem  Bestände  des  Leidens  und 
grosser  ursprünglicher  Willenskraft  kann  die  Entziehung  sogar  ohne 
■weiteres  äusseres  Hülfsmittel  von  dem  Kranken  durchgeführt  und 
die  Enthaltsamkeit  dauernd,  je  länger,  um  so  leichter,  festgehalten 
werden.  Sehr  häufig  indessen  sind  die  Trinker  von  vorn  herein 
oder  in  Folge  ihres  Alkoholismus  so  willensschwach,  dass  sie  den 
in  ihren  häuslichen  Verhältnissen,  ihrem  Berufe,  ihrem  Verkehr 
liegenden  Verführungen  nicht  aus  eigener  Kraft  zu  -widerstehen  ver- 
mögen. In  solchen  Fällen  passt  die  Verbringung  in  ein  „Trinker- 
asyl“, wie  sie  heute,  allerdings  in  noch  gänzlich  ungenügender  Zahl, 
bereits  in  den  meisten  Ländern  bestehen  *).  Leider  wird  die  Durch- 
führung dieser  Massregel  durch  die  Gleichgültigkeit  und  Verblendung 
der  Umgebung  vielfach  verhindert.  Namentlich  die  Aerzte,  die 
doch  in  erster  Linie  berufen  wären,  hier  belehrend  und  aufklärend 
zu  wirken,  stehen  in  der  .Alkoholfrage  nichts  weniger,  als  auf 
der  Höhe  ihrer  Aufgabe.  Kommt  es  doch  alle  Tage  vor,  dass 
selbst  in  Anstalten  für  Nerven-  oder  Geisteskranke  den  Trinkern 
ganz  harmlos  nach  wie  vor  der  regelmässige  Genuss  geistiger  Ge- 
tränke gestattet  wird.  Ich  kenne  solche  Beispiele  am  grünen  Holze 
in  Menge. 

*)  Tilkowski,  Jahrbücher  f.  Psychiatrie,  1893,  XII;  Serieux,  Bull,  de  la 
societe  de  med.  mentale  Belgique,  März,  Juni  1895. 


74 


III.  Die  Vergiftungen. 


Endlich  aber  giebt  es  auch  Trinker  genug,  denen  die  Einsicht 
in  ihr  eigenes  Elend  sowie  das  Streben,  sich  aus  demselben  zu  be- 
freien, völlig  fehlt,  oder  welche  aus  anderen  Gründen  (Wahnideen) 
jedem  Versuche  einer  Freiheitsbeschränkung  heftigen  Widerstand 
entgegensetzen.  Die  zwangsweise  Durchführung  der  Entziehung 
bei  solchen  Menschen  kann  heute  nur  in  der  Weise  geschehen,  dass 
sie  als  geisteskrank  in  eine  Irrenanstalt  verbracht  werden.  Da  in- 
dessen der  Alkoholismus  als  psychische  Störung  gesetzlich  bisher 
keineswegs  anerkannt  wird,  so  besteht  thatsächlich  in  einer  er- 
schreckend grossen  Zahl  von  Fällen  die  rechtliche  Unmöglichkeit 
den  verblendeten  Trinker  von  der  Vernichtung  seiner  eigenen  wie 
der  Existenz  seiner  Familie  auch  gegen  seinen  Willen  zurück- 
zuhalten. Dass  hier  die  Nothwendigkeit  staatlichen  Eingreifens  zum 
mindesten  ebenso  dringend  ist,  wie  etwa  bei  der  zwangsweisen  Be- 
handlung syphilitischer  Prostituirter,  von  dem  Verfahren  gegenüber 
gemeingefährlichen  Geisteskranken  garnicht  zu  reden,  bedarf  keiner 
weiteren  Ausführung.  Vielleicht  wird  die  durch  das  neue  Bürger- 
liche Gesetzbuch  geschaffene  Möglichkeit  einer  Entmündigung  wegen 
Trunksucht  wenigstens  einen  kleinen  Fortschritt  bringen. 

Die  Entziehung  des  Alkohols  kann  in  der  Regel  eine  ganz 
plötzliche  sein.  Ich  habe  bisher  erst  in  einem  einzigen  Falle  durch 
den  unvermittelten  Wegfall  des  gewohnten  Alkohols  schwerere 
Störungen  eintreten  sehen.  Es  handelte  sich  um  einen  jungen  Mann 
mit  einem  Herzfehler,  welchem  in  der  Heilanstalt,  die  er  wegen 
seiner  Trunksucht  aufgesucht  hatte,  ärztlicherseits  täglich  eine  Flasche 
Cognac  verordnet  worden  war.  Hier  fühlte  ich  mich  wegen  der 
Neigung  zum  Collaps  veranlasst,  neben  andern  Mitteln  noch  einige 
Tage  lang  kleine  Alkoholmengen  zu  geben.  Meist  jedoch  pflegen 
sich  die  geringen  anfänglichen  Störungen,  Schlaflosigkeit,  einzelne 
Sinnestäuschungen,  Appetitlosigkeit  ganz  überraschend  schnell  erheb- 
lich zu  bessern  oder  völlig  zu  verlieren.  Die  weitere  Erholung 
schreitet  dann  ohne  Zwischenfall  vorwärts.  Die  Kranken  fühlen 
sich  ungemein  wohl,  kräftig  und  leistungsfähig;  dabei  stellt  sich 
gewöhnlich  ein  sehr  starker  Appetit  ein,  unter  dessen  Einfluss  sich 
das  anfänglich  sinkende  Körpergewicht  meist  bedeutend  hebt.  Gleich- 
wol  sollte  die  Dauer  der  Anstaltsbeaufsichtigung  in  einigermassen 
schweren  Fällen  nicht  unter  8/4 — 1 Jahr,  nach  Rückfällen  noch 
längere  Zeit  betragen,  da  namentlich  die  psychische  Widerstands- 


Alkoholismus. 


75 


fäliigkeit  immer  noch  erheblich  geschwächt  bleibt,  auch  wenn  der 
Kranke  in  allen  übrigen  Beziehungen,  selbst  hinsichtlich  seiner 
Krankheitseinsicht,  schon  vollständig  genesen  erscheint.  Hie  und  da 
sieht  man  übrigens  erst  nach  vielmonatlichem,  zunächst  wider- 
willigem Anstaltsaufenthalte  doch  allmählich  ein  besseres  Verständ- 
nis für  die  Sachlage  und  damit  Zugänglichkeit  für  die  Bemühungen 
des  Arztes  zu  Stande  kommen.  Alle  diese  Umstände  spielen,  ebenso 
wie  die  Persönlichkeit  des  Kranken  überhaupt  und  seine  äusseren 
Verhältnisse,  eine  wichtige  Rolle  für  die  Abmessung  der  Be- 
handlungsdauer. Jedenfalls  soll  die  Wiedereinführung  in  die  Frei- 
heit nach  anfänglich  strengster  Ueberwachung  nicht  plötzlich,  son- 
dern ganz  allmählich  geschehen,  um  das  Selbstvertrauen  des  Kranken 
zu  kräftigen  und  seine  Widerstandsfähigkeit  zu  erproben.  Brannt- 
weinbrennern, Weinreisenden,  Schankwirthen  u.  s.  f.  ist  eine  Aende- 
rung  ihres  Berufes  dringend  anzurathen.  Zur  Erleichterung  und 
Befestigung  der  Alkoholentwöhnung  ist  in  neuerer  Zeit  mehrfach  mit 
Erfolg  auch  die  hypnotische  Suggestion  mit  herangezogen  worden 
(Forel). 

Ungleich  grössere  Aussicht  auf  Erfolg,  als  die  Behandlung  des 
ausgebildeten  Alkoholismus,  gewährt  die  vorbeugende  Bekämpfung 
desselben.  Die  verschiedenartigsten  Hülfskräfte  sind  berufen,  in 
dieser  Richtung  zusammenzuwirken.  In  der  Herabsetzung  der 
Schnapserzeugung,  der  Monopolisiruug  und  Einschränkung  des  Einzel- 
verkaufs (Gothenburger  System),  in  der  öffentlichen  Belehrung 
über  die  schweren  Gefahren  des  Alkoholismus,  namentlich  durch  die 
Aerzte,  in  der  Einbürgerung  harmloserer  Anregungsmittel  (Kaffee, 
Thee),  der  Beseitigung  des  Trinkzwanges  in  jeder  Form,  der  Ein- 
dämmung des  Kneipenwesens,  der  Errichtung  von  Volkslesehallen 
und  nicht  zum  letzten  durch  das  zielbewusste  Beispiel  der  Gebildeten 
sind  uns,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  die  Mittel  an  die  Hand  gegeben, 
welche  es  uns  ermöglichen,  den  furchtbaren  Begleiter  und  Feind 
zugleich  unserer  Gesittung  nicht  nur  an  seiner  weiteren  Ausbreitung 
zu  verhindern,  sondern  ihm  allmählich  auch  das  schon  gewonnene, 
übergrosse  Gebiet  in  hartem  Kampfe  nach  und  nach  wieder  abzu- 
ringen. Wie  es  scheint,  sind  nach  dieser  letzteren  Richtung  hin 
durch  die  Kräftigung  des  Enthaltsamkeitsentschlusses  die  in  Eng- 
land, Amerika,  Skandinavien,  Finnland,  der  Schweiz  sich  rasch  ent- 
wickelnden „Mässigkeitsvereine“  eine  beträchtliche  sittliche  Ein- 


76 


III.  Die  Vergiftungen. 


Wirkung,  auszuüben  im  Stande  gewesen.  Gerade  für  den  Trinker  mit 
seiner  Willensschwäche  bildet  der  Rückhalt,  den  die  Vereinigung 
bietet,  ein  sehr  wichtiges  Hülfsmittel  im  Kampfe  mit  der  Verführung. 
Der  sich  durch  das  Vereinsleben,  durch  den  Gedankenaustausch,  die 
eigenartige  Literatur  entwickelnde  Fanatismus  ist  ein  wohlthätiges, 
vielleicht  sogar  nothwendiges  Werkzeug  zur  Rettung  jener  ungezählten 
Schaaren,  welche  vereinzelt,  auf  sich  selbst  gestellt,  unfehlbar  zu 
Grunde  gehen  würden.  Die  wichtigsten  in  Betracht  kommenden 
Vereinigungen  sind  der  Alkoholgegnerbund  (Internationaler  Verein 
zur  Bekämpfung  des  Alkoholgenusses),  der  Verein  des  blauen  Kreuzes 
und  der  Orden  der  Guttempler,  in  Deutschland  neuerdings  ncch  die 
Vereine  abstinenter  Aerzte  und  Lehrer.  Diesen  auf  dem  Stand- 
punkte völliger  Enthaltsamkeit  stehenden  Vereinen  gesellt  sich  noch 
der  Verein  gegen  den  Missbrauch  geistiger  Getränke  hinzu,  der  nur 
Mässigkeit  anstrebt.  Eine  Reihe  von  Zeitschriften,  von  denen  hier  nur 
die  Internationale  Monatsschrift  zur  Bekämpfung  der  Trinksitten,  die 
Mässigkeitsblätter  und  die  Freiheit  genannt  werden  sollen,  suchen  den 
Zwecken  dieser  Vereine  zu  dienen.  Freilich  steht  diesen  Gesell- 
schaften die  Unzahl  der  Stammtische  sowie  jener  „gemüthlichen" 
Vereinigungen  gegenüber,  welche  unter  irgend  einem  Aushängeschilde 
nichts  anderes  sind,  als  fruchtbare  Brutofen  des  „feuchtfröhlichen-1 
deutschen  Kneipalkoholismus. 

Auf  der  durch  den  chronischen  Alkoholismus  gebildeten  Grund- 
lage können  sich  eine  Anzahl  eigenartiger  psychischer  Störungen 
entwickeln,  welche  zum  Theil  wenigstens  in  ihrem  klinischen  Auf- 
treten selber  schon  den  Rückschluss  auf  die  Grundursache  gestatten, 
aus  welcher  sie  hervorgegangen  sind.  Die  bei  weitem  häufigste  dieser 
Störungen  ist  das  Delirium  tremens*). 

Das  erste  Anzeichen  der  herannahenden  Krankheit  bildet  eine 
erhöhte  psychische  (unruhiger  Schlaf,  Verstimmtheit,  Schreckhaftig- 
heit)  und  sensorielle  (Hyperaesthesie,  subjective  Geräusche,  Blitze, 
feurige  Sterne)  Erregbarkeit  Nach  diesen  Vorboten,  welche  bis- 
weilen einige  Tage,  meist  jedoch  nur  wenige  Stunden  andauern,  ent- 
wickelt sich  in  rascher  Steigerung  das  volle  Krankheitsbild,  welches 
vor  allem  durch  lebhafte  und  zahlreiche  phantastische 
Sinnestäuschungen  der  verschiedensten  Gebiete,  durch  mässige 


*)  Rose,  Delirium  tremens  und  Delirium  traumaticum.  18S4. 


Alkoholismus. 


77 


Benommenheit  bei  völliger  Desorientiruug,  durch  Unruhe  und  Zittern 
gekennzeichnet  wird. 

Der  Wahrnehmungsvorgang  an  sich  scheint  nach  Bonhöffers*) 
Untersuchungen  keine  sehr  auffallenden  Störungen  darzubieten. 
Der  genannte  Forscher  erhielt  normale  Werthe  für  die  Berührungs- 
Temperatur-  und  Schmerzempfindlichkeit  der  Haut,  ebenso  für  die 
Seh-  und  Hörschärfe  und  das  Augenmaass.  Das  Gesichtsfeld 
fand  sich  hie  und  da  etwas  eingeschränkt;  die  Farbenerkennung 
war  unsicher,  die  Raumschwelle  an  Fingerkuppe  und  Stirn  erhöht. 
Sehr  bemerkenswerth  sind  bisweilen  die  Störungen  des  Gleich- 
gewichtssinnes. Bonhöf  fer  hat  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass 
manche  Kranke  ausser  Stande  sind,  sich  aufzusetzen,  zu  stehen  und 
zu  gehen,  vielmehr  ängstlich  die  Rückenlage  einhalten.  Er  ist  der 
Ansicht,  dass  hier  die  körperliche  Orientirung  im  Raume  gestört  sei. 
Vielfach  trifft  man  auch  auf  die  Angabe,  dass  der  Boden  schwanke, 
die  Wände  einzustürzen  drohen;  es  mag  dahin  gestellt  bleiben,  ob 
dabei  Störungen  der  Augenmuskelbewegungen  oder  des  Labyrinth- 
sinnes die  Hauptrolle  spielen. 

Bei  allen  genaueren  Prüfungen  stellen  sich,  in  Uebereinstimmung 
mit  der  allgemeinen  klinischen  Erfahrung,  Störungen  der  Auffassung 
nach  zwei  Richtungen  heraus.  Zunächst  mischen  sich  in  die  Wahr- 
nehmungen der  Kranken  überall  reichliche  Eigenerregungen  der 
betreffenden  Sinnesgebiete,  so  dass  es  zu  fortwährenden  Verfälschungen 
der  Wahrnehmung  kommt.  Die  Kranken  verhören  sich,  verkennen 
vorgezeigte  Bilder,  sehen  Zusätze,  Bewegungen  auf  denselben,  mühen 
sich  vergeblich  ab,  scharfe  und  klare  Eindrücke  zu  bekommen.  Noch 
deutlicher  wird  die  Störung  beim  Lesen.  Statt  der  gegebenen  Sätze 
wird  eine  ganz  sinnlose  Reihe  von  Wörtern  und  Lautverbindungen 
vorgebracht,  besonders  dann,  wenn  die  Kleinheit  der  Schrift  die 
Erkennung  erschwert  oder  selbst  unmöglich  macht,  was  die  Kranken 
bisweilen  gar  nicht  bemerken.  Oft  fehlt  jede  erkennbare  Beziehung 
zwischen  Vorlage  und  Wiedergabe,  eine  Erscheinung,  die  ich,  freilich 
in  sehr  abgeschwächter  Form,  auch  bei  einem  Alkoholisten  ohne 
Delirium  nachweisen  konnte.  Dort  hatte  ich  Ursache,  als  Grund- 
lage der  Lesestörung  nicht  nur  eine  Verschlechterung  der  Auf- 
fassung und  Beeinflussung  derselben  durch  Wortvorstellungen,  son- 


*)  Der  Geisteszustand  der  Alkoholdeliranten.  1897. 


78 


III.  Die  Vergiftungen. 


dem  auch  das  Auftreten  von  sprachlichen  Fehlreactionen  anzunehmen, 
das  planlose  Aussprechen  irgend  welcher,  auf  der  Zunge  liegender 
Lautverbindungen  an  Stelle  der  fehlerhaft  und  ungenau  erfassten 
Eindrücke,  ohne  innere  Beziehung  zur  Vorlage.  Auch  Bonhöffer 
spricht,  vielleicht  in  ähnlichem  Sinne,  bei  seinen  Beliranten  von 
„paraphasischem“  Lesen. 

Besondere  Schwierigkeiten  macht  es  ferner,  die  Aufmerksam- 
keit der  Kranken  zu  fesseln.  Während  sie  in  einem  Augenblicke 
tadellos  auffassen,  ist  es  im  nächsten  oft  kaum  möglich,  sich  ihnen 
verständlich  zu  machen.  Derselbe  Kranke,  der  auf  eindringliches 
Anreden  geordnete  Auskunft  giebt,  geräth  vielleicht  sofort  wieder 
in  seine  Delirien  hinein,  sobald  man  ihn  sich  selbst  überlässt.  Diese 
grossen  Schwankungen  der  Aufmerksamkeit  lassen  die  Störungen 
der  Auffassung  viel  stärker  .erscheinen,  als  sie  wirklich  sind.  Die 
Kranken  bemerken  nur  das,  was  sich  ihnen  besonders  aufdrängt 
Daraus  erklärt  es  sich  vielleicht,  dass  sie  bisweilen  über  schwere 
Verletzungen  gar  nicht  klagen,  gebrochene  Glieder  mit  der  grössten 
Rücksichtslosigkeit  bewegen.  Das  Bewusstsein  zeigt  regelmässig 
eine  leichte  Trübung.  Das  Verständniss  für  die  Vorgänge  in  der 
Umgebung  ist  ein  ziemlich  unklares;  die  auftauchenden  Vorstellungen 
sind  verschwommen  und  widerspruchsvoll.  Gleichwol  vermögen  die 
Kranken  in  der  Regel  über  fernliegende  Verhältnisse  leidliche  Aus- 
kunft zu  geben.  Nur  in  sehr  schweren  Fällen  imd  namentlich  im 
Anschlüsse  an  epileptische  Anfälle  tritt  stärkere  Unbesinnlichkeit 
und  Benommenheit  hervor. 

In  auffallendem  Gegensätze  zu  der  geringen  Beeinträchtigung 
der  Besonnenheit  steht  regelmässig  die  schwere  Störung  der 
Orientirung.  Wenn  wir  von  den  allerleichtesten  Fällen  absehen. 
wird  die  Umgebung  von  den  Kranken  immer  verkannt.  Sie  be- 
grüssen  Arzt  und  Mitkranke  auf  Befragen  mit  den  Namen  alter 
Bekannter,  halten  die  Räume  für  irgend  Avelche  Oertlichkeiten  in 
der  Heimath,  am  häufigsten  für  Wirthshäuser,  Brauereien  u.  dergl. 
Alle  diese  Bezeichnungen  können  binnen  kurzem  wechseln,  wenn 
die  Kranken  ihren  Aufenthaltsort  geändert  zu  haben  glauben, 
während  sie  andererseits  wirkliche  Reisen  gewöhnlich  gar  nicht 
verarbeiten.  Auch  die  Schätzung  der  durchlebten  Zeiträume  ist 
eine  ganz  unsichere.  Meist  erscheint  den  Kranken  die  Dauer 
des  Deliriums  ungemein  lang.  Sie  berichten  daher  über  ihre 


Alkoholismus. 


79 


krankhaften  Erlebnisse,  als  wenn  Wochen  oder  Monate  darüber 
hingegangen  wären. 

Unter  den  illusionären  und  hallucinatorischen  Trug  wahr- 
nehm ungen,  die  anfangs  vielleicht  nur  des  Nachts,  dann  aber 
auch  bei  Tage  hervortreten  und  den  Kranken  lebhaft  beschäftigen, 
pflegen  diejenigen  des  Gesichtes  zu  überwiegen.  Die  Täuschungen 
sind  von  grosser  sinnlicher  Deutlichkeit,  vielfach  schreckhaften  und 
unangenehmen  Inhalts.  Meist  sehen  die  Kranken  massenhafte  kleinere 
und  grössere  Gegenstände,  Staub,  Flocken,  Münzen,  Schnapsgläschen, 
Flaschen,  Stangen.  Fast  immer  zeigen  die  Gesichtsbilder  mehr  oder 
weniger  lebhafte  Bewegung,  wol  im  Zusammenhänge  mit  Augen- 
muskelbewegungen; auch  Doppeltsehen  wird  beobachtet.  Thiere 
drängen  sich  zwischen  die  Beine,  schwirren  in  der  Luft  herum,  be- 
decken das  Essen;  alles  wimmelt  von  Spinnen  „mit  goldenen 
Flügeln“,  Käfern,  Wanzen,  Schlangen,  Gewürm  mit  langen  Stacheln, 
Ratten,  Hunden,  Raubthieren.  Grosse  Menschenmengen  dringen  auf 
die  Kranken  ein  (feindliche  Reiter,  sogar  „auf  Stelzen“,  Gensdarmen) 
oder  marschiren  in  langen,  abenteuerlich  gruppirten  Zügen  an  ihnen 
vorbei;  eiuzelne  gefahrdrohende  Spukgestalten,  Missgeburten,  kleine 
Männer,  Teufel,  „Feuerrüpel“,  Gespenster  stecken  den  Kopf  in  die 
Thüre,  huschen  unter  den  Möbeln  herum,  steigen  auf  Leitern  in  die 
Höhe.  Seltener  sind  geputzte,  lachende  Mädchen  oder  lascive  Scenen, 
Fastnachtsscherze,  Theateraufführungen.  Ein  Kranker  sah  seine 
Frau  mit  ihrem  Liebhaber  auf  offenem  Markte  in  Gegenwart  sämmt- 
licher  Fürsten  und  Würdenträger  des  Deutschen  Reiches  geschlecht- 
lich verkehren.  Dazu  gesellt  sich  die  Wahrnehmung  von  brausen- 
den Geräuschen,  Klingen  und  Sausen,  unbestimmtem  Lärm,  lautem, 
wirrem  Geschrei,  feiner,  schöner  Musik,  Yogelgesang,  von  Glocken- 
geläute, Kanonenschüssen  und  Salven,  bisweilen  auch  von  deutlichen 
Stimmen,  Jammern  der  Angehörigen,  Scheltworten,  Drohungen  und 
Anklagen.  Dem  Kranken  sollen  Hände  und  Fiisse  abgehackt  werden; 
man  will  ihn  erschiessen,  seine  Kinder  in  einer  Kiste  verschicken. 
Durch  verschiedenartige  absonderliche  Empfindungen  auf  der  Haut 
entsteht  bei  dem  Kranken  die  Idee,  dass  Ameisen,  Kröten,  Spinnen 
auf  derselben  entlang  kriechen;  die  Genitalien  werden  ihm  ab- 
gefressen; die  Därme  fallen  aus  dem  Leibe;  er  fühlt  sich  von 
feinen  Fäden  eingesponnen,  mit  Wasser  angespritzt,  gebissen,  ge- 
stochen, geschossen.  Er  sammelt  Geld,  das  er  massenhaft  herum- 


80 


III.  Die  Vergiftungen. 


liegen  sieht  und  deutlich  in  der  Hand  fühlt,  aber  es  zerrinnt  wie 
Quecksilber.  Was  er  anfasst,  schwindet,  kriecht  zusammen  oder 
wächst  ins  Ungeheure,  um  wieder  zu  zerfallen,  fortzurollen,  weg- 
zufliessen.  Der  unter  dem  Strohsack  versteckte  Nebenbuhler  ent- 
schlüpft immer  in  dem  Augenblicke,  wo  der  Kranke  ihn  sicher  zu 
fassen  glaubt. 

Auf  der  Höhe  des  Deliriums  kann  man  dem  Kranken  fast 
immer  gewisse  Täuschungen  durch  lebhaftes  Einreden  suggeriren. 
Er  sucht  auf  unsere  Aufforderung  das  Ungeziefer  am  Rocke  zu  ent- 
fernen, bemüht  sich,  das  angeblich  heruntergefallene  Geldstück  vom 
Boden  aufzuheben,  legt  behutsam  die  Nadel  auf  den  Tisch,  die  wir 
ihm  vermeintlich  in  die  Hand  gedrückt  haben.  Wie  von  Liep- 
rnann*)  und  Anderen  gezeigt  wurde,  fangen  die  Kranken  sehr 
häufig  an,  über  Gesichtstäuschungen  zu  berichten,  sobald  man  einen 
leichten  Druck  auf  ihren  Augapfel  ausübt,  öfters  auch  noch  in 
der  Genesungszeit.  Sie  sehen  dann  Farben,  Blumen,  Thiere. 
Wörter  und  Buchstaben,  nicht  selten  alles,  was  man  ihnen  gerade 
vorredet. 

Gerade  bei  derartigen  "Versuchen  sieht  man  deutlich,  dass  viele 
dieser  Trugwahrnehmungen  mein-  als  Hlusionen  aufzufassen  sind, 
insofern  die  wirkliche  Wahrnehmung  die  erste  Anregung  zu  den- 
selben liefert.  Die  kleinen  Knoten  und  Unregelmässigkeiten  des 
Gewebes  erscheinen  wie  Flöhe  auf  dem  Bettzeug,  die  Schrammen 
der  Tischplatte  als  Nadeln,  Flecke  am  Boden  als  Münzen;  in  den 
Wänden  öffnen  sich  geheime  Thüren.  Wie  indessen  Bonhöffer 
betont  hat,  ist  der  eigentliche  Ursprung  der  Täuschungen  offenbar 
in  centralen  Vorgängen  zu  suchen.  Dafür  spricht  auch  die  von  mir 
gemachte  Erfahrung,  dass  sich  die  Gesichtstäuschungen  beim  Sehen 
durch  farbige  Gläser  nicht  mitfärben.  Die  Trugwahrnehmungen  treten 
auf,  sobald  die  Aufmerksamkeit  des  Kranken  sich  auf  irgend  ein 
Sinnesgebiet  richtet.  Schon  Liepmann  war  es  gelungen,  Gesichts- 
täuschungen durch  Verhängen  der  Augen  mit  einem  schwarzen 
Tuche  oder  Verdunkelung  des  Zimmers  zu  erzeugen;  nach  Bon- 
höffers  Angaben  genügtes,  den  Kranken  einfach  zu  fragen,  was  er 
sehe,  höre,  fühle,  um  sofort  eine  ganze  Reihe  von  entsprechenden  Trug- 
wahrnehmungen hervorzurufen.  Wir  können  daher  nicht  zweifeln, 


*)  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXV,  1. 


Alkoholismus. 


81 


dass  wir  es  mit  massenhaften  Eigenerregungen  in  den  centralen 
Sinnesflächen  zu  thun  haben.  Die  Gestaltung  derselben  kann  durch 
Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
beeinflusst  werden;  dafür  spricht  nicht  nur  die  Zugänglichkeit  für 
das  Einreden,  sondern  namentlich  auch  der  Zusammenschluss  ver- 
schiedenartiger Täuschungen  zu  einheitlichen  deliriösen  Vorgängen. 

Allerdings  sind  manche  Trugwahrnehmungen  für  den  Kranken 
nichts  als  einfache  Schaustücke,  denen  er  ohne  innere  Betheiligung 
beiwohnt.  So  sah  ein  Kranker  eine  Anzahl  Personen  auf  Motor- 
wagen in  seine  Stube  fahren  und  dort  viele  Stunden  lang  un- 
unterbrochen schmausen,  ohne  ein  Wort  zu  sprechen.  Nachher 
reinigten  sie  den  Boden  und  fuhren  wieder  davon.  Meist  aber 
kommt  es  zur  Aneinanderreihung  mehr  oder  weniger  zusammen- 
hängender Erlebnisse  voll  abenteuerlicher  Einzelheiten.  Der 
Kranke  durchlebt  mit  offenen  Augen  in  bunter  Folge  die  merk- 
würdigsten und  widerspruchsvollsten  Ereignisse  und  vermischt 
dabei  oft  unentwirrbar  wix-kliche  Eindrücke  mit  deliriösen  Wahr- 
nehmungen. Einer  meiner  Kranken  sah  sich  vor  ein  geheimes  Ge- 
richt gestellt,  bei  welchem  Trinker  und  Temperenzler  um  ihn  kämpften. 
Andere  werden  zum  Tode  verurtheilt,  mit  scheusslichem  Gewürm 
eingesperrt,  zum  Abgesandten  Gottes  gemacht,  ins  Bad  geführt,  vom 
Arzt  untersucht,  von  Studenten  mit  Champagner  überschwemmt, 
machen  Festtafeln  und  weite  Spaziergänge  mit,  finden  sich  dann 
plötzlich  wieder  eingesperrt  und  ihrer  Kleider  beraubt,  alle  Ausgänge 
mit  Marmorsäulen  verstellt,  an  die  sie  unversehens  anstossen. 

Meist  spielt  in  den  deliriösen  Erlebnissen  die  gewohnte 
Thätigkeit  eine  hervorragende  Rolle  („Beschäftigungsdelirium“). 
Die  Kranken  glauben  im  Wii’thshause  zu  sein,  bestellen  Schnaps 
oder  eine  Portion  Kalbsbi'aten,  sehen  Getränke  vor  sich,  greifen 
nach  denselben  und  trinken  sie  aus,  hören  Aufträge,  ser viren  den 
„Gästen“,  suchen  nach  dem  „verlegten“  Kellerschlüssel,  oder  sie 
wähnen  sich  mit  irgend  einer  Arbeit  beschäftigt,  packen  Kirschen  in 
Körbe,  nähen  mit  imaginären  Fäden,  klopfen  mit  einem  eingebildeten 
Hammer,  zügeln  ihre  ungeberdigen  Pferde  u.  dergl.  Alle  diese 
Hantirungen  werden  mit  grosser  Ausführlichkeit  vorgenommen,  genau 
wie  im  wirklichen  Leben.  Auf  Grund  dieser  Delirien  bildet  sich 
für  den  Kranken  eine  völlige  wahnhafte  Verfälschung  seiner  Lage 
und  der  sich  abspielenden  Ereignisse  heraus.  Dennoch  gewinnen  diese 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Anfl.  U.  Band.  6 


82 


III.  Die  Vergiftungen. 


Wahnvorstellungen  eine  auffallend  geringe  Macht  über  sein  Denken 
und  Handeln.  Er  pflegt  sie  nicht  weiter  zu  verarbeiten,  vergisst  sie 
rasch  wieder,  lässt  sich  davon  abbringen,  macht  nicht  viel  Aufhebens 
davon.  Niemals  kommt  es,  wie  Bonhöf fer  richtig  bemerkt,  zu 
einer  wahnhaften  Veränderung  des  Persönlichkeitsbewusstseins.  Die 
Kranken  wissen  immer  genau,  w7er  und  was  sie  sind,  lassen  sich 
auch  in  dieser  Hinsicht  nichts  einreden. 

Der  Gedankengang  der  Kranken  ist  meist  leidlich  zusammen- 
hängend; sie  pflegen  nicht  eigentlich  verwirrt  zu  sein  Doch  besteht 
immer  eine  ausserordentliche  Ablenkbarkeit.  Die  Zielvorstellungen 
sind  flüchtig  und  von  geringer  Stärke.  Zwischenfragen,  zufällige 
Eindrücke,  wol  auch  Sinnestäuschungen  oder  auftauchende  Vor- 
stellungen genügen,  um  den  Gedankengang  zu  hemmen  und  in 
andere  Bahnen  zu  leiten.  Die  Kranken  sind  unfähig,  ihre  Gedanken 
zu  sammeln,  sich  rasch  zu  besinnen,  schwierigere  geistige  Aufgaben 
zu  lösen,  Widersprüche  zu  erkennen,  ihre  Lage  zu  beurtheilen. 
Doch  tritt  öfters  ein  gewisses  unklares  Krankheitsbewusstsein  hervor. 
Alle  diese  Eigenthümlichkeiten  erinnern  uns  in  hohem  Grade  an 
das  Verhalten  des  Traumes;  sie  deuten  darauf  hin,  dass  die  Vor- 
stellungen nur  unvollkommen  und  einseitig  beleuchtet  sind  und  nicht 
in  ihrem  ganzen  Umfange  überblickt  werden.  Auch  die  Lebhaftig- 
keit der  deliriösen  Bilder  sowie  den  Verlust  der  zeitlichen,  räum- 
lichen und  sachlichen  Orientirung  ohne  Beeinträchtigung  des  Per- 
sönlichkeitsbewusstseins finden  wir  ähnlich  im  Traume  wieder. 

Die  Merkfähigkeit  für  vorgesagte  Wörter  und  Zahlen  ist  bei 
den  Kranken  nach  Bonhöffers  Untersuchungen  bedeutend  herair- 
gesetzt; besser  werden  Bilder  wieder  erkannt,  weil  sie  mehr  An- 
knüpfungen darbieten.  Das  Gedächtniss  für  frühere  Ereignisse 
und  Kenntnisse  ist  in  der  Regel  ungestört.  Die  Kranken  sind  im 
Stande,  über  ihr  Vorleben,  ihr  Geschäft  eingehende,  richtige  Angaben 
zu  machen;  nur  in  schweren  Fällen  laufen  auch  hier  Ungeuauig- 
keiten  und  Fehler  mit  unter.  Die  Erlebnisse  der  jüngsten  Vergangen- 
heit dagegen  werden  rasch  vergessen,  verändert,  verwechselt;  jeden- 
falls geht  ihre  zeitliche  Ordnung  völlig  verloren.  Vielfach  treten  dabei 
Erinnerungsfälschungen  auf,  die  anscheinend  im  Augenblicke 
frei  entstehen.  Die  Kranken  erzählen,  dass  sie  gerade  verreist  ge- 
wesen seien,  Besuch  erhalten,  eine  Arbeit  fertig  gestellt  hätten,  lassen 
sich  in  ihren  Angaben  durch  Einwände  und  Zureden  bestimmen; 


Alkoholismus. 


83 


diese  Erscheinung  erinnert  uns  an  das  ebenfalls  vielfach  auf  alkoho- 
lischem Boden  erwachsende  polyneuritische  Irresein. 

Die  Stimmung  der  Kranken  steht  im  allgemeinen  mit  dem 
Inhalte  der  Delirien  in  nahem  Zusammenhänge.  Sie  ist  daher  bald 
ängstlich,  schreckhaft,  bald  eigen thümlich  humoristisch.  Bei  dem 
raschen  Wechsel  der  deliriösen  Erlebnisse  ändert  sich  auch  der 
Stimmungshintergrund  häufig  ganz  unvermittelt.  Der  Kranke,  dem 
der  Angstschweiss  auf  der  Stirn  steht,  macht  sich  über  seine  eigene 
Lage  lustig,  bringt  witzige  Bemerkungen  vor,  schildert  in  spasshafter 
Weise  seine  Täuschungen ; Lachen  und  Todesfurcht  folgen  kurz  auf- 
einander. Meist  bildet  sich  auf  diese  Weise  ein  ungemein  bezeichnen- 
des Gemisch  von  geheimer  Angst  und  Humor  heraus.  Der  Kranke 
wird  durch  die  Schreckbilder  und  die  Unklarheit  seiner  Lage  be- 
unruhigt, empfindet  aber  doch  gleichzeitig  mehr  oder  weniger  deut- 
lich die  lächerlichen  Unmöglichkeiten  und  Widersprüche  in  seinen 
deliriösen  Erlebnissen. 

Im  Benehmen  und  Handeln  des  Kranken  fällt  regelmässig 
eine  ausgeprägte  Unruhe,  vielfach  auch  grosse  Schwatzhaftigkeit 
auf.  Seine  Antworten  erfolgen,  wenn  überhaupt,  rasch  und  ohne 
langes  Besinnen.  Er  ist  völlig  ausser  Stande,  sich  wirklich  geordnet 
zu  beschäftigen,  wird  vielmehr  durch  die  Täuschungen  vollkommen 
in  Anspruch  genommen.  Selten  lässt  er  dieselben  einfach  an  sich 
vorüberziehen;  meist  veranlassen  sie  ihn  zu  lebhaften  Aeusserungen. 
Er  antwortet  laut  auf  die  rufenden  Stimmen,  vertheidigt  sich  gegen 
die  Vorwürfe,  bleibt  nicht  im  Bett,  drängt  zur  Thür  hinaus,  weil  es 
bereits  die  höchste  Zeit  zu  seiner  Hinrichtung  sei,  Alle  schon  auf 
ihn  warten.  Ueber  die  wunderlichen  Thiere  belustigt  er  sich, 
schreckt  vor  den  schwirrenden  Vögeln  zurück,  sucht  das  Gewürm 
wegzuwischen,  die  Käfer  zu  zertreten,  greift  mit  gespreizten  Eingern 
nach  den  Flöhen,  sammelt  das  überall  herumliegende  Geld  auf,  sucht 
die  ihn  umspinnenden  Fäden  zu  zerreissen,  hüpft  mit  peinlicher 
Anstrengung  über  die  an  der  Erde  gezogenen  Drähte  hinweg.  Dazu 
gesellen  sich  die  mannigfachsten  Handlungen,  welche  aus  dem  oben 
erwähnten  Beschäftigungsdelirium  hervorgehen.  Verhältnissmässig 
selten  kommt  es  auch  wol  einmal  zu  plumpen  Angriffen  auf  die 
für  feindselig  gehaltene  Umgebung  oder  zu  ernsthafteren  Selbst- 
mordversuchen. Häufiger  verunglücken  die  Kranken  in  ihren 
deliriösen  Unternehmungen.  Einer  meiner  Kranken  stürzte  sich  in 

6* 


84 


III.  Die  Vergiftungen. 


der  Haft  aus  Angst  vor  dem  eintretenden  Diener  zwei  Treppen  hoch 
aus  dem  Fenster  und  brach  den  Radius;  ein  Student  zwängte  sich 
durch  das  Fenster  seines  Zimmers,  um  auf  einen  hallucinirten 
Bahnsteig  zu  gelangen,  fiel  auf  das  Geländer  des  einen  Stock  tiefer 
gelegenen  Balkons  und  blieb  dort  im  weichen  Schnee  liegen,  ohne 
sich  verletzt  zu  haben. 

Auf  sensiblem  Gebiete  können  Paraesthesien,  Hyperaestbesien, 
Anaesthesien  und  Analgesien  bestehen,  wie  sie  den  chronischen 


Alkoholismus  überhaupt  zu  begleiten  pflegen.  Die  Bewegungen  sind 
plump,  ungeschickt,  fahrig;  oft  besteht  grosse  Hinfälligkeit  und 
Muskelschwäche.  Der  Gang  ist  meist  unsicher  imd  taumelnd.  Die 
Sprache  zeigt  öfters  ataktische  und  paraphasische  Störungen,  Ver- 
sprechen, Verwechseln  von  Buchstaben  und  Wörtern;  sie  kann  in 
schweren  Fällen  lallend  und  ganz  unverständlich  werden.  Das  auf- 
fallendste Zeichen  aber,  welches  der  Krankheit  den  Namen  gegeben 
hat,  ist  das  starke,  an  Zunge  und  gespreizten  Fingern  regelmässig 
sehr  deutlich  hervortretende  Zittern,  welches  sich  auch  noch  weiter 
über  Gesicht  und  Extremitäten  ausbreiten  kann.  Sehr  schön  prägt 


Schriftprobe  I.  Alkoholisches  Zittern. 


Alkoholismus. 


85 


sich  dieses  Zittern  in  der  beiliegenden  Schriftprobe*)  aus,  die  auf 
den  ersten  Blick  den  Eindruck  einer  paralytischen  macht.  Die 
Regelmässigkeit  der  Wellenlinien,  wie  sie  besonders  in  den  langen 
Zügen  hervortritt,  weist  indessen  auf  die  alkoholische  Entstehung 
hin.  In  einzelnen,  besonders  schweren  Fällen  treten  auch  stärkere 
Muskelstösse  und  selbst  tonische  Spannungen  auf,  wahrscheinlich 
als  Theilerscheinungen  der  Alkoholepilepsie.  Bisweilen  beobachtet 
man  Zähneknirschen.  Die  Gesichtszüge  sind  schlaff;  häufig  machen 
sich  einzelne  unwillkürliche  Zuckungen  und  Mitbewegungen  bemerk- 
bar. Recht  häufig  sind  schwere  epileptiforme  Krämpfe,  die  in 
etwa  10  °/0  der  Fälle  1 — 2 Tage  vor  Ausbruch  der  Erkrankung, 
seltener  während  derselben  auftreten.  Die  Reflexerregbarkeit 
ist  meist  gesteigert,  besonders  hochgradig  kurz  vor  epileptischen  An- 
fällen. In  vereinzelten,  mit  derartigen  Krämpfen  sehr  heftig  ein- 
setzenden Fällen  scheinen  nach  Bonhöf  fers  Schilderung  gröbere 
Herderscheinungen,  Facialislähmung  und  Hemiparesen  vorzukommen, 
die  ungemein  rasch  wieder  verschwinden. 

Der  Schlaf  ist  im  Delirium  tremens  nahezu  gänzlich  aufge- 
hoben; die  Unruhe  pflegt  sich  gegen  Abend  zu  steigern  und  dauert 
ohne  jede  oder  doch  nur  mit  sehr  geringen  Unterbrechungen  fort, 
wenn  nicht  der  Eintritt  soporöser  Zustände  eine  ungünstige  Wendung 
des  Krankheitsverlaufes  ankündigt.  Die  Ernährung  ist  durch  die 
ängstliche  Erregung  der  Kranken,  durch  den  regelmässig  bestehen- 
den Katarrh  des  Mundes  und  Magens  sowie  durch  gelegentliche  Ver- 
giftungsideen  mit  Nahrungsverweigerung  empfindlich  beeinträchtigt; 
das  Körpergewicht  pflegt  erheblich  zu  sinken.  Die  Eigenwärme  soll 
nach  den  Angaben  von  Friis  und  Jacobson  auch  in  80 — 90 °/0 
derjenigen  Fälle  erhöht  sein,  die  nicht  mit  anderweitigen  körperlichen 
Erkrankungen  einhergehen.  Ihr  Höhepunkt  wird  am  1.  oder  2.  Tage 
erreicht;  dann  erfolgt  langsames  oder  plötzliches  Sinken.  Bisweilen 
schiebt  sich  ein  fieberloser  Tag  in  den  sonst  fieberhaften  Verlauf  ein. 
In  einzelnen  Fällen  erreicht  die  Temperatursteigerung  eine  gefähr- 
liche Hartnäckigkeit  und  Höhe  (bis  zu  43  °)  mit  tödtlichem  Ausgange 
(Delirium  tremens  febrile  von  Magnan);  es  dürfte  sich  hier 
wol  immer  um  Infectionen  handeln,  für  deren  Zustandekommen  bei 
der  Unempfindlichkeit  und  geringen  Widerstandsfähigkeit  der  Kranken 


')  Dieselbe  ist,  wie  alle  folgenden,  auf  2,3  verkleinert. 


86 


III.  Die  Vergiftungen. 


sehr  günstige  Bedingungen  gegeben  sind.  Die  Pulsgeschwindigkeit 
ist  beschleunigt,  weniger  diejenige  der  Athraung;  häufig  treten  starke 
Schweisse  auf.  Im  Harn  fand  Liepmann*)  auf  der  Höhe  der 
Krankheit  in  76%  der  Fälle  Eiweiss,  in  26%  sogar  grössere  Mengen. 
Meist  verschwand  das  Eiweiss  mit  dem  Aufhören  des  Deliriums  sehr 
rasch;  in  24%  der  Fälle  Hess  es  sich  auch  später  noch  nachweisen, 
stand  also  wahrscheinlich  mit  den  allgemeinen  Veränderungen  des 
chronischen  Alkoholismus  in  Zusammenhang.  Albumosen  fanden 
sich  verhältnissmässig  selten,  ungemein  häufig  dagegen  Nucleoalbumin. 
Von -erheblicher  Bedeutung  für  das  Verständniss  des  DeUrium  tremens 
sind  endlich  vielleicht  noch  die  von  Eisholz**)  erhobenen  Blut- 
befunde. Er  konnte  nachweisen,  dass  die  Zahl  der  weissen  Blut- 
körperchen auf  der  Höhe  der  Krankheit  nicht  selten  vermehrt  ist 
Ganz  besonders  nahmen  die  polynucleären  Formen  zu,  während  die 
eosinophilen  Formen  verschwanden. 

Der  Verlauf  des  Delirium  tremens  ist  meist  ein  rascher  und 
günstiger.  Die  Genesung  vollzieht  sich  unter  dem  Eintritte 
von  Schlaf,  gewöhnHch  mit  einem  Male,  oder  aber  unter  aümäh- 
lichem  Zurücktreten  der  Sinnestäuschungen,  die  noch  in  beschränktem 
Grade  fortbestehen  können,  wenn  der  Kranke  schon  im  Stande  ist, 
sie  zu  berichtigen.  Mit  dem  Schlafe  hört  die  Unruhe  und  das  starke 
Zittern  auf,  während  der  feinschlägige  Tremor  des  chronischen  Alkoho- 
listen  zurückbleibt.  Die  Eigenwärme  sinkt;  der  Puls  fällt  plötzUch; 
das  Eiweiss  im  Harn  verschwindet,  und  die  oben  erwähnten  Blut- 
veränderungen bilden  sich  zurück,  verkehren  sich  sogar  zunächst  nicht 
selten  in  ihr  Gegentheil,  um  dann  allmählich  dem  gewöhnlichen  Ver- 
halten zu  weichen.  So  erweisen  sich  die  eosinophilen  Formen  bis- 
weilen längere  Zeit  hindurch  sehr  stark  vermehrt,  während  die  Zahl 
der  polynucleären  Leukocythen  bedeutend  zurücktritt.  Xach  Jacob- 
sons***) Uebersicht  stellt  sich  der  Schlaf  in  80%  der  Fälle  ohne 
sonstige  Erkrankung  nach  drei  Tagen  ein ; die  kürzeste  von  ihm  be- 
obachtete Dauer  des  DeHriams  war  1% — 2,  die  längste  5 Tage.  Die 
Erinnerung  an  die  wahnhaften  Erlebnisse  ist  im  Gegensätze  zu  den 
Krankheitszuständen  mit  sehr  tiefer  Bewusstseinstrübung  oft,  wenn 


*)  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXVIII,  570. 

**)  Jahrbücher  f.  Psychiatrie,  XV,  2.  u.  3. 

***)  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  221. 


Alkoholisnius. 


87 


auch  nicht  immer,  bis  in  die  Einzelheiten  klar.  Spätere  Wieder- 
erkrankungen sind  aus  nahe  liegenden  Gründen  ungemein  häufig. 

In  ungünstig  verlaufenden  Fällen  treten  früher  oder  später  die 
psychischen  Lähmungserscheinungen  stärker  hervor.  Die  Kranken 
werden  unbesinnlich,  deliriren  ganz  zusammenhangslos;  die  Be- 
wegungen werden  schwächer  und  schlaffer;  der  Puls  wird  klein, 
frequent,  unzählbar,  und  unter  rascher  Zunahme  der  Benommenheit 
oder  in  plötzlichem  Zusammenbruche  tritt  der  Tod  ein.  Dieser  Aus- 
gang ist  bei  sorgsamer  Anstaltsbehandlung  in  etwa  3 — 5°/0,  nach 
Jacobsons  Angaben  sogar  in  19°/0  der  Fälle  zu  erwarten..  Die 
wichtigste  Todesursache  bilden  die  Pneumonie,  welche  die  Sterblich- 
keit auf  40.5 °/0  steigert,  ferner  Herzschwäche,  Blutvergiftung  in 
Folge  von  Verletzungen,  endlich  Selbstmord  und  Unglücksfälle. 

Die  Leichenöffnung  pflegt  sehr  hochgradige  venöse  Stauungen 
und  Oedeme  des  Schädelinhaltes  zu  ergeben.  Bonhöffer*)  fand 
namentlich  in  den  Radiärfasern  der  Centralwindung,  im  Mark- 
lager des  Kleinhirnwurms,  aber  auch  in  den  Vorder-  und  Seiten- 
strängen des  Rückenmarkes  erheblichen  Faserschwund;  Schläfen- 
lappen und  Broca’sche  Windung  erwiesen  sich  als  wenig  oder 
gar  nicht  verändert.  An  den  grossen  Pyramiden  und  den  motori- 
schen Zellen  der  vorderen  Centralwindung  war  die  Zeichnung 
der  ungefärbten  Substanz  mehr  oder  weniger  verloreu  gegangen; 
die  Fortsätze  waren  auffallend  weit  gefärbt.  Hie  und  da  liessen 
sich  Kernveränderungen  erkennen.  Eine  Anzahl  von  Zellen  er- 
schien in  Auflösung  begriffen.  Entsprechende  Umwandlungen  er- 
gaben sich  an  den  Purkin j e’schen  Zellen.  Nissl  konnte  ebenfalls 
eine  theilweise  Vernichtung  der  Rindenzellen  nachweisen.  Ferner 
fand  sich  eine  Veränderung,  die  an  andere  acute  Zellerkrankungen 
erinnerte,  Färbung  der  ungefärbten  Substanz,  insbesondere  des  Axen- 
cylinderfortsatzes,  Lockerung  der  Zellsubstanz  und  leichte  Schwellung. 
Daneben  bestanden  chronische  Zellveränderungen  und  Gliawucherung. 
EinTheil  dieser  Veränderungen  dürfte  auf  den  chronischen  Alkoholis- 
mus zu  beziehen  sein.  Dahin  gehören  auch  die  miliaren  Blutunge  n, 
die  sich  hie  und  da,  besonders  in  der  Gegend  der  Augenmuskel- 
keme,  finden,  ferner  die  Gefässerkrank ungen.  Ebenso  sind  wol  die 
so  häufige  Verfettung  und  Entartung  des  Herzens,  die  Cirrhose 


*)  Monatsschr.  f.  Psychiatrie  u.  Neurologie,  I,  229. 


88 


III.  Die  Vergiftungen. 


und  Verfettung  der  Leber,  die  Nierenveränderungen  aufzufassen. 
Dagegen  glaubt  Jacobson  für  das  Delirium  tremens  die  Erfahrung 
verwertben  zu  können,  dass  in  45  von  72  Todesfällen  acute  Hyper- 
plasie, in  weiteren  9 Fällen  Hyperämie  der  Milz  gefunden  wurde. 

In  einer  kleinen  Zahl  von  Fällen  gelangt  das  Delirirm  tremens 
mit  dem  Eintritte  von  Schlaf  noch  nicht  zum  Abschlüsse.  Zunächst 
kommt  es  vor,  dass  sich  nach  wenigen  Tagen  ein  zweiter  Anfall 
des  Deliriums  entwickelt,  der  dann  in  Genesung  übergeht.  Weiter- 
hin aber  kann  sich  mit  dem  Schwinden  des  deliriösen  Zustandes  das 
Krankheitsbild  vollständig  ändern.  So  weist  Bonböffer  darauf  hin, 
dass  anscheinend  einfache  Delirien  nicht  selten  in  polyneuritische 
Geistesstörungen  übergehen.  Ich  selbst  habe  Gelegenheit  gehabt,  in 
einer  Reihe  von  Fällen  andersartige  psychische  Erkrankungen  nach 
dem  Ablaufe  des  Delirium  tremens  zu  beobachten.  Einmal  sah  ich 
einen  nach  zwei  Monaten  günstig  verlaufenden  Zustand  auftreten, 
der  mit  seinen  eigentümlichen  Gehörstäuschungen  und  Wahn- 
bildungen einigermassen  an  den  später  zu  schildernden  Alkohol- 
wahnsinn erinnerte.  Andererseits  ist  mir  in  den  letzten  Jahren  mehr- 
fach der  Ausgang  des  Delirium  tremens  in  einen  eigenartigen 
Schwachsinn  begegnet,  der  noch  keine  genauere  Beachtung  gefunden 
zu  haben  scheint. 

Mit  dem  Schwinden  der  Sinnestäuschungen,  der  Desorientirung, 
der  Unruhe  werden  die  Kranken  nicht  frei  und  einsichtig.  Sie  sind 
zwar  besonnen,  geordnet,  klar,  erkennen  auch  wol  an.  dass  sie  krank 
gewesen  sind,  delirirt  haben,  bleiben  aber  zurückhaltend  und  miss- 
trauisch; bisweilen  lässt  sich  das  Fortbestehen  einzelner  Täuschungen 
naclnveisen,  namentlich  im  Bereiche  des  Gehörs.  Allmählich  treten 
Verfolgungsideen  hervor,  deren  Richtung  vielfach  zu  wechseln  pflegt. 
Sie  glauben  beschimpft  zu  werden;  man  reizt  sie.  zeigt  ihnen  die 
Zunge,  greift  ihnen  an  die  Geschlechtstheile,  treibt  ihnen  Nachts 
den  Samen  ab,  elektrisirt  sie.  Ein  Kranker  hielt  Jahr  und  Tag 
hartnäckig  an  der  Vorstellung  fest,  dass  man  seinen  Leichnam  an 
die  Anatomie  verkaufen  wolle,  bat  allen  Ernstes,  man  möge  ihn 
nicht  hinterrücks  überfallen,  sondern  sanft  einschläfern.  Irgend  eine 
Weiterentwicklung  der  Wahnideen  findet  nicht  statt;  sie  bleiben 
vielmehr  ganz  einförmig,  werden  fast  mit  denselben  Wendungen 
immer  wieder  vorgebracht.  Hie  und  da  gesellen  sich  vorübergehend 
einmal  Grössenideen  hinzu,  die  in  scherzhafter  Form  geäussert  und 


Alkoliolismus. 


89 


nicht  festgehalten  werden.  Das  Urtheil  über  die  Umgebung  ist  in 
der  Regel  ein  ganz  treffendes;  dennoch  lässt  sich  ein  erheblicher 
Grad  von  geistiger  Schwäche  und  Stumpfheit  trotz  guten  Gedächt- 
nisses nicht  verkennen. 

Die  Stimmung  ist  halb  ängstlich  oder  ärgerlich,  halb  humoristisch; 
die  Kranken  machen  gern  Witze  und  scherzhafte  Bemerkungen  über 
sich  und  Andere,  können  aber  auch  in  heftige  Erregung  gerathen. 
Im  allgemeinen  pflegen  sie  gutmüthig,  leicht  lenksam  und  willens- 
schwach zu  sein.  Die  bemerkenswertheste  Eigenthümlichkeit  dieser 
Zustände  sind  die  deutlichen  Schwankungen,  die  sie  darbieten. 
Zu  Zeiten  erscheinen  die  Kranken  leidlich  einsichtig,  meinen  selbst, 
dass  sie  krank  seien,  wissen  nicht,  wie  sie  zu  den  dummen  Ideen 
kommen,  beschäftigen  sich,  verkehren  freundlich  mit  ihren  angeb- 
lichen Peinigern.  Zu  andern  Zeiten  werden  sie  ohne  erkennbaren 
Anlass  gereizt,  bringen  die  alten  Klagen  vor,  halluciniren,  schimpfen, 
drohen,  werden  auch  wol  gewaltthätig,  sind  aber  meist  durch  Zu- 
spruch leicht  zu  beruhigen.  Bisweilen  ist  ein  solcher  Anfall  schon 
nach  wenigen  Tagen  vorüber,  so  dass  man  an  epileptische  Erregungs- 
zustände erinnert  wird;  in  anderen  Fällen  besteht  dauernd  ein  ge- 
wisses Misstrauen,  das  sich  nur  gelegentlich  in  heftigeren  Aus- 
brüchen entladet.  Soviel  ich  bisher  feststellen  konnte,  scheinen  diese 
Schwächezustände  sich  nicht  mehr  auszugleichen. 

Unter  den  Deliranten  überwiegt  aus  nahe  liegenden  Gründen 
das  männliche  Geschlecht  ganz  bedeutend.  Jacobson  sah  unter  300 
derartigen  Kranken  nur  19  Weiber;  74 °/0  der  Kranken  standen 
zwischen  dem  30.  und  50.  Lebensjahre. 

Die  eigentlichen  Ursachen  des  Delirium  tremens  sind  noch 
dunkel.  Man  nimmt  gewöhnlich  an,  dass  sich  dasselbe  ganz  be- 
sonders gern  an  irgend  eine  schwächende  Einwirkung  anschliesst, 
namentlich  an  Verletzungen,  fieberhafte  Erkrankungen,  starke  ge- 
müthliche  Erregungen  (Verhaftung).  Jacobson  hat  indessen  darauf 
hingewiesen,  dass  immerhin  die  weit  überwiegende  Zahl  von  Delirien 
ohne  erkennbare  äussere  Ursache  ausbricht.  Er  fand  unter  280  Fällen 
nur  14,  in  denen  eine  einigermassen  erhebliche  Verletzung  voraus- 
gegangen war,  und  auch  hier  war  meist  ein  ursächlicher  Zusammen- 
hang unwahrscheinlich,  oder  die  Verletzung  erschien  geradezu  als 
die  Folge  der  beginnenden  deliriösen  Benommenheit,  namentlich  ein- 
leitender Krampfanfälle.  Verhältnissmässig  häufig  bricht  das  Delirium 


90 


III.  Die  Vergiftungen. 


am  3.  oder  4.  Tage  einer  Pneumonie  aus.  Auch  gehäuftes  Trinken 
dürfte  nicht  ohne  Bedeutung  sein.  Endlich  aber  ist.  wie  ich  glaube, 
auf  die  schwere  chronische  Schädigung  der  allgemeinen 
Ernährung  Gewicht  zu  legen.  Von  den  meisten  Deliranten  erfährt 
man,  dass  sie  in  Folge  ihres  Magenkatarrhs  seit  Wochen  oder  Mo- 
naten sehr  wenig  Nahrung  zu  sich  genommen  haben.  Gar  keine  be- 
sondere Wirkung  dagegen  möchte  ich  der  plötzlichen  Entziehung  des 
Alkohols  zuschreiben,  die  von  manchen  Seiten  als  die  wichtigste  Ursache 
des  Deliriums  angesehen  wird.  Die  Störung  bricht  vielfach  trotz  fort- 
gesetzten Alkoholgenusses  und  ebenso  noch  längere  Zeit  nach  völliger 
Entziehung  desselben  aus.  Einen  Epileptiker  sah  ich  nach  14tägiger 
Haft  im  Anschlüsse  an  einen  epileptischen  Dämmerzustand  ein  un- 
zweifelhaftes Delirium  tremens  durchmachen. 

Jedenfalls  bestehen  unverbrüchliche  Beziehungen  zwischen 
Delirium  tremens  und  chronischem  Alkoholismus.  Namentlich  der 
Schnaps  spielt  in  dieser  Beziehung  die  Hauptrolle,  aber  auch  der 
Wein,  weniger  das  Bier.  Gleichwol  trägt  das  Delirium  tremens 
durchaus  andere  Züge,  als  die  uns  so  wohlbekannte  Alkoholvergiftung. 
Ihm  fehlt  vor  allem  die  Ideenflucht,  während  es  auf  der  anderen 
Seite  in  den  ungemein  lebhaften  Sinnestäuschungen  ganz  neue, 
eigenartige  Krankheitszeichen  aufweist.  Dazu  kommt,  dass  die  Krank- 
heit innerhalb  weniger  Tage  schwindet,  selbst  wenn  Alkohol  fort- 
gegeben  wird,  dass  sie  nach  längerer  Enthaltsamkeit  doch  noch  auf- 
treten  kann,  und  dass  sie  durchaus  nicht  jeden  Trinker  befällt, 
auch  wenn  derselbe  sonst  die  Zeichen  des  chronischen  Alkoholismus 
deutlich  darbietet.  Aus  diesen  Erwägungen  scheint  mir  hervor- 
zugehen, dass  bei  der  Entstehung  des  Deliriums  ausser  dem  Alkohol- 
missbrauche noch  irgend  ein  besonderer  Umstand  mitwirken  muss, 
den  wir  bisher  nicht  kennen.  Ich  bin  geneigt,  anzunehmen,  dass 
hier  die  mannigfaltigen  und  schweren  Organ  Veränderungen  eine 
Rolle  mitspielen,  welche  der  chronische  Alkoholismus  erzeugt  Wahr- 
scheinlich kommt  es,  wie  ja  auch  die  Blutarmuth  und  der  Fettreich- 
thum der  Trinker  zeigen,  zu  tiefgreifenden  Stoffwechselstörungen,  in 
deren  Verlaufe  irgend  ein  ungünstiges  Ereigniss  jene  Gleichgewichts- 
schwankung hervorrufen  kann,  die  sich  uns  klinisch  als  Delirium 
tremens  darstellt. 

Zu  ähnlichen  Ansichten  sind  eine  Reihe  von  anderen  Forschern 
gekommen.  Jacobson  weist  besonders  noch  auf  die  Möglichkeit 


Alkoholismus. 


91 


einer  Aufnahme  von  Zersetzungsstoffen  aus  dem  Darme  hin,  und 
auch  Eisholz  tritt  im  Hinblicke  auf  die  von  ihm  nachgewiesenen 
Blutveränderungen  für  die  Annahme  einer  eigenartigen  Selbstver- 
giftung ein.  Er  meint,  dass  der  Alkohol  gewissermassen  als  Gegen- 
gift gegen  das  im  Körper  gebildete  Gift  wirke,  und  führt  darauf 
den  Drang  des  Trinkers  zum  Alkohol  wie  die  bessernde  Wirkung 
des  letzteren  auf  die  Ataxie  und  das  morgendliche  Erbrechen  zu- 
rück. Ich  möchte  dagegen  glauben,  dass  zur  Erklärung  der  an- 
geführten Erfahrungen  die  narkotisirenden,  die  euphorischen,  psycho- 
motorisch anregenden  und  weiterhin  den  Willen  lähmenden  Wirkungen 
des  Alkohols  völlig  ausreichen.  Immerhin  deuten  die  Befunde  im 
Blute  wie  im  Harn,  die  beide  weder  durch  unmittelbare  Alkoholwirkung 
noch  durch  Fieber  zu  Stande  kommen,  ferner  die  häufigen  Steige- 
rungen der  Eigenwärme  und  endlich  das  ganz  eigenartige  psychische 
Krankheitsbild  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  darauf  hin,  dass  wir 
es  im  Delirium  tremens  nicht  mit  einer  einfachen  Steigerung  der 
chronischen  Alkoholvergiftung,  sondern  mit  einer  wesentlich  anders- 
artigen Vergiftung  zu  thun  haben,  die  durch  den  Alkoholmissbrauch 
nur  vorbereitet  wird.  Wir  beobachten  übrigens  bei  sicher  nicht 
trinkenden  Paralytikern  bisweilen  rasch  verlaufende  Erregungs- 
zustände, die  dem  Delirium  tremens  ganz  ausserordentlich  ähn- 
lich sind. 

Eine  gewisse  Bestätigung  der  hier  entwickelten  Anschauung 
scheinen  mir  auch  die  nicht  seltenen  Fälle  von  abgekürzten  und  nur 
angedeuteten  Formen  des  Delirium  tremens  zu  liefern.  Hier  kommt  es 
vorübergehend  zu  einzelnen  schlaflosen  Nächten,  zu  leichter  Aengst- 
lichkeit  und  Benommenheit  mit  einzelnen  Sinnestäuschungen  und 
rasch  berichtigten  Wahnbildungen.  Auch  nächtliche  Sinnestäuschungen 
ohne  weitere  psychische  Störung  bei  voller  Krankheitseinsicht  kommen 
bisweilen  vor.  Sehr  viele  meiner  Kranken  hatten  vor  dem  ausge- 
prägten Delirium  solche  leichtere  Anfälle  durchlebt,  ein  Zeichen 
dafür,  dass  die  Störung  öfters  schon  längere  Zeit  vorbereitet  ist, 
bevor  der  endgültige  Ausbruch  erfolgt.  Eine  Frau  begab  sich 
schon  ein  Vierteljahr  vorher  immer  mit  einer  Gabel  bewaffnet 
zu  Bett,  weil  sie  die  unbestimmte  Furcht  hatte,  abgeholt  und  fort- 
geschleppt zu  -werden.  Ein  anderer  Kranker  suchte  sich  mehr- 
fach durch  Schiessen  gegen  die  ihn  bedrohenden  Gestalten  zu  ver- 
teidigen. 


92 


III.  Die  Vergiftungen. 


Die  Erkennung  des  Delirium  tremens  bietet  bei  genauer 
Beachtung  des  Krankheitsbildes  gewöhnlich  keinerlei  Schwierigkeiten. 
Den  oben  erwähnten  paralytischen  Kranken  fehlt  der  Humor  der 
Trinker;  auch  pflegen  sie  weniger  mittheilsam  und  benommener  zu 
sein.  Die  schweren  Dämmerzustände  mit  Herderscheinungen,  wie 
sie  bisweilen  im  Anschlüsse  an  einen  Krampfanfall  die  Einleitung 
des  Deliriums  bilden,  können  mit  Meningitis  verwechselt  werden 
bis  die  rasche  Besserung  und  das  Hervortreten  der  bekannten 
Krankheitszeichen  die  Sachlage  klärt.  Man  wird  dabei  das  Fehlen 
der  Nackenstarre  zu  beachten  haben.  Recht  häufig  sind  Mischungen 
von  Eieberdelirien  oder  epileptischen  Dämmerzuständen  mit  Delirium 
tremens.  Meist  findet  man  hier  eine  stärkere  Bewusstseinstrübung, 
bei  der  Epilepsie  auch  verworrene  Wahnvorstellungen,  besonders 
religiösen  Inhalts,  während  der  alkoholische  Einfluss  sich  in  der 
Unruhe,  den  lebhaften  Sinnestäuschungen,  dem  Beschäftigungsdelirium 
und  dem  Zittern  bemerkbar  macht.  Aehnliches  gilt  von  der  Mischung 
paralytischer  und  alkoholischer  Delirien,  denen  die  Verfälschung  des 
Persönlichkeitsbewusstseins  ihre  eigenthümliche  Färbung  giebt.  Die 
seltenen  schwachsinnigen  Endzustände  nach  Delirium  tremens  werden 
vielfach  als  Paranoia  aufgefasst.  Was  sie  davon  unterscheidet,  ist 
das  Fehlen  jeder  Systematisirung  und  Fortentwicklung  der  Wahn- 
vorstellungen, ihr  geringer  Einfluss  auf  das  Handeln,  endlich  das 
deutliche  Schwanken  zwischen  halber  Einsicht  und  wahnhafter  Be- 
fangenheit im  Zusammenhänge  mit  Stimmungsänderungen. 

Die  Behandlung  des  Delirium  tremens  hat  sich  vor  allem 
jedes  schwächenden  Eingriffes  zu  enthalten  und  für  die  möglichste 
Erhaltung  der  Kräfte  durch  gute  Ernährung  (Milch)  Sorge  zu 
tragen.  Schon  von  vorn  herein  ist  bei  körperlich  erkrankten  Trinkern 
stets  die  Möglichkeit  eines  eintretenden  Delirium  tremens  ins  Auge 
zu  fassen  und  daher  nach  den  angedeuteten  Gesichtspunkten  zu  ver- 
fahren. In  einer  grossen  Zahl  von  Fällen  wird  man  mit  dem  rein 
zuwartenden  Verfahren  vollständig  auskommen.  Bisweilen  jedoch 
erscheint  es  nothwendig,  die  Unruhe  und  Schlaflosigkeit  entschieden 
zu  bekämpfen.  Zu  diesem  Zwecke  wird  man  sich  des  Paraldehyd, 
des  Sulfonal  oder  Trioual  bedieneu;  das  Chloralhydrat  ist  nicht  un- 
gefährlich. Freilich  versagen  oft  alle  Schlafmittel,  v.  Krafft-Ebing 
hat  dringend  die  bis  zum  Eintreten  des  Schlafes  alle  2 — 3 Stunden 
wiederholte  subcutane  Anwendung  des  Methylal  (je  0,1  gr)  ange- 


Alkoholismus. 


93 


rathen,  welche  den  grossen  Vorzug  haben  soll,  die  Dauer  des 
Deliriums  abzukürzen.  Wo  die  Zeichen  vorgeschrittener  Alkohol- 
entartung vorliegen,  bei  schwereren  Complicationen  und  bei  Fieber 
wird  'auch  das  Opium  (subcutan  0,05  gr  Extr.  Opii  aquosi  alle 
3 — 4 Stunden,  bis  Schlaf  eintritt)  warm  empfohlen.  Dabei  ist  die 
Herzthätigkeit  sorgfältig  zu  überwachen.  Rasches  Abbrechen  der 
Opiumbehandlung  muss  vermieden  werden.  Den  Alkohol  wird  man 
in  der  Regel  vollkommen  entbehren  können,  zumal  seine  Unschäd- 
lichkeit nicht  ganz  zweifellos  ist;  ich  sah  sehr  schwere  Fälle  ohne 
denselben  überraschend  günstig  verlaufen.  Dagegen  ist  bei  Herz- 
schwäche ein  anregendes  Verfahren  ohne  Narkotica  am  Platze  (Aether, 
Campher,  starker  Kaffee,  kühle  Uebergiessungen). 

Von  grösster  Wichtigkeit  ist  endlich  bei  der  bekannten  Ge- 
fährlichkeit dieser  Kranken  für  sich  und  Andere  eine  sorgfältige, 
unausgesetzte  Ueberwachung.  Ausgezeichnet  bewährt  sich  auch 
hier  das  Dauerbad.  Ebenso  sind  Polsterbetten  sehr  empfehlens- 
werth,  aber  nur  dann,  wenn  sich  beständig  Pflegepersonal  in 
unmittelbarer  Nähe  befindet;  im  anderen  Falle  kann  das  Hinaus- 
klettern des  ungeschickten  Kranken  über  die  hohe  Seitenwand 
zu  schweren  Verletzungen  Veranlassung  geben.  Die  Genesung 
ist  durch  die  Sorge  für  Beseitigung  der  Verdauungsstörungen 
und  gute  Ernährung  sowie  durch  Regelung  des  Schlafes  zu  unter- 
stützen. 

Eine  weitere  Form  des  alkoholischen  Irreseins  stellt  der  hallu- 
cinatorische  Wahnsinn  der  Trinker  dar.  Es  handelt  sich  dabei  um 
die  acute  Entwicklung  eines  zusammenhängenden  Verfolgungs- 
wahns, vorzugsweise  auf  Grund  von  Gehörstäuschungen,  bei  nahezu 
völliger  Klarheit  des  Bewusstseins.  Der  Beginn  der  Erkrankung 
ist  in  der  Regel  ein  plötzlicher;  seltener  geht  derselben  ein  kurzes 
Vorläuferstadium  voran,  mit  grundloser  Verstimmung,  Reizbarkeit, 
Erschwerung  des  Denkens,  Kopfschmerzen,  Schlaflosigkeit.  Der 
Kranke  hört,  häufig  zuerst  des  Nachts,  allerlei  unbestimmte  Ge- 
räusche, Rauschen,  Bienensummen,  Glockenläuten,  Schiessen,  dann 
einzelne  Aeusserungen  oder  auch  ganze  Gespräche,  die  sich  mit 
seiner  Person  beschäftigen.  Von  der  Strasse  her,  vom  Gang  draussen, 
aus  dem  Nebenzimmer  tönen  die  Stimmen,  bisweilen  flüsternd,  bis- 
weilen mit  vollkommener  Deutlichkeit.  Hie  und  da  werden  sie  nur 
mit  einem  Ohre  wahrgenommen.  Meist  sind  es  die  Stimmen  von 


94 


III.  Die  Vergiftungen. 


Bekannten,  oder  sie  werden  doch  bestimmten  Personen,  Polizisten, 
dem  Staatsanwalt,  den  Socialdemokraten  zugeschrieben. 

Der  Inhalt  dieser  Täuschungen  ist  für  den  Kranken  meist  wenig 
angenehm.  Er  hört  Yorwürfe  und  Drohungen;  er  sei  ein  Lump, 
ein  Taugenichts,  habe  über  Kaiser  und  Krone  geschimpft,  Gottes- 
lästerungen begangen,  eine  goldene  Uhr  gestohlen,  wichtige  Papiere 
zerrissen;  es  ist  ein  Preis  auf  ihn  gesetzt;  man  wird  ihn  durch- 
prügeln, mit  Steinen  werfen,  lynchen,  erschiessen,  abstechen  wie  ein 
Schwein.  Weit  seltener  sind  Mittheilungen,  dass  ein  Vorgesetzter 
sich  sehr  anerkennend  geäussert  habe,  dass  der  Kranke  zur  Be- 
förderung vorgeschlagen  werde  u.  dergl.  Vielfach  beziehen  sich  die 
Stimmen  auf  alle  möglichen  Erlebnisse  aus  der  Vergangenheit, 
hecheln  in  Spottliedern  und  Knittelversen  sein  früheres  Leben  durch 
oder  begleiten  mit  höhnischen,  neckenden  Bemerkungen  die  Hand- 
lungen und  Bewegungen  des  Kranken,  machen  sich  über  seine 
Kleidung  lustig,  lachen  über  seine  Angst,  erzählen,  dass  die  Erau 
gestorben,  den  Kindern  der  Hals  abgeschnitten  worden  sei.  Bis- 
weilen folgen  sie  auch  seinen  Gedanken,  sprechen  sie  laut  aus, 
machen  Einwendungen,  verspotten  sie.  Zunächst  sind  es  gewöhn- 
lich nur  einzelne  abgerissene  Bemerkungen,  die  „telephonirt“  werden, 
oft  in  rhythmischem  Tonfalle,  so  dass  man  ihre  Anknüpfung  an  die 
Gefässgeräusche  gut  verfolgen  kann.  Später  aber  kommt  es  vielfach 
zu  langen,  eingehenden  Unterhaltungen,  Berathungen  über  die  zweck- 
mässigste  Art,  dem  Kranken  zu  Leibe  zu  gehen,  zu  Wechselreden 
zwischen  Verfolgern  und  Vertheidigern,  ganzen  Gerichtsverhandlungen. 
Ein  Kranker  hörte  im  Nebenzimmer  den  Staatsanwalt  eine  lauge 
Anklageschrift  verlesen,  dass  er  neunfacher  Mörder  und  zum  Tode 
verurtheilt  sei.  Ein  anderer  hörte  im  Gasthause  den  Wirth  mit 
Frau  und  Tochter  streiten,  ob  mau  ihn  erschiessen  solle  oder  nicht; 
unterdessen  begehrten  Verwandte  unten  Einlass,  und  auf  der  Strasse 
schrie  Jemand:  „Das  ist  ja  ein  Bordell!“  In  diesen  Fällen  spielt 
sich  alles  so  natürlich  ab,  dass  der  Kranke  auch  keinen  Augenblick 
an  der  Wirklichkeit  des  von  ihm  vermeintlich  durchlebten  Aben- 
teuers zweifelt.  East  immer  wenden  sich  die  Stimmen  nicht  geradezu 
an  ihn,  sondern  er  ist  gewissermassen  nur  unfreiwilliger  Zuhörer; 
seltener  werden  ihm  einzelne  Schimpfworte  unmittelbar  zugerufen 
oder  Befehle  ertheilt. 

Ausser  den  Gehörstäuschungen  bestehen  in  manchen  Fällen 


Alkoholismus. 


95 


vorübergehend  solche  des  Gesichts,  namentlich  des  Nachts,  meist 
ziemlich  unbestimmten  Inhalts.  Der  Kranke  sieht  alles  blau,  Funken 
vor  den  Augen,  Feuerschein,  Tupfen  an  der  Wand,  nimmt  drohende 
Gestalten,  Schatten  wahr,  die  auf  ihn  zukommen,  ihn  berühren.  Fliegen 
schwirren  in  der  Luft;  Ungeziefer  kriecht  auf  dem  Bett;  grosse 
Hunde  laufen  durchs  Zimmer;  die  Gegenstände  erscheinen  doppelt. 
Das  Essen  hat  einen  eigen thümlicheu  Geschmack,  wirkt  aufregend. 

In  Verbindung  mit  den  Hallucinationen  entwickelt  sich  regel- 
mässig bei  dem  Kranken  die  Ueberzeugung,  dass  er  Gegenstand 
der  allgemeinen  Aufmerksamkeit  ist,  dass  alle  Welt  über  ihn  spricht, 
ihn  beobachtet  und  bedroht.  Offenbar  hat  man  seinen  ganzen  Lebens- 
schicksalen nachgespürt,  ihm  Geheimpolizisten  nachgeschickt,  Mittel 
und  Wege  gefunden,  ihn  auf  das  genaueste  zu  überwachen,  jede 
seiner  Bewegungen,  ja  jeden  Gedanken  sofort  zu  bemerken.  Es 
müssen  besondere  Vorrichtungen  bestehen,  die  das  ermöglichen,  ge- 
heime Löcher  in  den  Wänden,  elektrische  Signalapparate,  Telephone, 
Spiegel  u.  dergl.  Die  Feinde  stehen  draussen  und  lauern  ihm  auf, 
versammeln  sich  in  einem  nahe  gelegenen  Hause,  schiessen  zum 
Fenster  herein;  das  Blutgerüst  wird  aufgerichtet.  In  Folge  dessen 
wird  er  misstrauisch  gegen  seine  Umgebung,  die  alle  seine  Wahr- 
nehmungen einfach  in  Abrede  stellt,  hinter  seinem  Rücken«  aber,  wie 
er  durch  die  Stimmen  erfährt,  gegen  ihn  arbeitet.  Gelegentlich 
werden  nun  auch  wirkliche  Eindrücke  im  Sinne  der  Verfolgungs- 
ideen gedeutet.  Ein  harmloser  Mitreisender  in  der  Eisenbahn  führt 
Böses  im  Schilde,  so  dass  der  Kranke  auf  der  nächsten  Station  den 
Zug  verlässt  und  in  entgegengesetzter  Richtung  weiterfährt;  ein 
Mann,  der  sich  mit  einem  grossen  Messer  am  Nebentische  die  Cigarre 
abschneidet,  erscheint  in  höchstem  Maasse  verdächtig.  In  den  Zei- 
tungen finden  sich  feindselige  Anspielungen;  die  harmlose  Aeusserung, 
dass  das  Fleisch  nicht  reiche,  macht  dem  Kranken  klar,  dass  man 
ihn  abschlachten  wolle. 

Das  Bewusstsein  ist  dabei  kaum  getrübt.  Es  besteht  nur 
eine  ganz  geringe,  erst  bei  genauerer  Beobachtung  auffallende  Be- 
nommenheit und  Verstörtheit..  Der  Kranke  ist  besonnen,  über  seine 
Umgebung  orientirt,  denkt  im  ganzen  folgerichtig  und  vermag  über 
seine  Krankheitserscheinungen  zusammenhängende  Auskunft  zu  geben, 
ist  freilich  meist  sehr  zurückhaltend.  Eine  klare  Krankheitseinsicht 
ist  nicht  vorhanden;  bisweilen  betrachtet  er  die  Zumuthung  einer 


96 


III.  Die  Vergiftungen. 


Geistesstörung  geradezu  als  einen  besonders  heimtückischen  Schach- 
zug seiner  Verfolger,  die  ihn  nunmehr  auch  noch  „närrisch“  machen 
wollen.  Gleichwol  hat  der  Kranke  oft  ein  deutliches  Gefühl  für  die 
Veränderung,  die  sich  mit  ihm  vollzogen  hat.  Er  sucht  daher  bis- 
weilen selbst  ein  Krankenhaus  auf  oder  giebt  auf  die  plötzliche 
Frage,  wie  lange  er  schon  krank  sei,  zunächst  unbefangen  die  richtige 
Antwort,  auch  wenn  er  sich  vorher  für  völlig  gesund  erklärt  hat. 
Andere  Kranke  sprechen  geradezu  von  ihrer  „temporären  Verrückt- 
heit“, ihrer  „Nerven  schwäche“,  ihrem  „angeblichen  Verfolgungswahn“, 
ohne  doch  die  Krankheitserscheinungen  im  einzelnen  berichtigen  zu 
können. 

Die  Stimmung  der  Kranken  lässt  meist  jene  eigenthümliche 
Mischung  von  Angst  und  Humor  erkennen,  wie  wir  ihr  schon 
beim  Delirium  tremens  begegnet  sind.  Die  Kranken  erzählen  ihre 
schrecklichen  Erlebnisse  mit  merkwürdigem  Gleichmuthe,  lachen 
dabei  vielleicht  selbst  darüber,  dass  man  ihnen  so  viel  Aufmerksam- 
keit schenke,  sie  für  Raubmörder  halte.  Namentlich  im  Beginne 
kommt  es  jedoch  nicht  selten  auch  zu  heftigeren  Augstanfällen.  Ein 
Kranker  stürzte  sich  ins  Wasser,  weil  er  gehört  hatte,  dass  ihn  vier 
Männer  zum  Frühstück  verzehren  wollten;  ein  anderer  suchte  sich 
die  Pulsadern  mit  einem  Beil  aufzuhacken.  Wieder  ein  anderer 
kletterte  nach  einem  missglückten  Selbstmordversuche  vor  Angst  in 
den  Kamin  einer  Polizeiwache,  in  dem  er  ohne  Nahrung  drei  Tage 
lang  verborgen  blieb,  um  endlich  von  selbst  weder  hervorzukriechen. 
In  den  Zwischenzeiten  jedoch  sind  die  Kranken  ruhig,  mit  sich 
selbst  beschäftigt,  kümmern  sich  wenig  um  die  Vorgänge  in  ihrer 
Umgebung,  geben  einsilbige,  zutreffende,  aber  oft  etwas  zusammen- 
hangslose Antworten,  erzählen  nicht  viel  aus  eigenem  Antriebe. 
Ihr  Benehmen  ist  im  allgemeinen  geordnet,  so  dass  sie  bisweilen 
noch  wochenlang  ihren  Geschäften  nachzugehen,  selbst  Reisen  zu 
machen  im  Stande  sind.  Oefters  begehen  sie  dabei  allerdings  ganz 
absonderliche  Handlungen,  die  sich  später  aus  ihren  Wahnideen  er- 
klären. Ein  derartiger  Kranker  sprang  stundenlang  im  Zimmer 
umher,  um  seinen  Feinden  kein  sicheres  Ziel  zu  bieten,  und  brachte 
dabei  mit  seinem  Taschenmesser  ein  knackendes  Geräusch  hervor, 
damit  man  glauben  solle,  er  besitze  einen  Revolver.  Andere  ver- 
kriechen sich  unter  die  Betten,  bauen  Barrikaden  vor  ihrer  Thüre, 
legen  sich  an  der  Fensterwand  auf  den  Boden,  um  nicht  getroffen 


Alkoholiamus. 


97 


zu  werden,,  oder  verschaffen  sich  Waffen,  um  im  Nothfall  ihr  Leben 
so  tkeuer  wie  möglich  zu  verkaufen.  Seltener  schreiten  sie  in  der 
Verzweiflung  geradezu  zum  Angriffe  auf  ihre  vermeintlichen  Ver- 
folger. Der  Schlaf  der  Kranken  ist  regelmässig  erheblich  gestört, 
weniger  der  Appetit,  der  nur  bisweilen  durch  Vergiftungsideen  be- 
einträchtigt wird.  An  den  Händen  und  an  der  Zunge  besteht  öfters, 
aber  nicht  immer,  alkoholisches  Zittern.  Das  Körpergewicht 
pflegt  zu  sinken. 

Nach  ihrem  Verlaufe  lassen  sich  im  allgemeinen  acute  und 
sub acute  Formen  der  Psychose  auseinanderhalten,  die  mir  jedoch 
ohne  scharfe  Grenzen  in  einander  überzugehen  scheinen.  Die  ersteren 
haben  häufig  nur  eine  Dauer  von  wenigen  Tagen  bis  zu  2 oder  3 
Wochen.  Die  Genesung  tritt  plötzlich  ein;  meist  nach  einem  tiefen 
Schlafe  fällt  es  dem  Kranken  wie  Schuppen  von  den  Augen,  dass 
er  das  Opfer  von  Sinnestäuschungen  geworden  ist.  In  den  subacuten 
Fällen  kann  sich  die  Krankheit  über  eine  längere  Reihe  von  Wochen 
und  selbst  Monaten  hinziehen,  meist  mit  vielfachen  Nachlässen  und 
Verschlimmerungen.  Die  Täuschungen  verlieren  sich  hier  ganz  all- 
mählich. treten  oft  vorübergehend  noch  wieder  auf,  auch  wenn  vor- 
her schon  volle  Krankheitseinsicht  bestand.  Nach  Ilbergs  Unter- 
suchungen ist  ein  schleppender  Verlauf  namentlich  in  den  Fällen  zu 
erwarten,  in  denen  ausser  den  Gehörshallucinationen  noch  Täusch- 
ungen auf  anderen  Sinnesgebieten  Vorkommen;  auch  das  gelegent- 
liche Auftreten  vereinzelter  Grössenideen  neben  dem  Verfolgungswahn 
deutet  auf  eine  längere  Krankheitsdauer  hin.  Die  Erinnerung  an 
die  Krankheitszeit  ist  regelmässig  eine  durchaus  klare  und  erstreckt 
sich  auf  alle  Einzelheiten. 

Die  Prognose  der  Krankheit  muss  im  ganzen  als  eine  sehr 
günstige  bezeichnet  werden.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der 
Fälle  erfolgt  vollständige  Genesung.  Freilich  ist  die  Gefahr  des 
Rückfalles  eine  recht  grosse.  Ich  kannte  einen  Kranken,  der  im 
dritten  Rückfalle  durch  Selbstmord  endigte.  In  einzelnen  Fällen 
scheinen  sich  trotz  der  Anstaltsbehandlung  mit  vollständiger  Enthalt- 
samkeit dauernde  Schwächezustände  herausbilden  zu  können,  sehr 
ähnlich  denjenigen,  die  ich  oben  bei  der  Besprechung  des  Delirium 
tremens  kurz  geschildert  habe. 

Der  Alkoholwahnsinn  ist  keine  sehr  häufige  Krankheit;  unter 
den  in  den  letzten  Jahren  von  mir  beobachteten  Trinkern  litten 

7 


Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Anfl.  II.  Band. 


98 


III.  Die  Vergiftungen. 


17°/0  an  demselben.  Warum  in  einem  Falle  ein  Delirium  tremens, 
in  einem  anderen  ein  Alkoholwahnsinn  entsteht,  ist  noch  gänzlich 
unbekannt.  Man  hat  diesen  letzteren  bald  auf  krankhafte  Veran- 
lagung, bald  auf  gehäuften  Alkoholmissbrauch  zurückführen  wollen, 
doch  scheint  mir  keine  der  bisher  vorliegenden  Erklärungen  ge- 
nügend gegründet. 

Die  Erkennung  der  Störung  stützt  sich  auf  die  alkoholische 
Vorgeschichte,  die  acute  Entwicklung,  den  günstigen  Verlauf,  die 
Besonnenheit  der  Kranken  und  das  eigenthümliche  Verhalten  der 
Stimmen,  welche  sich  meist  nicht  geradezu  an  den  Kranken  wenden, 
sondern  von  ihm  nur  in  der  Rolle  eines  unfreiwilligen  Zuhörers 
aufgefasst  werden.  Es  ist  indessen  zu  beachten,  dass  ganz  ähnliche 
Krankheitsbilder  sowol  in  der  Paralyse  wie  bei  der  Dementia  praecox 
Vorkommen  können.  Meist  wird  man  hier  allerdings  länger  zurück- 
reichende Einleitungserscheinungen  feststellen  können.  Aus  dem 
klinischen  Bilde  selbst  ist  für  die  Diagnose  namentlich  die  eigen- 
artige, humoristisch-ängstliche  Stimmung  zu  verwerthen,  bisweilen 
auch  die  Gesichtstäuschungen  und  das  Zittern.  Andererseits  sind 
natürlich  alle  Zeichen  zu  beachten,  welche  den  Verdacht  auf  eine 
jener  erstgenannten  Krankheiten  nahe  legen,  starke  geistige  Schwäche 
und  Zerfahrenheit,  Verfälschungen  des  Persönlichkeitsbewusstseins, 
katatonische  Erscheinungen,  nervöse  Störungen.  Die  Behandlung 
ist  eine  wesentlich  abwartende,  doch  kann  der  Gebrauch  eines  Schlaf- 
mittels vielleicht  zur  rascheren  Genesung  mit  beitragen. 

Weit  langsamer,  als  die  bisher  geschilderten  Störungen,  verläuft 
eine  weitere,  dem  Alkoholismus  eigenthümliche  Form  des  Irreseins, 
der  sog.  Eifersuchtswahn  der  Trinker.  Diese  Störung  entwickelt 
sich  unmittelbar  aus  gewissen  Grundzügen,  welche  wir  schon  früher 
im  alkoholischen  Schwachsinn  vorgefunden  haben.  Die  aus  der 
Trunksucht  als  nothwendige  Folge  hervorgehenden  ehelichen  Zer- 
würfnisse und  die  dadurch  bedingte  Entfremdung  der  Ehegatten,  die 
Abneigung  der  Frau  und  vielleicht  auch  die  allmählich  sich  ein- 
stellende Impotenz  bringen  den  Trinker,  der  ohnedies  nur  zu  sehr 
geneigt  ist,  die  Schuld  für  das  von  ihm  heraufgeführte  Unheil  in 
seiner  Umgebung  zu  suchen,  allmählich  auf  die  Idee,  dass  eine 
sträfliche  Neigung  seiner  Frau  zu  anderen  Männern  der  wahre 
Grund  der  veränderten  Stellung  sei,  welche  dieselbe  zu  ihm  ein- 
nimmt. Für  die  Richtigkeit  dieser  Voraussetzung  liefert  ihm  die 


Alkoholismus. 


99 


vorurtheilsvolle  Beobachtung  allerlei  Beweise,  welche  seinem  ge- 
schwächten Urtheil  als  vollkommen  sicher  und  unumstösslich  er- 
scheinen. Die  Einmischung  des  Nachbarn  in  einen  ehelichen  Streit, 
ein  freundlicher  Blick,  eine  versteckte  Anspielung,  die  er  auffängt, 
ein  anscheinend  geheimnissvoller  Brief,  der  ihm  in  die  Hände  fällt, 
die  verdächtige  Aehnlichkeit  eines  Kindes  mit  dem  vermeintlichen 
Nebenbuhler,  ein  im  Dunkeln  an  ihm  vorbeihuschendes  Paar,  welches 
er  zu  erkennen  glaubt,  lassen  ihn  an  dem  Thatbestande  des  Ehe- 
bruchs keinen  Augenblick  mehr  zweifeln.  Ein  Kranker  verleugnete 
sein  Kind,  weil  er  ungefähr  zur  Zeit  der  Empfängniss  wenige  Tage 
auswärts  gewesen  war  und  die  Frau  damals  einen  Nachbar  beim 
Kalben  einer  Kuh  ohne  Noth,  wie  er  meinte,  zu  Hülfe  gerufen  hatte. 

Hie  und  da  gesellen  sich  zur  Vervollständigung  solcher  An- 
zeichen auch  wirkliche  Sinnestäuschungen  hinzu,  eine  Gestalt,  die  der 
Kranke  nächtlicher  Weile  ins  Schlafzimmer  treten  sieht,  ein  „Schutz- 
mann in  Uniform“,  der  bei  seiner  Heimkehr  aus  dem  Fenster  springt, 
eine  höhnische  Bemerkung,  die  ihm  aus  dem  Nebenzimmer  oder  von 
der  Strasse  herauf  zugerufen  wird  und  ähnliches.  Oder  aber  er 
merkt  aus  dem  ganzen  feindseligen  Verhalten  seiner  Frau,  aus  der 
Schnur,  die  er  als  Aufforderung  zum  Erhängen  in  seinem  Bette,  auf 
dem  Tische  findet,  oder  aus  ihrem  Unwillen  über  sein  schroffes  Vor- 
gehen gegen  den  beargwöhnten  Nachbar  oder  Geschäftsführer,  dass 
es  mit  seinem  Verdachte  volle  Richtigkeit  hat. 

Eine  weitere  Ausbildung  über  den  Rahmen  der  ungerecht- 
fertigten Eifersucht  hinaus  gewinnt  der  Wahn  in  der  Regel  nicht, 
doch  bleibt  er  innerhalb  dieser  Grenzen  durchaus  fest  und  einer 
jeden  besseren  Einsicht  völlig  unzugänglich.  Natürlich  entwickelt 
sich  aus  ihm  eine  immer  wachsende  Erbitterung  gegen  die  Frau, 
gegen  den  vermeintlichen  Nebenbuhler,  ein  trotz  der  sonstigen 
Schwäche  des  Trinkers  oft  sehr  tiefgehender  und  leidenschaftlicher 
Hass,  der  ausnahmslos  zu  rohen  Auftritten  und  häufig  genug  zu 
verhängnisvollen  Angriffen  auf  Leben  und  Gesundheit  führt.  Ich 
kenne  aus  eigener  Erfahrung  zwei  Fälle,  in  denen  derartige  Trinker 
in  blinder  Eifersucht  und  unter  dem  Einflüsse  des  Alkohols  ihre 
Frauen  erschossen;  ein  anderer  brachte  dem  beargwöhnten  Nachbar 
eine  lebensgefährliche  Verletzung  bei.  Die  Wurzeln  des  Wahnes 
wird  man  unschwer  bei  sehr  vielen  Trinkern  auffinden;  leider  aber 
wird  die  grosse  Gefährlichkeit  der  ausgebildeten  Störung  nur  allzu 

7* 


100 


III.  Die  Vergiftungen. 


leicht  verkannt,  da  die  Verstandestkätigkeit  der  Kranken  für  die 
oberflächliche  Betrachtung  oft  nahezu  gesund  zu  sein  scheint,  und 
da  ihre  Wahnideen  fast  keine  unsinnigen  Bestandteile  enthalten, 
sondern  sich  soweit  im  Bereiche  des  Möglichen,  ja  des  Wahrschein- 
lichen bewegen,  dass  zuweilen  nur  eine  genaue  Kenntniss  der  wirk- 
lichen Verhältnisse  die  krankhafte  Natur  ihrer  ganzen  Auffassungs- 
weise zu  enthüllen  vermag.  Auf  der  anderen  Seite  ist  es  natürlich 
auch  oft  schwierig,  die  tatsächliche  Berechtigung  der  von  den 
Trinkern  vorgebrachten  Eifersuchtsideen  auszuschliessen.  Das  Thun 
und  Treiben  des  Trinkers  führt  vielfach  zu  einer  wirklichen,  ernsten 
und  dauernden  Entfremdung  der  Ehegatten,  welche  dem  Ehebrüche 
die  Wege  ebnen  muss.  So  übereinstimmend  daher  die  Klagen  der 
Trinker  über  eheliche  Untreue  sind,  so  notwendig  ist  doch  gerade 
hier  der  klare  Nachweis  ihrer  Grundlosigkeit,  bevor  wir  berechtigt 
sind,  sie  als  krankhaft  zu  betrachten. 

In  manchen  Fällen  wird  unser  Urteil  dadurch  unterstützt, 
dass  die  anfangs  schroff  und  leidenschaftlich  vorgebrachten  Eifer- 
suchtsideen nach  längerer  Entziehung  des  Alkohols  allmählich  von 
selbst  zurücktreten  und  bisweilen  sogar  geradezu  als  krankhaft  an- 
erkannt werden.  Durch  diese,  leider  nicht  sehr  häufigen  Besserungen, 
ja  Heilungen  des  Wahnes  unterscheidet  sich  die  krankhafte  Eifer- 
sucht der  Trinker  trotz  der  äusserlicken  Uebereinstimmung  sehr 
wesentlich  von  der  eigentlichen,  constitutionellen  und  grundsätzlich 
unheilbaren  Verrücktheit. 

Wir  haben  endlich  an  dieser  Stelle  noch  kurz  des  Krankheits- 
bildes der  alkoholischen  Paralyse  zu  gedenken,  einer  Psychose, 
die  sich  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  als  eine  einfache 
Verbindung  der  Zeichen  des  chronischen  Alkoholismus  mit  denjenigen 
der  progressiven  Paralyse  darstellt.  Zu  der  Gedäcktnisssckwäcke, 
dem  Grössenwahn,  der  gemütklicken  Stumpfheit  auf  der  einen  ge- 
sellen sich  Sinnestäuschungen,  Eifersuchtsideen  auf  der  anderen 
Seite;  die  Sprachstörung  des  Paralytikers  wird  begleitet  von  dem 
Tremor  und  den  neuritischen  Erscheinungen  des  Alkokolisten.  Ausser- 
dem scheinen  epileptische  Anfälle  besonders  häufig  zu  sein.  In  der 
Regel  ging  der  Alkoholismus  hier  der  Entwicklung  der  Paralyse 
schon  lange  Zeit  voraus;  bisweilen  aber  auch  liefert  erst  diese 
letztere  den  Anstoss  zu  dem  unmässigen  Trinken,  aus  welchem  die 
alkoholistischen  Krankheitszeichen  entspringen. 


Morphinismus. 


101 


Auf  der  anderen  Seite  giebt  es  vereinzelte  Fälle  von  Alkoholis- 
mus, in  denen  neben  leichten  motorischen  Störungen  (Tremor,  Sprach- 
störung, Ataxie,  Anfälle)  ein  blühender  Grössen  wahn  mit  heiterer 
Stimmung  ganz  von  der  Art  des  paralytischen  acut  zur  Ausbildung 
kommt,  um  nach  einigen  Monaten  bis  auf  die  Grundzüge  eines 
mässigen  Schwachsinns  wieder  zu  verschwinden.  Die  Erkrankung 
ist  hier  damit  endgültig  abgeschlossen,  während  sie  bei  der  erst- 
erwähnten Form  regelmässig  den  traurigen  Ausgang  der  Dementia 
paralytica  nimmt.  Anscheinend  handelt  es  sich  um  besonders  schwere 
und  eigenartig  verlaufende  Fälle  von  chronischem  Alkoholismus 
(alkoholische  Pseudoparalyse*).  Wie  weit  sich  dieselben  mit  den  bei 
Polyneuritis  beschriebenen  Störungen  decken,  entzieht  sich  zur  Zeit 
noch  meiner  Beurtheilung. 


B.  Der  Morphinismus**). 

Gegenüber  dem  Missbrauche  alkoholischer  Getränke,  der  auf  ein 
fast  ehrwürdiges  Alter  zurückblicken  kann,  reicht  die  Geschichte 
des  Morphinismus  wenig  weiter,  als  zwei  Jahrzehnte  zurück,  wenn 
derselbe  auch  einen  gewissen  Zusammenhang  mit  der  altasiatischen 
Sitte  des  Opiummissbrauches  aufzuweisen  hat.  Die  Eidindung  der 
Pravaz’schen  Spritze  und  die  durch  sie  herbeigeführte  Verbesserung 
der  Anwendungsart  hatte  einen  ausserordentlichen  Aufschwung  im 
Gebrauche  des  Morphiums  zur  Folge,  welches  sich  nur  zu  bald  als 
ein  sicheres  und  angenehmes  Mittel  zur  Bekämpfung  von  Schmerzen 
und  Unbehagen  aller  Art  bewährte.  Der  wirksamste  Hebel  für  die 
Ausbildung  und  Verbreitung  des  Morphiums  lag  in  dem  Umstande, 
dass  der  Arzt,  unbekannt  mit  den  drohenden  Gefahren,  aus  Rück- 
sichten der  Bequemlichkeit  dem  Kranken  die  Spritze  selbst  in  die 
Hand  gab,  damit  er  sich  je  nach  Bedarf  und  nach  eigenem  Ermessen 
das  ersehnte  Wohlgefühl  verschaffen  könne. 

Allein  es  stellte  sich  bald  heraus,  dass  unter  diesen  Verhält- 


*)  Klewe,  Allgem.  Zeitschrift  f.  Psychiatrie,  LH,  595. 

**)  Fiedler,  Deutsche  Zeitschr.  f.  prakt.  Medicin  1874,  27,  28;  Levinstein, 
Die  Morphiumsucht.  3.  Auflage,  1883;  Erlenmeyer,  Die  Morphiumsucht  und 
ihre  Behandlung.  3.  Auflage,  1887:  Dizard,  etude  sur  le  morpbinmme  et  soti 
traitement,  1893;  Rodet,  Morphinoinanie  et  morphinisme.  1897. 


102 


III.  Die  Vergiftungen. 


nissen  das  Mittel  aus  dem  Wohlthäter  zu  einem  furchtbaren  und 
fast  unbezwinglichen  Feinde  wurde.  Die  meisten  Menschen,  welche 
gewohnheitsmässig  kleinere  Mengen  von  Alkohol  zu  sich  nehmen, 
vermögen  demselben,  wo  es  sich  als  nothwendig  erweist,  leichten 
Herzens  auf  kürzere  oder  längere  Zeit  zu  entsagen.  Dagegen 
zwingt  die  wahrhaft  teuflische  Macht  des  Morphiums  denjenigen, 
der  sich  einmal  an  seinen  Gebrauch  gewöhnt  hat,  unerbittlich  zur 
Fortsetzung  desselben,  da  jeder  Versuch,  sich  von  der  Sklaverei 
des  Mittels  zu  befreien,  sofort  zu  derartig  unangenehmen  Er- 
scheinungen führt,  dass  die  menschliche  Widerstandskraft  dadurch 
gebrochen  wird. 

Die  psychischen  Wirkungen  des  Morphiums,  soweit  sie  bis  jetzt 
bekannt  sind,  bestehen,  wesentlich  verschieden  von  denjenigen  des 
Alkohols,  in  einer  Erleichterung  und  Anregung  der  Verstandes- 
leistungen und  in  einer  Erschwerung  der  psychomotorischen  Vor- 
gänge. Dieses  Verhalten,  welches  sich  durch  Untersuchungen  bei 
Morphinisten  hat  bestätigen  lassen,  macht  es  verständlich,  dass  uns 
der  Morphiumrausch  in  eine  Art  angenehmer  Träumerei  versinken 
lässt,  in  welcher  bunte,  wechselnde  Phantasiebilder  an  uns  vorüber- 
ziehen, während  sich  gleichzeitig  eine  sanfte  Erschlaffung  auf  unsere 
Glieder  legt.  Wir  begreifen  es  auch,  dass  Morphinisten  gerade  unter 
dem  Einflüsse  des  Mittels  sich  noch  zu  geistiger  Arbeit  angeregt 
fühlen,  welche  sie  in  dem  Zustande  ihrer  gewöhnlichen,  dauernden 
Willenlosigkeit  nicht  mehr  zu  leisten  vermögen.  Das  gefährlichste 
Glied  der  Morphiumwirkung  aber  ist  gerade  das  eigenthümliche, 
ruhige  Lustgefühl,  welches  sich  von  demjenigen  des  Alkoholrausches 
sehr  deutlich  durch  das  vollständige  Fehlen  der  psychomotorischen 
Reizerscheinungen,  des  bekannten  Thatendranges,  unterscheidet  Wie 
beim  Alkohol,  ist  übrigens  auch  hier  die  Gestaltung  des  Vergiftungs- 
bildes im  einzelnen  recht  wesentlich  von  der  persönlichen  Anlage 
abhängig.  Ebenso  fallen  die  körperlichen  Begleiterscheinungen  der 
Narkose  je  nach  der  Eigenart  des  Menschen,  natürlich  aber  auch 
nach  der  Gabe  des  Mittels  verschieden  aus.  Ein  rasch  auftretender 
metallischer  oder  bitterer  Geschmack,  Kollern  im  Leibe,  Myosis  und 
Erbrechen  sind  häufig.  Als  Nachwehen  der  Vergiftung  werden 
Eingenommenheit  des  Kopfes,  Schwindelgefühl,  Migräne,  reichliche 
Schweisse,  grosse  Hinfälligkeit  und  Harnverhaltung  beobachtet.  Bei 
Versuchen  mit  subacuter  maximaler  Vergiftung  fand  Nissl  die 


Morphinismus. 


103 


Rindenzellen  des  Kaninchens  verkleinert  und  verschmälert,  aber 
nicht  zerstört.  Die  gefärbte  Substanz  war  rareficirt  und  schwächer 
gefärbt,  die  ungefärbte  Substanz  dagegen  auf  längere  Strecken  deut- 
lich sichtbar. 

Die  Entwicklung  des  Morphinismus  nimmt  praktisch  bei  weitem 
am  häufigsten  ihren  Ausgang  von  der  ausgezeichneten  schmerz- 
stillenden Wirkung  des  Mittels.  Irgend  ein  leichteres  oder 
schwereres  schmerzhaftes  Leiden,  Neuralgie,  Ischias,  Tabes,  Magen- 
geschwür, Gelenkrheumatismus,  Zahnschmerzen,  Schlaflosigkeit,  eine 
traurige  Verstimmung  giebt  den  Anlass  zur  ersten  Einspritzung.  Ein 
von  mir  behandelter  Trinker  erhielt  das  Morphium  von  seinem  mit  ihm 
zechenden  Hausarzte  zur  Milderung  seiner  alkoholischen  Beschwerden. 
Die  durch  das  Mittel  erzielte  Wirkung  ist  zumeist  die  Beseitigung  aller 
quälenden  körperlichen  und  psychischen  Reize  und  die  Erzeugung 
einer  überaus  behaglichen,  befriedigten  Stimmung.  Dieser  günstige 
Erfolg  ist  es,  der  immer  von  neuem  zu  einer  Wiederholung  der  Ein- 
spritzung treibt,  namentlich,  wenn  das  quälende  Leiden  noch  fort- 
besteht. Ganz  unmerklich  aber  wird  der  Gebrauch  des  Mittels  zum 
Selbstzwecke,  zum  Lebensbedürfnisse,  auch  wenn  der  ursprüngliche 
Anlass  längst  beseitigt  ist.  In  ähnlicher  Weise,  wie  bekanntlich  die 
Gründe  zum  Trinken  nach  Bedarf  jederzeit  bei  der  Hand  sind,  fehlt 
es  bald  auch  nicht  an  mehr  oder  weniger  verschämten  Vorwänden 
für  die  Morphiumeinspritzung.  Das  tritt  um  so  sicherer  ein,  als 
anscheinend  das  Morphium  bei  längerer  Einwirkung  wirklich  die 
sittliche  Widerstandsfähigkeit  gegenüber  allen  möglichen  kleinen 
Unannehmlichkeiten  und  Schmerzen  beträchtlich  herabsetzt.  In 
Folge  dessen  wird  das  Verlangen  des  Kranken  nach  dem  beruhigen- 
den Mittel  immer  häufiger  und  dringender.  Der  entscheidende 
Schritt  ist  die  Ausführung  der  Einspritzung  durch  den 
Kranken  selbst,  mit  oder  ohne  Vorwissen  des  Arztes.  Von  diesem 
Augenblicke  an  ist  sein  Schicksal  besiegelt;  er  ist  dem  Morphinis- 
mus verfallen. 

Meist  sucht  er  sich  nunmehr  von  dem  Arzte  möglichst  un- 
abhängig zu  machen.  Er  kauft  sich  eine  Spritze,  oft  auch  Wage 
und  Gewichte,  bezieht  sein  Morphium  direct  oder  durch  Vermittelung 
von  Leidensgefährten  aus  der  Droguenhandlung,  die  ihm  das  Mittel 
in  unverdächtiger  Packung  zusendet.  Die  Lösung  bereitet  der  Kranke 
sich  selbst,  schliesslich  oft  nach  Gutdünken.  Andere  ziehen  es  vor, 


104 


III.  Die  Vergiftungen. 


Recepte  zu  fälschen;  ich  besitze  ein  solches  Beispiel.  Auch  ein 
College  bediente  sich  falscher  Namen,  um  nicht  in  den  Verdacht 
des  Morphinismus  zu  kommen.  Vielfach  findet  man  bei  den  Kranken 
ausser  verrosteten  und  stumpfen  Nadeln  ganz  trübe,  halbverschimmelte 
Flüssigkeiten,  die  sie  sich  trotzdem  einspritzen,  sogar  durch  die 
Kleider  hindurch.  Die  Folge  sind  häufige  Abscesse.  Vereinzelte 
Kranke  greifen,  wenn  ihnen  die  Beschaffung  der  Spritzen  zu  schwierig 
wird,  zur  innerlichen  Anwendung  des  Morphiums,  auch  zur  Opium- 
tinctur,  indem  sie  sich  die  nöthige  Gabe  jeweils  unter  dem  Vorwände 
von  Leibschmerzen  allmählich  in  verschiedenen  Apotheken  zusammen- 
schwindeln. 

Beim  dauernden  Gebrauche  des  Morphiums  treten  in  Folge  der 
sich  ausbildenden  Gewöhnung  die  unangenehmen  Nebenerscheinungen 
der  Vergiftung  mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund,  oder  sie  werden 
doch  durch  eine  neue  Gabe  des  Mittels  rasch  wieder  beseitigt.  So 
kommt  es,  dass  der  Morphinist  oft  lange  Zeit  hindurch  nur  die  an- 
regende und  zugleich  beruhigende  Wirkung  empfindet,  die  ihn 
über  alle  kleinen  und  grossen  Unannehmlichkeiten  hinwegsetzt  wie 
sie  aus  seinem  Gesundheitszustände,  aus  seinem  Berufe,  aus  seinen 
gesellschaftlichen  und  häuslichen  Verhältnissen  entspringen.  Dieselbe 
Gewöhnung  aber  ist  es,  welche  ihn  sein-  bald  von  der  ursprüng- 
lichen Gabe  des  Mittels  die  erhoffte  Befriedigung  nicht  mehr  in 
vollem  Maasse  finden  lässt  und  ihn  daher  zu  einer  Steigerung  der- 
selben antreibt.  Zunächst  ist  der  Erfolg  ein  vollkommener,  aber 
nach  einiger  Zeit  versagt  auch  die  neue  Menge,  und  so  schraubt  sich 
das  Bedürfniss  allmählich  immer  höher  und  höher,  bis  am  letzten 
Ende  auch  die  grössten  Gaben  des  Mittels  (erfahrungsgeinäss  bis  zu  2, 
3 gr  und  mehr  in  24  Stunden)  den  sehnlichst  gewünschten  Erfolg 
nur  ganz  vorübergehend  noch  erzielen. 

Alle  die  schon  früher  gelegentlich  hervorgetretenen  Beschwerden 
des  Morphinismus  erreichen  nach  und  nach  ihren  Höhepunkt.  Das 
Gedächtniss  -wird  vielfach  unsicher;  die  geistige  Leistungsfähigkeit, 
namentlich  die  schöpferische  Arbeitskraft,  nimmt  ab  und  kann  nur 
unter  dem  unmittelbaren  Einflüsse  des  Morphiums  noch  auf  einer 
gewissen  Höhe  erhalten  werden.  Auf  diese  Weise  kommt  es  zu  einem 
beständigen  Wechsel  zwischen  Stunden  verhältnissmässigen  Wohl- 
befindens und  solchen  stumpfer  Erschlaffung  oder  nervöser  Unruhe, 
ein  Zustand,  der  natürlich  eine  geregelte,  planmässige  Thätigkeit 


Morphinismus. 


105 


völlig  unmöglich  macht.  Die  Stimmung  ist  ebenfalls  vielfachen 
Schwankungen  unterworfen,  bald  niedergeschlagen,  muthlos,  hypo- 
chondrisch, bald  zuversichtlich  und  iibermüthig;  nicht  selten  stellen 
sich  vorübergehende  heftige  Angstanfälle  ein,  namentlich  Nachts. 

In  ganz  besonderem  Maasse  aber  wird  der  Charakter  der 
Kranken  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Sie  verlieren  nicht  nur  voll- 
kommen die  Fähigkeit,  sich  selber  endgültig  und  thatkräftig  von 
dem  verderblichen  Mittel  loszusagen,  sondern  sie  greifen  zu  allen 
möglichen,  erlaubten  und  unerlaubten  Kunstgriffen,  um  sich  Morphium 
zu  verschaffen.  Um  diesen  Preis  belügen  und  betrügen  sie  unbe- 
denklich Aerzte  und  Angehörige;  sie  öffnen  mit  Nachschlüsseln  den 
Arzneischrank,  entwenden  heimlich  Geld,  unterschlagen  anvertraute 
Summen,  versetzen  und  verkaufen,  was  ihnen  zugänglich  ist,  wenn 
sie  auf  andere  Weise  das  Mittel  nicht  erhalten  können.  In 
eigenthümlicheru  Zwiespalte  mit  sich  selbst  machen  sie  auch  dann 
schon  von  vornherein  den  Versuch,  die  Entziehungscur  zu  vereiteln, 
wenn  sie  aus  freien  Stücken  in  dieselbe  eingewilligt  haben.  Kaum 
ein  Morphinist  geht  in  die  Anstalt,  ohne  sich  nicht  irgendwie  heim- 
lich mit  einer  gehörigen  Menge  des  Mittels  versehen  zu  haben; 
keiner,  auch  nicht  der  heiligsten  Versicherung  eines  Morphinisten 
über  diesen  Punkt  ist  jemals  blindlings  zu  trauen.  Selbst  Aerzte 
sind  darin  ganz  unzuverlässig.  Ein  College  brachte  das  Morphium 
unter  dem  Holzbelag  einer  grossen  Haarbürste  versteckt  mit  sich 
und  erzwang  durch  einen  äusserst  rohen  Auftritt  seine  sofortige 
Entlassung,  als  ihm  die  Benutzung  der  Bürste  unmöglich  gemacht 
wurde. 

Der  Schlaf  erleidet  meist  hochgradige  Störungen.  Beim 
Einschlafen  treten  zeitweise  Hailucinationen  auf,  besonders  des  Ge- 
sichtes; die  Kranken  liegen  viele  Stunden  lang  wach,  mit  zwangs- 
mässigen,  phantastischen  Ideen  beschäftigt;  dafür  stellt  sich  am 
Tage  plötzlich  eine  unbezwingbare  Müdigkeit  ein,  die  sie  mitten  in  der 
Gesellschaft,  in  der  Unterhaltung  trotz  aller  Gegenanstrengungen  über- 
wältigt. Auf  dem  Gebiete  der  Sensibilität  machen  sich  verschieden- 
artige Paraesthesien  und  Hyperaesthesien  bemerkbar,  namentlich  am 
Herzen  sowie  in  der  Magen-  und  Blasengegend.  Die  Reflex- 
erregbarkeit nimmt  zu,  doch  fehlt  der  Patellarreflex  nicht  selten; 
die  Bewegungen  werden  unsicher,  bisweilen  zitternd,  ataktisch. 
Hie  und  da  werden  Erschwerung  der  Sprache,  Paresen  in  der 


106 


III.  Die  Vergiftungen. 


Musculatur  des  Auges  beobachtet  (Doppeltsehen,  Accomraodations- 
schwäche).  Die  allgemeine  Ernährung  leidet  immer  erheblich ; das 
Körpergewicht  nimmt  ab;  die  Haut  wird  welk,  schlaff  und  fahl: 
das  Fettpolster  schwindet.  Die  Absonderung  des  Magensaftes  stockt: 
der  Appetit,  namentlich  für  Fleischspeisen,  vermindert  sich;  es 
stellt  sich  zeitweiliger  Heisshunger  oder  bei  grosser  Trockenheit  des 
Mundes  unstillbarer  Durst  ein;  die  meist  bestehende  Verstopfung 
wechselt  mit  vorübergehenden  Durchfällen.  Von  Seiten  der  Kreis- 
laufsorgane wird  hie  und  da  quälendes  Herzklopfen  beobachtet; 
der  Puls  ist  etwas  beschleunigt,  bisweilen  unregelmässig.  Das  Ohren- 
sausen, die  Benommenheit,  die  Schwindel-  und  selbst  Ohnmachts- 
anfälle sowie  die  reichlichen  kalten  Schweisse  und  das  Frösteln  der 
Morphinisten  sind  wol  ebenfalls  auf  vasomotorische  Störungen  zurück- 
zuführen; ferner  gehören  auch  Athmungsbehinderungen.  be- 
sonders asthmatische  Beschwerden,  nicht  selten  zu  dem  hier  ge- 
zeichneten Krankheitsbilde.  Die  libido  sexualis  und  die  Potenz 
nimmt  ab;  die  Menses  hören  auf;  bei  bestehender  Schwangerschaft 
bleibt  die  Entwicklung  der  Frucht  zurück.  Levinstein  be- 
trachtet endlich  noch  Eiweissgehalt  des  Harns  sowie  eigenthüm- 
liche  tertiane  Fieberanfälle  als  gelegentliche  Zeichen  des  Morphinis- 
mus, doch  haben  andere  Beobachter  seine  Angaben  nicht  bestätigen 
können. 

Die  Schnelligkeit,  mit  welcher  sich  die  ganze  Reihe  dieser 
Störungen  entwickelt,  ist  eine  sehr  verschiedene;  sie  hängt  natur- 
gemäss  einmal  von  der  Menge  des  gebrauchten  Morphiums  und 
weiterhin  von  der  Widerstandsfähigkeit  des  gesammten  Menschen  ab. 
Bisweilen  machen  sich  die  ersten  Erscheinungen  der  chronischen 
Vergiftung  schon  nach  einigen  Monaten  des  Morphi umgebrauches 
geltend;  in  anderen  Fällen  können  Jahre,  selbst  viele  Jahre  ver- 
gehen, bevor  ernstere  Störungen  zum  Ausbruche  kommen.  Letzteres 
ist  besonders  dann  die  Regel,  wenn  der  Kranke  Selbstbeherrschung 
genug  besass,  von  Zeit  zu  Zeit  mit  der  Gabe  des  Mittels  wieder 
etwas  zurückzugehen.  Der  sonst  gleichmässig  fortschreitende  Ver- 
lauf des  Morphinismus  lässt  unter  diesen  Umständen  mehr  oder 
weniger  ausgiebige  Besserungen  des  Allgemeinzustandes  erkennen. 
Die  Dauer  des  Morphinismus  ist  in  gewissem  Sinne  eine  fast  un- 
begrenzte; schon  jetzt  sind  Fälle  bekannt,  in  denen  das  Morphium 
ohne  Unterbrechung  20  Jahre  hindurch  und  länger  fortgenommen 


Morphinismus. 


107 


wurde.  Wie  der  Thierversuch  gelehrt  hat  (Nissl),  scheinen  sich 
bei  längerem  Gebrauche  des  Mittels  ausgebreitete,  vielfach  zum 
Schwunde  der  Zellen  führende  Veränderungen  an  den  Rinden- 
zellen einzustellen,  die  von  einer  Vermehrung  des  Gliagewebes  be- 
gleitet sind. 

Der  Morphinismus  ist  fast  ausschliesslich  eine  Krankheit  der 
besseren  Stände,  schon  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  er  sehr  viel 
Geld  kostet.  Die  grössere  Leichtigkeit,  sich  das  Mittel  zu  verschaffen, 
lässt  das  männliche  Geschlecht  und  hier  vor  allem  die  mit  dem 
ärztlichen  Berufe  in  Beziehung  stehenden  Personen  besonders  stark 
gefährdet  erscheinen.  Man  kann  rechnen,  dass  75 °/0  der  Morphi- 
nisten Männer  und  von  diesen  wieder  mindestens  die  Hälfte  Aerzte 
sind.  Rodet  fand  unter  1000  Morphinisten  287  Aerzte.  Dazu 
kommen  noch  in  grosser  Zahl  deren  Angehörige,  namentlich  die 
Krauen.  Sehr  angestrengte,  aufreibende  Thätigkeit,  die  zu  Schlaf- 
losigkeit führt  und  nur  ungenügende  Erholung  zulässt,  bereitet  dem 
Morphium  den  Weg.  Etwa  60  °/0  der  Morphinisten  erkranken  daher 
im  rüstigsten  Alter,  zwischen  dem  25.  und  40.  Lebensjahre.  Weiter- 
hin ist  natürlich  die  Gefahr,  dem  dauernden  Missbrauche  des  Morphiums 
zu  verfallen,  um  so  grösser,  je  angenehmer  sich  die  ganze  Wirkung 
des  Mittels  im  einzelnen  Falle  gestaltet;  es  giebt  Menschen,  bei  denen 
bereits  die  erste  Einspritzung  in  diesem  Sinne  über  das  ganze 
fernere  Leben  entscheidet.  Endlich  ist  offenbar  die  Neigung  zum 
Morphinismus  auch  wesentlich  von  der  psychischen  Veranlagung 
abhängig.  Ich  habe  immer  den  Eindruck  gehabt,  dass  eine  grosse 
Zahl  von  Morphinisten,  ebenso  wie  viele  Trinker,  schon  vor  der 
chronischen  Vergiftung  einen  bedeutenden  Grad  von  Willensschwäche 
dargeboten  haben;  Hysterische  und  constitutionell  Nervöse  sind  unter 
ihnen  zahlreich  vertreten.  Daraus  erklärt  sich  die  bisweilen  Staunens - 
werthe  Geringfügigkeit  der  Beweggründe  (Neugierde,  Verführung), 
welche  zum  Missbrauche  des  Mittels  geführt  haben,  sowie  der  un- 
glaubliche Leichtsinn,  mit  welchem  Morphinisten  das  Uebel  verbreiten, 
ihren  Leidensgefährten  Morphium  verschaffen  und  in  einer  Art  „esprit 
de  corps“  die  wirksame  Verfolgung  ihrer  Helfershelfer  zu  verhindern 
suchen.  Ein  junger  Morphinist  erzählte  mir,  dass  in  dem  russischen 
Regiment,  in  welchem  er  diente,  fast  alle  Offiziere  „zu  ihrem  Ver- 
gnügen gespritzt“  hätten;  ein  morphinistischer  Arzt  veranlasste  seine 
Braut  ohne  jeden  Grund,  ebenfalls  Morphium  zu  gebrauchen,  und 


108  III.  Die  Vergiftungen. 

diese  verführte  wiederum  ihre  nächste  Freundin,  sich  diesen  Genuss 
zu  verschaffen. 

Es  muss  indessen  an  dieser  Stelle  mit  aller  Schärfe  die  schwere 
Anklage  gegen  den  ärztlichen  Stand  erhoben  werden,  dass  er 
es  ist,  den  wir  für  das  Dasein  und  die  erschreckende  Verbreitung 
des  Morphinismus  in  allererster  Linie  verantwortlich  zu  machen 
haben.  Gäbe  es  keine  Aerzte,  so  gäbe  es  auch  keinen  Morphinis- 
mus. Die  Unwissenheit  und  der  Leichtsinn  der  Aerzte  sind  es, 
welche  den  Kranken  tagtäglich  bei  den  geringfügigsten  Anlässen  mit 
dem  höchst  gefährlichen  Mittel  bekannt  machen,  das  so  leicht  seine 
ganze  Zukunft  vernichten  kaun.  Mir  ist  es  vor  nicht  langer  Zeit 
vorgekommen,  dass  ein  Arzt  einem  Kranken,  dem  ich  mit  grösster 
Mühe  Alkohol  und  Morphium  entzogen  hatte,  ohne  irgend  erfind- 
baren Grund  zunächst  Codein,  späterhin  aber  ruhig  wieder  Morphium 
verordnete.  Namentlich  sind  es  allerdings  die  morphinistischen  Aerzte, 
die  mit  merkwürdiger  Regelmässigkeit  zu  wahren  Infectionsherden 
werden,  wie  sie  überhaupt  die  gefährliche  Neigung  haben,  mit 
grossen  Gaben  stark  wirkender  Arzneimittel  zu  wirthschaften.  Ich 
kannte  einen  derartigen  Collegen,  — und  solche  Beispiele  sind 
leider  nicht  selten  — der  bei  seinen  zahlreichen  Kranken  jede  be- 
liebige Klage  durch  eine  Morphiumeinspritzung  zu  beseitigen  pflegte 
und  so  gewissermassen  das  Haupt  einer  ganzen  Morphinisten  gemeinde 
wurde.  Dieser  Mann  handelte  freilich  unverantwortlich,  aber  wenigstens 
uneigennützig.  Viel  schlimmer  ist  es,  dass  sich  in  unserem  Stande 
Subjecte  finden,  welche  die  Noth  der  Morphinisten  planmässig  aus- 
nützen, um  ihnen  für  schweres  Geld  die  ihnen  unentbehrlichen 
Recepte  zu  schreiben!  Ich  besass  das  Recept  eines  Arztes,  der 
einem  Morphinisten  nicht  weniger  als  1 gr  Morphium  in  einmaliger 
Gabe  zu  beliebiger  Verwendung  aufgeschrieben  hatte;  ein  anderer 
Kranker  trat  in  die  Cur  mit  einer  ganzen  Batterie  von  Flaschen  mit 
Morphiumlösung,  welche  ihm  sein  Hausarzt  vorsorglich  noch  auf- 
geschrieben hatte. 

Die  Prognose  des  Morphinismus  ist  in  jedem  Falle  eine  sehr 
ernste.  Hie  und  da  kommen  plötzliche  Todesfälle  vor.  Die  Kranken 
greifen,  namentlich  nach  Entziehungscuren,  die  Gabe  einmal  viel  zu 
hoch,  oder  es  entwickeln  sich  unter  dem  Einflüsse  der  Ersatzmittel 
des  Morphiums  chronische  Herzleiden,  welche  zu  unvorhergesehenen 
Collapsen  führen.  Andererseits  ist  der  Ausgang  in  schweres,  mit 


Morphinismus. 


109 


dein  Tode  endendes  Siechthum  bei  reinem  Morphinismus  nicht  ge- 
rade allzu  häufig,  und  die  Entziehung  des  Mittels  gelingt  unter  den 
nöthigen  Vorsichtsmassregeln  fast  immer  ohne  besondere  Schwierig- 
keiten. Allein  die  Gefahr  immer  und  immer  wiederholter  Rückfälle, 
welche  nothwendig  zu  einer  vollständigen  Vernichtung  des  Lebens- 
glückes führen,  ist  eine  ausserordentlich  grosse;  nur  eine  sehr  ge- 
ringe Zahl  von  Morphinisten  vermag  ihr  auf  die  Dauer  zu  entgehen. 
Mit  voller  Sicherheit  kann  ich  von  den  Dutzenden  von  Morphinisten, 
die  ich  in  den  letzten  Jahren  behandelt  habe,  nur  einige  wenige  für 
dauernd  geheilt  halten.  Ganz  besonders  gefährdet  sind  auch  in 
dieser  Beziehung  alle  diejenigen  Personen,  denen  entweder  ihr  Be- 
ruf die  Erlangung  des  Morphiums  besonders  leicht  macht,  oder  denen 
irgend  ein  chronisches,  mit  Schmerzen  und  Beschwerden  verbundenes 
Leiden  die  Verführung,  nach  dem  erlösenden  Mittel  zu  greifen,  immer 
von  neuem  mit  unwiderstehlicher  Macht  aufdrängt. 

Eine  weitere,  ernste  Gefahr  droht  dem  Morphinisten  aus  der 
Verbindung  des  Morphiums  mit  anderen  Nervenmitteln.  Namentlich 
der  Alkohol  (Wein,  Champagner)  ist  es,  der  mit  oder  ohne  ärztlichen 
Rath  zur  Milderung  der  Entziehungserscheinungen  herangezogen 
wird  und  den  Kranken  nur  zu  häufig  dem  Alkoholismus  in  die 
Arme  treibt.  In  ähnlicher  Weise  kommt  das  Chloralhydrat,  der 
Aether,  das  Chloroform  und  in  neuerer  Zeit  vor  allem  das  Cocain 
in  Anwendung.  Niemals  gelingt  es  den  Kranken,  auf  diese  Weise 
das  Morphium  aus  eigener  Kraft  los  zu  werden  oder  auch  nur 
durch  ein  anderes  Mittel  zu  ersetzen;  in  der  Regel  kommt  zu  dem 
alten  Uebel  einfach  ein  neues,  kaum  weniger  schlimmes  oder  noch 
schlimmeres  hinzu. 

Die  Erkennung  des  Morphinismus  stützt  sich  neben  der  Be- 
achtung der  körperlichen  Vergiftungserscheinungen  (Myosis,  Appetit- 
losigkeit, Ernährungsstörung)  sowie  der  oft  sehr  ins  Auge  fallenden 
Einspritzungsspuren  (glänzende,  ovale  Narben,  schwielige  Verhärtungen 
oder  selbst  atonische  Geschwüre,  meist  an  den  Armen,  aber  auch 
an  Bauch  und  Oberschenkeln)  namentlich  auf  den  eigenthümlichen 
Wechsel  der  Zustände,  welchen  der  Morphinist  darzubieten  pflegt. 
Die  geistige  Frische  und  Leistungsfähigkeit,  die  gehobene  Stimmung 
nach  der  Einspritzung  muss  ja  nur  allzubald  einer  hochgradigen 
Ermüdung,  Schlaffheit,  Willenlosigkeit  und  Niedergeschlagenheit 
weichen,  so  dass  dem  aufmerksamen  Beobachter  der  Gegensatz 


110 


III.  Die  Vergiftungen. 


zwischen  diesem  verschiedenartigen  Verhalten  kaum  verborgen 
bleiben  kann.  Für  die  Erkenntniss  der  besonderen  Ursache  finden 
sich  dann  bei  näherem  Nachforschen  bald  weitere  anamnestische  und 
thatsächliche  Anhaltspunkte.  Die  Kranken  haben  die  Neigung,  sich, 
wenn  sie  abgespannt  sind,  unter  irgend  welchem  Vorwände  für 
einige  Augenblicke  zurückzuziehen  und  kehren  dann  nach  erledigter 
Einspritzung  merkwürdig  angeregt  und  munter  zurück.  Leider  lässt 
sich  das  Morphium  in  den  Ausscheidungen  der  Kranken  nur  sehr 
schwierig  nachweisen,  da  es  zum  grössten  Theile  in  den  Koth  über- 
geht. Die  volle  Sicherheit  über  das  Bestehen  des  Morphinismus  kann 
man  sich  durch  eine  zuverlässige  Abschliessung  des  Kranken  ver- 
schaffen. Hat  man  diesem  Letzteren  wirklich  jede  Möglichkeit  einer 
heimlichen  Morphiumzufuhr  abgeschnitten,  so  darf  der  Eintritt  oder 
das  Ausbleiben  der  Entziehungserscheinungen  als  ein  untrügliches 
Erkennungsmittel  gelten. 

Die  wichtigste  Aufgabe  bei  der  Bekämpfung  des  Morphinis- 
mus ist  ohne  Zweifel  die  Vorbeugung,  die  leider  noch  sehr  im  Argen 
liegt.  Einen  Theil  dieser  Aufgabe  hat  die  Gesetzgebung  zu  lösen 
gesucht,  indem  sie  den  V erkauf  des  Morphiums  ohne  besondere  ärzt- 
liche Vorschrift  in  jedem  einzelnen  Falle  verbietet.  Es  ist  öffent- 
liches Geheimniss,  dass  die  Morphinisten  diese  Bestimmungen  ohne 
erhebliche  Schwierigkeit  zu  durchbrechen  oder  zu  umgehen  wissen. 
Die  besten  Helfershelfer  sind  ihnen  dabei  gewisse,  namentlich  mor- 
phinistische  Aerzte.  Nach  meinen  Erfahrungen  kann  ich  daher  nur 
aus  voller  Ueberzeugung  der  von  Lewin*)  aufgestellten  Forderung 
zustimmen,  dass  jedem  an  Morphinismus  leidenden  Arzte  bis  zum 
Nachweise  seiner  dauernden  und  vollständigen  Heilung  das  Recht 
der  Praxis  entzogen  werden  sollte.  Freilich  stehen  der  Durchführung 
einer  solchen  Massregel  sehr  grosse  Schwierigkeiten  im  Wege.  Aber 
auch  in  anderer  Richtung  können  wir  Aerzte  zur  Bekämpfung  des 
Morphiummissbrauches  ausserordentlich  viel  thun.  "Wir  sollten  es 
uns  zum  festen  Grundsätze  machen,  bei  allen  chronischen  Er- 
krankungen nur  dann  zum  Morphium  zu  greifen,  wenn  die- 
selben durchaus  unheilbar  sind  und  zum  Tode  führen. 
Aber  auch  hier,  ebenso  bei  acuten  Leiden,  soll  das  Morphium  nur 
dann  und  nur  so  lange  gegeben  werden,  als  es  unumgänglich. 


*)  Berliner  klinische  Wochenschrift,  1891,  51. 


Morphinismus. 


111 


nothwendig  ist.  Einfache  neurasthenische  und  hysterische  Beschwerden 
mit  Morphium  zu  behandeln,  muss  unbedingt  als  ärztlicher  Kunst- 
fehle r gelten.  Gewissenlos  ist  es  endlich,  unter  welchem  Yorwande 
es  auch  sei,  irgend  einem  Kranken  Spritze  oder  Lösung  zum  eigenen 
Gebrauche  in  die  Hand  zu  geben  und  überhaupt  grössere 
Mengen  des  Mittels  zu  verschreiben,  deren  Verwendung  nicht  genau 
überwacht  werden  kann. 

Die  Behandlung  des  entwickelten  Morphinismus  besteht  in 
der  Entziehung  des  Mittels  unter  ärztlicher  Aufsicht.  Da  sie  mit 
gewissen  Gefahren  verknüpft  ist,  wird  man  sie  möglichst  nur  bei 
gutem  Kräftezustande  einleiten;  Schwangerschaft,  acute  Krankheiten, 
schweres  Sieclithum  sind  als  Gegeuanzeigen  zu  betrachten.  Völlige 
und  dauernde  Abgewöhnung  des  Morphiums  aus  eigener  Kraft 
kommt  erfahrungsgemäss  niemals  oder  doch  nur  überaus  selten 
vor.  Aus  diesem  Grunde  kann  die  Entziehung  mit  Aussicht  auf 
Erfolg  nur  in  der  Weise  durchgeführt  werden,  dass  sich  der  Kranke 
für  einige  Zeit  bedingungslos  in  die  Hände  des  Arztes  und  in  Ver- 
hältnisse begiebt,  die  eine  völlige  Ausschliessung  des  Morphiums 
mit  Sicherheit  gestatten.  Allerdings  ist  es,  namentlich  im  Hinblicke 
auf  die  sittliche  Unzuverlässigkeit  der  Morphinisten,  nicht  immer 
leicht,  sich  nach  dieser  Richtung  hin  ausreichende  Gewähr  zu  ver- 
schaffen. Die  Erfahrung  zahlloser  schlauer  Betrügereien  seitens 
der  Kranken,  ihrer  Angehörigen  und  Freunde,  der  Mitkranken,  des 
Wartpersonals  predigt  eindringlich  die  Nothwendigkeit  des  äusser- 
sten,  unermüdlichsten  Misstrauens.  Ein  kranker  College  bewog  einen 
Wärter  durch  Schenken  eines  Anzugs  und  das  Versprechen,  ihn  als 
Diener  anzustellen,  zur  heimlichen  Besorgung  eines  Morphiumreceptes. 

Es  muss  daher  zum  mindesten  als  eine  gefährliche  Selbst- 
täuschung betrachtet  werden,  wenn  manche  Aerzte  glauben,  bei  der 
Behandlung  des  Morphinismus  das  Sicherungsmittel  der  genauesten 
Ueberwachung  und  einen  gewissen  äusseren  Zwang  entbehren  zu 
können.  Ich  besitze  den  Bericht  eines  bekannten  Arztes,  der  im  Hin- 
blick auf  die  Milde  der  von  ihm  geübten  Entziehungscur  seine  Kranken 
frei  schalten  und  walten  liess  und  ihnen  nur  mittheilte,  dass  sie 
selbst  die  Verantwortung  trügen,  wenn  sie  sich  ohne  sein  Wissen 
Morphium  verschafften.  Die  Folge  davon  war,  dass  die  Kranken 
unter  seiner  Behandlung,  freilich  ohne  sein  Wissen,  noch  mehr 
spritzten,  als  vorher. 


112 


III.  Die  Vergiftungen. 


Sobald  dem  Kranken  das  gewohnte  Reizmittel  entzogen  wird, 
treten  nach  einigen  (5 — 6)  Stunden  die  sog.  Abstinenzerschei- 
nungen hervor,  die  von  Marino  auf  die  Giftwirkungen  des  Oxvdi- 
morphins  zurückgeführt  worden  sind.  Wir  haben  diese  Störungen 
zum  Theil  schon  in  dem  Bilde  des  Morphinismus  als  die  Ursachen 
kennen  gelernt,  welche  den  gequälten  Kranken  immer  von  neuem 
zur  Spritze  greifen  lassen.  Was  aber  dort  nur  angedeutet  war  und 
stets  durch  die  neue  Vergiftung  rasch  beseitigt  wurde,  das  tritt  hier 
oft  mit  grosser  Gewalt  in  den  Vordergrund.  Quälende  Unruhe, 
häufiges  Gähnen,  Niesen,  Angst,  Beklemmungsgefühle,  Paraesthesien 
in  den  verschiedensten  Gegenden  des  Körpers  stürmen  mächtig  auf 
den  Kranken  ein  und  lassen  ihn  sehr  rasch  alle  die  guten  Vorsätze 
vergessen,  mit  denen  er  sich  in  die  Behandlung  des  Arztes  begeben 
hat.  Dabei  besteht,  wenigstens  in  der  ersten  Zeit,  völlige  Schlaf- 
losigkeit, gegenüber  der  die  gebräuchlichen  Schlafmittel  meistens 
versagen.  Das  Chloralhydrat  pflegt  sogar  die  psychische  Erregung 
bedeutend  zu  steigern  und  Zustände  von  hallucinatorischer,  traum- 
artiger Verworrenheit  herbeizuführen.  Aber  auch  abgesehen  davon 
kaun  sich  bisweilen,  namentlich  bei  Herzschwäche,  unter  lebhafter 
Zunahme  der  Aufregung  ein  Krankheitsbild  entwickeln,  welches  die 
grösste  Aehnlichkeit  mit  dem  Delirium  tremens  der  Trinker  darbietet. 
zumal  auch  die  Unsicherheit  der  Bewegungen  und  das  Zittern  der 
Hände  in  gleicher  Weise  sich  einzustellen  pflegt.  Allerdings  dauert 
dieser  Zustand  gewöhnlich  nur  eine  Reihe  von  Stunden  oder  doch 
nicht  mehr  als  einige  Tage;  nur  einmal  sah  ich  ihn  sich  über 
mehrere  Wochen  erstrecken.  Hier  hatte  vorher  zum  Zwecke  der 
Entziehung  ein  bedeutender  Alkoholmissbrauch  stattgefunden:  wahr- 
scheinlich ist  in  solchen  Umständen  auch  sonst  die  eigentliche  Ur- 
sache des  Delirium  tremens  der  Morphinisten  zu  suchen.  Weiterhin 
kommen  hie  und  da  hysterische  Dämmerzustände  mit  Sinnes- 
täuschungen und  Krämpfen  in  der  Entziehungszeit  zur  Beob- 
achtung. 

Auch  im  Bereiche  des  übrigen  Nervensystems  macht  sich 
die  gewaltige  Umwälzung  geltend,  welche  durch  die  Entziehung  des 
gewohnten  Reizmittels  herbeigeführt  wird.  Es  treten  unwillkürliche 
Bewegungen  und  Zuckungen  in  den  Beinen,  asthmatische  Zufälle, 
Zwerchfellkrämpfe,  Krampfhusten,  Accommodationsparesen,  Tenesmen, 
Blasenkrämpfe  und  -Lähmungen,  Erbrechen,  Herzklopfen,  namentlich 


Morphinismus. 


113 


aber  Ohnmächten  und  gefährliche  Collapse  mit  plötzlichem,  raschem 
Sinken  der  Herzthätigkeit  auf,  die  sich  unter  Umständen  mehrmals 
wiederholen  und  sogar  ohne  weiteres  in  den  Tod  hinüberführen 
können.  Die  secretorisch en  Verrichtungen,  welche  unter  dem 
Einflüsse  des  Morphiums  darniederlagen,  zeigen  eine  rasch  vorüber- 
gehende beträchtliche  Steigerung,  welche  sich  in  reichlicher  Speichel- 
und Schweissabsonderung  sowie  in  andauernden  starken  Durchfällen 
kundgiebt;  bisweilen  tritt  Eiweiss  im  Harn  auf.  Die  Schwere  der 
Entziehungserscheinungen  ist  eine  ausserordentlich  verschiedene.  Sie 
hängt  von  der  Grösse  der  Gabe,  der  Länge  der  Gewöhnung,  dem 
Allgemeinzustande  der  Kranken  und  der  persönlichen  Veranlagung 
ab.  Bisweilen  beschränken  sich  die  Störungen  auf  einige  Durch- 
fälle, Schwitzen,  lebhaftes  Unbehagen  und  Schlaflosigkeit,  während 
bei  anderen  Kranken  die  allerschwersten,  das  Leben  bedrohenden 
Zufälle  auftreten.  Eine  Entziehung  ganz  ohne  Beschwerden  giebt 
es  indessen  nach  meinen  Erfahrungen  nicht.  Wo  die  Erscheinungen 
auffallend  gering  sind  oder  gar  völliges  Wohlbefinden  besteht,  wird 
sicher  heimlich  Morphium  zugeführt.  Noch  vor  einiger  Zeit  wurde 
ich  auf  einen  derartigen  Betrug  dadurch  aufmerksam,  dass  ich  den 
betreffenden  Kranken,  einen  Collegen,  bei  der  Visite  behaglich 
schlafend  antraf. 

Alle  Entziehungserscheinungen  lassen  sich  nämlich  durch  das 
Morphium  selbst  wieder  beseitigen  oder  doch  erheblich  mildern. 
Diese  Thatsache  ist  es,  die  zur  Aufstellung  zweier  verschiedener 
Hauptmethoden  der  Morphiumentziehung  geführt  hat,  zu  der  plötz- 
lichen und  zu  der  allmählichen  Entziehungscur.  Bei  der  ersteren 
lässt  man  von  der  gewohnten  Gabe  aus  die  Morphiumeinspritzungen 
mit  einem  Schlage  vollständig  wegfallen,  während  man  im  anderen 
Falle  zuerst  langsam  mit  der  Gabe  heruntergeht  oder  die  Zwischen- 
zeiten vergrössert,  bevor  man  endlich  mit  den  Einspritzungen  voll- 
ständig abbricht.  Beide  Verfahren  haben  ihre  eifrigen  Vertheidiger 
gefunden.  Während  bei  der  plötzlichen  Entziehung  (Levinstein) 
die  Abstinenzerscheinungen  meist  ausserordentlich  schroff  hervortreten, 
von  vorübergehenden  Delirien  und  namentlich  der  Gefahr  schwerer 
Collapse  begleitet  sind,  dafür  aber  binnen  wenigen  Tagen  ablaufen, 
gestalten  sich  jene  Störungen  bei  der  allmählichen  Entziehung 
(Burkart)  weniger  stürmisch,  erstrecken  sich  aber  über  eine  viel 
längere  Zeit.  Gerade  dieser  Umstand  erschwert  natürlich  den 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aull.  II.  Band.  8 


114 


III.  Die  Vergiftungen. 


völligen  Ausschluss  jeder  unberufenen  Morphiumzufuhr  ungemein, 
namentlich  wenn  man  den  besonnenen  Kranken,  was  bei  einer  Cur- 
dauer  von  3,  4 und  mehr  Wochen  schwer  zu  umgehen  ist,  etwas 
freiere  Bewegung  gestattet;  die  Möglichkeit  eines  Betruges  liegt  daher 
ausserordentlich  nahe.  Um  dieser  Gefahr  einerseits,  den  oben  ge- 
schilderten lebenbedrohenden  Zufällen  andererseits  auszuweichen, 
hat  Erlenmeyer  mit  seinem  „schnellen“  Entziehungsverfahren, 
welches  sich  über  1 — 2 Wochen  erstreckt,  einen  Mittelweg  ein- 
geschlagen, der  in  der  That  für  die  überwiegende  Mehrzahl  der 
Fälle  am  angemessensten  erscheint.  Da  jeder  Morphinist  weit  mehr 
Morphium  zu  nehmen  pflegt,  als  für  sein  Wohlbefinden  nothwendig 
ist  (Existenzminimum),  wird  zunächst  sofort  auf  die  Hälfte  oder 
selbst  ein  Drittel  der  gewohnten  Menge  heruntergegangen  und  dann 
allmählich  planmässig  die  Gabe  weiter  vermindert;  die  Abendein- 
spritzung fällt  zuletzt  fort. 

Die  Behandlung  der  Morphiumentziehung  bedarf  überall  der 
vollen  und  andauernden  Aufmerksamkeit  des  Arztes.  Vor 
allem  muss  der  Puls  unter  genauer  Ueberwachung  gehalten  werden, 
so  dass  bei  dem  Herannahen  der  Collapsgefahr  ein  anregendes  Ver- 
fahren (kühle  Uebergiessungen,  kräftige  Hautreize  durch  den  fara- 
dischen  Pinsel  und  Senfteige,  Aether-  oder  Kamphereinspritzungen, 
starker  Kaffee,  Punsch,  Champagner)  eingeleitet  werden  kann:  im 
Nothfalle  wird  man  nicht  zögern,  durch  eine  Morphiumgabe  die 
schweren  Erscheinungen  zu  beseitigen.  Gegen  die  hartnäckige  Un- 
ruhe und  Schlaflosigkeit  wird  man  bisweilen  durch  Eisanwendung 
auf  den  Kopf,  durch  laue  Bäder  oder  durch  ein  Schlafmittel,  wenn 
es  der  Kranke  verträgt,  etwas  erreichen  können.  Die  mannigfachen 
Schmerzen  lindert  ebenfalls  oft  die  örtliche  Anwendung  der  Kälte; 
gegen  Stuhldrang  und  Durchfälle  helfen  laue  Eingiessungen  und 
Stuhlzäpfchen  mit  Belladonna.  Das  Erbrechen  wird  durch  Eispillen 
und  Kataplasmen  bekämpft.  Da  das  Morphium  auch  bei  Einspritzung 
unter  die  Haut  sehr  rasch  in  den  Magen  gelangt,  hat  Hitzig  Magen- 
ausspülungen angewendet,  welche  nicht  nur  die  genannte  Erscheinung, 
sondern  auch  das  Gesammtbild  der  Entziehung  in  sehr  günstiger 
Weise  beeinflussen  sollen.  Erlen rnej^er  hält  es  für  zweckmässig, 
die  unter  dem  Morphiumeinflusse  stockende,  in  der  Entziehung 
überreichlich  erfolgende  Säureabsonderung  im  Magen  durch 
Zufuhr  alkalischer  Wässer  (Fachinger,  Vichy)  abzustumpfen; 


Morphinismus.  115 

während  des  Morphiumgebrauches  empfiehlt  er  die  Darreichung 
von  Salzsäure. 

Zur  Erleichterung  der  Entziehung  schlägt  Burkart  vor,  zunächst 
die  innerliche  Anwendung  des  Morphiums  an  Stelle  der  Einspritzung 
zu  setzen  und  endlich  auch  fernerhin  durch  Opiumgaben  den  Ausfall 
des  gewohnten  Genussmittels  weniger  fühlbar  zu  machen.  Da  in- 
dessen erfahrungsgemäss  und  aus  naheliegenden  Gründen  der  Opium- 
missbrauch nicht  selten  denjenigen  des  Morphiums  einfach  ersetzt, 
so  ist  der  Nutzen  dieses  Verfahrens  nicht  recht  verständlich.  Das 
anfänglich  so  begeistert  angepriesene  Cocain  muss  nach  den  jetzt 
vorliegenden  Erfahrungen  einfach  als  ein  minderwerthiger  und  zu- 
gleich sehr  gefährlicher  Ersatz  für  das  Morphium  angesehen  werden  • 
es  lindert  viele  Beschwerden  der  Morphiumentziehung,  wirkt  aber 
immer  nur  für  kurze  Zeit  und  führt  in  jedem  Falle  die  äusserst 
bedenkliche  Wahrscheinlichkeit  eines  späteren  Morphio-Cocainismus 
herauf.  Vor  seiner  Anwendung  kann  daher  nicht  eindringlich 
genug  gewarnt  werden.  Ueber  den  Werth  des  ebenfalls  als  Er- 
leichterungsmittel bei  der  Morphiumentziehung  empfohlenen  Nitro- 
glycerin, Spartein,  Napellin  werden  erst  weitere  Erfahrungen  zu  ent- 
scheiden haben.  Ebenso  vermag  ich  ein  eigenes  Urtheil  über  die 
Erfolge  der  Hypnose  in  diesen  Zuständen  zur  Zeit  nicht  abzugeben*). 
Dagegen  ist  es  ohne  Zweifel  von  besonderer  Wichtigkeit,  in  der 
Entziehungscur  gleich  von  Anfang  an  auf  eine  zweckmässige  und 
reichliche  Ernährung  der  Kranken  bedacht  zu  sein,  da  dieselben 
wegen  ihrer  Appetitlosigkeit  und  Aufregung  sonst  rasch  von  Kräf t en 
kommen.  Die  Einführung  von  flüssiger  Nahrung,  namentlich  stark 
gekühlter  Milch  mit  Sodawasser,  pflegt  trotz  der  Neigung  zum  Er- 
brechen meist  zu  gelingen. 

Die  auffallenderen  Abstinenzerscheinungen  treten  bei  der  plötz- 
lichen Entziehung  oft  schon  nach  wenigen  Tagen,  bei  der  schnellen 
etwas  langsamer  und  bei  der  allmählichen  nach  einigen  Wochen 
oder  selbst  erst  Monaten  vollständig  in  den  Hintergrund.  Der 
Appetit  bessert  sich;  das  Körpergewicht  steigt  rasch ; der  Schlaf  stellt 
sich,  anfangs  mit  Hülfe  von  Schlafmitteln,  Wasserbehandlung,  dann 
aber  auch  von  selber  wieder  ein,  und  es  tritt  bei  den  Kranken 
mehr  und  mehr  das  Gefühl  der  Gesundheit  und  der  geistigen 


')  Wetterstrand,  Zeitschr.  f.  Hypnotismus,  LV,  1. 


8 


116 


III.  Die  Vergiftungen. 


Frische  hervor.  Allein  die  Gefahren  des  Morphinismus  sind  damit 
durchaus  noch  nicht  überwunden.  Koch  viele  Monate,  ja  selbst 
Jahr  und  Tag  nach  der  völligen  Entwöhnung  vom  Morphium  kann 
mit  einem  Male,  häufig  im  Anschlüsse  an  einen  äusseren  Anlass,  ein 
körperliches  Unwohlsein,  die  Ausführung  einer  Morphiumeinspritzung, 
oder  bei  Rückkehr  in  die  alte  Umgebung,  in  eine  aufreibende 
Thätigkeit  die  Keigung  zu  dem  Mittel  mit  fast  unwiderstehlicher 
Gewalt  wieder  hervortreten.  Kamentlich  6 — 8 Monate  nach  Wieder- 
aufnahme der  Arbeit  pflegt  sich  ein  Zustand  von  Nervosität  einzu- 
stellen, welcher  dem  genesenen  Morphinisten  ausserordentlich  gefähr- 
lich ist  und  eine  Ausspannung  und  Erholung  dringend  nothwendig 
macht.  Auch  späterhin  kehren  noch  öfters  in  schwächerer  Andeutung 
ähnliche  Mahnungen  zum  Ausruhen  wieder. 

Unter  diesen  Umständen  müssen  wir  dem  entlassenen  Morphi- 
nisten ernstlich  rathen,  jede  Schwankung  seiner  nervösen  und 
psychischen  Widerstandsfähigkeit  genau  zu  beachten  und  sich 
mindestens  ein  Jahr  lang  nach  beendeter  Cur  in  irgend  einer  Form 
unter  eine  gewisse  Ueberwachung  zu  stellen,  welche  jede  Neigung 
zum  Rückfalle  im  Keime  erstickt,  sei  es  in  der  Familie,  sei  es  in 
der  Gesellschaft  eines  zuverlässigen,  eingeweihten  Freundes.  Dem 
genesenden  Arzte  ist  es  ans  Herz  zu  legen,  dass  er  niemals  wieder 
eine  Einspritzung  selber  ausführt,  weil  gerade  dabei  die  Gefahr  des 
Rückfalles  am  drohendsten  hervorzutreten  pflegt.  Forel  empfiehlt 
ferner  jedem  Morphinisten,  wie  mir  scheint,  mit  gutem  Recht,  gleich- 
zeitig die  volle  Enthaltsamkeit  von  geistigen  Getränken  durchzuführen. 
Nicht  selten  ist  es  der  Leichtsinn  der  Berauschtheit  oder  der  Miss- 
muth  des  Katzenjammers,  welche  die  mühsam  bewahrte  Selbst- 
beherrschung über  den  Haufen  werfen  und  zum  Rückfall  führen. 
Endlich  habe  ich  es  in  mehreren  Fällen  erreicht,  dass  die  Genesenen 
sich  dazu  entschlossen,  einige  Jahre  lang  1 — 2 mal  jährlich  eine 
strenge  Ueberwachung  von  2 — 3 tägiger  Dauer  in  einer  geschlossenen 
Anstalt  durchzumachen.  Auf  diese  Weise  wird  dem  Kranken  selbst 
ein  gewisser  sittlicher  Halt  gegeben;  seine  Angehörigen  werden  be- 
ruhigt, und  ein  etwaiger  Rückfall  kann  nicht  allzulange  unentdeckt 
bleiben.  Freilich  pflegen  nur  diejenigen  wiederzukommen,  welche 
gesund  geblieben  sind;  von  den  Rückfälligen  hört  man  meist  erst 
auf  Umwegen  oder  gar  nicht. 

Die  vollständige  und  dauernde  Entziehung  des  Morphiums  er- 


Cocainismus. 


117 


weist  sich  selbst  beim  besten  Willen  des  Arztes  und  des  Kranken 
in  einer  Reihe  von  Fällen  als  undurchführbar.  Abgesehen  von 
jenen  Kranken,  denen  das  Leben  wegen  irgend  eines  unheilbaren, 
schmerzhaften  Leidens  nur  durch  das  Morphium  erträglich  wird, 
sieht  man  bei  älteren  Personen  jenseits  der  50  er  Jahre  sowie  bei 
sehr  lange  (Jahrzehnte)  bestehendem  Morphinismus  nicht  selten 
die  Entziehung  des  Morphiums  zu  einem  langsam  fortschreitenden 
Siechthum  führen,  welches  die  Lebensfähigkeit  in  höherem  Grade 
beeinträchtigt,  als  der  Morphinismus  selbst.  Hier  muss  man  sich 
damit  begnügen,  die  Gabe  des  Mittels  nach  Möglichkeit  niedrig  zu 
halten  und  den  Kranken  dauernd  unter  ärztliche  Aufsicht  zu  stellen. 


C.  Der  Cocainismns. 

Der  Cocainismus*)  ist  die  modernste  der  chronischen  Ver- 
giftungen. Die  angenehmen  Wirkungen  des  Cocains  in  der  Morphium- 
entziehung sind  es  gewesen,  welche  diesem  Mittel  sehr  rasch  eine 
unerfreuliche  Verbreitung  verschafft  haben.  In  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle  ist  daher  der  Cocainmissbrauch  mit  dem  Morphi- 
nismus verbunden,  und  Beobachtungen  von  reinem  Cocainismus  sind 
bei  uns  ziemlich  selten,  während  allerdings  in  der  Heimath  der  Coca, 
in  Peru,  die  Folgen  dieser  chronischen  Vergiftung  ebenso  wohl- 
bekannt  sind,  wie  diejenigen  des  Opiumrauchens  in  China. 

Die  nächste  Wirkung  des  Cocains  ist  eine  unter  Steigerung  der 
Pulszahl  und  Sinken  des  Blutdruckes  eintretende  rauschartige 
Erregung  mit  behaglichem  Wärmegefühle  und  ausgesprochenem 
Wohlbefinden.  Leider  bietet  der  psychologische  Versuch  mit  diesem 
Mittel  zu  grosse  Gefahren,  so  dass  wir  bisher  nur  sehr  wenig  über 
seine  genaue  psychische  Wirkung  wissen.  Allem  Anscheine 
nach  erzeugt  dasselbe  eine  sehr  bedeutende,  aber  kurzdauernde 
Steigerung  der  centralen  motorischen  Erregbarkeit,  welcher  dann 
eine  Lähmung  zu  folgen  scheint.  Nach  dieser  Richtung  hin  besteht 
also  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  dem  Alkohol,  doch  sind  die  Er- 

*)  Erlenmeyer,  a.  a.  0.  S.  154  ff.,  Tliomsen,  Chariteannalen  XII,  1887, 
S.  405;  Heymann,  Berliner  Klin.  Wochenschr.  XXIV,  1887,  S.  278;  Obersteiner, 
Wiener  Klin.  Wochenschr.  1888,  19;  Saury,  Annales  medico-psychologiques, 
1889,  439. 


118 


III.  Die  Vergiftungen. 


scheinungen  weit  stürmischere.  Dem  entspricht  auch  die  einfache 
Beobachtung  des  Cocainrausches.  Unter  der  Wirkung  des  Mittels 
wird  der  Mensch  lebhaft,  geschwätzig,  schreiblustig,  fühlt  sich  leistungs- 
fähiger und  kräftiger,  doch  folgt  ziemlich  bald  die  Erschlaffung. 
Grössere  Gaben  erzeugen  deliriöse  Erregungszustände  mit  Neigung 
zu  plötzlichen  Collapsen.  Auffallender  Weise  sind  die  bis  jetzt 
durch  den  Yergiftungs  versuch  nachweisbaren  Rindenzellen  Verände- 
rungen nach  Cocain  verhältnissmässig  geringfügig,  ein  Beweis  dafür, 
dass  dieselben  kein  zuverlässiger  Ausdruck  für  die  Schwere  der 
Functionsstörung  sind.  Nissl  fand  bei  Kaninchen,  die  eine  Reihe 
von  Tagen  möglichst  stark  vergiftet  worden  waren,  nur  eine  geringe 
Mitfärbung  der  ungefärbten  Substanz,  beginnende  Einschmelzung  der 
Zellkerne  und  eine  leichte  Yermehrung  der  weissen  Blutkörperchen 
in  der  Pia  und  den  Gelassen. 

Bei  längerer  Fortsetzung  der  Einspritzungen,  zu  der  man  durch 
ein  starkes  Unbehagen  beim  Aussetzen  des  Mittels  (Beklemmungs- 
gefühl, Herzklopfen,  Ohnmacht)  gedrängt  wird,  stellt  sich  eine 
dauernde  nervöse  Erregung  mit  leichter  Ideenflucht  und  völliger 
Unfähigkeit  zu  geistiger  Beschäftigung,  Willenlosigkeit  und  Abnahme 
des  Gedächtnisses  ein.  Der  Kranke  entwickelt  eine  planlose  Yiel- 
geschäftigkeit,  ist  ungemein  redselig  und  weitschweifig  im  münd- 
lichen Verkehre,  schreibt  langathmige,  ideenflüchtige  Briefe  ohne 
ersichtlichen  Zweck  und  verabsäumt  dabei  seine  wichtigsten  Obliegen- 
heiten. Er  wird  unzuverlässig  und  vergesslich,  unordentlich  und 
kopflos  in  seiner  ganzen  Lebensführung,  vernachlässigt  sein  Aeusseres 
und  geräth  mit  seiner  Berufsthätigkeit,  mit  seinen  gesellschaftlichen 
und  wirthschaftlichen  Verhältnissen  in  raschen  und  unaufhaltsamen 
Verfall.  Die  Stimmung  schwankt  zwischen  überschwänglichem 
Wohlbefinden,  grosser  Reizbarkeit  und  geheimer,  misstrauischer  Angst 
bei  gleichzeitiger  gemüthlicher  Abstumpfung,  die  sich  in  der  auf- 
fallenden Unempfindlichkeit  des  Kranken  gegen  die  nächstliegenden 
Forderungen  der  Sittlichkeit  kundgiebt. 

Diese  tiefgreifende  psychische  Veränderung  wird  regelmässig  von 
den  Anzeichen  schweren  körperlichen  Siechthums  begleitet. 
Die  allgemeine  Ernährung  liegt  trotz  reichlicher  Nahrungszufuhr 
darnieder;  das  Körpergewicht  sinkt  ungemein  rasch.  Das  Aussehen 
wird  greisenhaft,  die  Hautfarbe  fahl,  die  Gesichtszüge  schlaff,  aus- 
druckslos, müde,  der  Gang  unsicher;  es  besteht  grosse  körperliche 


Cocainismus. 


119 


Schwäche  und  Hinfälligkeit.  Die  Reflexe  sind  gesteigert;  häufig 
beobachtet  man  lebhafte  Muskelunruhe  und  selbst  krampfartige 
Zuckungen.  Die  Pupillen  sind  stark  erweitert;  die  Zunge  zittert. 
Der  Puls  ist  beschleunigt;  dazu  kommt  Herzklopfen.  Athemnoth, 
Neigung  zu  Ohnmächten.  Die  Schweissabsonderung  ist  vermehrt; 
die  Potenz  schwindet  trotz  gleichzeitiger  geschlechtlicher  Aufregung. 
Der  Schlaf  ist  stets  sehr  gestört,  zeitweise  völlig  aufgehoben,  so  dass 
die  Kranken  zn  Schlafmitteln,  namentlich  zum  Morphium  greifen. 
Bei  einem  14jährigen  Knaben  meiner  Beobachtung,  der  sich  seit 
sieben  Wochen  täglich  2 — 3 gr  Cocain  einspritzte  und  in  Folge  dessen 
bereits  eine  Beugecontractur  der  beiden,  von  zahlreichen  Abscessen 
durchsetzten  Arme  davon  getragen  hatte,  traten  ausserdem  Unrein- 
lichkeit sowie  häufige  Schwindelanfälle  mit  deliriöser  Verwirrtheit 
und  zeitweisen  Hallucinationen  auf. 

Auf  der  allgemeinen  Grundlage  der  cocainistischen  Entartung 
entwickelt  sich  überaus  häufig  das  eigenartige  Krankheitsbild  des 
Cocainwahnsinns,  der  in  vielen  Stückendem  früher  geschilderten 
Alkohol  Wahnsinn  ähnelt.  Der  Beginn  der  Erkrankung  ist  meist  ein 
rascher.  Nachdem  eine  reizbare,  misstrauische,  ängstliche  Stimmung 
mit  grosser  Ruhelosigkeit  und  Unstetigkeit  kurze  Zeit  vorhergegangen 
ist,  treten  plötzlich  Hallucinationen  auf  verschiedenen  Sinnesgebieten 
hervor.  Der  Kranke  hört  Schimpfworte,  Anspielungen,  Drohungen, 
Gespräche,  die  sich  auf  sein  gegenwärtiges  Thun  und  Treiben,  auf 
frühere  Erlebnisse,  ja  auf  seine  geheimsten  Gedanken  beziehen. 
Seine  Umgebung  erscheint  ihm  unheimlich,  verändert.  Er  sieht 
Bilder,  die  ihm  wie  mit  einer  Zauberlaterne  vorgespiegelt  werden, 
namentlich  aber  zahllose  winzige  Gegenstände,  die  von  ihm  als 
Flöhe,  Bakterien,  Krätzmilben,  Kry  stalle  aufgefasst  und  bisweilen 
auch  unter  dem  Mikroskope  wiedergefunden  werden.  So  kam  ein 
Arzt  zu  mir,  um  mir  als  Entdeckung  von  grösster  Tragweite  den 
Nachweis  von  Milben  an  allen  möglichen  Dingen,  vor  allem  in  den 
Oberhautschuppen  seiner  Finger  zu  zeigen.  Er  verlangte  Nach- 
prüfung der  von  ihm  mit  dem  Federmesser  sofort  losgelösten  Schüpp- 
chen, in  denen  er  schon  mit  freiem  Auge  seine  Milben  erkannte; 
Dauerpräparate  seien  ihm  leider  noch  nicht  gelungen.  Zugleich 
bat  er  um  Aufnahme  wegen  Morphio-Cocainismus.  Besonders  stark 
ausgebildet  pflegen  die  Gefühlstäuschungen  zu  sein.  Der  Kranke 
empfindet  ein  lebhaftes  Hautjucken,  das  er  auf  elektrische  oder 


120 


III.  Die  Vergiftungen. 


magnetische  Beeinflussung  zurückführt.  Er  glaubt  mit  Nadeln 
gespickt,  ausgesogen,  mit  Fäden  umsponnen,  von  Ungeziefer  auf- 
gezehrt zu  werden;  es  befinden  sich  Kügelchen,  feiner  Staub,  Cocain- 
krystalle  unter  der  Haut. 

Diese  letzten  Erfahrungen  zeigen  uns  deutlich  den  grossen  Ein- 
fluss, den  hier  die  wahnhafte  Deutung  auf  die  Verfälschung  der 
Wahrnehmung  hat.  Ziehen  in  den  Gliedern  wird  von  dem  Kranken 
als  Zeichen  einer  feindseligen  Vergiftung  betrachtet;  starkes  Herz- 
klopfen führt  zu  der  Befürchtung  einer  bevorstehenden  Herz- 
zerreissung.  In  Folge  der  Gehörstäuschungen  glaubt  sich  der  Kranke 
überall  bedroht  und  beobachtet.  Man  liest  seine  Gedanken  mit 
Hülfe  geheimnissvoller  Vorrichtungen;  in  den  Wänden  und  Thüren 
sind  versteckte  Oeöhungen,  durch  die  man  ihn  überwacht;  man 
verfolgt  ihn  durch  Radfahrer;  seine  Papiere  werden  durchstöbert 
und  gelesen;  in  verleumderischen  Briefen  werden  Niederträchtig- 
keiten und  Verdächtigungen  über  ihn  ausgestreut.  Von  allen  Seiten 
drohen  Gefahren,  denen  sich  der  Kranke  durch  Beschwerden  bei 
der  Polizei,  durch  Wohnungswechsel,  überstürzte  Reisen,  durch 
Drohungen  und  schliesslich  sogar  durch  feindliche  Angriffe  zu  ent- 
ziehen sucht.  Sehr  häufig  greift  er  zum  Revolver  und  schiesst  auf 
seine  vermeintlichen  Widersacher,  um  sein  Leben  so  theuer  als  mög- 
lich zu  verkaufen,  oder  er  macht  seiner  verzweifelten  Lage  durch 
Selbstmord  ein  Ende.  Einer  meiner  Kranken,  dem  das  Blut  in 
Strömen  aus  der  Brust  hervorzuquellen  schien,  und  der  daher  seinen 
Tod  herannahen  glaubte,  beschwor  seine  gleichfalls  unter  dem  Ein- 
flüsse des  Cocains  stehende  Frau,  mit  ihm  zu  sterben,  worauf  sie 
sich  sofort  mit  1 gr  (!)  Hyoscin  vergiftete,  das  er  unmittelbar  vor- 
her mit  zitternder  Hand  aus  der  Apotheke  verschrieben  hatte. 

Eine  sehr  eigenthümliche,  aber  anscheinend  typische  Störung  in 
diesenZuständen  ist  der  unsinnige  Eifersuchtswahn  der  Cocainisten. 
Wenn  schon  der  sonstige  Inhalt  der  Täuschungen  vielfach  ein  ge- 
schlechtlich obscöner  ist,  so  bemächtigt  sich  des  Kranken  ferner  die 
Idee,  dass  seine  Frau  ihm  von  jeher  untreu  gewesen  sei.  Er  hört 
und  glaubt,  dass  sie  von  allen  Seiten  Liebesbriefe  empfangen,  mit 
zahllosen  Männern  geschlechtlich  verkehrt  habe.  Sie  ist  blass  ge- 
worden, als  sie  plötzlich  von  ihrem  Manuo  überrascht  wurde,  hat 
schnell  ein  Papier  versteckt,  ist  schon  auf  der  Hochzeitsreise  mit 
einem  fremden  Herrn  im  Abtritt  verschwunden,  in  der  Tanzstunde 


Cocainismus. 


121 


von  Lieutenants  mit  aufs  Zimmer  genommen  worden.  Ein  College 
erzählte  mir  mit  dem  Ausdrucke  tiefsten  Bedauerns,  seine  Frau  sei 
leider  krank,  nymphomanisch  gewesen;  sie  habe  ihm  selber  ge- 
standen, dass  sie  sich  mit  jedem  Dienstmann  und  Droschkenkutscher 
vergangen  habe ; er  meine  fast,  sie  sei  schon  unkeusch  auf  die  Welt 
gekommen.  Auch  dieser  Wahn  kann  gelegentlich  zu  gefährlichen 
Angriffen  auf  die  vermeintlich  Schuldigen  führen. 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  trotz  der  zahlreichen,  nicht 
berichtigten  Sinnestäuschungen  und  Wahnideen  andauernd  so  klar, 
dass  sie  nicht  nur  über  ihre  Umgebung  orientirt,  sondern  auch  im 
Stande  sind,  zusammenhängend  und  ziemlich  geordnet  über  ihre 
Vorstellungen  und  Zustände  Auskunft  zu  geben.  Kur  vorübergehend 
kommt  es  unter  lebhafteren  Affectschwankungen  einmal  zu  stärkerer 
Bewusstseinstrübung  und  Verworrenheit.  Niemals  besteht  jedoch 
klare  Krankheitseinsicht;  auch  bei  anscheinend  vollkommener  Be- 
sonnenheit werden  die  unsinnigen  Wahnideen  festgehalten  und  folge- 
richtig gegen  alle  Einwände  vertheidigt.  Die  Kranken  weisen  den 
Verdacht  der  Geistesstörung  bestimmt  zurück,  suchen  vielleicht  gar 
den  Nachweis  zu  führen,  dass  diese  oder  jene  Person  ihrer  Um- 
gebung plötzlich  verrückt  geworden  sei.  Die  Stimmung  ist  erregt, 
reizbar,  zeitweise  zornig  und  erbittert,  am  häufigsten  misstrauisch 
und  niedergeschlagen.  Vielfach  sind  die  Kranken  sehr  zurückhaltend 
in  der  Mittheilung  ihrer  krankhaften  Ideen,  weichen  den  Fragen 
aus,  stellen  alles  in  Abrede.  Im  Benehmen  tritt  namentlich  eine 
ausgeprägte  Unruhe  und  Unstetigkeit  hervor;  sonst  kann  dasselbe, 
abgesehen  von  den  Zeiten  deliriöser  Benommenheit,  annähernd  nor- 
mal erscheinen,  wenn  nicht  einzelne,  geradezu  durch  Wahnideen 
hervorgerufene  Handlungen  die  schwere  geistige  Störung  verrathen. 
Die  körperlichen  Begleiterscheinungen  sind  diejenigen  der  chronischen 
Cocain  Vergiftung. 

Die  ganze  Entwicklung  des  Cocainwahnsinns  pflegt  sich  ziem- 
lich schnell,  oft  binnen  wenigen  Wochen  zu  vollziehen.  Dabei 
schliessen  sich  deutliche  Verschlimmerungen  mit  Zunahme  der 
Täuschungen  und  der  Erregung  an  die  einzelnen  Cocaingaben  an. 
Die  Mengen  des  verwendeten  Giftes  pflegen  rasch  zu  wachsen,  bis 
auf  einige  Gramm  in  24  Stunden.  Daneben  werden  zur  Bekämpfung 
der  Schlaflosigkeit  regelmässig  andere  Mittel,  am  häufigsten  Morphium, 
aber  auch  Chloralhydrat,  Sulfonal,  Hyoscin  u.  s.  f.  genommen.  So- 


122 


III.  Die  Vergiftungen. 


bald  das  Cocain  ausgesetzt  wird,  pflegen  die  stürmischen  deliriösen 
Zustände  sehr  rasch,  innerhalb  weniger  Tage,  zu  verschwinden, 
während  die  Wahnideen  erst  nach  Wochen  oder  selbst  Monaten  und 
die  Erscheinungen  der  psychischen  Zerrüttung  noch  weit  langsamer 
sich  verlieren. 

Die  Entstehung  des  Cocainismus  schliesst  sich,  wie  früher  be- 
merkt, fast  immer  an  einen  anfänglichen  Morphinismus  an.  Bei  dem 
Versuche,  sich  von  demselben  zu  befreien,  greift  der  Kranke  mit 
oder  ohne  Zureden  des  Arztes  zum  Cocain,  welches  ihm  zunächst 
und  ganz  vorübergehend  Erleichterung  verschafft,  ihn  dann  aber 
wegen  der  wachsenden  Unruhe  und  Schlaflosigkeit  zwingt,  zum  Mor- 
phium zurückzukehren.  Einer  meiner  Kranken  spritzte  anfangs  nur 
Morphium  ein,  pinselte  sich  aber  dann  wegen  Zahnschmerzen  die 
Mundschleimhaut  mit  Cocain.  Wenn  wir  es  demnach  praktisch  fast 
immer  mit  einer  Verbindung  beider  Mittel  zu  thun  haben,  so  dürften 
doch  die  hier  geschilderten  Krankheitserscheinungen  wesentlich  oder 
ausschliesslich  auf  die  Cocainwirkung  zu  beziehen  sein.  In  dem  zu- 
letzt erwähnten  Falle  traten  die  ersten  Gehörstäuschungen:  „Der  wird 
verhaftet!“  bald  nach  der  Anwendung  des  Cocains  auf,  und  wir 
wurden  erst  durch  sie  dazu  veranlasst,  nach  etwaigem  Gebrauche 
dieses  Mittels  zu  forschen,  von  dem  der  Kranke  bis  dahin  nichts  an- 
gegeben hatte.  Auch  sonst  ist  die  Entwicklung  stürmischer  psychischer 
Störungen  bei  reinem  Morphinismus  so  überaus  selten,  bei  der  Ver- 
bindung mit  Cocainismus  dagegen  so  regelmässig,  dass  die  ursäch- 
liche Bedeutung  gerade  des  Cocains  für  den  eigenartigen  psychischen 
Verfall  und  den  hallucinatorischen  Wahnsinn  der  Morphio-Cocainisten 
nicht  wol  bezweifelt  werden  kann. 

Der  chronische  Cocainismus  besitzt  eine  grosse,  unverkennbare 
Aehnlichkeit  mit  dem  Alkoholismus,  die  sich  bis  in  gewisse  Einzel- 
heiten hinein  erstreckt.  Die  Sinnestäuschungen  der  Cocainisten  er- 
innern durchaus  an  diejenigen  der  Alkoholdeliranten,  die  Eifersuchts- 
ideen an  den  bekannten  Wahn  der  Trinker.  Gleichwol  bestehen 
bestimmte  Unterschiede.  Die  Cocainzerrüttung  bricht  weit  ge- 
waltiger und  unwiderstehlicher  über  den  Menschen  herein,  als  der 
Alkoholismus;  die  schwersten  Störungen  werden  sehr  viel  rascher 
erreicht.  Der  Cocainwahnsinn  stellt  symptomatisch  etwa  in  der  Mitte 
zwischen  dem  Delirium  tremens  und  dem  alkoholischen  Wahnsinn ; 
er  nähert  sicli  jenem  durch  die  Mannigfaltigkeit  der  Täuschungen, 


Cocainismuä. 


123 


diesem  durch  die  grössere  Besonnenheit.  Der  Eifersuchtswahn  tritt 
hier  acut  und  frühzeitig,  beim  Trinker  erst  spät  und  als  chronische 
Störung  auf.  Besonders  kennzeichnend  für  die  Cocainvergiftung 
scheinen  die  miskroskopischen  Gesichts-  und  Gefühlstäuschungen 
zu  sein.  Endlich  zeigt  sich  überall  ein  unmittelbar  verschlimmern- 
der Einfluss  jeder  einzelnen  Cocaingabe  auf  die  psychischen  Er- 
scheinungen, während  der  Verlauf  der  alkoholischen  Psychosen 
durch  den  Fortgebrauch  des  Giftes  gar  nicht  oder  nur  unerheblich 
verändert  wird. 

Die  Prognose  des  Cocainismus  ist  eine  ausserordentlich  trübe. 
Der  Cocainwahnsinn  freilich  scheint  regelmässig  zu  heilen,  sobald 
die  Zuführung  des  Giftes  dauernd  verhindert  wird.  Dagegen  ist 
die  Zerstörung  der  sittlichen  Widerstandsfähigkeit  hier  eine  weit 
tiefergreifende  und  nachhaltigere,  als  bei  Alkohol  und  Morphium. 
Die  Kranken  werden  daher  fast  ausnahmslos  rückfällig,  oft  nach  sehr 
kurzer  Zeit. 

Eine  einigermassen  wirksame  Bekämpfung  des  Cocainismus 
kann  nur  von  der  Vorbeugung  desselben  ausgehen.  Jede  nicht  rein 
örtliche  Anwendung  des  Mittels  muss  als  unzulässig  angesehen,  sein 
Gebrauch  bei  der  Morphiumentziehung  geradezu  als  Gewissenlosig- 
keit gebrandmarkt,  noch  besser  als  Kunstfehler  bestraft  werden. 
Wir  Alle  haben  als  Aerzte  die  Pflicht,  das  Publicum  auf  das  ein- 
dringlichste vor  dem  gefährlichen  Gifte  zu  warnen  und  unnachsicht- 
lich  die  niederträchtige  Ausbeutung  der  Kranken  durch  Händler  und 
Aerzte  zur  Anzeige  zu  bringen.  Dass  die  Entziehung  der  Praxis 
bei  cocainistischen  Aerzten  noch  dringender  geboten  ist,  als  bei 
morphinistischen,  bedarf  nach  den  Schilderungen  der  Cocainwirkung 
und  nach  meinen  eigenen,  geradezu  schrecklichen  Erfahrungen 
keiner  weiteren  Ausführung. 

Die  Entziehung  des  Cocains  allein  pflegt  nur  von  geringfügigen 
Störungen  begleitet  zu  sein,  die  theilweise  auch  wol  noch  als  Ver- 
giftungserscheinungen zu  betrachten  sind.  Dazu  gehören  Unruhe, 
Schlaflosigkeit,  Herzklopfen,  Athemnoth,  endlich  plötzüche,  collaps- 
artige  Ohnmächten.  Im  allgemeinen  wird  daher  das  Mittel  in 
wenigen  Abstufungen  oder  sogar  mit  einem  Schlage  entzogen  werden 
können.  Natürlich  ist  dabei  sorgfältige  Ueberwachung  und  unter 
Umständen  ein  anregendes  Verfahren  mit  Alkohol,  Kaffee,  Kampfer, 
Herzmitteln,  kühlen  Uebergiessungen  u.  s.  f.  am  Platze.  Die  Schlaf- 


124 


III.  Die  Vergiftungen. 


losigkeit  wird  durch  laue  Bäder,  Sulfonal,  Trional  bekämpft,  gleich- 
zeitig auf  möglichst  kräftige  Ernährung  Bedacht  genommen.  Bei 
der  regelmässigen  Verbindung  mit  Morphinismus  wird  man  am 
zweckmässigsten  zunächst  das  Cocain  entziehen  und  dann  erst  mit 
dem  Morphium  heruntergehen.  Selbstverständlich  kann  jede  der- 
artige Cur  nur  in  einer  Anstalt  und  unter  sicherem  Ausschlüsse 
jedes  unberufenen  Verkehrs  nach  aussen  geschehen.  Lst  doch  die 
sittliche  Unzuverlässigkeit  dieser  Kranken  weit  grösser,  als  selbst 
diejenige  der  reinen  Morphinisten.  Für  die  weitere  Behandlung  der 
Kranken  nach  vollendeter  Entziehung  aller  Mittel  gelten  die  früher 
ausführlich  besprochenen  Grundsätze.  Km-  empfiehlt  es  sich,  hier 
überall  noch  vorsichtiger  und  misstrauischer  zu  verfahren,  als  dort. 


IY.  Das  thyreogene  Irresein. 


Wenn  wir  bei  den  Geistesstörungen  nach  Vergiftungen  und 
Infectionen  die  krankmachende  Schädlichkeit  von  aussen  her  in  den 
Körper  eindringen  sahen,  so  haben  wrir  nunmehr  eine  Gruppe  von 
Psychosen  zu  betrachten,  als  deren  Ursache  krankhafte  Vorgänge  in 
einem  Organe  des  Körpers  selbst,  in  der  Schilddrüse,  angesehen 
werden  dürfen.  Freilich  kennen  wir  die  einzelnen  Glieder  dieses 
Zusammenhanges  noch  nicht,  aber  wir  wissen  doch  bestimmt,  dass 
es  sich  um  Selbstvergiftungen  handelt,  die  durch  den  Ausfall  der 
Schilddrüsenthätigkeit  zu  Stande  kommen.  Geht  die  Schilddrüse 
schon  in  früher  Kindheit  zu  Grunde,  so  entsteht  das  Krankheitsbild 
des  Kretinismus,  während  ihre  Vernichtung  in  späterem  Alter 
zum  myxödematösen  Irresein  führt.  Auch  der  Geistesstörungen 
bei  Basedow’scher  Krankheit  würden  wir  in  diesem  Abschnitte  zu 
gedenken  haben,  da  sie  ebenfalls  zu  Erkrankungen  der  Schilddrüse  in 
Beziehung  stehen.  Nur  die  verhältnissmässig  geringe  praktische  Be- 
deutung derselben  für  den  Irrenarzt  hat  uns  hier  auf  die  Schilderung 
jener  Zustände  verzichten  lassen. 


A.  Das  inyxödematöse  Irresein3-). 

Die  myxödematöse  Geistesstörung  ist  gekennzeichnet  durch  eine 
fortschreitende  Verlangsamung  und  Erschwerung  aller 
psychischen  Verrichtungen  unter  gleichzeitigem  Auftreten 
eigenthümlicher  Hautveränderungen  und  gewisser  nervöser 


*)  Ewald,  Die  Erkrankungen  der  Schilddrüse,  Myxödem  n.  Cretinismus.  1896; 
Buschan,  Ueber  Myxödem  und  verwandte  Zustände.  1896. 


126 


IV.  Das  thyreogene  Irresein. 


Störungen.  Das  Leiden  beginnt  in  der  Regel  ganz  allmählich.  Es 
entwickelt  sich  nach  und  nach  eine  auffallende  Schwerfälligkeit 
und  Unbelnilflichkeit  in  der  Auffassung  und  Verarbeitung  äusserer 
Eindrücke.  Die  Kranken  vermögen  nur  mit  Mühe,  einem  Gespräche 
zu  folgen,  überhören  und  missverstehen  Vieles;  beim  Lesen  eines 
Buches  müssen  sie  die  einzelnen  Sätze  mehrmals  wiederholen,  bis 
sie  den  Siun  einigermassen  erfasst  haben.  Dabei  ermüden  sie  un- 
gemein  leicht.  Schon  die  einfachsten  geistigen  Leistungen  kosten 
ihnen  eine  unverhältnissmässige  Anstrengung,  so  dass  sie  nach 
kurzer  Anspannung  ihre  Gedanken  nicht  mehr  recht  zu  sammeln 
vermögen.  Die  psychischen  Zeiten,  die  ich  in  einem  Falle  messen 
konnte,  sind  dementsprechend  bedeutend  verlängert.  Das  Gedächt- 
nis nimmt  sehr  erheblich  ab.  Namentlich  die  Ereignisse  aus  letzter 
Zeit  verblassen  schnell.  Die  Erinnerung  wird  unklar  und  zusammen- 
hangslos; Vieles  geht  auch  spurlos  wieder  verloren.  Die  Kranken 
vergessen  daher  Verabredungen,  Aufträge,  Vorhaben,  müssen  sich 
alles  aufschreiben,  was  irgendwie  für  sie  Wichtigkeit  hat.  Das  Be- 
wusstsein, die  allgemeine  Orientirung  pflegt  dabei  dauernd  klar  zu 
bleiben,  wrenn  auch  regelmässig  eine  leichte  Unbesinnlichkeit  deutlich 
erkennbar  ist. 

Natürlich  entwickelt  sich  aus  diesen  Störungen  eine  schwere 
Beeinträchtigung  der  gesammten  Lebensführung.  Die  Kranken  ge- 
winnen kein  rechtes  Verständniss  für  die  Vorgänge  in  ihrer  Um- 
gebung; sie  brauchen  zu  den  einfachsten  Verrichtungen,  zum 
Schreiben  eines  Briefes,  zum  Ankleiden,  unglaublich  lange  Zeit, 
müssen  sich  auf  alle  Einzelheiten  erst  mühselig  besinnen  und  oft 
von  vorn  anfangen,  weil  sie  irgend  etwas  Wichtiges  vergessen 
haben.  Diese  Schwierigkeiten  wachsen  allmählich  so  sehr,  dass  die 
Kranken  kaum  das  Allernothwendigste  fertig  bringen  und  schliess- 
lich auf  jede  eigentliche  Thätigkeit  verzichten.  In  den  höchsten 
Graden  der  Störung  werden  sie  ganz  hülflos,  da  sie  zu  jeder  körper- 
lichen oder  geistigen  Beschäftigung  vollkommen  unfähig  sind.  Die 
tiefgreifende  Veränderung,  welche  sich  auf  diese  Weise  mit  den 
Kranken  vollzieht,  wird  mindestens  in  der  ersten  Zeit  von  ihnen 
deutlich  auf  das  peinlichste  empfunden.  Sie  merken,  wie  sie  „ver- 
simpeln“; es  ist  ihnen,  als  ob  sich  ein  Schleier  über  ihr  Denken 
lege.  Späterhin  freilich  tritt  immer  mehr  eine  gewisse  Stumpfheit 
und  Gleichgültigkeit  hervor.  Die  Kranken  machen  sich  keine  sonder- 


Myxöclematöses  Irresein. 


127 


liehen  Sorgen  über  ihren  Zustand,  nehmen  keinen  Antheil  an 
dem  Wohl  und  Wehe  ihrer  nächsten  Angehörigen,  äussem  weder 
Freude  noch  Schmerz  und  gerathen  in  eine  Art  gemüthlicher  Er- 
starrung, in  der  sie  sich  willenlos,  ohne  eigene  Wünsche  und  ohne 
Pläne  für  die  Zukunft  von  irgend  welchen  zufälligen  Einflüssen  be- 
stimmen lassen. 

In  einer  nicht  geringen  Anzahl  von  Fällen  wird  das  Bild  einer 
einfachen  Verblödung  von  einer  Reihe  auffallenderer  psychischer 
Störungen  begleitet.  Namentlich  sind  es  gemiithliche  Erregungen, 
die  sich  vielfach  einstellen.  Die  Kranken  werden  ängstlich,  klein- 
müthig,  machen  sich  Sorgen,  äussern  Selbstvorwürfe,  Befürchtungen, 
Selbstmordgedanken.  Bisweilen  entwickelt  sich  nun  Schlaflosigkeit, 
starke  Unruhe  und  Aufregung,  Jammern,  sinnloses  Widerstreben, 
Nahrungsverweigerung;  seltener  scheinen  auch  Zustände  von  Ver- 
wirrtheit, allerlei  Sinnestäuschungen  und  ausgeprägtere  Verfolgungs- 
ideen vorzukommen. 

Die  körperlichen  Begleiterscheinungen  dieses  Verblödungsvor- 
ganges  sind  so  bekannt,  dass  wir  ihrer  hier  nur  kurz  zu  gedenken 
haben.  Am  meisten  in  die  Augen  fallen  die  Veränderungen  an  der 
Haut.  Dieselbe  wird  dick,  trocken,  rauh  und  legt  sich  in  starre 
Falten,  so  dass  sie  sich  nur  in  Wülsten  von  ihrer  Unterlage  abheben 
lässt.  In  den  Wangen,  am  Kinn,  an  der  Stirn,  besonders  aber  am 
Nacken,  an  den  Oberarmen,  oft  auch  in  der  Bauchhaut  und  am 
Oberschenkel  fühlt  man  plattenartige  Einlagerungen  im  Unterhaut- 
zellgewebe. Nicht  selten  finden  sich  hier  deutliche  Striae.  Der 
elektrische  Leitungswiderstand  ist  beträchtlich  erhöht.  Finger  und 
Zehen  werden  dick  und  unförmlich.  Das  Gesicht  wird  breit,  die 
Züge  grob  und  plump;  der  Ausdruck  erhält  durch  den  Verlust  des 
feineren  Mienenspiels  etwas  Starres,  Maskenartiges.  Die  Haare  fallen 
aus;  die  Nägel  werden  brüchig.  Auch  auf  die  Schleimhäute  erstreckt 
sich  die  Hautverdickung.  Die  Zunge  vergrössert  sich,  wird  schwer 
beweglich;  das  Zahnfleisch  wulstet  sich;  die  Zähne  beginnen  oft  zu 
kränkeln  und  auszufallen.  Die  Nasenschleimhaut  zeigt  eine  trockene 
Schwellung  mit  geringfügiger,  aber  dauernder  schleimig-seröser  Ab- 
sonderung. Der  Magen  wird  empfindlich,  der  Appetit  gering,  der 
Darm  träge.  Die  Stimme  wird  rauh,  klanglos,  eintönig,  die  Sprache 
langsam  und  schwerfällig.  Das  Gehör  pflegt  zu  leiden,  doch  besteht 
öfters  gleichzeitig  Empfindlichkeit  gegen  laute  Geräusche.  Alle  Haut- 


128 


IV.  Das  thyreogene  Irresein. 


yerdickungen  können  sich  übrigens  im  Laufe  der  Krankheit  wieder 
verlieren,  so  dass  dann  die  Haut  an  den  früher  infiltrirten  Stellen 
in  Form  von  weiten,  schlaffen  Säcken  herabhängt. 

Dazu  kommt  eine  ganze  Reihe  von  nervösen  Störungen.  Schon 
im  Beginne  bestehen  häufig  Kopfschmerzen,  dumpfer  Druck,  Schwindel- 
gefühl; bisweilen  kommt  es  zu  Ohnmächten  und  selbst  Krampf- 
anfällen, die  entweder  den  epileptischen  gleichen  oder  die  Kenn- 
zeichen der  Tetanie  darbieten;  auch  Stimmritzenkrämpfe  habe  ich 
beobachtet.  Sehr  häufig  sind  an  der  Zunge  und  namentlich  an 
Armen  und  Händen  feine  Zitterbewegungen,  von  einzelnen  gröberen 
Stössen  unterbrochen.  Die  Bewegungen  werden  plump,  ungeschickt, 
der  Gang  langsam,  schwerfällig.  Die  mechanische  Erregbarkeit  der 
Muskeln  und  Nerven  pflegt  erhöht  zu  sein;  die  Kniesehnenreflexe 
sind  meist  gesteigert. 

Endlich  haben  wir  noch  eine  Anzahl  von  Krankheitszeichen 
zu  erwähnen,  die  unmittelbar  auf  Stoffwechselveränderungen  hin- 
deuten. Die  Schleimhäute  sind  blass,  blutleer;  die  Menses  bleiben 
aus;  die  Körperwärme  ist  sehr  niedrig;  es  besteht  grosse  Empfind- 
lichkeit gegen  Kälte,  wie  denn  auch  die  Krankheit  in  der  kalten 
Jahreszeit  sich  gern  verschlimmert.  Wahrscheinlich  sind  auch  tief- 
greifende Veränderungen  des  Blutes  vorhanden.  In  einigen  von 
mir  beobachteten  Fällen  erschienen  die  rothen  Blutkörperchen  ver- 
grössert,  und  es  fanden  sich  auch  sonst  noch  allerlei,  einstweilen 
nicht  näher  erklärbare  Abweichungen  in  ihrem  chemischen  Ver- 
halten. Oefters  scheint  auch  eine  Abnahme  der  rothen  Blut- 
körperchen vorzukommen.  Die  Absorptionsfähigkeit  für  Sauer- 
stoff ist  nach  Alexander  Schmidt’s  Erfahrungen  herabgesetzt, 
ebenso  die  Gerinnungsfähigkeit.  Mit  dieser  letzteren  Veränderung 
steht  offenbar  die  Thatsache  im  Zusammenhang,  dass  Blutungen 
bei  unseren  Kranken  häufig  und  in  grosser  Ausdehnung  beobachtet 
werden. 

Der  Verlauf  der  myxödematösen  Geistesstörung  ist,  wie  es 
scheint,  in  der  Regel  ein  fortschreitender,  wenn  keine  geeignete  Be- 
handlung eintritt.  Die  Kranken  verblödeu  immer  mehr;  zugleich 
stellen  sich  die  Zeichen  eines  zunehmenden  körperlichen  Verfalles 
ein,  äusserste  Abmagerung,  Schwäche,  schwere  Verdauungs-  und 
Ernährungsstörungen,  Collapse.  Vielfach  erfolgt  dann  der  Tod  durch 
eine  hinzutretende  Krankheit,  welcher  der  geschwächte  Körper  keinen 


Ifyxödematöses  Irresein. 


129 


Widerstand  mehr  entgegenzusetzen  vermag.  Nachlässe  der  Störungen 
kommen  indessen  häufiger  vor.  Ausserdem  muss  ich  nach  meinen 
Erfahrungen  annehmen,  dass  die  Fälle  nicht  ganz  selten  sind  , in 
denen  sich  schwächer  ausgeprägte  myxödematöse  Störungen  auch 
ohne  Behandlung  allmählich  wieder  zurückbilden. 

Die  Ursache  der  mxyödematösen  Verblödung  liegt  ohne  jeden 
Zweifel  in  dem  Ausfälle  der  Schilddrüsenthätigkeit.  Das  wird  am 
klarsten  dargethan  durch  das  Auftreten  der  ganzen  Erscheinungs- 
reihe nach  der  chirurgischen  Entfernung  der  Schilddrüse,  durch  die 
sogenannte  „Kachexia  strumipriva“.  Beim  Menschen  wie  bei  fleisch  - 
fressenden  Thieren  sehen  wir  nach  vollständiger  Beseitigung  jenes 
Organs  sehr  bald  gesteigerte  Erregbarkeit  der  Muskeln  und  Nerven, 
erhöhte  Reflexe,  Tetanie,  Zittern,  epileptiforme  Krämpfe  auf  treten, 
Störungen,  die  uns  beim  Myxödem  in  gleicher  Weise  begegnet  sind. 
Während  Hunde  und  Katzen  meist  unter  schweren  Collapsen  rasch 
zu  Grunde  gehen,  pflegen  sich  beim  Menschen  die  stürmischen  Er- 
scheinungen allmählich  zu  bessern.  Allein  es  kann  sich  nunmehr 
ein  fortschreitendes  Siech thum  entwickeln,  welches  in  allen  Einzel- 
heiten durchaus  demjenigen  des  Myxödems  gleicht.  Wir  werden 
daher  zu  der  Annahme  gezwuugen,  dass  die  Schilddrüse  ein  unent- 
behrliches Glied  im  Haushalte  unseres  Körpers  vorstellt.  Am  wahr- 
scheinlichsten ist  es  heute  wol,  dass  ihre  Thätigkeit  gewisse  giftige 
Stoffwechselproducte  zerstört.  Wo  trotz  ihrer  Entfernung  das  Siech- 
thum nicht  auftritt  oder  sich  wieder  verliert,  haben  wir  an  die 
Deckung  des  Ausfalles  durch  Nebenschilddrüsen  oder  vielleicht  auch 
■durch  andere  Organe  zu  denken.  So  sah  man  die  Hypophysis  nach 
Ausschneiden  der  Schilddrüse  sich  vergrössern. 

Beim  eigentlichen  Myxödem  entwickelt  sich  das  Krankheitsbild 
natürlich  weit  langsamer,  als  bei  der  Kachexia  strumipriva.  Immer 
aber  findet  man  auch  hier  eine  Vernichtung  des  Schilddrüsengewebes, 
die  meist  mit  einem  Schwund  des  Organs,  seltener  mit  einer  krank- 
haften Vergrösserung  desselben  einhergeht.  Am  Lebenden  ist  es  bei 
der  ungünstigen  Lage  der  Drüse  nicht  immer  leicht,  sich  über  solche 
Veränderungen  Klarheit  zu  verschaffen.  Am  häufigsten  scheint  binde- 
gewebige Entartung  der  Drüse  zu  sein;  seltener  wird  das  Myxödem 
durch  colloide  Veränderungen  erzeugt,  da  bei  diesen  in  der  Regel 
noch  gesunde  Inseln  des  Drüsengewebes  erhalten  bleiben.  In  ver- 
einzelten Fällen  kann  auch  Syphilis,  Tuberculose,  Aktinomykose  die 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  9 


130 


IV.  Das  thyreogene  Irresein. 


Zerstörung  der  Schilddrüse  herbeiführen.  Endlich  hat  man  das 
Myxödem  bisweilen  als  Ausgang  der  Basedo w’schen  Krankheit 
beobachtet,  gewissermassen  als  Verödung  der  vorher  übermässig 
thätigen  Drüse. 

Ganz  besonders  interessant,  wenn  auch  leider  noch  sehr  dunkel, 
sind  die  Beziehungen  des  Myxödems  zum  Geschlecht.  Mehr  als  8/4 
der  bisher  bekannten  Fälle  betreffen  Frauen,  namentlich  im  mittleren 
und  im  Rückbildungsalter.  Hie  und  da  ist  ein  Zurücktreten  des 
Myxödems  während  der  Schwangerschaft  beobachtet  worden.  Diese 
Thatsachen  bieten  eine  gute  Uebereinstimmung  mit  der  allgemeinen 
Erfahrung,  dass  die  Thätigkeit  der  Schilddrüse  mit  den  geschlecht- 
lichen Vorgängen  beim  Weibe  in  nahem  Zusammenhänge  steht. 
Wir  wissen,  dass  Vergrösserungen  der  Schilddrüse  bei  Frauen  un- 
gleich häufiger  sind,  als  bei  Männern,  dass  jenes  Organ  während 
der  Menses  nicht  selten  merklich  anschwillt.  W ährend  der  Schwanger- 
schaft und  beim  Säugegeschäfte  entwickeln  sich  vielfach  Tetanie 
und  Basedow’sche  Krankheit.  Diese  letztere,  die  sich  zudem  gern 
in  den  Entwicklungsjahren  einstellt,  ist  ebenso  wie  das  Myxödem 
häufig  von  Menstruationsstörungen  begleitet.  Allerdings  sind  wir 
heute  noch  nicht  in  der  Lage,  uns  über  das  Wesen  dieses  an  den 
verschiedensten  Punkten  hervortretenden  Zusammenhanges  irgendwie 
klare  Vorstellungen  zu  machen;  wir  werden  jedoch  ähnlichen  An- 
deutungen späterhin  auch  bei  der  Besprechung  der  Dementia  praecox 
begegnen. 

Die  Behandlung  des  Myxödems  ist,  Dank  den  Entdeckungen 
der  letzten  Jahre,  eine  ungemein  einfache  und  sichere  geworden. 
Es  genügt  vollständig,  das  fehlende  Drüsengewebe  dem  Körper  wieder 
zuzuführen,  sei  es  roh,  in  Gestalt  des  getrockneten  Pulvers,  in  Ta- 
bletten oder  in  flüssigem  Auszuge.  Die  Wirkung  dieser  Behandlung 
übertrifft  an  verblüffenden  Erfolgen  alles,  was  wir  sonst  von  eigent- 
lichen Arzneiwirkungen  kennen,  offenbar  deswegen,  weil  es  sich  hier 
gar  nicht  um  eine  Arznei  handelt,  sondern  um  ein  natürliches  Er- 
zeugnis des  Körpers.  Meist  bedient  man  sich  der  getrockneten 
Hammelschilddrüse,  von  der  etwa  0,1  gr  1 — 3 Mal  täglich  gegeben 
werden.  Man  hüte  sich  vor  verdorbenen  und  daher  unwirksamen 
Präparaten.  Zweckmässiger  ist  vielleicht  noch  die  Anwendung  des 
von  Bau  mann  aus  der  Drüse  dargestellten  Jodothyrins,  wenn  auch 
die  Angaben  über  dessen  Wirkung  noch  etwas  auseinandergehen. 


Cretinismus. 


131 


Es  ist  nothwendig,  die  Gabe  des  Mittels  nur  sehr  vorsichtig  zu 
steigern,  weil  sonst  leicht  Vergiftungserscheinungen,  Kopfschmerz, 
Schwindel,  Pulsbeschleunigung,  bedrohliche  Herzschwäche  und  selbst 
tödtliche  Collapse  eintreten  können.  Die  Wirkung  beginnt  mit  dem 
3.  oder  4.  Tage,  um  von  nun  an  mit  erstaunlicher  Schnelligkeit 
fortzuschreiten.  Es  stellen  sich  massenhafte  Ausscheidungen  durch 
den  Darm  und  die  Nieren  ein;  Haut  und  Schleimhäute  schwellen 
ab;  das  Körpergewicht  sinkt  rasch.  Die  Nase  wird  durchgängig,  die 
Zunge  beweglicher;  die  Magenbeschwerden  schwinden;  die  Haut 
wird  weich  und  feucht,  sondert  reichlichen  Schweiss  ab.  Zugleich 
löst  sich  auch  die  Erstarrung  von  dem  geistigen  Leben.  Die  Kranken 
fühlen  sich  freier,  leistungsfähiger,  wie  erlöst  von  schwerem  Druck, 
nehmen  wieder  Antheil,  werden  munter,  frisch  und  lebhaft.  In  dem 
obenerwähnten  Falle  sank  die  Dauer  der  psychischen  Zeiten  binnen 
14  Tagen  auf  die  Hälfte.  Auf  diese  Weise  kann  in  verhältnissmässig 
kurzer  Zeit  das  ganze  schwere  Krankheitsbild  verschwinden;  nur 
eine  gewisse  Ermüdbarkeit  pflegt  noch  längere  Zeit  zurückzubleiben. 
Freilich  muss  das  Mittel,  wie  das  in  dem  Wesen  der  Krankheit 
liegt,  in  kleinen  Gaben  dauernd  fortgenommen  werden;  die  Menge 
bestimmt  sich  nach  dem  Auftreten  der  ersten  leichten  Erscheinungen 
des  Rückfalles. 

Ob  in  allen,  auch  in  den  sehr  weit  vorgeschrittenen  Fällen,  noch 
eine  vollständige  Genesung  möglich  ist,  muss  erst  die  weitere  Er- 
fahrung lehren;  jedenfalls  scheinen  die  Störungen  recht  lange  einer 
gänzlichen  Rückbildung  zugänglich  zu  sein. 


B.  Der  Cretinismus. 

Der  Cretinismus* *)  ist  ausgezeichnet  durch  die  Verbindung  einer 
früh  erworbenen,  mehr  oder  weniger  hochgradigen  psychischen 
Entwicklungshemmung  mit  den  körperlichen  Begleiterschei- 
nungen einer  Verkümmerung  oder  Entartung  der  Schild- 
drüse. Der  cretinistische  Zustand  ist  bei  der  Geburt  in  der  Regel 

• 

*)  Baillarger  et  Krishaber,  cretin,  cretinisme  et  goitre  endemique, 
dictionnaire  encyelopedique  des  Sciences  medicales.  1879  (Literatur);  Bi r eher, 
Volkmanns  Klinische  Vorträge,  Nr.  357;  Cristiani,  annali  di  freniatria, 
1897,  349. 


9* 


132 


IV.  Das  thyreogene  Irresein. 


noch  nicht  vorhanden;  in  seltenen  Ausnahmefällen  sind  indessen 
Kinder  bereits  mit  Kröpfen  geboren  worden.  Am  häufigsten  zeigen 
sich  die  ersten  Andeutungen  des  Leidens  gegen  Ende  des  ersten 
Lebensjahres.  Die  Kinder  bleiben  in  ihrer  gesammten  körperlichen 
Entwicklung  zurück,  zeigen  ein  blasses,  gedunsenes  Aussehen.  Sie 
lernen  sehr  spät  oder  gar  nicht  gehen,  sind  träge  und  unbeholfen  in 
ihren  Bewegungen.  Psychisch  sind  sie  stumpf,  theilnahmlos,  sprechen 
nicht,  schlafen  viel,  essen  ohne  Auswahl,  vermögen  sich  nicht  rein- 
lich zu  halten  und  bedürfen  lange,  bisweilen  ihr  ganzes  Leben  hin- 
durch, einer  sorgfältigen  Pflege. 

Um  das  5.  oder  6.  Lebensjahr  macht  sieb  meist  deutlich  die 
Yergrösserung  der  Schilddrüse  bemerkbar,  die,  bis  zum  12.  oder 
15.  Jahre  fortschreitend,  ganz  ausserordentliche  Grade  erreichen  kann. 
In  anderen,  weniger  häufigen  Fällen  (etwa  ^3)  verschwindet  da- 
gegen für  die  äussere  Untersuchung  jede  Spur  der  Schilddrüse.  Das 
geringe  Längenwachsthum  des  Knochenskeletts  führt  zum  Zwerg- 
wuchs. Dabei  pflegen  die  einzelnen  Skeletttheile  massig,  öfters  sogar 
unförmlich  entwickelt  zu  sein;  auch  der  Kopf  ist  meist  auffallend 
gross,  aber  flach,  das  Gesicht  niedrig,  der  Hals  kurz  und  dick.  Die 
Schädelbasis  ist  verkümmert,  stark  gekrümmt;  dagegen  findet  eine 
Ausweitung  der  Schädelkapsel  nach  den  Seiten,  bisweilen  auch  nach 
oben  statt.  Die  Nase  ist  breit;  die  Augenhöhlen  stehen  weit  aus- 
einander. Die  gesammte  Haut  ist  wulstig,  hypertrophisch,  hängt  an 
einzelnen  Stellen,  am  Nacken,  an  den  Oberarmen,  in  Form  dicker, 
nur  im  Ganzen  verschieblicher  Platten  über  der  gewöhnlich  recht 
schwächlichen  Muskulatur.  Namentlich  die  breiten  Gesichter  mit 
den  schwammigen  Backen  und  Augenlidern,  den  dicken  Lippen,  der 
aufgestülpten,  an  der  Wurzel  tief  eingedrückten  Nase  bieten  einen 
sehr  merkwürdigen  Anblick  dar.  Die  beigegebene  Tafel  I zeigt  alle 
diese  Veränderungen  sehr  deutlich.  Bei  schlechterem  Ernährungs- 
zustände wird  die  Haut  eigenthümlich  faltig,  schlaff  und  runzlig. 
Der  Haarwuchs  ist  regelmässig  spärlich.  Die  Zähne  sind  schlecht, 
cariös,  gerippt,  stehen  schief,  nach  vorwärts  gerichtet.  Die  beiden 
Zahnreihen  passen  vielfach  nicht  aufeinander,  weil  der  Unterkiefer 
gegenüber  dem  oberen  zurücktritt  oder  vorspringt.  Die  Zunge  ist 
dick,  unbeholfen  in  ihren  Bewegungen,  die  Sprache  daher  auch  dort, 
wo  sie  sich  über  unarticulirtes  Grunzen  erhebt,  vielfach  lallend, 
stammelnd,  ungelenk.  Die  Stimme  klingt  rauh,  heiser,  bisweilen 


Erwachsene  Cretinen.  Cretinistische  Kinder. 


Cretinismus. 


133 


fistulös.  Die  Hautempfindlichkeit  ist  erheblich  herabgesetzt.  Alle 
Bewegungen  sind  plump,  schwerfällig,  der  Gang  langsam  und 
schleppend.  Hie  und  da  werden  Krampfanfälle  beobachtet,  ferner 
Facialisphänomen , in  einzelnen  Fällen  Tetanie.  Die  Geschlechts- 
entwicklung tritt  spät  oder  bei  den  höchsten  Graden  des  Leidens  gar 
nicht  ein.  Hier  unterbleibt  bisweilen  auch  der  Zahnwechsel.  Die 
Widerstandskraft  der  Cretinen  gegen  Krankheiten  und  andere  Schäd- 
lichkeiten pflegt  eine  sehr  geringe  zu  sein;  sie  erreichen  daher  meist 
kein  hohes  Lebensalter,  nur  recht  selten  das  50.  Jahr. 

In  psychischer  Beziehung  können  die  Cretinen  alle  mög- 
lichen Grade  der  Erkrankung  vom  tiefsten  Blödsinn  bis  zum  leichten 
Schwachsinn  darbieten,  ja  es  giebt  einzelne  Personen,  welche  trotz 
gewisser  körperlicher  Anzeichen  des  Cretinismus  (namentlich  Kropf) 
dennoch  in  ihrem  geistigen  Verhalten  von  der  Gesundheitsbreite 
nicht  erkennbar  abweichen.  Bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  der 
Kranken  jedoch  findet  sich  eine  ausgeprägte  Stumpfheit  und  Un- 
empfänglichkeit, welche  sie  mehr  oder  weniger  unfähig  macht,  Ein- 
drücke in  sich  aufzunehmen,  Erfahrungen  zu  sammeln,  Vorstellungen 
und  Begriffe  zu  bilden.  Sie  bleiben  daher  sehr  häufig  auf  der  Stufe 
des  4 — 5jährigen  Kindes  stehen,  öfters  auch  noch  tiefer.  Auch  die 
gemiithliche  Erregbarkeit  der  Cretinen  ist  regelmässig  eine  sehr 
geringe;  sie  sind  gleichgültig,  phlegmatisch,  vielfach  kindisch  zu- 
thuulich,  gutmüthig  und  lenksam.  Zu  geregelter  Arbeit  sind  sie 
meist  nicht  fähig,  theils  wegen  ihrer  Trägheit  und  Schlaffheit,  theils 
wegen  ihrer  geringen  Kräfte  und  der  grossen  Ermüdbarkeit.  Ge- 
wöhnlich besteht  dieser  Zustand  durch  das  ganze  Leben  gleichmässig 
fort.  Xur  in  einzelnen  Fällen  gesellen  sich,  gerade  wie  bei  Idioten, 
mehr  vorübergehende  geistige  Störungen  hinzu,  Erregungen,  De- 
pressionen oder  dürftige  Wahnbildungen.  Ferner  können  sich  natür- 
lich auf  dem  Boden  der  cretinistischen  Veranlagung  auch  ver- 
schiedenartige sonstige  Formen  des  Irreseins  entwickeln;  mehrfach 
sah  ich  manisch-depressives  Irresein,  einmal  auch  Paralyse. 

Die  pathologische  Anatomie  des  Cretinismus  liegt  leider 
noch  völlig  im  Argen.  Wir  wissen  über  den  Hirnbefund  eigent- 
lich nur,  dass  theilweiser  Schwund,  Asymmetrien,  Erweiterung 
der  Hirnhöhlen  Vorkommen.  Hier  wäre  ein  Angriffspunkt  für 
die  Forschung  mit  Hülfe  der  neueren  Methoden.  Der  Schädel 
ist  häufig  verdickt,  Jochbogen  und  Unterkiefer  schwach  ent- 


134 


IV.  Das  thyreogene  Irresein. 


wickelt;  auch  sonst  finden  sicli  eine  grosse  Zahl  verschiedenartiger 
Abweichungen  *). 

Der  Cretinismus  tritt  bei  weitem  am  häufigsten  endemisch 
auf,  namentlich  in  den  grossen  Gebirgsstöcken  aller  Erdtheile,  in 
Europa  besonders  in  den  Alpen  und  Pyrenäen.  Am  meisten  scheinen 
die  mittleren  Abschnitte  sehr  heisser  und  feuchter  Gebirgsthäler 
gefährdet  zu  sein;  auch  dem  Kalkboden  wird  eine  gewisse  Bedeutung 
zugeschrieben.  Die  letzten  Ursachen  dieser  endemischen  Yertbeilung 
sind  bisher  noch  unbekannt;  man  hat  die  verschiedenartigsten  Um- 
stände, grosse  Feuchtigkeit,  Stagnation  der  Luft,  schlechtes  Trink- 
wasser, Gehalt  der  Luft  und  des  Bodens  an  gewissen  Bestandteilen 
geologische  Formation,  ungünstige  hygienische  Verhältnisse,  dafür 
verantwortlich  gemacht,  ohne  doch  bisher  eine  sichere  Erklärung 
auffinden  zu  können.  Immerhin  weisen  zahlreiche  Beobachtungs- 
thatsachen  vor  allem  auf  eine  sehr  wichtige  Rolle  des  Trinkwassers 
hin.  In  der  Schweiz  hat  die  Bevölkerung  vielfach  solche  Quellen 
als  „Kropfbrunnen“  bezeichnet,  auf  deren  Benutzung  die  Entstehung 
des  Cretinismus  zurückgeführt  wurde.  Hie  und  da  hat  sich  die  Be- 
schränkung des  Leidens  auf  einen  bestimmten  Brunnenbezirk,  das 
Aufhören  oder  das  Auftreten  des  Cretinismus  mit  der  Schliessung 
oder  Eröffnung  einer  bestimmten  Wasserquelle  nach  weisen  lassen. 
Auch  das  Kochen,  ja  schon  das  Filtriren  des  verdächtigen  Wassers 
soll  seine  verhängnisvolle  Wirkung  beseitigen  können. 

Meistens  pflegt  die  Ursache  des  Cretinismus  eine  weitere  Ver- 
breitung zu  besitzen  und  den  Typus  der  Gesammtbevölkerung  einer 
Gegend  mehr  oder  weniger  stark  zu  beeinflussen,  so  dass  eben  dadurch 
jene  zahlreichen  Abstufungen  bis  in  die  Gesundheitsbreite  hinein  ent- 
stehen, denen  wir  regelmässig  neben  den  schwersten  Formen  begegnen. 
Ja,  auch  die  Thiere,  Schweine,  Hunde,  Pferde,  Rindvieh,  Katzen,  be- 
sonders aber  Maulthiere,  können  die  Zeichen  des  endemischen  Creti- 
nismus darbieten.  Erwachsene  Fremde,  welche  sich  in  den  gefährdeten 
Gegenden  niederlassen,  erkranken  nicht  oder  höchstens  mit  ganz 
leichten  Kropfbildungen,  während  die  dort  von  ihnen  erzeugten 
Kinder  gar  nicht  selten  cretinistisch  entarten.  Andererseits  ist  der 
Cretinismus  einer  erblichen  Uebertragung  fähig,  auch  nach  der  Aus- 
wanderung aus  der  befallenen  Gegend;  er  pflegt  sich  unter  solchen 


*)  Jentsch,  Allgem.  Zeitsckr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  776. 


Cretinismus. 


135 


Umständen  erst  nach  wiederholter  Kreuzung  mit  gesundem  Blute 
zu  verlieren. 

Alle  diese  eigentümlichen  Thatsachen  scheinen  darauf  hinzu- 
weisen, dass  wir  als  die  Ursache  des  Cretinismus  eine  Schädlichkeit 
anzusehen  haben,  welcher  eine  gewisse  Selbständigkeit  der  Ent- 
wicklung neben  der  Entstehung  unter  bestimmten  allgemeinen 
hygienischen  Bedingungen  zukommt,  ein  Verhalten,  das  mit  grösster 
Wahrscheinlichkeit  auf  einen  organisirten  Ansteckungsstoff 
hinweist.  Namentlich  der  jugendliche,  bezw.  fötale  Organismus 
scheint  diesem,  offenbar  wenig  flüchtigen  und  vielleicht  auf  die  Nach- 
kommenschaft übertragbaren  endemischen  Contagium  besonders  leicht 
zugänglich  zu  sein.  Nach  Allem,  was  wir  über  das  Myxödem  sowie 
über  das  Siechthum  nach  Ausschneidung  der  Schilddrüse  wissen, 
kann  kein  Zweifel  mehr  sein,  dass  auch  beim  Cretinismus  die 
Erkrankung  der  Schilddrüse  das  erste  Glied  des  Leidens  dar- 
stellt, während  die  Hautveränderungen,  die  Wachsthumshemmung, 
der  Blödsinn  als  die  Folgen  des  Ausfalls  der  Schilddrüsenthätigkeit 
anzusehen  sind.  Ist  es  doch  gelungen,  bei  Thieren  die  cretinistische 
Entartung  mit  allen  ihren  Eigenthiimlichkeiten  durch  die  Entfernung 
jenes  Organes  künstlich  herbeizuführen!  Auf  diese  Weise  erklärt 
es  sich  einmal,  dass  es  Cretinen  mit  und  ohne  Kropf  giebt , da  die 
Erkrankung  der  Schilddrüse  natürlich  zur  Vergrösserung  und  Ent- 
artung, aber  auch  zur  Schrumpfung  des  Organs  führen  kann.  So 
erklären  sich  ferner  die  verschiedenen  Grade  des  Cretinismus  durch 
die  verschiedene  Ausbreitung  der  örtlichen  Veränderungen  wie 
durch  die  wechselnde  Ausbildung  stellvertretender  Drüsen.  Endlich 
aber  begreift  man  leicht,  dass  es  neben  dem  endemischen  hie  und 
da  auch  einmal  einen  Fall  von  „sporadischem“  Cretinismus  geben 
kann,  wenn  nämlich  die  Schilddrüse  nicht  durch  den  gewöhnlichen, 
auf  bestimmte  Gegenden  beschränkten  Krankheitserreger,  sondern 
durch  irgend  ein  anderes  Leiden  bereits  in  der  Jugend  leistungs- 
unfähig wird.  Die  Aehnlichkeit  der  cretinistischen  mit  der  Malaria- 
entartung scheint  mir  eine  sehr  grosse  zu  sein;  in  beiden  Fällen 
handelt  es  sich  um  die  Erkrankung  einer  für  den  Blutstoffwechsel 
nothwendigen  Drüse,  in  beiden  wahrscheinlich  um  einen  organisirten 
Krankheitserreger,  welcher  im  Grundwasser  gewisser  Oertlichkeiten 
von  gleicher  Bodenbeschaffenheit  seine  günstigen  Entwicklungs- 
bedingungen findet  und  die  ganze  Bevölkerung  heimsucht,  den 


136 


IV.  Daß  thyreogene  Irresein. 


Einen  stärker,  den  Andern  weniger.  Ob  sich  unter  den  verschiedenen, 
von  italienischen  Forschern  im  Trinkwasser  der  Cretinengegenden 
aufgefundenen  Mikroorganismen  bereits  der  wirkliche  Erzeuger  der 
Schilddrüsenerkrankung  befindet,  bleibt  abzuwarten. 

Aus  der  Erkenntniss  der  Entstehungsweise  des  Cretinismus 
leiten  sich  leicht  die  Hassregeln  für  seine  Bekämpfung  ab.  Die 
Erfahrung  hat  gezeigt,  dass  Entsumpfung  des  Bodens  und  Ver- 
sorgung der  Bevölkerung  mit  gutem  Trinkwasser  überall  mit  über- 
raschender Sicherheit  eine  Abnahme  der  Endemie  herbeigeführt 
hat.  Auch  die  allgemeine  Verbesserung  der  hygienischen  Verhält- 
nisse scheint  vielfach  günstig  gewirkt  zu  haben,  vielleicht  weil  auf 
diese  Weise  die  Widerstandsfähigkeit  gegen  den  Krankheitsträger  ge- 
steigert wurde.  Es  wäre  wenigstens  denkbar,  dass  der  vielfach  be- 
stätigte Einfluss  der  Erblichkeit  wesentlich  mit  auf  der  Vererbung 
einer  geschwächten,  wenig  widerstandsfähigen  körperlichen  Anlage 
beruht.  Jedenfalls  ist  daher  reichliche  Kreuzung  mit  gesundem 
Blute  zu  empfehlen.  Für  die  einzelne  Person  kann  die  Vorbeugung 
wirksam  dadurch  eingreifen,  dass  die  kleinen  Kinder  möglichst  früh- 
zeitig aus  der  befallenen  Gegend  fortgeschickt  werden,  bis  sie  das 
gefährdete  Alter  überschritten  haben,  am  besten  auf  die  Höhe  des  Ge- 
birges. Erfahrene  Beobachter  theilen  mit,  dass  diese  Massregel  selbst  dann 
noch  völlige  Genesung  erzielen  könne,  wenn  bereits  die  ersten  Zeichen 
der  beginnenden  Erkrankung  erkennbar  seien;  auch  fortgesetzte  kleine 
Jodkaliumgaben  sollen  in  diesem  Stadium  von  guter  Wirkung  sein. 

Endlich  kann  man  daran  denken,  die  Entwicklung  des  Leidens 
durch  regelmässige  Verabreichung  von  getrockneter  Schilddrüse  zu 
verhindern.  Die  bis  jetzt  über  dieses  Verfahren  vorliegenden  Be- 
obachtungen*) sprechen  durchaus  dafür,  dass  es  bei  rechtzeitigem 
Eingreifen  gelingen  kann,  sogar  die  deutlichen  Zeichen  der  cretinisti- 
schen  Entartung  noch  zum  Schwinden  zu  bringen.  Bei  sehr  langer 
Dauer  der  Krankheit  ist  es  nach  meinen  Erfahrungen  zwar  auch 
möglich,  durch  Thyreoidin  die  Hautschwellungen  erheblich  zu  ver- 
ringern ; auch  die  ausgebliebenen  Menses  sah  ich  wiederkehren.  Allein 
der  psychische  Zustand  wird  nicht  mehr  merklich  beeinflusst,  offen- 
bar deswegen,  weil  sich  nun  bereits  unausgleichbare  Veränderungen 
in  der  Hirnrinde  vollzogen  haben. 


*)  Bourneville,  Progres  medical,  1897,  10  u.  11. 


Y.  Die  Dementia  praecox. 


Unter  dem  Namen  der  Dementia  praecox  sei  es  uns  gestattet,  vor- 
läufig eine  Reihe  von  Krankkeitsbildern  zusammenzufassen,  deren  ge- 
meinsame Eigentkümlickkeit  der  Ausgang  in  eigenartige  Sckwäche- 
zustände  bildet.  Es  sckeint  zwar,  dass  dieser  ungünstige  Ausgang 
nickt  ausnahmslos  eintreten  muss,  aber  er  ist  dock  so  ungemein 
häufig,  dass  Avir  einstweilen  noch  an  der  gebräuchlichen  Bezeichnung 
festkalten  möchten.  Vielleicht  wären  andere  Bezeichnungen,  Avie  die 
„demenza  primitiva“  der  Italiener  oder  der  von  Rieger  bevorzugte 
Ausdruck  „Dementia  simplex“  noch  zutreffender.  Ich  kann  nach 
den  bisher  bekannten  klinischen  und  anatomischen  Thatsachen 
nicht  zweifeln,  dass  wir  es  hier  mit  schweren  und  in  der 
Regel  höchstens  theilweise  rückbildungsfähigen  Schädigungen  der 
Hirnrinde  zu  thun  haben.  Ob  allerdings  der  Krankheitsvorgang 
überall  der  gleiche  ist,  muss  zur  Zeit  noch  als  völlig  unsicher  be- 
zeichnet werden. 

Vom  klinischen  Standpunkte  empfiehlt  es  sich  vielleicht,  der 
Uebersichtlichkeit  halber  drei  Hauptgruppen  der  Dementia  praecox 
auseinander  zu  halten,  die  jedoch  ohne  Zweifel  durch  fliessende 
Uebergänge  mit  einander  verbunden  sind.  Wir  wollen  diese  Formen 
als  hebephrenische,  katatonische  und  paranoide  bezeichnen. 
Die  erste  derselben  deckt  sich  mit  der  früher  von  mir  beschriebenen 
Dementia  praecox,  die  zweite  mit  der  Katatonie,  Aväkrend  die  dritte 
die  Dementia  paranoides  und  ausserdem  diejenigen  sonst  der  Paranoia 
zugerechneten  Fälle  umfasst,  die  rasch  zu  einem  erheblichen  Grade 
geistiger  Schwäche  führen.  Das  ganze  Gebiet  der  Dementia  praecox 
entspricht  im  wesentlichen  den  früher  als  „Verblödungsprocosse“  be- 
zeichnten Krankheitsbildern;  ich  möchte  diese  Verschiebung  der 
Benennungen  vorschlagen,  weil  auch  die  Paralyse  und  der  Alters- 


138 


Y.  Die  Dementia  praecox. 


blödsinn  sowie  eine  Reihe  weiterer  Krankheitsvorgänge  allenfalls 
mit  unter  dem  Namen  der  Vorblöd ungsprocesse  verstanden  werden 
könnten. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  Zustandsbilder,  die  wir  im  Verlaufe 
der  Dementia  praecox  beobachten,  ist  eine  sehr  grosse,  so  dass  für 
die  oberflächliche  Betrachtung  oft  die  innere  Zusammengehörigkeit 
nur  schwer  erkennbar  ist.  Dennoch  begegnen  uns  gewisse  Grund- 
störungen in  mehr  oder  weniger  ausgeprägter  Form  überall  wieder, 
am  reinsten  allerdings  in  den  Endzuständen,  in  denen  die  mehr  zu- 
fälligen und  vorübergehenden  Begleiterscheinungen  des  Krankheits- 
vorganges hinter  den  dauernden  und  kennzeichnenden  Veränderungen 
des  Seelenlebens  zurückgetreten  sind. 

Die  einfache  Auffassung  äusserer  Eindrücke  pflegt  in  der 
Dementia  praecox  keine  stärkeren  Beeinträchtigungen  zu  erleiden. 
Die  Kranken  nehmen  im  allgemeinen  ganz  gut  wahr,  was  um  sie 
her  vorgeht,  oft  weit  besser,  als  man  nach  ihrem  Verhalten  erwarten 
sollte.  Man  ist  überrascht,  dass  anscheinend  völlig  stumpfe  Kranke 
alle  möglichen  Einzelheiten  in  ihrer  Umgebung  richtig  aufgefasst 
haben,  plötzlich  die  Namen  ihrer  Leidensgefährten  kennen,  Aende- 
rungen  in  der  Kleidung  des  Arztes  bemerken.  In  Folge  dessen  ist 
auch  die  Orientirung  der  Kranken  meist  ungestört.  Sie  wissen 
in  der  Regel,  wo  sie  sich  befinden,  erkennen  die  Personen,  sind 
klar  über  die  Zeitrechnung.  Nur  im  Stupor  und  in  heftigen  Angst- 
zuständen kann  die  Orientirung  zeitweise  stärker  getrübt  sein,  doch 
ist  es  geradezu  kennzeichnend  für  die  Kranken,  dass  sie  oft  trotz 
stärkster  Erregung  vollkommen  besonnen  bleiben.  Andererseits 
wird  jedoch  die  Orientirung  nicht  selten  durch  Wahnbildungen  be- 
einträchtigt. Die  Kranken  bezeichnen  Aufenthaltsort  und  Personen 
falsch,  geben  ein  verkehrtes  Datum  an,  nicht  wegen  der  Unfähigkeit, 
richtig  aufzufassen  und  zu  überlegen,  sondern  weil  ihre  Wahnvor- 
stellungen mächtiger  sind,  als  die  von  der  Wahrnehmung  gelieferten 
Anhaltspunkte.  Freilich  ist  es  nicht  immer  möglich,  über  diese 
Verhältnisse  Klarheit  zu  gewönnen,  weil  die  Kranken  vielfach  gar 
keine  oder  absichtlich  falsche  Auskunft  geben. 

Schwere  Störungen  erleidet  die  Sinneserfahrung  bei  unseren 
Kranken  sehr  häufig  durch  das  Auftreten  von  Trugwahrnehmungen. 
Namentlich  bei  acuter  oder  subacuter  Entwicklung  der  Krankheit 
pflegen  dieselben  fast  niemals  zu  fehlen.  Hie  und  da  begleiten  sie  den 


Allgemeine  Krankheitszeicben. 


139 


ganzen  Krankheits  verlauf;  häufiger  schwinden  sie  späterhin  allmäh- 
lich, um  dann  in  den  Endzuständen  nur  noch  zeitweise  stärker 
hervorzutreten.  Am  häufigsten  sind  Gehörstäuschungen,  nächstdem 
Gesichtstäuschungen  und  Gefühlstäuschungen,  die  Empfindung  von 
Durchströmungen,  Berührungen,  Beeinflussungen.  Im  Beginne  der 
Krankheit  pflegen  die  Täuschungen  unangenehmen  Inhalts  zu  sein 
und  den  Kranken  lebhaft  zu  beunruhigen.  Später  werden  sie  meist 
gleichen üthiger  hingenommen,  wenn  wir  von  vorübergehenden  Er- 
regungszuständen absehen.  Manche  Kranke  betrachten  die  Täusch- 
ungen als  künstliche  Erzeugnisse,  als  eine  Art  Theater,  das  ihnen 
vorgeführt  wird,  belustigen  sich  auch  wol  darüber;  noch  audere 
kümmern  sich  gar  nicht  darum  und  machen  überhaupt  erst  auf 
eindringliches  Befragen  einige  spärliche  Angaben  über  den  Inhalt 
ihrer  Täuschungen.  Oefters  ist  derselbe  ein  ganz  unsinniger  und 
zusammenhangsloser.  So  hörte  ein  sonst  völlig  besonnener  und  ge- 
ordneter Kranker  dauernd  Sätze  wie  die  folgenden,  die  deutlich  die 
Erscheinung  des  Hafteus  der  Vorstellungen  zeigen: 

„Denn  wir  selber  können  immer  hoffen,  dass  wir  uns  andere  Gedanken  zahlen 
lassen  sollen.  Denn  wir  selbst  wollen’s  wissen  wollen,  wer  mit  uns  den  Saukopf 
närrisch  hin  zu  Tode  quälen  lassen  sollte.  Nein,  wir  selber  sind  nicht  mehr  so 
dumm,  und  kümmern  uns  nicht  immer  drum,  wenn  wir  uns  Saufen  sparen  lassen 
sollen.  Weil  wir  eben  närrisch  machen  und  uns  selber  saudumm  anschmieren 
lassen  sollen.“ 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  in  vielen  Fällen  dauernd 
völlig  klar.  Nur  in  den  Erregungs-  und  Stuporzuständen  kommt 
es  zeitweise  zu  Trübungen,  wenn  sie  auch  meist  weniger  hochgradig 
sind,  als  es  auf  den  ersten  Blick  scheint.  Schwere  Störungen  pflegt 
dagegen  regelmässig  die  Aufmerk samkeit  zu  zeigen.  Wenn  man 
auch  oft  die  Kranken  vorübergehend  zum  Aufpassen  bringen  kann,  so 
besteht  doch  dabei  nicht  selten  grosse  Ablenkbarkeit,  die  ein  längeres 
Festhalten  bei  demselben  Gegenstände  unmöglich  macht.  Vor  allem 
aber  fehlt  den  Kranken  durchweg  das  Interesse,  die  Neigung,  aus 
eigenem  inneren  Antriebe  ihre  Aufmerksamkeit  auf  die  Vorgänge  in 
ihrer  Umgebung  zu  richten.  Obgleich  sie  recht  wol  wahrnehmen,  was 
um  sie  her  vorgeht,  beachten  sie  es  doch  nicht,  suchen  es  nicht  zu  er- 
fassen und  zu  verstehen.  In  sehr  tiefem  Stupor  oder  bei  vor- 
geschrittenem Blödsinn  kann  es  auch  ganz  unmöglich  werden,  über- 
haupt noch  irgendwie  die  Aufmerksamkeit  der  Kranken  zu  erregen. 
Umgekehrt  sieht  man  bisweilen  beim  Schwinden  des  Stupors  eine 


140 


V.  Die  Dementia  praecox. 


gewisse  Neugierde  bei  den  Kranken  auftreten;  sie  beobachten  ver- 
stohlen, was  sich  im  Zimmer  abspielt,  folgen  dem  Arzte  von  weitem, 
sehen  in  alle  offenstehenden  Thüren  hinein,  wenden  sich  aber  ab, 
wenn  man  sie  anruft,  blicken  fort,  sobald  man  ihnen  etxvas  zeigen 
will.  Anscheinend  wird  hier  die  wieder  erwachende  Aufmerksam- 
keit durch  den  Negativismus  in  Schranken  gehalten. 

Das  Gedächtniss  der  Kranken  ist  verhältnissmässig  wenig  ge- 
stört. Sie  vermögen,  wenn  sie  wollen,  über  ihre  Vergangenheit  ein- 
gehende, richtige  Angaben  zu  machen,  wissen  oft  auf  Tage  genau, 
wie  lange  sie  in  der  Anstalt  sind.  Ihre  in  der  Schule  erworbenen 
Kenntnisse  haften  bisweilen  mit  erstaunlicher  Zähigkeit  bis  in  die 
Zeit  tiefster  Verblödung  hinein.  Ich  erinnere  mich  an  einen  ganz 
stumpfsinnigen  Bauernburschen,  der  vor  der  Landkarte  jede  beliebige 
Stadt  ohne  Zögern  aufzeigen  konnte;  ein  anderer  verblüffte  durch 
seine  geschichtlichen  Kenntnisse;  noch  andere  lösen  mit  Leichtigkeit 
schwierige  Rechenaufgaben.  Auch  die  Merkfähigkeit  ist  oft  recht 
gut  erhalten.  Allerdings  stellt  sich  nach  schwerem  Stupor  nicht 
selten  heraus,  dass  die  Kranken  von  den  Vorgängen  während 
längerer  Zeiträume  gar  keine  oder  doch  nur  sehr  unklare  Erinnerung 
besitzen;  auf  der  anderen  Seite  aber  gelingt  es  meist  leicht,  selbst 
ganz  theilnahmlosen  Kranken  Zahlen  oder  Namen  einzuprägen,  die 
sie  dann  nach  Tagen  und  Wochen  richtig  wieder  Vorbringen.  Frei- 
lich erhält  man  dabei  öfters  zunächst  wegen  des  Negativismus  un- 
zutreffende Antworten,  bis  dann  bei  eindringlicherem  Befragen 
klar  wird,  dass  die  Kranken  sich  die  Aufgabe  ganz  gut  gemerkt 
hatten. 

Der  Gedankengang  der  Kranken  pflegt  früher  oder  später 
stets  empfindlich  zu  leiden.  Auch  wenn  wir  absehen  von  der  Ver- 
wirrtheit in  den  Erregungszuständen  und  vom  Stupor,  bei  dem  wir 
die  inneren  Vorgänge  nicht  verfolgen  können,  bildet  sich  in  der 
Regel  mehr  und  mehr  eine  gewisse  Zerfahrenheit  des  Denkens 
heraus,  wie  wir  sie  früher  eingehend  geschildert  haben.  In  leichteren 
Fällen  zeigt  sich  dieselbe  vielleicht  nur  in  erhöhter  Ablenkbarkeit 
und  Sprunghaftigkeit,  in  unvermitteltem  Uebergehen  von  einem 
Gegenstände  zum  anderen,  dem  Einflechten  überflüssiger  Redens- 
arten und  Nebengedanken;  bei  schwererer  Störung  dagegen  ent- 
wickelt sich  nicht  selten  die  Sprachverwirrtheit  mit  ihrem  völligen 
Verluste  jeden  Zusammenhanges  und  ihren  Wortneubildungen.  Frei- 


Allgemeine  Krankheitszeicheu. 


14L 


lieh  muss  zugegeben  werden,  dass  dabei  der  eigentliche  Gedanken- 
gang möglicherweise  viel  weniger  gestört  ist,  als  es  den  Anschein 
hat,  weil  die  Kranken  unter  Umständen  nicht  nur  gut  auffassen, 
sondern  auch  das  Aufgefasste  weiter  verarbeiten  und  sich  annähernd 
geordnet  benehmen  können.  Fast  immer  begegnen  uns  übrigens  im 
Gedankengange  der  Kranken  die  Anzeichen  der  Stereotypie,  des 
Haftens  einzelner  Vorstellungen , welches  zeitweise  sogar  das  ganze 
Denken  der  Kranken  derart  beherrschen  kann,  dass  Wochen  und 
Monate  lang  immer  dieselben  dürftigen  Wendungen  wiederkehren. 
Häufig  beobachten  wir  auch  die  Neigung  zum  Reimen,  zu  sinnlosen 
Klangwiederholungen,  zu  gewaltsamen  Wortspielereien. 

Sclvwer  geschädigt  wird  ferner  ausnahmslos  die  Urtheilsfähig- 
keit  der  Kranken.  So  sicher  sie  sich  bisweilen  noch  in  eingelernten 
Bahnen  bewegen,  so  pflegen  sie  doch  zu  versagen,  sobald  es  sich 
darum  handelt,  neue  Erfahrungen  geistig  zu  verarbeiten.  Sie  ver- 
stehen nicht  mehr  recht,  was  um  sie  herum  vorgeht,  überblicken  die 
Sachlage  nicht,  denken  nicht  nach,  verfallen  nicht  auf  die  nächst- 
liegenden  Schlüsse  und  machen  sich  keine  Einwände.  In  Folge 
dessen  haben  sie  von  ihrer  Lage,  ihrem  Zustande  meist  eine  ganz 
falsche  Vorstellung.  Wenn  auch  nicht  selten  ein  gewisses  Bewusst- 
sein der  krankhaften  Veränderung  vorhanden  ist,  die  sich  mit 
ihnen  vollzogen  hat,  fehlt  ihnen  doch  regelmässig  das  tiefere  Ver- 
ständniss  für  die  Schwere  der  Störung  und  die  weitreichenden 
Folgen,  welche  dieselbe  für  die  ganze  Zukunft  nach  sich  zieht. 

Ungemein  häufig  entwickeln  sich  auf  diesem  Boden  vorüber- 
gehend oder  dauernd  Wahnvorstellungen.  In  der  ersten  Zeit 
der  Krankheit  pflegen  sie  vorzugsweise  traurigen  Inhalts  zu  sein, 
hypochondrische,  Versündigungs-,  Verfolgungsideen.  Späterhin  gesellen 
sich  oft  Grössenideen  hinzu  oder  treten  auch  wol  ganz  in  den 
Vordergrund.  Alle  diese  Wahnvorstellungen  zeigen  in  der  Regel 
sehr  bald  ein  unsinniges,  abenteuerliches  Gepräge,  anscheinend  wegen 
der  sich  rasch  entwickelnden  geistigen  Schwäche.  Sie  sind  ferner 
nicht  unveränderlich , sondern  wechseln  ihren  Inhalt  mehr  oder 
weniger  schnell  durch  Ausfallen  früherer,  Hinzutreten  neuer  Bestand- 
theile.  Bisweilen  bringen  die  Kranken  trotz  gewisser  dauernder 
Grundzüge  fast  jeden  Tag  neue  wahnhafte  Einzelheiten  vor,  lassen 
sich  auch  wol  durch  Zureden  zur  Erfindung  beliebiger  Wahn- 
bildungen anregen.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  hört 


142 


V.  Die  Dementia  praecox. 


die  anfangs  oft  sehr  üppige  Wahnbildung  allmählich  ganz  auf. 
Höchstens  werden  noch  einzelne  Wahnvorstellungen  einige  Zeit  hin- 
durch festgehalten,  ohne  weiter  verarbeitet  zu  werden,  oder  sie 
tauchen  von  Zeit  zu  Zeit  noch  einmal  hervor,  oder  endlich  sie  ge- 
rathen  dauernd  und  vollständig  in  Vergessenheit.  Nur  in  jener 
Gruppe  von  Beobachtungen,  die  wir  als  paranoide  Formen  zu- 
sammenfassen wollen,  erhalten  sich  die  Wahnvorstellungen  länger, 
aber  auch  hier  werden  sie  immer  zerfahrener  und  zusammen- 
hangsloser. 

Sehr  auffallende  und  tiefgreifende  Störungen  spielen  sich  regel- 
mässig im  Gemüthsleben  unserer  Kranken  ab.  Den  Beginn  der 
Krankheit  bilden  ausserordentlich  häufig  traurige  oder  ängstliche 
Verstimmungen,  bisweilen  mit  lebhafter  Erregung.  Etwas  seltener 
sind  Zustände  ausgelassener  Lustigkeit  mit  fortwährendem  unbändigem 
Lachen.  Weit  wichtiger  aber,  als  diese  vorübergehenden  Zustands- 
bilder ist  die  ausnahmslos  eintretende,  mehr  oder  weniger  hoch- 
gradige gemüthliche  Verblödung,  die  einen  der  Grundzüge  des 
ganzen  Krankheitsvorganges  darstellt.  Schon  der  oben  erwähnte 
Mangel  an  Interesse  für  die  Umgebung  dürfte  als  eine  Theil- 
erscheinung  dieser  allgemeinen  Störung  aufzufassen  sein,  insofern 
die  inneren  Beweggründe  zur  Anspannung  der  Aufmerksamkeit 
eben  wesentlich  durch  Gefühle  geliefert  werden.  Die  eigenthüm- 
liche  Gleichgültigkeit  der  Kranken  gegenüber  ihren  sonstigen  ge- 
müthlichen  Beziehungen,  das  Erlöschen  der  Zuneigung  zu  Angehörigen 
und  Freunden,  der  Befriedigung  an  Thätigkeit  und  Beruf,  an  Er- 
holung und  Vergnügungen  ist  nicht  selten  das  erste  und  auffallendste 
Zeichen  des  hereinbrechenden  Leidens.  Die  Kranken  empfinden, 
auch  wenn  etwa  die  Ausdrucksbewegungen  noch  lebhaft  sind,  inner- 
lich keine  rechte  Freude  und  keine  Trauer  mehr,  hegen  weder 
Wünsche  noch  Befürchtungen,  sondern  leben  theilnahmlos  in  den 
Tag  hinein,  bald  stumpf  vor  sich  hinbrütend,  bald  in  gegenstands- 
loser Heiterkeit.  Auch  gegen  körperliches  Unbehagen  scheinen  sie 
oft  unempfindlicher  geworden  zu  sein,  ertragen  unbequeme  Stellungen, 
Nadelstiche,  Verletzungen,  ohne  sich  viel  daraus  zu  machen.  Oefters 
behält  jedoch  das  Essen  sehr  lange  eine  besondere  Anziehungskraft. 
Man  sieht  die  Kranken  ohne  Gruss  oder  sonstiges  Zeichen  gemüth- 
licher  Anregung  die  Besuche  ihrer  Angehörigen  empfangen,  aber 
eiligst  deren  Taschen  und  Körbe  nach  Esswaren  durchstöbern,  die 


Allgemeine  Krankheitszeichen.  143 

sie  sich  sofort,  mit  vollen  Backen  kauend,  bis  auf  den  letzten  Rest 
einzuverleiben  pflegen.  Auch  in  den  Endzuständen  der  Krankheit 
ist  die  vollkommene  Gleichgültigkeit  gegenüber  allen  Vorgängen  in 
der  Umgebung  ein  Hauptzug  des  klinischen  Bildes.  Damit  kann 
sich  unter  Umständen  recht  wol  eine  gewisse  Reizbarkeit  verbinden, 
die  allerdings  meist  nur  zu  Zeiten  bervortritt,  seltener  dauernd 
fortbesteht. 

Hand  in  Hand  mit  dieser  tiefen  Störung  des  Gemiithslebens 
gehen  die  ausgebreiteten  und  mannigfaltigen  Krankheitserscheinungen 
auf  dem  Gebiete  des  Benehmens  und  Handelns,  die  dem  ganzen 
Bilde  am  meisten  sein  eigenartiges  Gepräge  geben.  Die  allgemeine 
Grundlage  scheint  eine  Herabsetzung  der  Willensantriebe  überhaupt 
zu  sein,  wie  sie  sich  namentlich  in  der  Willenlosigkeit  der  End- 
zustände zeigt,  oft  aber  auch  schon  von  Anfang  an  deutlich  hervor- 
tritt. Die  Kranken  haben  jeden  eigenen  Antrieb  zum  Handeln  und 
zur  Thätigkeit  verloren,  sitzen  miissig  herum,  vernachlässigen  ihre 
Obliegenheiten,  obschon  sie  vielleicht  noch  im  Stande  sind,  sich 
auf  äussere  Anregung  hin  in  geordneter  Weise  zu  beschäftigen. 
Neben  dieser  Unfähigkeit  zu  selbständiger  Thätigkeit  kann  sich 
dauernd  oder  vorübergehend  ein  mehr  oder  weniger  lebhafter  Be- 
wegungsdrang entwickeln,  der  sich  unter  Umständen  bis  zu  stürmisch- 
ster Tobsucht  steigert.  Aber  auch  bei  ihm  haben  wir  es,  wie  schon 
früher  ausgeführt,  nicht  mit  einer  Steigerung  der  Willensantriebe, 
sondern  nur  mit  einer  motorischen  Erregung  zu  thun ; die  Be- 
wegungen erstreben  nicht  die  Verwirklichung  bestimmter  Ziele, 
sondern  sind  die  planlosen  Entäusserungen  innerer  Spannung. 

Allerdings  verbindet  sich  mit  dieser  Erregung  in  der  Regel 
auch  eine  erleichterte  Umsetzung  von  Bewegungsantrieben  in  Handeln. 
Wir  sehen  unsere  Kranken  auf  plötzliche  Einfälle  hin  Scheiben  zer- 
schlagen, die  Beine  durch  das  Fenstergitter  stecken,  Tische  und 
Stühle  umwerfen,  sich  selbst  verletzen,  schwere  Selbstmordversuche 
machen.  Alle  derartigen  unsinnigen  Handlungen  pflegen  plötzlich, 
mit  grosser  Gewalt  und  blitzschnell  ausgeführt  zu  werden,  sobald 
der  Antrieb  dazu  auftaucht.  Den  Kranken  fehlen  dabei  bestimmte 
verstandesmässige  Beweggründe;  sie  handeln  triebartig,  ohne  sich 
über  den  Zweck  ihres  Thuns  Rechenschaft  zu  geben,  auch  wenn  sie 
dasselbe  mitunter  nachträglich  noch  durch  Ueberlegungen  zu  be- 
gründen suchen. 


144 


V.  Die  Dementia  praecox. 


Diese  Unfähigkeit,  auftauchende  Antriebe  zu  unterdrücken,  findet 
sich  aber  nicht  nur  in  der  Erregung,  sondern  vielfach  auch  im 
Stupor  der  Dementia  praecox.  Dieser  letztere  wird  im  allgemeinen 
von  der  Erscheinung  der  Willenssperrung  beherrscht;  jeder  An- 
trieb wird  zunächst  durch  einen  noch  stärkeren  von  entgegengesetzter 
Richtung  ausgelöscht.  Auf  diese  Weise  entsteht  das  Krankheits- 
zeichen des  Negativismus,  dem  wir  hierin  den  verschiedenartigsten 
Gestaltungen  unendlich  häufig  begegnen.  Dahin  gehören  der  starre 
Widerstand  gegen  jede  Lageveränderung,  gegen  Nahrungsaufnahme 
und  Kleidung,  das  Schliessen  der  Augen,  das  Wegwenden  des  Kopfes 
und  Entschlüpfen  bei  Anreden,  das  Zurückhalten  von  Koth,  Urin 
und  Speichel,  das  Verkriechen  unter  die  Bettdecke,  das  Verschmähen 
des  Bettes,  die  Stummheit,  die  gesucht  unsinnigen  Antworten,  die 
plötzliche  Unterbrechung  angefangener  Bewegungen  und  Hand- 
lungen, die  Unzugänglichkeit  gegenüber  allen  Aufforderungen  und 
Eingriffen.  Auch  dieser  Negativismus,  dessen  Ausprägung  und 
Stärke  zwar  vielfach  wechselt,  der  aber  von  aussen  her  nur^selten 
zu  beeinflussen  ist,  kann  durch  innere  Antriebe  ganz  unvermittelt 
jäh  durchbrochen  werden,  so  dass  die  bis  dahin  regungslosen  Kranken 
plötzlich  mit  grösster  Kraft  und  Schnelligkeit  irgend  eine  sinnlose 
Handlung  begehen,  um  vielleicht  ebenso  plötzlich  in  den  früheren 
Zustand  zurück  zu  versinken. 

Vielfach  indessen  schwinden  die  einmal  aufgetauchten  Antriebe 
nicht  sofort  wieder,  sondern  wiederholen  sich  durch  kürzere  oder 
längere  Zeit  hindurch  immer  von  neuem.  Auf  diese  Weise  entstehen 
alle  jene  mannigfachen  Bewegungs-  und  Haltungsstereotypen, 
die  namentlich  das  Bild  der  Katatonie  so  seltsam  gestalten,  ferner 
die  Verbigeration  und  endlich  auch  die  Manieren,  die  wenigstens 
der  Mehrzahl  nach  nichts  anderes  sind,  als  erstarrte  krankhafte  Ab- 
änderungen geläufiger  Handlungen.  Das  Athmen,  Sprechen,  Schreiben, 
das  Stehen  und  Gehen,  das  An-  und  Auskleiden,  das  Handgeben 
und  Essen,  die  Geberden  laufen  nicht  in  der  gewöhnlichen  unge- 
zwungenen Weise  ab,  sondern  sie  werden  bestimmt,  begleitet,  durch- 
kreuzt von  allerlei  Nebenantrieben,  die  trotz  mannigfaltigster  persön- 
licher Verschiedenheiten  doch  gewisse  immer  wiederkehrende  Formen 
aufweisen,  namentlich  aber  bei  demselben  Kranken  oft  jahre-  und 
jahrzehntelang  mit  grosser  Zähigkeit  haften.  Wir  werden  sie  später- 
hin im  einzelnen  zu  schildern  haben. 


Allgemeine  Kranklieitszeicben. 


145 


Mit  der  schweren  Schädigung  des  Willens,  dem  Untergehen 
der  eigenen  Antriebe  und  Hemmungen  dürfte  endlich  auch  das  bei 
der  Dementia  praecox  sehr  häufige  Krankheitszeichen  der  Befehls- 
automatie  in  nahen  Beziehungen  stehen.  Die  Kranken  sind, 
namentlich  bei  vorgeschrittener  V erblödung,  nicht  nur  im  allgemeinen 
lenksam,  so  dass  sie  den  unentbehrlichen  Stamm  jener  Massen 
bilden,  die  sich  willig  dem  einförmigen  Tageslaufe  der  grossen  An- 
stalten fügen,  sondern  sie  zeigen  auch  im  einzelnen  vielfach  die 
Zeichen  erhöhter  Beeinflussbarkeit.  Bei  einer  grossen  Zahl  be- 
obachten wir  zeitweise  oder  bis  an  das  Lebensende  Katalepsie,  sehr 
oft  auch  Echolalie  und  Echopraxie.  Allerdings  wechselt  das  Auf- 
treten dieser  Störungen  vielfach,  aber  es  dürfte  wenige  Kranke  mit 
Dementia  praecox  geben,  die  nicht  das  eine  oder  das  andere  dieser 
Zeichen  zu  irgend  einer  Zeit  des  Ivrankheits Verlaufes  dargeboten 
haben. 

Die  Arbeitsfähigkeit  der  Kranken  leidet  ausnahmslos  sehr 
empfindlich.  Sie  müssen  überall  angetrieben  werden,  stocken  vor 
jeder  kleinen  Schwierigkeit,  vermögen  sich  veränderten  Bedingungen 
nicht  anzupassen.  Einer  meiner  Kranken,  der  unter  Aufsicht  rasch 
und  flott  abschrieb,  so  lange  man  wollte,  war  durchaus  unfähig,  den 
Einschaltungszeichen  zu  folgen,  gab  vielmehr  trotz  eingehendster 
vorheriger  Belehrung  doch  immer  alles  gedankenlos  genau  so  wieder, 
wie  es  ihm  vor  die  Feder  kam.  Andere  sind  im  Stande,  früher 
eingeübte  Arbeiten  mit  grosser  Sauberkeit  zu  wiederholen,  versagen 
aber  sofort,  wenn  ihnen  neue  Aufgaben  gestellt  werden.  Hier  kommt 
es  dann  oft  zu  eigenthümlich  verschrobenen  Leistungen,  Handarbeiten, 
Zeichnungen,  in  denen  sich  neben  den  Spuren  technischer  Fertigkeit 
der  Verlust  des  Schönheitssinnes  und  die  Neigung  zum  Absonder- 
lichen kundgiebt.  Ebenso  pflegt  sich  bei  den  musikalischen  Leistungen 
der  Untergang  des  künstlerischen  Feingefühls  in  ihren  bald  aus- 
druckslosen, bald  verzerrten  und  willkürlichen  Darbietungen  be- 
merkbar zu  machen. 

Ausser  den  psychischen  Störungen  sind  auch  auf  körper- 
lichem Gebiete  eine  Keihe  von  Krankheitserscheinungen  zu 
verzeichnen,  deren  genauere  Beziehungen  zu  dem  Grundleiden 
allerdings  noch  nicht  in  allen  Punkten  feststehen.  Vor  allem 
sind  hier  die  Anfälle  zu  erwähnen,  die  schon  von  Kahl  bäum 
und  Jensen  sehr  gut  beschrieben  wurden.  Es  handelt  sich  meist 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Auil.  II.  Band.  10 


146 


V.  Die  Dementia  praecox. 


um  Ohnmächten  oder  um  epileptiforme  Krämpfe,  die  bald  ver- 
einzelt, bald  häufiger  bei  unseren  Kranken  auftreten.  Seltener 
sind  Krämpfe  in  einzelnen  Muskelgebieten  (Gesicht,  Arm),  Tetanie 
oder  gar  apoplektiforme  Anfälle  mit  länger  dauernder  Lähmung; 
doch  wurde  auch  von  solchen  einige  Male  aus  der  Vorgeschichte 
berichtet.  Ich  selbst  sah  einmal  einen  schweren  Collaps  mit  Krämpfen 
in  der  linken  Körperhälfte  und  im  rechten  Facialis.  Nicht  ganz 
selten  bildet  ein  solcher  Anfall  das  erste  Zeichen  der  beginnenden 
Krankbeit.  So  sah  ich  unter  anderen  einen  von  Jugend  auf  be- 
sonders begabten  älteren  Studenten,  der  plötzlich  von  einem  tiefen 
Koma  befallen  wurde,  aus  dem  er  nur  ganz  allmählich  wieder  er- 
wachte. Es  war  ausser  einer  leichten  Pupillendifferenz,  Facialis- 
phaenomen  und  starker  Steigerung  der  Reflexe  keine  Spur  von 
Hirnerscheinungeu  vorhanden,  doch  bot  der  Kranke,  als  ich  ihn 
wenige  Wochen  später  untersuchte,  das  ausgeprägte  Bild  des  vor- 
zeitigen Schwachsinns  dar,  das  noch  heute  fortbesteht.  Alle  diese 
Anfälle  sind  nahezu  doppelt  so  häufig  beim  weiblichen  wie  beim 
männlichen  Geschlechte.  Nach  meiner  Zusammenstellung  fanden 
sie  sich  in  etwa  18°/0  aller  Fälle.  Ausserdem  aber  waren  bei  einer 
ganzen  Reihe  von  Kranken  schon  in  der  Jugend  Krämpfe  oder 
Ohnmächten  vorausgegangen,  von  denen  es  zweifelhaft  bleiben  muss, 
ob  ihnen  irgend  ein  Zusammenhang  mit  der  Geistesstörung  zu- 
geschrieben werden  darf.  Endlich  wurden  öfters  hysteriforme 
Krämpfe  und  Lähmungen  beobachtet,  Aphonie,  Singultus,  plötzliches 
Steifwerden,  örtliche  Contracturen  u.  ähnl.  Mehrfach  bestanden 
dauernd  eigenthtimliche  choreaartige  Bewegungen,  die  ich  am  besten 
mit  dem  Ausdrucke  „athetoide  Ataxie“  kennzeichnen  zu  können 
glaube.  In  zwei  Fällen  gelang  es,  während  eines  Zustandes  dumpfer 
Benommenheit  deutliche  aphasische  Störungen  nachzuweisen.  Die 
Kranken  waren  ausser  Stande,  die  ihnen  vorgelegten  Gegenstände 
zu  erkennen  und  zu  benennen,  obgleich  sie  sprechen  konnten  und 
sich  offenbar  die  grösste  Mühe  gaben,  die  geforderte  Auskunft  zu 
geben.  Wiederholt  kamen  nach  langem  Besinnen  falsche  Bezeich- 
nungen zu  Tage.  Die  Störung  war  nach  wenigen  Stunden  wieder 
verschwunden. 

Die  Sehnenreflexe  sind  regelmässig  gesteigert,  oft  sogar  sehr 
bedeutend;  vielfach  findet  sich  auch  erhöhte  mechanische  Erregbar- 
keit der  Muskeln  und  Nerven.  Die  Pupillen  sind  häufig  auffallend 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


147 


weit,  namentlich  in  den  Aufregungszuständen ; hie  und  da  beobachtet 
man  deutliche,  aber  wechselnde  Pupillendifferenz,  auch  Bulbusunruhe. 
Verbreitet  sind  ferner  vasomotorische  Störungen,  Cyanose,  um- 
schriebene Oedeme,  Dermatographie  in  allen  Abstufungen;  in  ein- 
zelnen Fällen  besteht  starkes  Schwitzen.  Die  Speichelabsonderung 
scheint  vielfach  vermehrt  zu  sein;  so  konnte  ich  bei  einem  Kranken 
in  6 Stunden  375  ccm  Speichel  sammeln.  Die  Herzthätigkeit  ist 
grossen  Schwankungen  unterworfen,  bald  verlangsamt,  häufiger 
etwas  beschleunigt,  oft  auch  schwach  und  unregelmässig.  Die 
Körperwärme  ist  meist  niedrig;  einmal  sah  ich  sie  bis  auf  33,8 
heruntergehen.  Die  Menses  pflegen  auszubleiben  oder  unregelmässig 
zu  werden. 

Sehr  oft  beobachtete  ich  diffuse  Vergrösserungen  der  Schilddrüse, 
einige  Male  das  Schwinden  solcher  Vergrösserungen  unmittelbar  vor 
dem  ersten  Auftreten  der  Krankheitserscheinungen,  auch  wiederholten 
raschen  Wechsel  im  ürnfang  der  Drüse  während  der  Entwicklung  des 
Leidens.  In  einzelnen  Fällen  waren  Exophthalmus  und  Zittern  vor- 
handen. Endlich  fielen  uns  wie  den  Angehörigen  der  Kranken  nicht 
selten  myxödematöse  Verdickungen  der  Haut  ins  Auge,  namentlich 
im  Gesichte.  Leider  sind  diese  Befunde  bei  der  Häufigkeit  creti- 
nistiscber  Andeutungen  bei  uns  zunächst  nicht  weiter  zu  verwertheu. 
Sehr  häufig  schienen  anaemische  Zustände  zu  bestehen.  Im  Harne 
fand  sich  einmal  Zucker;  einmal  bestand  Polyurie. 

Der  Schlaf  der  Kranken  ist  während  der  ganzen  Entwicklung 
des  Leidens  vielfach  gestört,  auch  wenn  sie  ruhig  daliegen. 
Die  Nahrungsaufnahme  schwankt  von  völliger  Verweigerung  bis 
zu  stärkster  Fressgier.  Das  Körpergewicht  pflegt  zunächst  zu 
sinken,  oft  sehr  beträchtlich,  bis  zur  äussersten  Abmagerung, 
auch  trotz  reichlichster  Nahrungszufuhr.  Späterhin  sehen  wir 
im  Gegentheil  das  Gewicht  meist  rasch  ganz  ausserordentlich 
ansteigen,  so  dass  die  Kranken  in  kurzer  Zeit  ein  ungemein 
wohlgenährtes,  gedunsenes  Aussehen  gewinnen.  Von  den  hier 
wiedergegebenen  Curven  zeigt  die  erste  den  Gang  des  Körper- 
gewichtes bei  dem  gewöhnlichen  Verlaufe  eines  katatonischen 
Stupors  mit  Ausgang  in  Blödsinn  mittleren  Grades.  Trotzdem 
nach  dem  Erwachen  aus  dem  Stupor  eine  leichte  Erregung 
einsetzte,  nahm  das  Gewicht  doch  sehr  stark  zu.  Die  Curve  IV 
wurde  bei  einer  Kranken  gewonnen,  welche  trotz  sorgfältigster 

10* 


148 


V.  Die  Dementia  praecox. 


Pflege  und  reichlicher  Nahrungsaufnahme  ohne  irgend  eine  Organ- 
erkrankung in  hochgradigstem  Marasmus  zu  Grunde  ging.  Die 
Curve  V endlich  bietet  bei  einer  beginnenden  Katatonie  eine  Reihe 
von  ziemlich  regelmässigen  Schwankungen  dar,  die  jeweils  mit 
einem  Wechsel  zwischen  Stupor  und  grösserer  Klarheit  einhergingen. 
Später  verwischte  sich  diese  Regelmässigkeit,  und  es  kam  zu  dauern- 
der Yerblödung. 


Curve  IV. 

Katatonie  mit  sehr  starker  Erregung.  Tod  in 
äusserstem  Marasmus  ohne  Organerkrankung. 
Subnormale  Temperaturen;  reichliche 
Nahrungsaufnahme. 


I'/J  - 

m - 


130- 


|W 


Curve  III. 


Curve  V. 


Katatonie.  Stnpor,  daun  Verblödung 
mit  leichter  Erregung. 


Katatonie.  Wechsel  zwischen  Stupor 
und  Klarheit. 


Die  klinische  Einzeldarstellung  des  grossen  Gebietes  der  De- 
mentia praecox  stösst  auf  erhebliche  Schwierigkeiten,  weil  eine  Ab- 
grenzung der  verschiedenen  Kranklieitsbilder  nur  künstlich  durch- 
führbar ist.  Es  giebt  wol  eine  ganze  Reihe  häufiger  wiederkehrender 
Gestaltungen,  aber  zwischen  ihnen  liegen  so  zahlreiche  Uebergänge, 
dass  es  trotz  aller  Bemühungen  heute  unmöglich  erscheint,  jeden 
Fall  einwandsfrei  einer  bestimmten  Form  zuzuweisen.  Die  im 
folgenden  versuchte  Gruppirung  hat  daher  keinen  anderen  Werth,  als 
den  der  Uebersichtlichkeit.  Möglich  ist  es  ja,  dass  eine  genauere 


Hebephrenische  Formen. 


149 


Kenntniss  des  Wesens  der  Dementia  praecox  uns  einmal  Gesichts- 
punkte für  die  klinische  Eintheilung  des  Gebietes  an  die  Hand  giebt, 
die  uns  heute  noch  völlig  unbekannt  sind. 

Hebephrenische  Formen.  Die  erste  genauere  und  in  ihrer  Art 
geradezu  mustergültige  Schilderung  gewisser  Formen  der  Dementia 
praecox  verdanken  wir  Hecker*),  der  1871  im  Anschlüsse  an 
Kahlbaums  Aufstellungen  unter  dem  Namen  der  Hebephrenie 
solche  Fälle  beschrieb,  bei  denen  sich  nach  einem  melancholischen 
Eingangsstadium  ein  solches  der  Manie  entwickelt,  um  rasch  in  einen 
ganz  eigenartigen  Schwachsinnszustand  auszugehen.  Als  Hebephrenie 
in  diesem  Sinne  würde  somit  nur  ein  kleiner  Theil  der  hier  in  der 
Dementia  praecox  vereinigten  Beobachtungen  zu  bezeichnen  sein. 
Daraszkiewicz**)  hat  daher  den  Begriff  der  Hebephrenie  dahin 
erweitert,  dass  er  auch  die  „schweren  Formen“  umschliesst,  welche 
zu  tiefem  Blödsinn  führen.  Da  diese  Ausdehnung  der  Bezeich- 
nung sich  einzubürgern  scheint,  wollen  auch  wir  hier  als  Hebe- 
phreuie  ganz  allgemein  diejenigen  Formen  der  Dementia  praecox 
zusammenfassen,  bei  denen  sich  allmählich  oder  unter  den 
Erscheinungen  einer  subacuten,  seltener  acuten  Geistes- 
störung ein  einfacher,  mehr  oder  weniger  hochgradiger 
geistiger  Schwächezustand  herausbildet. 

Die  Entwicklung  dieses  Krankheits Vorganges  kann  sich  in  sehr 
verschiedenartiger  Weise  abspielen.  In  mehr  als  der  Hälfte  der 
Fälle  vollzieht  sich  die  Umwälzung  so  unmerklich  und  unter  so  un- 
bestimmten Anzeichen,  dass  der  eigentliche  Beginn  derselben  sich 
nachträglich  gar  nicht  mehr  feststellen  lässt.  Viele  dieser  Fälle 
kommen  überhaupt  nicht  in  die  Behandlung  dos  Irrenarztes,  da  die 
Veränderung  von  der  Umgebung  nicht  als  eine  eigentlich  krankhafte 
sondern  nur  als  das  Ergebniss  einer  unglücklichen  Entwicklung, 
vielleicht  sogar  auch  einer  Verschuldung  durch  Charakterfehler  be- 
trachtet wird. 

Die  ersten  Zeichen  des  herannahenden  Leidens  bilden  in  der 
Regel  Kopfschmerzen,  Schlaflosigkeit,  Schwindelgefühl  und  eine  all- 
mähliche Veränderung  im  Wesen  des  Kranken.  Er  wird  still,  in 
sich  gekehrt,  verstört,  scheu,  verschlossen,  wortkarg,  zeitweise  auch 


*)  Virchows  Archiv  L1I,  S.  394. 

**)  Ueber  Hebephrenie,  insbesondere  deren  schwere  Form.  Diss.  Dorpat,  1892. 


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Y.  Die  Dementia  praecox. 


wol  reizbar  und  grob,  störrisch,  rechthaberisch  oder  grundlos  heiter 
und  ausgelassen.  Die  Arbeit  geht  ihm  nicht  mehr  von  der  Hand;  in 
seinen  Obliegenheiten  ist  er  nachlässig,  gedankenlos,  zerstreut,  ver- 
gesslich, kümmert  sich  nicht  darum,  ob  etwas  fertig  -wird  oder  nicht, 
sondern  sitzt  unthätig  und  brütend  in  den  Ecken  herum,  starrt 
theilnahmlos  vor  sich  hin,  legt  sich  einige  Tage  ins  Bett.  Andere 
Kranke  zeigen  eine  gewisse  innere  Unruhe  und  Unstetigkeit,  halten 
es  nirgends  lange  aus,  treiben  sich  planlos  herum,  laufen  ohne  be- 
stimmtes Ziel  davon,  auch  in  der  Nacht,  reisen  aufs  gerathewohl 
und  ohne  Geld  in  die  Welt  hinein.  Bisweilen  lässt  der  Zustand  im 
Beginne  deutliche  Schwankungen  erkennen,  Wechsel  zwischen  besseren 
und  schlechteren  Zeiten;  bei  Frauen  werden  mitunter  längere  Zeit 
vor  der  Entwicklung  der  Krankheit  leichte  Erregungszustände  während 
der  Menses  beobachtet. 

Etwas  seltener  kennzeichnet  sich  der  Beginn  der  Krankheit 
durch  eine  ausgeprägte  traurige  Verstimmung.  Die  Kranken 
werden  niedergeschlagen,  muthlos,  ängstlich,  misstrauisch,  haben 
Heimweh,  ziehen  sich  zurück,  tragen  sich  mit  Todesgedanken,  machen 
öfters  plötzlich  einen  Selbstmordversuch.  In  der  Regel  stellen 
sich  alsbald  Sinnestäuschungen  ein.  In  der  Nacht  erscheint  Gott 
und  Christus,  eine  feurige  Gestalt,  ein  Kreuz  an  der  Wand;  Engel 
schweben  durch  das  Zimmer;  Mäuse,  Ameisen,  Teufelchen  huschen 
auf  dem  Bette  herum.  Die  Augen  werden  mit  Spiegeln  geblendet; 
in  den  Sternbildern  erscheint  das  Deutsche  Reichswappen ; schwarze 
Todtenvögel  fliegen  vorbei.  Vor  den  Ohren  ertönen  Zwitschern, 
Klingen,  Brausen  und  Surren,  Gepolter,  Musik,  „Murmelei  und  natur- 
gemässe  Geisterstimmen“,  flüsternde  Stimmen  von  der  ganzen  Mensch- 
heit. Der  Edison -Phonograph  spricht;  Beschuldigungen  und  Dro- 
hungen werden  ausgestossen  („die  isst  und  arbeitet  nichts“;  „die  Haut 
wird  abgezogen“;  „die  kommt  in  die  Irrenanstalt“) ; die  eigenen  Ge- 
danken werden  laut  und  für  Alle  vernehmbar,  von  der  Umgebung 
besprochen  und  durchgehechelt.  Es  riecht  nach  Schwefel;  abscheu- 
liche Dünste  werden  in  das  Zimmer  gelassen;  die  Speisen  schmecken 
nach  Gift  und  Unrath;  das  Bett  schwebt.  In  den  Genitalien  spricht 
es;  im  Rückenmark  zieht  es;  der  Körper  erscheint  verdoppelt. 

Auch  Wahnvorstellungen  tauchen  auf,  die  zuweilen  sogar  sehr 
in  den  Vordergrund  des  Krankheitsbildes  treten.  Zunächst  pflegen 
dieselben  mehr  traurigen  Inhalts  zu  sein.  Der  Kranke  ist  an  allem 


Hebephrenisclie  Formen. 


151 


Schuld,  ein  grosser  Sünder,  Mörder  und  Yaterlandsverräther,  hat 
vor  Gericht  falsch  ausgesagt,  Selbstbefleckung  getrieben,  kommt 
nicht  in  den  Himmel;  er  ist  verloren,  verdammt,  dem  Bösen  ver- 
fallen, wird  gerichtet  für  Zeit  und  Ewigkeit,  verdient  den  Feuertod; 
ihm  ist,  „als  ob  der  Teufel  nach  ihm  langen  wollte“.  Er  wird  fixirt, 
beobachtet,  verschwatzt,  verhext,  soll  umgebracht,  zum  Spion  erklärt, 
erschossen,  „englisirt“  werden.  Man  giebt  ihm  Gift  ins  Essen, 
Moschuswasser,  „Schuhnägelsaft  und  Pottasche“,  nimmt  ihm  sein 
Blut,  bringt  ihm  Dreck  unter  die  Haare,  verschändet  sein  Gesicht, 
macht  ihm  seine  Gedanken,  beeinflusst  künstlich  seine  Handlungen, 
giebt  ihm  die  Worte  ein.  Der  Samen  wird  ihm  abgetrieben,  die 
Natur  ins  Gesicht  geworfen.  Frauen  sehen  sich  von  Herren  verfolgt, 
werden  in  der  Nacht  chloroformirt  und  entehrt,  „naturlos  gemacht“. 
Der  Leib  zerschmilzt;  die  Gelenke  krachen;  die  Füsse  zerbrechen; 
das  Blut  circulirt  nicht;  inwendig  ist  alles  verbrannt  und  verfault; 
alles  trocknet  ein.  Der  Kranke  hat  keinen  Magen  und  keine  Ge- 
därme mehr,  einen  Glasdiamant,  ein  Wespennest,  einen  Kirchthurm 
in  der  Brust. 

Späterhin  gewinnen  vielfach  Grössenideen  die  Oberhand,  in 
einzelnen  Fällen  schon  von  Anfang  an.  Der  Kranke  hat  eine 
grosse  Erbschaft  gemacht,  viel  Geld  zu  fordern,  eine  ganze  Stube 
voll  Gold,  stammt  vom  deutschen  Kaiser  ab,  ist  der  grösste  in 
Deutschland,  König  von  Ungarn,  Sohn  Gottes,  Adam,  von  Fürsten 
und  Kaisern  umgeben.  Er  ist  von  Gott  gesandt,  spricht  mit  ihm, 
hat  einen  höheren  Beruf,  soll  die  Menschheit  erlösen,  will  zur 
grossen  Armee,  Pfarrer,  Schauspieler  werden,  hat  22  Frauen,  ver- 
kehrt Nachts  mit  der  Jungfrau  Maria,  besitzt  die  Schlüssel  zur 
Hölle.  Weibliche  Kranke  sind  mit  hohen  Personen  verlobt,  Tochter 
des  Kaisers,  Engel,  Himmelskönigin,  wollen  Prinzessin  werden,  be- 
kommen goldgestickte  Kleider;  allnächtlich  finden  „göttlich-geistliche 
Begattungen“  statt. 

Vielfach  werden  hier  geradezu  die  Erlebnisse  des  Traumes 
zu  Wahnbildungen  verwerthet,  oder  es  kommt  zu  einem  ganz 
abenteuerlichen  Fabuliren.  Der  Kranke  ist  im  Himmel  gewesen, 
von  einer  Hexe  entführt  worden,  seit  Erschaffung  der  Welt 
da,  stammt  aus  dem  Lande  Hiob,  war  schon  früher  auf  dem 
Kaiserthron,  vor  Jahrhunderten  Militärarzt  in  Amerika,  meint, 
er  sei  „ein  Nordlicht“  oder  „der  Berg  Horeb“,  gehört  „zum 


152 


V.  Die  Dementia  praecox. 


Komet“,  spricht  vom  „Papstneuner“,  vom  „Dolchmesser  mit  Hoch- 
zeitszettel“, vom  „socialdemokratischcn  Jagdstock“  u.  s.  f.  In  der 
ganzen  Welt  ist  Krieg;  Deutschland  ist  abgebrannt;  es  ist  in  dem 
Jahr  nicht  Ostern  gewesen;  der  Blitzstrahl  kommt.  Regelmässig 
aber  treten  diese  anfangs  vielleicht  in  grosser  Ueppigkeit  erzeugten 
Faseleien  nach  einiger  Zeit  wieder  in  den  Hintergrund.  Sie  wech- 
seln, werden  immer  dürftiger  und  schwinden  schliesslich  ganz  oder 
bis  auf  einzelne  kümmerliche,  zusammenhangslose  Reste,  die  nur 
selten,  auf  ausdrückliches  Befragen  oder  in  der  Erregung  noch  ein- 
mal vorgebracht  werden. 

Vielfach  tritt  ein  deutliches,  wrenn  auch  oft  krankhaft  ver- 
fälschtes Krankheitsbewusstsein  hervor.  Im  Kopfe  ist  es 
curios,  leer;  der  Verstand  ist  verloren  gegangen;  Vernunft 
und  Verstand  und  Sinn  sind  zum  Hirn  hinausgefahren;  die  Ge- 
danken sind  fortgeflossen.  „Der  Dummkopf  ist  verwirrt“,  kann 
nicht  mehr  denken,  leidet  an  Gehirnerweichung;  das  Gedächt- 
niss  hat  abgenommen.  Der  Kranke  ist  verrückt,  nicht  mehr  wie 
er  gewesen  ist;  sein  Leben  ist  nichts  werth;  ihm  kann  Niemand 
helfen. 

Die  Besonnenheit,  Orientirung  und  Ordnung  der  Ge- 
danken pflegt  bei  den  sich  allmählich  entwickelnden  Formen  dauernd 
annähernd  erhalten  zu  bleiben,  während  in  den  acuten  Krankheits- 
zuständen zeitweise  Unklarheit  und  Verwirrtheit  eintreten  kann. 
Alles  erscheint  dem  Kranken  wie  umgewandelt;  seine  Gedanken 
verwirren  sich;  er  verkennt  die  Personen,  fühlt  sich  „von  Heim- 
tiickerevolution  umgeben“,  ist  „wie  geistesabwesend“,  weiss  nicht,  wo 
er  sich  befindet.  Zugleich  spricht  er  unverständlich  und  zusammen- 
hangslos, schreibt  sinnlose  Briefe  und  zeigt  mehr  oder  weniger 
deutliche  Sprachverwirrtheit.  Das  Gedächtniss  ist  in  der  Regel 
verhältnissmässig  wenig  gestört.  Die  Erinnerung  an  Erlebnisse,  die 
zeitliche  Ordnung  derselben,  die  Schulkenntnisse  haften  leidlich  gut; 
erst  im  weiteren  Verlaufe  der  Krankheit  kommt  es  allmählich  zu 
einer  fortschreitenden  Verödung  des  Vorstellungsschatzes.  Die  Merk- 
fähigkeit ist  erhalten,  aber  der  Kranke  macht  keinen  Gebrauch 
davon,  weil  er  gar  kein  Bedürfniss  dazu  hat,  sich  irgend  etwas 
einzuprägen.  Dieser  Untergang  der  geistigen  Regsamkeit,  des  eigenen 
Antriebes  zum  Denken  und  Beobachten  ist  vielleicht  die  wichtigste 
Ursache  dafür,  dass  nicht  nur  keine  neuen  Erfahrungen  mehr  ge- 


Hebephrenische  Formen. 


153 


sammelt  werden,  sondern  auch  die  alten  mehr  und  mehr  versinken, 
weil  sie  niemals  aufgefrischt  und  ins  Gedächtniss  zurückgerufen 
werden.  So  kommt  es,  dass  ein  zufälliger  Anlass  bei  dem  Kranken 
bisweilen  noch  eine  ganze  Menge  von  Vorstellungen  wachrufen 
kann,  die  längst  verloren  schienen  und  jedenfalls  von  ihm  nicht 
mehr  beherrscht  wurden. 

Weit  rascher  und  tiefgreifender,  als  die  Schädigung  des  Ge- 
dächtnisses durch  die  Krankheit,  ist  diejenige  des  Verstandes. 
Soweit  sich  das  Denken  in  eingelernten  Bahnen  bewegt,  fällt  diese 
Störung  vielleicht  nicht  so  sehr  in  die  Augen,  aber  sie  wird  deutlich 
in  den  unsinnigen  und  zerfahrenen  Wahnbildungen  und  Gedanken- 
gängen, die  in  aller  Ruhe  von  den  besonnenen  Kranken  geäussert 
werden,  in  der  Unfähigkeit,  geistige  Arbeit  zu  leisten,  zu  überlegen, 
Widersprüche  zu  erkennen,  sich  in  neuen  Lebenslagen  zurechtzu- 
finden, endlich  in  der  Unvernünftigkeit  und  Kopflosigkeit  ihres 
Handelns.  So  sehen  wir  öfters  die  Kranken  wol  noch  über  den 
Büchern  sitzen,  aber  sie  begreifen  nichts  mehr,  begehen  die  gröbsten 
Schnitzer,  sind  gänzlich  ausser  Stande,  Aufgaben  fortzuführen,  die 
ihnen  früher  gar  keine  Schwierigkeiten  boten. 

Den  Grundton  der  Stimmung  bildet  im  allgemeinen  die  ge- 
müthliche  Stumpfheit  und  Gleichgültigkeit.  Gleichwol  stellen  sich 
namentlich  in  der  ersten  Zeit  vielfach  lebhaftere  Schwankungen  des 
gemüthlichen  Gleichgewichtes  ein.  Am  häufigsten  sind  Nieder- 
geschlagenheit, Angst,  Verzagtheit,  Verdriesslichkeit,  Reizbarkeit,  die 
bisweilen  mit  gehobenem  Selbstgefühl  und  ausgelassener  Heiterkeit 
ohne  erkennbaren  Anlass  wechseln.  Sehr  gewöhnlich  machen  sich 
bei  den  Kranken  auch  geschlechtliche  Gefühle  stark  bemerkbar;  sie 
sehnen  sich  nach  Liebe,  möchten  die  ganze  Welt  umarmen,  mastur- 
biren,  fordern  zum  Coitus  auf.  Auch  lebhafte  religiöse  Gefühle 
tauchen  auf;  die  Kranken  beten,  lesen  viel  in  frommen  Büchern, 
beichten,  nehmen  das  Abendmahl,  reden  in  Bibelsprüchen,  wollen 
ins  Kloster  gehen,  sich  der  Krankenpflege  widmen.  Späterhin  treten 
die  Gefühlsbetonungen  immer  mehr  zurück;  selbst  die  ungeheuer- 
lichsten Grössen-  und  Kleinheitsvorstellungen  werden  gleichmüthig 
und  ohne  innere  Bewegung  vorgebracht.  Der  Kranke  macht  sich 
keine  Gedanken  über  seinen  Zustand,  über  seine  Lage,  nimmt  alles 
ruhig  hin,  fügt  sich  ohne  Schwierigkeit  in  die  getroffenen  An- 
ordnungen; die  Besuche  der  nächsten  Angehörigen,  die  Erinnerungen 


154 


V.  Die  Dementia  praecox. 


an  die  frühere  Thätigkeit  wirken  nicht  mehr  auf  ihn  ein.  Ohne 
Sorgen  für  die  Zukunft,  ohne  Langeweile,  ohne  klaren  Wunsch  und 
ohne  bestimmten  Plan  lebt  er  unbekümmert  in  den  Tag  hinein,  bald 
mehr  theilnahmlos  und  gleichgültig,  bald  in  unbestimmter  hoffnungs- 
froher Erwartung  irgend  eines  zukünftigen  Glückes. 

Im  Handeln  der  Kranken  macht  sich  entweder  eine  grosse 
Trägheit  und  Schwerfälligkeit  oder  ein  eigenthümlich  kindischer, 
läppischer  Zug  bemerkbar.  Ihr  Wollen  ist  haltlos,  unselbständig,  in 
einem  Augenblicke  unsinnig  hartköpfig,  im  nächsten  ohne  weiteres 
lenksam  und  bestimmbar.  Sie  vernachlässigen  ihr  Aeusseres,  leben 
unregelmässig,  hören  auf,  zu  essen,  oder  beschränken  sich  auf  be- 
stimmte Speisen,  verlegen  wichtige  Gegenstände,  vergessen  ihre 
Pflichten  und  werden  gänzlich  unfähig  zu  andauernder  und  selbst- 
ständiger Thätigkeit.  In  Folge  dessen  wechseln  sie  vielfach  ihre 
Stellung  oder  ihren  Beruf,  werden  überall  fortgeschickt,  gemassregelt, 
gerathen  in  schlechte  Gesellschaft,  trinken,  verthun  ihr  Geld,  ver- 
bummeln, sinken  zu  Landstreichern  und  Bettlern  herab,  kehren  ab- 
gerissen und  verwahrlost  nach  Hause  zurück,  bis  endlich  die 
Krankhaftigkeit  ihres  Zustandes  erkannt  wird. 

Vielfach  begehen  sie  allerlei  thörichte,  unbegreifliche  Hand- 
lungen, legen  Feuer  an,  suchen  Leichen  auszugraben,  predigen, 
läuten  die  Glocken,  verkriechen  sich,  baden  in  den  Kleidern,  küssen 
den  Fussboden,  entkleiden  sich  auf  der  Strasse,  legen  sich  in  Kreuzes- 
form an  die  Erde,  schreiben  wildfremden  Personen  Liebesbriefe. 
Ein  Kranker  ging  in  vornehme  Häuser  und  machte  den  Damen 
geschlechtliche  Anträge,  weil  er  durch  Stimmen  davon  in  Kenntniss 
gesetzt  worden  war,  dass  er  als  „Beschäler“  dienen  solle.  Ein 
anderer,  der  es  mit  vieler  Mühe  zum  Volksschullehrer  gebracht 
hatte,  zeigte  sich  bei  seiner  Anstellung  plötzlich  ganz  unfähig, 
Schule  zu  halten,  spielte  statt  des  Unterrichts  mit  den  Schulkindern 
Fangens,  legte  sich  im  Viehstall  „aus  Muthwillen“  in  eiue  Krippe, 
steckte  den  Kopf  in  den  Brunnen,  weil  er  wegen  seiner  grossen 
Sünden  recht  gut  noch  eine  Taufe  brauchen  könne.  Ein  Briefträger, 
der  bis  dahin  noch  mit  Unterbrechungen  Dienst  gethan  hatte,  unter- 
schrieb eines  Tages  ein  amtliches  Schriftstück  als  „Generalfeld- 
marschall“, verlangte  Helm  und  Generalsuniform,  bezeichnete  sich 
als  den  Sohn  Kaiser  Wilhelms  und  erkannte  an  den  Fingernägeln 
seines  Vorgesetzten,  dass  derselbe  sein  Bruder  sei.  Wieder  ein 


Hebeplireniscbe  Formen. 


155 


anderer  Kranker  machte  plötzlich  ohne  irgend  einen  Grund  den 
Versuch,  seine  eigene  Schwester  zu  erstechen,  weil  ihm  „der  Ge- 
danke dazu  kam“.  Bei  Soldaten  kommt  es  zu  Verstössen  gegen  die 
Mannszucht,  unverbesserlichem  Lachen  im  Gliede,  Fahnenflucht. 
Weibliche  Kranke  geben  sich  dem  ersten  Besten  geschlechtlich 
preis,  lassen  sich  von  ganz  jungen  Burschen  an  der  Landstrasse 
missbrauchen.  Vielfach  werden  Andeutungen  katatonischer  Eigen- 
tümlichkeiten beobachtet,  Gesichterschneiden,  Manieren  beim  Essen 
und  Handgeben,  Wegnehmen  fremden  Essens.  Verkriechen  in  fremde 
Betten,  Speicheln,  Grunzen,  rhythmisches  Wischen  und  Wiegen, 
Katalepsie,  Echolalie  und  Echopraxie,  ferner  hysteriforme  AnLälle, 
plötzliche  „Gliedererstarrung“,  einförmiges  Schreien,  Ohnmächten 
mit  Verdrehen  der  Augen,  Athem-  und  Lachkrämpfe. 

Gerade  das  häufige  gegenstandslose  Lachen,  welches  sich  bei 
jeder  Unterredung  ohne  den  geringsten  Anlass  ungezählte  Male 
wiederholen  kann,  ist  eine  der  auffallendsten  Begleiterscheinungen 
der  Dementia  praecox.  Demselben  liegt  keineswegs  eine  heitere 
Stimmung  zu  Grunde;  im  Gegenteile  erfährt  man  bisweilen  von 
den  Kranken,  dass  es  zwangsmässig  über  sie  kommt,  selbst  gegen 
ihren  Willen.  Oft  führen  die  Kranken  flüsternde  und  laute  Selbst- 
gespräche oder  müssen  „unverständiges  mit  sich  selber  reden“,  wie 
mir  ein  Kranker  sagte,  schimpfen  sich  selbst  in  den  stärksten  Aus- 
drücken; dabei  sind  sie  meist  unzugänglich  für  Ausfragen,  geben 
wenig  oder  gar  keine  Auskunft  über  ihren  Zustand.  Im  übrigen 
begegnen  uns  auf  dem  Gebiete  der  sprachlichen  Aeusserungen 
gezierte  Redeweise,  gekünsteltes  Aufsagen,  häufige  Anwendung  von 
Verkleinerungssilben,  Todtreiten  bestimmter  Moderedensarten,  alt- 
backener Witze,  Reimereien,  absichtliche  Verdrehung  der  Wörter, 
gesuchtes  Lispeln,  Einmischung  ungewöhnlicher,  mundartlicher  oder 
fremdsprachiger  Ausdrücke  und  Sätze,  Andeutungen  von  Sprach- 
verwirrtheit. Manche  dieser  Eigenthiimlichkeiten  pflegen  noch  deut- 
licher in  den  Schriftstücken  der  Kranken  hervorzutreten.  Dazu 
kommt  eine  gewisse  nachlässige  Zusammenhangslosigkeit  im  Ge- 
dankengange, mehrfacher  Wechsel  der  Construction  in  lang  aus- 
gesponnenen Satzbildungen,  Vermengung  verschiedenartiger  Bilder, 
unvermitteltes  Einstreuen  plötzlicher  Einfälle,  gereimter  Ergüsse,  oft 
auch  eine  liederliche  äussere  Form,  ungleichmässige  Handschrift, 
Verschnörkelungen  einzelner  Buchstaben,  Unterstreichungen,  Mangel 


156  V.  Die  Dementia  praecox. 

oder  Ueberfluss  an  Ausdruckszeichen,  einförmiger,  oft  wörtlich  sich 
wiederholender  Inhalt. 

Die  Nahrungsaufnahme  der  Kranken  ist  häufig  unregel- 
mässig, namentlich  in  den  Zeiten  der  Verstimmung  oder  Erregung; 
sie  essen  nicht,  weil  sie  nicht  dürfen  oder  weil  Gott  es  so  haben 
will.  Später  stellt  sich  öfters  grosse  Gefrässigkeit  ein.  Auch  der 
Schlaf  ist  vielfach  gestört.  Das  Körpergewicht  pflegt  im  An- 
fänge zu  sinken,  steigt  aber  später  mit  dem  Fortschreiten  der  Ver- 
blödung bisweilen  sehr  stark,  so  dass  die  Kranken  unter  Entwicklung 
bedeutender  Esslust  ein  ungemein  blühendes  Aussehen  gewinnen. 
Der  hie  und  da  beobachteten  Abweichungen  an  den  Pupillen,  der 
häufigen  Steigerung  der  Sehnenreflexe  und  der  nervösen  Erregbar- 
keit, endlich  der  vasomotorischen  und  Herzinnervationsstörungen, 
die  wir  hier  wie  bei  den  katatonischen  Formen  antreffen,  wurde 
bereits  früher  gedacht. 

Nicht  selten  kommt  es  im  Verlaufe  der  Krankheit  zu  Er- 
regungszuständen. Dieselben  können  sich  im  Kähmen  heiterer 
Ausgelassenheit  mit  Gesprächigkeit,  hanswurstartiger  Unruhe,  un- 
bändigem Lachen  und  Kichern,  Neigung  zu  Ausschreitungen,  ge- 
schlechtlichen Unarten,  läppischen  Streichen  und  planlosem  Herum- 
treiben halten.  In  anderen  Fällen  dagegen  tritt  tiefe  Verworrenheit 
mit  triebartiger  motorischer  Erregung  auf,  anhaltendes  Schreien  und 
Toben,  Tanzen  und  Singen  bis  zur  Erschöpfung,  Schmieren,  Zer- 
stören, Gewalttätigkeit.  Meist  sind  solche  Zustände  nicht  von  sehr 
langer  Dauer,  können  sich  aber  öfters  ganz  plötzlich,  ohne  erkenn- 
baren Anlass  wiederholen. 

Den  Ausgang  der  Krankheit  bildet  regelmässig  ein  Schwachsinn, 
der  sich  rascher  oder  langsamer  entwickeln,  namentlich  aber  sehr  ver- 
schiedene Grade  darbieten  kann.  Von  den  Fällen,  die  in  die  Irren- 
anstalten gelangen,  scheinen  etwa  7 5 °/0  die  höheren  Stufen  der  Ver- 
blödung zu  erreichen.  Die  Kranken  versinken  allmählich  mehr  und  mehr, 
werden  stumpf,  theilnahmlos  und  verlieren  jedes  Verständniss  für  ihre 
Umgebung.  Vielfach  sind  sie  unsauber  beim  Essen,  schlingen  gierig, 
verschütten,  schmieren  mit  den  Speisen  herum;  sie  verunreinigen 
sich,  halten  Koth  und  Urin  zurück,  lassen  den  Speichel  über  ihre 
Kleider  fliessen.  Jede  eigene  Willensregung  kann  schliesslich  er- 
löschen; sie  bleiben  stehen  oder  sitzen,  wo  sie  sich  gerade  befinden, 
stumm  und  träge,  höchstens  zeitweise  blöde  vor  sich  hinlächelnd 


Hebephrenische  Formen. 


157 


oder  auch  wol  einmal  leise  einige  unsinnige  Worte  oder  Sätze  mur- 
melnd; sie  müssen  dann  au-  und  ausgekleidet,  gefüttert,  geschoben 
■werden. 

Aeusseren  Einwirkungen  gegenüber  verhalten  sie  sich  bald  ganz 
passiv,  kataleptisch,  bald  widerstrebend.  Die  spärlichen  Antworten, 
die  man  von  ihnen  erhält,  sind  meist  völlig  beziehungslos,  verrathen 
nur  hin  und  wieder  ein  gewisses  Verständniss  der  Frage;  eindring- 
liche einfache  Aufforderungen  werden  bisweilen  noch  richtig  befolgt, 
einzelne  von  früher  bekannte  Personen  zutreffend  benannt.  Hie  und 
da  gelingt  es  auch  wol,  Reste  von  Schulkenntnissen,  richtiges  Lesen 
oder  Schreiben,  Lösung  einer  Rechnung,  das  Haften  einer  geschicht- 
lichen, geographischen,  sprachlichen  Erinnerung  nachzuweisen,  die 
dafür  zeugen,  dass  es  nicht  ein  unbestellter  oder  unfruchtbarer, 
sondern  ein  verwüsteter  Acker  ist,  mit  dem  wir  es  zu  thun  haben. 

Im  Laufe  der  Zeit  pflegen  allerdings  nach  und  nach  auch  diese 
Ueberbleibsel  früherer  geistiger  Arbeit  immer  mehr  zu  schwinden. 
Immerhin  lassen  sich  auch  diese  Kranken  vielfach  überraschend  gut 
zu  mechanischer,  allerdings  nicht  selbständiger  Arbeit  erziehen  und 
dadurch  vor  dem  völligen  Versinken  bewahren.  In  anderen  Fällen 
bleibt  noch  eine  gewisse  oberflächliche  geistige  Regsamkeit  erhalten, 
aber  die  Kranken  sind  zerfahren,  faselig,  zeigen  auch  wol  Reste  von 
Wahnbildungen  und  Sinnestäuschungen.  Manchmal  erhalten  sich 
deutliche  Spuren  der  früheren  Erregung,  verwirrtes,  unverständliches 
Schwatzen,  läppisches  Lachen,  gezierte  Bewegungen  und  Ausdrücke, 
stürmisches  Auf-  und  Abreunen.  Häufig  zeigen  die  Kranken  wenig- 
stens vorübergehend  Zeiten  reizbarer  Stimmung,  drängen  plötzlich 
zur  Thüre  hinaus,  fangen  an,  zu  schimpfen,  oder  begehen  unver- 
mittelt eine  Gewalthandlung,  zerschlagen  eine  Fensterscheibe,  werfen 
eine  Schüssel  zu  Boden,  zerreissen  ein  Kleidungsstück,  versetzen 
einem  Schlafkameraden  unversehens  einen  Hieb.  Auch  Zupfen  und 
Nesteln  an  den  Kleidern,  abenteuerliche  Drapirungen  derselben, 
Ausreissen  der  Kopf-  oder  Barthaare,  beharrliches  Zerkratzen  ein- 
zelner Körperstellen,  rücksichtsloses  Masturbiren  wird  vielfach  be- 
obachtet. In  der  Regel  vollzieht  sich  dieser  Vorgang  im  Laufe  einiger 
Jahre,  bei  den  acut  einsetzenden  Formen  vielfach  schon  innerhalb 
des  ersten  Jahres,  wenn  auch  meist  eine  bestimmtere  zeitliche  Um- 
grenzung nicht  möglich  ist. 

Es  muss  indessen  nicht  immer  so  weit  kommen.  Soweit  ich  es 


158 


V.  Die  Dementia  praecox. 


überblicken  kann,  bleibt  in  etwa  17  °/0  der  Fälle  der  Schwachsinn  ein 
massiger.  Die  Kranken  bewahren  nach  dem  Schwinden  der  stür- 
mischeren Krankheitserscheinungen  ihre  äussere  Haltung,  bleiben  über 
ihre  Umgebung  wie  über  ihre  Lage  ziemlich  orientirt,  zeigen  eine  ge- 
wisse Einsicht  in  die  überstandene  Krankheit,  vermögen  sich  aber 
nur  in  den  allereinfachsten  Lebensereignissen  zurechtzufinden.  An 
den  Vorgängen  um  sie  herum  nehmen  sie  kaum  Antheil,  kümmern 
sich  nicht  um  Zeitrechnung  und  Lebensunterhalt,  können  sich  jedoch 
unter  genauer  Anleitung  oft  noch  einigermassen  nützlich  machen. 
Reizbarkeit,  Empfindlichkeit  gegen  Alkohol,  gelegentliche  Erregungs- 
zustände, verschrobene  Ausdrucksweise,  absonderliche  Gewohnheiten 
sind  neben  der  Verstandesschwäche  häufigere  Ueberbleibsel  der 
überstandenen  Krankheit.  Hier  können  sich  unter  Umständen  selbst 
nach  Jahren  noch  Verschlimmerungen,  namentlich  Erregungszustände 
einstelJen.  Wahrscheinlich  gehören  hierher  auch  einzelne  Fälle,  in 
denen  die  Wahnbildungen  und  Sinnestäuschungen  der  erregten  Zeit 
zwar  allmählich  mehr  in  den  Hintergrund  treten,  aber  doch  ge- 
legentlich vorübergehend  einmal  wieder  auftauchen.  Bisweilen  be- 
stehen andauernd  Sinnestäuschungen,  durch  welche  sich  aber  die 
Kranken  meist  nicht  weiter  beeinflussen  lassen,  und  über  die  sie 
wenig  Auskunft  zu  geben  pflegen.  Hie  und  da  aber,  namentlich 
während  der  Menses,  werden  sie  unvermittelt  gereizt,  halluciniren 
lebhafter,  äussern  Verfolgung^-  oder  Grössenideen,  zerstören  trieb- 
artig irgend  einen  Gegenstand,  um  kurz  nachher  anscheinend  völlig 
ruhig  und  einsichtig  ihren  Zustand  zu  beurtheilen.  Von  dauernden, 
festen  Wahnbildungen  ist  hier  gar  keine  Bede;  vielmehr  lässt  sich 
stets  eine  erhebliche  Zerfahrenheit  erkennen.  Die  Erziehungs- 
fähigkeit nach  Ablauf  des  eigentlichen  Krankheitsvorganges  pflegt 
eine  sehr  geringe  zu  sein;  es  gelingt  meist  nur,  den  Bestand 
einigermassen  zu  erhalten.  Verhältnissmässig  selten  wird  der 
Kranke  im  Stande  sein,  nach  Ablauf  der  Störung  sich  von  neuem 
zu  einer  bescheidenen  geistigen  Selbständigkeit  hindurchzuarbeiten. 

In  8%  meiner  länger  verfolgten  Beobachtungen  verloren  sich 
die  Zeichen  der  hebephrenischen  Erkrankung  so  vollständig  wieder, 
dass  man  vielleicht  von  Genesung  zu  sprechen  berechtigt  ist  Dabei 
wird  allerdings  vorausgesetzt,  dass  die  eingetretenen  Besserungen 
auch  als  dauernde  zu  betrachten  waren,  ein  Satz,  der  im  Hinblicke 
auf  die  hie  und  da  vorkommenden  späteren  Wiedererkrankungen 


Katatonische  Formen. 


159 


nicht  ohne  weiteres  sicher  erscheint.  Zugleich  ist  zu  bemerken,  dass 
leichtere  Einbussen  des  Seelenlebens  gewiss  nicht  selten  unbemerkt 
bleiben,  um  so  mehr,  als  die  Störung  wesentlich  auf  gemüthlichem 
Gebiete  zu  liegen  pflegt  und  somit  die  bürgerliche  Arbeitsfähigkeit 
verhältnissmässig  wenig  herabzusetzen  braucht.  Wir  dürfen,  wie  ich 
glaube,  annehmen,  dass  es  eine  ganze  Menge  von  Menschen  giebt, 
deren  geistiger  Schiffbruch  durch  die  Dementia  praecox  vollständig 
verkannt  wird,  weil  sie  aus  demselben  noch  so  viel  Leistungsfähig- 
keit haben  retten  können,  dass  sie  in  bescheidenem  Wirkungskreise 
den  Kampf  ums  Dasein  zu  bestehen  vermögen.  So  manche  jener 
fleissigen  und  vielleicht  sogar  nach  gewissen  Richtungen  begabten 
Schüler  dürften  hierher  gehören,  die  anfangs  zu  höheren  Hoffnungen 
berechtigten,  später  jedoch  trotz  aller  Strebsamkeit  und  Gewissen- 
haftigkeit zur  Enttäuschung  ihrer  Erzieher  nur  mit  der  grössten  Mühe 
zu  Stande  bringen,  was  die  anscheinend  weit  schwächer  veranlagten 
Kameraden  spielend  erreichten.  Hier  kann  natürlich  nur  eine  genaue 
Kenntniss  und  Verfolgung  des  einzelnen  Falles  den  Nachweis  der 
krankhaften  Veränderung  erbringen.  Bei  anderen  wird  die  Störung 
deutlicher.  Sie  beschäftigen  sich  vielleicht  noch  mit  unpassendem 
und  für  sie  unverdaulichem  Lesestoffe,  mit  entlegenen  und  schwie- 
rigen Fragen,  aber  sie  bringen  nichts  zu  Stande,  machen  in  ihrem 
Berufe  keine  Fortschritte  mehr,  bestehen  keine  Prüfung,  fangen 
alles  am  verkehrten  Ende,  in  ganz  unzweckmässiger  Weise  an.  Der 

I Gesichtskreis  verengert  sich;  die  gemiithlichen  Beziehungen  zur 

Aussenwelt  schrumpfen  ein.  Allmählich  verlieren  sie  gewöhnlich 
auch  das  Interesse  an  geistiger  Beschäftigung  und  Anregung  über- 
haupt, bewegen  sich  nur  noch  in  altgewohnten,  stereotypen  Ge- 
dankenkreisen und  wenden  sich  vielleicht  schliesslich  ganz  irgend 
einer  mechanischen  Thätigkeit  zu,  dem  Holzsägen,  Abschreiben,  der 
Gärtnerei,  oft  in  schroffem  Gegensätze  zu  früheren  hochfliegenden 
Plänen  und  Hoffnungen. 

Katatonische  Formen.  Unter  dem  Namen  der  Katatonie*) 
hat  Kahl  bäum  ein  Krankheitsbild  beschrieben,  welches  der  Reihe 

*)  Kahlbaum,  Die  Katatonie  oder  das  Spannungsirresein,  1874;  Brosius, 
Allgem.  Zeitsehr.f.  Psychiatrie,  XXXIII,  770;  Neisser,  lieber  die  Katatonie.  1887. 
Behr,  Die  Frage  der  Katatonie  oder  des  Irreseins  mit  Spannung.  Diss.  Dorpat, 
1881;  Schiile,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  515;  Aschaffenburg^ 
ebenda,  S.  1004. 


160 


V.  Die  Dementia  praecox. 


nach  die  Zeichen  der  Melancholie,  der  Manie,  des  Stupors,  bei 
ungünstigem  Verlaufe  auch  der  Verwirrtheit  und  des  Blödsinns 
darbietet  und  ausserdem  durch  das  Auftreten  gewisser  motorischer 
Krampf-  und  Hemmungserscheinungen,  eben  der  ..kata- 
tonischen“ Störungen,  gekennzeichnet  wird.  Die  von  ihm  gegebene, 
in  vieler  Beziehung  meisterhafte  Darstellung  sollte  zeigen,  dass  alle 
bis  dahin  als  Melancholia  attonita,  Stupor,  acute  Demenz  u.  s.  w. 
bezeichneten  Zustände  in  Wirklichkeit  nur  Erscheinungsformen 
einer  einzigen  Psychose  seien,  welche,  ähnlich  der  Dementia  para- 
lytica,  trotz  äusserlicher  Verschiedenheiten  des  Verlaufes  doch  eine 
Anzahl  durchaus  eigenartiger  körperlicher  und  psychischer  Krank- 
heitszeichen  aufweise.  Wenn  ich  nun  auch  die  Zusammengehörig- 
keit sämmtlicher  von  Kahl  bäum  vereinigter  Krankheitsbilder 
einstweilen  bezweifeln  muss,  so  sehe  ich  mich  doch  durch  vielfache 
Erfahrungen  veranlasst,  die  grosse  Mehrzahl  jener  Fälle  als  Beispiele 
einer  eigenartigen  Krankheitsform  anzuerkenuen.  Es  handelt  sich 
dabei  im  wesentlichen  um  das  Auftreten  eigenthümlicher,  meist 
in  Schwachsinn  ausgehender  Zustände  von  Stupor  oder 
Erregung  mit  den  Erscheinungen  des  Negativismus,  der 
Stereotypie  und  der  Suggestibilität  in  Ausdrucksbewe- 
gungen und  Handlungen. 

Die  Psychose  beginnt  in  der  Regel  subacut  mit  den  Anzeichen 
einer  leichteren  oder  schwereren  psychischen  Depression.  Oft 
gehen  schon  lange  Zeit  Erscheinungen  von  „Nervenschwäche“  vor- 
aus. Die  Kranken  werden  still,  gedrückt,  theilnahmlos,  ängstlich, 
dabei  reizbar  und  widerspenstig,  klagen  über  Kopfschmerzen,  Ziehen 
im  Genick  und  im  Kreuz,  Erschwerung  des  Denkens,  Mattigkeit, 
verlieren  Schlaf  und  Esslust,  ziehen  sich  von  ihrer  Umgebung  zurück, 
wollen  ins  Kloster  gehen,  hören  auf,  zu  arbeiten,  bleiben  viel  im 
Bett  liegen.  Dieser  Zustand  der  unbestimmten  Vorboten  kann 
kürzere  oder  längere  Zeit  andauern,  selbst  Jahr  und  Tag,  so  dass 
sich  dann  der  eigentliche  Beginn  des  Leidens  gar  nicht  mehr  recht 
feststellen  lässt.  Bisweilen  leitet  sich  die  Krankheit  mit  mehreren, 
anfallsweise  auftreteuden  traurigen  Verstimmungen  ein,  die  durch 
bessere  Zwischenzeiten  von  einander  getrennt  sind. 

Regelmässig  stellen  sich  nunmehr  Sinnestäuschungen  und 
Wahnvorstellungen  ein.  Am  Himmel  erscheint  ein  weisser  Stern, 
Heiligenbilder,  Christus  am  Kreuz,  die  wilde  Jagd;  an  der  Wand 


Katatonische  Formen. 


161 


werden  farbige  Bilder  vorgeführt;  Engel,  Teufel,  Gespenster,  wilde 
Thiere,  Schlangen,  der  Höllenhund  zeigen  sich  im  Zimmer;  Flammen 
zucken  hervor;  im  Essen  sind  Menschenköpfe,  Würmer  in  der  Suppe. 
Draussen  krähen  die  Hähne,  rasseln  Ketten,  ertönt  Musik,  jammern 
die  Kinder.  Gott  spricht  zum  Kranken;  der  Teufel  ruft  seinen 
Namen;  sein  ganzer  Lebenslauf  wird  ihm  vorerzählt.  Die  Leute 
wissen  seine  Gedanken,  reden  über  ihn,  sprechen  von  „Mörder  und 
so  Geschichten“;  „der  muss  mit“.  Es  sind  Offenbarungen,  geistige 
Stimmen,  „Stirn  mein  greif  ungen“,  Bauchredner;  wenn  der  Kranke 
etwas  denkt,  hört  er  es  gleich  weiter  erzählen.  Im  Zimmer  ist 
Dunst,  mephitische  Luft,  Todtengeruch,  im  Essen  Menschenfleisch 
und  Unrath.  Elektrische  Ströme  kreisen  im  Körper;  fremdes  Blut 
wird  in  den  Kopf  gepumpt,  das  Glied  steif  gemacht;  das  Bett  macht 
Bewegungen;  „durch  Nase  und  Ohr  krabbeln  breite  Frösche  in 
den  Mund“. 

Der  Kranke  fühlt  sich  als  grosser  Sünder;  alles  geschieht 
um  seinetwillen;  er  ist  der  Urheber  von  allem.  Er  hat  nicht  recht 
gehandelt,  ist  verloren,  verworfen,  moralisch  tief  gesunken,  bringt 
alle  ins  Unglück,  kommt  nicht  in  den  Himmel,  muss  mit  Tod  und 
Teufel  kämpfen,  Anfechtungen  erleiden,  für  die  Sünden  der  Welt 
sterben.  Der  Satan  sitzt  in  ihm,  holt  ihn  ins  Höllenfeuer;  er  muss 
seinen  Glauben  abschwören,  ist  von  der  Familie  zum  Opferlamm 
erkoren,  hat  die  Religion  zerstört.  Das  jüngste  Gericht,  der  Welt- 
untergang ist  da;  es  ist  Krieg;  alles  ist  todt,  der  Himmel  herunter- 
gefallen, das  Haus  voll  Leichen;  die  Pfalz  geht  in  Flammen  auf; 
Soldaten,  die  Franzosen  kommen;  alle  werden  abgemurkst;  die 
Menschen  haben  kein  Blut  mehr.  Der  Kranke  wird  hingeschlachtet, 
kommt  aufs  Schaffot,  wird  gebannt,  verhext,  muss  das  Blut  seiner 
Verwandten  trinken;  ein  Rabe  ist  am  Fenster,  um  sein  Fleisch  zu 
fressen.  Die  Frau  ist  untreu,  von  einem  Anderen  angesteckt. 

Wüste  Gedanken  steigen  auf;  der  Kranke  wird  gezwungen,  mit 
seiner  Schwester  den  Beischlaf  auszuüben,  durch  Sympathie  beein- 
flusst, muss  thun,  was  die  Medien  wollen;  man  lässt  ihm  die  Natur 
abgehen.  Weiblichen  Kranken  wird  die  Ehre  geraubt;  sie  gebären 
todte  Kinder.  Die  Gedanken  werden  verschwächt,  der  Verstand 
wie  ein  Lappen  vom  Hirn  gezogen,  das  Gehirn  zerrissen,  der  Kopf 
mitten  durchgesägt,  ein  Gashahn  in  den  Schädel  geschraubt;  der 
Kopf  ist  ein  Wolfskopf.  Der  Kranke  ist  kein  Mensch  mehr,  ganz 

Kraepelin,  Psychiatrie.  C.  Aufl.  IX.  Band.  11 


162 


V.  Die  Dementia  praecox. 


zu;  er  kann  nickt  leben  und  nickt  sterben,  nie  wieder  gesund 
werden,  hat  keine  Gedanken  mehr,  hat  sein  Kleinhirn  ausgehustet; 
der  Magen  läuft  auf  und  ab;  die  Lungen  fallen  herunter;  die  Ein- 
geweide sind  los;  er  ist  schon  gestorben. 

Bisweilen  schon  jetzt,  meist  aber  erst  später,  gesellen  sich 
Grössenideen  hinzu,  die  nicht  selten  die  traurigen  Yorstell ungen 
ganz  in  den  Hintergrund  drängen.  Der  Kranke  ist  unaussprechlich 
glücklich,  sehr  reich,  besitzt  10  Millionen,  prächtige  Schlösser,  be- 
kommt von  Gott  60  000  Mark,  einen  Orden  vom  Prinzregenten  von 
Schweden,  muss  zum  Kaiser.  Er  ist  ein  berühmter  Mann,  Ge- 
dankenleser und  Hellseher,  untergeschobenes  Kind,  Paulus,  Engel, 
Jesus,  das  Christkindchen  in  der  Krippe,  Welterlöser,  Thronfolger 
von  Bulgarien,  zum  Heile  der  ganzen  Menschheit,  zum  Kampfe  für 
Gott  geboren,  befindet  sich  „im  Jordanhimmele“,  hat  übernatürliche 
Gaben  erhalten,  wichtige  Erfindungen  gemacht,  spricht  4 Sprachen, 
lebt  von  Gottes  Wort,  braucht  nichts  mehr  zu  essen  und  zu  trinken. 

Weibliche  Kranke  sind  Gräfin,  Welterlöserin,  Mutter  Gottes, 
sind  mit  feinen  Herren  verlobt,  verkehren  geschlechtlich  mit  Kaisern 
und  Königen,  erkennen  ihren  Mann  nicht  mehr  an,  haben  „hoffent- 
ich  einen  Mann,  der  vornehm  imd  von  ihrem  Range  ist“.  Eine 
meiner  Kranken  lief  zum  Ortsvorsteher,  um  ein  grosses  Vermögen 
abzuholen,  das  sie  dort  für  sich  hinterlegt  glaubte;  eine  andere 
traf  Vorbereitungen  zur  Hochzeit  mit  einem  ihr  ganz  fremden 
Herrn,  der  ihr  angeblich  durch  Zeichen  seine  Liebe  erklärt  hatte. 
Ein  Schuhmacher  versuchte  sich  reichen  jungen  Damen  zu  nähern, 
die  ihm  nach  seiner  Meinung  ihre  Geneigtheit  kundgegeben  hatten, 
mit  ihm  die  Ehe  einzugehen. 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  in  diesen  Zuständen  meist 
etwas  getrübt.  Sie  fassen  unvollkommen  auf,  vermögen  sich  nicht 
klar  zu  orientiren.  Alles  kommt  ihnen  verwechselt,  wie  Komödie 
vor;  die  Personen  sind  verwandelt,  nicht  die  richtigen;  sie  befinden 
sich  in  einem  Zauberhaus,  klagen  über  Yerwirrnisse  und  Verwick- 
lungen. Der  Ge  danken  gang  ist  zerfahren,  zusammenhangslos,  die 
Ueberlegung  meist  schwer  beeinträchtigt,  wie  sich  aus  den  un- 
sinnigen und  widerspruchsvollen  Reden  der  Kranken  ergiebt.  Die 
Erinnerung  an  die  Vergangenheit  ist  gut  erhalten,  auch  die  Merk- 
fähigkeit öfters  überraschend  gut.  Personen  der  neuen  Umgebung 
werden  in  der  Regel  wiedererkannt,  wenn  auch  falsch  aufgefasst 


Katatonische  Formen. 


163 


und  benannt,  als  Christus,  Judas  Ischarioth.  Hie  und  da  aber  kommt 
es  zu  Erinnerungsfälschungen.  Der  Yater  hat  den  Kranken 
durchstochen  und  das  Blut  aufgefangen ; er  ist  von  einer  Zigeunerin 
geraubt,  im  Garten  erschossen  worden. 

Die  Stimmung  der  Kranken  ist  im  Beginne  des  Leidens  meist 
eine  traurige,  ängstliche;  sie  sind  verstört,  seufzen,  jammern,  flehen 
um  Gnade,  fürchten  sich  „vor  dem  Ungewissen“.  Bisweilen  werden 
sie  reizbar,  misstrauisch,  finster,  drohend;  auch  beobachtet  man 
Zornausbrüche  von  ungemeiner  Heftigkeit.  Dazwischen  hinein  aber 
kann  sich  ganz  unvermittelt  kindische  Heiterkeit  oder  verzückte 
Glückseligkeit  einschieben,  meist  begleitet  von  lebhafter  geschlecht- 
licher Erregung,  Masturbation,  obscönen  Reden  und  Angriffen. 

Sehr  auffallend  pflegen  auch  die  Störungen  im  Benehmen  und 
Handeln  zu  sein.  Die  Kranken  hören  auf,  zu  arbeiten,  stehen  und 
liegen  thatenlos  herum,  laufen  davon,  stieren  vor  sich  hin,  lachen 
ohne  Grund,  fangen  an,  Ausschweifungen  zu  begehen,  sich  zu  ver- 
nachlässigen, ihre  Umgebung  zu  bedrohen.  Andere  beten,  laufen 
viel  in  die  Kirche,  knieen  den  ganzen  Tag,  gehen  ins  Kloster,  läuten 
plötzlich  die  Glocken,  wollen  die  Gräber  öffnen,  in  der  Kirche  die 
Geräthe  vom  Altar  nehmen.  Noch  andere  wollen  heirathen,  ziehen 
ihre  besten  Kleider  an,  nehmen  überall  Abschied.  Mehrere  meiner 
Kranken  machten  Selbstmordversuche  oder  gefährliche  Angriffe  auf 
ihre  Angehörigen  ohne  jeden  äusseren  Anlass;  einer  suchte  sich  in 
der  Scheuer  auf  einem  Heuhaufen  zu  verbrennen,  weil  die  Fran- 
zosen kämen. 

An  diesen  ersten  Abschnitt  der  Krankheit,  der  in  allen  Haupt- 
zügen demjenigen  gewisser  hebephrenischer  Formen  ähnelt,  schliessen 
sich  in  mehr  oder  weniger  deutlicher  Ausprägung  diejenigen  Zu- 
stände an,  die  der  Katatonie  insbesondere  eigentümlich  sind,  der 
katatonische  Stupor  und  die  katatonische  Erregung.  In 
etwa  V3  der  Fälle  allerdings  entwickeln  sich  diese  Zustände,  und 
zwar  beide  gleich  häufig,  ganz  ohne  bemerkbare  Yorboten  aus  an- 
scheinend voller  Gesundheit  heraus. 

Der  katatonische  Stupor  ist  hauptsächlich  beherrscht  durch  die 
Erscheinungen  des  Negativismus  und  der  Befehlsautomatie. 
Die  Kranken  werden  einsilbig,  wortkarg,  brechen  mitten  im  Wort 
oder  Satz  ab,  hören  allmählich  vollständig  auf,  zu  sprechen  (Muta- 
cismus),  oder  fispeln  doch  nur  hier  und  da  leise  einige  unverständ- 

11* 


164 


Y.  Die  Dementia  praecox. 


liehe  Worte,  führen  auch  wol  flüsternde  Selbstgespräche,  lachen  vor 
sich  hin.  Manchmal  setzen  sie  zum  Sprechen  an,  sobald  man  Miene 
macht,  sich  zu  entfernen,  verstummen  aber  sofort,  wenn  man  sich 
wieder  zu  ihnen  wendet.  Auch  zum  Schreiben  sind  sie  meist  nicht 
mehr  zu  bringen,  brechen  nach  einigen  Buchstaben  ab,  fahren  spie- 
lend über  das  Papier  oder  bringen  nur  sinnlose  Kritzeleien  hervor. 
Sie  blicken  nicht  mehr  auf,  wenn  man  mit  ihnen  spricht,  drehen 
den  Kopf  nicht  her,  wenden  sich  vielleicht  geradezu  ab.  In  ein- 
zelnen Fällen  erhält  man  jedoch  zeitweise  noch  schriftliche  Ant- 
worten, oder  die  sonst  stummen  Kranken  singen  auf  Befehl  einmal 
mit  feiner  Stimme  ein  bekanntes  Lied.  Im  übrigen  sind  sie  gänzlich 
unzugänglich  gegen  jede  äussere  Einwirkung,  reagiren  nicht  auf  An- 
reden, Berührungen  und  selbst  Nadelstiche;  nur  selten  führt  ein 
sehr  lebhafter  Reiz  Ausweichbewegungen  noch  seltener  einmal 
einen  unvermuthet  gewandten  und  kräftigen  Angriff  herbei.  Auch 
ein  gelegentliches  leises  Blinzeln,  stärkere  Röthung  oder  Schwitzen 
des  Gesichtes,  Zucken  um  die  Mundwinkel  bei  solchen  Versuchen, 
Auflachen  bei  scherzhaften  Anlässen  deuten  darauf  hin,  dass  weniger 
die  Auffassung  der  Eindrücke,  als  die  Auslösung  einer  Willens- 
handlung auf  dieselben  gestört  ist. 

Jeder  Versuch  eines  Eingreifens  in  Haltung  oder  Bewegung 
der  Kranken  begegnet  zeitweise  hartnäckigem  und  unüberwind- 
lichem Widerstande.  Man  fühlt,  wie  sich  sofort  jeder  Muskel 
auf  das  äusserste  anspannt,  sobald  man  irgend  eine  Lagever- 
änderung mit  dem  Kranken  vornehmen  will.  Drückt  man  gegen 
die  Stirn,  so  schnellt  der  Kopf  beim  Loslassen  federnd  nach 
vorn;  berührt  man  das  Hinterhaupt,  so  strebt  er  dem  Fingerdruck 
entgegen  nach  hinten.  Den  psychischen  Ursprung  dieses  ent- 
schiedenen Widerstrebens  erkennt  man  am  besten  in  den  nicht 
seltenen  Fällen,  in  welchen  die  Kranken  auch  auf  sprachliche  Beein- 
flussungen in  der  gleichen  Weise  antworten.  Es  ist  dann  nicht  nur 
möglich,  den  Kranken  dadurch  zum  Vorwärtsgehen  zu  veranlassen, 
dass  man  ihn  scheinbar  zurückdrängt  und  umgekehrt,  soudem  er  setzt 
sich  auf  den  Nachtstuhl,  wenn  man  es  ihm  mit  Bestimmtheit  ver- 
bietet, steht  still,  sobald  man  ihn  gehen  heisst  und  ähnliches.  Auch 
in  einer  Reihe  von  anderen  Zügen  lässt  sich  deutlich  der  grund- 
sätzliche Widerstand  gegen  die  natürlichen  Willensantriebe  er- 
kennen. Manche  Kranke  dulden  keine  Kleider,  keine  Schuhe,  ja 


Katatonische  Formen. 


165 


kein  Hemd,  gehen  nicht  ins  Bett,  legen  sich  Nachts  an  den  Boden, 
unter  das  Bett,  ziehen  Kleidungsstücke  verkehrt  an,  kehren  die  Bett- 
stücke um,  liegen  auf  der  Decke,  um  sich  mit  der  Matratze  zuzu- 
decken, drängen  zu  einer  bestimmten  Thüre  hinaus.  Sie  kriechen 
in  fremde  Betten,  ziehen  fremde  Kleider  an,  verbinden  sich  die 
Augen,  verhüllen  sich,  halten  krampfhaft  fest,  was  sie  einmal  ge- 
fasst haben. 

Als  eine  negativistische  Erscheinung  ist  ferner  wol  die  bei 
unseren  Kranken  häufige  Nahrungsverweigerung  aufzufassen.  Sie 
hören  bisweilen  ganz  plötzlich  auf,  zu  essen,  und  sind  nun  auf  keine 
Weise  zur  Fortsetzung  der  Mahlzeit  zu  bewegen,  beissen  krampfhaft 
die  Zähne  aufeinander,  pressen  die  Lippen  zusammen,  sobald  man 
sich  mit  dem  Löffel  nähert.  Andere  essen  nicht,  so  lange  man  ihnen 
zusieht,  lassen  alles  stundenlang  stehen  oder  nehmen  nur  heimlich 
etwas  zu  sich.  Ebenso  plötzlich,  wie  sie  begann,  pflegt  die  Nah- 
rungsverweigerung auch  zu  enden,  um  nun  nicht  selten  einer 
gierigen  Gefrässigkeit  Platz  zu  machen.  Bisweilen  fangen  die  Kranken 
an,  zu  essen,  wenn  sie  in  ein  anderes  Zimmer,  in  eine  neue  Um- 
gebung kommen.  Einzelne  Kranke  verschmähen  mit  unüberwind- 
licher Hartnäckigkeit  bestimmte  Speisen,  Fleisch  oder  das  für  sie 
bereit  gestellte  Essen,  wissen  sich  aber  mit  List  oder  Gewalt  die 
Speisen  ihrer  Nachbarn  zu  verschaffen  und  verzehren  dieselben  in 
grösster  Hast. 

Endlich  dürfte  auf  den  Negativismus  der  Kranken  auch  viel- 
fach ihre  Unreinlichkeit  zurückzuführen  sein.  Sie  halten  Urin 
und  Koth  oft  lange  Zeit  zurück  und  lassen  ihn  dann  einfach  unter 
sich  gehen,  nehmen  nicht  die  geringste  Lageveränderung  vor,  um 
sich  den  unangenehmen  Folgen  zu  entziehen.  Auf  dem  Abtritt  sind 
sie  häufig  nicht  zur  Entleerung  zu  bewegen,  um  gleich  darauf  den 
Fussboden  oder  das  Bett  in  ausgiebigster  Weise  zu  verunreinigen. 
Der  Speichel  wird  oft  bis  zum  äussersten  im  Munde  angesammelt, 
um  dann  plötzlich  springbrunnenartig  hervorzuquellen,  oder  er  läuft 
immerfort  am  Kinn  über  die  Kleider  herab,  zum  Theil  wol,  weil 
die  Absonderung  vermehrt  ist,  aber  auch  weil  die  psychomotorisch 
erstarrten  Kranken  keine  Schluckbewegungen  ausführen.  In  anderen 
Fällen  sieht  man  indessen  die  Kranken  ihre  Umgebung  auf  das 
rücksichtsloseste  durch  immerwährendes  Spucken  verunreinigen. 

Mit  dem  Negativismus  verbindet  sich  sehr  gewöhnlich  eine 


166 


V.  Die  Dementia  praecox. 


ausserordentliche  Einförmigkeit  der  Körperhaltung  und  Muskel- 
spannung. In  Folge  dessen  sehen  wir  die  Kranken  Tage,  Wochen, 
ja  viele  Monate  hindurch  genau  dieselbe  Stellung  einnehmen.  In 
eigenthiimlicber  Haltung,  bildsäulenartig,  oft  starr  in  sich  zusammen- 
gekrümmt, hocken,  knieen  oder  liegen  sie  regungslos  da,  den  Kopf 
frei  vom  Kissen  abgehoben  oder  über  den  Bettrand  herabhängend, 
das  Leintuch  zwischen  den  Zähnen.  Sie  lassen  sich  nach  Belieben 
herumrollen  oder  auch  an  irgend  einem  Körpertheil  wie  ein  Packet 
in  die  Höhe  heben,  ohne  die  Lage  ihrer  Glieder  irgendwie  zu  ver- 
ändern. Eine  meiner  Kranken  faltete  so  lange  Zeit  die  Hände 
krampfhaft,  dass  an  den  Berührungsstellen  Druckbrand  entstand; 
ein  anderer  kniete  Jahre  lang  auf  derselben  Stelle,  bis  wegen  der 
entstehenden  Gelenkentzündung  unter  heftigstem  Sträuben  gewalt- 
sames Festhalten  im  Bette  nöthig  wurde.  Die  Augen  sind  dabei 
entweder  geschlossen,  werden  bei  jeder  äusseren  Annäherung  unter 
starker  Aufwärtsrollung  der  Bulbi  fest  zusammengekniffen,  oder 
sie  sind  weit  offen,  starren  mit  erweiterten  Pupillen  in  die  Feme, 
fixiren  niemals;  der  Lidschlag  findet  äusserst  selten  statt  Der  Ge- 
sichtsausdruck ist  unbeweglich,  maskenartig,  verwundert,  erinnert 
bisweilen  an  das  starre  Lächeln  der  Aegineten.  Die  Lippen  sind 
öfters  rüsselartig  vorgeschoben  („Schnauzkrampf1),  zeigen  hier  und 
da  leichte,  rhythmisch -zuckende  Bewegungen.  Häufig  ist  Grinsen 
und  Gesichterschneiden. 

Auch  im  Gange  der  Kranken  pflegen  sich  ähnliche  Eigenthüm- 
lichkeiten  bemerkbar  zu  machen.  Oefters  ist  es  freilich  ganz  un- 
möglich, Gehversuche  zu  erzielen.  Die  Kranken  lassen  sich  einfach 
steif  hinfallen,  sobald  man  sie  auf  die  Flisse  stellen  will.  In  anderen 
Fällen  marschiren  sie  mit  gestreckten  Knieen,  auf  den  Zehenspitzen, 
auf  dem  äusseren  Fussrande,  mit  gespreizten  Beinen,  stark  zurück- 
gebeugtem Oberkörper,  mit  krampfhaft  emporgerafftem  Hemde, 
rutschend,  tänzelnd,  kurz  in  irgend  einer  ganz  ungewöhnlichen,  aber 
mit  Aufbietung  aller  Kräfte  entgegen  jeder  äusseren  Einwirkung 
festgehaltenen  Stellung.  Die  einzelnen  Bewegungen  sind  steif,  lang- 
sam, gezwungen,  als  ob  ein  gewisser  Widerstand  zu  überwinden 
wäre,  oder  ruckweise  und  dann  oft  blitzschnell. 

Einen  eigenthümlichen  Gegensatz  zu  diesen  Erscheinungen,  in 
denen  sich  das  allgemeine  Widerstreben  gegen  jede  Veränderung 
des  augenblicklichen  Zustandes  ausdrückt,  bilden  die  vielfach  her- 


Kraepelin.  Psychiatrie,  G.  Aufl.  TAFEL  II. 


Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig. 


Katatonische  Formen. 


167 


vertretenden  Anzeichen  gerade  einer  erhöhten  Beeinflussbar- 
keit  von  aussen  her.  Dahin  gehört  vor  allem  die  ausnahmslos 
kürzere  oder  längere  Zeiten  hindurch  bestehende  Katalepsie,  die 
in  solchen  Zuständen  ihre  höchste  Ausbildung  zu  erreichen  pflegt. 
Seltener  und  meist  nur  vorübergehend  begegnet  man  auch  der 
Echolalie  oder  gar  der  Echopraxie.  Die  Kranken  wiederholen  dann 
einfach  ganz  mechanisch  die  an  sie  gerichteten  Reden  oder  auch 
irgendwelche  zufällig  aufgefasste  Aeusserungen,  stimmen  in  ein  Lied 
ihrer  Nachbarn  ein  und  wiederholen  es;  sie  ahmen  lebhaftere  Ge- 
berden nach,  die  man  ihnen  in  eindringlicher  Weise  Vormacht 
(Hochheben  der  Arme,  Händeklatschen),  setzen  eine  von  aussen  an- 
geregte Bewegung  (Taktschlagen,  Rollen  der  Hände  um  einander) 
längere  Zeit  hindurch  fort.  Bisweilen  sieht  man  sie  sogar  stunden- 
lang alles  mitthun,  was  irgend  eine  bestimmte  Person  ihrer  Um- 
gebung thut,  ihr  alles  nachsprechen,  in  gleichem  Schritt  hinter  ihr 
hergehen,  sich  mit  ihr  an-  und  auskleiden  und  ähnliches. 

Das  auffallende  Bild,  welches  durch  die  Katalepsie  erzeugt 
wird,  ist  auf  der  Tafel  II  an  mehreren  Beispielen  wiedergegeben. 
Die  Kranken  wurden  ohne  Mühe  in  die  absonderlichen  Stellungen 
gebracht  und  behielten  dieselben  bei,  als  sie  in  einer  Gruppe  photo- 
graphirt  wurden,  einzelne  mit  verschmitztem  Lächeln,  andere  mit 
starrem  Ernste.  Von  diesen  Kranken  war  nur  E bereits  ziemlich  blöd- 
sinnig, während  namentlich  A,  B und  C noch  im  Beginne  der  Krank- 
heit standen.  Mit  Ausnahme  von  D haben  alle  diese  Kranken  Re- 
missionen gehabt.  Bei  B dauert  dieselbe  heute  noch  fort;  auch  E 
hat  sich  nochmals  gebessert. 

Die  beiden  nur  anscheinend  entgegengesetzten  Zustände  des 
ausgeprägtesten  Widerstrebens  und  der  vollständigen  Hingabe  an 
äussere  Einflüsse  gehen  bei  den  Kranken  regellos  und  ganz  un- 
vermittelt in  einander  über.  Zwar  kann  unter  Umständen  Wochen 
und  Monate  lang  nur  das  eine  Verhalten  bemerkbar  sein,  aber  es 
finden  sich  immer  Zeiten,  in  denen  sich  eine  plötzliche  Wandlung  fest- 
stellen lässt,  ja  es  gelingt  nicht  so  selten,  durch  geeignete  suggestive 
Beeinflussung  unmittelbar  die  Starre  in  Katalepsie  überzuführen  und 
umgekehrt.  Die  Nahrungsverweigerung  wechselt  unvermittelt  mit  Ge- 
hässigkeit; der  vielleicht  wochenlang  regungslos  stumme  Kranke  fängt 
plötzlich  an,  überlaut  einige  ganz  unverständliche  Schreie  auszu- 
stossen,  Kikeriki,  Hurrah  zu  rufen,  wie  ein  Hund  zu  bellen,  mit 


168 


V.  Die  Dementia  praecox. 


verschmitzter  Miene  einen  zeitgemässen  Gassenhauer  zu  grölen. 
Oder  er  springt  mit  langen  Sätzen  durch  das  Zimmer,  hebt  irgendwo 
blitzschnell  ein  Fenster  aus  und  stürzt  sich  mit  gewaltigem  Schwünge 
in  ein  fremdes  Bett,  wo  er  wieder  unzugänglich  liegen  bleibt  Andere 
Kranke  erheben  sich  eines  Tages  und  sprechen,  wie  wenn  nichts 
geschehen  wäre,  verlangen  ihre  Entlassung,  beklagen  sich  über  die 
Zurückhaltung  in  der  Anstalt;  wenige  Stunden  später  findet  man 
sie  vielleicht  schon  wieder  in  starrem  Stupor.  Gerade  dieser  über- 
raschende Wechsel  verschiedenartiger  Zustände  ist  in  hohem  Maasse 
kennzeichnend  für  die  Katatonie. 

Offenbar  spielt  hier  vielfach  jenes  zweite  katatonische  Zustands- 
bild in  den  Stupor  hinein,  welches  wir  als  katatonische  Erregung 
bezeichnet  haben.  Die  Eigenthümlichkeit  dieser  Erregung  liegt  in 
dem  Auftreten  zahlreicher  Triebhandlungen  und  Bewegungs- 
stereotypen. Der  Ausbruch  derselben  ist  in  der  Regel  ein  ganz 
plötzlicher,  meist  nach  den  früher  geschilderten  Yorboten  einer  trau- 
rigen Verstimmung.  Die  Kranken  werden,  bisweilen  mitten  in  der 
Nacht,  unruhig,  verwirrt,  schwatzen,  singen,  tanzen  ungestüm,  mit 
glänzenden  Augen  im  Zimmer  herum,  reissen  sich  die  Kleider  vom 
Leibe,  werfen  Tische,  Betten,  den  Ofen  um,  spucken  um  sich,  sind 
plötzlich  sinnlos  gewaltthätig.  Zugleich  beginnen  die  eigenthüm- 
lichen  katatonischen  Bewegungen,  die  öfters  das  erste  erschreckende 
Krankheitszeichen  bilden. 

Die  Kranken  werden  plötzlich  am  ganzen  Körper  starr,  sinken 
zu  Boden,  bleiben  in  der  Stellung  eines  Gekreuzigten  liegen,  ver- 
drehen die  Augen,  athmen  stossweise,  pusten  und  blasen,  rollen  sich 
um  ihre  Längsachse,  machen  Schlangenmensch bewegungen;  sie 
drehen  sich  auf  den  Zehenspitzen  herum,  rotiren  Rumpf  und  Kopf 
schaukeln  und  wiegen  sich  hin  und  her,  proniren  die  Arme  bis- 
zum  Aeussersten,  wdrbeln  die  Fäuste  mit  grosser  Geschwindigkeit 
um  einander.  Diese  Erscheinungen  erinnern  vielfach  lebhaft  an 
hysterische  Störungen,  denen  sie  bisweilen  zum  Verwechseln  gleichen. 

Weiterhin  äussert  sich  der  Bewegungsdrang  der  Kranken  in 
grosser  Unruhe.  Sie  schnellen  sich  im  Bett  auf  und  nieder,  machen 
mit  den  Armen  unaufhörlich  beschwörende  oder  tactmässige,  kreisende 
Bewegungen,  schreiben  Buchstaben  in  die  Luft,  ringen  die  Hände, 
klatschen,  trommeln  an  die  Wand,  tupfen  stundenlang  auf  den  Tisch, 
tänzeln  und  hüpfen,  wischen  und  stampfen.  Alle  diese  Bewegungen 


Katatonische  Formen. 


169 


geschehen  eckig,  steif,  plump  oder  geziert,  feierlich;  sie  sind  ganz 
zwecklos,  haben  keinerlei  Beziehung  zur  Umgebung  und  werden  oft 
stundenlang  in  ganz  einförmiger  Weise  fortgesetzt.  Meist  lassen  sie 
sich  nur  mit  Aufwendung  starker  Gewalt  unterdrücken,  um  sofort 
wieder  zu  beginnen,  wenn  man  den  Kranken  freigiebt. 

In  diese  einförmigen  Bewegungen  mischen  sich  die  merk- 
würdigsten Antriebe  hinein.  Die  Kranken  beissen  plötzlich  in  die 
Uhrkette  des  Arztes,  bemächtigen  sich  mit  blinder  Gewalt  irgend 
eines  bestimmten  Gegenstandes,  schlagen  die  verwegensten  Purzel- 
bäume, trippeln  und  tanzen  in  abenteuerlicher  Haltung  und 
Ausschmückung  herum,  machen  einige  Luftsprünge,  um  sich 
dann  mit  gewaltigem  Anlauf  über  die  hohe  Lehne  köpflings  ins 
Bett  zu  stürzen.  Sie  erklettern  hastig  einen  Stuhl,  einen  Tisch,  um 
dort  zu  defäciren,  balanciren  in  den  gewagtesten  Stellungen,  werfen 
alle  Bettstücke  durcheinander,  schleppen  ihre  Matratze  stundenlang 
im  Kreise  herum  und  klopfen  bei  einer  bestimmten  Stelle  jedesmal 
an  die  Wand,  stellen  sich  mit  ausgebreiteten  Armen  nackt  auf  den 
Nachtstuhl.  Andere  „ahmen  die  Wachtparade  nach“,  „exerciren, 
wie  wenn  sie  strengsten  Befehl  vom  Oberst  hätten“,  springen  bis 
zur  Ermattung  ums  Haus,  kriechen  am  Boden  herum,  galoppiren  in 
Fechterstellung  mit  grossen  Bocksprüngen,  tanzen  mit  der  aus- 
gehobenen Stubenthüre  herum,  schleudern  jedes  Hinderniss  hastig 
bei  Seite,  heben  unvermuthet  einen  harmlosen  Nachbarn  in  die 
Höhe  oder  versetzen  ihm  eine  schallende  Ohrfeige.  Vielfach  sieht 
man  sie  mit  unermüdlicher  Beharrlichkeit  die  gleichen  Wege  zurück- 
legen, namentlich  im  Kreise  herumwandern,  so  dass  sich  ihre  Spur 
allmählich  ausprägt  wie  diejenige  eines  Thieres  im  Käfig.  Häufig 
sind  auch  blindes,  sinnloses  Hinausdrängen,  unermüdliches  Klopfen 
an  den  Tiiüren,  zwangsmässige,  fast  ununterbrochen  wiederholte 
Selbstmordversuche.  Manche  Kranke  zerkratzen  sich,  reissen  sich 
die  Haare  aus,  brennen  sie  an,  beissen  sich  in  den  Arm;  einer 
sprang  singend  in  den  Neckar. 

Alle  die  geschilderten,  sehr  verschiedenartigen  Handlungen  werden 
mit  der  grössten  Kraft  und  Rücksichtslosigkeit  durchgeführt,  so  dass 
es  meist  gänzlich  immöglich  ist,  den  äusserst  gewandt  und  schnell 
sich  bewegenden  Kranken  an  seinem  Vorhaben  zu  hindern.  In  Folge 
dessen  kommt  es  bisweilen  zu  massenhaften  Hautabschürfungen, 
kleinen  und  grösseren  Verletzungen,  da  der  Kranke  seine  Glieder  nicht 


170 


Y.  Die  Dementia  praecox. 


im  geringsten  schont,  die  offenen  Stellen  immer  wieder  anschlägt 
und  die  ihm  hinderlichen  Verbände  ohne  weiteres  berunterreisst. 

In  der  Regel  sind  die  Kranken  sehr  unsauber.  Sie  lassen 
unter  sich  gehen,  packen  ihren  Koth  zusammen,  verzehren  ihn, 
lecken  den  Urin  vom  Boden,  uriniren  in  den  Pantoffel,  in  den 
Spucknapf,  stecken  Brot  in  den  After,  spucken  in  die  Suppe,  auf 
ihr  Butterbrod,  in  ihr  eigenes  Bett,  schlürfen  das  Badewasser  ein, 
waschen  sich  mit  Urin.  Die  geschlechtliche  Erregung  kommt  in 
rücksichtslosem  Masturbiren,  Coitusbewegungen,  obscönen  Reden 
zum  Ausdruck,  in  der  Neigung,  zu  küssen,  Anderen  an  die  Geni- 
talien zu  greifen. 

Ganz  besonders  kennzeichnend  für  die  katatonischen  Zustände  sind 
auch  die  eigentümlichen  Ausdrucksbewegungen  der  Kranken. 
Dahin  gehören  die  gespreizten  Geberden,  das  Gesicbterschneiden, 
das  sinnlose  Kopfschütteln  und  Nicken,  das  einförmige  Heulen, 
Brüllen,  Krähen,  Johlen,  Singen,  das  Quieken,  Schreien  in  Fistel- 
stimme, Kreischen  und  Brummen,  das  andauernde  unbändige  Lachen. 
Die  Sprache  ist  bald  scandirend,  rhythmisch,  mit  ganz  verschrobener 
Betonung,  bald  singend  oder  commandirend,  bald  überstürzt,  stoss- 
weise,  bald  abgerissen.  Bisweilen  löst  sie  sich  in  eine  Folge  un- 
sinniger, tactmässig  wiederholter  Silben  auf,  mit  Reimen  und  An- 
klängen, oder  die  Worte  werden  verstümmelt,  die  Endsilben 
weggelassen,  willkürlich  bestimmte  Buchstaben  eingefügt.  Ein 
Kranker  sprach  immer  von  „Soktor“,  „Notessor“,  „neistesnank“.  In 
der  Regel  haben  diese  Aeusserungen  gar  keine  Beziehung  zu  den 
an  die  Kranken  gerichteten  Fragen  oder  zu  der  ganzen  Sachlage 
überhaupt.  Eine  Probe  derartiger  zerfahrener  Reden  geben  die 
folgenden  Sätze: 

„Benollen  und  betollen  kann  icli  mich  doch  nicht  lassen.  Wissen  Sie,  ich 
war  ganz  irrsinnig  und  vielleicht  bin  ich  es  noch.  Ob  es  ein  Herr  Grossherzog 
ist  oder  König  und  Kaiser  — ob  es  die  Stimme  des  Gerichts  ist  oder  wer  es  ist. 
Der  liebe  Gott  vom  Himmel  kommt  auch  und  wenn  es  nur  ein  Hund  oder  ein 
Miick  ist  — oder  ein  Stückchen  Brot.  Ich  weiss  nicht,  ob  ich  einen  Fisch  in  der 
Hand  habe  oder  eine  Schlange  oder  was  klappert  oder  was  geht  und  steht ; lieber 
mag  ich  Alle  auf  Erden.  Von  unten  und  oben  kann  Niemand  betollt  werden.“ 
„Meine  Nase  gehört  jetzt  in  Jesus  Christus  hineingestopft  und  mir  alles  herum- 
gedreht. Die  thun  Alle  klappern  und  Gott  veraftern.  Und  wenn  da  drüben  der 
liebe  Erzgrossherzog  ist,  dann  thun  die  hüben  und  drüben  veraftern  und  verfatzen 
und  Schlichte  hinein.“ 


Katatonische  Formen. 


171 


Man  beachte  die  Wortneubildungen,  die  Wiederkehr  einzelner 
Ausdrücke,  betollen,  klappern,  yeraftern,  die  sinnlosen  Anklänge,  den 
Mangel  jeden  Gedankenzusammenhanges  bei  erhaltener  Satzbildung, 
endlich  die  Andeutungen  von  Grössenideen  und  von  Krankheits- 
gefühl. Die  Aussprache  geschieht  dabei  vielfach  geziert,  lispelnd, 
grunzend  oder  in  Fistelstimme.  Tn  einzelnen  Fällen  wird  Agram- 
matismus beobachtet,  insofern  die  Kranken  unfähig  scheinen,  Sätze 
zu  bilden,  und  in  Infinitiven  sprechen. 

Sehr  gewöhnlich  ist  endlich  hier  wie  im  Stupor  das  früher  be- 
reits besprochene  Symptom  der  Yerbigeration,  in  welchem  sich, 
wie  in  so  vielen  ihrer  sonstigen  motorischen  Aeusserungen , die 
Neigung  der  Kranken  zur  Stereotypie,  zur  Wiederholung  der  gleichen 
Antriebe,  auf  das  deutlichste  kundgiebt.  Irgend  ein  kürzerer  oder 
längerer,  häufig  durchaus  sinnloser  Satz  (z.  B.  „Gekreuzigter  Krex 
in  e Umkrexhaus“),  auch  wol  einzelne  Buchstaben  werden  stunden- 
und  tagelang  in  derselben,  oft  rhythmischen  Betonung  ununter- 
brochen wiederholt,  bald  schreiend,  bald  flüsternd,  bald  sogar  in 
bestimmter  Melodie.  Bisweilen  versprechen  sich  die  Kranken  ein- 
mal, oder  es  drängt  sich  ein  in  der  Umgebung  gehörtes  Wort  hinein; 
so  kann  der  Spruch  allmählich  Wandlungen  erfahren,  deren  Er- 
gebnis man  dann  nach  einigen  Stunden  vorfindet.  Auch  in  den 
schriftlichen  Aeusserungen  der  Kranken  lässt  sich  die  Yerbigeration 
wiederfinden,  in  dem  endlosen  Wiederholen  der  gleichen  Schnörkel, 
Zahlen,  Buchstaben,  Worte  oder  Sätze.  Damit  pflegt  sich  ver- 
schrobene Rechtschreibung  und  Interpunction  zu  verbinden.  Plötz- 
liche, unberechenbare  Einfälle  bewirken  die  Einfügung  ganz  sinnloser 
oder  das  Auslassen  für  den  Sinn  nothwendiger  Zeichen  und  Wörter. 
Die  Ausführung  der  Schrift  selbst  geschieht  bald  langsam,  zögernd, 
mitten  im  Buchstaben  abbrechend,  bald  rasch  und  flüchtig  oder  in 
gewöhnlichem  Zeitmaasse.  Der  Druck  wechselt  ebenfalls  vielfach  un- 
vermittelt. Manche  Kranke  schreiben  Spiegelschrift.  Beispiele  kata- 
tonischer Schriftstücke  geben  die  umstehend  beigefügten  Proben,  von 
denen  die  erste  in  Form  und  Inhalt  die  zwangsmässige  Stereotypie 
mit  geringen  allmählichen  Abwandlungen  erkennen  lässt,  während 
in  der  zweiten  neben  Andeutungen  von  Stereotypie  ganz  besonders 
die  Zerfahrenheit  hervortritt. 

Der  katatonische  Stupor  und  die  Erregung  sind  anscheinend 
trotz  ihrer  äusserlichen  Verschiedenheit  nahe  verwandte  Zustände. 


172 


Y.  Die  Dementia  praecox. 


Wir  sehen  dieselben  im  Krankheitsbilde  vielfach  unmittelbar  auf- 
einander folgen;  dabei  scheint  die  Erregung  etwas  häufiger  voran 
zu  gehen,  als  der  Stupor.  Aber  auch  in  den  weit  zahlreicheren 
Fällen,  in  denen  nur  der  eine  oder  der  andere  Zustand  den  Krank- 
heitsverlauf beherrscht,  können  sich  doch  ungemein  häufig  An- 
deutungen des  entgegengesetzten  Bildes  einschieben.  Der  stuporöse 
Kranke  geräth  plötzlich  für  einige  Minuten  oder  Stunden  in  die 


Schriftprobe  II. 


sinnloseste  Erregung,  um  dann  in  seine  frühere  Regungslosigkeit 
zurückzusinken;  umgekehrt  sehen  wir  die  Erregung  vorübergehend 
nicht  selten  einem  leichter  oder  sclnverer  stuporösen  Zustande  mit 
Katalepsie  und  Negativismus  Platz  machen.  Die  gradweise  Aus- 
prägung der  Erscheinungen  ist  in  den  einzelnen  Fällen  sehr  ver- 
schieden. Der  Stupor  kann  bisweilen  nur  durch  ein  wortkarges, 
abweisendes,  schläfriges  Wesen  an  gedeutet  werden,  während  die  Er- 
regung von  leichter  läppischer  Ausgelassenheit  bis  zum  rücksichts- 
losesten, geradezu  das  Leben  gefährdenden  Rasen  schwanken  kann. 


Katatonische  Formen. 


173 


Während  der  Entwicklung  dieses  vielgestaltigen  Krankheitsbildes 
ist  das  Bewusstsein  ohne  Zweifel  dauernd  etwas  getrübt.  Die 
Kranken  fassen  zwar  einzelne  Eindrücke  fast  immer  ziemlich  gut 
auf,  auch  wenn  man  es  zunächst  nicht  nachweisen  kann,  aber  sie 
pflegen  doch  nur  eine  ziemlich  unklare  Vorstellung  von  ihrer  Lage 


und  den  Vorgängen  in  ihrer  Umgebung  zu  haben,  allerdings  zum 
Theil  deswegen,  weil  sie  sich  gar  nicht  darum  bekümmern  und  nicht 
das  Bedürfniss  haben,  ihre  Wahrnehmungen  weiter  zu  verarbeiten. 
Sie  verkennen  daher  vielfach  die  Personen,  wissen  nicht,  wo  sie 
sich  befinden,  überraschen  aber  nicht  selten  dadurch,  dass  sie  die 
Namen  der  Wärterinnen  oder  der  anderen  Kranken  wissen,  eine 
scherzhafte  Bemerkung  machen,  sich  über  irgend  ein  Vorkommniss 
beklagen,  geordnete  Auskunft  über  ihre  Verhältnisse  geben,  einen 


174 


V.  Die  Dementia  praecox. 


zusammenhängenden  Brief  mit  zutreffender  Schilderung  ihres  Auf- 
enthaltes, der  Bitte  um  Abholung  verfassen. 

Selbst  eine  gewisse  Krankheitseinsicht  ist  vielfach  vorhanden. 
.Die  Kranken  bezeichnen  ihr  absonderliches  Treiben  als  Dumm- 
heiten, meinen,  sie  seien  eben  närrisch,  seien  „stumpfsinnig  und  ver- 
nebelt“, „sehr  dumm  geworden  in  letzter  Zeit“,  der  Kopf  sei  hohl, 
durcheinander.  Eine  Kranke,  welche  die  katatonischen  Bewegungs- 
stereotypen in  höchster  Ausbildung  darbot,  sagte  mir:  „ich  muss 
aber  immer  so  dumme  Bewegungen  machen;  das  ist  doch  zu  ein- 
fältig“; eine  andere  beklagte  sich,  dass  sie  immer  Gesichter  schneiden 
müsse;  man  solle  ihr  doch  das  Lachen  vertreiben.  Freilich  erfährt 
man  über  die  Gründe  des  ganzen  zwangsmässigen  Benehmens  von 
den  Kranken  nie  etwas  anderes,  als  dass  sie  nicht  hätten  sprechen 
oder  essen  dürfen  oder  können,  die  Worte  nicht  gefunden  hätten, 
dass  eine  Kraft,  ein  „Drang“  über  sie  gekommen  sei  und  sie  ge- 
zwungen habe,  alles  nachzumachen,  dass  sie  hätten  thun  müssen, 
was  man  ihnen  sagte,  dass  man  es  ja  so  gewollt  habe.  Sie  hätten 
nicht  eher  ruhen  können,  bis  sie  es  so  gemacht  hätten;  es  habe 
ihnen  Spass  gemacht,  alles  so  oft  zu  wiederholen;  sie  hätten  es  eben 
gewollt.  Weit  seltener  sind  andere  Begründungen.  Ein  Kranker 
hatte  nach  seiner  Aussage  gemeint,  er  falle  von  Gott  ab,  wenn  er 
esse;  ein  anderer  erzählte,  er  sei  zu  seinen  stürmischen  Bewegungen 
„wie  mit  einem  Seil“  gezogen  worden,  habe  keinen  Hunger  gehabt 

Trotz  dieser  klaren  Angaben  über  die  Eigenart  ihrer  Zustände, 
die  meist  auch  im  allgemeinen  als  krankhafte  betrachtet  werden, 
fehlt  den  Kranken  doch,  zunächst  wenigstens,  durchaus  ein  wirk- 
liches Yerständniss  für  die  Schwere  der  Störung.  Sie  wundem  sich 
nicht  besonders  über  ihr  merkwürdiges  Gebahren  in  der  Krankheit, 
betrachten  sich  sofort  als  vollkommen  gesund,  sobald  sie  einiger- 
massen  klar  geworden  sind,  drängen  ohne  weiteres  und  blind  gegen 
besseren  Rath  nach  Hause.  Sehr  häufig  bestehen  übrigens  während 
des  Stupors  wie  in  der  Erregung  und  selbst  nach  deren  Schwinden 
allerlei  Wahnbildungen  und  Sinnestäuschungen  fort,  wie  wir  sie 
früher  eingehend  geschildert  haben. 

Die  Stimmung  der  Kranken  zeigt  nach  den  anfänglichen 
stärkeren  Gefühlsschwankungen  keine  sehr  auffallenden  Störungen. 
Meist  sind  die  Kranken  im  Zusammenhalte  mit  ihrem  sonderbaren 
Benehmen  und  ihren  Wahnvorstellungen  merkwürdig  gleichgültig. 


Katatonische  Formen. 


175 


Bedrohungen  machen  auf  sie  gar  keinen  Eindruck;  sie  strecken 
unter  Umständen  auf  Wunsch  ruhig  die  Zunge  heraus,  wenn  man 
ihnen  das  Abschneiden  derselben  ankündigt  und  sich  nun  mit 
Messer  oder  Scheere  nähert.  Doch  beobachtet  man  vielfach  in  un- 
regelmässigem Wechsel  kindische  Weinerlichkeit,  Gereiztheit,  läppische 
Ausgelassenheit  oder  Verzückung.  Weit  seltener  und  dann  meist 
der  ersten  Zeit  der  Krankheit  angehörend  sind  Angstzustände,  die 
jedoch  in  einzelnen  Fällen  eine  ausserordentliche  Heftigkeit  er- 
reichen können. 

Den  Ausgang  der  Katatonie  bildete  in  59 °/0  meiner  Fälle  ein 
eigenartiger,  erheblicher  Blödsinn.  Die  Erregung  legt  sich;  die 
starre  Spannung  des  Stupors  schwindet;  die  Wahnvorstellungen  und 
Sinnestäuschungen  treten  in  den  Hintergrund,  aber  der  Kranke 
wird  nicht  frei,  sondern  zeigt  nunmehr  die  deutlichen  Züge  der 
psychischen  Schwäche.  Er  ist  stumpf  und  gleichgültig  ge- 
worden, hat  seine  geistige  Regsamkeit  verloren,  kümmert  sich  nicht 
um  seine  Umgebung,  um  seine  Angehörigen,  um  seine  Zukunft, 
sondern  dämmert  wunschlos  und  willenlos  dahin.  Obgleich  er  ge- 
wöhnlich noch  leidlich  im  Stande  ist,  aufzufassen  und  einfache 
Dinge  zu  verstehen,  auch  hie  und  da  noch  Proben  früherer  Kennt- 
nisse und  Fertigkeiten  liefert,  etwa  gut  Schach  spielt,  auf  der 
Landkarte  Bescheid  weiss,  beim  Bäumeroden  besonders  brauchbar 
ist,  lernt  er  nichts  mehr  hinzu,  hat  gar  kein  Gedächtniss,  „viel  zu 
kurzen  Sinn“,  „keinen  Sinn  und  Begriff  für  nichts“.  Er  „arbeitet 
ohne  Ausdauer  und  Verständniss“;  „der  Wille  ist  gut,  das  Voll- 
bringen schwach“;  zu  selbständiger  Thätigkeit  ist  er  nicht  fähig, 
kennt  Ordnung  und  Reinlichkeit  nicht  mehr,  spielt  mit  Bildern  wie 
ein  Kind.  Manche  Kranke  sind  eigenwillig,  abweisend,  ziehen  sich 
zurück,  bleiben  dauernd  im  Bett,  sprechen  nichts  oder  murmeln  nur 
unverständlich  vor  sich  hin,  halten  sich  unrein.  Andere  bleiben 
lebhafter,  aber  faselig,  zerfahren,  reizbar,  unruhig,  äussern  zusammen- 
hangslose Reste  von  Wahnbildungen. 

Besonders  bei  diesen  letzteren  Formen  kommt  es  zur  Bildung 
jener  stehenden  Manieren,  deren  Anfänge  wir  in  den  früher  be- 
schriebenen Stereotypen  vor  uns  haben.  Dahin  gehören  u.  a.  die  eigen- 
tümlichen Stellungen  und  automatenartigen  Bewegungen,  das  Gehen 
auf  einem  Strich,  das  krampfhafte  Andrücken  der  gespreizten  Finger 
an  einzelne  Körperteile,  Festhalten  eines  Ohrläppchens,  Auszupfen  der 


176 


V.  Die  Dementia  praecox. 


Haare,  das  zwangsmässige  Kopfschütteln  und  Nicken,  die  Zungen- 
und  Lippenbewegungen,  das  Zähneknirschen,  Augenrollen,  Gesichter- 
schneiden, Lachen,  die  hanswurstartigen  Geberden.  Ferner  sind 
die  ausserordentlichen  Frisuren  zu  erwähnen,  die  schrullenhafte 
Anordnung  und  Auswahl  der  Kleidungsstücke,  das  Zurück- 
weisen gewisser  Speisen,  die  Bevorzugung  bestimmter  Thüren  und 
Betten,  das  häufige  Aufsuchen  des  Aborts,  das  Räuspern,  Schnauben, 
Hüsteln,  Grunzen,  Blasen,  Röcheln  und  namentlich  gewisse  Sonderbar- 
keiten beim  Essen.  Fast  niemals  nehmen  die  Kranken  ihre  Mahlzeiten 
in  natürlicher  Weise  zu  sich.  Häufig  greifen  sie  einfach  mit  den 
Händen  in  den  Teller  hinein,  fahren  auf  die  grosse  gemeinsame  Schüssel 
los,  stopfen  hastig  den  Mund  so  voll  wie  möglich  und  schlingen  her- 
unter, fast  ohne  zu  kauen.  Der  Löffel  wird  nur  ganz  leicht  mit  den 
Fingerspitzen  erfasst,  oft  am  äussersten  Ende,  der  Stiel  zum  Essen  be- 
nutzt; es  wird  mit  der  Gabel  regelmässig  vor  jedem  Bissen  2 — 3 Mal 
im  Essen  herumgestochert,  das  Gemüse  iu  eine  Reihe  gleicher  Häufchen 
getheilt,  die  Hand  vorher  mit  der  Jacke  umwickelt,  die  Nase  mit  in 
die  Suppe  gesteckt,  oder  es  muss  zwischen  je  zwei  Bissen  ein 
Schluck  getrunken,  bis  12  gezählt  werden  u.  ähnl.  Andere  schlecken 
die  Suppe  wie  ein  Hund  oder  giessen  sie  unter  reichlichem  Ver- 
schütten ohne  weiteres  in  den  Mund,  pressen  den  Gemüseteller  glatt 
auf  ihr  Gesicht  und  lecken  ihn  so  allmählich  aus.  Eine  meiner 
Kranken  fasste  zwar  den  Löffel  ganz  richtig  mit  der  rechten  Hand, 
führte  ihn  aber  hinter  ihrem  Kopfe  herum  von  der  linken  Seite 
zum  Munde;  eine  andere  verkroch  sich  beim  Essen  unter  die  Bett- 
decke. Nicht  selten  verschlingen  die  Kranken  ganz  unglaubliche 
Mengen  der  verschiedensten  Nahrungsmittel,  aber  auch  ganz  unver- 
dauliche Dinge,  hie  und  da  sogar  ihre  eigenen  Ausleerungen. 

Endlich  pflegen  sich  vielfach  auch  die  oben  geschilderten  Eigen- 
thümlichkeiten  des  Sprechens  und  Schreibens  zu  erhalten.  Besonders 
auffallend  gestaltet  sich  oft  das  Bild  der  Sprachverwirrtheit,  die 
in  ausgeprägtester  Form  Zurückbleiben  kann,  auch  wenn  der  Kranke 
in  seinem  Benehmen  leidlich  geordnet  erscheint.  Namentlich  in  der 
Erregung  können  solche  Kranke  leicht  wieder  den  blühendsten 
Wortsalat  zu  Tage  fördern,  während  sie  sich  bei  ruhigem  Sprechen 
vielleicht  ganz  verständlich  auszudrücken  vermögen.  Bisweilen 
kann  übrigens  die  Sprachverwirrtheit  sich  selbst  nach  langjährigem 
Bestehen  noch  wesentlich  bessern  und  fast  ganz  verliereu.  Das 


Katatonische  Formen. 


177 


war  z.  B.  bei  dem  Kranken  der  Fall,  der  den  nachfolgenden  Brief 
geschrieben  hat: 

„Der  sentimentale  Beruf  der  Welschneureuther  Bürger  erheischt  nach  dem 
erhabenen  Geburtstagsfest  Sr.  Majestät  des  erlauchten  Königs  Wilhelm  Karl  vor 
allem  seine  gesammten  geistigen  Kräfte  zu  sammeln,  um  ihrer  seelsorglichen  Für- 
bitte in  dem  Herrn  gerecht  zu  werden.  So  haben  es  sich  40  angesehene  Sturm- 
patrioten in  Anbetracht  der  Aufhebung  der  Statuten  der  Universität  Erlangen 
zum  heutigen  angelegen  sein  lassen,  als  erste  rückwirkende  Negative  in  analogisch- 
patriotischem Sinne  zu  bekräftigen.  Die  Art.  1 der  Welschneureuther  Verfassung, 
bestehend  in  brennbar  verlügbarem  Kriegsmaterial  Sr.  Majestät  zur  allergnädigsten 
Disposition  zu  stellen,  ferner  die  ruchbarsten  Handlungen  wie  Umgang  mit  Vieh, 
Schafen  und  welschen  Hahnen  gehorsamst  einzustellen.  Damit  nun  die  erlauchte 
Königsgesellschaft  bei  transportabler  aller  zur  Nachsicht  empfehlender  Gemüther 
keiner  Concurrenz  von  Seiten  der  nachbarlichen  Staaten  unterworfen  werden  kann, 
so  schwören  wir  bei  Geniessung  von  Steig  Waaren  nur  Jedem  allein  zu  dienen, 
eine  Folgerung  der  periodisch  mechanisch  zu  ziehenden  Bilanz  des  19.  Jahrhunderts 
nur  dann  abzubrechen,  wenn  wir  in  unseren  Meinungen  unserem  erhabenen  Herr- 
scher gegenüber  erwartungsvoll  getäuscht  und  als  nützliche  Rathgeber  eines  ge- 
sunden Alterthumsmuseums  betrachtet  werden  können  u.  s.  w.“ 

Im  ganzen  ist  hier  das  Satzgefüge  noch  einigermassen  gewahrt,  so 
dass  dieses  Gefasel  bei  unaufmerksamem  Lesen  oder  unvollkommenem 
Sprachverständnisse  allenfalls  den  Eindruck  eines  innerlichen  Zu- 
sammenhanges machen  könnte.  Bei  genauerem  Zusehen  ist  davon 
freilich  keine  Rede  mehr.  Nicht  ohne  Bedeutung  ist  die  bei  solchen 
Kranken  stets  hervortretende  Neigung  zu  tönenden  Redensarten, 
geschraubten  Wendungen,  Fremdwörtern  und  Wortneubildungen. 

Bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  verblödeten  Katatoniker 
werden  zeitweise  Erregungen  beobachtet,  bald  alle  paar  Wochen, 
bald  in  längeren  Zwischenräumen.  Die  Kranken,  die  so  lange  ruhig 
und  fügsam  waren,  sind  einige  Tage  reizbar,  missmuthig,  drohend,  ver- 
weigern die  Nahrung  oder  brechen  plötzlich  in  verwirrtes  Schimpfen 
aus,  äussern  Verfolgungsideen,  zerstören  einige  Fensterscheiben, 
werfen  das  Essen  auf  den  Boden,  machen  einen  sinnlosen  Angriff 
oder  einen  Selbstmordversuch.  Nach  kurzer  Zeit  pflegt  alles  vor- 
über zu  sein,  und  die  Kranken  selbst  vermögen  dann  über  die 
Beweggründe  ihres  Handelns  keine  Rechenschaft  mehr  zu  geben. 

In  etwa  27  °/0  meiner  Fälle  wurden  die  schwersten  Grade  der 
Verblödung  nicht  erreicht,  doch  ist  natürlich  eine  strengere  Ab- 
scheidung unter  diesem  Gesichtspunkte  nicht  möglich.  Es  handelt 
sich  um  solche  Kranke,  bei  denen  die  auf  der  Höhe  der  Krankheit 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  12 


178 


V.  Die  Dementia  praecox. 


gebildeten  Wahnvorstellungen  und  Sinnestäuschungen  und  ebenso 
die  auffallenderen  katatonischen  Erscheinungen  vollkommen  ver- 
schwinden, unter  Umständen  erst  nach  Jahren.  Sie  werden  ruhig, 
geordnet,  arbeitsfähig  und  können  wieder  in  ihre  häuslichen  Ver- 
hältnisse zurückkehren,  vielleicht  auch  wieder  auswärts  arbeiten. 
Allein  es  ist  eine  tiefgreifende  Veränderung  mit  ihnen  vor  sich  ge- 
gangen. Ihre  geistige  Frische  ist  geschwunden;  sie  sind  vergess- 
licher, urth eilsschwächer,  stumpfer  geworden,  unselbständig,  ohne 
rechte  Thatkraft  und  ohne  Ausdauer.  Sie  haben  keinen  Ueberblick 
mehr,  können  kein  Geschäft,  keinen  grossen  Haushalt  leiten,  wissen 
mit  Geld  nicht  umzugehen,  geben  aus,  was  sie  in  die  Hand  be- 
kommen. Viele  dieser  Kranken  sind  still,  unfrei,  gedrückt,  miss- 
trauisch, abweisend,  andere  vielmehr  selbstbewusst,  kindisch  heiter, 
prahlerisch  oder  zappelig,  reizbar.  Vorübergehende  leichte  Er- 
regungszustände sind  auch  hier  ungemein  häufig;  Spuren  von  Kata- 
lepsie, Gesichterschneiden,  grundloses  Lachen,  plumpe,  übertriebene 
Höflichkeit,  Manieren  beim  Handgeben,  beim  Essen,  bei  der  Arbeit 
lassen  sich  vielfach  nachweisen.  Oefters  besteht  grosse  Ermüdbar- 
keit und  ein  ungemein  starkes  Schlafbedürfniss,  so  dass  die  Kranken, 
ganz  entgegen  ihren  früheren  Lebensgewohnheiten,  gar  nicht  zu  er- 
wecken sind  und  selbst  noch  die  halben  Tage  im  Bette  zubringen. 

Die  leichtesten  Grade  der  hier  geschilderten  Zustände  gehen 
ohne  scharfe  Grenze  in  diejenige  Gruppe  von  Fällen  über,  die  wir 
als  geheilt  zu  betrachten  pflegen.  Unter  meinen  Beobachtungen 
möchte  ich  etwa  13%  dahin  rechnen.  Hier  verschwinden  alle 
krankhaften  Störungen  so  vollständig,  dass  die  Genesenen  ihre 
frühere  Stellung  im  Leben  ganz  wie  früher  wieder  ausfüllen.  Ich 
darf  indessen  nicht  verschweigen,  dass  sich  auch  bei  einigen  der 
hierhin  gerechneten  Fälle  noch  ganz  leichte  Reste  der  überstandenen 
Krankheit  bemerkbar  machten,  etwas  verschrobene  Beurtheilung  der 
krankhaften  Erlebnisse,  Zucken  im  Gesicht,  stilleres  Wesen,  ge- 
zwungene Bewegungen.  Noch  schwerer  fällt  vielleicht  der  Um- 
stand ins  Gewicht,  dass  die  Dauer  der  Genesung  bisher  meist  nur 
einige  Jahre  hindurch  sicher  gestellt  worden  ist.  Wir  wissen  aber, 
dass  bei  der  Katatonie  nach  selbst  8 — 10  Jabren  noch  schwere 
und  zu  tiefem  Blödsinn  führende  Rückfälle  eintreten  können.  Ich 
habe  schon  eine  ganze  Reihe  meiner  anscheinend  geheilten  Kata- 
toniker  wieder  erkranken  sehen  und  muss  es  daher  einstweilen  offen 


Katatonische  Formen. 


179 


lassen,  wie  viele  der  angeführten  Genesungen  wirklich  im  strengsten 
Sinne  und  dauernd  als  solche  anzusehen  sind. 

Gerade  durch  diese  Erfahrung  wird  die  Vorhersage  bei  der 
Katatonie  ausserordentlich  erschwert.  Wir  beobachten  in  einer 
grossen  Zahl  von  Fällen  mehr  oder  weniger  plötzliche  Nachlässe 
aller  Krankheitserscheinungen.  Die  Kranken  werden  besonnen, 
klar  und  einsichtig,  meist  freilich  nur  auf  kurze  Zeit,  für  Stunden 
oder  Tage.  Der  Eindruck  dieser  unvermutheten,  weitgehenden 
Besserungen  ist  ein  überraschender.  Wir  treffen  den  Kranken,  der 
bis  dahin  in  seinem  unsinnigen  Treiben  oder  seiner  Versunkenheit 
ganz  verwirrt  zu  sein  schien,  mit  einem  Male  ruhig  und  vollständig 
geordnet  an.  Er  kennt  Zeit  und  Ort,  die  Personen  seiner  Um- 
gebung, erinnert  sich  an  alle  Ereignisse,  auch  an  seine  eigenen  un- 
sinnigen Handlungen,  giebt  zu,  dass  er  krank  ist,  schreibt  einen 
zusammenhängenden,  vernünftigen  Brief  an  seine  Angehörigen. 
Freilich  wird  man  bei  genauer  Prüfung  niemals  eine  gewisse  Ge- 
bundenheit des  Wesens,  eigenthümlich  gehobene  oder  verlegene 
Stimmung  wie  den  Mangel  eines  wirklich  klaren  Verständnisses 
für  die  gesammten  Krankheitserscheinungen  an  ihm  vermissen. 
Ebenso  unvermittelt,  wie  sie  gekommen,  pflegen  diese  Nachlässe  der 
Krankheit  auch  wieder  zu  verschwinden.  Sie  sind  am  häufigsten 
in  den  Erregungszuständen,  weit  seltener  und  unvollkommener  beim 
Versinken  in  den  Stupor. 

In  einer  ziemlich  grossen  Zahl  von  Fällen,  nach  meiner  Zu- 
sammenstellung bei  etwa  20  °/0  der  Kranken,  können  die  Nachlässe 
der  Krankheit  aber  auch  lange  Zeit  hindurch  andauern,  so  dass  sie 
der  Genesung  gleichen.  Fast  immer  freilich  bleiben  auch  während 
der  Zwischenzeiten  gewisse  Eigenthiimlichkeiten  im  Wesen  der 
Kranken  zurück,  welche  darauf  hindeuten,  dass  es  sich  nicht  um 
wirkliche  Heilungen  gehandelt  hat.  Dahin  gehört  namentlich  un- 
freies, gezwungenes,  geziertes  oder  auffallend  stilles,  zurückgezogenes 
Benehmen,  Reizbarkeit,  unvollkommene  Krankheitseinsicht.  Eine 
meiner  Kranken,  die  bis  dahin  ein  anständiges  Mädchen  gewesen 
war,  gebar  in  einer  solchen  Remission  3 uneheliche  Kinder,  deren 
letztes  sie  aus  Unachtsamkeit  erstickte;  in  der  Untersuchungshaft 
trat  dann  ein  neuer,  sehr  heftiger  Anfall  katatonischer  Erregung  auf, 
der  zu  endgültiger  Verblödung  führte.  Die  Wiedererkrankung  er- 
folgt meist  innerhalb  der  ersten  5 Jahre,  kann  aber  in  einzelnen 

12* 


180 


V..  Die  Dementia  praecox. 


Fällen  auch  noch  nach  7,  10,  und  selbst  noch  mehr  Jahren  ein- 
treten. 

Leider  ist  es  mir  bisher  noch  nicht  möglich  gewesen,  bestimmte 
Anhaltspunkte  aufzufinden,  aus  denen  man  Schlüsse  auf  den  muth- 
masslichen  Ausgang  des  einzelnen  Falles  ziehen  könnte.  Wenn  wir 
die  Heilungen  gewissermassen  als  dauernde  Remissionen  betrachten, 
so  würde  die  Frage  zu  beantworten  sein,  welche  Fälle  Aussicht  auf 
den  Eintritt  von  weitgehenden  Remissionen  gewähren,  und  wie  lange 
man  berechtigt  ist,  noch  auf  den  Eintritt  einer  solchen  zu  hoffen. 
Ohne  Zweifel  führen  im  allgemeinen  mehr  die  rasch  entstandenen, 
als  die  schleichend  sich  entwickelnden  Störungen  zur  Remission, 
ganz  ähnlich  wie  bei  der  Paralyse.  Ha  ein  acuter  Beginn  mit  leb- 
hafter Erregung  bei  der  Katatonie  ungleich  häufiger  ist,  als  bei  den 
hebephrenischen  Formen,  dürfen  wir  darauf  auch  wol  die  günstigere 
Prognose  jener  ersteren  zurückführen.  Die  Wahrscheinlichkeit  einer 
erheblichen  Besserung  dürfte  ferner  um  so  geringer  werden,  je 
mehr  sich  diejenigen  Eigen thümlichk eiten  ausbilden,  die  wir  bei  der 
grossen  Zahl  endgültig  ungeheilter  Fälle  im  Vordergründe  stehen 
sehen.  Dahin  gehören  einmal  der  Verlust  der  gemüthlichen  Regsam- 
keit bei  erhaltener  Auffassungsfähigkeit,  ferner  die  feststehenden 
Manieren  und  Stereotypen,  endlich  die  periodischen  unvermittelten 
Verstimmungen  und  Erregungen.  Es  ist  natürlich  vor  der  Hand 
nur  eine  Vermuthung,  dass  die  Entwicklung  dieser  und  vielleicht 
noch  mancher  anderer  Zeichen  die  Ausbildung  eines  unheilbaren 
Endzustandes  bedeutet,  doch  scheinen  mir  viele  Erfahrungen  dafür 
zu  sprechen;  eine  sehr  grosse  Anzahl  unter  diesem  Gesichtspunkte 
planmässig  fortgesetzter  Beobachtungen  wird  uns  allmählich  darüber 
Klarheit  bringen. 

Freilich  ist  es  nicht  immer  leicht,  sich  über  das  Bestehen  jener 
Zeichen  selbst  volle  Sicherheit  zu  verschaffen.  Gleichgültigkeit 
gegenüber  den  Vorgängen  in  der  Umgebung  kann  auch  durch 
Negativismus  oder  durch  Benommenheit  vorgetäuscht  werden.  Erst 
dann,  wenn  die  Kranken  trotz  völliger  Besonnenheit  und  ohue 
Zeichen  des  Negativismus  gar  keine  Theilnahme  mehr  für  ihre  Mit- 
kranken, ihre  Angehörigen  und  ihren  Beruf  zeigen,  dürfen  wir  auf 
eine  wirkliche  Vernichtung  der  gemüthlichen  Regsamkeit  schliessen. 
Ebenso  werden  nur  die  wirklich  lange  Zeit  festgehaltenen  und 
völlig  erstarrten  Stereotypen  und  endlich  nur  diejenigen  Verstim- 


Katatonische  Formen. 


181 


mungen  und  Erregungen  für  die  Beurtheilung  der  Heilungsaussichten 
zu  verwerthen  sein,  die  in  einigermassen  regelmässigen  Zwischen- 
zeiten plötzlich  auftauchen  und  nach  ganz  kurzer  Dauer  ebenso 
wieder  verschwinden.  Auf  der  anderen  Seite  dürfte  das  Fort- 
bestehen eines  ausgesprochenen  Negativismus  mit  Stupor  selbst  nach 
sehr  langer  Zeit  die  Möglichkeit  einer  weitgehenden  Besserung  zu- 
lassen. Bei  sicher  ungeheilten  Fällen  pflegt  der  Negativismus  all- 
mählich nachzulassen;  dagegen  kennen  wir  Fälle,  in  denen  aus  dem 
negativistischen  Stupor  heraus  noch  nach  3,  5,  ja  8 Jahren  eine 
überraschende  Heilung  mit  Defect  erfolgte.  Ob  wir  freilich  in 
solchen  Fällen  mit  Wahrscheinlichkeiten  und  nicht  blos  mit  ent- 
fernten Möglichkeiten  rechnen  dürfen,  bedarf  noch  der  weiteren 
Erforschung. 

Eine  letzte  Verlaufsmöglichkeit  führt  die  Kranken  zum  Tode.  In 
einzelnen  Fällen  kommt  es  vor,  dass  dieselben  unter  den  Erscheinungen 
heftigster  Erregung  anscheinend  an  Erschöpfung,  auch  wol  in  Folge  von 
Verletzungen  oder  anderer  Zufälle,  zu  Grunde  gehen.  Weit  häufiger 
jedoch  ist  die  Entwicklung  der  Tuberculose  bei  den  regungslos  da- 
liegenden, nur  sehr  oberflächlich  athmenden  und  schwer  zu  pflegen- 
den Kranken.  Die  Sterblichkeit  wird  auf  diese  Weise  gerade  für  die 
verblödeten  Endzustände  der  Katatonie  eine  verhältnissmässig  grosse. 

In  einigen  Fällen,  die  unter  dem  Bilde  des  Delirium  acutum 
zu  Grunde  gingen  und  von  ihm  der  Katatonie  zugerechnet  werden, 
hat  Alzheimer  schwere  Veränderungen  an  den  Rindenzellen,  be- 
sonders der  tiefen  Schichten,  beschrieben.  Die  Kerne  erschienen 
hochgradig  aufgebläht,  die  Kernmembran  stark  gefaltet,  der  Zellleib 
bedeutend  geschrumpft  mit  Neigung  zum  Zerfall.  In  der  Glia  liess 
sich  krankhafte  Neubildung  von  Fasern  feststellen,  welche  die  Zellen 
in  eigenthümlicher  Weise  „umklammerten“.  Nach  längerem  Krank- 
heitsverlaufe sah  Nissl  ausgedehnte  Veränderungen  an  den  Zellen, 
die  er  als  „körnigen  Zerfall“  kennzeichnet.  Anscheinend  war  auch 
eine  nicht  geringe  Zahl  von  Zellen  bereits  zu  Grunde  gegangen, 
doch  zeigte  sich  keinerlei  Schrumpfung  der  Rinde.  In  den  tieferen 
Schichten  fanden  sich  zahlreiche,  in  Rückbildung  begriffene,  mächtige 
Gliazellen,  wie  sie  unter  normalen  Verhältnissen  nur  im  Rinden- 
saume Vorkommen.  Ausserdem  war  die  Rinde  durchsetzt  von  eigen- 
tümlich blass  gefärbten,  sehr  grossen  Gliakernen,  die  vielfach  an 
die  erkrankten  Zellen  dicht  angelagert,  ja  in  dieselben  hineingedrängt 


182 


V.  Die  Dementia  praecox. 


erschienen,  nicht  nur  an  der  Basis,  wie  die  gewöhnlichen  Trabant- 
kerne, sondern  an  den  verschiedensten  Stellen.  Die  Figur  3 der 
Tafel  IV  zeigt  einen  derartigen  Kern  an  einer  zerfallenden  Zelle 
und  daneben  eine  Zelle  mit  gewöhnlichem  Trabantkern,  um  den 
Unterschied  beider  Bilder  deutlich  zu  machen.  Der  Befund  würde 
sich  recht  gut  mit  dem  von  Alzheimer  am  Gliabilde  gewonnenen 
Eindrücke  der  „Umklammerung“  decken.  — 

Paranoide  Formen.  Sowol  bei  der  Hebephrenie  wie  bei  der 
Katatonie  sind  ausgeprägte  Wahnbild ungen  überaus  häufig.  Während 
sie  aber  dort  in  der  Regel  nach  verhältnissmässig  kurzer  Zeit  wieder 
zu  verblassen  pflegen,  haben  wir  nunmehr  eine  Gruppe  von 
Krankheitsbildern  ins  Auge  zu  fassen,  bei  denen  neben  den  Er- 
scheinungen einer  rasch  sich  entwickelnden  geistigen 
Schwäche  unter  vollkommener  Erhaltung  der  Besonnen- 
heit Wahnvorstellungen  und  meist  auch  Sinnestäuschungen 
viele  Jahre  hindurch  die  hervorstechendste  Störung  bil- 
den. Man  rechnet  diese  Formen  daher  meist  zur  Verrücktheit;  sie 
scheinen  mir  jedoch  wegen  der  schnellen  Verblödung  mehr  dem 
Gebiete  der  Dementia  praecox  nahe  zu  stehen.  Dazu  kommt,  dass 
sie  nicht  selten  acut  beginnen  und  vielfach  einzelne  katatonische 
Zeichen  darbieten,  stuporöse  Zustände,  Erregung,  Manieren,  Wort- 
spielereien, Wortneubildungen,  Sprachverwirrtheit. 

Eine  erste  Gruppe  hierher  gehöriger  Fälle  habe  ich  als  De- 
mentia paranoides  beschrieben.  Es  handelt  sich  dabei  um  das 
dauernde  Bestehen  massenhafter,  zusammenhangsloser,  immerfort 
wechselnder  Verfolgungs-  und  Grössenideen  mit  leichter  Erregung. 
Das  Leiden  pflegt,  wie  die  übrigen  Formen  der  Dementia  praecox, 
mit  den  allgemeinen  Erscheinungen  einer  leichten  Verstimmung, 
Kopfschmerzen,  Mattigkeit,  Schlaflosigkeit,  Unlust  zur  Arbeit,  Reiz- 
barkeit, innerer  Unruhe  zu  beginnen.  Alsdann  werden  die  Kranken 
ziemlich  plötzlich  erregt,  ängstlich,  verstört,  beten  viel,  führen  eigen- 
tümliche Reden  und  entwickeln  unversehens  eine  Menge  von  Wahn- 
ideen. Der  Kranke  meint,  dass  man  ihn  überall  scharf  beobachte, 
sonderbare  Fragen  an  ihn  richte,  gegen  ihn  intriguire,  ihn  ver- 
giften wolle,  alle  seine  Gedanken  offenkundig  mache.  Ungemein 
rasch  gewinnen  diese  Vorstellungen  einen  durchaus  abenteuerlichen 
Inhalt.  Ein  junger  Offizier  erzählte  schon  wenige  Monate,  nachdem 
die  ersten  Veränderungen  bei  ihm  wahrgenommen  waren,  sein  Arzt 


Paranoide  Formen. 


183 


habe  ihm  den  Kopf  abgeschnitten,  den  Leib  geöffnet,  die  Gedärme 
herausgenommen;  er  habe  einen  Pferdefuss  bekommen.  Nachts 
werden  mephitische  Dämpfe  ins  Zimmer  gelassen,  Schröpfköpfe  an- 
gesetzt, Einspritzungen  vorgenommen,  die  Muttergefühle  heraus- 
gedreht, die  Nerven  ausgerissen;  der  Leib  wird  bis  in  den  Hals 
hinein  durchsucht,  am  After  gezupft,  das  Blut  ausgedörrt,  das  Eleisch 
vom  Körper  abgemacht,  die  Gedanken  gelesen,  das  Gesicht  verzerrt 
und  heimlich  photographirt;  es  wird  Magie  und  Sympathie  ange- 
wandt. Der  Kranke  wird  in  den  Kamin  eingemauert,  von  der  Fabrik, 
von  der  Kirche  mit  einem  Rad  lebendig  herausgeschmissen,  von 
boshaften  Menschen  abgemartert.  Das  Yieh  frisst  nicht  mehr  wie 
früher,  ist  verhext;  der  Mann  ist  verändert,  hat  keinen  rechten  Glauben 
mehr;  in  den  Speisen  ist  Gift.  Alles  ist  umgewendet  und  Blend- 
werk; das  „Bleichbuch“  ist  aufgemacht;  das  Weitende  steht  vor  der 
Thür;  der  Pfarrer  ist  todtgeschlagen  und  eingegraben  worden. 

Zugleich  treten  meistens  Gehörstäuschungen  auf.  Alle 
schwätzen  aus  der  Wand;  durch  das  Telephon  wird  das  ganze  Land 
aufgemacht;  es  sind  Männer  im  Hause;  es  ist  eine  Listigkeit  und 
Heimlichkeit  hinter  dem  Kranken;  er  ist  in  ganz  Deutschland  als 
Spion  bekannt  gemacht.  Seltener  sind  Gesichtstäuschungen,  das 
Sehen  von  Gespenstern,  blutigen  Männerköpfen,  baumelnden  Leichen. 

Gewöhnlich  bemächtigt  sich  des  Kranken  nunmehr  eine  gewisse 
Erregung.  Er  wird  ängstlich,  aufbrausend,  streitsüchtig,  lacht,  weint 
und  singt  durcheinander.  Dabei  pflegt  die  Orientirung  nicht  ver- 
loren zu  gehen.  Dennoch  kommt  es  oft  genug  zu  den  unnatürlichsten 
und  folgenschwersten  Handlungen,  zu  Selbstmord,  gefährlichen  An- 
griffen und  Brandstiftung.  Eine  meiner  Kranken  brachte  ihren 
Kindern  schwere  Verletzungen  bei,  um  ihnen  durch  den  Tod  das 
nach  ihrer  Meinung  gefährdete  Seelenheil  zu  verschaffen.  Eine  andere 
erschlug  fast  ihren  ruhig  schlummernden  Mann,  um  ihn  von  seinen 
Leiden  zu  erlösen,  da  ihr  der  Gedanke  kam,  er  liege  im  Sterben; 
später  griff  sie  Nachts  die  Wärterinnen  an,  weil  sie  ihr  mit  der 
Wachuhr  die  Eingeweide  aus  dem  Leibe  rissen. 

In  der  Regel  dauert  diese  einleitende  traurige  oder  ängstliche 
Verstimmung  nicht  sehr  lange.  Vielmehr  tritt  meist  sehr  bald  eine 
expansive  Färbung  der  Stimmung  wie  der  Wahnideen  immer 
stärker  hervor.  Die  Kranken  werden  heiter,  überschwänglich,  ge- 
schwätzig, bezeichnen  sich  als  Freifrau,  Kaiserin,  Stellvertreterin  der 


184 


V.  Die  Dementia  praecox. 


Jungfrau  Maria,  sind  mit  dem  Weltkaiser  schwanger,  verlangen, 
Majestät  angeredet  zu  werden. 

In  einer  Anzahl  von  Fällen  beginnt  nun  die  unaufhaltsame  Ent- 
wicklung des  blühendsten  und  unsinnigsten  Grössenwahnes  ohne 
Maass  und  Ziel.  Der  Kranke  ist  vertauschtes  Kind,  Graf  Eberstein, 
Monarch,  Maria  Theresia,  nach  der  Weltordnung  Kaiserin  von  Frank- 
furt, Ideal  der  Frauenwelt,  allerheiligste  Göttin,  Präsident  von 
Amerika  aus  Hamburg,  Pius  IX.  und  Leo  XIII.  in  einer  Person, 
ist  Jesasus  Christasusaesus  Heilandasus,  „Sinngott“,  Arzt.  Dichter, 
Entdecker,  Universalgenie,  Perle  und  Inbegriff  des  Weltalls:  er  weiss 
alles,  kann  alles,  gebietet  über  alles.  Er  stammt  vom  Herzog  von 
Brabant,  von  den  Propheten  ab,  dem  ersten  Abglanz  der  Sonne, 
ist  gar  nicht  auf  natürliche  Weise  zur  Welt  gekommen,  wurde  im 
Amazonenstrom  aufgefischt,  aus  Blut  und  Speichel  zusammengerieben, 
hat  schon  viele  Male  gelebt,  die  fabelhaftesten  Dinge  durchgemacht, 
alle  historischen  Begebenheiten  geleitet,  alle  Kriege  geführt,  ist  durch 
Himmel  und  Hölle  geflogen;  er  war  selber  Alexander  und  Cäsar, 
Muhamed  und  Luther,  Goethe  und  Humboldt.  Zehnmal  wurde  er 
geboren,  ist  50  mal  gestorben,  immer  durch  Aufsetzen  eines  frischen 
Schädels  wieder  neu  belebt,  durch  Gypsverbände  klein  gezogen 
worden;  er  hat  die  schönsten  Weiber,  unzählige  Kinder,  be- 
sitzt die  Afrikanermethode  des  Lebens;  da  kann  man  gar  nicht 
sterben. 

Das  Beich  Gottes  ist  auf  ihn  herniedergekommen,  sein  Gedächt- 
niss  bis  in  die  Wolken  ausgebildet  worden;  durch  ihn  werden  die 
Jahrhunderte  belohnt  und  Deutschland  befreit.  Der  liebe  Gott  hat 
ihm  alles  gezeigt;  er  kann  Yulkane  essen,  trägt  sein  Gehirn  auf 
der  Schulter,  hat  sich  unserm  Herrgott  als  Wildsau  zur  Verfügung 
gestellt.  Er  besitzt  die  prachtvollsten  Schlösser  in  fremden  Welt- 
theilen  mit  selbsterfundenen  wunderbaren  Namen,  wo  er  von  Geistern 
bedient  wird,  grossartige  Ländereien  auf  der  Sonne,  auf  den  Sternen, 
ein  unermessliches  Vermögen;  er  wird  die  Prinzessin  heirathen,  den 
Glaubenskampf  durchkämpfen,  die  Welt  erlösen  auf  Krieg,  als  oberste 
Herrin  eingesetzt  werden,  ist  Braut  des  Kaisers  Augustus,  als  fran- 
zösischer Fahnenträger  aufgestellt,  weiss,  was  die  Fahnen  bedeuten, 
die  von  der  Gedächtnisskrönung  auf  ihn  Bezug  haben;  es  ist  ein 
Wunder,  wie  es  nicht  mehr  in  dem  Jahrhundert  vorkommt. 

Entsprechend  diesem  ungeheuerlichen,  vielfach  wechselnden  und 


Paranoide  Formen. 


185 


an  die  Dementia  paralytica  erinnernden  Grössenwahn  gestalten  sich 
auch  die  nebenher  laufenden  Verfolgungsideen,  die  jetzt  meist  mit 
lachendem,  strahlendem  Gesichte  vorgebracht  werden.  Entsetzliche 
Kämpfe  hat  der  Kranke  schon  mit  feindlichen  Mächten  zu  bestehen 
gehabt  von  Anbeginn  der  Welt;  2000  mal  ist  er  vergiftet,  mit 
Höllenmaschinen  in  die  Luft  gesprengt,  auf  den  Geist  getödtet  worden ; 
unzählige  Geschosse  haben  seinen  Leib  durchbohrt.  Seine  Glieder 
sind  ihm  abgehauen,  der  Kopf  vom  Rumpfe  getrennt  worden;  der 
ganze  Leib  wurde  eingeschmolzen,  die  Genitalien  verstümmelt,  aber 
wie  der  Phönix  aus  der  Asche  hat  sich  der  Kranke  aus  allen  diesen 
Unfällen  triumphirend  wieder  erhoben,  seinen  Körper  selbst  neu  aus 
unzerstörbarem  Stoffe  Aviederhergestellt  und  seine  Widersacher  zer- 
schmettert. In  der  Regel  lassen  sich  diese  Wahnvorstellungen  durch 
Zureden  in  beliebiger  Weise  beeinflussen  und  durch  Einwendungen 
zu  immer  uugeheuerlicheren  Gestaltungen  steigern.  Vielfach  giebt 
der  Lesestoff  den  Anstoss  zu  neuen  Erfindungen. 

Auch  der  Inhalt  der  Sinnestäuschungen  nimmt  an  der  Wand- 
lung des  Krankheitsbildes  Theil.  Engel  steigen  vom  Himmel  herab; 
der  liebe  Gott,  Kaiser  Wilhelm  in  Galauniform  erscheint  den  Kranken, 
von  Fahnen  und  Sternen  umgeben.  Sie  sprechen  alle  Tage  mit  dem 
lieben  Gott,  werden  nach  Befehl  vom  Telegraphen  zum  Jesus  Christus 
von  Oesterreich  ernannt;  die  Herzensstimme  spricht  von  Macht  und 
Reichthum;  die  Ohrenstimme  sagt  Gönnersprüche.  In  der  Nacht,  im 
Traume  unternehmen  sie  wunderbare  Reisen  über  die  ganze  Erde, 
auf  herrlichen  Schiffen,  in  die  schönsten  Marmorsäle,  ja  durch  das 
Weltall,  zum  Erdtheil  hinter  dem  Monde,  haben  nächtlichen  Umgang 
mit  Prinzessinnen.  „Ich  bin  weit  draussen,  wenn  ich  gleich  in  der 
Irrenanstalt  bin,1'  sagte  mir  ein  Kranker,  „und  habe  nicht  nöthig, 
Selbstbefriedigung  zu  treiben.“ 

All  dieser  sinnlose  Gallimathias  wird  von  dem  Kranken  in  ge- 
läufiger Rede  vorgebracht,  oft  auch  in  bogenlangen,  nur  in  grossen 
Zügen  verständlichen  Aufzeichnungen  niedergeschrieben.  Meist  ist 
es  schwierig,  dem  einmal  entfesselten  Redeströme  Einhalt  zu  thun. 
Gleichwol  besteht  kein  eigentlicher  Rededrang  und  keine  Ideenflucht; 
der  Kranke  schweift  nicht  planlos  ab,  hält  an  seinem  bestimmten 
Gedankengange  fest,  spricht  auch  meist  nicht  ohne  Anlass  und  ohne 
Zuhörer.  Bei  längerer  Bekanntschaft  mit  ihm  bemerkt  man,  dass 
gewisse  Wendungen  und  Vorstellungen  häufig  wiederkehren,  nament- 


186 


V.  Die  Dementia  praecox. 


lieh  wenn  die  anfängliche  Fruchtbarkeit  der  Erfindung  allmählich 
nachlässt. 

Jeder  Hinweis  auf  die  völlige  Ungereimtheit  und  Zusammen- 
hangslosigkeit der  von  ihm  geäusserten  Ideen  prallt  an  dem  Kranken 
machtlos  ab,  vermag  ihn  höchstens  in  gereizte,  ärgerliche  Stimmung 
zu  versetzen.  Trotzdem  laufen  häufig  Aeusserungen  mit  unter,  die 
auf  ein  gewisses  Krankheitsgefühl  hinzudeuten  scheinen.  „Es  kann 
schon  sein,  dass  ich  geisteskrank  bin,“  sagte  mir  ein  Kranker:  „ich 
weiss  eben  so  gar  nichts  mehr  von  mir.“  Ein  anderer  erzählte,  wie 
er  im  Beginne  der  Krankheit  „einen  Ruck  im  Gedächtniss“  verspürt 
habe.  „Die  Uebernahme  ist  durch  die  Kopfkrankheit  und  das  an- 
gespannte Gedächtuiss  erfolgt“;  „Sie  haben  ja  gar  keine  Ahnung, 
wie  viel  in  meinem  Kopf  vorgeht;  ich  meine  oft,  er  müsste  mir 
zerspringen.“ 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  in  einzelnen  Fällen  ziemlich 
klar,  meist  aber  etwas  getrübt,  namentlich  nach  längerer  Dauer  des 
Leidens.  Sie  wissen  zwar,  wo  sie  sich  befinden,  fassen  einfache 
Anreden  auf  und  geben  über  ihre  persönlichen  Verhältnisse  auf 
eindringliche  Fragen  richtige,  wenn  auch  mit  unsinnigen  Zusätzen 
verbrämte  Antworten.  Ihre  nächsten  Angehörigen  erkennen  sie 

regelmässig,  bisweilen  auch  einzelne  Personen  ihrer  späteren  Um- 
gebung. Fast  überall  jedoch  besteht  die  Neigung,  Fremde  mit 
irgend  welchen  historischen  oder  selbsterfundeuen  Namen  zu  be- 
legen oder  sie  mit  früheren  Bekannten  zu  identificiren.  Die  Aerzte 
sind  verkappte  hohe  Staatsbeamte,  die  Mitkranken  der  Kronprinz, 
Makart,  Richard  Wagner;  ein  neu  eintretender  Kranker  wird  als 
hoher  Potentat  begrüsst.  Die  Auffassung  der  wirklichen  Personen 
ist  in  manchen  Fällen  eine  ganz  unklare  und  verschwommene;  eine 
meiner  Kranken  fragte  noch  nach  jahrelangem  Anstaltsaufenthalte 
den  ein  tretenden  Arzt  regelmässig:  „War  der  Herr  schon  ein- 

mal da?“ 

Bisweilen  erscheint  dem  Kranken  jede  neue  Person  als  alter 
Bekannter,  nicht  weil  er  sie  einfach  verkennt,  sondern  weil  sich  an 
den  neuen  Eindruck  eine  Menge  von  Erinnerungsfälschungen 
anschliessen.  Ihm  fällt  sofort  ein,  dass  er  mit  dem  betreffenden 
Herrn  früher  schon  Jahre  lang  zusammen  gelebt,  mit  ihm  auf  dem 
Monde  gejagt  hat,  von  ihm  geköpft  worden  ist.  Diese  Art  der 
Personenverkennung  ist  offenbar  nur  eine  Theilerscheinung  der  hier 


Paranoide  Formen. 


187 


bestehenden  Neigung  zu  traumhaft  üppiger,  zügellos  freier  Er- 
findung. 

Der  Verstand  der  Kranken  leidet  stets  rasch  und  sehr  be- 
trächtlich. Zwar  haften  im  Anfänge  manche  der  früher  erworbenen 
Kenntnisse  noch  leidlich  gut,  aber  sehr  bald  geht  die  Fähigkeit  zu 
geordneten  und  ausdauernden  geistigen  Leistungen  mehr  und  mehr 
verloren.  Die  Kranken  vermögen  längeren  Auseinandersetzungen 
nicht  mehr  zu  folgen  und  mischen  in  ihre  mündlichen  und 
schriftlichen  Aeusserungen  sogleich  ihre  verworrenen,  wahnhaften 
Abschweifungen. 

Die  Stimmung  ist  regelmässig  eine  gehobene.  Die  Kranken 
sind  sehr  selbstbewusst,  hochfahrend,  anspruchsvoll,  betrachten  sich 
als  die  Hauptpersonen,  verlangen  besondere  Berücksichtigung,  haben 
Eigenheiten  in  der  Auswahl  der  Speisen.  Manche  Kranke  zeigen 
dauernd  eine  gewisse  Unruhe  und  grosse  gemiithliche  Reizbarkeit. 
Sie  gehen  hastig  auf  und  ab,  poltern  des  Nachts  mit  ihren  Möbeln, 
kleiden  sich  unanständig,  zerkratzen  sich,  schwatzen  viel,  haben 
Neigung  zum  Schimpfen  und  zu  gewaltthätigen  Handlungen  bei 
geringfügigem  Anlass.  Zeitweise  kann  es  zu  blinden  Wuthausbrüchen 
von  ausserordentlicher  Heftigkeit  kommen,  namentlich  im  Zusammen- 
hänge mit  den  Menses.  Lebhafte  geschlechtliche  Erregbarkeit  ist 
sehr  häufig. 

In  anderen  Fällen  ist  das  Benehmen  der  Kranken  geordneter, 
so  dass  sie  sogar  zu  allerlei  mechanischen  Beschäftigungen  heran- 
zuziehen sind,  doch  pflegen  sie  dabei  sehr  launisch  und  wetter- 
wendisch zu  sein.  Ihre  Sprache  wird  nach  und  nach  dunkel  und 
schwer  verständlich,  namentlich  durch  das  Einmischen  selbsterfundener 
Ausdrücke  und  Wendungen,  die  sich  allmählich  zu  befestigen  und 
häufig  zu  wiederholen  pflegen.  Ein  solcher  Kranker  gab  als  seine 
Adresse  an:  „Aewa  owa  Ouwou  Aewouwio  sanco  to  totosaak  saakiou 
sahaia  siri  tou  toutou.  Hoch  Waiowauoxyowiiiowäüoxyoohoeho  hächi 
hihi11.  Es  war  der  Name  seines  Schlosses.  Bisweilen  kommt  es  zu 
einer  absonderlichen  Häufung  von  Superlativen,  indem  die  Kranken 
mit  Aufgebot  aller  sprachlichen  Hülfsmittel  ihre  allerherrlichsten 
geistigen  Vorzüge  wie  die  allergrässlichsten  Martertode  zu  schildern 
suchen,  die  sie  täglich  und  stündlich  zu  erleiden  haben.  Auch  die 
Schriftzüge  werden  verschnörkelt,  gross,  anspruchsvoll,  so  dass 
schliesslich  unter  Umständen  wenige  Buchstaben  oder  Worte  die 


188 


V.  Die  Dementia  praecox. 


Bogenseite  füllen.  Auf  diese  Weise  entstehen  dann  gewaltige  Bündel 
von  Eingaben,  Aufrufen,  Erlassen,  in  denen  der  Kranke  unter  zahl- 
losen Wiederholungen  seine  verworrenen  Grössen-  und  Verfolgungs- 
ideen niederlegt. 

Auffallendere  körperliche  Störungen  sind  gewöhnlich  bei  den 
Kranken  nicht  zu  bemerken;  nur  konnte  ich  einige  Male  eine  sehr 
bedeutende  Erhöhung  der  vasomotorischen  Erregbarkeit  beobachten, 
heftigstes  Erröthen  oder  Erblassen  bei  den  leisesten  Gemüths- 
schwankungen,  schon  beim  einfachen  Sprechen.  Der  Appetit  kann 
wol  während  der  ersten  Zeit  in  Folge  von  Yergiftungsideen  leiden, 
ist  aber  später  meist  vortrefflich.  Der  Schlaf  wird  zeitweise  durch 
nächtliche  Unruhe  gestört.  Das  Körpergewicht  zeigt  nur  unregel- 
mässige Schwankungen;  meist  gewinnen  die  Kranken  sehr  bald  ein 
blühendes  Aussehen. 

Der  Ausgang  der  Dementia  paranoides  ist  die  schwachsinnige 
Verwirrtheit.  Die  Kranken  bleiben  dauernd  besonnen  und  orientirt, 
aber  ihre  weitschweifigen  Beden  werden  allmählich  zu  völlig  zu- 
sammenhangslosem Gefasel,  in  welchem  für  den  Kundigen  die  Reste 
der  früheren  Verfolgungs-  und  Grössenideen  noch  erkennbar  sind. 
Die  Stimmung  zeigt  selbstbewusste  Heiterkeit  mit  zeitweiser  Reizbar- 
keit; das  ganze  Thun  und  Treiben  wird  zerfahren  und  planlos. 

Die  Schnelligkeit,  mit  welcher  diese  Verblödung  zu  Stande  kommt, 
ist  nicht  immer  die  gleiche,  ln  manchen  Fällen  wird  man  schon 
nach  wenigen  Monaten  von  den  deutlichen  Zeichen  der  geistigen 
Schwäche  überrascht,  während  bei  anderen  Kranken  selbst  1 bis 
2 Jahre  vergehen  können,  bevor  die  Gleichgültigkeit,  mit  welcher 
die  ungeheuerlichsten  Wahnvorstellungen  vorgebracht  und  fest- 
gehalten werden,  den  endgültigen  Zusammenbruch  der  Urtheils- 
fähigkeit  klarstellt.  Nicht  selten  beobachten  wir  einen  Verlauf  in 
einzelnen  Schüben.  Rasch  vorübergehende  Depressionszustände  oder 
Erregungen  mit  Grössenideen  können  dem  eigentlichen  Ausbruche 
der  Krankheit  schon  mehrere  oder  selbst  viele  Jahre  voraufgehen. 
Auch  späterhin  kommen  Zeiten  vor,  in  denen  die  Kranken  ihre 
Wahnvorstellungen  verleugnen  und  als  „Dummheiten“  bezeichnen, 
freilich  ohne  klares  Krankheitsverständniss. 

Die  zweite  Gruppe  von  Krankheitsbildern,  die  ich  geneigt  bin, 
vorläufig  an  dieser  Stelle  einzufügen,  ist  dadurch  gekennzeichnet, 
dass  abenteuerliche  Wahnvorstellungen,  meist  von  zahlreichen 


Paranoide  Formen. 


189 


Sinnestäuschungen  begleitet,  sich  in  mehr  zusammenhängender 
Weise  entwickeln  und  eine  Reihe  von  Jahren  festgehalten 
werden,  um  dann  entweder  wieder  zu  verschwinden  oder 
völlig  verworren  zu  werden.  Bisher  habe  ich  diese  Formen 
als  phantastische  Verrücktheit  der  Paranoia  zugerechnet,  wie  das 
allgemein  zu  geschehen  pflegt.  Allmählich  jedoch  ist  es  mir  immer 
deutlicher  geworden,  dass  sie  der  Dementia  praecox  jedenfalls  näher 
verwandt  sind,  als  der  Paranoia.  Ob  es  sich  dabei  wirklich  nur  um 
eine  klinische  Spielart  jener  ersteren  Krankheit  oder  um  ein  eigen- 
artiges Leiden  handelt,  wird  die  Zukunft  zu  entscheiden  haben. 

Die  Krankheit  beginnt  auch  hier  zumeist  mit  mehr  oder  weniger 
ausgeprägter  trauriger  Verstimmung  und  allmählich  sich  einstellenden 
depressiven  Wahnvorstellungen.  Der  Kranke  fühlt  sich-  unglücklich, 
vereinsamt,  macht  sich  allerlei  Vorwürfe,  dass  er  durch  Selbst- 
befleckung Körper  und  Geist  für  immer  ruinirt,  fremdes  Eigenthum 
unrechtmässig  für  sich  behalten  habe,  hängt  viel  religiösen  Grübe- 
leien nach,  betet  fleissig,  singt  Kirchenlieder  und  trägt  sich  mit 
Todesgedanken,  um  grosses  Unglück  zu  verhüten.  Er  wird  äusserst 
argwöhnisch  und  misstrauisch,  merkt,  dass  seine  Umgebung  ihm 
feindlich  gesinnt  ist,  macht  überall  seine  „stillen  Beobachtungen“. 
Man  hustet  auffällig  hinter  seinem  Rücken,  streckt  ihm  die  Zunge 
heraus,  ist  ihm  aufsässig,  thut  ihm  alles  zum  Spott,  stellt  verfäng- 
liche Fragen  an  ihn.  In  den  Zeitungen  wird  er  „herumgeschmiert“, 
in  Flugschriften  blosgestellt;  Theaterstücke  enthalten  Verhöhnungen 
seiner  Person;  die  Reden  Vorübergehender  sind  auf  ihn  gemünzt. 
Die  Kinder  auf  der  Strasse  pfeifen  und  singen  ihm  zum  Schabernack; 
die  Nachbarn  foppen  ihn  mit  Geberden  und  Anspielungen.  Irgend 
ein  Mensch  trägt  seine  grosse  Nase,  sein  rothes  Gesicht  nur  zur 
Schau,  um  ihn  zu  ärgern;  ein  zufällig  Vorübergehender  scheint  einen 
lebensgefährlichen  Angriff  zu  planen.  Die  Frau  ist  dem  Kranken  un- 
treu, empfängt  ihn  anders  als  früher,  schrickt  bei  seiner  Heimkehr 
zusammen,  plaudert  im  Schlafe  ihr  Vergehen  aus;  er  fühlt  es  in 
seinem  Herzen,  dass  sie  es  mit  anderen  Männern  hält.  Massenhafte 
„vermuthende  Gedanken“,  Ahnungen,  Eingebungen  steigen  auf.  Der 
Kranke  muss  sein  ganzes  früheres  Leben  durchdenken,  „in  vier 
Stunden  19  Jahre  durch  sein  Gehirn  durchschlagen“;  er  müsste  ein 
Buch  schreiben,  wenn  er  alles  aufzeichnen  wollte,  was  ihm  in  den 
Kopf  kommt. 


190 


V.  Die  Dementia  praecox. 


In  der  Regel  stellen  sich  nunmehr  auch  wirkliche  Gehörs- 
täuschungen ein,  mit  denen  die  Krankheit  bisweilen  überhaupt 
ziemlich  plötzlich  einsetzt,  Telephonstimmen,  Signale  aus  der  Luft 
durch  den  Sprachschalter.  Alle  schmähen  und  bedrohen  ihn:  „Der 
hat  gestohlen,  seinen  Meister  verschwätzt,  muss  per  Schub  heim, 
wird  hingerichtet;  die  Haussuchung  wird’s  erweisen;  da  wird  die 
Frau  schön  gucken;  Dir  wird’s  gemacht,  Du  bist  ein  Lausbub“.  Er 
soll  zum  Scharfrichter  geführt  werden,  den  Tod  durch  eine  Loko- 
motive finden;  das  Gift  ist  schon  im  Glas;  er  hat’s  schon;  „wenn 
er  wüsste,  dass  ich  da  wäre“,  ruft  eine  fremde  Mannesstimme.  Bei 
weiblichen  Kranken  ist  es  namentlich  die  Geschlechtsehre,  gegen 
welche  sich  die  „Verfolgung“  richtet;  „die  hat  vier  Kinder,  ist  ein 
Mensch,  eine  Hure,  schwanger,  angesteckt,  radical  caput  gemacht, 
hat  ihr  Kind  umgebracht“. 

Bisweilen  sind  diese  Täuschungen  so  deutlich,  laute  Zurufe, 
dass  der  Kranke  sie  wörtlich  wiedergeben  kann  und  sie  als  gewöhn- 
liche Sinneswahrnehmungen  betrachtet,  sogar  genau  die  Stimmen  zu 
erkennen  vermag.  Die  Verfolger  sitzen  dann  im  Keller,  in  den 
Wänden,  im  Nebenzimmer,  auf  dem  Dachboden  („Deckenläufer1, 
„Hinterwändner“),  martern  seine  Angehörigen,  so  dass  ihr  Jammern 
zu  ihm  herüberschallt.  In  anderen  Fällen  handelt  es  sich  um  leises 
Lispeln  und  Wispern,  um  „Einflüsterungen“,  deren  Inhalt  nur  ganz 
im  allgemeinen  aufgefasst  wird.  Auch  aus  dem  Schreien  der  Thiere, 
dem  Pfeifen  der  Eisenbahn  hört  er  bestimmte  Schimpfworte  heraus; 
er  weiss  es  „aus  dem  Glockenton“,  dass  man  ihm  nachstellt. 

In  der  Nacht  werden  ihm  Bilder  vorgemacht,  um  ihn  zu  ärgern; 
das  Essen  zeigt  bisweilen  einen  sonderbaren  Geschmack  oder  Geruch, 
„nach  todten  Menschen“;  im  Kaffee  ist  Urin  oder  Phosphor,  Ricinusöl 
in  der  Bouillon.  Er  spürt  nach  der  Mahlzeit  Bauchweh,  Aufge- 
triebensein, Jucken  am  ganzen  Körper.  Nachts  ist  ein  schwefel- 
artiger Dampf  im  Zimmer;  die  Bettstelle  erscheint  heiss,  wie  wenn 
elektrisirt  würde;  er  empfindet  Geräusche  im  Kopf,  wie  von  einem 
Uhrwerk,  einem  Mühlrad.  Schmerzen  bei  der  Menstruation  deuten 
auf  Entjungferung  in  Chloroformnarkose  hin.  Einzelne  Sachen  ver- 
schwinden auf  geheimnissvolle  Weise  oder  finden  sich  verschoben, 
an  andere  Stellen  gelegt;  die  Kleider  weisen  unerklärliche  Löcher, 
Flecken,  Abnutzungszeichen  auf;  das  Gesicht  erscheint  im  Spiegel 
# verzerrt,  gedunsen,  die  Personen  oder  Gegenstände  der  Umgebung 


Paranoide  Formen. 


191 


zeitweise  ganz  auffallend  verändert;  sie  werden  vertauscht,  um  ihn 
zu  verwirren;  die  eingehenden  Briefe  sind  gefälscht;  man  bringt 
immer  neue  Menschen  herbei.  Auch  die  Träume  haben  vielfach  eine 
geheime  Bedeutung;  es  wird  Sympathie  angewendet;  alles  ist  wie 
umgewechselt;  es  ist  ein  „nächtlich -religiöser,  geheimer,  meuchel- 
mörderischer Staatsbürgerkrieg“. 

Im  einzelnen  kann  sich  nun  die  weitere  Ausbildung  der  Wahn- 
ideen sehr  mannigfaltig  gestalten.  Ganz  besonders  häufig  pflegen 
die  Vorstellungen  einer  körperlichen  Beeinflussung  zu  sein, 
die  oft  in  überaus  abenteuerlicher  Weise  ausgemalt  werden  („physi- 
kalischer Verfolgungswahn“).  Zunächst  deuten  vielleicht  Schmerzen 
im  Rücken  und  in  den  Beinen,  Schwere  im  Körper,  Reissen  und 
Ziehen  im  Leibe  dem  Kranken  darauf  hin,  dass  die  Gesundheit  durch 
künstlich  angewandte  Mittel  geschädigt  ist;  im  natürlichen  Körper 
geht  so  etwas  nicht  vor.  Schwindelanfälle  treten  auf,  Durchzuckung 
im  Körper,  Schlaffheit  der  Glieder;  die  Kranken  fühlen,  wie  sie  in 
Betäubung  versetzt,  auf  den  Boden  gelegt  und  begattet  werden; 
nackte  Weiber  legen  sich  auf  sie  und  ziehen  ihnen  „die  Natur“  ab. 
Ein  gelegentliches  Bauchgrimmen  oder  eine  vorübergehende  Ein- 
genommenheit des  Kopfes  macht  es  klar,  dass  man  ihnen  Gift  in  die 
Speisen  gegeben  hat,  um  ihnen  auf  diese  Weise  die  Eingeweide  zu 
ruiniren  und  das  Gedächtniss  zu  schwächen;  das  Hirn  dreht  sich 
wie  in  Wickeln.  Man  regt  ihnen  die  Natur  auf,  verführt  sie  zur 
Onanie,  zieht  ihnen  die  Gedanken  aus  dem  Kopf,  sucht  sie  von  Tag 
zu  Tag  dümmer  zu  machen.  Bisweilen  suchen  sich  die  Kranken 
auch  von  den  Hülfsmitteln,  mit  denen  solche  Fernwirkungen  (Tele- 
pathie) erzeugt  werden,  genauere  Rechenschaft  zu  geben.  Nament- 
lich sind  es  magnetische  und  elektrische  Batterien,  mit  welchen  die 
Verfolger  arbeiten,  Lichtmaschinen,  grosse  Hohlspiegel  u.  dergl.,  von 
denen  einzelne  Kranke  nach  längerer  Bekanntschaft  mit  ihren 
Feinden  ausführliche  Zeichnungen  entwerfen.*)  Oder  aber  es  handelt 
sich  um  Zaubersprüche,  Sympathie,  Hypnotismus,  Röntgenstrahlen, 
je  nach  dem  Bildungsgrade  des  Kranken.  Einer  meiner  Kranken 
fühlte  sich  „in  öffentlicher  hypnotischer  Haft“,  trotz  anscheinender 
Freiheit  im  erweiterten  Käfig,  da  die  „Hypnotisten“  ihn  durch  die 
hypnotische  Augenkraft  vollständig  in  ihrer  Gewalt  hatten. 


*)  Haslam,  Erklärungen  der  Tollheit,  übersetzt  von  Wollny.  1889. 


192 


V.  Die  Dementia  praecox. 


So  verschiedenartig  die  Werkzeuge,  so  verschiedenartig  sind 
auch  die  Empfindungen,  über  welche  die  Kranken  sich  zu  beklagen 
haben.  Die  Haut  wird  ihnen  mit  zahllosen  Kugeln,  Nähnadeln  be- 
schossen, mit  feinem  Giftregen  besprüht;  an  den  verschiedensten 
Stellen  des  Körpers  werden  brennende,  stechende,  bohrende  Schmerzen 
erzeugt.  Im  Ohr  sitzt  ein  Magnet;  die  einzelnen  Glieder  werden 
gegen  den  Willen  des  Kranken  in  Bewegung  gesetzt;  namentlich 
die  Zunge  wird  gezogen,  um  Dinge  zu  reden,  die  ihm  verhasst  sind; 
es  wird  ihm  ein  Bäderwerk  in  die  Brust  gesetzt,  mittels  dessen  er 
von  den  Verfolgern  wie  eine  Gliederpuppe  gelenkt  wird.  Seine  Ein- 
geweide werden  ihm  zerstört  und  durcheinandergeworfen,  Schmutz 
in  sein  Essen,  in  sein  Blut  hineingeschüttet,  „Schweinemord“  auf  ihn 
verübt,  der  Darm  „aufgewickelt  und  in  Platten  abgelagert“,  „Seich- 
zauber getrieben“,  der  Stuhlgang  verhindert,  der  Athem  versetzt,  der 
Koth  ins  Hirn  gepumpt,  das  Geschlecht  „wagerecht  herausgezogen 
und  senkrecht  wieder  hineingesteckt“,  der  Samen  abgetrieben,  die 
Zähne  ausgeschlagen.  Meist  werden  diese  verschiedenartigen  Em- 
pfindungen mit  eigenen  Namen  belegt  und  ganz  genau  beschrieben, 
das  Fingerzucken,  Fleischschwellen,  Blutstillen  und  Blutfliessenlassen. 
Ereignissmachen,  Bombenbersten,  Hummerknacken  u.  s.  f. 

Ein  besonders  hinterlistiges  Verfahren  der  ebenfalls  oft  absonder- 
lich benannten  Verfolger  besteht  in  dem  „Abziehen“  der  Gedanken. 
Die  Kranken  merken,  dass  ihre  Gedanken  durch  feindliche  Einwir- 
kungen beliebig  gelenkt  (suggerirt)  werden  können  („Gedanken- 
sammeln“). Beim  Versuche,  zu  arbeiten,  werden  sie  plötzlich  „des- 
animirt“  und  müssen  dann  aufhören,  oder  es  kommen  ihnen  gute 
Gedanken,  die  aber  offenbar  nicht  ihre  eigenen,  sondern  eingegeben 
sind.  Beim  unwillkürlichen  Verschreiben  eines  Wortes  „waltet  die 
Wahrscheinlichkeit  der  Inspirirung  ob“;  es  kommt  „zu  criminellen 
Pressionen  und  Inquisitionen“;  ihnen  wird  die  Unterstellung  ge- 
macht, als  ob  sie  sich  einbildeten,  König  zu  sein. 

Sie  wissen  schliesslich  gar  nicht  mehr,  ob  sie  aus  sich  heraus 
denken  oder  „suggestirt“  werden.  Bisweilen  werden  die  Gedanken 
aogar  laut  (Doppeldenken),  besonders  beim  Lesen.  Die  Stimmen 
klappen  dabei  nach,  oder  sie  eilen  auch  wol  voraus:  „ich  kann 
schneller  lesen  als  Du!“  Die  Kranken  merken,  dass  ihre  Seele  offen, 
der  ganzen  Welt  zugänglich  ist;  Jedermann  kann  nach  Belieben  in 
derselben  lesen.  Andere  haben  die  Gabe,  den  Kranken  so  zu  durch- 


Paranoide  Formen. 


193 


schauen,  während  er  selbst  nur  als  , .echtes  Medium“  dienen  muss. 
Dieses  Gefühl  einer  erzwungenen,  ohnmächtigen  Abhängigkeit  von 
fremden  Einflüssen  verstrickt  den  Kranken  in  ein  unentwirrbares, 
wahnhaftes  Netz  der  quälendsten  Vorstellungen.  Einen  Einblick  in 
derartige  Gedankengänge  gewährt  folgendes  Bruchstück  eines  Briefes : 

„Ich  bin  in  entsetzlicher  Angst;  es  ist  die  grösste  Gefahr,  dass  mein  Leben 
mit  Schrecken  ein  Ende  nimmt,  weil  die  ganze  Anstalt  wie  ein  Uhrwerk  ein- 
gerichtet ist,  das  aber  nicht  von  Vernunft,  sondern  von  verrückten  Köpfen  in  den 
Zellen,  die  wie  Zahnräder  regulirt  werden,  geleitet  ist,  und  nicht  allein  die  Zellen 
sind  so  eingerichtet,  dass  man  sich  in  Haranguationen  wie  auf  einem  telegraphi- 
schen Nervenspinngewebe  hin-  und  herbewegen  muss,  auch  auf  den  Gängen  ist 
jeder  Quadratmeter  eine  Eintheilung,  die  irgend  woher  einen  Henkelmann  zu  Tage 
fördert,  sei  es  zur  Ansicht  oder  einen  Gewaltthätigen.  Dabei  werden  Dünste, 
Gluthwellen  in  den  Abtheilungen  entwickelt,  die  einen  schauderhaften  Grad  von 
Befangenheit  einerseits,  brutale,  fascinirende  Gewalt  und  Schnelligkeit  andererseits 
erzeugen;  dazu  besteht  ein  fortwährender  Klang  von  Medienklängen,  Vermittlungs- 
stimmen, die  in  grausamer  Weise  das  Gemüth  mit  Widersprüchen  perhorresciren . 
Es  ist  ganz  unbeschreiblich,  mit  welcher  bösen  Raffinirtheit  diese  Wechselgespräche 
geführt  werden,  die  unter  Zuhülfenahme  von  Influenzen  in  zersetzender  Weise 
meuchlerisch  von  Körper  zu  Körper  übertragen  werden  und  Zeugniss  davon  geben, 
dass  sogenannte  verrückte  Stationäre  in  Verbindung  mit  allerhand  Treibern  und 
Haranguirem  im  Leben  die  grausamsten  Verbrecher  sind,  die  es  giebt,  die  nur 
noch  übertroffen  werden  von  einer  anderen  Classe,  die  unter  Umständen  einen  er- 
fasst, ihn  mit  giftigen  Fingern  in  imbedenklicher  Weise  wie  eine  gefüllte  leblose 
Masse  in  einen  andern  Zustand  quetscht.  . . .“ 

In  manchen  Fällen  werden  die  Beeinflussungen  nicht  unmittel- 
bar wahrgenommen,  sondern  nur  die  durch  sie  herbeigeführten  Wir- 
kungen. Die  Feinde  kommen  hier  in  der  Nacht,  während  der  Kranke 
schläft,  entführen  ihn  und  treiben  nun  die  scheusslichsten  Dinge 
mit  ihm,  üben  Hirnbeeinflussungen  aus,  päderastiren  ihn,  stecken 
ihm  Sperma  und  Koth  in  den  Mund,  vertauschen  seine  Knochen. 
Leider  erwacht  er  dabei  nicht,  sondern  merkt  erst  am  andern  Morgen, 
dass  man  ihn  mit  ekelhaften  Dingen  angefüllt,  ihm  das  Gehirn  aus- 
geräumt, den  Hirnschaum  abgeschöpft,  die  Glieder  verrenkt  und 
verdorrt  hat.  Weibliche  Kranke  merken,  dass  sie  geschwängert, 
entbunden  wurden.  Die  Mannigfaltigkeit  und  die  Ungeheuerlichkeit 
dieser  Klagen  ist  eine  ausserordentliche. 

Eine  ganz  eigenartige  Ausbildung  gewinnt  der  physikalische  Ver- 
folgungswahn in  jenem  sittengeschichtlich  bedeutsamen  Krankheits- 
bilde, welches  man  als  „Besessenheitswahn“  bezeichnet.  Hier 
werden  die  Feinde,  welche  den  Kranken  quälen,  geradezu  in  den 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Anfl.  II.  Band.  13 


194 


V.  Die  Dementia  praecox. 


eigenen  Körper  hineinverlegt.  Der  oder  die  Verfolger  sitzen  nun 
in  den  Ohren  und  betäuben  den  Kranken  durch  ihr  gräuliches 
Schreien  und  Fluchen,  häufiger  aber  im  Unterleib,  steigen  bis  in 
den  Kopf  hinauf,  schnüren  dem  Kranken  die  Kehle  zu,  verdicken 
ihm  sein  Blut,  klappen  ihm  seinen  Schädel  auf,  zwingen  ihn  zu  den 
sonderbarsten  Handlungen  und  reden  ihm  aus  dem  Bauche  herauf 
gotteslästerliche  Dinge  vor.  Hier  kann  es  Vorkommen,  dass  sich 
dem  Feinde  im  eigenen  Leibe  eine  andere,  freundlich  gesinnte 
Macht  hinzugesellt,  welche  jenen  in  eine  Körperhälfte  hineindrängt 
und  lange,  erbitterte  Kämpfe  und  Zwiegespräche  mit  ihm  führt 
Während  die  Verfolger  bei  den  früher  geschilderten  Formen  zumeist 
als  eine  geheimnissvolle  Hotte  von  Nihilisten,  Freimaurern,  Social- 
demokraten gedacht  wurden,  so  pflegen  in  diesen  letzteren  Fällen 
mehr  religiöse  Vorstellungen  zur  Erklärung  herbeigezogen  zu  werden. 
Es  ist  eine  abgeschiedene  Seele,  der  Teufel,  ein  böser  Geist,  der 
von  dem  Leibe  des  Kranken  Besitz  genommen  hat,  und  dem  unter 
Umständen  der  liebe  Gott  oder  einer  der  Erzengel  siegreich  ent- 
gegentritt. Diese  eigen thümliche  Verdoppelung  der  Persönlichkeit 
erinnert  uns  an  jene  Träume,  in  denen  wir  ausgedehnte  Unterhal- 
tungen führen  und  oft  über  die  schlagenden  Beweisgründe  unseres 
Gegners  im  höchsten  Grade  überrascht  sind. 

In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  gesellen  sich  zu  den 
Beeinträchtigungsideen  mehr  oder  weniger  ausgeprägte  Grössen- 
ideen. Der  Kranke  hat  „bewunderungswürdig  gelitten“,  wird  noch 
Grosses  vollbringen,  ist  zu  Höherem  berufen,  hat  ein  zukünftiges 
besseres  Loos  zu  erwarten.  Manchmal  sind  es  lebhafte  Träume,  die 
ihn  erheben  und  für  alles  Ungemach  entschädigen.  In  diesen  „nächt- 
lichen geistigen  Verschleuderungen“  führt  ihn  die  Gewalt  Gottes  in 
fremde  Länder,  bringt  ihn  in  Verkehr,  auch  geschlechtlichen,  mit 
hohen  Personen  und  giebt  ihm  durch  mannigfache  Darstellungen 
aussichtsreiche  Verheissungen  für  die  Zukunft.  Häufiger  noch  kommt 
es  zu  einzelnen,  mit  klarem  Bewusstsein  aufgefassten  visionären  Er- 
lebnissen. Der  Kranke  erwacht  in  der  Nacht  mit  unbeschreiblichen 
Wonnegefühlen,  fühlt  sich  durchströmt  und  durchleuchtet  vom 
heiligen  Geiste.  Seine  Augen  werden  von  dem  Lichte  geblendet, 
welches  sein  Schlafzimmer  erfüllt;  ein  wunderbarer  Duft  strömt 
herein.  Er  sieht  Gott  in  Gestalt  eines  Sterns,  eine  bedeutungsvolle 
Figur  aus  Lichtpunkten,  eine  herrliche  Gestalt  in  köstlichem  Ge- 


Paranoide  Formen. 


195 


■wände,  die  Mutter  Gottes,  Engel  mit  goldenen  Flügeln,  welche  eine 
Königskrone  tragen,  das  Christkind,  welches  ihn  an  der  Hand  führt, 
ihm  die  Weltkugel  überreicht,  den  Kaiser  mit  einer  strahlenden 
Sonne.  Dabei  hört  er  eine  Stimme,  die  in  mehr  oder  weniger 
klaren  Ausdrücken  ihm  seine  hohe  Sendung  verkündet:  „Das  ist 
mein  lieber  Sohn,  an  dem  ich  Wohlgefallen  habe“,  „Dir  sind  Deine 
Sünden  vergeben“  und  dergl.  Bisweilen  wiederholen  sich  solche 
Erlebnisse  mehrmals  in  längeren  Zwischenräumen.  Auch  die  Sinnes- 
täuschungen gewinnen  vielfach  einen  angenehmen  Inhalt.  Gott  selbst 
spricht  zum  Kranken,  ernennt  ihn  zum  Kaiser  ßothbart,  schenkt 
ihm  riesige  Summen,  verheirathet  ihn  mit  einer  Prinzessin. 

Dazu  gesellen  sich  sehr  häufig  eigen thümliche  Wahrnehmungen 
nicht  sinnlicher  Natur,  die  als  „Gewissensstimmen“,  als  „innere 
Stimmen,  die  nicht  mit  Worten  sprechen“,  bezeichnet  werden.  Durch 
sie  erfährt  er,  dass  er  besonders  begnadet,  Christus  oder  Braut 
Christi,  ein  gewaltiger  Menschengeist  ist,  von  den  höchsten  Persön- 
lichkeiten geliebt,  alle  Kämpfe  siegreich  überstehen,  die  Bürgerkrone 
für  das  Land  erringen  werde.  Gerade  diese  Offenbarungen  pflegen 
für  ihn  eine  besonders  grosse  überzeugende  Kraft  zu  haben.  „Ich 
habe  unzählig  viele  und  gar  keine  Beweise,“  sagte  mir  eine  der- 
artige Kranke.  Ausserdem  werden  indessen  auch  wirkliche  Wahr- 
nehmungen einfach  von  dem  Kranken  im  Sinne  seiner  Ideen  ver- 
arbeitet. Zunächst  weiss  er  freilich  vielfach  noch  nicht,  was  alles 
bedeuten  soll,  ist  aber  sicher,  dass  es  ihm  später  klar  werden 
wird.  Ein  Besuch  aus  der  Hauptstadt  hängt  mit  seiner  Berufung 
auf  den  Thron  zusammen;  der  Geistliche  auf  der  Kanzel  legt  seine 
Sachen  aus;  in  den  Büchern  weist  alles  auf  ihn  hin.  Wenn  er 
betet,  so  strömt  fruchtbarer  Regen  herab,  oder  der  umwölkte  Himmel 
klärt  sich  plötzlich  auf,  sobald  er  auf  die  Strasse  tritt.  Erinnerungs- 
fälschungen erwecken  in  dem  Kranken  die  Vorstellung,  dass  ihm 
von  Gott  alles  im  voraus  verkündet  werde,  was  sich  ereignet. 

Während  der  Entwicklung  dieser  Wahnbildungen,  die  sich  in 
einigen  Monaten  oder  Jahren  zu  vollziehen  pflegt,  bleiben  die  Kranken 
besonnen,  orientirt  und  im  ganzen  geordnet.  Sie  sind,  namentlich  im 
Anfänge,  recht  wol  im  Stande,  ihre  Ideen  zusammenhängend  darzu- 
legen, zu  begründen,  Einwände  zu  bekämpfen;  es  ist  „Methode“  im 
Wahnsinn.  So  verlangte  ein  Kranker  als  Entschädigung  für  seine 
Gefangenhaltung  einfach  die  Civilliste  des  Königs,  indem  er  aus- 

13* 


196 


V.  Die  Dementia  praecox. 


führte,  dass  die  Verneinung  des  Rechtes  auch  nur  einem  einzigen 
Unterthanen  gegenüber  die  thatsächliche  Absetzung  des  Königs  als 
des  Hortes  der  Gerechtigkeit  bedeute;  er,  der  Geschädigte,  habe 
demnach  zu  fordern,  was  der  König  durch  Zulassen  des  Unrechts 
freiwillig  aufgebe.  Späterhin  aber  treten  immer  deutlicher  die 
Zeichen  der  geistigen  Schwäche  hervor.  Die  Wahnvorstellungen 
werden  unsinniger,  zusammenhangslos,  widerspruchsvoll,  bald  ein- 
förmig, bald  vielfach  wechselnd.  Der  Gedankengang  wird  ver- 
schroben, unklar,  verworren  und  schliesslich  nicht  selten  ganz  un- 
verständlich. Oefters  besteht  wenigstens  zeitweise  ein  gewisses 
Krankheitsgefühl;  die  Kranken  klagen,  dass  sie  verändert,  arbeits- 
unfähig, aufgeregt  seien.  Niemals  aber  besitzen  sie  das  geringste 
wirkliche  Verständniss  für  die  Krankhaftigkeit  ihrer  Wahnbildungen, 
auch  wenn  sie  einmal  auf  starkes  Drängen  zugeben,  dass  möglicher- 
weise Krankheit,  „Nervosität“,  mitspielen  könne.  „Mich  mit  dem 
Irrenhause  in  einem  Wort  zu  nennen,  ist  geradezu  eine  quadratische 
Verkehrtheit“,  schrieb  ein  Kranker.  Vielmehr  werden  auch  jene 
selbstempfundenen  Krankheitszeichen  nur  als  die  Folgen  feindlicher 
Einwirkungen  betrachtet.  Jeder  Versuch,  den  Kranken  von  der 
Irrthümlichkeit  seiner  Ideen  zu  überzeugen,  indem  man  ihn  dorthin 
führt,  wo  er  seine  Verfolger  vermuthet,  bleibt  gänzlich  erfolglos,  da 
er  den  Stimmen  entnimmt,  dass  man  für  seinen  Besuch  zeitweilig 
alles  Verdächtige  bei  Seite  geräumt  habe. 

Die  Stimmung  der  Kranken  ist  im  Beginne  der  Krankheit 
meist  eine  niedergeschlagene,  ängstliche  oder  feindselig -gereizte. 
Späterhin  pflegen  mehr  gehobene  Gefühle  hervorzutreten,  bald  im 
Sinne  eines  selbstgefälligen  Hochmuthes,  bald  in  demjenigen  einer 
verzückten  Schwärmerei ; auch  süsslich- erotische  Stimmungen  sind 
nicht  selten.  Vorübergehend  werden  lebhafte  Angstzustände  sowie 
Ausbrüche  von  Ausgelassenheit  oder  Reizbarkeit  beobachtet.  In 
einzelnen  Fällen  sah  ich  auch  länger  dauernden  Stupor  mit  Anfällen 
zorniger  Erregung  auftreten. 

Das  Handeln  der  Kranken  wird,  wie  es  scheint,  vielfach  durch 
die  Wahnvorstellungen  bestimmt.  Es  kommt  zu  Fluchtversuchen, 
planlosen  Reisen,  unvermittelten  gefährlichen  Angriffen  auf  die  ver- 
meintlichen Feinde,  auf  Angehörige,  Nachbarn  oder  selbst  wild- 
fremde Personen,  zu  Nahrungsverweigerung  aus  Vergiftungsfurcht 
und  vielfach  auch  zu  Selbstmordversuchen.  Andere  Kranke  wenden 


Paranoide  Pormen. 


197 


sich  an  die  Behörden  und  schliesslich  an  die  Oeffentlichkeit,  machen 
ihrer  Erbitterung  in  Zeitungsanzeigen,  Maueranschlägen,  offenen 
Briefen,  Flugschriften*)  Luft,  in  denen  sie  das  schändliche  Treiben 
ihrer  Feinde  in  gebührender  Weise  brandmarken.  Oder  aber  sie 
unternehmen  irgend  eine  recht  auffallende  That,  um  die  allgemeine 
Aufmerksamkeit  auf  ihre  verzweifelte  Lage  zu  lenken. 

Viele  Kranke  verfallen  auf  allerlei  Massregeln  der  Selbsthülfe, 
die  ihnen  einigermassen  Ruhe  vor  den  Verfolgern  schaffen.  Nament- 
lich sind  es  eigenthümliche  Geberden,  Abwehrbewegungen,  bestimmte, 
oft  sehr  verzwickte  Stellungen,  die  längere  Zeit  hindurch  eingehalten 
werden  müssen,  ferner  das  „innere  Sprechen“,  die  unablässige  Wieder- 
holung gewisser  Worte,  mit  Hülfe  deren  sie  sich  vor  den  feind- 
seligen Beeinflussungen  schützen.  Mitunter  werden  auch  Misshand- 
lungen, ja  Verstümmelungen  des  eigenen  Körpers  zum  gleichen 
Zwecke  unternommen.  Andere  Kranke  fühlen  sich  genöthigt,  den 
Stimmen  laut  und  nachdrücklich  zu  antworten,  und  führen  daher 
in  ihrer  geordneten  Thätigkeit,  auch  des  Nachts,  schimpfende  Selbst- 
gespräche. Oder  sie  verstopfen  sich  die  Ohren,  umwickeln  den  Kopf 
mit  Tüchern,  halten  die  feindlichen  Giftpfeile  und  Lichtblitze  durch 
grosse  Schirme  oder  Masken  von  sich  ab.  Gegen  die  elektrischen 
und  telepathischen  Beeinflussungen  helfen  Drähte,  die  um  die  Bett- 
stelle gezogen  sind,  ferner  selbstgeschnitzte,  phallusartige  Amulette. 
M e r c k 1 i n hat  einen  vielleicht  hierher  gehörigen  Kranken  be- 
schrieben, der  zu  diesem  Zwecke  eine  aus  altem  Blechgeschirr  ge- 
fertigte Rüstung  im  Gewichte  von  12  Kilogramm  trug,  auf  dem 
Kopfe  eine  Kasserolle;  ein  anderer  hatte  sich  die  Bewegung  der 
Arme  selbst  durch  einen  Ledergürtel  mit  Schlingen  beschränkt,  um 
dem  von  seinen  Feinden  erzeugten  Antriebe  zum  Zerkratzen  des 
Gesichtes  widerstehen  zu  können. 

Die  Grössenideen  können  den  Kranken  dazu  führen,  dass  er  seine 
Arbeit  aufgiebt,  weil  sie  seiner  nicht  mehr  würdig  ist,  sich  hoch- 
trabende Titel  beilegt,  sich  in  auffallender  Kleidung  zeigt,  die  ersten 
Schritte  zur  Erfüllung  seiner  göttlichen  Sendung  unternimmt.  Er 
predigt  öffentlich,  unterbricht  den  Geistlichen  in  der  Kirche,  greift 


*)  Wollny,  Ueber  Telepathie,  1888;  Sammlung  von  Actenstücken,  1888; 
Teffer,.  Ueber  die  Thatsache  des  psycho -sexualen  Contactes  oder  die  actio  in 
Distans,  1891. 


198 


V.  Die  Dementia  praecox. 


ihn  an,  lässt  sich  durch  Eingebungen  und  göttliche  Stimmen  leiten. 
Die  Zunge  wird  ihm  gezogen,  dass  er  sprechen  muss,  was  ihm  der 
Geist  eingiebt;  ohne  oder  sogar  gegen  seinen  Willen  muss  er  gräss- 
liche Schreie  ausstossen;  sein  Arm  wird  ihm  geführt,  wenn  er  schreibt 
oder  den  Kampf  in  heiliger  Sache  aufnimmt.  Weibliche  Kranke 
suchen  nach  ihrem  Seelenbräutigam,  den  sie  in  allerlei  Verkleidungen 
immer  wiederfinden,  und  kommen  so  zu  geschlechtlichen  Aus- 
schweifungen. 

Das  Benehmen  der  Kranken  kann  im  Anfänge  ein  ganz  ge- 
ordnetes sein.  Im  Verlaufe  der  Krankheit  jedoch  pflegen  mehr  und 
mehr  Wunderlichkeiten  und  Verschrobenheiten  hervorzutreten.  Ge- 
sichterschneiden, merkwürdige  Geberden  und  Gewohnheiten,  gespreizte 
Bewegungen,  Manieren  beim  Handgeben,  Essen,  Gehen,  Sprechen. 
Andeutungen  von  Negativismus.  Die  Kranken  sprechen  hochdeutsch, 
in  geschraubten  Wendungen,  mit  selbsterfundenen  Wörtern,  heben 
Wortspielereien  und  Reimereien;  es  kann  sogar  zu  völliger  Sprach- 
verwirrtheit kommen.  Aehnlich  verhalten  sich  die  bisweilen  sehr 
zahlreichen  und  stereotypen  Schriftstücke  mit  ihren  absonderlich 
verschnörkelten  Schriftzügen  und  ihrer  oft  kaum  verständlichen 
Rechtschreibung.  Ein  Schuhmacher  suchte  aus  der  Zeitung  alle 
möglichen  fremdsprachigen  Ausdrücke  heraus  und  verflocht  sie  mit 
selbsterfundener  Bedeutung  in  seine  Erlasse  als  „himmlischer  Arzt": 
so  fügte  er  seiner  Unterschrift  immer  die  Worte  bei:  „Semper  fidelis 
Syp-hilis“,  mit  dem  Sinne:  „Also  soll  es  geschehen“.  Zu  selbst- 
ständiger, geordneter  Thätigkeit  pflegt  auf  der  Höhe  der  Krankheit 
weder  Neigung  noch  Fähigkeit  vorhanden  zu  sein. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  nimmt  in  der  Regel  einige  Jahre 
in  Anspruch.  Wenn  man  will,  kann  man  dabei  verschiedene  Ab- 
schnitte auseinanderhalten,  denjenigen  der  einleitenden  Verstimmung, 
die  Ausgestaltung  der  Verfolgungsideen,  ferner  die  sogenannte 
„Transformation“  des  Wahnes,  das  Auftreten  von  Grössenvorstellungen, 
welches  die  beginnende  psychische  Schwäche  auzukündigen  scheint, 
und  endlich  das  Schwinden  oder  den  Zerfall  der  Wahnbildungen. 
Bisweilen  scheinen  sich  auch  hier  vorübergehende  Nachlässe  der 
Krankheitserscheinungen  einzustellen,  die  den  Remissionen  der  Kata- 
toniker  vergleichbar  sind. 

Mag n an*)  hat  an  diesen  Entwicklungsgang  die  Aufstellung 

*)  Psychiatrische  Vorlesungen,  deutsch  von  Möhius,  Heft  1,  1891. 


Paranoide  Formen. 


199 


einer  eigenen  psychischen  Krankheitsform  geknüpft,  des  „dölire 
chronique  ä Evolution  systömatique“  (Paranoia  completa, 
Möbius).  Unter  dieser  Bezeichnung  fasst  er  alle  diejenigen  Fälle 
chronischer  Wahnbildung  zusammen,  bei  welchen  auf  die  Vorbe- 
reitung unter  dem  Eintritte  von  Sinnestäuschungen  verschiedener 
Art  eine  Zeit  der  Verfolgung,  dann  eine  solche  der  Grössen- 
vorstellungen und  endlich  der  Schwachsinn  folgt.  Die  Dauer  der 
einzelnen  Abschnitte  und  die  Schnelligkeit,  mit  der  sie  einander 
ablösen,  kann  dabei  eine  sehr  verschiedene  sein.  Gerade  die  hier 
beschriebenen  Formen  würden  etwa  der  Schilderung  Magnan’s 
entsprechen.  Die  später  zu  beschreibende  Paranoia  wäre  voll- 
ständig davon  abzutrennen;  sie  gehört  nach  seiner  Ansicht  zu 
einer  wesentlich  anderen  Gruppe  von  Psychosen,  zum  „Irresein 
der  Entarteten“.  Wenn  ich  auch  selbst  diese  Abgrenzung  hier 
versucht  habe,  möchte  ich  doch  darauf  hinweisen,  dass  sich  die 
Eintheilung  in  bestimmte  Abschnitte  bei  unseren  Kranken  viel- 
fach nur  sehr  künstlich  durchführen  lässt,  dass  es  ferner  hier 
Fälle  ohne  Grössenwahn  giebt,  und  dass  bei  der  Paranoia  die- 
selbe Verbindung  von  Kleinheitsideen  mit  Grössenvorstellungen 
stattzufinden  pflegt  wie  hier.  Endlich  aber  muss  mit  Entschieden- 
heit darauf  hingewiesen  werden,  dass  sich  unter  denjenigen 
Kranken,  auf  welche  Magnan’s  Beschreibung  passt,  namentlich 
unter  denen  mit  physikalischem  Verfolgungswahn,  zum  mindesten 
ebenso  viele  deutlich  „Degenerirte“  finden,  wie  unter  den  Queru- 
lanten und  Verrückten,  deren  Psychose  er  dem  Irresein  der  Ent- 
arteten zurechnet. 

Den  Ausgang  des  Leidens  bildet  regelmässig  die  psychische 
Schwäche.  In  einer  kleineren  Anzahl  von  Fällen  treten  nach  einer 
Reihe  von  Jahren  die  Wahnvorstellungen  allmählich  vollständig 
zurück;  es  kann  sogar  zu  einer  gewissen  Einsicht  in  die  Krank- 
haftigkeit derselben  kommen.  Dagegen  bleibt  immer  eine  erhebliche 
Einbusse  an  geistiger  Leistungsfähigkeit  zurück,  Schwäche  des  Ge- 
dächtnisses und  des  Urtheils,  gemüthliche  Stumpfheit,  Verlust  der 
Thatkraft  und  der  Regsamkeit.  Oder  aber  die  Kranken  halten  noch 
an  ihren  Wahnvorstellungen  fest,  werden  aber  gleichgültig  dagegen 
und  erzeugen  keine  neuen  mehr.  Hier  pflegen  dio  krankhaften 
Vorstellungen  mehr  und  mehr  zu  verblassen  und  nur  vereinzelt 
und  gelegentlich  noch  emporzutauchen.  Die  Kranken  sprechen  von 


200 


V.  Die  Dementia  praecox. 


ihnen  wie  von  anderen,  fernliegenden  Dingen  und  ziehen  keine 
Folgerungen  mehr  daraus.  Der  „rex  totius  mundi“  beschäftigt  sich 
mit  Gartenarbeit,  der  „Herrgott“  mit  Holztragen,  die  „Braut  Christi“ 
mit  Nähen  und  Flicken.  Am  häufigsten  jedoch  scheint  die  Krank- 
heit zu  wahnhafter  Verworrenheit  zu  führen.  Die  krankhaften  Vor- 
stellungen werden  zusammenhangsloser  und  unverständlicher,  zer- 
fahrener; Absonderlichkeiten  im  Handeln  und  Benehmen  treten 
immer  zahlreicher  hervor,  so  dass  schliesslich  die  Ordnung  der  Ge- 


35 


<ffr.hne 


danken  wie  die  äussere  Haltung  vollständig  verloren  geht.  Er- 
regungszustände und  Neigung  zu  Gewaltthätigkeit  sind  hier  nicht 
selten.  Späterhin  kann  mit  dem  Fortschreiten  der  Verblödung  ein 
ruhiger,  faseliger  Schwachsinn  zu  Stande  kommen,  bei  dem  von  den 
ursprünglichen  Wahnbildungen  höchstens  noch  kümmerliche  Reste 
aufzufinden  sind.  — 

Die  Dementia  praecox  ist  im  allgemeinen  eine  Erkrankung  der 
jugendlicheren  Lebensalter.  Die  obenstehende  Zeichnung  stellt  die 
procentische  Vertheilung  von  296  Fällen  auf  die  einzelnen  Leben»- 


Ursachen. 


201 


jahrfünfte  dar.  Mehr  als  60  °/0  der  Fälle  beginnen  demnach  vor  dem 
25.  Lebensjahre.  Dazu  ist  indessen  zu  bemerken,  dass  sich  die 
einzelnen  Gruppen  des  ganzen  Gebietes  etwas  verschieden  verhalten. 
Von  den  einfach  hebephrenischen  Formen  fallen  72,  von  den  kata- 
tonischen 68  und  von  den  paranoiden  nicht  ganz  40  °/0  vor  das 
25.  Lebensjahr.  Der  Krankheitsvorgang  scheint  sich  demnach  in 
jugendlichem  Alter  am  häufigsten  in  Form  einer  einfachen,  meist 
allmählich  auftretenden  Verblödung  abzuspielen,  während  etwas 
später  mehr  die  acuten  und  subacuten  Formen  mit  katatonischen 
Erscheinungen  und  noch  später  die  ausgeprägteren  Wahnbildungen 
in  den  Vordergrund  treten.  Irgend  eine  brauchbare  Erklärung  für 
diese  Unterschiede  aufzufinden,  ist  mir  bisher  trotz  aller  Bemühungen 
nicht  gelungen. 

Auf  die  nahen  Beziehungen  der  Hebephrenie  zu  den  Entwick- 
lungsjahren, wie  sie  durch  den  Namen  des  „Jugendirreseins“  ange- 
deutet wird,  hat  schon  Hecker  seinerzeit  hingewiesen.  Er  war 
sogar  geneigt,  die  Ausgänge  seiner  Hebephrenie  geradezu  als  ein 
Stehenbleiben  desgesammten  psychischen  Lebens  auf  der  Entwicklungs- 
stufe der  Pubertätsjahre  zu  betrachten.  Wenn  gegen  diese  Auffassung 
auch  die  Häufigkeit  tiefer  Verblödung  spricht,  welche  eben  einen 
Rückschritt,  nicht  einen  einfachen  Stillstand  der  geistigen  Aus- 
bildung darthut,  so  finden  wir  doch  in  dem  vorzeitigen  Schwach- 
sinn viele  Züge  wieder,  die  uns  aus  den  gesunden  Entwicklungs- 
jahren wohlbekannt  sind.  Dahin  gehört  die  Neigung  zu  unpassender 
Lectüre,  die  naive  Beschäftigung  mit  den  „höchsten  Problemen“,  die 
unreife  „Schnellfertigkeit“  des  Urtheils,  die  Freude  an  Schlagwörtem 
und  klingenden  Redensarten.  Schon  bei  einer  früheren  Gelegenheit 
wurde  ferner  darauf  hingewiesen,  dass  sich  im  Entwicklungsalter  gewisse 
psychische  Wandlungen  vollziehen,  die  wir  vielleicht  als  das  gesunde 
Vorbild  leichter  manischer  Erregungen  betrachten  dürfen.  Der  unver- 
mittelte Stimmungswechsel,  die  Niedergeschlagenheit  und  Ausgelassen- 
heit, die  gelegentliche  Reizbarkeit  und  Triebartigkeit  der  Entwick- 
lungsjahre begegnen  uns  beim  vorzeitigen  Schwachsinn  in  schärferer 
Ausprägung,  die  vielfach  geradezu  an  manische  Zustände  erinnert. 
Auch  die  Abgerissenheit  der  Gedankengänge,  das  bald  gespreizte, 
trrosssprecherische,  bald  verlegene,  scheue  Wesen,  das  alberne 
Lachen,  die  läppischen  Scherze,  die  gezierte  Sprechweise,  die  gesuchte 
Derbheit  und  die  gewaltsamen  Witze  sind  Erscheinungen,  welche 


202 


V.  Die  Dementia  praecox. 


beim  Gesunden  wie  beim  Kranken  auf  jene  leichte  innere  Erregung 
hindeuten,  mit  welcher  die  Umwälzungen  der  Geschlechtsentwicklung 
einherzugehen  pflegen. 

Die  beiden  Geschlechter  sind  an  der  Dementia  praecox  in 
gleichem  Maasse  betheiligt.  Dagegen  überwiegen  bei  den  hebe- 
phrenischen  Formen  die  Männer  mit  64  °/0,  bei  den  katatonischen 
und  paranoiden  Formen  dagegen  die  Frauen  mit  58  und  59 °/0. 
Diese  Erfahrung  wird  durch  den  Umstand  noch  näher  beleuchtet, 
dass  anscheinend  gewisse  ursächliche  Beziehungen  zwischen  dem 
Fortpflanzungsgeschäfte  beim  Weibe  und  namentlich  der  Katatonie 
bestehen.  Nicht  nur  fanden  sich  bei  etwa  18°/0  der  erkrankten 
Frauen  Menstruationsstörungen,  sondern  in  24%  der  Fälle  ent- 
wickelte sich  die  Katatonie  geradezu  während  der  Schwangerschaft 
oder,  häufiger,  im  Anschlüsse  an  das  Wochenbett.  Einmal  knüpften 
sich  die  vier  Schübe,  in  denen  die  Krankheit  verlief,  je  an  eine 
Geburt  an,  bis  der  letzte  die  endgültige  Verblödung  brachte.  In 
einem  anderen  Falle  begann  die  Krankheit  ebenfalls  im  Wochen- 
bette, um  nach  einer  längeren  Remission  mit  dem  Eintritte  neuer 
Schwangerschaft  in  schwerem  Rückfalle  zu  enden.  Bei  den  hebe- 
phrenischen  Erkrankungen  waren  derartige  Erfahrungen  ungleich 
seltener;  ich  konnte  sie  nur  in  etwa  9%  verzeichnen. 

Von  sonstigen  Ursachen  der  Dementia  praecox  ist  wenig  zu 
berichten.  Bei  etwa  10 — ll°/0  meiner  Kranken  waren  dem  Leiden 
schwere  acute  Krankheiten  voraufgegangen , am  häufigsten  Typhus 
oder  Scharlach.  In  der  Regel  waren  allerdings  bis  zum  Auftreten 
der  psychischen  Störung  viele  Jahre  vergangen,  so  dass  von  einem 
unmittelbaren  Zusammenhänge  keine  Rede  sein  konnte.  Hie  und 
da  jedoch  wurde  angegeben,  dass  seit  der  körperlichen  Erkrankung 
schon  eine  gewisse  Veränderung  an  dem  Kranken  bemerkt  worden 
sei,  grössere  Reizbarkeit,  Herabsetzung  der  geistigen  Leistungsfähig- 
keit, auffallende  Ermüdbarkeit.  In  einzelnen  Fällen  wurde  über 
Hirnentzündungen  in  der  Jugend  berichtet,  nicht  ganz  selten  auch 
über  Kopfverletzungen;  dieselben  sind  jedoch  überhaupt  so  häufig, 
dass  sie  für  ursächliche  Feststellungen  nur  ganz  ausnahmsweise  zu 
verwerthen  sind.  Der  Alkoholmissbrauch  scheint  für  die  Entstehung 
der  Dementia  praecox  keine  Bedeutung  zu  haben,  wol  aber  viel- 
leicht die  Gefangenschaft.  Mehr  als  3°/0  meiner  Kranken  oder  6 °/0 
der  Männer  erkrankten  im  Gefängnisse,  nicht  immer  in  Einzelhaft. 


Ursachen. 


203 


Hier  und  im  Wochenbette  handelte  es  sich  vorzugsweise  um  acute 
und  subacute  Formen;  die  Gefangenschaft  begünstigte  das  Auftreten 
paranoider,  das  Wochenbett  dasjenige  katatonischer  Krankheitsbilder. 

Erbliche  Veranlagung  zu  Geistesstörungen  fand  sich  in  etwa 
70°/o  derjenigen  Fälle,  in  denen  über  diesen  Punkt  verwerthbare 
Angaben  Vorlagen.  Von  den  einzelnen  Gruppen  schienen  die  hebe- 
phrenischen  Formen  etwas  weniger,  die  paranoiden  dagegen  noch 
stärker  durch  erbliche  Veranlagung  beeinflusst  zu  werden.  Einmal 
sah  ich  zwei  Geschwister  unabhängig  von  einander  mit  ganz  den- 
selben unsinnigen  Wahnbildungen  erkranken.  In  etwa  20 °/0  der 
Fälle  waren  von  Jugend  auf  allerlei  Eigenthiimlichkeiten  des  Wesens 
bemerkt  worden,  Verschlossenheit,  Aengstlichkeit,  Schrullenhaftigkeit 
Reizbarkeit,  .Neigung  zu  übertriebener  Frömmelei  oder  zum  Ver- 
brechen. Auch  körperliche  Entartungszeichen  fanden  sich  öfters, 
Kleinheit  oder  Verbildungen  des  Schädels,  kindlicher  Habitus, 
mangelhafte  Zähne,  verbildete  Ohren,  Strabismus,  überzählige  Brust- 
warzen, allgemeine  Schwächlichkeit,  ferner  die  Andeutungen  eines 
leicht  erreglichen  Gehirns,  Delirien  bei  geringem  Fieber,  Zahn- 
krämpfe in  der  Jugend,  geringe  Widerstandsfähigkeit  gegen  Alkohol, 
sehr  früh  sich  regender,  mangelnder  oder  widernatürlicher  Geschlechts- 
trieb. Die  ursprüngliche  geistige  Begabung  war  in  60°/o  der  Fälle 
eine  gute;  17 °/0  der  Kranken  wurden  sogar  als  vorzüglich  veranlagt 
geschildert.  Ein  Drittel  der  Kranken  war  leidlich  oder  mässig  be- 
gabt, nur  7°/0  geradezu  schlecht  oder  von  Jugend  auf  schwachsinnig. 

Das  eigentliche  Wesen  der  Dementia  praecox  ist  gänzlich  dunkel. 
Am  verbreitetsten  ist  wol  zur  Zeit  die  Ansicht,  dass  wir  es  hier 
mit  dem  allmählichen  Versagen  einer  unzulänglichen  Anlage  zu  thun 
haben.  Wie  ein  Baum,  dessen  Wurzeln  im  vorhandenen  Erdreiche 
keine  Nahrung  mehr  finden,  so  sollen  die  geistigen  Kräfte  schwinden, 
sobald  die  ungenügende  Mitgift  eine  weitere  Entfaltung  nicht  mehr 
gestattet.  Allein  gegen  diese  Auffassung  erheben  sich  sehr  gewichtige 
Bedenken.  Es  ist  nicht  zu  verstehen,  warum  ein  Organismus,  der 
sich  bis  dahin  meist  in  gesunder,  öfters  sogar  in  kräftiger  Weise 
entwickelt  hat,  ohne  besondere  Ursache  mit  einem  Male  nicht  nur 
in  seiner  Fortbildung  Halt  machen,  sondern  vielfach  geradezu  dem 
Siechthume  verfallen  soll.  Selbst  die  schwerste  krankhafte  Veran- 
lagung durch  Geisteskrankheit  bei  Vater  oder  Mutter,  wie  sie  bei 
der  Dementia  praecox  in  18  — 19°/0  vorkommt,  würde  einen  der- 


204 


V.  Die  Dementia  praecox. 


artigen  Vorgang  nicht  zu  erklären  vermögen.  Im  Gegentheil  sehen 
wir  bei  den  anerkannt  auf  dem  Boden  der  erblichen  Entartung 
erwachsenden  Geistesstörungen  regelmässig  nicht  den  raschen 
geistigen  Verfall  wie  hier,  sondern  vielmehr  dauernde  krank- 
hafte Zustände  von  sehr  langsamer  Entwicklung  oder  periodische 
Erkrankungen. 

Wir  werden  durch  diese  Ueberlegungen  unmittelbar  zu  der 
Annahme  gedrängt,  dass  es  sich  hier  um  einen  greifbaren  Krank- 
heitsvorgang im  Gehirn  handeln  muss.  Thatsächlich  haben  sich 
auch  in  den  verhältnissmässig  wenigen  Fällen,  die  mit  zuverlässigen 
Hülfsmitteln  genauer  untersucht  wurden,  Veränderungen  nachweisen 
lassen,  die  kaum  eine  andere  Erklärung  zulassen.  Erst  dadurch 
wird  der  oft  so  ungemein  rasche  geistige  Verfall  überhaupt  ver- 
ständlich. Wir  kommen  somit  zu  dem  Schlüsse,  dass  in  der  Dementia 
praecox  höchst  wahrscheinlich  eine  theilweise  Schädigung  oder  Ver- 
nichtung von  Hirnrindenzellen  stattfindet,  die  sich  in  einzelnen 
Fällen  wieder  ausgleichen  kann,  meist  aber  eine  eigenartige,  dauernde 
Beeinträchtigung  des  Seelenlebens  nach  sich  zieht.  Durch  welchen 
Krankheitsvorgang  diese  Störungen  herbeigeführt  werden,  wissen  wir 
zur  Zeit  ebenso  wenig  wie  bei  der  Idiotie  oder  Epilepsie.  Immer- 
hin sprechen  die  bisherigen  Rindenbefunde  wol  am  meisten  für  die 
Annahme  einer  chemischen  Schädlichkeit.  Bei  der  nahen  Beziehung 
der  Krankheit  zum  Entwicklungsalter,  zu  Menstruationsstörungen, 
zum  Fortpflanzungsgeschäfte,  bei  dem  Fehlen  jeder  erkennbaren 
äusseren  Ursache  liegt  es  wol  am  nächsten,  an  eine  Selbstver- 
giftung zu  denken,  die  möglicherweise  in  irgend  einem  näheren 
oder  entfernteren  Zusammenhänge  mit  Vorgängen  in  den  Geschlechts- 
organen stehen  könnte.  Gerade  in  dieser  Beziehung  ist  die  Er- 
fahrung lehrreich,  dass  auch  manche  Idioten  und  Epileptiker  zur 
Zeit  der  Geschlechtsentwicklung  einen  entschiedenen  Rückgang  ihrer 
geistigen  Kräfte  darbieten.  Manche  Fälle  von  hebephrenischen  Er- 
krankungen bei  Imbecillen  entsprechen  ganz  derartigen  Erfahrungen. 
Unter  dieser  Voraussetzung  würde  die  Häufigkeit  der  erblichen 
Veranlagung  zu  Geistesstörungen  und  deren  körperlicher  und  psy- 
chischer Anzeichen  nur  eine  verminderte  "Widerstandsfähigkeit  gegen 
die  eigentliche  Krankheitsursache  bedeuten.  Aehnlich  wäre  etwa  die 
vorbereitende  Wirkung  acuter  Krankheiten  und  der  Gefangenschaft 
aufzufassen. 


Abgrenzung  und  Erkennung. 


205 


Ob  die  Dementia  praecox  in  dem  hier  umschriebenen  Umfange 
eine  einheitliche  Krankheit  darstellt,  muss  vor  der  Hand  zweifelhaft 
bleiben.  Sie  würde  etwa  14 — 15 °/0  aller  Aufnahmen  in  die  Irren- 
anstalt umfassen,  wenn  wir  je  5 — 6 °/0  auf  die  hebephrenischen  und 
katatonischen,  den  Rest  auf  die  paranoiden  Formen  rechnen.  Es 
ist  sehr  möglich,  dass  wir  es  hier  mit  einer  Reihe  von  ähnlichen 
Krankheitsvorgängen  zu  thun  haben,  deren  gemeinsame  Wirkung  in 
der  Schädigung  oder  Zerstörung  bestimmter  Rindengebiete  liegt. 
Heute  sind  wir  indessen  ausser  Stande,  in  dieser  Fülle  verschieden- 
artiger Krankheitsbilder  irgend  welche  scharfen  Grenzen  zu  ziehen; 
überall  finden  sich  Uebergangsformen  zwischen  den  einzelnen 
klinischen  Gruppen.  Wir  wollen  daher  an  dieser  Stelle  ganz  darauf 
verzichten,  genauer  auf  die  Abtrennung  der  hebephrenischen,  kata- 
tonischen und  paranoiden  Formen  untereinander  einzugehen.  Da- 
gegen wird  es  von  hervorragender  wissenschaftlicher  wie  praktischer 
Wichtigkeit  sein,  im  einzelnen  Falle  die  Dementia  praecox  von 
anderen  Erkrankungen  mit  wesentlich  abweichender  Prognose  unter- 
scheiden zu  können. 

Bei  den  hebephrenischen  Formen  mit  langsamer  Entwicklung 
kann  zunächst  die  Abgrenzung  von  neurasthenischen  Zuständen 
in  Betracht  kommen.  Massgebend  sind  hier  vor  allem  die  Zeichen 
der  psychischen  Schwäche,  die  Unsinnigkeit  der  hypochondrischen 
Klagen , die  Urtheilslosigkeit,  die  Unzugänglichkeit  gegenüber  den 
beruhigenden  Versicherungen  des  Arztes,  die  gemüthliche  Stumpf- 
heit, das  Ausbleiben  der  Besserung  beim  Ausspannen,  ferner  die 
mehr  oder  weniger  deutlichen  Erscheinungen  der  Befehlsautomatie 
oder  des  Negativismus.  Auch  Sinnestäuschungen  und  Triebhandlungen 
sprechen  durchaus  für  Dementia  praecox. 

Ungemein  schwierig  kann  in  den  mittleren  Lebensjahren  öfters  die 
Abgrenzung  der  Dementia  praecox  von  der  Paralyse  werden,  wenn  keine 
entscheidenden  körperlichen  Zeichen  vorhanden  sind.  Die  psychischen 
Bilder  können  einander  in  hohem  Grade  gleichen,  um  so  mehr,  da  auch 
in  der  Paralyse  bisweilen  allerlei  katatonische  Zeichen  auftreten,  Kata- 
lepsie, Mutacismus,  Verbigeration,  Stereotypen.  Allerdings  pflegen  diese 
Erscheinungen  hier  nicht  so  mannigfaltig  und  so  eigenartig  ausgeprägt 
zu  sein  wie  in  der  Katatonie;  auch  tritt  die  einfache  Unfähigkeit 
und  Willensschwäche  bei  der  Paralyse  mehr  in  den  Vordergrund 
gegenüber  der  Schrullenhaftigkeit  und  Unlenksamkeit  des  Katatonikers ; 


206 


V.  Die  Dementia  praecox. 


der  geistige  Verfall  nimmt  beim  Paralytiker  meist  rascher  schwere 
Formen  an.  Endlich  aber  ergeift  die  Störung  hier  am  stärksten 
das  Gebiet  der  Auffassung  und  Orientirung,  namentlich  aber  des 
Gedächtnisses  und  der  Merkfähigkeit,  während  bei  den  Kranken  mit 
Dementia  praecox  gerade  diese  geistigen  Leistungen  im  Verhältnisse 
zu  der  ausgeprägten  gemüthlichen  Stumpfheit  und  der  Urtheils- 
schwäche  lange  Zeit  überraschend  gut  erhalten  bleiben.  Die  Aus- 
bildung von  stehenden  Manieren  macht  die  Dementia  praecox  recht 
wahrscheinlich,  während  das  Auftreten  von  Sprachstörung,  Pupillen- 
starre, Coordinationsstörungen  natürlich  die  Paralyse  sichert 

Die  Zustände  von  Benommenheit  und  Verwirrtheit  im  Beginne 
der  Erkrankung  pflegen  allgemein  als  Amentia  aufgefasst  zu  werden. 
Will  man  jedoch,  wie  es  hier  geschehen  ist,  die  nach  Ursache,  Er- 
scheinungsform und  Verlauf  durchaus  eigenartigen  Erschöpfungs- 
psychosen von  der  wesentlich  verschiedenen  Dementia  praecox  ab- 
trennen, so  ist  besonders  auf  den  Negativismus  und  die  Stereotypie 
Gewicht  zu  legen.  Auch  die  Befehlsautomatie  in  ihren  verschiedenen 
Gestaltungen  pflegt  bei  der  eigentlichen  Amentia,  wenn  auch  nicht 
ganz  zu  fehlen,  so  doch  weit  schwächer  ausgebildet  zu  sein.  Die 
Kranken  benehmen  sich  natürlicher,  ungezwungener,  nicht  läppisch 
und  schrullenhaft.  Die  Verarbeitung  der  Wahrnehmungen  und 
namentlich  die  Orientirung  und  Merkfähigkeit  sind  in  der  Amentia 
weit  stärker  gestört,  als  in  der  Dementia  praecox.  Jene  Kranken 
sind  trotz  besten  Willens  unfähig,  längere  zusammenhängende  geistige 
Aufgaben  zu  lösen,  sich  auf  einfache  Bruchstücke  ihres  Wissens 
schnell  zu  besinnen,  verlieren  fortwährend  den  Faden,  ergehen  sich 
in  beziehungslosen  Erinnerungen,  geben  aber  auf  die  einzelne  Frage 
rasche  und  zutreffende  Antwort.  Dagegen  liefern  die  Kranken  mit 
Dementia  praecox  zwar  oftmals  ganz  imsinnige  oder  überhaupt 
keine  Antworten,  können  aber  plötzlich  durch  eine  geordnete  Er- 
zählung, eine  treffende,  von  Nachdenken  zeugende  Bemerkung  über- 
raschen, bringen  vielleicht  selbst  schwierigere  geistige  Leistungen  zu 
Stande,  beherrschen  geschichtliche  und  geographische  Thatsachen. 
Zudem  besteht  in  der  Amentia  eine  ausgeprägte,  wenn  auch  häufig 
unvermittelt  wechselnde  Färbung  der  Stimmung;  die  Kranken  weinen 
und  jammern  plötzlich  lebhaft,  sind  im  nächsten  Augenblicke  gereizt 
und  heftig,  um  dann  wieder  freundlich  zu  lachen  oder  zu  singen. 
In  der  Dementia  praecox  dagegen  fällt  uns  auch  während  lebhafter 


Erkennung. 


207 


Erregungen  meist  sehr  deutlich  der  Mangel  an  tieferer  gemiithlicher 
Ergriffenheit  ins  Auge,  die  Stumpfheit  und  innere  Gleichgültigkeit. 
Daher  sehen  wir  auch  die  Kranken  mit  Amentia  zwar  ohne  genaues 
Verständnis,  aber  mit  lebhafter  Aufmerksamkeit  den  Vorgängen  in 
der  Umgebung  folgen,  während  in  der  Dementia  praecox  die  Kranken 
merkwürdig  wenig  Theilnahme  für  dasjenige  zeigen,  was  sie  recht 
gut  aufgefasst  und  begriffen  haben.  Dass  der  Amentia  immer,  der 
Dementia  praecox  nur  hie  und  da  einmal  eine  erschöpfende  Ursache 
vorausgeht,  soll  nur  noch  kurz  erwähnt  werden. 

Wiederholt  ist  es  mir  begegnet,  dass  ich  beginnende  Katatonien 
für  epileptische  Dämmerzustände  gehalten  habe.  Die  Verwechselung 
liegt  besonders  nahe,  wenn  etwa  ein  Krampfanfall  voraufgegangen 
ist.  Einen  Anhalt  für  die  Unterscheidung  wird  der  Negativismus 
des  Katatonikers  gegenüber  dem  ängstlichen  Widerstreben  des  Epi- 
leptikers geben  können.  Auffassung  und  Orientirung  dürften  im 
epileptischen  Dämmerzustände  meist  schwerer  gestört  sein,  als  beim 
Katatoniker.  Sinnlose  Antworten  auf  einfache  Fragen,  rasche, 
richtige  Ausführung  von  Aufforderungen  sprechen  mehr  für  Kata- 
tonie. Bei  der  Epilepsie  pflegt  sich  deutlich  die  ängstliche  oder 
verzückte  Stimmung  kund  zu  geben;  das  Handeln  ist  nicht  sowol 
triebartig  wie  durch  bestimmte  wahnhafte  Vorstellungen  und  Ge- 
fühle beheiTScht,  die  auch  in  den  Reden  zu  Tage  treten.  Daher 
sehen  wir  den  Epileptiker  häufiger  Angriffe,  Fluchtversuche  machen, 
Gewaltthaten  begehen,  während  die  Handlungen  des  Katatonikers 
die  Kennzeichen  des  Sinnlosen,  Absonderlichen,  häufig  auch  des 
Stereotypen  tragen.  Natürlich  wirddieVorgeschichte  meist,  der  weitere 
Verlauf  immer  die  Sachlage  rasch  klären. 

Erhebliche  Schwierigkeiten  pflegt  die  Unterscheidung  zwischen 
einer  beginnenden  Dementia  praecox  und  dem  ersten,  depressiven 
Anfalle  eines  manisch-depressiven  Irreseins  zu  bieten.  Frühzeitiges 
Auftreten  zahlreicher  Sinnestäuschungen  und  unsinniger  Wahnvor- 
stellungen muss  immer  den  Verdacht  auf  Katatonie  erwecken.  Die 
Stimmung  des  Katatonikers  ist  im  Zusammenhalt  mit  dem  Inhalte 
seiner  Wahnvorstellungen  auffallend  gleichgültig;  er  nimmt  an  den 
Vorgängen  in  der  Umgebung  keinerlei  Antheil,  begrüsst  seine  An- 
gehörigen nicht,  wenn  sie  ihn  besuchen,  spricht  dabei  kein  Wort, 
verzehrt  aber  vielleicht  mit  Gier  alles,  was  sie  ihm  mitgebracht 
haben.  In  der  circulären'  Depression  wird  man  dagegen  niemals 


208 


V.  Die  Dementia  praecox. 


innere  Angst  oder  tiefe  Traurigkeit  vermissen.  Besuche  können 
hier  zu  plötzlichen  Leidenschaftsausbrüchen  von  ausserordentlicher 
Heftigkeit  führen  und  pflegen  fast  immer  einen  erheblichen  Einfluss 
auf  den  Zustand  auszuüben,  meist  in  ungünstigem  Sinne. 

Yon  grosser  Wichtigkeit  ist  es  endlich,  den  Negativismus  des 
Katatonikers  nicht  mit  dem  ängstlichen  Widerstreben  und  der 
Hemmung  im  manisch-depressiven  Irresein  zu  verwechseln.  Dort 
begegnen  wir  dem*  starren  Widerstande  bei  jedem  Versuche  der 
Lageänderung,  aber  erst  bei  wirklichem  Eingreifen;  dagegen  werden 
einfache  oder  auch  schmerzhafte  Berührungen  imd  selbst  gefährliche 
Bedrohungen  (Nadel  am  Auge)  meist  ohne  stärkere  Abwehr  ertragen, 
und  endlich  kann  der  Widerstand  von  selbst  oder  unter  dem  Ein- 
flüsse vorsichtigen  Zwanges  ohne  weiteres  in  Befehlsautomatie  über- 
gehen. Hier  dagegen  beginnt  das  Widerstreben  mit  der  drohenden 
Gefahr,  gleichviel,  ob  eine  Lageänderung  stattfindet  oder  nicht: 
auch  nehmen  die  aus  ihrer  Stellung  gebrachten  Glieder  nicht  mit 
unverbrüchlicher  Zähigkeit  wieder  genau  die  frühere  Haltung  an. 
Zugleich  führt  jede  drohende  Annäherung  zu  lebhaften  Gefühls- 
äusserungen, zu  Aufschreien,  Ausweichen,  ängstlicher  Abwehr.  Der 
stuporöse  Katatoniker  bewegt  sich  meist  wenig  oder  gar  nicht  be- 
sonders nicht  auf  Aufforderung.  Wenn  er  aber  doch  handelt,  so 
geschieht  das  ohne  erkennbare  Verlangsamung,  oft  sogar  ungemein 
schnell,  während  beim  Gehemmten  jede  einzelne  Bewegung  langsam 
und  zögernd  zu  Stande  kommt,  wie  sich  nicht  selten  schon  beim 
einfachen  Erheben  der  Arme  oder  beim  Zählen  darthun  lässt.  Auch 
hier  bleibt  freilich  manche  geforderte  Bewegung  ganz  aus,  weil 
Angst  oder  zu  starke  Hemmung  sie  unterdrückt ; im  letzteren  Falle 
sieht  man  häufig  wenigstens  die  Ansätze  zu  der  verlangten  Hand- 
lung (leise  Lippenbewegungen,  Zucken  in  den  Fingern),  namentlich 
wenn  die  Hemmung  allmählich  durch  kräftiges  Zureden  überwunden 
wird.  Umgekehrt  kann  man  beim  Katatoniker  beobachten,  wie  der 
etwa  anfangs  auftretende  Antrieb  unmittelbar  darauf  unterbrochen, 
rückgängig  gemacht,  vielleicht  bei  weiterem  Zureden  sogar  in  sein 
Gegentheil  verkehrt  wird.  In  den  manisch-depressiven  Mischzuständen 
kann  zwar,  wie  es  scheint,  das  wichtige  Kennzeichen  der  psycho- 
motorischen Hemmung  fehlen,  so  dass  die  äusserliche  Aehnlichkeit 
mit  dem  katatonischen  Stupor  noch  grösser  wird.  Immerhin  dürfte 
hier  die  eigenthümlich  lustige  Stimmung,  die  lebhafte  Aufmerksamkeit 


Erkennung. 


209 


bei  verhältnissmässig  starker  Denkstörung,  endlich  das  gelegentliche  i 
zweckvolle,  übermüthige  Handeln  der  Manischen  gegenüber  der 
läppischen  Heiterkeit,  der  Gleichgültigkeit,  den  sinnlosen  Bewegungs- 
antrieben der  Katatoniker  meist  die  Unterscheidung  nicht  allzu 
schwer  machen. 

Die  Stuporzustände  der  Paralytiker  lassen  sich  in  erster  Linie 
durch  den  Nachweis  körperlicher  Störungen  abgrenzen.  Ausserdem 
aber  pflegt  die  Bewusstseinstrübung  und  die  Auffassungsstörung 
tiefer  zu  sein;  Gedächtniss  und  Merkfähigkeit  sind  regelmässig 
weit  schwerer  geschädigt.  Die  kennzeichnenden  katatonischen  Er- 
scheinungen sind  meist  nur  schwach  ausgeprägt.  Der  Negativismus 
zeigt  geringe  Hartnäckigkeit  und  beschränkt  sich  gewöhnlich  auf 
Mutacismus,  Nichtbefolgung  von  Aufforderungen  oder  Nahrungs- 
verweigerung; Triebhandlungen  kommen  wesentlich  als  einzelne  Be- 
wegungsstereotypen vor,  und  die  schrullenhaften  Manieren,  die  be- 
ziehungslosen Antworten,  die  Sprachverwirrtheit  dürften  höchstens 
andeutungsweise  bei  der  Paralyse  beobachtet  werden. 

Von  grosser  Wichtigkeit  ist  es,  die  Erregungszustände  der 
Dementia  praecox,  insbesondere  der  Katatonie,  von  manischen  An- 
fällen zu  unterscheiden.  Die  Besonnenheit  ist  in  der  Manie  stärker 
gestört,  als  in  der  Katatonie.  Während  hier  die  Kranken  auch  in  der 
wildesten  Tobsucht  meist  über  ihre  Umgebung  noch  ganz  klar  sind, 
werden  wir  in  den  schwersten  manischen  Erregungen  stets  einer 
erheblichen  Störung  der  Auffassung,  des  Denkens  und  der  Orien- 
tirung  begegnen.  Andererseits  sind  die  Reden  Katatonischer  häufig 
völlig  unsinnig  trotz  sehr  geringer  Erregung,  während  wir  das 
wenigstens  ungefähre  Verständniss  für  die  manischen  Gedanken- 
gänge auch  bei  heftigster  Tobsucht  selten  ganz  verlieren.  Da- 
zu kommt  in  der  Katatonie  das  Kleben  an  einzelnen  Ausdrücken 
bis  zur  ausgeprägten  Verbigeration,  während  der  manische  Gedanken- 
gang trotz  aller  Zusammenhangslosigkeit  doch  fast  immer  das  Fort- 
schreiten von  einem  Vorstellungskreise  zum  anderen  erkennen  lässt. 
Auch  sinnloses,  einförmiges  Silbengeklingel  spricht  entschieden  für 
Katatonie.  Die  Aufmerksamkeit  des  Katatonikers  beschäftigt  sich 
kaum  mit  der  Umgebung,  obgleich  dieselbe  recht  gut  aufgefasst 
wird;  der  Manische  nimmt  ungenau  und  flüchtig  wahr,  wendet  sich 
aber  jeder  neuen  Erscheinung  zu,  die  in  seinen  Gesichtskreis  ein- 
tritt.  Von  ihm  wird  der  Arzt  sofort  angeredet,  mit  einem  Schivall 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  14 


210 


V.  Die  Dementia  praecox. 


von  Worten  überschüttet,  während  der  katatonisch  Erregte  sich  gar 
nicht  um  ihn  kümmert,  in  seinem  Bewegungsdrange  einfach  fort- 
fährt und  nur  durch  besondere  Bemühungen  zu  einer  sinngemässen 
Antwort  gebracht  werden  kann.  Die  Stimmung  ist  in  der  Manie 
meist  lustig  gehoben  oder  gereizt,  in  der  Katatonie  läppisch,  kindisch 
ausgelassen  oder  gleichgültig. 

Zu  beachten  ist  ferner  namentlich  die  Zwecklosigkeit  der  katatoni- 
schen Bewegungen  gegenüber  demBeschäftigungsdrange  desManischen, 
der  regelmässig  Beziehungen  zur  Umgebung  sucht.  Dort  sind  die 
Bewegungen  einförmig,  wiederholen  sich  ungezählte  Male  in  gleicher 
Weise,  während  sie  hier,  von  wechselnden  Eindrücken,  Vorstellungen 
und  Gefühlen  abhängig,  immer  neue  Formen  anzunehmen  pflegen. 
Daher  spielt  sich  der  Bewegungsdrang  des  Katatonischen  oft  auf 
kleinstem  Raume,  etwa  in  einem  Theile  des  Bettes  ab;  der  Manische 
sucht  dagegen  überall  nach  Gelegenheit  zur  Betätigung,  läuft  herum, 
beschäftigt  sich  mit  anderen  Kranken,  folgt  dem  Arzte,  treibt  den 
verschiedenartigstenUnfug.  Dazu  kommen  die  Zwangsmässigkeit  und 
Gespreiztheit  der  Bewegungen,  die  Manieren  und  unsinnigen  An- 
triebe bei  der  Katatonie,  im  Gegensätze  zu  dem  natürlichen  und 
dem  Gesunden  viel  verständlicheren  Benehmen  des  Manischen.  Mit 
anderen  Worten:  In  der  Manie  sind  Auffassung,  Denken,  Orien- 
tirung  verhältnissmässig  stärker  gestört,  als  in  der  Katatonie,  während 
hier  durch  die  Krankheit  namentlich  die  gemüthlichen  Beziehungen, 
das  Handeln  und  der  sprachliche  Ausdruck  in  eigenartiger  Weise 
geschädigt  werden. 

Schwere  paralytische  Erregungen  können  den  katatonischen  ausser- 
ordentlich ähnlich  sein.  Abgesehen  von  der  Vorgeschichte,  dem  Lebens- 
alter und  den  körperlichen  Zeichen  der  Paralyse  wird  hier  nament- 
lich auf  die  tiefe  Benommenheit  der  Paralytiker  in  solchen  Zuständen 
Gewicht  zu  legen  sein.  Auffassung,  Merkfähigkeit,  Denken  und 
Orientirung  sind  dabei,  im  Gegensätze  zu  dem  Verhalten  der  Kata- 
toniker,  immer  erheblich  gestört. 

Manche  Erregungsanfälle  der  Katatoniker  ähneln  in  hohem 
Grade  hysterischen  Zuständen,  namentlich,  wenn  sie  mit  allerlei 
Krampferscheinungen  verbunden  sind.  Für  die  Unterscheidung  ist 
in  erster  Linie  die  psychische  Schwäche  der  Katatoniker  zu  ver- 
werten, die  Zerfahrenheit  des  Gedankenganges,  die  Urteilslosigkeit, 
die  unsinnigen  Einfälle  und  Ideen  Verbindungen,  ihre  gemütliche 


Erkennung. 


211 


Stumpfheit,  die  Einförmigkeit  und  Ziellosigkeit  ihres  Handelns. 
Allen  diesen  Zügen  steht  die  Findigkeit  und  Ueberlegtheit,  die 
Launenhaftigkeit  und  Empfindlichkeit,  die  berechnende  Schlauheit 
und  planmässige  Hartnäckigkeit  der  Hysterischen  gegenüber.  Auch 
die  ungeheuerlichen  Wahnbildungen  und  Sinnestäuschungen  der 
Katatonischen  werden  die  Entscheidung  erleichtern,  ebenso  natürlich 
der  weitere  Verlauf. 

Die  vielfachen  Wahnbildungen  im  Verlaufe  der  Dementia 
praecox  geben  überaus  häufig  zu  der  Diagnose  der  Paranoia 
Veranlassung.  Die  grosse  Mehrzahl  der  von  anderen  Irrenärzten 
mit  diesem  Namen  belegten  Fälle  gehört  nach  meiner  Ueber- 
zeugung  dem  hier  gezeichneten  Krankheitsbilde  an,  vor  allem 
natürlich  den  paranoiden  Formen.  Ich  stütze  diese  Auffassung  auf 
die  Erfahrung,  dass  diese  Zustände  entweder  nach  verhältnissmässig 
kurzer  Zeit  regelmässig  in  einfachen  Schwachsinn  ohne  nennens- 
werthe  Wahnvorstellungen  oder  in  Verworrenheit  übergehen,  bei 
der  von  irgend  einem  „System“  meist  ebenso  wenig  die  Rede  sein 
kann  wie  von  dauerndem  Festhalten  der  gleichen  Ideen.  In  diesen 
Sätzen  liegen  schon  die  wesentlichsten  Anhaltspunkte  für  eine  Ab- 
trennung der  Paranoia  von  der  Dementia  praecox.  Bei  der  eigent- 
lichen Paranoia  entwickeln  sich  die  Wahnvorstellungen  immer  ganz 
allmählich,  im  Laufe  von  Jahren,  hier  sehr  häufig  innerhalb  einiger 
Monate,  unter  ausgesprochener  trauriger  oder  ängstlicher  Verstimmung, 
öfters  auch  ganz  plötzlich  mit  dem  Auftreten  zahlreicher  Sinnes- 
täuschungen. Ueberhaupt  spielen  diese  letzteren  bei  der  Dementia 
praecox  eine  sehr  grosse  Rolle,  während  sie  bei  der  Paranoia  gegen- 
über der  wahnhaften  Vermuthung  und  Deutung  meist  ganz  im 
Hintergründe  stehen.  Die  rasch  hereinbrechende  geistige  Schwäche 
macht  sich  hier  in  der  Unsinnigkeit  der  Wahnbildungen  bemerkbar, 
die  bald  über  jede  Möglichkeit  hinausgehen.  Die  Kranken  empfinden 
keine  Widersprüche  mehr,  haben  gar  nicht  das  Bedürfniss,  den  Wahn 
mit  ihrer  bisherigen  Weltanschauung  in  Einklang  zu  bringen;  ihre 
Gedankengänge  werden  verworren,  zusammenhangslos.  In  der 
Paranoia  dagegen  ist  der  Wahn  wesentlich  eine  krankhafte  Deutung 
und  Auslegung  wirklicher  Ereignisse.  Die  Widersprüche  mit  der 
sonstigen  Erfahrung  werden  empfunden  und  ebenso  wie  nahe  liegende 
Einwände  durch  besondere  Gedankenarbeit  ausgeglichen.  Der  innere 
Zusammenhang  des  gesunden  wie  des  wahnhaften  Denkens  bleibt 

14* 


212 


V.  Die  Dementia  praecox. 


bis  an  das  Ende  des  Kranken  erhalten.  In  der  Dementia  praecox 
verschwinden  die  Wahnbildungen  vielfach  oder  -werden  durch  andere 
abgelöst.  Beim  Paranoiker  bleibt  der  Kern  des  Wahnes  immer 
derselbe;  nur  können  sich  an  denselben  im  Laufe  der  Zeit  all- 
mählich weitere,  in  derselben  Richtung  liegende  Vorstellungen  an- 
schliessen,  jedoch  ohne  Widerspruch  und  ohne  Verlust  früherer 
wahnhafter  Erkenntnisse. 

Die  äussere  Haltung  und  die  geistige  Leistungsfähigkeit 
pflegt  in  der  Dementia  praecox  schon  nach  kurzer  Zeit  em- 
pfindlich zu  leiden ; vielfach  stellen  sich  Stereotypen  und 
Manieren  ein,  schliesslich  bisweilen  selbst  völlige  Sprachverwirrtheit 
mit  Wortneubildungen.  Dem  gegenüber  bewahrt  der  Paranoiker 
äusserlich  stets  die  Haltung  des  Gesunden,  bleibt  nicht  selten  auf 
einzelnen  Gebieten  noch  recht  leistungsfähig,  wenn  auch  ein  all- 
mählicher Rückgang  der  geistigen  Fähigkeiten  nicht  zu  verkennen 
ist;  er  bietet  niemals  katatonische  Zeichen  dar  und  bleibt  in  Reden 
und  Handeln  andauernd  vollkommen  geordnet.  In  der  Dementia 
praecox  endlich  begegnen  wir  unvermitteltem  Wechsel  des  Zustandes, 
ängstlichen  oder  heiteren  Erregungen,  Stuporzuständen,  Remissionen 
aller  Krankheitszeichen.  Dagegen  verläuft  die  Paranoia  ganz  gleich- 
mässig  oder  doch  mit  nur  sehr  geringfügigen  Schwankungen,  die 
nach  Inhalt  und  Dauer  in  engster  Beziehung  zu  den  Wahnvor- 
stellungen stehen;  Nachlässe  kommen  wol  durch  allmähliches 
Verblassen  der  leidenschaftlichen  Gefühlsbetonungen,  nicht  aber  durch 
Schwinden  der  Wahnvorstellungen  zu  Stande. 

Die  Endzustände  der  Dementia  praecox  können  unter  Um- 
ständen als  Imbecillität  aufgefasst  werden.  Wo  die  deutlichen 
Zeichen  früherer  Krankheitsvorgänge  noch  erkennbar  sind,  Sinnes- 
täuschungen, Wahnbildungen,  katatonische  Erscheinungen,  wird 
freilich  die  Entscheidung  leicht  sein.  Schwierig  dagegen  kann  sie 
ohne  Kenntniss  der  Vorgeschichte  werden,  wenn  entweder  ein  ganz 
einfacher  Schwachsinn  zurückgeblieben  ist,  oder  wenn  schon  von 
Jugend  auf  ein  gewisser  Grad  geistiger  Schwäche  bestauden  hat, 
der  durch  die  hebephrenische  Erkrankung  nur  eine  Steigerung  er- 
fuhr. Im  allgemeinen  wird  uns  das  Verhältniss  der  vorhandenen 
Kenntnisse  zu  der  augenblicklichen  geistigen  Leistungsfähigkeit  zum 
richtigen  Verständnisse  des  einzelnen  Falles  führen.  Wo  sich  heraus- 
stellt, dass  der  Kranke  sich  früher  Wissen  und  Fertigkeiten  erworben 


Behandlung. 


213 


hat,  zu  deren  Aneignung  er  zur  Zeit  gänzlich  unfähig  erscheint, 
muss  eben  ein  Krankheitsvorgang  zerstörend  in  das  geistige  Leben 
eingegriffen  haben.  Oft  gelingt  es  dann  auch  nachträglich,  durch 
Schulzeugnisse,  Aufsätze,  Briefe  aus  früherer  Zeit  den  bestimmten 
Nachweis  eines  mehr  oder  weniger  deutlichen  Rückganges  der 
geistigen  Leistungsfähigkeit  zu  führen.  — 

Da  wir  die  eigentlichen  Ursachen  der  Dementia  praecox  nicht 
kennen,  wird  die  Behandlung  derselben  nur  die  Bekämpfung  der 
einzelnen  Krankheitserscheinungen  zur  Aufgabe  haben.  Im  Beginne 
ist  bei  den  acut  und  subacut  entstehenden  Fällen  zur  Verhütung 
von  Unglücksfällen  und  Selbstmorden  meist  die  Verbringung  in  die 
Anstalt  geboten.  Bettruhe,  Ueberwachung,  Sorge  für  Schlaf  und 
Nahrungsaufnahme  sind  hier  die  wichtigsten  Erfordernisse.  Bei  den 
Erregungszuständen  sind  Dauerbäder  am  Platze,  während  bei  aus- 
geprägter katatonischer  Tobsucht  unter  Umständen  durch  die  plan- 
mässige  Anwendung  feuchter  Wicklungen  raschere  und  nachhaltigere 
Beruhigung  erzielt  wird.  Schlafmittel  und  Narkotica  nützen  hier  in 
der  Regel  wenig;  höchstens  kann  man  Hyoscin  oder  Sulfonal  wurf- 
weise versuchen.  In  einzelnen  Fällen  wird  übrigens  schon  durch 
einfaches  Zureden  wenigstens  vorübergehend  Beruhigung  herbei- 
geführt. Während  der  Stuporzustände  tritt  die  Sorge  für  Rein- 
haltung und  Ernährung  der  Kranken  in  den  Vordergrund.  Gar 
nicht  selten  zwingt  die  anhaltende  Nahrungsverweigerung  zur  Sonden- 
fütterung; regelmässige,  häufige  Wägungen  sind  dabei  unerlässlich. 
Der  Gefahr  vielfacher  absichtlicher  und  unabsichtlicher  Selbstver- 
letzungen lässt  sich  durch  die  Anwendung  von  Polsterbett  oder 
Polsterzimmer  einigermassen  begegnen;  trotzdem  aber  entstehen 
immer  noch  oft  genug  Hautabschürfungen,  Quetschungen,  Furunkel 
u.  s.  f.,  die  dann  eine  sehr  sorgfältige  und  meist  ungemein  schwierige 
Behandlung  erfordern,  da  die  Kranken  widerstreben,  die  Verbände 
abreissen,  sich  immer  aufs  neue  misshandeln. 

Sobald  die  acuten  Störungen  zurücktreten,  gilt  es,  nach  Möglich- 
keit zu  erhalten,  was  die  Krankheit  nicht  zerstört  hat.  Vielfach  wird 
nun  die  Rückkehr  in  die  Familie  möglich  und  sogar  zweckmässig 
sein,  wenn  die  Verhältnisse  einigermassen  günstig  und  wenn  nicht 
Erregungszustände,  Unreinlichkeit,  Nahrungsverweigerung  und  ähn- 
liche schwerere  Erscheinungen  zurückgeblieben  sind.  Selbst  manche 
der  schwierigeren  Kranken  halten  sich  übrigens  zu  Hause  über- 


214 


V.  Die  Dementia  praecox. 


raschend  gut,  so  dass  man  mit  Entlassungsversuchen  nicht  allzu 
ängstlich  zu  sein  braucht;  bei  weiblichen  Kranken  ist  allerdings 
immer  die  Gefahr  einer  Schwängerung  bei  mangelhafter  Aufsicht 
zu  beachten.  Die  grosso  Mehrzahl  der  geistigen  Krüppel  und  Halb- 
krüppel nach  Dementia  praecox  sammelt  sich  allmählich  in  den 
grossen  Irren-  und  Pflegeanstalten  an,  ja  diese  Kranken  bilden,  da 
sie  nicht  rasch  absterben  und  oft  ihr  ganzes  Leben  in  der  Anstalt 
zubringen,  geradezu  die  Hauptmasse  der  versorgungsbe- 
dürftigen Irren.  Was  ihnen  noth  thut,  ist  die  Beschäftigung, 
die  allein  im  Stande  ist,  sie  vor  völligem  Versinken  in  Stumpfsinn 
zu  bewahren.  Eür  sie  sind  daher  vielleicht  noch  mehr,  als  für  andere 
Krankheitsformen,  die  Irrencolonien  mit  ihrer  mannigfaltigen  Be- 
schäftigung und  der  freien,  die  Selbständigkeit  möglichst  erhalten- 
den Behandlungsart  ein  kaum  genug  zu  schätzender  Segen.  Viel- 
fach sieht  man  hier  selbst  recht  verblödete  Kranke  doch  auf 
beschränktem  Gebiete,  in  Feld  und  Garten,  in  Viehstall  oder  Werk- 
statt, beim  Abschreiben,  Zeichnen,  Lesen,  beim  Kochen,  Waschen  oder 
im  Bügelzimmer,  bei  der  Hausarbeit  oder  in  der  Kähstube  noch 
j freudig  und  nützlich  den  Rest  von  Fähigkeiten  verwerthen,  den 
ihnen  die  Krankheit  gelassen  hat.  Bei  den  ungemein  häufig  auf- 
tretenden Erregungszuständen  genügt  meist  die  vorübergehende  Ver- 
setzung in  die  Wachabtheilung  und  Bettruhe. 


YI.  Die  Dementia  paralytica. 

Aus  der  Reihe  von  Geisteskrankheiten,  die  mit  gröberen  ner- 
vösen Störungen  einhergehen  und  auf  eine  tiefer  greifende,  anatomisch 
erkennbare  Veränderung  des  Gehirnes  hiudeuten,  hat  sich  seit  den 
Schilderungen  Bayles  (1822)  und  Calmeils  (1826),  namentlich 
aber  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  ein  bestimmtes  Krankheitsbild 
herausgehoben,  dessen  Studium  wegen  der  hervorragenden  Be- 
theiligung des  Seelenlebens  nicht  der  Hirnpathologie,  sondern  vor- 
zugsweise der  Psychiatrie  anheimgefallen  ist.  In  der  That  hat  jene 
ausgebreitete  und  fortschreitende  Zerstörung  der  verschiedensten 
Theile  des  Nervensystems,  welche  der  Dementia  paralytica  zu  Grunde 
liegt,  so  erhebliche  und  mannigfaltige  Veränderungen  der  psychischen 
Leistungen  zur  Folge,  dass  sie  vielfach  die  wichtigsten  Erscheinungen 
im  Krankheitsbilde  darstellen,  während  man  die  begleitenden  ner- 
vösen Störungen  sogar  lange  Zeit  hindurch  als  blosse  „Complicationen“ 
aufzufassen  geneigt  war. 

Das  allgemeine  klinische  Bild  der  Dementia  paralytica*)  oder 
progressiven  Paralyse  der  Irren  („Gehirnerweichung“)  ist  dasjenige 
eines  fortschreitenden  Blödsinns  mit  sehr  mannigfaltigen  nervösen 
Reizungs-  und  Lähmungserscheinungen.  Die  psychischen  wie  die 
körperlichen  Störungen  erreichen  regelmässig  die  denkbar  höchsten 
Grade,  wenn  nicht  vorher  ein  Zwischenfall  dem  Leben  ein  Ende 
macht;  sie  führen  zur  vollständigen  Vernichtung  der  geistigen  und 
physischen  Persönlichkeit.  Vielfach  wird  dieser  Vorgang  auch  auf 


*)  Voisin,  traite  de  la  paralysie  generale  des  alienes.  1879;  Mendel,  Die 
progressive  Paralyse  der  Irren.  1880,  Mickle,  general  paralysis  of  the  insane, 
2.  ed.  1886;  v.  Krafft-Ebing,  Nothnagels  specielle  Pathologie  u.  Therapie, 
Bd.  IX,  2.  1894;  Ilberg,  Volkmanns  klinisch!  Vorträge,  161. 


216 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


seelischem  Gebiete  von  mehr  oder  weniger  ausgeprägten  Reiz- 
erscheinungen begleitet,  von  Aufregungen,  Verstimmungen,  Wahn- 
bildungen verschiedensten  Inhaltes.  Wasaberallen  diesen  Störungen  den 
gemeinsamen  Stempel  aufdrückt,  das  ist  eine  eigenartige  psychische 
Schwäche,  welche  dem  Kundigen  sofort  die  verhängnisvolle  Grund- 
lage des  ganzen  Krankheitsvorganges  verräth. 

Auf  dem  Gebiete  der  Verstandesthätigkeit  zeigt  sich  vom 
Herannahen  der  Krankheit  an  vielfach  eine  auffallende  Erschwerung 
der  Auffassung  und  des  Verständnisses  äusserer  Eindrücke,  die  sich 
durch  Messungen  schon  in  ihren  ersten  Anfängen  nachweisen  lässt 
Der  Kranke  wird  zerstreut,  unaufmerksam,  nimmt  die  Vorgänge  in 
seiner  Umgebung  nicht  mit  der  früheren  Klarheit  und  Schärfe 
wahr,  achtet  nicht  mehr  auf  Einzelheiten,  verwechselt  und  verkennt 
Personen  und  Gegenstände,  übersieht  wichtige  Umstände  oder  Ver- 
änderungen, die  ihm  früher  nicht  entgangen  wären,  verirrt  sich  in 
ihm  sonst  bekannten  Gegenden.  Ich  entsinne  mich  eines  Zimmer- 
manns,  der  eines  Tages  plötzlich  den  Arbeitsplatz  nicht  mehr-  auffand, 
auf  dem  er  bis  dahin  regelmässig  beschäftigt  gewesen  war. 

Auch  wenn  die  Störung  auf  den  ersten  Blick  noch  nicht 
stärker  hervortritt,  pflegt  sie  sich  doch  in  der  Unfähigkeit  zu 
dauernder  Anspannung  der  Aufmerksamkeit  geltend  zu  machen. 
Das  Verständniss  für  längere,  verwickeltere  Gedankengänge,  für 
feinere  Anspielungen  und  Witze  geht  dem  Kranken  verloren-,  er 
vermag  Erzählungen  nicht  mehr  in  ihrem  Zusammenhänge  zu 
begreifen,  überhört  Theile  derselben,  bleibt  nicht  bei  der  Sache, 
verliert  den  Ueberblick  und  vermag  sich  schliesslich  selbst  im  Kreise 
seiner  gewohnten  Verhältnisse  und  Obliegenheiten  nur  mit  grosser 
Mühe  oder  gar  nicht  mehr  zurecht  zu  finden. 

Auf  diese  Weise  entwickelt  sich  eine  mehr  oder  weniger  aus- 
gesprochene Bewusstseinstrübung,  und  der  Kranke  lebt  nun  wie 
im  Traume  oder  wie  in  einem  leichten  Rausche.  Einer  meiner  Kranken 
wurde  daher  vom  Untersuchungsrichter  geradezu  für  betrunken  ge- 
halten. Oft  liefert  schon  im  Beginne  des  Leidens  diese  eigentüm- 
liche Benommenheit,  welche  den  Kranken  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  der  Wirklichkeit  entrückt,  ein  bedeutsames  diagnostisches  Merk- 
mal. Späterhin  kann  die  Desorientirtheit  trotz  anscheinender  Besonnen- 
heit in  einzelnen  Fällen  bei  oberflächlicher  Betrachtung  sogar  den 
Eindruck  eines  epileptischen  Dämmerzustandes  machen.  Der  Kranke 


Allgemeine  Krankbeitszeichen. 


217 


versteht  wol  die  an  ihn  gerichteten  Fragen,  erzählt  ziemlich  geordnet, 
hat  aber  keine  Ahnung,  wo  er  ist,  mit  wem  er  spricht,  in  welcher 
Lage  er  sich  befindet,  beachtet  die  Vorgänge  in  seiner  Umgebung 
nicht,  sondern  lebt  in  einer  ganz  anderen  Welt.  In  den  letzten 
Stadien  der  Krankheit  sinkt  dann  die  Helligkeit  des  Bewusstseins 
dauernd  und  endgültig  auf  jene  niedrigst  möglichen  Grade  herab, 
welche  eine  Auffassung  und  Verarbeitung  äusserer  Eindrücke  völlig 
ausschliessen. 

Hit  zu  den  ersten  Zeichen  der  Krankheit  gehört  häufig  eine  Steige- 
ning  der  Erm  iidbarkei  t.  Dem  Kranken  fällt  die  langgewohnte  Arbeit 
auffallend  schwer;  er  muss  häufige,  neue  Anläufe  nehmen,  sich  aus- 
ruhen, fühlt  sich  nach  kurzer  Thätigkeit  bereits  abgespannt  und  unfähig. 
Bei  jeder  kleinen  Schwierigkeit  stockt  er,  verliert  leicht  den  Faden,  muss 
öfters  von  vorn  anfangen.  Nicht  selten  begegnet  es  ihm,  dass  er  mitten 
in  der  Arbeit  von  der  Müdigkeit  übermannt  wird  und  einschläft. 

Eine  verhältnissmässig  geringe  Rolle  pflegen  in  der  Paralyse 
Sinnestäuschungen  zu  spielen,  so  gering,  dass  man  früher  bis- 
weilen ihr  Vorkommen  hier  überhaupt  geleugnet  hat.  Ohne  Zweifel 
verläuft  wol  die  Mehrzahl  der  Fälle  ohne  solche  Störungen;  ebenso 
imzweifelhaft  ist  es  aber,  dass  ausgeprägte  Trugwahrnehmungen 
aller  Sinne  gelegentlich  beobachtet  werden.  In  vereinzelten  Fällen 
treten  Gehörstäuschungen  so  sehr  in  den  Vordergrund,  dass  die  Er- 
krankung zunächst  in  hohem  Grade  dem  Wahnsinn  der  Trinker 
oder  Cocainisten  gleichen  kann.  Bisweilen  hört  man  die  Kranken 
mit  verstellter  Stimme  auf  ihre  eigenen  Aeusserungen  antworten, 
so  dass  eine  Art  Zwiegespräch  mit  einer  eingebildeten  Person  zu 
Stande  kommt,  ohne  dass  es  sich  jedoch  um  wirkliche  Gehörs- 
täuschungen handelt.  Vielmehr  werden  hier  Rede  wie  Gegenrede 
von  den  Kranken  laut  vorgebracht,  während  es  bei  den  Unter- 
haltungen mit  ,, Stimmen“  entweder  ganz  stumm  hergeht  oder  doch 
nur  die  Erwiderungen  der  Kranken  auf  ihre  hallucinatorischen 
Wahrnehmungen  dem  Hörer  zugänglich  sind.  Gefühlstäuschungen 
mit  dem  Wahne  geheimnissvoller  Beeinflussung  kommen  gar  nicht 
selten  zur  Beobachtung.  Ueberaus  lebhafte  Gesichtstäuschungen 
pflegen  bei  den  Kranken  mit  Sehnervenatropbie  vorzukommen,  so 
lebhaft,  dass  die  Kranken  ihre  Blindheit  gar  nicht  bemerken, 
sondern  sich  in  einer  Welt  von  bunten,  farbenreichen  Gesichtsein- 
drücken zu  bewegen  glauben.  „Ich  kann  im  Dunkeln  sehen,“ 


218 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


antwortete  mir  ein  solcher  Kranker  entrüstet  auf  meine  Frage, 
ob  er  etwas  wahrnehme;  dabei  war  längst  jede  Spur  von  Seh- 
vermögen erloschen. 

Sehr  tiefgreifend  ist  ausnahmslos  die  Beeinträchtigung,  welche 
Merkfähigkeit  und  Gedächtniss  erleiden,  so  dass  die  Störungen 
auf  diesem  Gebiete  als  ganz  besonders  kennzeichnend  für  die  Para- 
lyse angesehen  werden  dürfen.  Im  Anfänge  ist  es  vielleicht  die 
unsichere  und  traumhaft  verschwommene  Auffassung  äusserer  Ein- 
drücke, welche  dieselben  nur  kurze  Zeit  in  der  Erinnerung  haften 
lässt.  Der  Kranke  vergisst  daher,  im  Gegensätze  zu  dem  gewöhn- 
lichen Verhalten  des  Gedächtnisses,  namentlich  die  Ereignisse  der 
jüngsten  Vergangenheit.  Er  weiss  nicht  mehr,  was  ihm  vor 
8 Tagen  begegnet  ist,  mit  wem  er  vorgestern  spazieren  ging,  welche 
Briefe,  welche  Arbeiten  er  zu  erledigen  hatte,  ja  er  kann  sich 
schliesslich  nicht  mehr  entsinnen,  was  er  vor  einer  Viertelstunde 
gethan,  ob  er  den  ihn  täglich  begriissenden  Arzt  schon  einmal  ge- 
sehen hat.  Das  Gefühl  dieser  Unsicherheit  und  Vergesslichkeit 
führt  die  Kranken  bisweilen  dazu,  sich  über  jedes  kleine  Erlebniss. 
jeden  Einfall,  den  sie  haben,  sofort  Aufzeichnungen  zu  machen,  in 
denen  sie  sich  freilich  später  selbst  nicht  mehr  zurechtfinden.  Dem 
gegenüber  können  weiter  zurück  liegende  Erinnerungen  noch  längere 
Zeit  hindurch  fest  und  lückenlos  haften,  während  der  frische  Er- 
werb sich  rasch  und  spurlos  -wieder  verwischt.  Es  ist  das  dieselbe 
Erscheinung,  der  wir  auch  beim  Altersschwachsinn  begegnen.  Oefter? 
fiel  es  mir  auf,  dass  paralytische  Frauen  auf  Befragen  ohne  weiteres 
ihren  Mädchennamen  nannten  und  nur  mühsam  oder  gar  nicht  auf 
ihren  Ehenamen  zu  bringen  waren. 

Besonders  rasch  geht  dem  Paralytiker  regelmässig  die  Möglich- 
keit einer  zeitlichen  Ordnung  ihrer  Erinnerungen  verloren. 
Da  sich  dem  Kranken  die  Wahrnehmungen  nicht  zu  jener  fest- 
gegliederten Kette  von  Erinnerungsbildern  zusammenschliessen,  welche 
uns  rückschauend  den  Abstand  der  einzelnen  Ereignisse  von  der 
Gegenwart  abzuschätzen  gestattet,  so  vermag  er  namentlich  die  seit 
der  Erkrankung  gemachten  Erfahrungen  nicht  mehr  in  einen  be- 
stimmten Zeitabschnitt  der  Vergangenheit  einzuordnen.  Es  gelingt 
ihm  nicht,  sich  die  Aufeinanderfolge  seiner  Erlebnisse  und  deren 
Zusammenhang  untereinander  ins  Gedächtniss  zurückzurufen.  Die 
Zeitgrenzen  verschwimmen  in  einander  und  verwischen  sich;  es 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


219 


wird  ihm  unklar,  ob  seit  einem  bestimmten  Ereignisse,  seit  seinem 
Eintritte  in  die  Anstalt  Monate,  Wochen  oder  Tage  verflossen  sind. 
Schliesslich  weiss  er  weder  Wochentag  noch  Datum,  ja  oft  nicht 
einmal  die  Jahreszahl,  „weil  er  keinen  Kalender  hat“,  oder  er  lässt 
sich  doch  in  seinen  Angaben  ausserordentlich  leicht  irre  machen. 
Nicht  selten  schreibt  er  z.  B.  als  heutiges  Datum  Jahr  und  Tag 
seiner  Geburt,  kann  ohne  weiteres  zu  ganz  unmöglichen  Zusammen- 
stellungen („30.  Februar“)  verleitet  werden.  Auch  die  gewöhnlichen 
Hülfsmittel  des  gesunden  Menschen,  ein  Blick  auf  die  Landschaft, 
den  Stand  der  Sonne,  die  Helligkeit,  die  Temperatur  u.  s.  f.,  nützen 
ihm  nichts,  da  er  sie  nicht  zu  verwerthen  versteht.  Trotz  des  ge- 
heizten Ofens  glaubt  er  der  Versicherung,  dass  es  Sommer  sei,  und 
die  frischen  Kirschen  auf  dem  Tische  erregen  ihm  keinen  Zweifel 
darüber,  ob  wir  uns  wirklich  im  December  befinden.  Einer  meiner 
Kranken  fragte  mich  nach  mehrmonatlichem  Anstaltsaufenthalte 
wochenlang  tagtäglich  von  neuem,  wo  er  sich  denn  eigentlich  befinde; 
er  müsse  geschlafen  haben,  sei  vor  kurzem  aufgewacht  und  sehe 
sich  nun  in  einer  ganz  fremden  Umgebung.  Schon  nach  einer 
halben  Stunde  hatte  er  die  ihm  gegebene  Auskunft  vergessen  und 
war  immer  wieder  höchlichst  erstaunt  über  die  Veränderung,  die 
sich  mit  ihm  „während  des  Schlafes“  vollzogen  haben  müsse.  Andere 
leben  so  sehr  im  Augenblicke,  dass  sie  nicht  einmal  die  Tageszeit 
mehr  auffassen,  nicht  wissen,  ob  seit  dem  Aufstehen  kürzere  oder 
längere  Zeit  verflossen  ist,  ob  sie  schon  zu  Mittag  gegessen  haben; 
sie  kleiden  sich  Vormittags  aus,  weil  es  Zeit  zum  Zubettgehen  sei, 
sind  gegen  Abend  entrüstet,  dass  man  ihnen  den  Kaffee  noch  nicht 
gebracht  habe.  So  hochgradig  sind  die  Störungen  freilich  nur  bei 
sehr  weit  vorgeschrittener  Krankheit,  aber  sie  sind  doch  oft  auch 
schon  im  ersten  Beginn  auffallend  genug,  um  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit die  Erkennung  der  Paralyse  zu  ermöglichen. 

Ausser  den  jüngsten  Eindrücken  wird  nach  und  nach  aber  aus- 
nahmslos auch  der  Erwerb  der  ferneren  Vergangenheit  mit  in 
die  Gedächtnissstörung  hineingezogen.  Am  leichtesten  gehen  dem 
Kranken  Eigennamen  verloren,  besonders  aber  Zahlen  und  Daten. 
Während  er  frühere  Erlebnisse  inhaltüch  noch  leidlich  gut  Vorbringen 
kann,  verwirrt  er  sich  in  der  zeitlichen  Ordnung,  verwechselt  die 
Namen  seiner  Kinder  und  wird  unsicher  im  Rechnen,  eine  Störung, 
die  namentlich  bei  Kaufleuten  und  Beamten  oft  sehr  auffallend 


220 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


und  natürlich  auch  folgenschwer  hervortritt.  Bisweilen  enthüllen 
schon  die  beiden  einfachen  Fragen  nach  Alter  und  Geburtsjahr  diese 
Schwäche,  indem  die  Kranken  zwei  widersprechende  Angaben 
machen,  ohne  deren  Unvereinbarkeit  zu  bemerken;  der  Geburtstag 
.pflegt  fester  zu  haften,  als  das  Jahr,  und  wird  daher  oft  zunächst  allein 
vorgebracht.  Auch  der  hülfesuchende  Blick,  mit  welchem  sie  sich  bei 
solcher  Gelegenheit  nach  ihrer  Umgebung  umsehen,  das  zögemdeNach- 
denken  oder  die  ausweichende  Antwort,  das  sei  aufgeschrieben,  stehe 
im  Taufschein,  der  Herr  Doctor  wisse  es,  genügen,  um  dem  kundigen 
Arzte  sofort  die  Sachlage  klar  zu  legen. 

Unaufhaltsam  vollzieht  sich  nunmehr  eine  fortschreitende  Ver- 
arm ungdesVor  stell  uugs  sc  hatzes,  welche  schliesslich  zur  völligen 
Vernichtung  des  gesammten  geistigen  Besitzstandes  führt.  Natürlich 
ist  die  Schnelligkeit,  mit  welcher  sich  dieser  Vorgang  abspielt,  eine 
sehr  verschiedene.  Sie  wird  wol  in  erster  Linie  durch  die  Art  und 
Stärke  des  Krankheitsprocesses  bestimmt,  dann  aber  auch  durch  den 
Umfang  der  persönlichen  Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit.  Die 
Reihenfolge,  in  welcher  allmählich  der  geistige  Erwerb  verloren  geht, 
dürfte  wesentlich  von  der  Festigkeit  abhängen,  mit  welcher  die  ein- 
zelnen Bestandtheile  haften.  Stark  eingeübte  Gedankenverbindungen 
widerstehen  am  längsten;  der  Kaufmann  pflegt  später  die  Herrschaft 
über  das  Einmaleins  zu  verlieren,  als  der  Bauer;  ein  junger  Hausirer 
rechnete  kleine  Geldsummen  noch  geläufig  zusammen,  als  er  sonst  schon 
tief  verblödet  war.  Bisweilen  haften  einzelne  ganz  nebensächliche  Vor- 
stellungen, die  durch  ein  zufälliges  Ereigniss  in  den  Vordergrund 
gedrängt  wurden,  auffallend  fest.  Ein  bereits  sehr  blödsinniger 
Kranker  wiederholte  Jahre  lang  bei  jeder  Unterredung  die  Zimmer- 
nummer der  Wasserheilanstalt,  in  der  er  sich  bis  zur  Aufnahme  in 
die  Klinik  befunden  hatte.  Schliesslich  weiss  der  Kranke  nicht 
mehr,  ob  er  verheirathet  ist,  ob  er  Kinder  hat,  womit  er  sich  früher 
beschäftigte,  ja  er  hat  vielleicht  sogar  sein  Alter,  seinen  Wohnort 
und  selbst  seinen  Namen  vergessen,  obgleich  er  sich  noch  halbwegs 
geordnet  in  seiner  Umgebung  zu  bewegen  vermag.  Auch  dann  aber 
kann  man  bisweilen  vorübergehend  noch  überraschend  richtige  Aus- 
kunft erhalten,  ein  Zeichen  dafür,  dass  zunächst  die  Vorstellungen 
nicht  selbst  untergegangen  waren,  sondern  der  Kranke  nur  unfähig 
geworden  ist,  sie  wachzurufen.  Eine  äussere  Anregung  kann  ihm 
dabei  zu  Hülfe  kommen.  Späterhin  schwinden  sie  freilich  voll- 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


221 


ständig;  der  Kranke  vermag  dann  nickt  mehr  seine  nächsten  An- 
gehörigen zu  erkennen. 

In  einzelnen  Fällen  lassen  sich  neben  der  allgemeinen  Ab- 
sckwäckung  des  Gedächtnisses  auch  Lücken  desselben  feststellen, 
bald  von  grösserem,  bald  von  geringerem  Umfange.  Dieselben 
scheinen  sich  besonders  gern  im  Anschlüsse  an  die  sogenannten  para- 
lytischen Anfälle  zu  zeigen.  Eine  meiner  Kranken  hatte,  als  sie 
nach  einem  kurz  dauernden  verwirrten  Aufregungszustande  wieder 
zur  Besinnung  kam,  die  Erinnerung  an  die  letzten  5 Monate  vor 
dem  Eintritte  vollständig  verloren,  obgleich  sie  sich  in  jener  Zeit 
verlobt  und  verkeirathet  hatte.  Während  sie  im  übrigen  vollkommen 
klar  geworden  war,  zeigte  sie  sich  höchst  erstaunt,  als  nun  ihr 
Mann  sich  ihr  vorstellte.  Nach  einem  späteren  ähnlichen  Anfalle 
vermochte  sie  sich  auch  ihres  nur  kurze  Zeit  zurückliegenden  ersten, 
sechswöchentlichen  Anstaltsaufenthaltes  nicht  zu  entsinnen  und  er- 
kannte trotz  ihrer  sonstigen  Besonnenheit  die  Aerzte  und  Wärterinnen 
durchaus  nicht  wieder. 

Sehr  häufig  wird  der  Ausfall  der  Erinnerung  ausgefüllt  durch 
die  Einbildungskraft.  Gerade  weil  die  wirklichen  Reminiscenzen 
verblassen  und  verschwinden,  hat  die  freie  Erfindung  einen  weiten 
Spielraum.  Nicht  nur  Träume,  Gehörtes  und  Gelesenes  werden  nun 
als  Erlebnisse  in  die  eigene  Vergangenheit  zurückverlegt,  sondern 
auch  eine  Reihe  rein  erfundener  Vorstellungen,  wie  sie  gerade  der 
Augenblick  hervorbringt.  Der  Kranke  hat  fabelhafte  Abenteuer  er- 
lebt, grosse  Schlachten  geschlagen,  mit  zahlreichen  Berühmtheiten  auf 
vertrautem  Fusse  gestanden,  seit  unvordenklichen  Zeiten  alle  histo- 
rischen Ereignisse  gelenkt  und  mitgemacht.  Er  hat  England  zer- 
stört, die  Perser  vernichtet,  Tausende  der  schönsten  Frauen  geraubt, 
das  Zahlensystem,  die  elektrische  Umwandlung  von  Holz  in  Gold 
erfunden,  die  Gedichte  des  Hafis  verfasst,  mit  den  Wikingern  Amerika 
entdeckt.  Auf  diese  Weise  geräth  der  Kranke  bisweilen  in  ein 
ganz  eigentümliches,  bunt  wechselndes  Spiel  der  abenteuerlichsten 
Vorstellungen  hinein,  welches  in  hohem  Grade  an  unser  Traumleben 
erinnert  und  in  merkwürdigem  Gegensätze  zu  seinem  sonstigen, 
eidlich  geordneten  Benehmen  steht.  Am  ausgeprägtesten  scheinen 
sich  solche  traumhafte  Dämmerzustände  mit  reichlichem  Fabuliren 
bei  den  Kranken  mit  Opticusatrophie  einzustellen;  sie  können 
Monate  und  Jahre  dauern.  Andererseits  beobachten  wir  nicht 


222 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


selten  gelegentlich,  dass  gerade  die  Erinnerung  an  die  jüngste 
Zeit  durch  einzelne  frei  erfundene  Reminiscenzen  verfälscht  wird. 
Der  Kranke  erzählt  in  gutem  Glauben,  dass  er  vor  einer  halben 
Stunde  eine  Mittheilung,  einen  Brief  empfangen,  Besuch  gehabt, 
gestern  beim  Kaiser  gespeist,  sich  am  Morgen  mit  einer  Prinzessin 
verlobt,  eine  Reise  gemacht  habe.  In  der  Regel  kann  man  solche 
Erzählungen  durch  Suggestivfragen  hervorrufen  und  beeinflussen. 
Dabei  merkt  man  dann  meist,  dass  die  Kranken  sich  bei  den  aus 
ihnen  herausgelockten  Aeusserungen  anfangs  unsicher  fühlen,  sich 
aber  allmählich  in  die  Ueberzeugung  hineinreden,  dass  alles  wirklich 
so  gewesen  ist. 

Eine  weitere,  folgenschwere  und  schon  früh  deutlich  hervor- 
tretende Störung  auf  dem  Gebiete  des  Verstandes  ist  die  Urtheils- 
losigkeit  der  Paralytiker.  Durch  dieses  Krankheitszeichen  offenbart 
sich  dem  Kundigen  oft  schon  dann  die  ganze  Grösse  und  Schwere  des 
Leidens,  wenn  sonst  noch  gar  kein  Grund  zur  Besorgniss  vorzu- 
liegen scheint.  Die  Gemiithsruke,  mit  welcher  der  Kranke  irgend 
einen  unsinnigen  Plan  vorbringt,  die  Vernachlässigung  der  nächst- 
liegenden  Einwände,  der  geringe  Widerstand  gegen  auftauchende 
Wahnbildungen,  die  Unfähigkeit  zu  folgerichtigem  Denken,  die  Un- 
überlegtheit der  Entschliessungen  fallen  meist  schon  früh  in  die 
Augen,  obgleich  die  feststehenden,  eingelernten  Denkgewohnheiten 
den  ganzen  Umfang  der  Unfähigkeit  in  den  höchsten  geistigen 
Leistungen  lange  Zeit  bis  zu  einem  gewissen  Grade  verdecken 
können.  Allmählich  gehen  dem  Kranken  die  durch  Erfahrung  er- 
worbenen, feststehenden  Grundbegriffe,  nach  welchen  wir  die  Welt 
beurtheilen,  die  Fähigkeit,  durch  Beobachtung  des  Thatsächlichen  die 
Gebilde  unserer  Einbildungskraft  zu  berichtigen,  mehr  und  mehr 
verloren,  und  er  geräth  dadurch  in  eine  Traumwelt,  in  welcher 
alles  der  eigenen  Vorstellung,  dem  eigenen  Wunsche,  der  eigenen 
Befürchtung  entspricht.  Auf  diese  Weise  kommt  es  zur  Entwicklung 
von  Wahnvorstellungen;  seine  ganze  Umgebung,  seine  gesummten  Ver- 
hältnisse werden  in  seinem  Sinne  verändert,  weil  er  sie  mit  besonderen 
Augen  ansieht  und  nicht  fähig  ist,  den  schneidenden  Widerspruch 
seiner  gefärbten  Auffassung  mit  der  Wirklichkeit  wahrzunehmen. 

Was  diesem  Vorgänge  bei  der  Paralyse  von  Anfang  an  ein 
ganz  eigenartiges  Gepräge  verleiht,  das  ist  die  zu  Grunde  liegende 
geistige  Schwäche.  Verhältnissmässig  selten  beobachten  wir  für 


Allgemeine  Krankkeitszeichen. 


223 


kürzere  oder  längere  Zeit  geschlossene,  einheitliche  Wahnbildungen, 
ähnlich  denjenigen  der  Verrückten,  die  sich  zudem  durch  eine  gewisse 
Verschwommenheit  und  Bestimmbarkeit  auszuzeichnen  pflegen.  Meist 
schiessen  dafür  bunt  durcheinander  die  verschiedenartigsten  Ideen 
empor,  um  ohne  die  mindeste  Rücksicht  auf  die  handgreiflichsten 
Widersprüche  hingenommen,  aber  ebenso  schnell  wieder  vergessen 
zu  werden.  Daher  die  ausserordentliche  Unsinnigkeit  und  Aben- 
teuerlichkeit der  paralytischen  Wahnvorstellungen,  die  sofort 
über  das  Wahrscheinliche  oder  auch  nur  Mögliche  mit  verblüffender 
Unbefangenheit  weit  hinauszuschweifen  pflegen.  Wo  die  Regsamkeit 
der  Einbildungskraft  die  Vernichtung  der  Kritik  überdauert,  kann 
die  Massenhaftigkeit  und  Ueppigkeit  der  Wahnbildungen  zeitweise 
eine  sehr  grosse  sein,  ähnlich  wie  bei  den  paranoiden  Formen 
der  Dementia  praecox. 

Mit  der  geistigen  Schwäche  des  Paralytikers  hängt  auch  der 
Umstand  zusammen,  dass  der  Wahn  hier  nichts  weniger  als  fest- 
stehend zu  sein  pflegt,  sondern  sich  häufig  durch  innere  Anstösse 
wie  durch  äussere  Einflüsse  fortwährend  verändert.  Während  der 
Verrückte  sein  System  wol  bereichert,  aber  dasselbe  in  allen  wesent- 
lichen Punkten  dauernd  gleichlautend  wieder  vorbringt,  pflegt  jede 
Darstellung  des  paralytischen  Wahnes  so  zahlreiche  und  bedeutende 
Abweichungen  von  den  früheren  Lesarten  darzubieten,  wie  sie  selbst 
bei  der  Dementia  praecox  ungewöhnlich  sind.  Der  Graf  von  gestern 
ist  heute  vielleicht  Kaiser  und  morgen  der  jüngste  Lieutenant,  ja 
es  gelingt  sehr  häufig  durch  verfängliche  Fragen,  Einreden  und 
lebhafte  Anregung  des  Kranken,  ihn  binnen  wenigen  Minuten  zu 
einer  raschen  Selbststeigerung  seiner  Ideen  bis  ins  Ungeheuerlichste 
hinein  zu  treiben.  Andererseits  sehen  wir  die  ausgedehntesten 
Wahnbildungen  hier  nicht  selten  ganz  unvermittelt  wieder  schwinden. 
Sie  gerathen  bei  dem  Kranken ; auch  ohne  dass  sie  durch  neue 
Vorstellungen  ersetzt  werden,  einfach  in  Vergessenheit;  seltener 
kommt  es  zu  wirklicher  Berichtigung  mit  klarer  Anerkennung  ihrer 
Wahnhaftigkeit. 

Im  allgemeinen  freilich  machen  es  die  Zerfahrenheit  und  Zu- 
sammenhangslosigkeit des  Gedankenganges,  die  Unfähigkeit  zu  ver- 
ständiger Selbstprüfung  erklärlich,  dass  eine  wirkhche  Krankheits- 
einsicht in  der  Paralyse  zumeist  nicht  zu  Stande  kommen  kann. 
Im  Gegentheil  fühlen  sich  die  Kranken  häufig  gesünder  als  jemals, 


224  VI.  Die  Dementia  paralytica. 

oder  sie  bemerken  doch  wenigstens  nicht,  dass  ihre  ganze  geistige 
Kraft  gebrochen  ist,  eben  weil  ihnen  die  Fähigkeit  verloren  gegangen 
ist,  ihren  jetzigen  Zustand  mit  demjenigen  in  längst  vergessenen 
gesunden  Tagen  zu  vergleichen.  Nur  im  Beginne  der  Krankheit 
ist  bisweilen  ein  richtiges  Verständniss  für  die  Natur  des  Leidens 
und  das  bevorstehende  Schicksal  vorhanden.  Ich  besitze  den  Brief 
eines  Obersten,  in  welchem  derselbe  den  Entschluss  ankündigt,  sich 
das  Leben  zu  nehmen,  weil  er  an  Gehirnerweichung  leide  und  ein 
blöder  Tölpel  werden  müsse.  Der  weitere  Verlauf  der  Krankheit 
rechtfertigte  seine  Ahnung  nur  zu  vollkommen.  Dass  die  Kranken 
wenigstens  das  Herannahen  eines  schweren,  unheilbaren  Leidens 
deutlich  empfinden,  ist  nicht  gerade  selten.  Vielfach  lassen  allerlei 
nervöse  oder  auch  rein  hypochondrische  Beschwerden  wol  den 
Patienten  sich  selbst  für  krank  halten,  ohne  dass  er  doch  die 
wahren  Zeichen  seines  Leidens  als  solche  auffasst  und  anerkennt. 
Von  einer  wirklichen  Kraukheitseinsicht  ist  dabei  natürlich  nicht 
die  Rede. 

Kaum  geringere  Störungen,  als  die  Verstaudesthätigkeit,  bietet 
die  Stimmung  der  Kranken  dar.  In  der  ersten  Zeit  der  Paralyse 
ist  es  namentlich  die  erhöhte  Reizbarkeit,  welche  der  Umgebung 
aufzufallen  pflegt.  Der  Kranke  ist  launenhaft,  leicht  verstimmt  und 
verdriesslich,  geräth  bei  geringfügigen  Anlässen  in  rasch  vorüber- 
gehende, grundlos  heftige  Aufregung,  in  der  er  die  Herrschaft 
über  sich  selbst  vollständig  verliert  und  sich  wol  gar  gelegentlich 
zu  Thätlichkeiten  hinreissen  lässt.  Auf  der  andern  Seite  ist  schon 
jetzt  nicht  selten  eine  gewisse  Stumpfheit  gegenüber  weiterreichen- 
den gemüthlichen  Anforderungen  bemerkbar,  die  auf  ein  Zurücktreten 
der  höheren  und  feineren  Gefühle  hindeutet.  Die  Freude  an  geistiger 
Arbeit,  an  künstlerischen  Genüssen,  an  den  gemüthlichen  Beziehungen 
zur  Umgebung,  zur  eigenen  Familie  weicht  einer  trägen  Gleichgültig- 
keit, die  zu  der  sonstigen  Reizbarkeit  des  Kranken  in  auffallendem 
Widerspruche  steht. 

Die  gleichen  Eigenthümlichkeiten , leichte  Erregbarkeit  auf  der 
einen,  Mangel  an  tieferen,  nachhaltigeren  Gefühlen  auf  der  anderen 
Seite,  erhalten  sich  meist  auch  während  des  weiteren  Verlaufes  der 
Krankheit.  Dabei  zeigt  die  Färbung  der  Stimmung  meist  Ueber- 
einstimmung  mit  dem  Inhalte  der  Wahnideen,  vielleicht  weil  dieser 
letztere  wesentlich  durch  jene  beeinflusst  wird.  Grössenideen 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


225 


werden  von  befriedigter,  oft  überaus  glückseliger  Stimmung  begleitet, 
während  wir  auf  der  anderen  Seite  tiefe  Niedergeschlagenheit  oder 
heftige  Angstzustände  in  Verbindung  mit  quälenden  Wahnvor- 
stellungen beobachten.  Bisweilen  allerdings  werden  auch  trübe 
Vorstellungen  mit  strahlender  Miene  vorgebracht.  Regelmässig  aber 
ist  es  nicht  eine  und  dieselbe  Färbung  des  Stimmungshintergrundes, 
welche  den  ganzen  Kranbheitsverlauf  begleitet.  Vielmehr  ist  ein 
unvermittelter  Wechsel  der  Gefühlsregungen  in  so  hohem  Maasse 
der  Paralyse  eigen thümlich,  dass  sich  auf  ihn  bisweilen  geradezu  die 
Erkennung  der  Krankheit  stützt.  Mitten  hinein  in  das  Uebermaass 
der  Fröhlichkeit  bricht  plötzlich  ein  Thränonstrom,  oder  das  hypo- 
chondrische Elend  wird  durch  die  kindische  Freude  über  irgend  einen 
ausserordentlichen  Vorzug  abgelöst.  Ganz  besonders  bemerkenswert!! 
ist  es,  dass  es  häufig  gelingt,  diese  raschen  Wandlungen  durch  die 
Anregung  geeigneter  Vorstellungen,  ja  schon  durch  den  Tonfall  der 
Stimme,  den  Gesichtsausdruck  gewissermassen  künstlich  herbeizuführen 
und  ebenso  wieder  zu  beseitigen.  Auch  ohne  Zusammenhang  mit 
Wahnbildungen  kann  übrigens  eine  Art  blöder  Zufriedenheit  oder 
reizbarer  Missvergnügtheit  das  Fortschreiten  der  gemiithlichen 
Stumpfheit  bis  zu  ihren  höchsten  Graden  noch  längere  Zeit  begleiten. 

Natürlich  wird  durch  diese  Störungen  der  Charakter  des 
Kranken  vollkommen  umgewandelt.  An  Stelle  der  früheren  Festig- 
keit und  Selbständigkeit  tritt  eine  fortschreitende  Willensschwäche 
und  Haltlosigkeit,  die  sich  in  auffallender  Weichheit  und  Em- 
pfindsamkeit, zuweilen  auch  in  einer  Art  blödsinnigen,  triebartigen 
Eigensinns  kundgiebt.  Während  die  eigene  innere  Regsamkeit,  die 
„Initiative“,  mehr  und  mehr  schwindet,  lässt  sich  der  Kranke  bei 
geschicktem  Angreifen  fast  immer  leicht  nach  jeder  beliebigen 
Richtung  hin  lenken.  Namentlich  die  von  den  Angehörigen  meist 
sehr  gefürchtete  Verbringung  in  die  Anstalt  geht  zu  deren  grösster 
Ueberraschung  oft  ohne  jede  Schwierigkeit  von  Statten.  Die  sorg- 
lose Selbstverständlichkeit,  mit  welcher  Paralytiker  sich  trotz  völligem 
Mangel  des  Krankheitsgefühls  ohne  weiteres  in  der  Anstalt  einzu- 
leben pflegen,  das  schöne  Zimmer,  die  gute  Verpflegung,  die  Be- 
handlung rühmen  und  gern  „noch  eine  Zeitlang  dableiben“,  zeigt 
ihre  Willensschwäche  vielleicht  am  deutlichsten.  Ein  paar  freund- 
liche Worte,  ein  Scherz,  eine  ausweichende  Antwort  genügen  dann, 
den  Kranken  immer  wieder  zu  beruhigen,  auch  wenn  er  täglich 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  And.  II.  Band.  15 


226 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


seine  Abreise  auf  „morgen“  anberaumt,  seine  Unentbehrlichkeit  zu 
Hause  betont  und  seine  dringenden  Zukunftspläne  auseinandersetzt. 
Auf  diese  Weise  wird  er  alsbald  unfähig  zu  irgendwelcher  geord- 
neten Arbeitsleistung,  da  er  seine  Obliegenheiten  zum  Theil  einfach 
vergisst  oder  vernachlässigt,  zum  Theil  aber  lückenhaft,  unordentlich 
und  fehlerhaft  erledigt.  Ein  sehr  fein  gebildeter,  vollständig  be- 
sonnener Herr  bat  sich  am  Tage  seines  Eintritts  in  die  Klinik  ein 
Conversationslexikon  zur  Lecttire  aus  und  wünschte  am  nächsten 
Tage  einen  neuen  Band,  da  er  den  ersten  ausgelesen  habe. 

Andererseits  pflegt  der  Kranke  auch  widerstandslos  den  in  ihm 
auftauchenden  Antrieben  und  Einfällen  zu  folgen.  Seine  Handlungen 
tragen  daher  den  Stempel  des  Unüberlegten  und  Planlosen.  Einer 
meiner  Kranken  sprang  aus  dem  Fenster  des  zweiten  Stockwerks, 
um  einen  unten  bemerkten  Cigarrenstumpf  aufzusuchen,  und  zog 
sich  dabei  einen  Fibulabruch  zu;  ein  anderer  wollte  sich  an  einem 
ganz  dünnen  Faden  von  oben  herunterlassen  und  stürzte  dabei  in 
die  Tiefe.  Selbst  Verbrechen  können  auf  diese  Weise  begangen 
werden,  ohne  dass  der  Kranke  im  Stande  wäre,  die  Tragweite  und 
Bedeutung  derselben  irgendwie  zu  übersehen.  Häufig  gesellt  sich 
dazu  eine  überstürzte  Vielgeschäftigkeit.  In  rascher  Folge  und  ohne 
Besinnen  sucht  der  Kranke  seine  wahnhaften  Pläne  auszuführen, 
nicht  in  der  zähen,  folgerichtigen,  von  langer  Hand  vorbereitenden 
Art  des  Verrückten,  sondern  er  thut  bereits  die  einleitenden  Schritte, 
sobald  ihm  nur  der  Gedanke  aufgestiegen  ist,  um  ihn  im  nächsten 
Augenblicke  wieder  über  etwas  Anderem,  Grösserem  zu  vergessen 
und  fallen  zu  lassen. 

Im  Benehmen  des  Kranken  macht  sich  die  Paralyse  als  eine 
Abstumpfung  gegen  die  Anforderungen  des  Anstandes  und  der 
Sitte  geltend,  die  ihn,  wie  den  Angetrunkenen,  leicht  Tactlosig- 
keiten,  Ungenirtheiten  und  selbst  grobe  Verstösse  begehen  lässt, 
ohne  dass  er  das  mindeste  Verständniss  dafür  besässe.  Jene  an- 
erzogenen feinen  Hemmungen  und  Antriebe,  welche  auch  die  äussere 
Form  unseres  Thuns  und  Lassens  jederzeit  uach  der  Bücksicht 
auf  unsere  Umgebung  regeln,  gehen  dem  Paralytiker  sogar  schon 
sehr  früh  verloren,  am  leichtesten  und  vollständigsten  natürlich 
dort,  wo  nicht  eine  lange  Gewohnheit  oder  natürliche  Anlage 
dieselben  sehr  tief  dem  Wesen  des  Menschen  eingeprägt  hat 
Im  letzteren  Falle  kann  man  auch  recht  blödsinnige  Kranke 


Allgemeine  Krankheitszeiclien.  227 

noch  die  Schablone  der  Verk ehrsformen  leidlich  gut  sich  bewahren 
sehen. 

Bei  grösserer  Benommenheit  oder  fortgeschrittener  geistiger 
Schwäche  stellen  sich  endlich  in  der  Paralyse  nicht  selten  ein- 
zelne jener  Krankheitserscheinungen  ein,  die  wir  früher  als 
katatonische  näher  kennen  gelernt  haben.  Nicht  nur  Katalepsie  ist 
wenigstens  vorübergehend  häufig  genug,  sondern  auch  Echolalie, 
Echopraxie  und  Yerbigeration.  Andeutungen  von  Negativismus 
werden  vielfach  beobachtet,  Stummheit,  Nahrungsverweigerung, 
Widerstreben  gegen  Aufforderungen  und  Eingriffe,  Zurückhalten 
von  Koth  und  Urin,  eigensinniges  Festhalten  derselben  Stellung. 
Zumeist  indessen  ist  der  Widerstand  der  Kranken  viel  wechseln- 
der und  unbeständiger,  als  in  der  Katatonie,  lässt  sich  auch  öfters 
durch  Zureden  überwinden,  so  dass  es  zweifelhaft  bleiben  muss,  ob 
die  äusserlich  ähnlichen  Krankheitserscheinungen  auch  wirklich  den- 
selben Ursprung  haben.  Seltener  sind  ausgeprägtere  Bewegungs- 
stereotypen, unablässiges  Wischen  und  Zupfen,  Abwehrbewegungen, 
Pendeln,  eintöniges,  lange  fortgesetztes  thierisches  Brüllen  oder 
Schreien.  Zudem  scheinen  sie  nicht,  wie  bei  der  Katatonie,  rein 
triebartig  zu  sein,  sondern  meist  erstarrte  Reste  ursprünglich 
sinnvoller  Handlungen  darzustellen.  Yon  der  Berechtigung,  solche 
vereinzelten  Fälle  zu  einer  besonderen,  katatonischen  Form  der 
Paralyse  zusammenzufassen,  habe  ich  mich  bisher  nicht  überzeugen 
können. 

Was  der  Paralyse  vor  allem  ihr  eigenartiges  klinisches  Gepräge 
verleiht,  sind  die  nervösen  Störungen,  welche  den  ganzen  Ver- 
lauf derselben  begleiten.  Als  sehr  regelmässige  Erscheinung  im 
Beginne  der  Erkrankung  beobachtet  man  starke  Kopfschmerzen, 
die  meist  als  ein  dumpfer,  aber  äusserst  heftiger  Druck  geschildert 
werden,  als  ob  das  Gehirn  mit  grosser  Gewalt  zusammengepresst 
würde.  Am  stärksten  pflegt  derselbe  in  der  Stirngegend  zu  sein. 
Dazu  gesellen  sich  oft  die  Anzeichen  von  Blutwallungen  (Ohren- 
sausen, Funkensehen,  Schwindel  gef iihl).  Yon  Seiten  der  Sinnes- 
organe lässt  sich  anfangs  oft  gesteigerte  Erregbarkeit,  später  nicht 
selten  eine  leichtere  oder  schwerere  Abstumpfung  der  Empfindlich- 
keit feststellen,  die  aber  zweifellos  in  der  Regel  vorzugsweise  auf  den 
psychischen  Zustand,  insbesondere  die  mangelnde  Aufmerksamkeit 
zurückzuführen  ist.  Eine  eigenthümliche  Sehstörung,  die  häufig  nach 

15* 


228 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


paralytischen  Anfällen  hervortritt  und  sich  bei  negativem  Augen- 
spiegelbefunde durch  Erschwerung  des  Erkennens  und  der  Locali- 
sation  von  Gegenständen  auszeichnet,  ist  von  Fürstner  beschrieben 
und  auf  Herderkrankungen  in  der  Hinterhauptsrinde  zurückgeführt 
worden.  Auch  hier  dürften  verwickeltere  psychische  Störungen, 
namentlich  Asymbolie,  eine  wichtige,  wenn  nicht  die  Hauptrolle 
spielen.  Hemianopische  Störungen  lassen  sich  hie  und  da  nach- 
weisen,  besonders  nach  paralytischen  Anfällen.  Auf  der  anderen 
Seite  jedoch  sind  auch  greifbare  krankhafte  Befunde  am  peripheren 
Sinnesorgane,  am  Auge,  zu  verzeichnen.  Atrophie  der  Sehnerven 
verschiedenen  Grades  wird  in  4 — 5,  nach  Möli’s  Angaben  sogar  in 
12°/0  der  Fälle  beobachtet;  bisweilen  bildet  sie  das  erste  Anzeichen 
des  herannahenden  Leidens.  Ausserdem  hat  man  bisweilen  über 
eine  keineswegs  eigenartige  „Retinitis  paralytica“  und  eine  ganze 
Reihe  anderer,  mehr  gelegentlicher,  recht  verschiedener  Veränderungen 
am  Auge  berichtet. 

Sehr  auffallend  sind  die  Störungen  auf  dem  Gebiete  des  Haut- 
sinnes. Im  Beginne  des  Leidens  stellen  sich  öfters  allerlei  unbestimmte, 
„rheumatoide“  Schmerzen  oder  unangenehme  Empfindungen  ein,  die 
bisweilen  längere  Zeit  das  einzige  hervortretende  Zeichen  der  Eirank- 
heit bilden.  Ich  sah  einen  derartigen  Kranken,  der  über  reissende 
Schmerzen  unter  dem  linken  Schulterblatte  klagte  und  schon  seit 
Monaten  vergeblich  deswegen  behandelt  worden  war,  ohne  dass 
man  die  Paralyse  erkannt  hätte;  ein  anderer  litt  zunächst  an  einer 
Neuralgie  des  Penis  und  eines  Testikels.  Viele  gelten  lange  Zeit 
als  Neurastheniker  oder  Unfallsnervenkranke.  Im  weiteren  Ver- 
laufe entwickelt  sich  ausnahmlos  früher  oder  später  eine  bedeutende 
Herabsetzung  aller  Qualitäten  der  Hautempfindlichkeit,  vor  allem 
aber  eine  sehr  hochgradige  Analgesie.  Namentlich  wenn  man 
die  Aufmerksamkeit  des  Kranken  durch  Fragen  ablenkt,  gelingt  es 
zur  grössten  nachträglichen  Verwunderung  desselben  sehr  häufig 
schon  in  verhältnissmässig  frühen  Stadien,  eine  Nadel  quer  durch 
eine  Hautfalte  hindurch  zu  stechen,  ohne  dass  er  dessen  recht 
gewahr  wird.  Gerade  diese  Unempfindlichkeit  gegen  Schmerz  be- 
günstigt das  Zustandekommen  von  allerlei  Verletzungen,  besonders 
ausgedehnten  Verbrennungen,  weil  der  Kranke  die  Gefahr  nicht  be- 
merkt und  sich  ihr  daher  auch  nicht  entzieht  Die  Kranken  zupfen 
sich  die  Finger  wund,  kauen  die  Fingernägel  bis  auf  das  frei- 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


229 


liegende  Nagelbett  ab,  stochern  im  Munde  herum,  ja  ich  kannte 
einen  Hauptmann,  der  sich  in  einer  Nacht  die  Hand  mit  den  Zähnen 
zerfleischte,  weil  ihm  dieselbe  als  etwas  Fremdes,  gar  nicht  zu  ihm 
Gehöriges  erschien. 

Ganz  besonders  in  den  Vordergrund  treten  bei  der  Paralyse 
die  motorischen  Störungen,  als  deren  wichtigste  wir  wol  die 
„paralytischen  Anfälle“  zu  bezeichnen  haben.  Die  leichtesten  Formen 
derselben  bestehen  in  rasch  vorübergehenden  Schwindelanwandlungen, 
häufig  von  kurz  dauernder  Unfähigkeit,  zu  sprechen,  oder  Anstossen 
der  Zunge,  seltener  von  leichten  Hemiparesen  begleitet.  Hie  und 
da  beobachtet  man  mehrtägige,  sich  ziemlich  plötzlich  zurückbildende 
völlige  Aphasie  ohne  Lähmung.  Erheblich  ernster  sind  die  epilepti- 
formen  Anfälle,  die  entweder  den  gewöhnlichen  epileptischen  Krämpfen 
gleichen  oder,  häufiger,  die  Kennzeichen  der  Rindenepilepsie  tragen. 
Ihnen  gehen  meist  allerlei  einleitende  Störungen,  Unbesinnlichkeit, 
grössere  Stumpfheit,  Schwerfälligkeit  der  Bewegungen,  Herüber- 
hängen nach  einer  Seite  voraus,  bis  dann  der  Kranke  plötzlich  zu 
Boden  sinkt  und  die  Krämpfe  beginnen.  Häufig  kann  man  nun  das 
schrittweise  Uebergreifen  der  Reizung  auf  die  einzelnen  Abschnitte 
des  motorischen  Rindengebietes  verfolgen.  So  stellt  sich  zuerst 
etwa  ein  leises  Zucken  in  den  Gesichtsmuskeln  mit  Verdrehen  der 
Augen  und  nystaktischen  Bewegungen  derselben  ein;  dann  schreitet 
die  Erregung  auf  den  Hals,  den  Arm,  die  Athmungsmuskeln,  den 
Bauch,  das  Bein  derselben  Seite  fort,  um  endlich  auch  auf  die 
entgegengesetzte  Seite  hinüberzugreifen,  während  sie  vielleicht  auf 
der  zuerst  befallenen  schon  wieder  nachlässt.  Kemmler  hat  darauf 
hingewiesen,  dass  die  krampfhaften  Zuckungen  öfters  eine  deutliche 
Gleichzeitigkeit  mit  dem  Pulsschlage  darbieten  und  somit  durch 
Reizwirkung  der  Blutwelle  ausgelöst  zu  werden  scheinen.  Dieser 
Zusammenhang,  der  bis  zur  Dikrotie  und  Arhythmie  ein  peinlich 
getreuer  sein  kann,  verwischt  sich  erst  mit  dem  Eintreten  von 
Herzschwäche  oder  durch  das  Ueberwiegen  anderer,  stärkerer  Muskel- 
bewegungen. 

Die  Ausbreitung  der  Krämpfe  ist  eine  sehr  verschiedene.  Bis- 
weilen sind  nur  einzelne  umschriebene  Gebiete  dauernd  oder  mit  ge- 
ringer Abwechslung  befallen;  in  anderen  Fällen  wandern  die  Krämpfe 
wiederholt  über  eine  ganze  Reihe  von  Muskelgruppen  hin.  Solche 
Anfälle  können  sich  mit  kürzeren  oder  längeren  Zwischenpausen,  in 


230 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


denen  der  Kranke  schwer  benommen  oder  unbesinnlich  Arme  und 
Beine  bewegend  daliegt,  sehr  häufig  hintereinander,  bisweilen  20-, 
30-,  ja  80-  und  100  mal  innerhalb  24  Stunden  wiederholen.  In  der 
Regel  allerdings  pflegt  der  Anfall  schon  nach  einer  oder  einigen 
Stunden  vorüber  zu  sein,  doch  wird  nicht  zu  selten  eine  Dauer  von 
mehreren,  selbst  bis  zu  14  Tagen  beobachtet.  Ich  sah  bei  einem 
Kranken  unter  wachsender  Benommenheit  Zuckungen  im  rechten 
Facialis,  dann  der  ganzen  rechten  Seite  mit  spastischer  Parese, 
Hemianopsie  und  Hemianaesthesie  auftreten;  allmählich  griffen  die 
Störungen  auf  die  linke  Seite  über;  es  kam  zu  wechselnden  Krämpfen 
in  den  verschiedensten  Muskelgebieten,  zu  völliger  Aphasie  und  Wort- 
taubheit, und  erst  am  15.  Tage  erfolgte  der  Tod.  Die  Körperwärme 
ist  meist  erhöht,  bisweilen  beträchtlich;  der  Ham  enthält  öftere 
Eiweiss.  Blase  und  Mastdarm  sind  häufig  gelähmt,  so  dass  es 
zu  Harnverhaltung  und  Kothstauung  mit  deren  Folgezuständen, 
Pyelitis,  Nephritis,  Periproktitis,  kommen  kann,  wenn  nicht  für 
rechtzeitige  Entleerung  beider  Organe  gesorgt  wird.  Die  selbständige 
Nahrungsaufnahme  ist  wegen  Lähmung  der  Schlingmuskulatur  un- 
möglich. Da  ausserdem  die  Kehlkopf  reflexe  oft  gänzlich  aufgehoben 
sind,  so  entspringt  eine  ernste  Gefahr  für  den  Kranken  aus  der 
Aspiration  von  Speichel  von  der  mit  reichlichen  Zersetzungsstoffen 
erfüllten  Mundhöhle  her  (gelegentliche  Parotitis);  in  der  That  finden  wir 
bei  der  Mehrzahl  der  im  Anfalle  zu  Grunde  gehenden  Paralytiker 
Schluckpneumonien  (sog.  „hypostatische  Pneumonien“)  als  Todes- 
ursache. Endlich  fordert  bei  ungenügender  Pflege  auch  der  hier 
überaus  leicht  entstehende  Decubitus  immer  noch  zahlreiche  Opfer. 

Das  Erwachen  aus  dem  Anfall  geschieht  immer  allmählich,  oft 
durch  ein  Stadium  grosser  Verwirrtheit  und  Benommenheit  hindurch. 
Aber  auch  weiterhin  bemerkt  man  fast  regelmässig  eine  erhebliche 
Zunahme  der  psychischen  Schwäche,  in  einzelnen  Fällen  plötzlichen 
liefen  Blödsinn  nach  einem  bis  dahin  nahezu  normalen  Verhalten. 
Gleichzeitig  bleiben  gern  allerlei  Herderscheiuungeu  zurück,  um- 
schriebene oder  halbseitige  Lähmung,  Zwangsbewegungen,  Spasmen, 
Sprachstörungen,  Aphasie,  Hemianopsie,  Empfindungslähmimgeu,  die 
sich  meist  bald  Avieder  verlieren,  zuweilen  aber  auch  dauernd  be- 
stehen bleiben. 

Eine  Aveitere,  im  ganzen  seltene  Gestaltung  der  paralytischen 
Anfälle  sind  die  apoplektiformen  Anfälle,  Avelche  ganz  in  der  Art 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


231 


des  gewöhnlichen  Schlaganfalls  mit  plötzlicher  Bewusstlosigkeit,  Zu- 
sammenbrechen, stertorösem  Athmen,  tonischer  Spannung  oder 
schlaffer  Lähmung  eintreten  und  bald  mit  nachfolgender  Hemiplegie, 
Contractureu,  aphasischen  Störungen,  bald  ohne  jede  Folgeerscheinung 
verlaufen,  häufig  genug  aber  auch  ganz  unvermuthet  dem  Leben  ein 
Ende  machen.  So  manche  der  in  mittleren  Lebensjahren  plötzlich  tödt- 
lich  verlaufenden  „Schlaganfälle“  sind  wahrscheinlich  auf  beginnende 
paralytische  Erkrankung  zurückzuführen,  wie  sich  in  einzelnen  Fällen 
aus  dem  Hirnbefunde  darthun  lässt.  Ausser  diesen  mit  schweren 
Bewusstseinstrübungen  einhergehenden  Anfällen  kennt  man  bei 
Paralytikern  noch  eine  Reihe  anderer,  mehr  oder  weniger  plötzlich 
einsetzender  Störungen,  die  man  vielleicht  unter  dem  gleichen  Ge- 
sichtspunkte zu  betrachten  berechtigt  ist.  Am  einleuchtendsten  ist 
diese  Auffassung  für  die  bisweilen  bei  völlig  klarem  Bewusstsein 
sich  einstellenden  und  ebenso  rasch  wieder  verschwindenden  Läh- 
mungen. Einer  meiner  Kranken  erlitt  im  Beginne  seines  Leidens 
auf  diese  Weise  eine  Lähmung  der  rechten  Seite  mit  articulatorischer 
Sprachstörung,  Behinderung  des  Schluckens  und  Facialisparese;  die 
Störungen  verschwanden  wieder,  doch  blieb  ein  deutlicher  Schwach- 
sinn zurück.  Anfallsweises  Zucken  einzelner  Muskeln,  Muskelgruppen 
oder  Glieder,  Schüttelkrämpfe  der  Beine  u.  dergl.  sind  nicht  gerade 
selten.  Auch  auf  sensorischem  Gebiete  giebt  es  derartige  Anfälle, 
vorübergehende  Parästhesien,  Empfindungslähmungen , Gesichtsfeld- 
defecte.  Neisser  denkt  an  die  Möglichkeit  einer  verschiedenen 
Localisation  der  Störung  nach  der  Art  des  Anfalles  und  spricht 
geradezu  von  bulbären,  spinalen,  cerebellaren  Anfällen.  An  diese 
schliessen  sich  ferner  an  die  plötzlich  auftretenden  Zustände  von 
deliriöser  Verwirrtheit  mit  Unbesinnlichkeit,  Erregung,  Röthung  des 
Kopfes,  erschwerter  Sprache,  Erbrechen,  Temperatursteigerung,  die 
man  zuweilen  bei  Krankeu  beobachtet,  welche  sonst  typische  paraly- 
tische Anfälle  darbieteu. 

Die  klinische  Uebereinstimmung  solcher  Erfahrungen  mit  den 
früher  beschriebenen  Anfällen  ist  namentlich  auch  im  Hinblicke  auf 
unsere  Erfahrungen  bei  der  Epilepsie  eine  so  grosse,  dass  wir  hier 
wol  ein  Recht  haben,  von  unausgebildeten,  rudimentären  Anfällen 
zu  sprechen.  Alle  diese  verschiedenen  Formen  können  in  jedem  Ab- 
schnitte der  Krankheit  auftreten,  doch  beobachtet  man  im  allgemeinen 
die  leichteren  Anfälle  mehr  im  Beginne,  die  schwereren  häufiger  in 


232 


VI.  Die  Demeutia  paralytica. 


der  späteren  Zeit.  Nicht  so  selten  bildet  ein  paralytischer  Anfall 
das  erste  greifbare  Zeichen  der  herannahenden  Krankheit. 

Die  Häufigkeit  der  Anfälle  hat  Heilbronner*)  nach  den  Er- 
fahrungen in  München  auf  etwa  60°/o  bei  seinen  Kranken  an- 
gegeben; bei  den  von  mir  in  den  letzten  7 Jahren  beobachteten 
Kranken  fanden  sich  Anfälle  nur  in  etwa  36%.  Bei  den  Ver- 
storbenen allein  steigt  diese  Zahl  allerdings  auf  46 %,  weil  sich 
gerade  in  der  letzten  Krankheitszeit  vielfach  noch  Anfälle  einstellen. 
Der  Grund  für  diese  immerhin  niedrigeren  Zahlen  liegt  wahrschein- 
lich in  dem  Umstande,  dass  in  der  Klinik  die  Bettbehandlung  in 
weit  grösserem  Umfange  durchgeführt  werden  konnte,  als  in  der 
grossen  Anstalt.  Auch  Ke  mm ler  hat  darauf  hingewiesen,  dass  in 
Breslau  die  Zahl  der  beobachteten  Anfälle  mit  Ausdehnung  der  Bett- 
behandlung wesentlich  abgenommen  hat.  Von  den  verschiedenen 
klinischen  Gestaltungen  der  Paralyse  zeichnen  sich  nach  meinen  Er- 
fahrungen besonders  die  einfach  verblödenden  Formen  durch  zahl- 
reichere Anfälle  aus;  sie  erreichen  nach  meiner  Zusammenstellung 
hier  eine  Häufigkeit  von  45,4,  bei  den  schon  Verstorbenen  von 
55,3  °/0,  während  sie  bei  der  expansiven  Form  auf  33  °/0  sinken. 
Als  Gelegenheitsursachen  der  Anfälle  werden  Gemüthsbewegungen. 
Excesse,  Magenüberfiillung,  Kothstauung  (Darminfectionen)  nam- 
haft gemacht;  meist  ist  jedoch  ein  bestimmter  Anlass  gar  nicht  er- 
kennbar. 

Regelmässige  Störungen  bietet  der  motorische  Apparat  des 
Auges  dar.  Paresen  einzelner  Augenmuskeln,  namentlich  vorüber- 
gehende, sind  nicht  gerade  selten,  während  vollständige  Ophthalmo- 
plegie nur  ganz  ausnahmsweise  beobachtet  wird.  Dagegen  findet 
sich  nach  den  ausgedehnten  Erfahrungen  in  Berlin  Differenz  der 
Pupillen  in  57,5  °/0 , Starre  derselben  in  34%,  sehr  träge  Reaction 
in  35,5 % der  Fälle;  hier  sind  die  Pupillen  oft  gleichzeitig  eng. 
Siemerling  giebt  neuerdings  die  Häufigkeit  der  reflectorischen 
Pupillenstarre  auf  68  % an.  Ferner  beobachtet  man  häufig  einseitige 
oder  doppelseitige  Ptosis,  Bulbusuuruhe,  seltener  Mydriasis  oder  raschen 
Wechsel  der  Pupillenweite.  Die  Gesichtszüge  sind  schlaff  (Ver- 
streichen der  Nasolabialfalten),  ausdruckslos;  bisweilen  bemerkt  man 
auch  Ungleichheit  der  Gesichtshälften.  Ungemein  häufig  sind  fibrilläre 


*)  Allgeni.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LI,  22. 


Kraepelin,  Psychiatrie,  6.  Aufl.  TAFEL  III. 


Verlag-von  Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig. 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


233 


Zuckungen  und  ausgiebige  Mitbewegungen,  wenn  man  den  sehr 
leicht  in  Verwirrung  gerathenden  Kranken  auffordert,  abwechselnd 
verschiedene  coordinirte  Bewegungen  auszuführen,  die  Augen  zu 
schliessen,  den  Mund  zu  öffnen,  die  Zunge  vorzustrecken  u.  s.  f. 
Man  sieht  es  wie  eine  Art  „Wetterleuchten“  durch  die  ganze  Ge- 
sichtsmuskulatur hindurchzittern,  während  der  Kranke  angestrengt 
die  einzelnen,  ihm  gestellten  Aufgaben  zu  lösen  sucht.  Die  ganze 
Körperhaltung  ist  schlaff,  ohne  Spannkraft.  Man  erkennt  diese 
Störung  wie  die  Stumpfheit  und  Verblödung  im  Gesichtsausdrucke 
deutlich  auf  dem  beigegebenen  Gruppenbilde.  Der  Kranke  in  der 
Mitte  zeigt  seine  gehobene  Stimmung  durch  den  angesteckten  Strauss; 
sein  Nachbar  zur  Linken  hat  eine  linksseitige  Facialisschwäche. 

Die  Stimme  wird  eintönig,  verliert  ihre  Ausdrucksfähigkeit  und 
öfters  auch  ihren  gewohnten  Klang  (Stimmbandparese),  hie  und  da 
das  erste  auffallende  Zeichen  der  Paralyse,  namentlich  bei  Sängern. 
Die  Zunge  weicht  nicht  selten  ab,  zeigt  starke  fibrilläre  Zuckungen, 
wird  ungeschickt,  stossweise  und  unter  zahlreichen  Mitbewegungen, 
Aufreissen  der  Augen,  Stirnrunzeln,  ja  selbst  unter  Zuhülfenahme 
der  Finger  hervorgestreckt.  Um  die  Muskelstösse  zu  verhindern, 
klemmt  der  Kranke  die  Zunge  beim  Vorzeigen  bisweilen  unwillkür- 
lich zwischen  den  Zähnen  fest.  Das  Schlucken  ist  namentlich  in 
den  letzten  Stadien  der  Krankheit  sehr  erschwert;  der  Kranke  ver- 
schluckt sich  leicht,  ohne  aber  wegen  der  Unempfindlichkeit  des 
Kehlkopfeinganges  immer  in  genügend  kräftiger  Weise  darauf  zu 
reagiren.  Ein  weiteres  Zeichen  bulbärer  Erkrankung  bildet  das 
bisweilen  beobachtete  zwangsmässige  Lachen.  „Mir  ist’s  gar  nicht 
um’s  Lachen,“  sagte  mir  eine  solche  Kranke.  Bei  einer  anderen 
fand  sich  in  der  That  neben  den  allgemeinen  paralytischen  Ver- 
änderungen ein  grosses  Gumma  im  Pons.  Häufig  beobachtet  man 
ferner  bei  vorgeschrittenem  Blödsinn  lange  fortgesetztes,  rhyth- 
misches Zähneknirschen,  welches  fast  als  kennzeichnend  für  die 
Paralyse  angesehen  werden  darf.  In  einem  Falle  sah  ich  die 
Krankheit  mit  äusserst  heftigen  und  hartnäckigen  Accessoriuskrämpfen 
beginnen. 

Zu  den  allerwichtigsten  Zeichen  der  Paralyse  gehören  die  Ver- 
änderungen, welche  die  Sprache*)  erleidet.  Wir  haben  dabei  zu 


*)  Trömner,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XX VIII,  190. 


234 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


unterscheiden  zwischen  aphasischen  und  articulatorischen  Störungen. 
Zustände  vorübergehender,  selten  länger  dauernder  Aphasie  schliessen 
sich  ungemein  häufig  an  paralytische  Anfälle  an.  Einer  meiner 
Kranken  konnte  wochenlang  den  Namen  keines  einzigen  Gegenstandes 
finden,  den  man  ihm  zeigte,  obgleich  er  die  Dinge  selbst  erkannte. 
Weit  hartnäckiger  pflegt  die  Paraphasie  zu  sein,  die  viele  Monate 
unverändert  fortbestehen  kann.  Hier  werden  entweder  einzelne 
Dinge  mit  unrichtigen  Namen  belegt,  oder  es  kehren  gewisse 
stereotype  Bezeichnungen  fälschlicherweise  bei  den  verschiedensten 
Gelegenheiten  wieder.  Viel  seltener  ist  Worttaubheit,  die  sich  zudem 
wegen  des  Schwachsinns  der  Kranken  meist  schwierig  erkennen  lässt. 
Namentlich  nach  paralytischen  Anfällen  indessen  sieht  man  öfters, 
dass  die  Kranken  selbst  die  einfachsten  Anreden  durchaus  nicht  ver- 
stehen, mimischen  Aufforderungen  aber  sofort  nachkommen.  Diesen 
Störungen  nahe  verwandt  ist  der  bei  Paralytikern  öfters  beobachtete 
Verlust  ihrer  musikalischen  Begabung,  der  Fähigkeit,  Melodien  auf- 
zufassen, besonders  aber  richtig  und  rein  zu  singen  und  nach- 
zusingen. 

Ebenfalls  den  centralen  Sprachstörungen  gehört  der  hie  und  da 
beobachtete  Agrammatismus  an,  die  Unfähigkeit,  richtige  Sätze  zu 
formen.  Die  Kranken  sprechen  nach  Art  der  Kinder  ohne  Ver- 
bindungswort oder  in  Infinitiven.  Weit  häufiger  ist  die  Zusammen- 
setzung der  Wörter  aus  Silben  gestört.  Nach  Trömne'rs  Aus- 
führungen können  wir  hier  die  Auslassung  („Elektrität“),  die  Zu- 
sammenziehung („Exität“)  und  die  Verdoppelung  der  Silben  (..Elek- 
tricicität“)  auseinanderhalten.  Diese  letztere  Störung,  der  sich  die  un- 
willkürliche Anhängung  tonloser  Silben  anreiht,  findet  sich  namentlich 
am  Ende  der  Wörter.  Die  Endsilbe  wird  hier  bisweilen  trotz  sicht- 
lichen Widerstrebens  vom  Kranken  drei-,  viermal  und  öfter  rasch 
wiederholt,  bis  seine  Sprachwerkzeuge  zur  Ruhe  kommen  („Anton- 
ton— ton — ton“).  Ich  möchte  für  diese  sehr  auffallende  Störung, 
welcher  ähnliche  Erscheinungen  auf  anderen  Muskel  gebieten  ent- 
sprechen, den  Namen  „Logoklonie“  vorschlagen.  In  Folge  aller 
dieser  Störungen,  die  sich  vielfach  mit  der  Aphasie  verbinden,  kann 
die  Sprache  vollständig  in  einem  Gemisch  unsinniger,  häufig  -wieder- 
holter Silbenverbindungen  untergehen.  Ich  kannte  einen  sehr  ge- 
bildeten Kranken,  bei  dem  das  erste  auffallende  Anzeichen  der  Para- 
lyse ein  leichter  Schlaganfall  war,  nach  welchem  er  einige  Stunden 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


235 


hindurch  die  5 oder  6 Sprachen,  die  er  beherrschte,  in  ganz  unver- 
ständlicher Weise  durcheinander  warf. 

Noch  häufiger,  als  die  centralen  Sprachstörungen,  sind  Articu- 
lationsbehinderungen,  die  sich  zunächst  vielleicht  nur  im  Gefolge  der 
paralytischen  Anfälle  oder  in  der  Erregung,  später  aber  dauernd 
geltend  machen.  Dieselben  lassen  sich  in  zwei  verschiedene  Gruppen 
zerlegen,  welche  sich  im  einzelnen  Falle  freilich  meist  mit  einander 
verbinden,  in  paretische  und  ataktische,  coordinatorische  Störungen. 
Die  Schwerfälligkeit  in  den  Bewegungen  der  Lippen-  und  Zungen- 
muskulatur hindert  den  Kranken,  einzelne  Buchstaben  klar  hervor- 
zubringen, und  noch  mehr,  verwickeltere  Buchstabenverbindungen 
rasch  im  Zusammenhänge  auszusprechen,  also  von  einer  Sprach- 
stellung  glatt  in  die  andere  überzugehen.  Es  kommt  auf  diese 
Weise  zu  einer  Verlangsamung  der  Sprache,  zu  gelegentlichem 
Stocken  (Haesitiren),  bisweilen  auch  zu  merklichen  Pausen  zwischen 
den  einzelnen  Silben,  meist  mit  Verlust  des  Tonfalles  und  des 
richtigen  Zeitmaasses  (Scandiren).  Zugleich  wird  die  Sprache,  na- 
mentlich im  Zusammenhänge,  durch  das  schleifende  Hinübergleiten 
über  die  mangelhaft  articulirten  Lautverbindungen  undeutlich  und 
verschwommen  (schmierende,  lallende  Sprache).  Das  Wort  „Flanell- 
lappen“ eignet  sich  gut  zur  Darstellung  dieser  Störung.  Da  dieselbe 
ganz  der  bidbären  Sprachlähmung  entspricht,  so  dürfte  sie  auf  Er- 
krankungen in  der  Medulla,  insbesondere  auf  solche  des  Facialis 
und  Hypoglossus  zurückzuführen  sein.  Weiterhin  aber  ist  ganz  ge- 
wöhnlich die  Zusammenordnung  der  Laute  zu  Silben  geschädigt, 
eine  Erscheinung,  die  man  mit  den  oben  besprochenen  Störungen 
in  der  Gruppirung  den  Silben  zu  Wörtern  als  „Silbenstolpern“  zu- 
sammenzufassen pflegt.  Unbequeme  Lautübergänge  werden  durch 
bequemere  ersetzt  („schwissen“  statt  „zwischen“)  oder  einfach  aus- 
gelassen und  vereinfacht  („Damschiff“,  „Schleffschiff-').  Dabei  zeigt 
sich  vielfach  eine  Beeinflussung  der  Silbenbildung  durch  andere, 
voraufgegangene  oder  folgende  Silben  und  Buchstaben  oder  nahe- 
liegende Wörter,  genau  wie  beim  gewöhnlichen  Versprechen 
(„schwitzernder  Schwan“,  „drittende  reitere  Artrilleriebrade“).  Von 
den  Kranken  selbst  werden  diese  Erschwerungen  meist  gar  nicht 
empfunden  oder  doch  auf  Nebenumstände  zurückgeführt',  weil  sie 
dursten  mussten  und  der  Mund  trocken  wurde,  weil  die  Kost  nicht 
kräftig  genug  sei,  weil  man  sie  immer  so  aufrege. 


236 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


Am  deutlichsten  pflegen  die  centralen  und  ataktischen  Sprach- 
störungen, -wie  Rieger  festgestellt  hat,  beim  lauten  Lesen  hervor- 
zutreten. Der  Kranke  bringt  hier  bei  mehrmaliger  "Wiederholung 
oft  immer  wieder  neue  Silben-  und  Wortzusammenstellungen  vor, 
die  nur  eine  bruchstückweise  und  entfernte  Aehnlichkeit  mit  der 
Vorlage  darbieten.  Dabei  glaubt  er  vollständig  richtig  abgelesen  zu 
haben,  ohne  doch  den  Inhalt  des  Gelesenen  zu  verstehen.  Wieweit 
hier  die  sinnliche  Auffassung  der  Vorlage,  die  Verknüpfung  der 
Wortzeichen  mit  den  Begriffen  einerseits,  den  sprachlichen  Be- 
wegungsvorstellungen andererseits,  wie  weit  endlich  das  Zusammen- 
spiel der  Antriebe  an  dem  Zustandekommen  der  verwickelten 
Störung  betheiligt  ist,  lässt  sich  heute  noch  nicht  entscheiden. 

Ganz  ähnliche  Störungen  wie  die  Sprache  lässt  die  Schrift 
erkennen.  Die  einzelnen  Züge  sind  unregelmässig  und  unsicher, 
ohne  doch  die  gleichmässigen  Zitterlinien  des  Tremor  senilis  dar- 
zubieten; die  Striche  fahren  häufig  über  die  Grenzen  hinaus.  Von 
den  beigefügten  Schriftproben  zeigt  die  IV.  diese  Störung  in  ge- 
ringerem Grade  bei  einer  ausgeschriebenen  Kaufmannshandschrift, 
die  V.  dagegen  in  so  starker  Ausbildung,  dass  die  Schrift  kaum 
noch  leserlich  ist.  Es  soll  heissen:  „Anton  Kutterer  Waurer  von 
Karlsruhe  (wiederholt)  Baden.“  Bei  der  Probe  VI,  die  von  einem 
sehr  gebildeten  Herrn  herrührt,  ist  die  Flüchtigkeit  und  Kachlässig- 
keit  der  Schrift  bemerkenswerth.  Der  Satz  lautet:  „mit  dem  Blitz- 
zug nach  Berlin  wo  um  1 Uhr  anlange  dort  werde  ich  das  neue 
Service  bestellen.“  In  der  siebenten  Probe  ist  die  Unsicherheit 
einigermassen  durch  sehr  kräftigen  Federdruck  verdeckt  worden.  Hier 
wie  in  den  früheren  Beispielen  begegnet  uns  ferner  das  Gegenstück 
des  Silbenstolperns  in  Versetzung  der  Buchstaben  und  Silben,  Aus- 
lassungen und  Wiederholungen  derselben.  Koch  stärker  ist  diese 
Störung  bei  geringer  Veränderung  der  einzelnen  Schriftzüge  in  der 
Probe  VIII  ausgesprochen.  Fast  überall  finden  sich  hier  Verdoppelungen 
und  Auslassungen.  Besonders  sei  das  Wort  „Kauss“  statt  Kuss  er- 
wähnt, bei  dem  offenbar  eine  Beeinflussung  durch  das  folgende 
„aus“  stattgefunden  hat. 

Geringe  Rücksicht  wird  auf  die  räumliche  Anordnung  der  Schrift- 
stücke genommen.  Der  Kranke  kümmert  sich  nicht  darum,  ob 
er  mit  der  Linie  oder  der  Seite  auskommt,  schreibt  quer  und 
schräg  durch-  und  übereinander,  oft  auch  noch  auf  beide  Seiten 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


237 


des  Umschlags,  an  verschiedene  Personen  auf  demselben  Blatte. 
Dabei  laufen  Klexe,  Fettflecken,  Unsauberkeiten  in  Menge  mit 


yA-  * 

&»*  ^ 

Schriftprobe  IY.  Leichte  Ataxie. 


•VHVK/« 


Schriftprobe  V.  Hochgradige  Ataxie. 


*'*/S/***^' 

<|1 


Schriftprobe  VI.  Flüchtige  Schrift  mit  Aus-  Schriftprobe  VII.  Schrift  mit  starkem 
lassungen  und  Zusätzen.  Druck  und  Buchstaben  Verdoppelung. 


238 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


unter,  so  dass  die  Entzifferung  nicht  selten  völlig  unmöglich 
wird.  In  manchen  Fällen  wird  auch  längere  Zeit  hindurch 
wahre  Paragraphie  beobachtet;  ich  sah  eine  Kranke,  die  sich 
mündlich  durchaus  geläufig  und  fast  ohne  Andeutung  einer 


Schriftprobe  VIII.  Schrift  mit  Auslassungen  und  Wiederholungen. 


w 


Schriftprobe  IX.  Paragraphische  Schrift. 


Sprachstörung  ausdrücken  konnte,  auf  dem  Papier  aber  nur  ganz 
unsinnige  Buchstabenverbindungen  zu  Stande  brachte.  Die  Probe  IX 
rührt  von  derselben  her.  Bei  weit  vorgeschrittener  Krankheit  besteht 
meist  völlige  Agraphie.  Die  Kranken  sitzen  rathlos  vor  ihrem  Brief- 
bogen da,  ohne  etwas  anderes,  als  einige  unsichere  Linien  mühsam 
hinzumalen,  um  nach  manchen  vergeblichen  Versuchen  ihre  Be- 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


239 


mühungen  aufzugeben,  weil  sie  „Rheumatismus  in  der  Hand“  oder 
„keine  Brille  da  hätten“. 

Weniger,  als  die  Störungen  bei  den  so  überaus  feinen  und  ver- 
wickelten Leistungen  des  Schreibens  und  Sprechens,  fallen  zunächst 
die  krankhaften  Abweichungen  bei  gröberen  Bewegungen  ins  Auge. 
Freilich  wird  der  Paralytiker  sehr  bald  zu  allen  Beschäftigungen 
untauglich,  welche  eine  besondere  Handfertigkeit  erfordern,  zum 
Clavierspielen,  zum  Einfädeln  von  Nähnadeln,  zum  Ausführen  feiner 
mechanischer  Arbeiten.  Späterhin  treten  diese  ataktischen  Störungen 
deutlicher  hervor  und  können  in  einzelnen  Fällen  sehr  auffallend 
werden.  Die  täppische  Langsamkeit  und  Ungeschicklichkeit  beim 
Zugreifen,  Knöpfen,  das  stossweise,  in  Absätzen  erfolgende  Drücken 
der  Hand  lässt  erkennen,  dass  die  Fähigkeit  zu  einer  feineren 
Regelung  der  Bewegungen  verloren  gegangen  ist,  wenn  auch 
die  grobe  Kraft,  abgesehen  von  den  bisweilen  an  die  Anfälle  sich 
anschliessenden  Hemiparesen,  noch  ziemlich  normal  erscheint.  Hie 
und  da  beobachtet  man  ausgeprägtes  Intentionszittern,  in  einzelnen 
Fällen  choreatische  Muskelunruhe,  wechselnde,  zuckende  Bewegungen 
in  den  verschiedensten  Muskelgebieten,  Gesichterschneiden  (Hun- 
tin gton’sche  Chorea).  Der  Gang  wird  allmählich  unsicher,  breit- 
spurig, schlürfend;  zu  Zeiten,  namentlich  vor  einem  Anfalle,  hängt 
der  Kranke  ganz  nach  einer  Seite  hinüber.  Dazu  gesellen  sich  ge- 
wöhnlich noch  die  Zeichen  einer  Affection  der  Seitenstränge  (Steifig- 
keit, spastischer  Gang)  oder  Hinterstränge  (Romberg’sches  Symptom, 
Ataxie,  Schleudern).  Die  Zeichen  einer  tabischen  Erkrankung  gehen 
dem  Ausbruche  der  eigentlichen  Paralyse  nicht  selten  längere  Zeit 
voraus,  selbst  eine  Reihe  von  Jahren  (ascendirende  Paralyse). 
Schliesslich  werden  die  Kranken  immer  dauernd  bettlägerig,  gewöhn- 
lich mit  mehr  oder  weniger  ausgesprochenen  Contracturen  und  all- 
gemeinem Muskelschwund.  Besonders  auffallend  pflegt  dabei  die 
vorgebeugte  Haltung  des  Kopfes  zu  sein,  der  gewöhnlich  nicht  auf 
der  Unterlage  aufruht,  sondern  unter  starrer  Spannung  der  Hals- 
muskeln dauernd  frei  getragen  wird.  Nicht  selten  kann  man  in 
diesen  letzten  Abschnitten  der  Krankheit  leichtere  und  stärkere 
Zuckungen  in  einzelnen  krampfhaft  gespannten  Muskelgruppen  be- 
obachten, namentlich  bei  Bewegungsversuchen  und  passiven  Lage- 
veränderungen, aber  auch  in  voller  Ruhe.  Einmal  sah  ich  gekreuzte 
Radialis-  und  Peronaeuslähmung,  ohne  Zweifel  neuritischen  Ursprungs. 


240 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


Aehnlich  sind  wol  auch  die  seltenen  örtlichen  Muskelatrophien  auf- 
zufassen, doch  werden  einzelne  Fälle  berichtet,  in  denen  Syringo- 
myelie vorhanden  war. 

Die  allgemeine  Reflexerregbarkeit  ist  in  der  Regel  erhöht, 
bisweilen  so  stark,  dass  eine  heftige  Bewegung  gegen  das  Gesicht 
des  Kranken  ein  Zusammenfahren  des  ganzen  Körpers  zur  Folge 
hat.  Die  Untersuchung  der  Sehnenreflexe  erweist  sich  häufig  als 
sehr  schwierig,  da  die  Kranken  ihre  Muskeln  durchaus  nicht  ent- 
spannen. Gelingt  es  endlich,  durch  Zuhülfenahme  der  bekannten 
Kunstgriffe  (psychische  Ablenkung,  Jendrassik’sches  Verfahren) 
zum  Ziele  zu  kommen,  so  findet  man  die  Sehnenreflexe  je  nach  dem 
Sitze  der  Rückenmarkserkrankung  bald  hochgradig  gesteigert,  so 
dass  Fussklonus  und  saltatorischer  Reflexkrampf  (beim  Aufsetzen 
der  Zehen  auf  den  Boden)  auftritt,  bald  aber  auch  abgeschwächt 
oder  vollständig  erloschen  (in  20 — 30  °/0  der  vorgeschrittenen  Fälle) : 
hie  und  da  finden  sich  Unterschiede  auf  beiden  Seiten.  Fehlen  des 
Patellarreflexes  scheint  sich  auch  hier  besonders  häufig  mit  völliger 
Pupillenstarre  und  Myosis  zu  verbinden.  Die  elektrische  Erregbar- 
keit der  Muskulatur  soll  anfangs  erhöht  sein;  später  ist  sie  herab- 
gesetzt. 

Von  Seiten  der  Blase  sind  auch  ausserhalb  der  Anfälle  häufig 
Störungen  vorhanden,  sowol  Schliessmuskellähmung  wie  Harnver- 
haltung, erstere  meist  als  Folge  der  letzteren  (Harn träufeln).  Die 
Trägheit  des  Mastdarms  kann  zu  massigen  Kothstauungen  führen: 
andererseits  besteht  in  allen  vorgeschrittenen  Fällen  völlige  Unfähig- 
keit, den  Koth  zurückzuhalten,  zum  Theil  vielleicht  wegen  Lähmung 
der  Schliessmuskeln,  namentlich  aber  deswegen,  weil  der  Kranke 
die  herannahende  Entleerung  ebensowenig  bemerkt  wie  die  Füllung 
der  Blase  bis  zum  Nabel.  Die  sexuelle  Potenz  erlischt,  nach- 
dem anfangs  nicht  selten  die  geschlechtliche  Erregbarkeit  stark  ge- 
steigert war. 

Unter  den  vasomotorischen  Störungen  sind  vor  allem  die 
häufigen  Blutwallungen  zum  Kopfe,  Erytheme,  lange  dauernde  Nach- 
röthung  der  Haut  und  selbst  Quaddelbildung  bei  leichten  Reizen. 
Cyanose  zu  nennen.  Die  Sphygmographencurve  zeigt  öfters  all- 
mähliches Ansteigen  und  Erniedrigung  der  Gipfelwelle  („tarde“ 
Pulsformen),  Erscheinungen,  die  sich  auf  eine  langsamere  und  wenig 
kräftige  Ausdehnung  der  Gefässwand  beziehen  lassen.  An  den  zu- 


Allgemeine  Krauklieitszeiclien. 


241 


gänglichen  Arterien,  besonders  den  Temporales,  wird  nicht  selten 
starke  Schlängelung,  auffallendes  Hervortreten  und  Starre  als  An- 
zeichen atheromatöser  Erkrankung  beobachtet.  Mit  diesen  Gefäss- 
veränderungen  stehen  ohne  Zweifel  auch  die  sog.  „trophischen“ 
Störungen  in  allernächster  Beziehung.  Es  giebt  eine  ganze  Anzahl 
von  Begleiterscheinungen  der  Paralyse,  deren  Auftreten  man  vielfach 
als  eine  unmittelbare  Folge  der  Entartung  gewisser  trophischer,  die 
Ernährung  der  Organe  regelnder  Nervenbahnen  ansieht,  den  Decu- 
bitus, die  Rippenbrüche,  die  Ohrblutgeschwulst,  ja  auch  die  so 
häufigen  Pneumonien,  die  man  avoI  auf  einen  Nachlass  der  Vagus- 
innervation zurückgeführt  hat.  Ein  unbestreitbares  wissenschaftliches 
und  fast  noch  mehr  praktisches  Verdienst  Gudden’s  ist  es,  den 
Nachweis  geführt  zu  haben,  dass  alle  jene  Störungen  nicht  aus 
inneren  Ursachen,  sondern  ganz  ausnahmslos  unter  der  Einwirkung 
äusserer  Schädlichkeiten  sich  entwickeln. 

Freilich  Avird  man  kaum  umhin  können,  eine  Herabsetzung  der 
allgemeinen  Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  bei  Paralytikern  als 
Hülfsursache  anzimehmen,  da  hier  sehr  schwere  Störungen  schon 
bei  verhältnissmässig  geringen  Reizen  zu  Stande  kommen.  Die  Ent- 
stehung des  Druckbrandes  erklärt  sich  in  erster  Linie  dadurch, 
dass  die  Kranken  wegen  ihrer  Unempfindlichkeit  nicht,  Avie  jeder 
Gesunde,  durch  unangenehme  Druckgefühle  zu  häufigem  Lagewechsel 
augetrieben  werden,  oder  doch  Avegen  ihrer  Unbehiilflichkeit  denselben 
nicht  auszuführen  vermögen,  sondern  Avie  ein  Klotz  im  Bette  liegen. 
Unter  diesen  Umständen  kann  man  schon  nach  1 — 2 Stunden,  be- 
sonders bei  Uebereinanderliegen  der  abgemagerten  Beine  oder  beim 
Sitzen  auf  einer  harten  Nachtstuhlkante  starke  Röthung,  Quaddel- 
und  selbst  Blasenbildung  entstehen  sehen,  während  eine  einzige  un- 
bewachte Nacht  vollauf  genügt,  um  eine  mehrere  Centimeter  in  die 
Tiefe  greifende  Gangrän  zu  erzeugen.  Ausserdem  aber  beobachtet 
man  bei  sehr  heruntergekommenen  Paralytikern  bisweilen  das  Auf- 
treten eigenthümlich  kreisrunder,  oberflächlicher  Hautnekrosen  an 
Stellen,  welche  durchaus  keinem  Drucke  ausgesetzt  gewesen  sind. 
Endlich  ist  bei  den  unreinlichen,  wenig  Aviderstandsfähigen  Kranken 
natürlich  ein  günstiger  Boden  für  die  Entwicklung  von  infectiösen 
Hauterkrankungen,  insbesondere  von  Furunkeln.  Rippenbrüche 
und  Othämatome  kommen  bei  Paralytikern  verhältnissmässig  häufig 
und  bisweilen  in  schreckenerregender  Ausdehnung  zu  Stande,  Aveil 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  IX.  Baud.  16 


242 


YI.  Die  Dementia  paralytica. 


die.  Kranken  sehr  ungeschickt,  dabei  unruhig  und  vor  allem  ausser 
Stande  sind,  sich  zu  vertheidigen  und  zu  beklagen,  so  dass  sie  hülf- 
los  den  Misshandlungen  ihrer  Umgebung  preisgegeben  erscheinen. 
Ganz  gewiss  aber  spielen  auch  hier  besondere  begünstigende  Ur- 
sachen eine  wesentliche  Rolle,  Ernährungsstörungen  im  Ohrknorpel 
und  ungewöhnliche  Brüchigkeit  der  Rippen,  von  der  man  sich  an 
der  Leiche  häufig  genug  überzeugen  kann.  Sie  scheint  auf  einem 
einfachen  Schwund  der  Knochenmasse  mit  Ersatz  durch  Fett  zu  be- 
ruhen und  ist  wol  eine  Theilerscheinung  der  allgemeinen  Ernährungs- 
störung in  der  Paralyse.  Auch  der  geringen  Inanspruchnahme  der 
Rippen  in  Folge  von  Herabsetzung  der  Athembewegungen  hat  man 
dabei  eine  gewisse  Bedeutung  zugeschrieben.  Dennoch  steht  die 
Thatsache  unzweifelhaft  fest,  dass  mit  der  besseren  Ausbildung  und 
Ueberwachung  des  Wartpersonals  die  Zahl  der  Rippenbrüche  wie 
der  Ohrblutgeschwülste  regelmässig  abnimmt. 

Störungen  der  Eigenwärme  sind  in  der  Paralyse  überaus 
häufig.  Flüchtige,  aber  oft  recht  bedeutende  Temperatursteigerungen 
werden  vielfach  beobachtet,  ohne  dass  sich  immer  ein  greifbarer 
Anlass  dafür  erkennen  Hesse.  Bisweilen  fördert  dann  eine  Eingiessung 
gewaltige  Kothmassen  zu  Tage ; die  Blase  ist  überfüllt,  oder  es  wird 
irgendwo  ein  Rippenbruch  entdeckt.  In  anderen  Fällen  mögen 
leichte  bronchitische  oder  pneumonische  Störungen  zu  Grunde  Hegen. 
Seltener  dürften  diese  Fieberbewegungen  unmittelbar  mit  der  Hirn- 
erkrankung  im  Zusammenhänge  stehen.  Dagegen  ist  eine  solche 
Beziehung  wahrscheinHch  bei  den  Wärmesteigerungen,  welche  die 
daralytischen  Anfälle  zu  begleiten  pflegen.  Bei  längerer  Dauer  dieser 
letzteren  treten  allerdings  gewöhnlich  noch  andere  fiebererregende 
Ursachen  hinzu,  namentlich  Schluckpneumonien.  In  den  letzten 
Stadien  der  Paralyse  kommt  es  nicht  selten  zu  anhaltender,  beträcht- 
licher Temperatur  Senkung,  die  von  den  Kranken  auffaUend  gut  er- 
tragen wird.  Ich  sah  einen  Paralytiker  unter  massenhafter  Nahrungs- 
aufnahme mit  Temperaturen  bis  zu  30,8  herunter  wochenlang  munter 
und  lebhaft  erregt  bleiben. 

Von  den  übrigen  Leistungen  des  Organismus  sind  es  nament- 
lich der  Schlaf,  der  Appetit  und  das  Körpergewicht,  welche 
durch  die  Paralyse  durchgehends  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden. 
Der  Schlaf  ist  in  den  ersten  Stadien  der  Krankheit  vielfach  sehr 
gestört,  später  in  den  Erregungszuständen  oft  zeitweise  ganz  auf- 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


243 


gehoben,  während  er  gegen  das  Ende  hin  wieder  besser  wird, 
obgleich  hier  bei  dem  blödsinnigen  Hindämmern  der  Kranken  ein 
sicheres  Urtheil  über  diesen  Punkt  kaum  möglich  ist.  Bei  manchen 
Kranken  entwickelt  sich  eine  förmliche  Schlafsucht,  so  dass  sie 
eigentlich  nur  dann  wach  sind,  wenn  sie  essen  oder  wenn  man  sich 
gerade  mit  ihnen  beschäftigt,  während  sie  unmittelbar  nachher  sofort 
wieder  einschlafen.  Der  Appetit  pflegt  anfangs  und  in  der  Auf- 
regung herabgesetzt  zu  sein,  um  späterhin  gewöhnlich  in  wahre  Ge- 
frässigkeit  überzugehen;  bisweilen  wird  Wiederkäuen  beobachtet. 

Das  Körpergewicht  sieht  man  im  Beginne  und  auf  der  Höhe  der 
Krankheit  sinken,  dann  aber  bei  dauernder  Beruhigung  unter  massiger 
Fettansammlung  sehr  bedeutend,  bis  weit  über  die  Norm  hinaus  an- 
steigen  und  endlich  gegen  das  Ende  hin  wieder  unaufhaltsam  bis 
zum  tiefsten  Marasmus  herabgehen.  Einen  Theil  dieses  Verlaufes 
zeigen  die  beiden  umstehenden  Curven.  Die  erste  derselben  beginnt 
mit  sehr  tiefem  Stande  bei  anfänglicher  Erregung;  dann  tritt  aber 
ein  ungemein  rasches  Ansteigen  ein,  das  nur  von  Zeit  zu  Zeit  durch 
kleine  Rückschläge  unterbrochen  ist,  welche,  wie  durch  Sternchen 
angedeutet,  fast  immer  von  paralytischen  Anfällen  begleitet  werden. 
Nach  mehr-  als  zwei  Jahren  beginnt  ein  langsamer  Abfall,  der  in- 
zwischen weiter  fortgeschritten  ist;  die  Kranke  ist  nach  jährigem 
Aufenthalte  in  der  Klinik  im  Anfalle  gestorben.  Bei  dem  zweiten 
Kranken  lässt  die  Curve  gut  die  jedesmalige  rasche  Beruhigung  in 
der  Anstalt  erkennen.  Mit  dem  Ansteigen  des  Gewichtes  stellte 
sich  regelmässig  eine  Remission  ein,  welche  auch  nach  der  Entlassung 
eine  längere  Reihe  von  Monaten  Stand  hielt. 

Deuten  alle  die  letztbesprochenen  Störungen  auf  den  Ablauf  tief- 
greifender Stoffwechselveränderungen  in  der  Paralyse  hin,  so  dürften 
die  leider  noch  zu  wenig  verarbeiteten  Befunde  von  Eiweiss  und  anderen 
krankhaften  Bestandtheilen  im  Harn  (Glykosurie,  Diabetes)  in  gleichem 
Sinne  als  Theilerscheinungen  des  allgemeinen  Krankheitsvorganges 
Beachtung  verdienen.  Auch  die  vielfachen  Untersuchungen  über 
das  Blut  der  Paralytiker,  die  ein  helleres  Licht  auf  die  all- 
gemeine Ernährungsstörung  werfen  könnten,  haben,  abgesehen 
von  den  Angaben  über  die  Herabsetzung  des  Hämoglobingehaltes, 
noch  nicht  zu  einwandfreien  und  übereinstimmenden  Er- 
gebnissen geführt.  Neuerdings  fand  Idelson  Herabsetzung 
oder  völliges  Fehlen  der  bakterientödtenden  Wirkung  des  Blutes; 

16* 


244 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


Curvo  VII. 

Domonto  ParalyRo  mit  anßliißliclior  Errognng,  dann  Vorblödunp.  Violo  AnflUlo  (*). 


Einzelne  Kranklieitsbilder. 


245 


d’  Abundo*)  bat  die 
Giftigkeit  desselben  er- 
höht gefunden.  — 

Die  Mannigfaltigkeit 
der  Krankheitsbilder, 
welche  sich  aus  den  bis 
hierher  besprochenen 
einzelnen  Störungen  er- 
fahrungsgemäss  zusam- 
mensetzen, ist  eine  so 
grosse,  dass  es  kaum 
möglich  erscheint,  eine 
auch  nur  einigermassen 
befriedigende  Uebersicht 
über  die  klinischen  Ge- 
staltungsformen der  Pa- 
ralyse zu  geben.  Wenn 
wir  auch  überall  dem 
gemeinsamen  Grundzuge 
der  eigenartigen  psychi- 
schen Schwäche,  den 
Zeichen  des  organischen 
Hirnleidens  und  endlich 
dem  unerbittlich  bis  zur 
Vernichtung  des  geisti- 
gen und  körperlichen 
Lebens  fortschreitenden 
Verlaufe  begegnen,  so 
können  doch  die  ge- 
gebenen Beobachtungen 
in  ihrer  Entwicklung  wie 
in  ihren  Zustandsbildern 
derartig  von  einander 
abweichen,  dass  dem 
Anfänger  die  allgemeine 


*)  Rivista  sperimentale 
di  freniatria  XVIII,  212. 


Curve  VIII. 

Agitirte  Paralyse  mit  mehrfachen' Remissionen. 


246 


VI.  Die  Dementia  paralytiea. 


Zusammengehörigkeit  durch  den  starken  Eindruck  widersprechen- 
der Einzelheiten  völlig  verdeckt  wird.  Erst  eine  vorgeschrittenere 
Erfahrung  lehrt  uns,  dass  alle  die  anscheinend  so  verschieden- 
artigen Gestaltungsformen  unvermittelt  und  unberechenbar  in 
einander  übergehen  können  und  nur  die  oben  gekennzeichneten 
Grundzüge  „den  ruhenden  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht“ 
abgeben.  Alle  klinische  Einzelschilderung,  alle  Abgrenzung  von 
bestimmten  Krankheitsbildern  auf  dem  grossen  Gebiete  der  Paralyse 
hat  daher  zunächst  nur  einen  sehr  bedingten  "Werth.  Immer- 
hin wollen  wir  der  Uebersichtlichkeit  halber  im  Folgenden  versuchen, 
hergebrachter  Weise  als  hauptsächlichste  Verlauf sarten  der  Paralyse 
die  depressive,  die  expansive,  die  agitirte  und  die  demente 
Form  derselben  auseinanderzuhalten.  Vielleicht  lehrt  uns  einmal 
eine  bessere  Kenntniss  der  ursächlichen  oder  der  pathologisch-anato- 
mischen Verhältnisse  des  Leidens  unter  neuen  Gesichtspunkten  auch 
für  die  klinischen  Beobachtungen  eine  zuverlässigere  Gruppirung 
erreichen. 

Die  depressive  Form  der  Paralyse  ist  gekennzeichnet  durch 
depressive  Verstimmung  und  Wahnideen,  welche  den  ganzen 
Krankheitsv erlauf  bis  zur  völligen  Verblödung  des  Kranken  begleiten. 
Ihren  Ausgangspunkt  nimmt  die  traurige  Verstimmung  häufig  von 
dem  Krankheitsgefühle  des  Eingangsstadiums,  welches  im  übrigen 
die  allgemeinen,  schon  früher  geschilderten  Anzeichen  einer  allmählich 
fortschreitenden  Schwäche  des  Gedächtnisses  und  des  Verstandes, 
einer  erhöhten  augenblicklichen  Reizbarkeit  neben  gemüthlicher 
Stumpfheit  und  Willenlosigkeit  darbietet.  Es  sind  daher  zumeist 
hypochondrische  Ideen,  in  denen  sich  die  Verstimmung  der 
Kranken  ausdrückt.  Sie  sind  unheilbar  krank,  syphilitisch,  innerlich 
verfault,  haben  gefühlt,  wie  ein  Giftbrocken  in  den  Kopf  gefahren 
ist;  es  haben  sich  Gefässyeränderungen  entwickelt,  weil  ihnen  früher 
einmal  ein  Blutegel  angesetzt  wurde;  der  Schädel  ist  weich  ge- 
worden, an  einer  Stelle  aufgetrieben,  das  Gehirn  ausgetrocknet  „wie 
ein  Sumpf“,  die  Nerven  vom  Denken  überreizt  Meist  bestehen 
mannigfache  unangenehme  Empfindungen  in  den  verschiedensten 
Theilen  des  Körpers,  die  vielfach  wechseln  und  auch  wol  durch 
Einreden  beeinflusst  werden  können.  Die  Kranken  suchen  daher 
wegen  allerlei  wenig  greifbarer  Beschwerden  die  Hülfe  des 
Arztes  auf,  der  sie  beim  Mangel  oder  bei  Nichtbeachtung  eines 


Depressive  Form.  247 

objectiven  Befundes  für  neurasthenisch,  hysterisch,  hypochondrisch 
erklärt. 

Allmählich  gewinnen  die  Klagen  der  Kranken  einen  ganz  un- 
sinnigen Inhalt.  Sie  haben  keine  Nase,  keine  Augen,  keine  Leber 
und  keine  Nieren  mehr,  haben  zwei  Leiber;  der  Magen  ist  abgedrückt, 
der  Schlund,  der  Mastdarm  zugewachsen,  zugenäht,  durch  einen  Kork 
verschlossen,  so  dass  sie  weder  etwas  geniessen  noch  etwas  entleeren 
können.  Der  Schädel  ist  leer,  der  Kopf  verbrannt;  die  Eingeweide 
sind  verfault,  mit  Milben  vollgestopft.  Der  Magen,  ja  auch  die 
Matratze  füllen  sich  immerfort  mit  Urin;  das  Essen  steigt  in  den 
Kopf  hinein  oder  fällt  nur  gerade  so  hinunter;  die  Lungen  sind 
verschwunden;  die  Beine  werden  zu  Eis;  alles  läuft  als  Speichel 
zum  Munde  heraus.  Es  ist  Musik  im  Leibe;  alles  ist  mit  Gestank 
erfüllt.  Der  Kopf  ist  ganz  klein  zusammengeschrumpft,  ausgewechselt 
oder  gänzlich  verloren  gegangen,  die  Zunge  angefroren,  der  Leib 
aufgeblasen.  Arme  und  Beine  haben  sich  ungeheuerlich  ausgedehnt; 
die  Kippen  sind  riesengross,  die  Ohren  von  Holz,  die  Zunge  von 
Gold;  in  der  Seite  stecken  3000  Mark;  100  Pfund  Steine  liegen  auf 
der  Brust.  Der  ganze  Mensch  ist  verdoppelt,  viereckig,  in  ein  Pferd 
verwandelt,  unsichtbar,  bereits  gestorben,  ist  „schon  längst  nichts 
mehr  gewesen“,  begraben,  eine  „lebendige  Leiche“,  hat  gar  keinen 
Namen.  Alle  diese  „mikromanischen“  Vorstellungen  versetzen  den 
Kranken  in  lebhaftes  Unbehagen  und  vermögen,  wenn  sie  auch  zu- 
meist nicht  weiter  verarbeitet  werden,  doch  sein  Benehmen  oft 
lange  Zeit  zu  beeinflussen.  Er  bemüht  sich  wochenlang  auf  alle 
Weise,  durch  seinen  zugewachsenen  Schlund  etwas  hindurch  zu 
bringen,  hantirt  unablässig  an  seiner  Zunge,  am  After,  an  den 
Genitalien  herum,  sitzt  mehrere  Stunden  täglich  auf  dem  Nacht- 
stuhi  in  der  verzweiflungsvollen  Erwartung  dessen,  was  kommen 
soll;  er  vermeidet  ängstlich  jede  Lage  Veränderung,  weil  er  seine 
ungeheuren  Hände  nicht  bewegen  kann  oder  die  winzigen  Beine 
unter  der  Last  des  mächtigen  „Kikerikikopfes“  zusammenbrechen 
müssten. 

Mit  diesen  hypochondrischen  Vorstellungen  verbinden  sich  viel- 
fach Versündigungsideen;  seltener  beherrschen  diese  letzteren 
allein  das  Krankheitsbild.  Zunächst  können  die  Selbstvorwürfe  ganz 
an  diejenigen  der  Melancholiker  erinnern.  Die  Kranken  sind  grosse 
Sünder  und  Verbrecher,  jammern  darüber,  dass  sie  kein  Herz  und 


248 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


keine  Liebe  mehr  haben,  ein  Gelübde  nicht  erfüllt,  unkeusch  ge- 
lebt, Vieles  gestohlen  hätten.  Andere  glauben,  einen  Meineid  ge- 
leistet, den  heiligen  Geist  betrübt,  Deutschland  verrathen,  die  ganze 
Welt  ermordet  und  zu  Grunde  gerichtet  zu  haben;  „die  ganze  Welt 
weiss  es“;  man  „macht  ihnen  Verbrechen“.  Eine  meiner  Kranken 
wurde  bei  völliger  Besonnenheit  Monate  lang  von  der  Idee  ver- 
folgt, dass  sie  ihre  Kinder  ermordet,  Nadeln  und  Glas  in  das  Essen 
gethan  habe.  Von  den  ihr  begegnenden  Menschen  meinte  sie  immer, 
einen  bei  Seite  gebracht  und  alle  Zeugen  zum  Schweigen  bestochen 
zu  haben.  Ein  anderer  schrieb  einen  langen  Brief  an  den  Erz- 
bischof, in  welchem  er  mit  genauen  Zahlenangaben  die  verschieden- 
artigsten Unkeuschheiten  aufführte,  die  er  sich  habe  zu  Schulden 
kommen  lassen.  Im  Anschlüsse  an  die  Versündigungsideen  fürchtet 
der  Kranke  gewöhnlich,  dass  die  Bolizei  kommen,  ihn  aufgreifen,  er- 
hängen, vergiften,  verbrennen,  in  einen  Sack  stecken,  ihm  die  Glieder 
abhacken,  die  Haut  abziehen  werde ; er  wünscht,  vor  Gericht  geführt, 
in  Stücke  zerhackt,  im  Backofen  gebraten,  von  drei  Ochsen  aus- 
einandergerissen zu  werden,  sieht  in  den  Personen  seiner  Umgebung 
Spione  und  gedungene  Mörder.  Ein  Kranker  ging  auf  den  Kirchhof, 
um  sich  sein  Grab  auszusuchen. 

Solche  und  ähnliche  Verfolgungsideen  können  auch  den 
einzigen  Inhalt  des  depressiven  Wahnes  bilden.  Dieselben  werden 
dann  meist  von  Gehörstäuschungen  begleitet.  Der  Kranke  hört 
seine  Lieben  weinen,  um  Hülfe  rufen  ; Gott  spricht  zu  ihm.  Stimmen 
bedrohen,  beschimpfen,  beschuldigen  ihn  der  scheusslichsten  Ver- 
brechen. Er  soll  gestohlen,  sich  mit  Thieren  vergangen  haben, 
ist  verhext,  in  der  Hölle,  ganz  arm  geworden.  Man  will  ihn  und 
seine  armen  Kinder  umbringen,  ihm  den  Leib  aufschneiden;  er 
soll  fort,  vor  ein  Kriegsgericht  geschleppt  werden.  Seltener  sind 
Täuschungen  der  übrigen  Sinne.  Der  Kranke  sieht  feurige  Schlangen 
in  der  Luft,  Löwen,  weisse  Gestalten;  die  Lichterscheinungen  bei 
beginnender  Sehnervenatrophie  hält  er  für  künstlichen  Trug;  im 
Essen  ist  Gift,  Ungeziefer,  Menschenfleisch.  Das  Bett  brennt  wie 
Feuer,  wird  von  elektrischen  Schlägen  durchzuckt;  alles  ist  ge- 
storben; die  ganze  Welt  geht  unter.  Von  Knoten  werden  immerfort 
schreckliche  Verbrechen  vollführt;  es  wird  eiugebrochen,  Feuer  an- 
gelegt. Ein  harmloses  Geräusch  im  Nebenzimmer  kündigt  dem 
Kranken  die  Bäuber  an,  die  sich  im  nächsten  Augenblicke  auf  ihn 


Depressive  Form. 


249 


stürzen  werden.  Ein  derartiger  Kranker  meiner  Beobachtung  ver- 
wüstete in  seiner  Angst  sein  ganzes  Zimmer  und  hätte  um  ein  Haar 
seine  Frau  umgebracht,  die  er  für  einen  Einbrecher  hielt,  bis  man 
sie  aus  seiner  Gewalt  befreite. 

Die  Besonnenheit  pflegt  sich  bei  diesen  letzteren  Formen 
der  depressiven  Paralyse  vielfach  zu  trüben.  Die  Kranken  verlieren 
meist  rasch  die  Fähigkeit  zu  ruhiger  Auffassung  ihrer  Lage  und 
ihrer  Umgebung,  werden  oft  ganz  verstört,  stier  benommen,  verkennen 
die  Personen,  beziehen  jede  Aeusserung  und  jedes  Ereigniss  in  ihrer 
Umgebung  im  Sinne  ihrer  Angst  auf  sich,  so  dass  sie  dauernd  von 
verworrenen  Schreckbildern  erfüllt  sind.  Sie  sind  an  allem  Schuld, 
müssen  für  alles  biissen,  regen  die  Andern  auf,  entziehen  Jenen 
das  Essen.  Alles  ist  verkehrt,  wirbelt  durcheinander.  Die  Kranken 
beten,  bitten,  flehen  um  Gnade,  sind  äusserst  schreckhaft  und  miss- 
trauisch, zerkratzen  sich,  zupfen  an  ihren  Fingern,  zerkauen  die 
Nägel,  verkriechen  sich,  laufen  halbnackt  herum.  Manche  Kranke 
gerathen  in  fassungsloseste  Verzweiflung,  sehen  sich  mit  dem  Aus- 
drucke des  Entsetzens  bei  jedem  Geräusche  um,  in  der  Erwartung, 
von  irgend  etwas  Schrecklichem  betroffen  zu  werden;  sie  schreien 
unausgesetzt  aus  Leibeskräften  die  gleichen,  abgerissenen  Worte: 
„Gift“,  „Unglück“,  „Sterben“  u.  dergl.,  oder  sie  vermögen  in  starrer 
Spannung  keinen  Laut  hervorzubringen.  Ganz  unfähig  zu  irgend 
einem  Entschlüsse,  sitzen  sie  rathlos  im  Hemde  oder  vor  ihrem  Essen 
da,  ohne  sich  zum  Ankleiden  oder  Zugreifen  aufraffen  zu  können. 
Schliesslich  wagen  sie  sich  nicht  mehr  aus  ihrem  Zimmer,  ja  aus 
ihrem  Bette  heraus,  in  welchem  sie,  am  ganzen  Leibe  zitternd  und 
schwitzend,  mit  hochgezogener  Decke  liegen,  um  jedem  äusseren 
Eingriffe  einen  blinden,  rücksichtslosen  Widerstand  entgegenzusetzen. 
Durch  keinerlei  Beeinflussung  sind  sie  zu  den  einfachsten  Mass- 
regeln  zu  bringen,  so  dass  die  Bettlagerung,  das  Aufstehen,  An- 
und  Auskleiden  immer  erst  nach  verzweifeltem  Ringen  mit  dem 
vollständig  verwirrten  Kranken  erreicht  werden  kann. 

Nicht  selten  kommt  es  zu  gewaltthätigen,  aber  meist  sehr  unüber- 
legten und  unsinnigen  Selbstmordversuchen  oder  Selbstverstümme- 
lungen. Versuche,  Scrotum  oder  Penis  abzureissen,  habe  ich  mehr- 
fach erlebt.  Ein  Kranker  hieb  sich  mit  einem  Beile  glatt  die  ge- 
sammten  äusseren  Genitalien  ab,  weil  ihm  Stimmen  vorwarfen, 
dass  er  sich  vor  Jahren  von  einem  Herrn  hatte  manustupriren 


250 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


lassen;  er  wollte  sich  an  dem  Gliede  strafen,  mit  dem  er  ge- 
sündigt habe.  Noch  Andere  verschlacken  grosse  Gegenstände,  um 
sich  zu  tödten;  so  fand  ich  im  Darm  eines  derartigen  Kranken 
eine  dicke  Weichselcigarrenspitze  und  zwei  mehrere  Zoll  lange 
Schrauben. 

Die  Dauer  der  heftigen  Angstzustände  schwankt  zwischen 
Stunden  und  Wochen.  Nicht  selten  verschwindet  die  ängstliche 
Spannung  ganz  plötzlich,  um  sich  ebenso  unvermittelt  wieder  ein- 
zustellen. Im  übrigen  sind  die  Kranken  niedergeschlagen  und  ver- 
stimmt, aber  ruhig,  oft  auch  im  Zusammenhalte  mit  den  von  ihnen 
geäusserten  Ideen  auffallend  affectlos.  Ueberhaupt  fehlt  der  gemüth- 
lichen  Erregung  durchaus  jene  Nachhaltigkeit  und  Einheitlichkeit, 
welche  den  nicht  paralytischen  Depressionszuständen  eigenthümlich 
ist.  Zuweilen  schieben  sich  vorübergehend  Zeiten  gehobener  und 
selbst  humoristischer  Stimmung  dazwischen.  In  der  Nacht  tritt  ein 
himmlisches  Wohlgefühl  auf;  der  Kranke  erzählt  lächelnd,  dass  es 
nun  zu  Ende  gehe.  Im  weiteren  Verläufe  mit  zunehmendem 
Schwachsinn  stellt  sich  oft  ein  Zustand  blöden  Wohlbehagens  mit 
einzelnen  kindischen  Grössenideen  ein.  Der  Kranke  ist  schon  eine 
Ewigkeit  alt;  in  den  Wäscheschränken  ist  lauter  Gold. 

Nicht  ganz  selten  beobachten  wir  im  Laufe  der  Paralyse  länger 
dauernde  Stupor zustände,  die  vielleicht  an  dieser  Stelle  Erwähnung 
finden  dürfen.  Die  Kranken  sprechen  weder  von  selbst  noch  auf  Anreden, 
liegen  ohne  erkennbare  Antheilnahme  an  der  Umgebung  regungslos 
da,  nehmen  keine  Nahrung  zu  sich,  lassen  unter  sich  gehen.  Ein- 
dringliche Aufforderungen  werden  sehr  langsam  und  zögernd,  mit- 
unter gar  nicht  befolgt.  Die  Stimmung  ist  meist  ziemlich  gleich- 
gültig, öfters  aber  auch  etwas  ängstlich  oder  kleinmüthig  gefärbt. 
Die  Auffassung  und  Orientirung  pflegt  sehr  mangelhaft  zu  sein, 
kehrt  aber  in  der  Eegel  schon  wieder,  wenn  die  Kranken  noch  gar 
nichts  oder  doch  nur  einzelne  flüsternde  Worte  vorzubringen  ver- 
mögen. Wahnbildungen  und  Sinnestäuschungen  können  vorhanden 
sein  oder  fehlen.  Die  Dauer  solcher  Zustände,  die  sich  an  die  ein- 
leitende Depression,  aber  auch  an  Erregungen  von  verschiedener 
Färbung  auschliessen  können,  beträgt  bisweilen  viele  Monate. 

Wir  haben  hier  endlich  noch  kurz  einer  kleinen  Gruppe  von 
Fällen  zu  gedenken,  in  denen  System atisirte  Verfolgungsideen 
entwickelt  werden.  Die  Kranken  sind  ruhig,  vollkommen  besonnen. 


Depressive  Form. 


251 


geordnet  und  erzählen  in  zusammenhängender  Weise,  dass  man  seit 
einiger  Zeit  etwas  gegen  sie  im  Schilde  führe,  sie  aus  dem  Wege 
räumen  wolle,  dass  sie  beobachtet  würden,  unter  polizeilicher  Ueber- 
wachung  stünden,  wahrscheinlich  fälschlich  irgend  eines  Yerbrechens 
bezichtigt  seien.  Auf  der  Reise  begegnen  sie  verdächtigen  Ge- 
stalten, die  überall  wieder  auftaueben;  aus  den  Reden  der  Um- 
gebung entnehmen  sie  Anspielungen  auf  persönliche  Yerhältnisse. 
Die  Angehörigen  haben  sich  uicht  nur  iu  ihrem  Benehmen,  sondern 
auch  im  Aeusseren  verändert;  ein  ganz  besonnener  Kranker  fragte 
unmittelbar  nach  einem  mehrstündigen  Besuche  seiner  Frau  bei  ihr 
schriftlich  an,  ob  sie  es  wirklich  gewesen  sei.  Andere  klagen,  dass 
man  ihnen  Hirngift,  Yitriol  und  Scheidewasser  in  das  Essen  gethan, 
sie  dadurch  aufgeregt  und  das  Gedächtniss  geschwächt,  die  Augen 
verdorben  hat;  man  will  sie  zum  Halbsimpel  machen.  Auch  Eifer- 
suchtswahn ist  nicht  selten.  Ein  Kranker,  der  vor  der  Thüre  seiner 
wegen  Misshandlung  von  ihm  geschiedenen  Frau  lauerte,  hörte  im 
Hausgang  ein  verdächtiges  Geräusch  und  fand,  als  er  eindrang,  dass 
der  Platz  noch  warm  war,  au  dem  sich  die  Frau  mit  dem  vermeint- 
lichen Nebenbuhler  gerade  geschlechtlich  vergangen  hatte.  Ein 
impotenter  Kranker  mit  tabischen  Erscheinungen  behauptete,  dass 
seine  Frau  ihn  durch  Spiegel  und  Eloktricität  zu  verderben  suche 
und  ihm  Schmerzen  in  den  Gliedern  mache.  Durch  das  Fenster 
tönen  Stimmen,  3 bis  4;  die  Gedanken  werden  laut;  es  kommen 
telephonische  Nachrichten ; die  Nachbarn  verschwätzen  den  Kranken. 

Längere  Zeit  hindurch  können  die  Kranken  ganz  den  Eindruck 
von  Paranoikern  machen.  Erst  bei  genauerer  Prüfung  entdecken  wir 
einzelne  handgreifliche,  von  dem  Kranken  aber  gar  nicht  bemerkte 
Widersprüche  in  seinen  Erzählungen,  trotzdem  er  anscheinend  ganz 
klar  und  verständig  ist;  wiederholte  Darstellungen  desselben  Vor- 
ganges weichen  von  einander  ab.  Ferner  fehlt  die  leidenschaftliche 
Hartnäckigkeit  in  der  Verteidigung  des  Wahnes;  es  gelingt  ver- 
hältnissmässig  leicht,  den  Kranken  vorübergehend  in  seiner  Auffassung 
wankend  zu  machen  und  zum  Eingeständnisse  zu  bringen,  dass  er 
sich  geirrt  habe.  Er  zieht  aus  seinen  wahnhaften  Vorstellungen 
nicht  die  naheliegenden  Schlussfolgerungen  für  sein  Handeln,  sondern 
zeigt  gerade  in  dieser  Beziehung  eine  auffallende  Weichheit  und 
Unschlüssigkeit.  Einer  meiner  Kranken,  ein  sehr  tatkräftiger  und 
umsichtiger  Grosskaufmann,  der  bei  längerer  Unterhaltung  sonst 


252 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


vollständig  normal  erschien,  behauptete  in  aller  Gemütbsruhe,  dass 
seine  Frau  ihn  durch  geschlechtliche  Ueberreizung  und  durch  plan- 
mässige,  geheimnissvolle  Anspielungen  mit  Hülfe  der  Spiritisten 
geisteskrank  zu  machen  und  zum  Selbstmorde  zu  treiben  suche,  um 
in  den  Besitz  seiner  Lebensversicherung  zu  gelangen.  Trotzdem 
liess  er  sie  sich  von  Amerika  nachkommen  und  suchte  sie  soviel 
wie  irgend  möglich  in  seiner  Nähe  zu  haben. 

Der  depressiven  Form  der  Paralyse  gehören  nach  meinen  Er- 
fahrungen etwa  ein  viertel  der  Fälle  an.  Sie  bevorzugt  ein  wenig 
mehr  die  höheren  Lebensalter,  als  die  übrigen  Formen;  nur  36  °/0 
der  Kranken  hatten  im  Beginne  des  Leidens  das  40.  Lebensjahr  noch 
nicht  überschritten.  Vielleicht  dürfen  wir  hier  an  die  Neigung  des 
Rückbildungsalters  zu  Depressionszuständen  überhaupt  erinnern,  um 
so  mehr,  als  •wir  bei  unseren  Kranken  recht  häufig  die  Zeichen  eines 
vorzeitigen  Alterns  vorfinden.  Dieser  Auffassung  würde  der  weitere 
Umstand  entsprechen,  dass  hier  das  weibliche  Geschlecht  auffallend 
stark  (33  °/0)  betheiligt  zu  sein  scheint,  welches  ja  auch  die  meisten 
Melancholien  im  Rückbildungsalter  liefert.  Remissionen  sind  bei 
dieser  Form  verhältnissmässig  selten  (in  etwa  12 °/0  der  Fälle); 
paralytische  Anfälle  kamen  nach  meiner  Erfahrung  bei  fast  einem 
viertel  der  Kranken  zur  Beobachtung.  Fügen  wir  hinzu,  dass  die 
Dauer  der  Krankheit  in  7 0 °/0  der  Fälle  den  Zeitraum  von  zwei 
Jahren  nicht  zu  überschreiten  pflegt,  so  kommen  wir  zu  dem  Schlüsse, 
dass  die  depressive  Paralyse  zu  den  schwereren  Formen  der  Krank- 
heit gerechnet  werden  muss.  Der  Tod  erfolgt  bisweilen  durch  Selbst- 
mord oder  in  Folge  von  Verletzungen,  häufiger  durch  Erschöpfung 
oder  im  Anschlüsse  an  paralytische  Anfälle. 

Die  expansive  Paralyse  beginnt  meist  mit  den  allgemeinen 
Zeichen  des  herannahenden  Leidens,  Abnahme  der  Arbeitsfähigkeit, 
Zerstreutheit,  Gedächtnissschwäche,  Charakterveränderung,  Reizbar- 
keit; dazu  gesellen  sich  vielleicht  einzelne  körperliche  Andeutungen, 
Kopfschmerz,  Erschwerung  der  Sprache,  Schwindelanfälle.  Bisweilen 
entwickelt  sich  aus  diesen  Vorboten  heraus  zunächst  das  Bild  der 
depressiven  Paralyse  mit  Versündigungs-  oder  Verfolgungsideen  imd 
Angstzuständen.  Häufiger  jedoch  tritt  von  Anfang  an  sogleich  eine 
heitere  Erregung  mit  blühendem  Grössenwahn  hervor,  wenn  auch 
hypochondrische  Anwandlungen,  vorübergehende  weinerliche  Ver- 
stimmungen keineswegs  selten  sind. 


Expansive  Form. 


253 


Die  weitere  Entwicklung  der  Krankheit  vollzieht  sich  in  der 
Kegel  allmählich,  seltener  plötzlich  und  unvermittelt  binnen  wenigen 
Tagen.  Die  Anzeichen  von  Verstimmung  und  Krankheitsgefühl 
verlieren  sich;  der  Kranke  wird  zugänglich,  heiter,  gesprächig, 
verräth  aber  dabei  durch  den  Mangel  an  klarem  Verständnisse 
für  seinen  Zustand  und  seine  Lage,  durch  merkwürdige  Urtheils- 
losigkeiten  und  Unbesonnenheiten  deutlich,  dass  es  sich  nicht  um 
eine  Besserung,  sondern  nur  um  eine  Aenderung  seines  Krankheits- 
zustandes handelt. 

Sehr  bald  stellt  sich  nun  der  eigenthümliche  Grössen  wahn  ein, 
die  „Megalomanie“,  welche  vor  allem  das  klinische  Krankheitsbil  der 
Dementia  paralytica  bekannt  gemacht  („classische  Paralyse“)  und  auch 
die  volksthümliche  Bezeichnung  des  ganzen  Leidens  bestimmt  hat.  Der 
Inhalt  desselben  umfasst  die  gesammten  Beziehungen  des  Kranken, 
seine  körperliche  und  geistige  Leistungsfähigkeit,  sein  Wissen,  seine 
äussere  Stellung,  seinen  Besitz,  seine  Zukunft.  Zunächst  halten  sich  die 
Grössenideen  vielleicht  noch  im  Bereiche  des  Denkbaren  und  Mög- 
lichen und  machen  den  Eindruck  kindisch  aufdringlicher  Prahlereien. 
Der  Kranke  fühlt  sich  so  kräftig  wie  noch  nie,  ist  auffallend  gut 
conservirt,  sehr  gebildet,  versteht  viele  Sprachen,  wenn  er  sie  auch 
wegen  seiner  Zahnlücken  im  Augenblick  nicht  sprechen  kann,  hat 
wunderschöne  Töchter.  Er  macht  vortreffliche  Gedichte,  hat  eine 
ausgezeichnete  Stimme,  hohe  Verbindungen,  grossartige  Aussichten, 
verkehrt  nur  mit  feinen  Leuten,  ist  sehr  angesehen,  kann  jeden  Tag 
die  besten  Partien  machen,  erfreut  sich  des  besonderen  allerhöchsten 
Vertrauens.  Sein  Geschäft  geht  glänzend,  wirft  ein  schönes  Geld 
ab;  er  wird  es  bedeutend  vergrössern,  überall  Filialen  anlegen,  das 
grosse  Loos  gewinnen,  wichtige  Erfindungen  machen,  öffentliche  Vor- 
träge halten,  ein  Buch  schreiben,  welches  das  grösste  Aufsehen 
machen  und  ihm  bedeutende  Summen  einbringen  muss;  er  wird 
sich  ein  Schloss  bauen,  weite  Reisen  unternehmen,  Reichstagsabge- 
ordneter werden,  glänzende  Reden  halten  und  ohne  Zweifel  binnen 
kurzem  ins  Ministerium  berufen  werden,  hat  eine  riesige  Erbschaft 
in  Aussicht.  Auf  der  Schule  wie  an  verschiedenen  Universitäten 
hat  er  seine  Lehrer  durch  seine  Begabung  in  Erstaunen  gesetzt,  eine 
Menge  Preise  gewonnen,  ist  Meister  in  allen  ritterlichen  Künsten, 
Liebling  der  Frauenwelt,  hat  im  Kriege  Wunder  der  Tapferkeit  ver- 
richtet, mehrfach  durch  sein  persönliches  Eingreifen  den  Sieg  herbei- 


254 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


geführt,  auf  grossen  Reisen  äusserst  merkwürdige  Erlebnisse  durch- 
gemacht, ist  wiederholt  in  höchster  Lebensgefahr  gewesen,  aus  der 
er  sich  immer  wieder  durch  seine  unerhörte  Kraft  und  Klugheit  be- 
freit hat. 

Schon  jetzt  indessen  tritt  die  bedeutende  psychische  Schwäche 
des  Kranken  in  der  widerspruchsvollen  Zerfahrenheit  seines  Wahnes, 
in  der  traumhaften  Unbefangenheit,  mit  der  er  seine  Luftschlösser 
aufbaut,  und  in  der  Urtheilslosigkeit  gegenüber  den  nächstliegen  den 
Einwänden  nur  allzu  deutlich  hervor.  Ein  armer  Gemeindeschreiber 
erzählte  mir  triumphirend,  dass  er  für  jeden  Tag  seines  Anstalts- 
aufenthaltes 1000  Rubel  Entschädigung  verlangen  und  dann  mit  dem 
erhaltenen  Gelde  herrlich  und  in  Freuden  leben  werde.  Andere  be- 
rauschen sich  an  dem  Plane,  von  nun  an  einfach  alle  Waaren  mit 
50°/o  Nutzen  zu  verkaufen  oder  sämmtliche  Lotterieloose  zu  erwerben, 
damit  ihnen  das  grosse  Loos  sicher  nicht  entgehen  könne.  Einen 
guten  Einblick  in  die  erregten  Gedankengänge  solcher  Kranker  ge- 
währt folgende  Nachschrift: 

„0  Gott,  o Gott,  ich  habe  ja  so  viel  Ideen,  jede  Secunde  eine  Idee;  ich 
werde  ja  noch  wahnsinnig  — mein  armer  Kopf!  Ich  bin  das  grösste  Genie,  das  je 
existirt  hat  und  sitze  hier  im  Narrenhause;  ich  armer  Tropf,  ich  bin  ja  zu  allem 
fähig;  lassen  Sie  mich  heim  zu  meiner  armen  Frau.  Ich  hin  Offizier;  Sie  dürfen 
mich  nicht  zurückhalten;  ich  habe  den  Krieg  mitgemacht;  ich  müsste  eigentlich 
im  Generalstabswerk  stehen,  aber  ich  habe  es  nicht  haben  wollen.  Ich  schenke 
ja  meine  besten  Ideen  her;  mir  liegt  die  Literatur  und  die  Philosophie  am  Herzen; 
ich  kann  ja  meine  Patente  nicht  alle  verwerthen;  ich  denke  ja  jede  Viertelstunde 
ein  neues  aus.  Wollen  Sie  sich  Equipage  anschaffen,  Herr  Dr.?  Ich  bin  der 
beste  Pferdekenner;  ich  schenke  Ihnen  2 prächtige  Trakehner;  ich  baue  Ihnen  das 
schönste  Bicycle,  das  in  Europa  existirt;  ich  bin  Ihnen  ja  ewig  dankbar;  Sie  sind 
mein  Fetter,  mein  Heiland;  Sie  retten  in  mir  der  Welt  ein  Genie!  Machen  Sie 
mich  gesund;  ich  küsse  Ihnen  aus  Dankbarkeit  die  Stiefel!  Herr  Gott,  stehe  mir 
bei,  errette  mich  aus  diesem  Narrenhaus;  zerschmettere  diese  Leute,  die  mich  so 
misshandeln!  Was  ist  das  für  eine  scheussliche  Anstalt;  der  Baumeister  hat  ja 
gar  nichts  verstanden!  Sehen  Sie,  Herr  Dr.,  ich  will  Ihnen  einmal  zeigen,  wie 
Sie  das  umbauen.  Die  Anstalt  ist  viel  zu  akustisch;  da  müssen  Filztapeten  her; 
die  Geisteskranken  dürfen  Sie  nicht  machen  lassen,  was  sie  wollen;  da  muss  strenge 
Zucht  her.  Ueberhaupt  räumen  wir  die  Baracke  aus,  machen  eine  Pionirkaserne 
draus;  der  Neckar  ist  ja  in  der  Nähe.  Die  Irrenanstalt  verlegen  wir  ins  Schloss; 
ich  baue  es  um ; ich  bin  ja  über  die  historische  Bedeutung  orientirt.  Wir  machen 
da  Ausgrabungen,  wie  die  von  Schliemann  — ach  Gott,  heisst  er  Schliemann? 
— ich  verliere  ja  das  Gedächtniss;  ich  bin  ja  wahnsinnig;  ich  bin  verrückt;  geben 
Sie  mir  Blausäure,  dass  ich  verrecke ; ich  will  gern  sterben.  Lassen  Sie  mich  fort, 
lassen  Sie  mir  Handschellen  anlegeu  und  mich  durch  einen  Polizeicommissär  in  die 


Expansive  Form. 


255 


Heimath  bringen;  ich  kann  mein  Leben  nicht  im  Narrenhaus  zubringen;  was  wird 
aus  der  Deutschen  Wissenschaft,  aus  den  Deutschen  Universitäten ! Ich  bin  doch 
ein  Genie,  wie  Sie  doch  merken  müssen;  ich  spreche  doch  französisch  — bin  ich 
also  verrückt?  Aber  ein  Segen  war’s,  dass  ich  in’s  Narrenhaus  kam;  soll  ich. 
Ihnen  den  Faust  declamiren?  u.  s.  w.“ 

In  der  Regel  nimmt  die  Unsinnigkeit  und  Abenteuerlichkeit 
des  Grössenwahns  rasch  und  unaufhaltsam  zu.  Der  Kranke  glaubt 
über  ungeheure  Körperkräfte  zu  verfügen,  kann  zehn  Elephanten 
heben,  ist  der  schönste  Adonis  der  Welt,  schläft  „wie  Tausend  in 
einer  Nacht“,  wiegt  vier  Zentner,  nimmt  jede  Woche  25  Pfund  zu, 
hat  eine  eiserne  Brust,  geht  in  einer  Minute  tausend  Meilen  weit, 
kann  fliegen;  sein  Urin  ist  Rheinwein,  seine  Ausleerungen  Gold. 
Er  hat  alle  Wissenschaften  studirt,  ist  Professor  für  alle  Fächer, 
spielt  den  Don  Carlos  wie  ein  Gott,  spricht  sämmtliche  Sprachen 
der  Welt,  plaudert  mit  dem  lieben  Gott,  trinkt  täglich  hundert 
Eiaschen  Champagner,  hält  jeden  Nachmittag  Hochzeit,  zu  der  alle 
Fürstlichkeiten  eingeladen  sind,  zeugt  nur  kaiserliche  Prinzen,  hat 
eine  goldene  Frau.  Er  kann  tausend  Weiber  befriedigen,  alle  Krank- 
heiten curiren,  Todte  auferwecken,  hat  ein  comprimirtes  Gehirn,  wird 
niemals  sterben.  Dabei  ist  er  Graf,  Fürst,  „Kaiser,  Gott  und  Roth- 
schild“, „Hercules,  Millionär  und  Wassertaucher“,  einstimmig  zum 
deutschen  Kaiser  gewählt,  „der  höchsten  Natur  zugetheilt“,  Ober- 
gott, „seine  eigene  Grossmutter  im  Cubus“,  besitzt  sämmtliche  hohe 
Orden,  blauseidene  Wäsche,  Berge  von  Gold,  ein  ungeheures  Ver- 
mögen, Millionen  mal  Milliarden,  ausgedehnte  Jagdgründe,  600  Orlof- 
traber,  ungezählte  Viehheerden  in  Marmorställen,  100  000  Schiffe, 
jedes  hundert  Fuss  lang  und  hundert  Fuss  breit,  mit  10  000  elek- 
trischen Schrauben,  Königreiche,  Erdtheile,  ja  die  ganze  Welt.  Er 
ist  im  Himmel  geboren,  Sohn  der  Frau  Venus,  gestorben  und  wieder 
auf  die  Welt  gekommen,  hat  grosse  Reisen  gemacht,  war  in  Amerika, 
Jerusalem  und  Kamerun,  überall  auf  seinem  eigenen  Kriegsschiffe; 
er  wird  Reitknecht  mit  10  000  Mark  Gehalt,  wird  die  Kaiserin 
heirathen,  jedem  der  Mitkranken  eine  Million  schenken,  dem  Arzte 
eine  Million  Gehalt  zahlen  „und  die  Kost“,  eine  Brücke  über  den 
Ocean  nach  Indien  bauen,  einen  Thurm  errichten  in  einem  Garten, 
der  tausend  Meilen  lang  ist,  mit  goldenem  Dach,  mit  eigenem 
Theater  und  Circus;  er  wird  eine  Flugmaschine  erfinden  und  im 
Weltall  herumfliegen,  ein  Bergwerk  bis  nach  Califomien  durch  die 


256 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


Erde  graben  u.  s.  f.  Meist  spiegeln  sich  die  persönlichen  Lebens- 
verhältnisse und  Interessen  in  diesen  Ideen  wieder,  aber  immer  in 
unsinniger  Verzerrung.  Frauen  prahlen  mit  ihrer  Schönheit,  ihrem 
Schmuck,  dem  goldenen  Taschentuch,  mit  Diamanten  gestickt,  mit 
ihren  zahlreichen  und  schönen  Kindern,  deren  sie  täglich  zwei  oder 
mehrere  gebären,  erwählen  sich  die  höchsten  Würdenträger  zu 
Männern.  Bemerkenswerth  ist  es,  dass  sich  im  allgemeinen  die 
Grössenideen  der  weiblichen  Paralytiker  in  bescheideneren  Grenzen  zu 
halten  und  nicht  so  ungeheuerlich  über  das  Mögliche  hinauszugehen 
pflegen  wie  diejenigen  der  Männer. 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  während  der  Entwicklung 
des  Grössenwahnes  meist  leicht  getrübt.  Die  Umgebung  wird  nur 
unvollkommen  und  bruchstückweise  von  ihnen  aufgefasst  und  ver- 
standen. Ueber  Zeit,  Ort  und  Umstände  vermögen  sie  sich  keine 
klare  Rechenschaft  zu  geben,  wie  sich  bei  eingehender  Prüfung 
bald  herauszustellen  pflegt.  Sie  kümmern  sich  auch  wenig  um  die 
wirklichen  Vorgänge,  sind  vielmehr  ganz  von  ihren  traumhaften 
Glücksvorstellungen  und  Plänen  in  Anspruch  genommen.  Der  Zu- 
sammenhang ihres  Gedankenganges  ist  regelmässig  ein  sehr  lockerer 
und  kann  leicht  durch  äussere  Einflüsse  gelenkt  werden.  Wie  sie 
der  Augenblick  eingiebt,  folgen  die  verschiedenartigsten  Ideen  ein- 
ander, in  buntem  Wechsel,  unverarbeitet,  voll  der  handgreiflichsten 
Widersprüche.  Seltener  werden  einzelne  Bestandtheile  des  Wahnes 
längere  Zeit  hindurch  festgehalten;  meist  wird  alles  rasch  wieder 
vergessen  oder  durch  Neues  verdrängt.  Regelmässig  gelingt  es, 
durch  Zureden  den  Kranken  zu  neuer  Ausdehnung  und  Aus- 
schmückung seiner  Grössenideen,  fabelhaften  Erlebnisse  und  aben- 
teuerlichen Pläne  zu  veranlassen.  Vielfach  besteht,  wie  in  dem  obigen 
Beispiele,  deutliche  Ideenflucht.  Namentlich  in  den  Schriftstücken  der 
Kranken,  bei  den  Aufzählungen  ihrer  Wünsche,  Aufträge  und  Pläne 
pflegt  sie  als  Theilerscheinung  der  erhöhten  Ablenkbarkeit  klar 
hervorzutreten.  In  einzelnen  Fällen  sind  vorübergehend  Gesichts- 
oder Gehörstäuschungen  vorhanden,  pflegen  aber  nur  eine  geringe 
Rolle  im  Krankheitsbilde  zu  spielen. 

Die  Stimmung  des  Kranken  ist,  übereinstimmend  mit  dem 
Inhalte  seines  Wahnes,  freudig  gehoben,  selbstbewusst  und  hoffnungs- 
voll. Sie  steigert  sich  vielfach  zu  ganz  überschwänglicher,  un- 
beschreiblicher Glückseligkeit.  Der  Kranke  dankt  dem  Himmel 


Expansive  Form. 


257 


unter  heissen  Freudenthränen,  dass  ihm  eine  solche  Wonne  be- 
schieden  sei.  Die  ganze  Welt  möchte  er  umarmen  und  beglücken, 
■wie  er  selbst  dadurch  beglückt  ist,  dass  sich  nun  sein  Schicksal  so 
wunderschön  und  herrlich  gestaltet  hat.  Alles,  was  ihn  umgiebt,  ist 
unübertrefflich  und  köstlich;  seine  Mahlzeiten,  seine  Wohnung,  seine 
Kleider  sind  eines  Königs  werth,  seine  Freunde  und  Bekannten  aus- 
gezeichnete, edle,  hochgebildete  Männer,  seine  Kinder  vollendete 
Muster  an  Wohlerzogenheit  und  Verstand.  Hie  und  da  schimmern 
indessen  durch  die  gehobene  Stimmung  leise  Andeutungen  eines 
dumpfen  Krankheitsbewusstseins  hindurch,  das  Zugeständnis,  etwas 
nervös,  ruhebedürftig  zu  sein;  auch  einzelne  hypochondrische  An- 
wandlungen werden  beobachtet,  die  Klage,  dass  kein  Gehirn  mehr 
da,  das  Blut  eingetrocknet  sei.  Auch  dieser  Stimmungswechsel  ist 
in  der  mitgetheilten  Nachschrift  deutlich  erkennbar. 

Andererseits  jedoch  besteht  häufig  auch  eine  ausserordentliche 
Reizbarkeit.  Namentlich  Zweifel  oder  Widerspruch  gegenüber  den 
Grössenideen  bringen  den  Kranken  leicht  in  heftigen,  aber  rasch  ver- 
rauchenden Zorn,  um  so  mehr,  wenn  er  gerade  nichts  auf  die  Ein- 
wände zu  erwidern  weiss.  Auch  gegenüber  anderen  Kranken  wird 
er  bisweilen  rücksichtslos  gewaltthätig,  da  er  nicht  das  geringste 
Verständniss  für  deren  Zustand  hat,  sondern  sie  ohne  weiteres  für 
freche  Schwindler  und  für  vollständig  gesund  erklärt.  Er  droht 
dann,  durch  seine  Artillerie  alles  zusammenschiessen,  die  ganze  Ge- 
sellschaft in  Ketten  schliessen,  „von  100  Kamerunnegern  mit  eisernen 
Peitschen  durchprügeln“  zu  lassen.  Nicht  selten  beobachtet  man  ganz 
plötzliches  Umschlagen  der  Stimmung  in  tiefe  Depression  oder  leb- 
hafte Angst  mit  krampfhaftem  Weinen  und  einzelnen  hypochondrischen 
oder  Verfolgungsideen.  Freilich  pflegen  solche  Anwandlungen  einige 
Stunden  oder  Tage  nicht  zu  überdauern ; seltener  bilden  sie  längere 
Abschnitte  im  Krankheitsverlaufe. 

Auf  psychomotorischem  Gebiete  fällt  an  dem  Kranken  fast 
immer  eine  gewisse  Erregung  auf,  die  sich  unter  Umständen  zu 
sehr  erheblichen  Graden  steigern  kann.  Der  Kranke  ist  unstät, 
vielgeschäftig,  unternehmungslustig,  treibt  sich  planlos  herum,  knüpft 
überall  Bekanntschaften  an,  benimmt  sich  auffallend,  lärmend,  spricht 
viel  und  laut,  schreibt  zahllose  Briefe,  geräth  leicht  in  Streit,  fängt 
an,  stark  zu  trinken,  zu  rauchen,  zu  schnupfen,  geschlechtlich  aus- 
zuschweifen. Zugleich  beginnt  er,  an  die  Verwirklichung  der  grossen 

Kr  ae  pol  in,  Psychiatrie.  6.  Aofl.  II.  Band.  17 


258 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


Pläne  zu  gehen,  die  ihm  aus  dem  Gefühle  unbegrenzter  Leistungs- 
fähigkeit und  aus  seinem  lebhaften  Thatendrange  hervorwachsen. 
Ohne  jede  Ueberlegung  nimmt  er  die  verschiedenartigsten  Unter- 
nehmungen in  Angriff,  die  nicht  nur  über  sein  Verständniss  und 
seine  Geldmittel,  sondern  sehr  bald  auch  über  das  Mögliche  überhaupt 
hinausgehen.  Allerdings  bleibt  es  regelmässig  bei  einigen  unsinnigen 
einleitenden  Schritten,  weil  rasch  eine  neue  Idee  die  frühere  ver- 
drängt. Er  vergrössert  plötzlich  sein  Geschäft,  fängt  an,  zu  bauen, 
schliesst  eine  ganz  unpassende  Ehe  oder  betreibt  seine  Scheidung, 
um  eine  vornehme  Partie  zu  machen,  zeigt  aus  dem  Stegreif  seine 
Verlobung  mit  irgend  einer  reichen  Erbin  an,  telegraphiert  an 
Souveräne  mit  der  Bitte  um  hohe  Orden  oder  Titel,  macht  gross- 
artige Geschenke,  kauft  auf,  was  ihm  vor  das  Gesicht  kommt,  und 
bestellt  ungemessene  Mengen  der  verschiedensten  Gegenstände,  die 
er  zur  Ausführung  seiner  Pläne  zu  brauchen  glaubt.  Einer  meiner 
Kranken,  der  reich  und  Liebhaberphotograph  war,  sandte  eine  Depesche 
ab,  mit  dem  Ersuchen,  ihm  für  seinen  Gebrauch  Pyrogallussäure 
im  Werthe  von  200  000  Mark  zu  senden.  Andere  studiren  die  An- 
zeigentheile  der  Zeitungen  und  nehmen  kurzer  Hand  alles  in  An- 
spruch, was  dort  angeboten  wird,  Papageien  und  Köchinnen,  Kaleschen, 
Landhäuser  und  Heirathspartien.  Auf  diese  Weise  erklärt  sich  die 
ausserordentliche  Geschwindigkeit,  mit  welcher  die  Kranken  grosse 
Summen  verschwenden,  die  heilloseste  Verwirrung  anrichten  und 
über  sich  selbst  wie  über  ihre  Angehörigen  die  schwersten  Unan- 
nehmlichkeiten heraufbeschwören. 

Dazu  kommt,  dass  sich  in  ihrem  ganzen  erregten  und  kopflosen 
Handeln  deutlich  jene  Abstumpfung  des  sittlichen  Gefühles  geltend 
zu  machen  pflegt,  welche  durch  die  Erkrankung  regelmässig  herbei- 
geführt wird.  Die  Kranken  werden  nicht  nur  nachlässig  in  ihrem 
Aeusseren,  unsauber  und  unordentlich  in  der  Kleidung,  sondern  sie 
verlieren  auch  das  Verständniss  für  die  einfachsten  Anforderungen 
des  Anstandes,  erzählen  schmutzige  Geschichten,  befriedigen  ihre 
Bedürfnisse  ohne  Rücksicht  auf  die  Umgebung,  rühmen  iu  scham- 
loser Weise  die  geschlechtlichen  Vorzüge  ihrer  Frauen  oder  Töchter, 
zeigen  sich  mit  öffentlichen  Dirnen  auf  der  Strasse  oder  suchen  die- 
selben bei  Bekannten  einzuführen.  Ja,  wir  sehen  die  Kranken  sogar 
nicht  selten  geradezu  gefährliche  und  verbrecherische  Handlungen 
begehen,  kleine  Diebstähle,  plumpe  Betrügereien,  Zechprellereien, 


Expansive  Form. 


259 


unsittliche  Angriffe.  Meist  verfahren  sie  dabei  so  unüberlegt,  dass 
sie  sofort  entdeckt  werden.  Einer  meiner  Kranken  ergriff  auf  dem 
Bahnhöfe  ohne  weiteres  den  Koffer  eines  neben  ihm  sitzenden 
Reisenden  und  wollte  damit  verschwinden.  Da  er  nachher  trotz 
des  offenkundigsten  Augenscheines  oft  einfach  alles  ableugnet,  wird 
der  Kranke  bisweilen  für  einen  ganz  besonders  frechen  und  ge- 
riebenen Gauner  gehalten.  Erst  dann,  wenn  er  die  verschiedensten 
Vergehen  gegen  die  öffentliche  Ordnung,  gegen  die  Schamhaftig- 
keit, Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt  u.  s.  f.  begangen  und 
seine  Familie  binnen  kurzer  Zeit  an  den  Bettelstab  gebracht  hat, 
wird  er  endlich,  gemisshandelt  und  gemassregelt,  heruntergekommen, 
von  Ausschweifungen  erschöpft,  als  krank  in  die  Anstalt  ein- 
geliefert. 

Vielfach  tritt  nunmehr  eine  gewisse  Beruhigung  ein,  in  welcher 
der  Kranke  seine  Grössenideen  und  Pläne  zum  Theil  ableugnet,  zum 
Theil  aber  auch  mehr  oder  weniger  geschickt  zu  begründen  weiss. 
Für  die  Beobachtung  in  der  Anstalt  kann  er,  der  bisweilen  nach- 
drücklich seine  Befreiung  verlangt,  abgesehen  von  einem  gewissen 
Grade  des  Schwachsinns,  unter  Umständen  annähernd  gesund  er- 
scheinen, doch  pflegt  sich  nach  einem  Entlassungsversuche  früher 
oder  später  in  dem  Handeln  des  Kranken  die  tiefe  Störung  kund- 
zugeben, die  seine  gesammte  Persönlichkeit  erfahren  hat.  An- 
dererseits kann  das  unsinnige  Grössendelirium  auch  längere  Zeit, 
oft  viele  Monate  und  selbst  Jahr  und  Tag  hindurch,  in  allmählich 
immer  ausschweifenderer  und  zerfahrenerer  Form  fortdauern.  Man 
bemerkt  sehr  bald,  dass  die  ursprüngliche  Regsamkeit  und  Reich- 
haltigkeit des  Vorstellungslebens  mehr  nnd  mehr  verloren  geht.  Die 
Wahnideen  werden  dürftiger  und  zusammenhangsloser,  widerspruchs- 
voller; die  Stimmung  wird  matter  und  theilnahmloser,  und  der 
Thatendrang  beschränkt  sich  schliesslich  auf  das  Verfassen  von  un- 
entzifferbaren Briefen  und  Depeschen,  das  Entwerfen  kindisch  un- 
geschickter Zeichnungen  und  Pläne,  das  Ansammeln  allen  möglichen 
Unraths  in  den  vollgestopften  Taschen,  das  Schreiben  endloser 
Zahlenreihen,  in  denen  sich  das  unermessliche  Vermögen  des  Kranken 
oder  der  Gewinn  ausdrückt,  den  er  durch  seine  Unternehmungen 
zu  erzielen  hofft.  Nach  und  nach  wird  der  Kranke  immer  blöd- 
sinniger und  stumpfer,  wenn  auch  ein  matter  Abglanz  des  Grössen- 
wahns bisweilen  noch  lange  Zeit  seinen  Stimmungshintergrund  er- 

17* 


260 


YI.  Die  Dementia  paralytica. 


hellt.  Zufrieden,  mit  freundlichem,  glücklichem  Gesichte,  sitzt  er  da 
und  lallt  vielleicht  noch  mit  kaum  verständlicher  Sprache  einzelne 
aus  den  Grössenideen  herübergenommene  Worte:  „gutes  Essen", 
„Millionen“,  „schöne  Pferde“,  „goldene  Kaiserin“,  bis  endlich  auch 
die  letzte  derartige  Erinnerung  mit  der  vollständigen  Vernichtung 
der  psychischen  Persönlichkeit  erlischt. 

Der  expansiven  Paralyse  dürften  etwa  15 — 16  °/0  der  Fälle  an- 
gehören. Ihre  Dauer  ist  im  allgemeinen  eine  längere,  als  diejenige 
der  anderen  Formen;  von  den  in  den  letzten  7 Jahren  bei  uns  ver- 
storbenen Kranken  ging  nur  etwa  1/3  innerhalb  der  ersten  zwei 
Jahre  zu  Grunde.  Einzelne  Fälle  konnte  ich  bis  zu  14jäbriger  Dauer 
verfolgen.  Erklärt  wird  dieser  langsame  Verlauf  vor  allem  durch 
die  häufigen  Remissionen,  die  ich  in  einem  Drittel  meiner  Fälle 
auftreten  sah.  Namentlich  beobachtet  man  hier  nicht  selten  Jahre 
vor  dem  Auftreten  der  eigentlichen  Krankheit  einzelne  Krankheits- 
erscheinungen, Doppeltsehen,  Schwindelanfälle,  Reizbarkeit,  Er- 
regung, Versagen  der  Sprache,  welche  dann  völlig  wieder  zurück- 
treten können.  Mir  ist  es  unzweifelhaft,  dass  wir  jene  Störungen, 
sofern  sie  in  das  klinische  Bild  der  Paralyse  hineinpassen,  als  erste 
leise  Anfänge  des  Krankheitsprocesses  aufzufassen  haben.  So  sah 
ich  noch  1884  einen  Fall,  in  welchem  durch  derartige  Vorboten  ein 
ursächlicher  Zusammenhang  mit  dem  Kriege  von  1870  wahrschein- 
lich wurde. 

Das  Schwanken  zwischen  depressiven  und  expansiven  Zuständen, 
wie  wir  es  oben  kennen  gelernt  haben,  kann  sich  in  einzelnen 
Fällen  mehrmals  hintereinander  wiederholen,  so  dass  kürzere  oder 
längere  Zeiten  heitersten  Grössen wahns  mit  dem  Versinken  in 
ängstliche  Verstimmung,  hypochondrische  Verzweiflung  oder  völlige 
Stumpfheit  abwechseln.  Diese  Verlaufsart  hat  man  auch  wol  als 
circuläre  Form  der  Paralyse  bezeichnet.  Die  äussere  Aehnlich- 
keit  mit  gewissen  Fällen  von  circulärem  Irresein  ist  bisweilen 
eine  sehr  grosse.  Trotzdem  wird  man  sie  von  diesem  letzteren 
wegen  ihrer  schleppenden  Entstehungsweise  in  reiferem  Lebensalter, 
wegen  der  Unregelmässigkeit  der  einzelnen  Abschnitte,  namentlich 
aber  wegen  der  deutlichen  Anzeichen  zunehmender  psychischer 
Schwäche,  wegen  der  nervösen  Störungen  und  des  fortschreiten- 
den Verlaufes  bei  längerer  Beobachtung  immer  abzugrenzen  im 
Stande  sein.  — 


Agitirte  Form. 


26  L 


Die  agitirte  Paralyse  ist  diejenige  Verlauf sart  der  expansiven 
Form,  bei  welcher  ausgeprägtere  manische  und  deliriöse  Erregungs- 
zustände das  Krankheitsbild  beherrschen.  Gerade  bei  dieser  Form 
sind  die  einleitenden  Störungen  häufig  sehr  gering,  so  dass  die 
Krankheit  öfters  ganz  plötzlich  hereinzubrecheu  scheint.  Meist  ent- 
wickelt sich  hier  sofort  ein  fast  noch  blühenderer  und  unsinnigerer 
Grössenwahn,  als  wir  ihn  schon  bei  der  expansiven  Form  kennen 
gelernt  haben.  Binnen  wenigen  Tagen  wird  der  Krauke  von  allen 
seinen  früheren  Leiden  und  Gebrechen  geheilt;  er  besitzt  die  Krone 
vom  Heiland,  eine  Villa  im  8.  Himmel,  führt  eine  neue  Zeit- 
rechnung herbei  und  rückt  auf  zum  höchsten  Gott,  der  ewig  gelebt 
und  das  Weltall  erschaffen  hat.  Er  kann  Menschen  und  Pferde 
künstlich  machen,  Todte  auferwecken,  ist  Naturmensch,  Graf  Reinach, 
König  von  Spanien.  Sonne,  Mond  und  Sterne  gehorchen  seinen 
Befehlen;  mit  Gedankengeschwindigkeit  vermag  er  sich  an  jeden 
Punkt  des  Himmels  zu  versetzen.  Er  hat  alle  Kriege  geführt,  alle 
Schlachten  gewonnen,  die  grössten  Entdeckungen  und  Erfindungen 
gemacht,  alle  grossen  Männer  aller  Zeitalter  persönlich  gekannt 
oder  selber  erzeugt.  Er  gebietet  über  fabelhafte  Reichthümer, 
deren  Werth  in  Zahlen  überhaupt  nicht  ausgedrückt  werden  kann, 
über  Decillionen  oder  Decilliarden,  baut  im  Nu  die  prachtvollsten 
Schlösser  und  Dome  aus  violetter  Mondkohle,  Diamanten  und 
Edelsteinen,  befruchtet  Tausende  der  schönsten  Weiber  mit  den 
herrlichsten  Göttersöhnen.  Bisweilen  verbinden  sich  Grössen-  und 
Kleinheitsideen  in  unentwirrbarer  Weise  miteinander.  Der  Kranke 
ist  verzweifelt  darüber,  dass  er  sich  in  seiner  Dummheit  in  die 
Anstalt  begeben  hat,  statt  seine  Millionen  deutscher  Reichspatente 
auszunutzen  und  sich  als  Kaiser  krönen  zu  lassen.  Dadurch  ist  ihm 
der  Hals  zugewachsen,  und  er  hat  unermesslichen  Schaden.  Aber 
er  wird  so  viele  Milliarden  unter  die  Leute  vertheilen,  dass  Niemand 
mehr  von  seiner  Verrücktheit  sprechen  wird.  Sein  Bauch  ist  voll 
Eiter,  sein  Kopf  mit  Käfern  gefüllt,  Gedächtniss  und  Verstand 
verloren,  aber  er  wird  wiedergeboren,  bekommt  ein  neues  Hirn 
und  stärkere  Muskeln,  andere  Augen.  In  den  plötzlichen  Ver- 
zweiflungsanwandlungen kann  es  zu  triebartigen  Selbstmordversuchen 
kommen. 

Hier  pflegt  auch  die  Aufregung  eine  sehr  viel  stärkere  zu  sein. 
Zeitweise  kommt  es  zu  ideenflüchtiger  Verworrenheit  mit  grosser 


262 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


Reizbarkeit  und  Gewalttätigkeit.  Eine  solche  Kranke  lieferte  folgende 
abgerissene  Sätze: 

„Das  war  eine  Qual,  in  diesem  Saal,  nur  das  Knicken  und  das  Knacken; 
sie  haben’e  getban,  sie  baben’s  gethun,  sie  baben  nichts  verschuldet.  Nicht  sie, 
nicht  ich,  nicht  sie,  nicht  ich,  nur  die  eine  vereinte  menschliche  Natur,  nein, 
nein,  nein,  nein,  nur  die  Spur,  zu  dem  Hang,  der  Natur,  ja,  ein  ruhiges  Gewissen, 
wird  mir  stets  den  Schlaf  versüssen,  lebe  wohl,  lebe  wohl,  du  schöner  Wald. 
Wörrishofer  Kurgast,  als  gerathen,  die  isst  Hasenbraten,  ein  Kurgast,  diese  Kuh, 
die  macht  Muh.  Acb,  da  ruckt’s,  ach  da  spuckt’s,  mit  dem  einen,  mit  dem  kleinen, 
vereinbarten  Ding,  in  dem  Ring,  der  menschlichen  Natur.“ 

Der  Kranke  ist  Tag  und  Nacht  unruhig,  ohne  Unterbrechung 
mit  seinen  unendlichen  Plänen  beschäftigt,  Befehle  in  alle  Himmels- 
richtungen telephonirend,  lacht,  schwatzt,  singt  unaufhörlich,  hält 
Zwiegespräche  mit  Gott,  masturbirt,  ist  unrein  und  schmiert  mit  dem 
Essen  und  seinen  Ausleerungen  herum.  Er  schläft  fast  gar  nicht, 
nimmt  sehr  unregelmässig  Nahrung  zu  sich,  da  er  unvergleichlich 
viel  Besseres  zu  beanspruchen  hat;  sein  Körpergewicht  sinkt  sehr 
rasch.  Nicht  selten  sind  subnormale  Tempera- 
turen; mehrfach  sah  ich  die  Anzeichen  eines 
Diabetes  insipidus. 

Die  schwersten  Fälle  der  agitirten  Paralvse 
hat  man  bisweilen  mit  dem  Namen  der 
galoppirenden  Paralyse  belegt.  Es  handelt 
sich  dabei  um  einen  überaus  raschen,  tödt- 
lichen  Verlauf  der  Erkrankung  unter  deu 
Erscheinungen  hochgradigster  psychischer 
und  nervöser  Erregung  mit  plötzlichem 
Zusammenbruche.  In  der  Regel  bildet  dieses 
stürmische  Krankheitsbild  den  Abschluss  einer 
agitirten,  seltener  depressiven  Paralyse;  es 
giebt  aber  auch  Fälle,  die  von  vorn  herein  in 
dieser  Weise  verlaufen.  Unter  rasch  sich 
steigernder  Erregung  wird  der  Kranke  voll- 
kommen verwirrt  und  imbesinnlich,  stösst  nur 
unarticulirte  Laute  oder  stereotype,  unsinnige 
Silben  aus,  wälzt  sich  am  Boden,  zappelt  mit 
Armen  und  Beinen,  schläft  nicht,  nimmt  keine 
Curve  VIII  Nahrung  zu  sich,  sondern  spuckt  alles  wieder 
Gaioppirondo  Paraiyso.  aus,  lässt  Kotk  und  Urin  unter  sich  gehen.  Das 


Agitirte  Form. 


263 


Körpergewicht  sinkt  mit  erschreckender  Schnelligkeit,  wie  die 
Curve  VIII  zeigt;  der  Puls  ist  klein  und  frequent,  die  Temperatur 
erhöht  (38  — 39°),  wahrscheinlich  meist  wegen  der  zahlreichen 
Quetschungen  und  Hautabschürfungen,  die  sich  der  Kranke 
in  seiner  sinnlosen  Erregung  zuzieht.  Nach  einigen  Tagen  oder 
Wochen,  nachdem  vielleicht  schon  wiederholt  apoplektiforme  oder 
epileptiforme  Anfälle  dagewesen  sind,  werden  die  Bewegungen  des 
zeitweise  soporösen  Kranken  unsicher  und  zitternd;  die  Mund- 
höhle ist  trocken,  Lippen  und  Zunge  mit  dicken,  schwärzlichen 
Krusten  bedeckt;  es  stellen  sich  profuse  Diarrhöen,  kalte  Schweisse, 
Sehnenhüpfen,  grosse  Neigung  zu  Decubitus  ein,  und  unter  zu- 
nehmender Herzschwäche  erfolgt,  bisweilen  nach  vorübergehender 
Besonnenheit,  der  tödtliche  Ausgang.  Dieses  Krankheitsbild  ist 
es,  welches  ohne  Zweifel  bisweilen  mit  unter  der  Bezeichnung 
des  „Delirium  acutum“  zusammengefasst  worden  ist.  Es  gilt  das 
namentlich  für  diejenigen  Eälle,  in  denen  die  einleitenden  Er- 
scheinungen wenig  oder  gar  nicht  ausgesprochen  sind.  Was  mir 
diese  Anschauung  vor  allem  wahrscheinlich  macht,  ist  der  Um- 
stand, dass  man  hie  und  da  Gelegenheit  hat,  einen  Kranken  aus 
diesem  Zustande  sich  wieder  erholen  und  nunmehr  die  vorher  viel- 
leicht nicht  bemerkten  Zeichen  der  Paralyse  unzweifelhaft  hervor- 
treten zu  sehen. 

Die  agitirte  Form  ist  im  ganzen  die  seltenste  Erscheinungsart 
der  Paralyse;  nach  meinen  Erfahrungen  möchte  ich  derselben 
höchstens  11  °/0  der  Fälle  zuzählen.  Paralytische  Anfälle  sind  ziem- 
lich häufig;  Remissionen  habe  ich  in  nahezu  einem  Viertel  der  Fälle 
beobachtet.  Die  Dauer  betrug  in  2/s  der  Fälle  weniger  als  zwei 
Jahre;  bei  der  galoppirenden  Form  kann  das  Ende  schon  nach 
wenigen  Monaten,  vielleicht  sogar  noch  schneller  eintreten. 

Zum  Schlüsse  sei  hier  noch  kurz  eines  Krankheitsbildes 
gedacht,  welches  zwar  nicht  selbständig  auftritt,  aber  in  allen 
Formen  der  Paralyse  sich  vorübergehend  einschieben  kann,  nament- 
lich in  den  ersten  Zeiten  des  Leidens.  Ich  meine  gewisse 
deliriöse  Zustände,  welche  eine  grosse  klinische  Aehnlichkeit  mit 
dem  Delirium  tremens  zeigen.  Die  Kranken  verlieren  rasch  die 
Orientirung,  gerathen  in  eine  eigenthümliche  Unruhe  mit  Be- 
schäftigungsdelirium, lebhaften  Sinnestäuschungen,  Schlaflosigkeit  und 
starkem  Zittern,  mit  halb  ängstlicher,  halb  euphorischer  Stimmung, 


264 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


aber  ohne  den  kennzeichnenden  Humor  der  Trinker.  Nach  einigen 
Tagen  oder  Wochen  pflegt  Beruhigung  und  Klärung  einzutreten. 
Man  ist  in  der  Regel  versucht,  diese  Zustände  ohne  weiteres  für 
alkoholische  zu  halten  und  sie  auf  übermässiges  Trinken  in  gesunden 
oder  kranken  Tagen  zurückzuführen.  Für  eine  Anzahl  von  Fällen 
hat  diese  Auffassung  gewiss  Berechtigung.  Abgesehen  aber  davon, 
dass  oft  der  vorausgegangene  Alkoholmissbrauch  ein  ganz  unver- 
hältnissmässig  geringer  gewesen  ist,  habe  ich  zu  meiner  Ueber- 
raschung  jenes  Krankheitsbild  auch  in  einzelnen  Fällen  auftreten 
sehen,  in  denen  es  sich  bestimmt  um  sehr  nüchterne  und  mässige 
Kranke  handelte.  Es  hat  demnach  den  Anschein,  als  ob  es  ein 
Delirium  der  Paralytiker  giebt,  welches  demjenigen  der  Trinker  zwar 
sehr  ähnlich,  aber  doch  nicht  mit  ihm  wesensgleich  ist.  — 

Als  demente  Form  bezeichnen  wir  diejenige  Gruppe  von  Fällen, 
bei  welcher  die  Erscheinungen  des  fortschreitenden  Blödsinns 
von  vorn  herein  das  Krankheitsbild  beherrschen.  Meist  finden  sich 
auch  hier  einzelne  Andeutungen  der  bisher  besprochenen  Störungen, 
namentlich  vorübergehende  deliriöse  Erregung,  triebartige  ängstliche 
Unruhe,  kümmerliche  hypochondrische  oder  Grössenideen,  vereinzelte 
Sinnestäuschungen,  allein  diese  psychischen  Reizerscheinungen  treten 
ganz  in  den  Hintergrund  gegenüber  der  Lähmung,  der  rasch  und 
stark  ausgeprägten  Verblödung.  Die  ersten  Anzeichen  der  heran- 
nahenden Krankheit  sind  Verlust  der  geistigen  Regsamkeit,  Unfähig- 
keit zur  Arbeit,  Gedankenarmuth,  Vergesslichkeit  und  Zerstreutheit, 
unvermittelte  Launenhaftigkeit  und  Reizbarkeit  neben  auffallender 
Gleichgültigkeit  und  Schlaffheit  in  wichtigen  Angelegenheiten,  Klagen 
über  Schmerzen  oder  Druckempfindungen  im  Kopfe.  Der  Kranke 
ermüdet  rasch,  schläft  gelegentlich  in  Gesellschaft  ein,  ist  bisweilen 
plötzlich  wie  abwesend;  er  wird  unsicher  und  leicht  bestimmbar  in 
seinem  Urtheile,  in  seinen  Entschlüssen,  dabei  oft  zu  Zeiten  wieder 
in  Kleinigkeiten  sonderbar  eigensinnig.  Bei  Dingen,  die  ihm  sonst 
durchaus  geläufig  waren,  irrt  er  sich  und  muss  sich  lange  besinnen, 
um  sich  ganz  einfache  Daten  zu  vergegenwärtigen,  mit  denen  er 
vielleicht  täglich  zu  arbeiten  hatte.  Das  Bewusstsein  trübt  sich  all- 
mählich; der  Kranke  ist  nicht  mehr  im  Stande,  die  Vorgänge 
in  seiner  Umgebung  zu  verstehen,  verliert  die  Klarheit  über  Zeit, 
Ort  und  Lage.  Seine  Gedanken  verwirren  sich;  er  macht  zeitweise 
den  Eindruck  eines  Betrunkenen,  verirrt  sich  in  seiner  eigenen 


Demente  Form. 


265 


Wohnung  und  erkennt  vielleicht  seine  nächsten  Angehörigen  und 
Freunde  nicht  mehr.  In  etwa  1/3  der  Fälle  werden  vorübergehend 
Erregungszustände  mit  mehr  oder  weniger  starker  deliriöser  Be- 
nommenheit beobachtet. 

Nicht  selten  tauchen  auch  flüchtige  Wahnvorstellungen  oder 
Sinnestäuschungen  auf.  Der  Kranke  sieht  schwarze  Männer  mit 
grossen  Bärten,  Engel  im  Himmel,  hört  Mückenstimmen,  Schimpf- 
worte, fühlt  sich  verdoppelt,  verhext.  Er  wird  bestohlen,  vergiftet, 
gequält,  ist  von  Adel,  sehr  reich,  wird  eine  schöne  Frau  heirathen, 
rühmt  seine  1000  Orden,  seine  schöne  Stimme,  seine  „stolzen“ 
Unterhosen,  hat  eine  seidene  Kappe,  eine  Uniform  zu  Hause.  Ein 
Kranker  telegraphirte  beim  Ausbruche  des  Leidens  nach  Hause, 
dass  er  eine  grosse  Entdeckung  gemacht  habe,  sprang  kurz  darauf 
in  einem  Angstanfalle  aus  dem  Fenster,  um  von  da  ab  das  Bild 
eines  einfachen,  behaglichen  Blödsinns  darzubieten.  Die  Wahn- 
vorstellungen der  Kranken  tragen  deutlich  die  Kennzeichen  des 
Kindischen  und  Schwachsinnigen;  sie  lassen  sich  in  der  Regel  durch 
Zureden  sehr  leicht  beeinflussen.  Oefters  beginnen  die  Kranken 
auch  in  der  gleichen  schwachsinnigen  Weise  zu  fabuliren,  erzählen 
von  einem  Zusammentreffen  mit  dem  Kaiser,  von  einer  Geldsendung, 
die  eingetroffen  sei,  von  einem  Besuche,  den  sie  am  Morgen  ge- 
habt haben. 

Die  gemüthliche  Erregbarkeit  pflegt  dabei  meist  mehr 
und  mehr  zu  schwinden.  Im  Beginne  freilich  tritt  nicht  selten 
eine  dumpfe  Angst  auf,  innere  Unruhe,  Beten,  plötzliches  Weinen 
oder  unvermittelter  Wechsel  der  Stimmung.  Yielfach  besteht  auch 
Reizbarkeit,  wüste  geschlechtliche  Erregbarkeit  und  selbst  Neigung 
zu  Gewaltthaten,  die  sich  in  Bedrohungen  und  Angriffen  auf  die 
Umgebung  äussern  kann.  Späterhin  aber  wird  der  Kranke  stumpf, 
theilnahmlos,  zeigt  nicht  das  geringste  Interesse  mehr  für  die  Per- 
sonen und  Dinge,  die  ihn  am  nächsten  angehen.  Die  Vorhaltungen, 
die  ihm  wegen  seiner  Yerstösse  gemacht  werden,  nimmt  er  ohne 
nachhaltige  Reaction  hin;  er  versteht  kaum,  was  man  von  ihm  will, 
da  er  den  Ueberblick  über  seine  Berufsthätigkeit  bereits  vollkommen 
verloren  hat. 

Sehr  deutlich  tritt  gewöhnlich  ein  stumpfsinniges,  rücksichtsloses 
Interesse  für  gröbere  Genüsse  hervor.  Der  Kranke  isst,  trinkt,  raucht, 
so  lange  ihm  die  Genussmittel  erreichbar  sind,  unempfindlich  gegen 


266 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


alle  sich  aus  seiner  Gier  ergebenden  Folgen.  Meist  entwickelt  sich 
im  weiteren  Verlaufe  eine  ungemein  kennzeichnende  schw-achsinnige 
Zufriedenheit,  die  sich  in  vergnügtem  Lächeln,  in  der  freundlichen 
Miene  bei  jeder  Anrede  und  in  herzlichen  Begrüssungen  ganz  fremder 
Personen  kundgiebt.  Trotz  des  raschen  geistigen  Verfalles  fühlt 
sich  der  Kranke  doch  kerngesund  und  leistungsfähig,  ist  überall 
„gern  da“,  findet  alles  ausgezeichnet  und  vortrefflich.  In  anderen 
Fällen  dagegen  besteht  doch  eine  gewisse  allgemeine  Vorstellung 
von  der  tiefgreifenden  Veränderung,  die  sich  mit  der  eigenen  Per- 
sönlichkeit vollzogen  hat.  Der  Kranke  klagt  selbst  über  die  Lang- 
samkeit und  Schwerfälligkeit  seines  Denkens,  über  seine  Vergesslich- 
keit, und  sucht  deswegen  ärztliche  Hülfe  auf,  ja  er  rafft  sich  vielleicht 
sogar  in  der  mehr  oder  weniger  klaren  Furcht  vor  dem  bevorstehen- 
den Leiden  zu  einem  Selbstmordversuche  auf,  wenn  derselbe  auch 
bei  seinem  Schwachsinn  und  dem  Mangel  an  Thatkraft  häufig  er- 
gebnisslos  bleibt. 

Die  Arbeitsfähigkeit  des  Kranken  wird  durch  die  rasch  fort- 
schreitende Verblödung  auf  das  empfindlichste  geschädigt.  Er  fängt 
an,  in  seinen  gewohnten  Verrichtungen  unordentlich  und  nachlässig 
zu  werden,  versäumt  seine  Dienststunden,  wichtige  Aufträge,  vergisst 
die  Aufschrift  auf  seinen  Briefen,  verliert  oder  verlegt  werthvolle 
Gegenstände,  Geld,  Papiere,  kommt  mit  seinen  Arbeiten  gar  nicht 
oder  nicht  rechtzeitig  zu  Stande  und  lässt  sich  unbegreifliche  Ver- 
sehen zu  Schulden  kommen,  Schnitzer  in  der  Rechtschreibung,  grobe 
Rechenfehler  u.  dergl.,  ohne  es  selbst  recht  zu  bemerken.  Ein  Be- 
amter meinte,  die  Erlasse  seiner  Vorgesetzten  Behörde  müssten  in 
den  letzten  Jahren  immer  dunkler  und  unverständlicher  geworden 
sein,  da  er  sie  sich  nicht  mehl-  wie  früher  sogleich  einprägen  könne. 

Meist  hört  er  überhaupt  auf,  sich  um  seine  Obliegenheiten  zu 
kümmern.  Dagegen  begeht  er  allerlei  unvernünftige  und  verkehrte 
Handlungen,  die  ihn  nicht  selten  mit  der  öffentlichen  Ordnung  und 
mit  dem  Strafgesetze  in  Widerstreit  bringen.  Er  wird  unruhig, 
lärmend,  treibt  sich  zwecklos  herum,  selbst  halbnackt,  trinkt,  bettelt, 
wird  als  Landstreicher  aufgegriffen,  verübt  Zechprellereien  und 
plumpe  Diebstähle,  geräth  in  Streit  und  Thätlichkeiten,  macht  scham- 
lose unsittliche  Angriffe.  Ein  ganz  gebildetes  und  besonnenes 
Mädchen  bat  bei  jedem  Besuche  die  Aerzte  flehentlich,  doch  mit  fin- 
den Beischlaf  zu  vollziehen,  damit  ihr  Kopf  wieder  gesund  werde, 


Demente  Form. 


267 


und  versuchte  geradezu  mit  Gewalt  ihren  Zweck  zu  erreichen. 
Auch  in  diesen  Handlungen  ist  meist  der  Schwachsinn  deutlich  er- 
kennbar. Einer  meiner  Kranken  hieb  junge  Bäume  in  einem  öffent- 
lichen Garten  um  und  versuchte,  sie  in  seinem  eigenen  Gelände 
wieder  einzupflanzen;  ein  anderer  brachte  ohne  weiteres  die  Ernte 
seines  Nachbarn  ein,  verpflanzte  dessen  Kartoffelstauden  zwischen 
die  seinigen,  so  dass  auch  diese  zu  Grunde  gingen.  Noch  ein 
anderer  nahm  vor  den  Augen  des  Verkäufers  eine  Schinkenwurst 
vom  Nagel,  lief  damit  fort  und  versteckte  sie  in  seinem  Keller;  ein 
vierter  endlich  belud  sich  mit  werthlosen  leeren  Flaschen. 

Das  äussere  Benehmen  der  Kranken  verräth  meist  sehr  bald 
die  Vernichtung  der  geistigen  Persönlichkeit.  Sie  sind  ganz  willen- 
los, gutmüthig,  lenksam,  dämmern  gleichgültig  vor  sich  hin,  sind 
nicht  mehr  im  Stande,  für  ihre  Bedürfnisse  zu  sorgen,  vergessen  die 
Nahrungsaufnahme  und  werden  imvermuthet  unrein.  In  anderen 
Fällen  begegnet  man  einem  eigenthümlich  abstossenden,  unzugäng- 
lichen Wesen.  Die  Kranken  geben  auf  jede  Anrede  unwirsche, 
zurückweisende  Antworten  ohne  klaren  Beweggrund,  ohne  eigent- 
lichen Affect  und  ohne  sich  durch  freundliches  Zureden  beeinflussen 
zu  lassen ; sie  sträuben  sich  gegen  die  bestgemeinten  Massregeln  und 
lassen  auch  in  diesem  sinnlosen  Widerstande  den  bereits  weit  vor- 
geschrittenen Blödsinn  erkennen. 

Endlich  aber  finden  sich  einzelne  Kranke,  die  trotz  tiefsten 
Blödsinns  überraschend  gut  ihre  äussere  Haltung  bewahren.  Wir 
sehen  dann,  wie  der  Kranke,  der  uns  formgerecht  begrüsst,  sein 
Aeusseres  in  Ordnung  hält,  keine  Ahnung  hat,  wo  er  sich  befindet, 
seine  Angehörigen  kaum  oder  gar  nicht  erkennt,  über  seine  Ver- 
gangenheit keinerlei  Auskunft  zu  geben  vermag.  Gerade  in  solchen 
Fällen  wird  das  Leiden,  da  der  Kranke  ganz  aufhört,  zu  klagen, 
viel  schläft,  einen  vorzüglichen  Appetit  zeigt  und  an  Körpergewicht 
stark  zunimmt,  von  der  Umgebung  öfters  erst  dann  gewürdigt,  wenn 
der  Blödsinn  schon  sehr  weit  gediehen  ist.  Die  Angehörigen  ge- 
wöhnen sich,  wie  es  scheint,  so  sehr  an  den  allmählich  fortschreiten- 
den Untergang  der  psychischen  Persönlichkeit,  dass  sie  oft  gar  nicht 
von  der  Schwere  der  Störung  zu  überzeugen  sind  und  die  be- 
scheidensten geistigen  Regungen  als  Anzeichen  nahezu  völliger  Ge- 
sundheit betrachten.  „Er  weiss  doch  noch  alles,“  meinen  sie,  wenn 
der  Kranke  seine  Frau  erkennt  oder  sich  zufällig  zu  entsinnen  ver- 


268 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


mag,  dass  er  Kinder  besitzt.  Mir  wurde  ein  derartiger  Kranker 
zugeführt,  der  noch  den  verantwortungsvollen  Posten  eines  Cassiers 
bekleidete,  als  er  sich  bereits  häufig  verunreinigte  und  ganz  ein- 
fache Additionen  nicht  mehr  auszuführen  im  Stande  war.  Ein 
anderer,  ein  Arzt,  kam  unmittelbar  aus  seiner  umfangreichen 
Praxis  selber  ins  Krankenhaus,  um  sich  ein  Panaritium  operiren 
zu  lassen.  Als  er  sich  hier  in  der  Nacht  verirrte  und  in  die 
Frauenabtheilung  gerieth,  wurde  entdeckt,  dass  er  bereits  hoch- 
gradig blödsinnig  war  und  die  Dosirung  des  Morphiums  nicht 
mehr  kannte. 

Die  demente  Form  ist  wahrscheinlich  die  häufigste  Yerlaufsart 
der  Paralyse  überhaupt.  Obgleich  gerade  diese  Kranken  wegen 
ihrer  Harmlosigkeit  verhältnissmässig  seltener  in  die  Irrenanstalt 
gelangen,  gehörten  doch  mehr  als  40 °/0  der  während  der  letzten 
Jahre  in  meiner  Klinik  beobachteten  Fälle  dieser  Form  an.  Die 
körperlichen  Begleiterscheinungen  sind  dieselben  wie  bei  den  übrigen 
Formen.  Insbesondere  habe  ich  bei  genauerer  Prüfung  nicht  finden 
können,  dass  tabische  Störungen  hier  verhältnissmässig  häufiger  seien. 
Dagegen  sah  ich  paralytische  Anfälle  beträchtlich  öfter  auftreten,  in 
mehr  als  45%  der  Fälle.  Dem  entsprechend  wurden  ausgiebige 
Nachlässe  der  Krankheitserscheinungen  seltener  beobachtet,  als  bei 
den  anderen  Formen,  namentlich  der  expansiven  Paralyse.  Die 
Krankheitsdauer  überstieg  in  fast  der  Hälfte  der  Fälle  zwei  Jahre 
nicht;  in  18%  erfolgte  der  Tod  bereits  innerhalb  eines  Jahres  nach 
dem  Auftreten  der  ersten  Krankheitserscheinungen,  und  nur  ver- 
einzelte Fälle  wiesen  eine  Dauer  bis  zu  4 und  5 Jahren  oder  länger 
auf.  Die  demente  Form  scheint  demnach  das  schwerste  paralytische 
Krankheitsbild  darzu  stellen.  — 

Wie  sich  aus  den  vorstehenden  Einzelschilderungen  ergiebt, 
setzt  sich  der  Gesammtverlauf  der  Paralyse  im  allgemeinen  aus 
einem  bisweilen  ganz  imbemerkt  bleibenden  Einleitungsstadium  und 
aus  einer  Zeit  lebhafterer  Krankheitserscheinimgen  zusammen,  an 
welche  sich  dann  der  später  zu  besprechende  Endzustand  tiefen 
Blödsinns  anschliesst.  Es  ist  jedoch  von  grösster  Wichtigkeit,  zu 
bemerken,  dass  in  diesen  verschiedenen  Abschnitten  des  Krankheits- 
verlaufes die  Stärke  der  körperlichen  Störungen  durchaus  nicht 
immer  der  Ausbildung  der  psychischen  Krankheitszeichen  entspricht. 
Es  giebt  einerseits  Fälle,  in  denen  selbst  schwere  Sprach-  und 


Verlauf. 


269 


Schriftstörungen  lange  Zeit  bestehen  können,  bevor  eine  irgend 
auffallendere  Beeinträchtigung  des  Gedächtnisses  oder  Verstandes 
nachweisbar  ist.  Andererseits  aber  — und  das  ist  praktisch  weit 
wichtiger  — vermögen  wir  aus  dem  psychischen  Krankheitsbilde 
sehr  häufig  die  beginnende  Paralyse  bereits  mit  voller  Sicherheit  zu 
erkennen,  während  die  körperliche  Untersuchung  durchaus  noch 
keine  verwerthbaren  Anzeichen  liefert.  Aus  der  ungenügenden  Be- 
rücksichtigung dieser  Erfahrung  entspringen  zahlreiche  diagnostische 
Fehlschlüsse. 

Der  Verlauf  aller  Formen  der  Paralyse  kann  durch  zwei  ver- 
schiedene Ereignisse  fast  stets  in  unberechenbarer  Weise  beeinflusst 
werden,  durch  paralytische  Anfälle  und  durch  Remissionen. 
Die  ersteren  können  jederzeit  einen  unvorhergesehenen,  bedeutenden 
Fortschritt  aller  Krankheitserscheinungen  oder  auch  plötzlichen  Tod 
zur  Folge  haben;  sie  sind  bei  weitem  am  häufigsten  in  der 
dementen,  am  seltensten  in  der  expansiven  Form.  Auf  der  anderen 
Seite  sieht  man  gelegentlich  ausgiebige  Nachlässe  der  psychischen 
und  nervösen  Störungen  in  nahezu  allen  Abschnitten  der  Paralyse, 
mit  Ausnahme  des  allerletzten,  den  Ablauf  der  Krankheit  verzögern. 
Am  häufigsten  scheinen  derartige  Besserungen  bei  der  agitirten  und 
namentlich  bei  der  expansiven  Form  vorzukommen;  selten  und 
wenig  ausgeprägt  beobachtet  man  sie  bei  der  depressiven  und 
dementen  Form.  Der  Eintritt  der  Beruhigung  vollzieht  sich  bis- 
weilen ganz  rasch,  von  einem  Tage  zum  andern,  wenn  auch  die 
volle  Höhe  der  Remission  erst  allmählich,  vielleicht  im  Laufe  von 
Monaten,  erreicht  wird.  Der  Kranke  erscheint  klar,  besonnen, 
geordnet;  die  Wahnideen  treten  zurück  und  werden  von  ihm  als 
Träume  und  Einbildungen  bezeichnet;  er  kann  sich  oft  selbst  nicht 
genug  wundern,  wie  ihm  nur  all  das  „dumme  Zeug“  in  den  Kopf 
hat  kommen  können.  Gleichwol  geräth  er  vielleicht  in  den  ersten 
Tagen  gelegentlich  immer  wieder  in  seine  früheren  Ideen  hinein, 
um  erst  auf  ernstes  Zureden  die  Wahnhaftigkeit  derselben  von  neuem 
einzusehen  und  zu  zugestehen. 

Die  Erinnerung  an  die  Zeit  der  Krankheit  ist  zunächst  oft  eine 
verworrene,  doch  tauchen  nach  und  nach  viele  Einzelheiten  wieder 
deutlicher  auf.  Allmählich  kann  sogar  eine  gewisse  Krankheits- 
einsicht zu  Stande  kommen,  wenn  auch  manche  der  verkehrten 
Handlungen  noch  in  krankhafter  Weise  begründet  oder  als  durch 


270 


VI.  Die  Dementia  paralytiea. 


äussere  Umstände  und  Einwirkungen  veranlasst  dargestellt  werden. 
Mit  dieser  mangelhaften  Klarheit  über  die  Vergangenheit  verbindet 
sich  häufig  eine  siegesgewisse  Einsichtslosigkeit  hinsichtlich  der 
Zukunft.  Der  Kranke  fühlt  sich  nunmehr  vollständig  gesund  und 
weiss  ganz  bestimmt,  dass  er  es  auch  in  Zukunft  bleiben  -wird; 
die  Mahnungen  des  Arztes  schlägt  er  daher  leichthin  in  den 
Wind.  Die  Stimmung  ist  bald  eine  selbstzufriedene,  vergnügte, 
bald  aber  auch  gedrückt  und  theilnahmlos , indem  der  Kranke 
sich  müde,  abgespannt,  erholungsbedürftig  fühlt  und  über  allerlei 
körperliche  Beschwerden  klagt,  namentlich  über  Druck  und  Schmerzen 
im  Kopfe. 

Nach  und  nach  kann  sich  der  Zustand  des  Kranken  immer 
mehr  bessern,  so  dass  er,  besonders  in  den  engen,  geschützten  Ver- 
hältnissen der  Anstalt,  den  Eindruck  eines  nahezu  oder  völlig  ge- 
sunden Menschen  macht.  Den  nächsten  Angehörigen  und  Freunden 
pflegt  freilich  eine  leichte  Abschwächung  des  Verstandes  und  des 
Gedächtnisses,  eine  Abstumpfung  seiner  geistigen  Regsamkeit  und 
seiner  gemüthlichen  Antkeilnalnne  sowie  ein  gewisser  Mangel  an 
Thatkraft  und  Nachhaltigkeit  kaum  jemals  verborgen  zu  bleiben. 
Dennoch  sind  manche  derartige  Kranke  im  Stande,  selbst  den  ver- 
antwortungsvollen Beruf  eines  Eisenbahnbeamten,  Officiers,  Arztes 
während  der  Besserung  mit  Erfolg  wieder  aufzunehmen.  Einer 
meiner  Kranken  füllte  nicht  nur  seine  Stellung  als  Telegraphen- 
beamter zur  vollen  Zufriedenheit  5 Jahre  lang  aus,  sondern  rückte 
auch  in  höhere  Stellen  vor,  bestand  Prüfungen  und  heirathete;  ein 
anderer,  der  Grössenideen,  Sprachstörung,  Pupillenstarre,  West- 
p haDsches  Zeichen  und  Schwindelanfälle  darbot,  verlor  seine  Grössen- 
ideen, war  6 Jahre  lang  wieder  in  seinem  früheren  Amte  als  Schul- 
diener thätig,  erkrankte  von  neuem  mit  den  früheren  Erscheinungen, 
ist  aber  nach  rascher  Besserung  schon  wieder  ein  Jahr  lang  in 
seinem  Dienste.  In  der  Regel  allerdings  dauern  die  Nachlässe  höchstens 
eine  Reihe  von  Monaten;  jene  Fälle,  in  denen  die  Kranken  länger 
als  2 — 3 Jahre  annähernd  gesund  bleiben,  sind  immerhin  als  ver- 
einzelte Ausnahmen  zu  betrachten. 

Die  letzten  Stadien  der  Krankheit  sind  allen  Formen  der- 
selben, mit  Ausnahme  der  frühzeitig  tödtlich  verlaufenden  Fälle, 
gemeinsam.  Der  Kranke  wird  immer  stumpfer  und  blöder;  er 
kennt  die  Gegenstände  und  Personen  seiner  Umgebung  nicht  mehr. 


Ausgang. 


271 


versteht  weder  Aufforderung  noch  Geberde  und  ist  schliesslich  kaum 
viel  mehr,  als  ein  vegetirender  Körper,  in  dem  das  psychische  Leben 
gänzlich  oder  fast  gänzlich  erloschen  ist.  Bisweilen  tritt  zeitweise 
eine  gewisse  Erregung  mit  stunden-  und  tagelangem  lallendem,  ein- 
förmigem Schreien  und  Brüllen  hervor.  Zugleich  machen  auch  die 
nervösen  Störungen  unaufhaltsame  Fortschritte.  Der  Kranke  wird 
nahezu  vollkommen  unempfindlich;  die  Schwäche  nimmt  immer  mehr 
zu;  es  stellen  sich  Steifigkeit,  Intentionszuckungen,  Beugecontrac- 
turen  und  ausgebreitete  Muskelatrophien  ein,  so  dass  er  die  Möglich- 
keit der  selbständigen  Bewegung  verliert,  weder  gehen,  noch  stehen, 
noch  am  Ende  auch  sitzen  kann.  Zugleich  magert  er  immer  mehr 
ab  und  ist  dauernd  hochgradig  unrein,  so  dass  er  wie  ein  Kind 
nach  jeder  Richtung  hin  der  sorgfältigsten  .Pflege  bedarf.  Bis  zu 
diesen  tiefsten  Stufen  des  apathischen  Blödsinns  und  der  allge- 
meinen Lähmung  giebt  es  allerdings  zahlreiche  Uebergangsformen, 
die  sich  durch  die  verschiedene  Erhaltung  der  geistigen  Regsamkeit, 
durch  Ueberreste  depressiver  oder  expansiver  Stimmungen  und 
Vorstellungen  sowie  endlich  durch  die  verschiedenartige  Ausbreitung 
der  nervösen  Störungen  von  einander  abgrenzen. 

Der  Ausgang  der  Paralyse  ist  regelmässig  der  Tod.  Freilich 
sind  einzelne  Fälle  bekannt  geworden,  in  denen  die  Besserung  der 
Krankheitserscheinungen  andauernd  ein  Jahrzehnt  und  darüber 
Stand  hielt,  so  dass  man  hier  von  einer  Heilung  der  Paralyse  zu 
sprechen  berechtigt  ist.  Allein  derartige  Beobachtungen  sind  so 
ungemein  selten  (lange  nicht  l°/0  der  Fälle),  dass  sie  gegenüber 
dem  gewöhnlichen  Verlaufe  gar  nicht  in  Betracht  kommen.  Ueber- 
dies  erhebt  sich  hier  der  Verdacht,  dass  es  sich  vielleicht  um  ganz 
andersartige  chronische  diffuse  Hirnerkrankungen  handeln  kann,  die 
wir  vor  der  Hand  klinisch  noch  nicht  von  der  dementen  Form  der 
Paralyse  unterscheiden  können.  Jedenfalls  thut  man  gut,  allen 
Fällen  von  „geheilter“  Paralyse  das  äusserste  Misstrauen  entgegen 
zu  bringen,  da  Nasse*)  festgestellt  hat,  dass  unter  6 von  ihm  als 
geheilt  angesehenen  Paralytikern  nur  ein  einziger  nicht  wieder  er- 
krankt ist,  bei  dem  obendrein  die  Diagnose  nicht  über  allen  Zweifel 
erhaben  war.  Müller**)  giebt  an,  dass  etwa  8/4  der  Kranken  inner- 


*)  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLII,  136. 

**)  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  1027. 


272 


VL  Die  Dementia  paralytica. 


halb  der  ersten  drei  Jahre  zu  Grunde  gehen;  Heilbronner  fand, 
dass  nur  10 — 180/0  der  Paralytiker  mehr  als  5 Jahre  den  Beginn 
des  Leidens  überleben.  Die  längste  zuverlässig  festgestellte  Krank- 
heitsdauer betrug  18  Jahre. 

Herbeigeführt  wird  der  tödtliche  Ausgang  durch  die  ver- 
schiedensten Ursachen.  Abgesehen  von  den  in  der  ersten  Zeit  doch 
bisweilen  glückenden  Selbstmordversuchen,  können  im  ganzen  Ver- 
laufe der  Krankheit  paralytische  Anfälle  plötzlich  und  unerwartet 
dem  Leben  ein  Ende  machen.  Im  letzten  traurigen  Abschnitte  des 
Leidens  sind  Schluckpneumonien  (Speichel,  Speisen),  namentlich 
während  der  Anfälle,  die  bei  weitem  häufigste  Todesursache;  ausser- 
dem aber  kommen  noch  gelegentlich  Blutvergiftungen  oder  Fett- 
embolien in  Betracht,  wie  sie  sich  bei  der  Unruhe  und  Unempfind- 
lichkeit der  Kranken  aus  Verletzungen  aller  Art,  in  Folge  von 
Decubitus  oder  Blasenkatarrh  (Pyelitis)  entwickeln  können.  Vereinzelte 
Kranke  gehen  durch  Ersticken  zu  Grunde,  indem  sie  sich  beim 
Essen  den  ganzen  Mund  mit  Speisen,  namentlich  Brod,  vollpfropfen 
und  dann  einen  Theil  derselben  in  den  Keblkopf  hinunterwürgen. 
Endlich  aber  ist  der  gewissermassen  natürliche  Ausgang  der  Paralyse, 
wie  man  ihn  bei  einzelnen  Kranken  beobachtet,  welche  allen  jenen 
Gefahren  glücklich  entgangen  sind,  ein  schwerer  Marasmus,  der 
Tod  in  Folge  von  Herzschwäche.  In  solchen  Fällen  magern  die 
Kranken  schliesslich  zum  Skelett  ab ; die  gesammte  Körpermuskulatur 
atrophirt  bis  zum  Aeussersten ; die  Temperatur  sinkt  häufig  dauernd 
sehr  tief  unter  die  Horm;  der  Puls  wird  langsam  und  immer 
schwächer,  schliesslich  nicht  mehr  fühlbar,  bis  endlich  das  Leben 
vollkommen  erlischt.  — 

Die  pathologische  Anatomie  der  Paralyse  zeigt  uns  in  den 
nervösen  Centralorganen  eine  Reihe  von  Veränderungen,  welche  in 
ihrer  Gesammtheit  bis  zu  einem  gewissen  Grade  für  diese  Krankheit 
kennzeichnend  erscheinen.  Als  wesentlich  sind  nicht  zu  betrachten 
die  bisweilen  beobachteten  Hyperostosen  und  Exostosen  des  Schädels, 
die  auch  bei  Gesunden  nicht  ganz  selten  Vorkommen,  doch  ist  die 
in  weit  vorgeschrittenen  Fällen  recht  häufige  allgemeine  Ver- 
dickung der  knöchernen  Hülle  wol  mit  Wahrscheinlichkeit  als  Aus- 
gleichserscheinung gegenüber  der  Druckabnahme  des  schrumpfenden 
Gehirns  aufzufassen.  Vielfach  sieht  man  dabei  tiefes  Einschneiden  der 
Gefässfurchen  in  die  mit  Osteophyten  reichlich  besetzte  Knochentafel. 


Pathologische  Anatomie. 


273 


AVichtiger  sind  schon  die  Veränderungen  der  Hirnhäute.  Die 
Dura  ist  oft  theilweise,  seltener  in  ganzer  Ausdehnung  mit  dem 
Schädeldache  verwachsen;  bisweilen  lässt  sie  sich  ohne  Zerstörung 
gar  nicht  von  diesem  letzteren  trennen.  Recht  häufig  findet  man 
Pachymeuingitis  interna  und  Haematome  der  Dura,  bald 
nur  zarte,  schleierartige  Anflüge,  bald  dicke,  mehrfache  Schichtung 
auf  weisende  Schwarten  oder  frische,  massige  Blutergüsse,  meist  auf 
■der  Scheitelhöhe.  Auch  unter  der  Pia  bemerkt  man  öfters  mehr 
oder  weniger  ausgedehnte  Oberflächenblutungen.  Die  weichen  Hirn- 
häute sind  in  Folge  von  zelliger  Infiltration  fast  immer  getrübt, 
verdickt,  bisweilen  sehr  beträchtlich,  namentlich  längs  der  Gefässe ; 
hie  und  da  finden  sich  eingelagerte  Knochenplättchen.  Ihre  Venen 
sind  stark  erweitert,  besonders  bei  der  galoppirenden  Paralyse,  zeigen 
auch  häufig  verdickte  AVandungen;  die  Pacchioni 'sehen  Granu- 
lationen sind  nicht  selten  auffallend  entwickelt  Das  Gehirn  ist  bei 
länger  bestehenden  Fällen  stets  atrophisch;  das  Gewicht  desselben 
sah  ich  selbst  bei  Männern  von  normaler  Körpergrösse  bis  auf  900  gr 
herabsinken.  Die  AVindungen  sind  verschmälert,  besonders  in  den 
vorderen  Partien;  es  finden  sich  stellenweise  förmliche  Einsenkungen, 
über  welche  die  Pia  in  Gestalt  serumgefüllter  Blasen  hinwegzieht. 
Auch  die  Rinde  ist  verschmälert  und,  namentlich  am  Stirnhirn,  öfters 
mit  der  Pia  so  fest  verwachsen,  dass  sich  diese  nicht  ohne 
Substanzverlust  von  ihr  ablösen  lässt.  Die  Ventrikel  sind  mehr  oder 
weniger  stark  erweitert;  das  Ependym  derselben,  vorzüglich  des 
vierten,  zeigt  oft  reichliche,  stark  entwickelte,  knötchenartige  Granu- 
lationen. Nach  AFeigert’s  Befunden  handelt  es  sich  dabei  um 
Verlust  der  Epitheldecke,  AVucherung  und  hyaline  Entartung  der 
Neuroglia. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  bietet  vor  allem  in  der 
Rinde*)  ausgesprochene  Veränderungen.  Einen  Ueberblick  über 
dieselben  sollen  die  beiliegenden  Tafeln  gewähren,  welche  nach 
Mikrophotogrammen  angefertigt  sind.  Die  nach  Nissl’s  Verfahren 
gefärbten  Bilder  von  einzelnen  Zellen  und  das  Mitosenbild  wurden 
meist  mit  dem  Zeiss 'sehen  Apochromaten  2 mm,  Apertur  1,30, 


*)  Binswanger,  Die  pathologische  Histologie  der  Grosshirnrinden-Erkrankung 
bei  der  allgemeinen  progressiven  Paralyse.  1893;  Nissl,  Archiv  f.  Psychiatrie, 
XXVIII,  989;  Heilbronner,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIII,  172. 
Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  18 


274 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


zum  Theil  mit  3 mm,  Apertur  1,40  und  dem  Projectionsocular  2 
aufgenommen;  die  Vergrösserung  ist  1000.  Dagegen  sind  die 
Schicbtbilder  mit  dem  achromatischen  System  AA  ohne  Ocular  und 
in  einer  Yergrösserung  von  250  angefertigt.  Bei  ihrer  Wiedergabe 
fand  eine  Verkleinerung  auf  etwa  1/3  statt.  Dabei  mussten  natür- 
lich manche  Einzelheiten  verloren  gehen,  doch  vertragen  die  Bilder 
sehr  gut  die  Betrachtung  durch  die  Lupe.  Die  Yergrösserung  der 
Gliahüllen,  die  mit  Seibert  Y aufgenommen  wurden,  betrug  1250;  die 
Bilder  wurden  auf  1/3  verkleinert.  Die  Spinnenzellen  auf  Tafel  Y 
sind  bei  500facher,  die  einzelne  Zelle  auf  Tafel  LX  ist  bei  lOOOfacher 
Yergrösserung  angefertigt;  in  beiden  Fällen  hat  eine  geringe  Ver- 
kleinerung stattgefunden. 

Bei  weitem  am  wichtigsten  sind  ohne  Zweifel  die  Erkrankungs- 
vorgänge an  den  Nervenzellen.  Wie  ich  den  Darlegungen  Nissl’s 
entnehme,  haben  wir  hier  zunächst  acute  und  langsame  Verlaufs- 
arten des  Krankheitsvorganges  zu  unterscheiden.  Die  erste  Ver- 
änderung ist  bei  den  acuten  Processen  eine  Schwellung  des  Zell- 
leibes, an  der  regelmässig  auch  der  Zellkern  Antheil  nimmt.  Zugleich 
beginnt  die  nicht  färbbare  Substanz  sich  zu  färben,  so  dass  die 
Protoplasmafortsätze  auf  weite  Strecken  sichtbar  werden;  auch  der 
sonst  unsichtbare  Achsencylinderfortsatz  tritt  deutlich  hervor.  Diesen 
Vorgang  an  einer  grossen  Pyramidenzelle  zeigt  die  Figur  4 der 
Tafel  IV,  auf  der  zum  Vergleiche  in  Figur  1 die  entsprechende 
gesunde  Form  wiedergegeben  ist.  An  beiden  Zellen  sind  die  Achsen- 
cylinderfortsätze  sichtbar.  Bei  höheren  Graden  und  rasch  fort- 
schreitender Schädigung  zerfällt  die  färbbare  Substanz  vollständig; 
der  Kern  bläht  sich  auf,  und  es  kommt  zu  einer  Art  Zerbröckelung 
der  ganzen  Zelle,  die  mehr  und  mehr  ein  schattenhaftes  Ansehen 
gewinnt  und  schliesslich  ganz  verschwindet.  Die  acute  Erkrankung 
pflegt  alle  Zellen  der  Hirnrinde  in  gleichmässiger  Weise  zu  ergreifen. 

Die  schwerste  Form  der  paralytischen  Veränderung,  die  man 
allerdings  auch  bei  anderen  zerstörenden  Eingriffen  wiederfindet, 
besteht  in  einem  sofortigen  Zerfall  der  färbbaren  Substanz  des 
Zellkörpers  unter  gleichzeitiger  Verkleinerung  des  Kerns,  der  seine 
Membran  und  seine  Structur  verliert,  sich  abrundet  (Verflüssigung 
des  Inhaltes?)  und  gleichmässig  blau  violett  färbt.  Er  bleibt  schliess- 
lich mit  oder  ohne  spärliche  Reste  des  Zellleibes  als  kleines,  structur- 
loses  Klümpchen  allein  übrig.  Die  Figur  5 stellt  diese  Umwand- 


Tafel  IV. 


j'vraepelin,  Psychiatrie.  6. Aufl . 


}:  Pyramidenzelle.  2.  Acute  Schwellung  bei  Typhus.  3.  Körniger  Zerfall  mit  Einwanderung  grosser  Gliazellen  bei  Katatonie 

an  der  Zelle  links  ein  gewöhnlicher  Trabantkern.  4.  Acute  Veränderung  bei  Paralyse.  5.  Schwere  Veränderung  hei  Paralyse.  6.  Zellschwund  bei 
Paralyse.  7.  Zellsklerose  bei  Paralyse.  8.  Sklerose  mit  acuter  Veränderung  (Mischform)  bei  Paralyse.  ä.Mitose  eines  Gliakerns  bei  Paralyse; 

rechts  oben  ein  Centrosoma  (Weigert's  Mitosenfä'rbung.) 


Pathologische  Anatomie. 


275 


lung  dar.  Dieser  Vorgang  scheint  eine  Rückbildung  nicht  mehr 
zuzulassen,  während  die  ersterwähnten  Veränderungen  anscheinend 
sich  wenigstens  einigermassen  wieder  ausgleichen  können. 

Eine  weitere  Veränderung,  die  wahrscheinlich  den  chronischeren 
angehört,  ist  der  von  Nissl  so  genannte  Zellschwund.  Es  handelt 
sich  dabei  um  ein  Abblassen  und  Schwinden  der  färbbaren  Theile,  von 
denen  jedoch  einzelne  Abschnitte,  Verzweigungskegel,  Kernkappen 
und  Basalkörper,  auffallend  lange  erhalten  bleiben.  Zugleich  wird 
der  Kern  regelmässig  mit  ergriffen.  Seine  Membran  schwindet 
ganz  oder  theilweise,  so  dass  er  für  die  oberflächliche  Betrachtung 
vergrössert  erscheinen  kann.  Die  ungefärbte  Substanz  färbt  sich 
bei  dieser  Veränderung  nicht  merklich;  gleichwol  kann  man  den 
Achsencylinderfortsatz  erkennen  und  verfolgen,  ein  Zeichen  dafür, 
dass  dennoch  eine  Betheiligung  der  ungefärbten  Bahnen  an  dem 
Krankheitsvorgange  stattfindet.  Wahrscheinlich  ist  der  Zellschwund 
als  eine  schwere,  nicht  der  Rückbildung  .zugängliche  Erkrankung  zu 
betrachten.  Ein  Beispiel  für  denselben  giebt  Figur  6,  in  der  aller- 
dings der  nach  unten  abgehende  Achsencylinderfortsatz  nicht  mit 
eingestellt  ist. 

Die  häufigste  Form  der  chronischen  Erkrankung  bildet  die  Zell- 
sklerose. Hier  färben  sich  die  Zellfortsätze  auf  weite  Strecken;  auch 
der  Zellleib  nimmt  reichlich  Farbe  auf.  Der  geschwollene  Zellkörper 
schrumpft  mehr  und  mehr  zusammen;  die  Fortsätze  schlängeln  sich, 
und  die  Umrisse  der  Zelle  nehmen  eigenthümlich  starre,  eckige, 
morgensternartige  Formen  an,  namentlich  gegen  die  Basis  zu;  auch 
die  ganz  kleinen  Zellen  erinnern  an  spitze,  zackige  Sternchen.  Zu- 
gleich wird  der  Kern  länglich,  spitzer;  der  innere  Aufbau  der  Zelle 
geht  mehr  und  mehr  verloren,  Aveun  sich  auch  noch  sehr  lange 
einzelne  heller  gefärbte  Bahnen  in  dem  tief  dunklen  Zellleibe  erkennen 
lassen.  Bei  der  Beurtheilung  dieser  Bilder,  von  denen  Figur  7,  ferner 
Figur  3 der  Tafel  V einen  Begriff  geben  mag,  ist  wegen  der  Gefahr 
einer  Verwechselung  mit  Kunsterzeugnissen  einige  Vorsicht  geboten. 
Auch  hier  handelt  es  sich  um  eine  Erkrankung,  die  zwar  das  Leben 
der  Zellen  anscheinend  noch  lange  Zeit  hindurch  fortbestehen  lässt, 
einer  Rückbildung  jedoch  scliAverlieh  fähig  ist. 

Einige  seltenere  Zellerkrankungen,  die  sich  gelegentlich  in  para- 
lytischen Rinden  finden,  sollen  hier  nicht  näher  besprochen  werden, 
ebensoAvenig  die  weiteren  Veränderungen,  Avelche  die  abgestorbenen 

18* 


276 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


Zellen  durch  Imprägnirung  mit  Kalk  und  anderen  Stoffen,  durch 
Anhäufung  von  Pigment  u.  s.  f.  erleiden  können.  Dagegen  sei  darauf 
hingewiesen,  dass  auch  chronisch  erkrankte  Zellen  späterhin  noch 
einmal  acute  Veränderungen  erleiden  können,  so  dass  Mischungen 
zwischen  verschiedenen  Erkrankungsformen  zu  Stande  kommen. 
Wir  geben  ein  solches  Bild  in  Figur  8.  An  den  schmächtigen 
Formen,  der  dunkleren,  diffusen  Färbung  und  namentlich  dem  läng- 
lich gewordenen  Kern  erkennt  man  noch  die  Sklerose,  während  der 
beginnende  Schwund  der  färbbaren  Theile  den  acuten  Krankheits- 
vorgang anzeigt. 

Alle  geschilderten  Veränderungen,  mit  Ausnahme  der  ersten, 
acuten  Erkrankung,  ergreifen  niemals  die  ganze  Hirnrinde  gleich- 
zeitig. Vielmehr  finden  sich  mannigfache  örtliche  Verschiedenheiten 
in  der  Ausbreitung  und  Stärke  des  Vernichtungsvorganges. 
Auch  an  derselben  Stelle  der  Rinde  kann  man  regelmässig  ver- 
schiedene Abstufungen  der  krankhaften  Veränderungen,  ja  un- 
mittelbar daneben  zahlreiche  Zellen  sehen,  die  noch  völlig  gesund 
erscheinen.  Kur  bei  sehr  schwerem  oder  lange  dauerndem  Krank- 
heitsverlaufe zeigen  schliesslich  alle  Zellen  der  Rinde  in  höherem 
oder  geringerem  Grade  die  Zeichen  der  paralytischen  Erkrankung: 
ein  sehr  grosser  Theil  derselben  geht  ausserdem  vollständig  zu 
Grunde.  Ob  die  verschiedene  örtliche  Vertheilung  der  Zellverände- 
rungen in  einer  verschiedenen  Widerstandsfähigkeit  der  einzelnen 
Rindenabschnitte  und  Zellengruppen  oder  in  einer  verschiedenen 
Localisation  des  Krankheitsvorganges  an  sich  ihre  tiefere  Ursache 
hat,  ist  noch  unbekannt;  mir  ist  die  erstere  Annahme  weit  wahr- 
scheinlicher. 

Es  ist  auch  bisher  nicht  gelungen,  bestimmte  Beziehungen 
zwischen  dem  Sitze  der  Veränderungen  und  dem  klinischen  Kraukheits- 
bilde  aufzufinden.  Nur  das  Eine  lässt  sich  sagen,  dass  im  allgemeinen 
die  Ausdehnung  und  Stärke  der  anatomischen  Veränderung  um  so 
grösser  ist,  je  weiterder  klinische  Verlauf  vorgeschritten  war.  Immer- 
hin dürften  für  gewisse  Symptome,  die  Sprachstörungen,  die  Wort- 
taubheit, die  Krampferscheinungen,  die  durch  die  Localisations- 
lehre  geforderten  allgemeinen  Beziehungen  auch  hier  bestehen  (be- 
sondere Betheiligung  der  Stirn-,  Schläfen-,  Centralwindungen).  So 
hat  Lissauer  nach  paralytischen  Anfällen  mit  sensorischen  Herd- 
symptomen gerade  in  der  Rinde  des  Hinterhauptes  fleckweise  und 


Pathologische  Anatomie. 


277 


schichtweise  besonders  starke  Veränderungen  der  Ganglienzellen  bis 
zum  völligen  Schwunde  derselben  beobachtet. 

Mit  dem  Untergange  der  Nervenzellen  steht  derjenige  der  F asern 
in  innigstem  Zusammenhänge.  Es  ist  Tuczek’s*)  Verdienst,  diese 
Veränderungen  mit  feineren  Methoden  (Exner’sche,  Weigert’sche 
Methode)  genauer  studirt  zu  haben.  Dabei  hat  sich  herausgestellt, 
dass  bei  allen  länger  dauernden  Fällen  von  Paralyse  sowol  die  aus 
der  weissen  Substanz  in  die  Hirnrinde  einstrahlenden  „Radiärfasern“ 
als  auch  die  in  der  äussersteu  Rindenschicht  der  Hirnoberfläche  parallel 
laufenden  „zonalen  Rindenfasern“  (Tangentialfasern)  in  höherem  oder 
geringerem  Grade  zu  Grunde  gehen,  so  dass  in  den  spätesten 
Stadien  kaum  noch  Nervenfasern  in  der  Rinde  nachzuweisen  sind. 
Eine  gesetzmässige  Beziehung  zwischen  Stärke  und  Sitz  der  Ver- 
änderung lässt  sich  nach  Zacher’s  Untersuchungen  nicht  mit  Be- 
stimmtheit feststellen,  ja  es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  auch 
der  Faserschwund  gar  nicht  ausschliesslich  der  Paralyse,  sondern 
unter  Umständen  auch  anderen  Psychosen,  namentlich  der  nahe  ver- 
wandten Dementia  senilis,  sowie  sonstigen,  z.  B.  den  epileptischen 
Blödsinnsformen,  zukommen  kann.  Allerdings  dürfte  die  Häufigkeit, 
die  Ausdehnung  und  die  Stärke  jener  Veränderungen  bei  der  Para- 
lyse eine  weit  grössere  sein,  als  bei  irgend  einer  anderen  psychischen 
Erkrankung. 

Durch  den  Ausfall  massenhaften  Nervengewebes  kommt  in  vor- 
geschrittenen Fällen  eine  Schrumpfung  der  Rinde  zu  Stande,  die 
sich  schon  an  der  Verschmälerung  derselben  erkennen  lässt  und  bis- 
weilen so  hochgradig  wird,  dass  die  Breite  der  Rinde  auf  die  Hälfte 
zurückgeht.  Einzelne  Stellen,  namentlich  um  die  Gefässe  herum, 
können  dabei  ganz  an  narbige  Schrumpfungen  erinnern.  Aber  auch 
schon  geringere  Grade  dieses  Vorganges  deuten  sich  dadurch  an, 
dass  die  regelmässige  Anordnung  der  noch  vorhandenen  Ganglien- 
zellen vielfach  gestört  wird;  sie  stehen  nicht  mehr  reihenförmig, 
sondern  verschoben  und  verzerrt.  An  manchen  Stellen  erscheinen 
sie,  wie  man  in  Figur  3 der  Tafel  V erkennt,  zusammengerückt, 
gedrängt;  an  anderen  sind  grosse  Lücken  entstanden,  die  nur  durch 
Stützgewebe  und  Gefässe  ausgefüllt  werden. 


*)  Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie  und  zur  Pathologie  der  Dementia 
paralytica.  1884. 


278 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


Dieses  Verhalten  ist  es,  welches  als  eigentlich  kennzeichnend 
für  den  Ivrankheitsvorgang  der  Paralyse  bezeichnet  werden  muss. 
Die  Veränderungen  an  den  einzelnen  Zellen  finden  sich  in  gleicher 
Weise  auch  bei  anderen  Erkrankungen  wieder;  ja  sie  können  zum 
Theil  beim  Thier  künstlich  erzeugt  werden.  Sie  sind  daher  gewisser- 
massen  nur  als  Zustandsbilder  und  nicht  als  der  Ausdruck  bestimmter 
eigenartiger  Vorgänge  zu  betrachten.  Diese  Erkenntniss  schliesst 
natürlich  die  Möglichkeit  nicht  aus,  dass  wir  mit  vervollkommnten 
Htilfsmitteln  vielleicht  doch  im  Stande  wären,  auch  an  der  einzelnen 
erkrankten  Zelle  Besonderheiten  aufzufinden,  die  uns  den  Rückschluss 
auf  die  Paralyse  gestatten  könnten.  Jedenfalls  aber  vernichtet  die  para- 
lytische Erkrankung  das  gesammte  Nervengewebe  der  Rinde  in  weit 
grösserem  Umfange,  als  irgend  eine  andere.  Auch  bei  der  Idiotie, 
bei  der  Dementia  praecox,  beim  Altersblödsinn  gehen  zahlreiche 
Zellen  und  Fasern  zu  Grunde.  Allein  dort  bleibt  überall,  wie  ein 
Blick  auf  Tafel  IX  lehrt,  der  allgemeine  Aufbau  der  Rinde  er- 
halten; man  sieht  die  durch  Glia  ausgefüllten  Lücken  in  den  Zellen- 
reihen, ohne  dass  doch  ihre  Ordnung  sonst  gestört  wäre.  Hier  da- 
gegen pflegt  sich  auch  dann  schon  eine  Verzerrung  und  Schrumpfung 
im  Rindenbau  zu  zeigen,  wenn  die  Vernichtung  der  erkennbaren 
Bestandtheile  noch  verhältnissmässig  geringfügig  ist.  Am  wenigsten 
tritt  das  bei  der  sehr  stürmisch  verlaufenden  Erkrankung  hervor, 
die  in  Figur  2 der  Tafel  V,  wiedergegeben  ist.  Dagegen  erscheint  die 
Veränderung  des  Gesammtbildes  der  Rinde  bei  den  chronischen 
Formen,  bei  denen  die  Zellen  zum  Theil  lange  erhalten  bleiben, 
gegenüber  etwa  dem  Altersblödsinn  sehr  auffallend,  da  bei  letzterem  weit 
zahlreichere  Zellen  ohne  Störung  des  allgemeinen  Aufbaues  zu  Grunde 
gegangen  sind.  Wenn  wir  daher  auch  nach  Nissl’s  Auffassung  zur  Zeit 
die  Paralyse  nicht  aus  der  einzelnen  erkrankten  Zelle  erkennen  können, 
so  pflegt  doch  das  Gesammtbild  der  paralytischen  Hirnrinde  so  eigen- 
artige Züge  zu  tragen,  dass  wir  es  meist  von  andersartigen  Er- 
krankungen zu  unterscheiden  im  Stande  sind. 

Man  könnte  vielleicht  daran  denken,  die  besondere  Gestaltung 
des  Rindenbildes  auf  Rechnung  der  Ne  uro  glia  Veränderungen 
zu  setzen,  die  in  der  Paralyse  ungemein  verbreitet  zu  sein  pflegen. 
Namentlich  durch  Weigert’s  klassische  Untersuchungen*)  wissen 

*)  C.  Weigert,  Beiträge  zur  Kenntniss  der  normalen  menschlichen  Neu- 
roglia.  1895. 


Tafel  V. 


paepelin,  Psychiatrie.  6. Auf I. 


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3.  Chronisch  verlaufende 
Paralyse  (Ausgesprochene 
Sklerose.) 


Gliakappe  in  der  gesunden  Rinde. 


5.  Gliawucherung  bei  Paralyse) 
starke  Randgliose. 


6.  Spinnenzellen,  i. Th  mit  der 
Gliahülle  eines  Blutgefässes 
in  Verbindung  tretend. 


Pathologische  Anatomie. 


279 


wir,  dass  jeder  Untergang  von  nervösem  Gewebe  regelmässig  von 
einer  Wucherung  der  umgebenden  Neuroglia  begleitet  wird.  In  der 
That  sehen  wir  denn  auch  in  der  Paralyse,  entsprechend  der  Ver- 
nichtung massenhafter  Zellen  und  Fasern,  ein  ausserordentlich 
üppiges  Wachsthum  der  Stützsubstanz.  Nissl  konnte  als  Zeichen 
dieser  Vorgänge  in  paralytischen  Gehirnen  Kerntheilungsfiguren  an 
den  Gliazellen  nachweisen.  Ein  Beispiel  giebt  Figur  9,  Tafel  IV; 
■ausser  der  Mitose  ist  ein  Centrosoma  sichtbar. 

Die  Kerne  erscheinen  bedeutend  vermehrt,  ihr  Fasernetz  stark 
verdichtet.  Ganz  besonders  auffallend  und  schon  seit  langer  Zeit 
bekannt  sind  jene  Gebilde,  welche  man  mit  dem  Namen  der  Astro- 
cvten  oder  Spinnenzellen  zu  belegen  pflegt.  Sie  erreichen  hier 
vielfach  eine  geradezu  monströse  Entwicklung.  (Siehe  Tafel  V, 
Fig.  6;  Tafel  IX,  Fig.  4.)  Wie  Weigert  nachgewiesen  hat,  handelt 
es  sich  dabei  um  Gliazellen,  welche  gewissermassen  die  Stützpunkte 
für  zahlreiche,  von  ihnen  gebildete  und  an  sie  sich  anlegende  Flasern 
abgebeu.  Am  schönsten  finden  sich  die  Spinnenzelleu  meist  in  der 
Nähe  der  Gefässe  und  in  den  tieferen  Schichten  der  Rinde  ent- 
wickelt. Auf  Tafel  V in  den  Figuren  4 und  5 ist  die  normale  und 
eine  paralytische  Gliahülle  des  Rindensaumes  nebeneinandergestellt. 
Man  sieht  hier  sehr  deutlich  die  mächtige  Faserbildung  und  Kern- 
vermehrung in  der  Paralyse.  Häufig  stehen  die  Gliazellen  durch 
Faserzüge  mit  der  Gliahülle  der  Gefässe  in  Verbindung.  (Siehe 
Tafel  V,  Fig.  6.) 

Die  Ausbildung  der  Gliawucherung  steht  nur  im  allgemeinen, 
nicht  aber  im  einzelnen  zu  dem  Untergange  der  Nervenzellen  in 
Beziehung.  Auf  der  einen  Seite  beobachten  wir  ausgebreiteten 
Zellenschwund  ohne  nennensw^erthe  Vermehrung  der  Glia;  anderer- 
seits finden  wir  öfters  mitten  im  stark  gewucherten  Gliagewebe  an- 
nähernd oder  völlig  gesunde  Zellen.  Daraus  geht  hervor,  dass  die 
Vernichtung  der  Zellen  jedenfalls  unabhängig  von  der  Vermehrung 
der  Glia  erfolgt  und  nicht  etwa  durch  diese  letztere  bedingt  ist. 
Das  Nervengewebe  wird  unmittelbar  durch  den  Krankheitsvorgang 
geschädigt  und  zerstört;  die  Gliawucherung  ist  eine  gewöhnliche, 
wenn  auch  bisweilen  vermisste  oder  erst  später  hinzutretende  Be- 
gleiterscheinung. 

Jedenfalls  kann  sie  schwerlich  allein  die  eigenartige  Gestaltung 
des  paralytischen  Rindenbildes  erklären.  Wir  wissen,  dass  massen- 


280 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


hafte  Gliawucherungen  auch  bei  andersartigen  Erkrankungen,  bei 
Idioten,  Epileptikern,  Altersblödsinnigen  Vorkommen,  ohne  zu  einer 
derartigen  Verzerrung  des  Rindenaufbaus  zu  führen.  Will  man  nicht 
zu  der  von  vorn  herein  wenig  wahrscheinlichen  Annahme  greifen, 
dass  jene  eigenartige  Veränderung  hier  auf  einer  ganz  besonderen 
Form  der  Gliaerkrankung  beruhe,  so  wird  man  zu  der  Vermuthung 
gedrängt,  dass  die  Paralyse  noch  Gewebstheile  zerstört,  die  bei 
anderen  Erkrankungen  weniger  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden. 
Die  oft  schon  dem  blossen  Auge  so  auffällige  Schrumpfung  der 
Kinde  vermag  uns  hier  vielleicht  den  Weg  zu  zeigen.  Da  bei  den 
chronischen  Formen  die  Zellen  vielfach  dicht  an  einander  rücken, 
so  dass  sie  im  Gesichtsfelde  bisweilen  zahlreicher  erscheinen,  als  bei 
der  gesunden  Rinde,  wird  man  kaum  zweifeln  können,  dass  zwischen 
ihnen  Rindenbestandtheile  ausgefallen  sein  müssen.  Der  Schwund 
markhaltiger  Fasern,  der  auch  bei  anderen  Erkrankungen  ziemlich 
bedeutend  sein  kann,  genügt  schwerlich  zur  Erklärung:  vielmehr 
dürfte  wol  an  weitreichende  Zerstörungen  des  grauen  Netzes  zu 
denken  sein,  von  dessen  Ausdehnung  und  Wichtigkeit  wir  vielleicht 
noch  immer  zu  unvollkommene  Vorstellungen  haben.  Ist  diese  An- 
schauung richtig,  so  würde  möglicherweise  gerade  die  starke  Be- 
theiligung der  fibrillären  grauen  Substanz  zwischen  den  Zellen  die 
besondere  Eigenthiimlichkeit  des  paralytischen  Krankheitsvorganges 
darstellen. 

Endlich  haben  wir  unter  den  krankhaften  Befunden  in  der 
Hirnrinde  noch  der  Gefässveränderungen  zu  gedenken,  die  wir  zwar 
nicht  ausnahmslos,  aber  doch  sehr  häufig  antreffen.  Einerseits  handelt 
es  sich  um  eine  mehr  oder  weniger  beträchtliche  Vermehrung  der 
Blutgefässe,  vielfach  auch  um  eine  Erweiterung  derselben,  dann 
aber  um  eine  Verdickung  ihrer  Wandungen  mit  reichlicher  Kem- 
vermehrung.  (Siehe  Tafel  V,  Fig.  3.)  Das  dadurch  bedingte  Klaffen 
der  Lumina  kann  man  bisweilen  beim  Durchschneiden  schon  mit 
blossem  Auge  feststellen.  Oefters  finden  sich  in  den  Wandungen 
kleinzellige  Infiltrationen,  seltener  hyaline  Ausscheidungen.  Hie  und 
da  kommt  es  zu  Verengerungen,  auch  wol  zu  kleinen  Aneurysmen. 

Die  Tafel  V ist  trotz  der  Verkleinerung,  welche  die  Bilder 
haben  erfahren  müssen,  doch  vielleicht  geeignet,  einige  der  im  Vor- 
stehenden beschriebenen  Veränderungen  zu  verdeutlichen,  nament- 
lich wenn  man  die  Uebersichtsbilder  mit  dem  Durchschnitte  durch 


Pathologische  Anatomie. 


281 


die  gesunde  Centralrinde  Figur  1 vergleicht,  der  den  übrigen 
Schnitten  vollkommen  entspricht.  Das  erste  Bild  (Figur  2)  stellt 
eine  ungemein  rasch  verlaufende  agitirte  Paralyse  dar.  Die  Zellen 
befinden  sich  zumeist  im  Zustande  der  schweren  Veränderung,  hie 
und  da  auf  dem  Boden  der  Sklerose;  die  Zeichnung  der  gefärbten 
Theile  ist  verwaschen;  die  ungefärbten  Bahnen  und  damit  die  Fort- 
sätze sind  auf  weite  Strecken  gefärbt,  so  dass  man  überall  die  feinen 
Streifen  im  Gewebe  erkennt;  die  Kerne  sind  zum  Theil  verkleinert, 
dunkler  gefärbt  und  ohne  scharfe  Umgrenzung.  An  zahlreichen 
Zellen  lassen  sich  die  verschiedensten  Stufen  des  fortschreitenden 
Zerfalles  wahrnehmeu;  häufig  ist  nur  noch  das  Kernkörperchen  mit 
geringen  Resten  des  Kernes  und  der  Zellmasse  vorhanden.  Ueberall 
im  Gewebe  zerstreut  finden  sich  Gruppen  von  blassen  kleinen  Glia- 
kernen,  namentlich  in  den  unteren  Schichten. 

Das  nächste  Bild  (Figur  3)  zeigt  uns  eine  sehr  chronisch  verlaufene 
Paralyse.  Hier  sind  die  Zellen  zum  grössten  Theile  erhalten,  ja  sie  er- 
scheinen in  Folge  der  Schrumpfung  verhältnissmässig  zahlreich  und  ge- 
drängt, wenn  auch  ihre  regelmässige  Anordnung  erheblich  gestört  ist. 
Die  Zellen  selbst  sind  sämmtlich  in  höherem  oder  geringerem  Grade 
sklerotisch  erkrankt.  Sie  haben  sich  ungemein  stark  gefärbt;  ihr 
feinerer  Bau  ist  gänzlich  unkenntlich  geworden;  meist  heben  sich 
nicht  einmal  die  Kerne  ab.  Die  Körper  der  Zellen  sind  geschrumpft, 
die  Fortsätze  dünn,  vielfach  geschlängelt,  die  gesammten  Umrisse 
zackig,  stachlig.  An  verschiedenen  Stellen  bemerken  wir  abge- 
blasste, zerfallende  Klümpchen,  die  an  ihren  Kernkörperchen  noch 
als  Reste  früherer  Zellen  kenntlich  sind,  ein  Beweis  dafür,  dass  doch 
auch  hier  ein  Untergang  von  Nervengewebe  stattgefunden  hat. 
Zahlreiche  Gliakerne  durchsetzen  das  Gewebe,  besonders  stark  im 
zellenarmen  Rindensaum.  Mehrere  durchschnittene  Gefässe  zeigen 
gewaltig  verdickte  Wandungen. 

Ausser  den  feineren  Veränderungen  sehen  wir  in  der  Rinde  ge- 
gelegentlich  noch  kleinere  erweichte  Stellen,  welche  sich  durch  die 
leichte  Ablösbarkeit  der  oberflächlichen  Rindenschichten  oder  auch 
der  ganzen  Rindendecke  von  der  weissen  Substanz  bemerkbar 
machen.  Ausgedehntere  Zerstörungen  in  der  Rinde,  wie  man  sie 
insbesondere  zur  Erklärung  der  paralytischen  Anfälle  vermuthen 
seilte,  sind  dagegen  recht  selten;  selbst  bei  einer  viele  Monate 
andauernden  Hemiplegie  mit  vollständiger  Paraphasie  konnte  ich 


282 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


einen  bestimmten  Erweichungsherd  im  Gehirne  nicht  auffinden. 
Dagegen  werden  hie  und  da  kleinere  oder  grössere  Gummata  ange- 
troffen. 

Aelmliche  Veränderungen,  wie  in  der  Grosshirnrinde,  finden 
sich  ganz  verbreitet  auch  in  den  übrigen  Theilen  des  Gehirns,  wie 
das  schon  im  Hinblicke  auf  die  sehr  bedeutende  Gewichtsabnahme 
als  erwiesen  angesehen  werden  darf.  Die  Markmassen  der  Hemi- 
sphären zeigen  regelmässig  einen  zerstreuten  Faserschwund,  der  nur 
bisweilen  einzelne  dichtere  Bündel  verschont  Seltener  sind  fleck- 
weise Entartungsherde  oder,  im  Anschluss  an  umschriebenere 
Rindenzerstörungen,  strangförmige  Degeneration  bestimmter  Leitungs- 
bahnen. In  den  grossen  Stammganglien,  im  centralen  Höhlengrau 
und  ebenso  im  Kleinhirn  ist  ausgedehnter  Faserschwund  nach- 
gewiesen worden.  Lissauer  sah  nach  stärkerem  Befallensein  gewisser 
Bezirke  der  Scheitel-  und  Hinterhauptsrinde  bestimmt  umgrenzten 
Faserschwund  in  den  entsprechenden  Abschnitten  der  Sehhügel. 
Weigert  hat  in  der  Körnerschicht  des  Kleinhirns  hochgradige  Glia- 
wucherungen aufgefunden,  aus  denen  er  auf  den  Untergang  der 
Fortsätze  der  Purkinje ’schen  Zellen  schliesst.  Ausserdem  finden 
sich  in  den  Nervenkernen  der  Medulla  oblongata,  namentlich  in  den- 
jenigen des  Hypoglossus,  ähnliche  Veränderungen  der  Ganglienzellen 
wie  in  der  Hirnrinde. 

Im  Rückenmarke*)  beobachtet  man  ausser  pachymeuin- 
gitischen  und  leptomeningitischen  Veränderungen  bei  weitem  am 
häufigsten  eine  degenerative  Erkrankung  der  Hinter-  und  Seiten- 
stränge, seltener  Veränderungen  in  den  erste ren  oder  letzteren  allein. 
Fürstner  fand  jene  gemischte  Erkrankung  in  50°/o,  Betheiligung 
der  Seitenstränge  allein  in  12  °/0,  der  Hinterstränge  allein  in  19°/0 
der  Fälle;  meist  waren  beide  Seiten  in  verschiedenem  Grade  be- 
fallen. Bei  ll°/0  fanden  sich  im  Rückenmarke  keine  Veränderungen. 
Sehr  selten  waren  Erkrankungen  der  Vorderstränge.  Ausserdem 
wurde  einige  Male  diffuse,  hie  und  da  auch  herdartige  Vermehrung 
der  Stützsubstanz  festgestellt.  In  einzelnen  Fällen  kommen  syringo- 
myelitische  Veränderungen  vor.  Ho  che**)  wies  Entartungsvor- 

*)  Westphal,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XX,  XXI;  Virchow’s  Archiv, 
XXXIX;  Archiv  f.  Psychiatrie,  I,  XII;  Fürstner,  ebenda,  XXIV,  1. 

**)  Hoche,  Beiträge  zur  Kenntniss  des  anatomischen  Verhaltens  der  mensch- 
lichen Rückenmarkswurzeln.  1891. 


Pathologische  Anatomie. 


283 


gänge  in  den  vorderen  und  hinteren  Wurzeln  nach,  anscheinend  un- 
abhängig von  den  Erkrankungen  des  Rückenmarks.  Auch  an  den 
peripheren  Nerven,  am  Saphenus  major,  am  Peronaeus,  Thoracicus 
longus  sind  Entartungsvorgänge  beschrieben  worden,  welche  mit 
den  Befunden  bei  Tabes  wie  mit  den  gelegentlich  im  Leben  beob- 
achteten Lähmungen  gut  vereinbar  sein  würden.  Angesichts  der 
Seltenheit  solcher  Befunde  betont  indessen  Fürstner,  dass  wir  noch 
nicht  berechtigt  seien,  hier  diese  Veränderungen  gerade  auf  Rech- 
nung der  Paralyse  zu  setzen.  Er  macht  vielmehr  darauf  aufmerksam, 
dass  noch  eine  Reihe  von  anderen  Ursachen  mitspielen,  Alkoholis- 
mus, Tuberculose,  Marasmus,  Contusionen,  welche  erfahrungsgemäss 
im  Stande  seien,  neuritische  Erkrankungen  zu  erzeugen. 

An  den  übrigen  Organen  sind  natürlich  in  erster  Linie  die- 
jenigen Veränderungen  zu  verzeichnen,  welche  durch  die  gewöhn- 
lichen Todesursachen  der  Paralytiker  bedingt  werden,  namentlich 
Pneumonien,  Tuberculose,  septische  Erkrankungen,  Pyelonephritis 
u.  dergl.  Ausserdem  aber  haben  wir  noch  eine  Reihe  von  Befunden 
zu  erwähnen,  die  einerseits  nicht  als  Folgeerkrankungen  aufgefasst 
werden  können,  andererseits  doch  so  häufig  sind,  dass  auch  ein  zu- 
fälliges Zusammentreffen  unwahrscheinlich  wird.  Dahin  gehören  vor 
allem  die  ausgebreiteten  Gefässveränderungen,  namentlich  das  Atherom 
der  Aorta,  welches  hier  selbst  bei  recht  jugendlichen  Personen  öfters 
in  sehr  starker  Ausbildung  angetroffen  wird.  Angiolella  fand  auch 
in  der  Leber  und  den  Nieren  bei  einer  Reihe  von  Kranken  peri- 
arteriitische  Veränderungen.  Weiterhin  sind  die  Herzerkrankungen  zu 
nennen.  Unter  56  Paralytikersectionen  der  letzten  Jahre  fand  sich 
Entartung  des  Herzmuskels  11  mal,  braune  Atrophie  4 mal,  Fettherz 
3 mal,  Endocarditis  4mal,  Pericarditis  lmal.  Granularatrophie  der 
Niere  wurde  6 mal  angetroffen.  EinigeMale  waren  auch  parenchymatöse 
Erkrankungen  der  Leber  zu  verzeichnen.  — 

Die  Dementia  paralytica  ist  erst  seit  verhältnissmässig  kurzer 
Zeit  näher  bekannt.  Wenn  man  von  einzelnen  unsicheren  An- 
deutungen absieht,  so  scheint  erst  Haslam  vor  nunmehr  100  Jahren 
die  erste  genauere  Beschreibung  der  Krankheit  geliefert  zu  haben, 
die  dann  im  Anfänge  unseres  Jahrhunderts  namentlich  von  franzö- 
sischen Irrenärzten  eingehend  studirt  wurde.  Bei  der  Eigenart  und 
Schwere  des  klinischen  Bildes  liegt  unter  diesen  Umständen  die  An- 
nahme nahe,  dass  die  Krankheit  erst  in  unserem  Zeitalter  ihre 


284 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


jetzige  Häufigkeit  erlangt  habe.  Zur  Zeit  gehören  ihr  bei  uns  im 
Durchschnitte  etwa  10 — 20 °/0  aller  Aufnahmen  in  Irrenanstalten 
an;  doch  ist  dieses  Yerhältniss  ausserordentlichen  Schwankungen 
unterworfen.*)  In  einzelnen  Ländern,  so  in  Island,  ist  die  Paralyse 
fast  unbekannt;  unter  den  Negern  Nordamerikas  hat  sie  erst  im 
letzten  Jahrzehnt  etwas  weitere  Ausdehnung  gewonnen.  Wie  es 
scheint,  nimmt  die  Paralyse  im  allgemeinen  zu,  namentlich  in  den 
Grossstädten.  Yon  den  beiden  Geschlechtern  ist  das  männliche  un- 
gefähr 2 — 5 mal  so  stark  unter  den  Erkrankten  vertreten,  aLs  das 
weibliche;  in  der  Charite  waren  1891/92  nicht  weniger  als  45,6 °/0 
der  geisteskranken  Mänuer  Paralytiker.  Bei  Frauen  höherer  Stände 
ist  die  Krankheit  recht  selten.  Die  relative  Häufigkeit  der  weib- 
lichen Paralyse  ist  gewachsen,  besonders  stark  in  den  grossen 
Städten.  Von  den  klinischen  Formen  ist  es  nach  meinen  Erfahrungen 
besonders  die  depressive  Paralyse,  an  welcher  das  weibliche  Ge- 
schlecht zu  erkranken  pflegt;  agitirte  Formen  sind  verhältnissmässig 
selten.  Dass  die  durchschnittliche  Dauer  des  Leidens  bei  Frauen  eine 
längere  sei,  kann  ich  bisher  nicht  bestätigen. 

Ueber  die  Betheiligung  der  einzelnen  Altersklassen  giebt  die 
nebenstehende  prozentische  Darstellung  Aufschluss,  deren  Grundlage 
249  Fälle  bilden.  Die  grösste  Häufigkeit  fällt  demnach  bei  uns  in 
das  Jahrfünft  zwischen  dem  40.  und  45.  Lebensjahre;  vor  dem 
25.  und  nach  dem  55.  Jahre  werden  nur  noch  vereinzelte  Fälle 
beobachtet;  zwischen  dem  30.  und  dem  50.  Jahre  liegen  über  81°/0 
aller  Erkrankungen.  In  Bezug  auf  diese  Verhältnisse  bestehen  in- 
dessen zweifellos  örtliche  Unterschiede;  in  Berlin  und  Wien  z.  B. 
erkrankt  die  Mehrzahl  schon  zwischen  dem  35.  und  40.  Lebensjahre. 
In  den  jüngeren  Jahren  scheinen  die  expansiven  und  agitirten  Formen, 
späterhin  die  depressive  Paralyse  ein  wenig  zu  überwiegen.  Frauen 
erkranken  meist  in  etwas  höherem  Alter.  Yon  meinen  Kranken 
hatten  46,6 °/0  der  Männer  und  29 °/0  der  Frauen  beim  Beginne  des 
Leidens  das  40.  Lebensjahr  noch  nicht  überschritten.  Man  hat  des- 
wegen für  die  weibliche  Paralyse  auch  dem  Klimakterium  eine  ge- 
wisse Bedeutung  zugeschrieben.  Die  Erfahrungen  in  Berlin  deuten 
darauf  hin,  dass  die  Betheiligung  der  jugendlicheren  Lebensalter  an 

*)  Wollenberg,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXVI,  2;  Gudden,  ebenda; 
v.  Krafft-Ebing,  Jahrb.  f.  Psychiatrie  XIII,  2 u.  3;  Oebecke,  Allgera.  Zeitschr. 
f.  Psychiatrie  XL;  Hirschl,  Jahrbücher  f.  Psychiatrie  XIV,  321. 


Ursachen. 


285 


der  Paralyse  beim  weiblichen  Geschlechte  im  Zunehmen  begriffen 
ist.  Andererseits  scheinen  auch  gerade  die  späteren  Jahre  gegen- 
über den  mittleren  eine  wachsende  Neigung  zur  Erkrankung  dar- 
zubieten. Eine  stärkere  Betheiligung  der  jugendlichen  Altersklassen 
scheint  sich  in  beschränkterem  Maasse  bei  der  Paralyse  überhaupt 
herauszubilden.  Namentlich  im  Laufe  des  letzten  Jahrzehntes  sind 
eine  grössere  Anzahl  von  Erkrankungen  an  Paralyse  bei  ganz 
jugendlichen  Personen  bekannt  geworden;  einzelne  gehen  bis  in  das 
9.  und  10.  Lebensjahr  zurück.  Hier  sind  auffallender  Weise  beide 


30 


Jahre 

Geschlechter  gleichmässig  vertreten.  Erbliche  Veranlagung  scheint 
dabei  eine  ganz  besonders  grosse  Rolle  zu  spielen;  namentlich  fand 
sich  vielfach  Paralyse  bei  den  Eltern,  ferner  Alkoholismus  und 
syphilitische  Erkrankungen.  Alzheimer*)  meint,  dass  in  etwa 
70°/0  der  Fälle  ein  Zusammenhang  mit  der  Lues  sicher  oder  sehr 
wahrscheinlich  sei.  Die  klinische  Form  der  Krankheit  zeigte  meist 
eine  einfache  Demenz,  dabei  häufige  Anfälle  und  starkes  Hervortreten 
der  Lähmungserscheinungen;  der  Verlauf  war  im  allgemeinen  ein 
ziemlich  langsamer. 

Ledige  Personen  scheinen  mehr  gefährdet  zu  sein,  alsVerheirathete; 


*)  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LII.  3. 


286 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


jugendliche  weibliche  Paralysen  sind  auffallend  häufig  Prostituirte, 
paralytische  Frauen  vielfach  kinderlos.  Nicht  ganz  selten  beobachtet 
man,  dass  zwei  Ehegatten  gleichzeitig  oder  kurz  nach  einander 
paralytisch  werden.  Grosse  Städte  liefern  einen  sehr  bedeutend 
höheren  Procentsatz  von  Paralytikern,  als  die  Landbevölkerung.  In 
Freiburg  mit  vorwiegend  ländlichem  Aufnahmebezirk  ist  nach 
mündlicher  Mittheilung  von  Emminghaus  die  Paralyse  ziemlich 
selten,  während  die  mehr  städtische  Bevölkerung  im  nördlichen 
Baden  einen  recht  grossen  Bruchtheil  von  Paralytikern  liefert. 
Unter  den  Berufsarten  sind  Officiere,  Kaufleute,  Feuerarbeiter, 
Eisenbahnbeamte  verhältnissmässig  zahlreich  vertreten,  während 
katholische  Geistliche  sehr  selten  paralytisch  werden,  v.  Krafft- 
Ebing  sah  unter  2000  Paralytikern  keinen  einzigen  katholischen 
Geistlichen,  umgekehrt  aber  unter  den  geisteskranken  Officieren  bis 
zu  90°/o  Paralytiker.  Der  Einfluss  der  erblichen  Anlage  tritt  hier 
gegenüber  den  sonstigen  Geistesstörungen  mehr  in  den  Hintergrund, 
scheint  aber  bei  jugendlicheren  Paralytikern  eine  etwas  grössere 
Rolle  zu  spielen.  Meine  eigenen  Erfahrungen  ergaben  in  50 °/0  der- 
jenigen Fälle  erbliche  Veranlagung,  in  denen  sichere  Nachrichten 
über  diese  Verhältnisse  Vorlagen,  etwas  mehr  bei  Männern  als  bei 
Frauen.  In  einem  Falle  war  auch  Vater  und  Grossvater  paralytisch 
gewesen. 

Unter  den  Ursachen  der  Paralyse  haben  wir  in  allererster 
Linie  der  Syphilis  zu  gedenken.  Dieselbe  findet  sich  auffallend 
häufig  in  der  Vergangenheit  der  Paralytiker,  wenn  sich  auch  gegen- 
wärtige syphilitische  Krankheitserscheinungen  nur  verhältnissmässig 
selten  nachweisen  lassen.  Damit  stimmt  die  Erfahrung  überein,  dass 
es  anscheinend  vorzugsweise  leichte  syphilitische  Erkrankungen  sind, 
welchen  ein  ursächlicher  Zusammenhang  mit  der  Paralyse  zukommt, 
vielleicht  deswegen,  weil  bei  ihnen  häufiger  keine  durchgreifende  Be- 
handlung stattfindet.  Die  Zwischenzeit  zwischen  der  luetischen  An- 
steckung und  dem  Ausbruche  der  Paralyse  ist  sehr  grossen  Schwank- 
ungen unterworfen.  Unter  21  Fällen,  in  denen  mir  diese  Zeit  genauer 
bekannt  war,  betrug  sie  8 mal  weniger  als  10,  8 mal  10 — 20  Jahre: 
die  kürzeste  Zwischenzeit  waren  2,  die  längste  31  Jahre.  Hirschl. 
der  über  78  Fälle  verfügt,  sah  die  Paralyse  in  23  Fällen  innerhalb 
der  ersten  10,  in  40  Fällen  zwischen  10  und  20  Jahren  nach  der  An- 
steckung zum  Ausbruche  kommen;  die  Grenzen  waren  2 und  29  Jahre. 


Ursachen. 


287 


Er  weist  im  Anschlüsse  an  Obersteiner  darauf  hin,  dass  diese  zeit- 
lichen Beziehungen  etwa  denjenigen  der  tertiären  Lues  entsprechen. 

Ueber  die  Häufigkeit,  mit  welcher  die  Syphilis  als  Vor- 
gängerin der  Paralyse  beobachtet  wird,  gehen  die  Angaben  sehr 
weit  auseinander  (11 — 77 °/0).  Hougberg*)  fand  sogar  in  75,7  bis 
86,9  seiner  Fälle  vorausgegangene  Syphilis.  Meine  eigenen  Auf- 
zeichnungen ergeben,  übereinstimmend  mit  den  Erfahrungen  Gudden’s 
in  der  Charite,  bei  Männern  sichere  Syphilis  in  etwa  34 °/0  der  Fälle. 
Eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit  besteht  ausserdem  noch  vielfach.  Bei 
Frauen  ist  es  mir  nicht  gelungen,  über  diesen  Punkt  hinreichende 
Sicherheit  zu  erhalten;  richtet  man  sich  nach  dem  Vorkommen  von 
Aborten,  so  ergiebt  sich  annähernd  dasselbe  Verhältniss  wie  bei 
Männern.  Wollenberg  nimmt  an,  dass  von  seinen  weiblichen 
Kranken  die  Hälfte  sicher  oder  sehr  wahrscheinlich  an  Lues  gelitten 
habe.  Hirschl  fand  bei  200  Kranken  in  6°/0  die  sicheren  Zeichen 
überstandener  Lues.  Aus  der  Vorgeschichte  von  175  paralytischen 
Männern  konnte  er  entnehmen,  dass  56°/0  sicher,  25%  wahrschein- 
lich an  Lues  gelitten  hatten,  und  nur  bei  19%  fehlten  verwerthbare 
Anhaltspunkte.  Natürlich  ist  es  aus  naheliegenden  Gründen  un- 
gemein  schwierig,  über  frühere  syphilitische  Erkrankungen  auch  nur 
einigermassen  zuverlässige  Angaben  zu  gewinnen,  sei  es,  dass  die 
Ansteckung  gar  nicht  bemerkt,  sei  es,  dass  sie  verheimlicht  wurde. 
So  konnte  Hirschl  feststellen,  dass  von  Kranken  mit  tertiärer 
Syphilis  nicht  weniger  als  36,5%  keinerlei  Angabe  über  Ansteckung 
oder  frühere  luetische  Erscheinungen  machen  konnten.  Alle  bei 
Paralytikern  gefundenen  Zahlen  bedeuten  daher  nur  untere  Grenz- 
werthe  der  wirklichen  Häufigkeitsverhältnisse. 

Jedenfalls  steht  der  Zusammenhang  zwischen  Syphilis  und 
Paralyse  über  allem  Zweifel  fest.  Heibe'rg  will  in  Kopenhagen 
gefunden  haben,  dass  einer  Häufung  der  syphilitischen  Erkrankungen 
nach  15  Jahren  (12  Jahre  Zwischenzeit,  3 Jahre  Krankheitsdauer) 
ein  Höhepunkt  der  Todesfälle  an  Paralyse  entspreche.  Ferner  hat 
v.  Krafft-Ebing  die  Versuche  eines  vor  der  Hand  ungenannten 
Arztes  über  die  Einimpfung  von  Syphilisgift  bei  9 Paralytikern  mit- 
getheilt,  bei  denen  bis  dahin  keinerlei  Anhaltspunkte  für  eine  frühere 
Ansteckung  Vorlagen.  In  keinem  dieser  Fälle  entwickelten  sich 


*)  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  L,  3 u.  4. 


•288 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


Secundärerscheinungen.  Daraus  wird  geschlossen,  dass  bei  jenen 
Kranken  höchst  wahrscheinlich  doch  Lues  voraufgegangen  war.  Auch 
manche  Punkte  der  oben  angeführten  allgemeinen  Prädisposition, 
insbesondere  die  Unterschiede  zwischen  Stadt  und  Land,  die  Selten- 
heit der  Paralyse  bei  Frauen  der  besseren  Stände  und  bei  katholischen 
Geistlichen,  ihre  Häufigkeit  bei  Officieren,  Kaufleuten,  Prostituirten. 
das  Vorkommen  paralytischer  Ehepaare  sind  mit  grösster  Wahr- 
scheinlichkeit auf  einen  Zusammenhang  zwischen  Paralyse  und  Lues 
.zu  beziehen,  ebenso  die  verschiedene  Betheiligung  der  Geschlechter, 
da  auch  bei  der  Lues  auf  eine  weibliche  4 männliche  Kranke 
kommen.  Das  Anwachsen  der  Paralyse  bei  den  ganz  jugendlichen 
und  bei  den  älteren  Frauen  lässt  daran  denken,  dass  die  Lues  im 
-ersteren  Falle  vor,  im  letzteren  während  der  Ehe  erworben 
wurde.  Sehr  auffallend  ist  es  freilich,  dass  die  Mehrzahl  gerade  der 
französischen  Irrenärzte  die  ursächliche  Bedeutung  der  Syphilis  für 
die  Paralyse  leugnet  und  statt  dessen  den  Alkoholmissbrauch  in 
den  Vordergrund  stellt.  Unsere  Erfahrungen  in  Deutschland  führen 
nach  beiden  Richtungen  zu  durchaus  anderen  Ergebnissen.  Neuer- 
dings mehren  sich  übrigens  auch  dort  die  Stimmen,  welche  die  Lues 
für  das  Entstehen  der  Paralyse  verantwortlich  machen.  So  berichtet 
Morel-Lavallöe  von  5 Männern,  die  sich  aus  derselben  Quelle 
syphilitisch  ansteckten  und  sämmtlich  paralytisch  wurden. 

Von  sonstigen  Schädlichkeiten,  denen  man  für  die  Entstehung 
der  Paralyse  eine  gewisse  Rolle  zuzuschreiben  pflegt,  sind  auf  körper- 
lichem Gebiete  der  Alkoholismus,  Sonnenstich,  Wärmebestrahlung 
Res  Kopfes  und  Kopfverletzungen  zu  nennen.  An  diese  letzteren 
schliesst  sich  die  Erkrankung  in  einzelnen  Fällen  ziemlich  bald  an. 
Da  es  sich  hier  meist  um  jugendliche,  noch  anderweitig  zu  Geistes- 
störungen prädisponirte  Personen  handelt,  so  haben  wir  es  nach 
Gudden’s  Ansicht  wesentlich  mit  einer  Auslösung  des  Leidens  durch 
die  Kopfverletzung  zu  thun.  Andererseits  sehen  wir  die  Paralyse 
dem  Trauma  oft  erst  nach  Jahren  folgen,  so  dass  man  mehr  eine 
vorbereitende  Wirkung  des  Traumas  anzunehmen  hätte.  Natürlich 
wird  dann  die  Sicherheit  des  Zusammenhanges  eine  immer  geringere; 
zugleich  ist  es  wol  zweifelhaft,  ob  solche  Fälle  wirklich  gleichartig 
und  namentlich,  ob  sie  ohne  weiteres  der  Paralyse  zuzurechnen  sind- 
Der  Alkoholmissbrauch  ist  nach  meinen  Erfahrungen  ziemlich  häufig 
Folge,  aber  schwerlich  Ursache  der  Paralyse,  wenn  er  auch  eine 


Wesen  der  Krankheit. 


289 


grosse  vorbereitende  und  auslösende  Rolle  spielen  mag.  Ebenso 
können  auch  manche  andere  Einflüsse,  körperliche  Erkrankungen, 
das  Wochenbett,  psychische  Schädlichkeiten  die  Entwicklung  der 
Krankheit  beschleunigen.  Namentlich  eine  sehr  verantwortungsvolle, 
mit  heftigen  Gemüthsschwankungen  verbundene  Thätigkeit,  andauernde 
Unruhe  und  Aufregung  scheint  die  Entstehung  der  Paralyse  zu  be- 
günstigen. Wenigstens  sehen  wir,  dass  der  Krieg  mit  seiner  An- 
spannung der  gesammten  psychischen  Leistungs-  und  Widerstands- 
fähigkeit, das  Börsenspiel,  Ausschweifungen,  der  aufreibende  Kampf 
ums  Dasein  in  dem  lebhaften  Getriebe  der  grossen  Städte  regel- 
mässig zahlreiche  Opfer  fordert.  Einfache  Verstandesarbeit  dagegen, 
und  sei  sie  noch  so  anstrengend  an  sich,  hat  auf  die  Entwicklung 
der  Paralyse  schwerlich  einen  Einfluss.  Allerdings  ist  bei  allen 
derartigen  Erfahrungen  die  Beziehung  zur  Häufigkeit  der  Syphilis 
nirgends  abzutrennen. 

Suchen  wir  uns  nunmehr  an  der  Hand  der  vorliegenden  That- 
sachen  wenigstens  ungefähr  ein  Bild  von  dem  Wesen  des  paraly- 
tischen Krankheitsvorganges  zu  machen,  so  muss  gleich  im  Beginne 
einer  solchen  Betrachtung  betont  werden,  dass  möglicherweise  eine 
Reihe  verschiedener  Krankheitsformen  unter  dem  klinischen  Bilde 
des  fortschreitenden  Blödsinns  mit  Lähmung  zusammengefasst  werden, 
die  uns  erst  eine  eingehendere  Kenntniss  der  pathologischen  Ana- 
tomie dereinst  auseinanderzuhalten  lehren  wird.  Es  ist  ja  ohne 
weiteres  begreiflich,  dass  jede  ausgebreitete  Zerstörung  der  Hirnrinde 
annähernd  die  gleichen  Erscheinungen  zu  erzeugen  im  Stande  sein 
wird.  In  der  That  finden  wir  auch  heute  schon  gelegentlich  bei 
anscheinend  dementer  Paralyse  an  der  Leiche  ganz  andersartige 
allgemeinere  und  selbst  umgrenzte  Hirnerkrankungen,  die  wir  später 
noch  etwas  genauer  zu  besprechen  haben  werden. 

Trotzdem  aber  darf  es  als  sicher  gelten,  dass  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle  von  progressiver  Paralyse  ein  ganz  bestimmter, 
einheitlicher  Krankheitsvorgang  zu  Grunde  liegt,  der  durch  den  fort- 
schreitenden Schwund  des  Nervengewebes,  namentlich  in  der  Hirn- 
rinde, gekennzeichnet  ist.  Das  Wesen  dieses  Vorganges  kann  An- 
gesichts der  Bilder,  die  uns  das  Mikroskop  liefert,  nicht  zweifelhaft 
sein.  Offenbar  haben  wir  es  hier  mit  einer  Vergiftung  zu  thun, 
welche  in  ihrem  Ablaufe  vollkommen  den  Erfahrungen  bei  anderen, 
künstlich  herbeigeführten  Vergiftungen  entspricht.  Die  anfänglichen 

Eraepelin,  Psychiatrie.  C.  Anfl.  IX.  Band.  19 


290 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


Reizungsorscheinungcn  an  den  Zellen,  der  rasche  Zerfall,  die  langsame 
Schrumpfung,  das  gelegentliche  Aufll ackern  des  Krankheitsvorganges, 
die  Möglichkeit  einer  Rückbildung  wiederholen  sich  in  ganz  ähnlicher 
Weise  bei  der  schnelleren  oder  langsameren  Vergiftung  des  Ver- 
suchsthiers mit  irgend  einem  Stoffe,  der  die  Nervenzellen  schädigt. 
Dass  diese  anatomischen  Thatsachen  mit  den  klinischen  Beobach- 
tungen der  schleichenden  Verblödung,  der  plötzlichen  Erregungen 
und  Anfälle,  der  weitgehenden  Besserungen  in  vollster  Ueberein- 
stimmung  stehen,  bedarf  wol  kaum  des  besonderen  Hinweises. 
Lassen  wir  für  diese  Betrachtung  die  Ausbreitung  der  Schädigung 
auf  andere  Gebiete  des  Nervensystems  zunächst  ausser  Acht,  so  be- 
trifft die  Vergiftung  wesentlich  die  Ganglienzellen  und  das  graue  Netz 
in  der  Hirnrinde.  Der  Untergang  der  markhaltigen  Fasern  und  die 
Wucherung  der  Neuroglia  würden  als  die  weiteren  Folgen  des  Zellen- 
schwundes  anzusehen  sein. 

Das  Gift,  mit  welchem  wir  es  hier  zu  thun  haben,  muss  im 
Blute  kreisen.  Dafür  spricht  einmal  die  weite  Verbreitung  der 
Schädigung,  dann  aber  wol  auch  die  häufige  Betheiligung  der  Blut- 
gefässe an  dem  Krankheitsvorgange.  Man  könnte  sogar  geradezu 
daran  denken,  wie  es  häufig  geschehen  ist,  dass  erst  die  Erkrankung 
der  Hirngefässe  den  eigentlichen  Anstoss  zu  der  schweren  Ernährungs- 
störung gebe,  die  wir  an  den  Ganglienzellen  sich  abspielen  sehen. 
Dieser  Gedanke  liegt  um  so  näher,  als  die  Schädlichkeiten,  welchen 
gewöhnlich  die  Entstehung  der  Paralyse  zugeschrieben  wird  (Syphilis. 
Alkohol,  Gemüthsbewegungen),  alle  gemeinsam  eine  schwächende 
Wirkung  auf  die  Muscularis  der  Gefässwand  auszuüben  im  Stande 
sind.  Gerade  die  Erschlaffung  der  Muscularis  aber  giebt,  wie  Thorua 
nachgewiesen  hat,  den  regelmässigen  Anlass  zur  Entstehung  end- 
arteriitischer  Erkrankungen,  wie  wir  sie  im  paralytischen  Gehirne 
so  häufig  beobachten.  Allein  es  muss  darauf  hingewiesen  werden, 
dass  einerseits  die  Gefässerkrankimgen  eine  zwar  häufige,  aber 
keineswegs  ausnahmslose  Begleiterscheinung  des  paralytischen  Krank- 
heitsvorganges darstellen  und  jedenfalls  keine  bestimmte  Beziehung 
zu  dem  sonstigen  anatomischen  oder  klinischen  Bilde  erkennen 
lassen.  Andererseits  aber  begegnen  uns  vielfach  noch  weit  stärkere 
Veränderungen  an  den  Gefässen,  ohne  dass  die  eigenartige  Störung 
der  Paralyse  zu  Stande  käme. 

Vielmehr  weist  uns  das  ganze  klinische  Bild  der  Paralyse,  wie 


Wesen  der  Krankheit. 


291 


ich  meine,  mit  grosser  Bestimmtheit  darauf  hin,  dass  es  sich  hier 
um  eine  schwere  allgemeine  Ernährungsstörung  handelt,  bei 
welcher  die  Hirnerkrankung  zwar  die  wichtigste  und  auffallendste, 
aber  doch  nur  eine  Theilerscheinung  darstellt.  Zur  näheren  Be- 
gründung dieses  früher  schon  kurz  ausgesprochenen  Satzes  sei  zu- 
nächst auf  die  ganze  Reihe  von  Störungen  hingewiesen,  welche  die 
Paralyse,  im  Gegensatz  zu  den  reinen  Hirnerkrankungen,  in  den 
verschiedensten  Theilen  des  Körpers  hervorruft.  Dahin  gehören 
ausser  den  Gefässveränderungen  die  häufigen  Erkrankungen  des 
Herzens  oder  der  Nieren,  die  vielleicht  zum  Theil  mit  jenen  ersteren 
in  einem  gewissen  Zusammenhänge  stehen  mögen,  zum  Theile  jedoch 
unmittelbar  auf  tiefgreifende  Schädigungen  der  gesammton  Ernährungs- 
vorgänge hinweisen.  Sicherlich  werden  solche  Schädigungen  nicht 
etwa  erst  durch  das  Verhalten  der  Kranken  herbeigeführt,  sondern 
sie  müssen  in  dem  Krankheitsvorgange  selber  begründet  sein.  Dafür 
zeugt  die  Thatsache,  dass  wir  jene  Erkrankungen  bei  anderen  Formen 
des  Irreseins  nicht  wiederfinden,  obgleich  dieselben  mit  den  gleichen 
ungünstigen  Umständen,  mit  Aufregung,  Schlaflosigkeit,  Nahrungs- 
verweigerung u.  s.  f.  einhergehen.  Dasselbe  gilt  für  die  so  sehr 
in  die  Augen  fallenden  Störungen,  die  man  als  „trophische“  von  dem 
Erkrankungsvorgange  im  Nervengewebe  abhängig  gedacht  hat.  Diese 
Erklärung  kann  nur  in  sehr  beschränktem  Maasse  und  höchstens  für 
den  Druckbrand  zugestanden  werden.  Die  erhöhte  Brüchigkeit  der 
Knochen  finden  wir  bei  keiner  einzigen  örtlichen  Hirnerkrankung 
wieder,  wol  aber  bei  verschiedenen  allgemeinen  Ernährungsstörungen, 
insbesondere  bei  den  Greisenveränderungen. 

Auch  die  gewaltigen  Schwankungen  des  Körpergewichtes,  die 
schlechterdings  nicht  aus  dem  äusseren  Verhalten  der  Kranken  zu 
erklären  sind,  sprechen  für  Krankheitsursachen,  Avelche  den  Allgemein- 
zustand des  Körpers  entscheidend  beeinflussen.  Nimmermehr  kann 
uns  der  Untergang  des  Nervengewebes  bei  der  Paralyse  erklären, 
dass  die  Kranken  zu  gewissen  Zeiten  von  einem  Heisshunger  be- 
fallen werden,  dessen  rücksichtslose  Befriedigung  zu  einer  ungeheuer- 
lichen Fettansammlung  im  Körper  führt,  während  gegen  das  Ende 
des  Leidens  wieder  binnen  kurzer  Zeit  die  denkbar  höchsten  Grade 
der  Abmagerung  erreicht  werden.  Bei  keiner  anderen  Hirnerkran- 
kung begegnet  uns  Aehnliches.  Dagegen  werden  wir  lebhaft  an  die 
Erscheinungen  bei  gewissen  Stoffwechselerkrankungen  erinnert,  ins- 

19* 


292 


VI.  Die  Domeutia  paralytica. 


besondere  an  das  Myxödem  und  den  Diabetes.  Hat  doch  v.  Noorden 
gezeigt,  dass  der  übermässige  Fettansatz  vielfach  geradezu  auf 
eine  verminderte  Lebhaftigkeit  der  Yerbrennungsvorgänge  im 
Körper  zurückweist,  die  durch  allgemeinere  Stoffwechselstörungen 
bedingt  ist. 

Wir  haben  ferner  an  jene  früher  angeführten  Beobachtungen 
zu  denken,  welche  für  tiefer  greifende  Veränderungen  im  Verhalten 
des  Blutes  sprechen.  Ebenso  würden  die  gelegentlichen  Steigerungen 
wie  die  dauernden  Senkungen  der  Körperwärme,  die  man  meist  auf 
Schädigungen  der  Wärmeregulirungscentren  zurückzuführen  pflegt, 
wrol  ungezwungener  als  Vergiftungserscheinungen  aufzufassen  sein. 
Entsprechende  Störungen  sind  uns  ja  von  anderen  Vergiftungen  her 
genugsam  bekannt.  Man  denke  nur  an  die  Eklampsie  einerseits, 
an  das  Myxödem  andererseits.  Aber  auch  die  paralytischen  Anfälle 
selbst  vertragen  kaum  eine  andere  Erklärung,  als  diejenige  durch 
Vergiftung.  In  den  urämischen,  den  eklamptischen  Anfällen,  in  den 
epileptiformen  Anfällen  nach  Schilddrüsenausschneidung,  im  Koma 
diabeticum  haben  wir  so  zahlreiche  Beispiele  für  eine  solche  Ent- 
stehungsweise vor  uns,  dass  wir  diese  Annahme  jedenfalls  als  die 
nächsthegende  und  am  besten  beglaubigte  betrachten  dürfen.  Der 
gelegentliche  stürmische  Zerfall  der  Zehen,  wie  er  von  Nissl  ana- 
tomisch im  einzelnen  festgestellt  und  von  Lissauer  geradezu  als 
Grundlage  der  paralytischen  Anfähe  betrachtet  wurde,  würde  einer 
solchen  plötzlich  ein  tretenden  Ueberschwemmung  mit  dem  Krank- 
heitsgifte bestens  entsprechen.  Vielleicht  können  wir  hier  auch  an 
die  von  Kemmler  studirten  rhythmischen  Zuckungen  in  Folge  des 
Anpralles  der  Blutwelle  erinnern.  Freilich  ist  mit  Recht  darauf 
hingewiesen  worden,  dass  gerade  die  paralytischen  Anfälle  die 
Kennzeichen  örtlicher  Reizerscheinungen  tragen,  die  darum  schwer- 
lich auf  allgemeine  Giftwirkungen  zurückgeführt  werden  könnten. 
Wir  dürfen  uns  aber  nach  Ausweis  des  mikroskopischen  Bildes 
vorstellen,  dass  sich  das  Rindengewebe  des  Paralytikers  vielfach  in 
ganz  verschiedenen  Stufen  der  Erkrankung  befindet;  ein  im  Blute 
kreisendes  Gift  könnte  daher  recht  wol  zunächst  nur  in  bestimmten, 
gerade  besonders  empfindlichen  Gegenden  Reizerscheinungen  aus- 
lösen,  die  sich  erst  allmählich  weiter  ausbreiten.  Man  könnte  sogar 
versucht  sein,  den  Unterschied  zwischen  apoplektiformen,  allgemeinen 
lind  umgrenzten  epileptiformen  Krämpfen  auf  das  wechselnde  Ver- 


Wesen  der  Krankheit. 


293 


Mltniss  zwischen  Stärke  der  Giftwirkung  und  örtlicher  Empfindlich- 
keit zurückzuführen. 

Alle  die  angeführten  Erfahrungen  werden,  wie  ich  meine,  nur 
dann  verständlich,  wenn  die  Paralyse,  indem  sie  die  gesammten 
Ernährungsvorgänge  und  nach  Umständen  eine  Reihe  von  Organen, 
Gefässe,  Herz,  Nieren,  Knochengewebe,  in  Mitleidenschaft  zieht,  zu- 
gleich ein  Gift  erzeugt,  welches  weite  Bezirke  des  Nervensystems 
vernichtet.  Kein  Gebiet  scheint  völlig  unverletzlich  zu  sein,  doch 
bestehen  hinsichtlich  der  “Widerstandsfähigkeit  der  einzelnen  Gebiete 
und  Zellen  vielfache  Unterschiede.  Der  gleichen  Erfahrung  be- 
gegnen wir  bei  anderen  Vergiftungen,  z.  B.  derjenigen  mit  Alkohol. 
Auch  durch  ihn  werden  bei  verschiedenen  Menschen  nicht  immer 
dieselben  psychischen  und  nervösen  Störungen,  und  sie  werden 
nicht  immer  in  derselben  Reihenfolge  erzeugt.  Wie  es  scheint,  ge- 
langt das  paralytische  Gift,  ähnlich  dem  urämischen  und  dem 
diabetischen,  nicht  dauernd  oder  doch  nicht  immer  in  grösseren 
Mengen  in  die  Blutbahn.  Vielmehr  dürfte  zeitweise  ein  Stillstand 
in  seiner  Erzeugung  eintreten,  während  zu  anderen  Zeiten  reich- 
lichere Mengen  den  Organen  zugeführt  werden.  So  wenigstens 
würden  sich  am  einfachsten  die  Nachlässe  und  Besserungen  der 
Krankheit  einerseits,  die  Anfälle  und  Verschlimmerungen  anderer- 
seits erklären.  Dass  sowol  Nachlässe  wie  Steigerungen  der  Krank- 
heitserscheinungen durch  äussere  Verhältnisse  einigermassen  beein- 
flusst werden,  darf  uns  dabei  nicht  Wunder  nehmen.  Gerade  wenn 
der  allgemeine  Haushalt  des  Körpers  durch  die  Krankheit  wesentlich 
gestört  ist,  wird  es  leicht  verständlich,  dass  günstige  hygienische 
Verhältnisse,  Ruhe,  regelmässiges  Leben,  sorgfältige  Ernährung 
einen  Ausgleich  der  Störung  erleichtern,  Ueberanstrengungen,  Aus- 
schweifungen, Gemüthsbewegungen  denselben  erschweren  müssen. 
Dazu  kommt,  dass  natürlich  auch  die  Widerstandsfähigkeit  des 
Nervengewebes  gegen  die  andringende  Schädlichkeit  in  beiden  Fällen 
eine  sehr  verschiedene  sein  muss. 

Die  hier  durchgeführte  Auffassung  der  Paralyse  bringt  die 
Krankheit,  wie  man  ohne  weiteres  übersieht,  in  eine  gewisse  Ver- 
wandtschaft mit  dem  Myxödem  und  weiterhin  mit  Diabetes,  Osteo- 
malacie,  Akromegalie.  Bei  diesen  letzteren  Krankheiten  vermag 
allerdings  das  zweifellos  im  Körper  kreisende  Gift  nicht  das  Nerven- 
gewebe zu  zerstören.  Dagegen  haben  wir  früher  in  der  Dementia 


294: 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


praecox  eine  Form  des  Irreseins  kennen  geleimt,  welche  nach  den 
verschiedensten  Richtungen  hin  das  Bindeglied  zwischen  dem 
Myxödem  und  der  Paralyse  zu  bilden  geeignet  ist.  Rur  war  dort 
das  vermuthete  Gift  ausser  Staude,  andere,  als  die  Träger  ganz  be- 
stimmter Verrichtungen  des  Hirns  zu  vernichten;  das  Urtheil,  die 
Gefühlsbetonung  und  die  Willensentschliessungen  wurden  in  erster 
Linie  in  Mitleidenschaft  gezogen,  während  Gedäclitniss  und  Auf- 
fassung verhältnissmässig  wenig  litten.  Aeknlich  sehen  wir  etwa 
das  Morphium  in  gewisser  Beziehung  die  gleichen  psychischen 
Störungen  erzeugen  wie  der  Alkohol;  andere,  die  Gewalttätigkeit, 
die  Wahnbildungen,  die  Gedäcktnisssclwäche,  ferner  die  neuritiseben 
Erkrankungen,  die  Epilepsie  kommen  auch  bei  dem  längstdauernden 
Missbrauche  des  Mittels  nie  zu  Stande.  Yon  besonderer  Bedeutung 
aber  erscheint  es  mir,  dass  bei  der  Dementia  praecox  nicht  nur 
ganz  ähnliche  psychische  Krankheitsbilder  zur  Entwicklung  kommen 
können  wie  bei  der  Paralyse,  die  einleitende  Verstimmung,  der 
Grössen  wahn,  die  Hypochondrie,  die  einfache  Verblödung  u.  s.  f., 
sondern  dass  auch  Anfälle,  freilich  meist  leichterer  Art,  centrale 
Sprachstörungen,  Pupillenveränderungen,  endlich  jene  auffallenden 
Schwankungen  des  Körpergewichts  sich  dort  wiederfinden,  welche 
diese  beiden  Krankheitsgruppen  vor  anderen  auszeichnen. 

Wir  stehen  nunmehr  aber  vor  der  Frage,  wie  weit  sich  die 
hier  vertretene  Anschauung  mit  den  bisher  über  die  Entstehung  der 
Paralyse  bekannten  Thatsacken  in  Uebereinstimmung  bringen  lässt 
Hauptsächlich  werden  wir  uns  dabei  nur  mit  der  Verursachung  durch 
Syphilis  abzufinden  haben,  da  alle  sonstigen  Ursachen  der  Paralyse 
theils  überhaupt  unsicher,  tlieils  doch  nur  als  unterstützende  Ein- 
wirkungen zu  betrachten  sind. 

Allerdings  hat  Binswanger*)  den  Satz  aufgestellt,  dass  wil- 
den paralytischen  Krankheitsvorgang  „unbestritten  als  die  Folge- 
erscheinung einer  functioneilen  Ueberanstrengung  des  Central- 
nervensystems und  dabei  in  erster  Linie  der  Grosshirnrinde1“  zu 
betrachten  haben.  Ich  kann  dieser  Auffassung  nicht  zustimmen. 
Wir  kennen  in  der  Hauptsache  die  Krankheitsbilder,  welche  durch 
Erschöpfung  erzeugt  werden,  ziemlich  gut;  sie  entsprechen  in  keiner 
Weise  der  Paralyse.  Auch  die  besonderen  Entstehungsbedingungen 


*)  Berliner  klinische  Wochenschrift,  1894,  49. 


Wesen  der  Krankheit. 


295 


des  Leidens  bieten  für  die  erwähnte  Annahme  schwerlich  eine  Be- 
stätigung. Es  ist  zwar  richtig,  dass  dauernde  gemüthliche  Erregungen 
anscheinend  die  Entwicklung  der  Paralyse  begünstigen;  doch  lässt 
sich  gewiss  nicht  erweisen,  dass  sie  wirkliche  Ursachen  der  Krank- 
heit sind,  mag  man  der  Verschiedenheit  der  persönlichen  Wider- 
standsfähigkeit einen  noch  so  grossen  Spielraum  zugestehen.  Sehen 
wir  doch  zahllose  kräftige  Männer  paralytisch  erkranken,  die  in  den 
einfachsten  und  geregeltsten  Verhältnissen  leben,  während  anderer- 
seits die  grösste  Anspannung  der  geistigen  und  gemüthlichen  Leistungs- 
fähigkeit zwar  regelmässig  alle  Störungen  der  nervösen  Erschöpfung, 
aber  nicht  Paralyse  herbeiführt.  AVas  aber  meines  Erachtens  die 
Frage  entscheidet,  ist  der  Umstand,  dass  Ermüdung  und  Erschöpfung, 
so  viel  wir  wissen,  sicher  vorübergehende,  vielleicht  unter  Um- 
ständen auch  einmal  dauernde  Schädigungen,  nicht  aber  einen  fort- 
schreitenden Krankheitsvorgang  erzeugen  können.  Fällt  die  Ur- 
sache fort,  so  hört  die  Wirkung  auf  — diesen  Satz  finden  wir 
gerade  bei  den  Störungen  nach  Erschöpfung  überall  bewahrheitet, 
auch  dort,  wo  schwere  Schädigungen  voraufgegangen  waren.  Es 
wäre  nicht  zu.  verstehen,  warum  Ueberanstrengungen,  die  in  keiner 
Weise  das  Durchschnittsmaass  überschreiten,  so  ungemein  häufig 
eine  Erkrankung  der  Hirnrinde  herbeiführen  sollten,  die  trotz  vollster 
geistiger  Ruhe  sich  nicht  bessert,  sondern  unaufhaltsam  bis  zur  Ver- 
nichtung fortschreitet. 

Dem  gegenüber  ist  die  Rolle  der  Syphilis  offenbar  eine  durchaus 
■wesentliche.  Es  hat  daher  in  älterer  wie  in  neuerer  Zeit  auch  nicht  an 
Forschern  gefehlt,  welche  die  Paralyse,  ebenso  wie  die  ihr  offenbar 
nahe  verwandte  Tabes,  einfach  als  syphilitische  Erkrankung  des  cen- 
tralen Nervensystems  auffassen  zu  können  glaubten.  Strümpell 
hat  die  Paralyse  in  Parallele  mit  den  diphtherischen  Lähmungen 
gestellt,  indem  er  annahm,  dass  dort  wie  hier  durch  den  lebenden 
Ansteckungsträger,  also  bei  der  Paralyse  den  Syphiliskeim,  nach 
Ablauf  des  ersten  Kraukheitsabsclmittes  ein  chemisches  Gift  erzeugt 
werde,  welches  nun  in  eigenthümlicher  Weise  auf  die  verschiedenen 
'Abschnitte  des  Nervensystems  zerstörend  einzuwirken  im  Stande  sei. 
Auch  Möbius  hält  Tabes  und  Paralyse  geradezu  für  Nachkrank- 
heiten der  Syphilis.  Leider  gestatten  die  heute  vorliegenden  That- 
sachen  eine  so  einfache  Deutung,  wie  mir  scheint,  noch  nicht.  Selbst 
wenn  wir  die  Annahme  machen  wollten,  dass  alle  „wahren  Paralysen“ 


296 


VI.  Die  Dementia  paralytiea. 


mit  der  Syphilis  in  ursächlichem  Zusammenhänge  stehen,  so  er- 
wachsen dem  "Verständnisse  doch  noch  eine  Reihe  von  Schwierig- 
keiten. Erstens  lehrt  uns  die  anatomische  Untersuchung,  dass  bei 
den  paralytischen  Veränderungen  von  eigentlicher  Syphilis  keine 
Rede  sein  kann.  Zwar  finden  wir  nicht  so  selten  Infiltrationen  der 
Gefässwandungen,  die  als  gummöse  Erkrankungen  aufgefasst  werden 
dürfen,  vereinzelt  auch  einmal  ein  grösseres  Gumma;  dagegen  ent- 
spricht der  Erkrankungsvorgang  in  der  Hirnrinde  in  keiner  Weise 
den  uns  sonst  bekannten  Einwirkungen  der  Syphilis.  Dazu  kommt, 
dass  die  Paralyse  durch  antiluetische  Behandlung  erfahrungsgemäss 
nicht  zum  Stillstände  gebracht,  noch  weniger  gebessert,  geschweige 
denn  geheilt  werden  kann.  In  den  nicht  ganz  seltenen  Fällen,  in 
denen  die  Zeichen  einer  fortbestehenden  Lues  vorhanden  sind,  sehen 
wir  diese  letzteren  auf  Quecksilber  und  Jodkalium  in  gewohnter 
Weise  schwinden,  während  die  paralytischen  Störungen  völlig  un- 
berührt bleiben  oder  sich  gar  verschlimmern.  Endlich  aber  ist  zu 
berücksichtigen,  dass  die  Paralyse  der  syphilitischen  Ansteckung 
regelmässig  erst  nach  recht  langer  Zeit,  meist  nach  mehr  als  einem 
Jahrzehnte,  zu  folgen  pflegt. 

Aus  diesen  Thatsachen  geht  mit  Bestimmtheit  soviel  hervor, 
dass  die  Paralyse  schwerlich  eine  einfache  syphilitische  Erkrankung 
sein  kann.  Dagegen  muss  sie  im  Stande  sein,  innerhalb  längerer 
Zeiträume  auf  irgend  welche  Weise  eine  tiefgreifende  Stoffwechsel- 
erkrankung herbeizuführen,  die  als  solche  mit  der  Syphilis  nichts 
mehr  zu  thun  hat  und  ihrerseits  ein  Gift  erzeugt,  das  wir  als  die 
letzte  Ursache  der  paralytischen  Veränderungen  anzusehen  haben. 
Eine  solche  Annahme  würde,  so  viel  ich  sehe,  allen  besprochenen 
Schwierigkeiten  der  Erklärung  weitaus  am  besten  gerecht  werden. 
Freilich  können  wir  uns  über  das  Wesen  des  Bindegliedes  zwischen 
Lues  und  Paralyse  heute  noch  keine  bestimmteren  Vorstellungen 
machen,  doch  möchte  ich  daran  erinnern,  dass  z.  B.  auch  Myxödem 
durch  die  Syphilis  erzeugt  werden  kann,  wenn  die  Krankheit  gerade 
die  Schilddrüse  zerstört.  Auch  hier  wird  sich  das  Myxödem  erst  lange 
nach  der  syphilitischen  Ansteckung  entwickeln,  da  ihm  die  völlige  Ver- 
nichtung der  Drüse  voraufgehen  muss;  auch  hier  ist  die  antiluetische 
Behandlung  machtlos  geworden,  trotzdem  sie  andere  gleichzeitige 
Zeichen  der  Syphilis  glatt  beseitigt.  Auch  hier  endlich  haben  die 
anatomischen  Veränderungen  nicht  die  geringsten  Beziehungen  mehr 


Erkennung. 


297 


zu  der  ursprünglichen  Syphilis.  Andererseits  kann  die  Schilddrüse 
auch  durch  Tuberculose,  durch  Geschwulstbildungen,  durch  das 
endemische  Gift  des  Kretinismus  und  wol  noch  durch  eine  Reihe 
von  weiteren  Krankheitsvorgängen  zerstört  werden.  Aehnlich  sehen 
wir  die  Addison’sche  Krankheit,  ebenfalls  eine  allgemeine  Er- 
nährungsstörung, oftmals  durch  die  Tuberculose  erzeugt  werden,  ob- 
gleich diese  letztere  mit  jenem  Leiden  nicht  die  geringste  Verwandt- 
schaft besitzt.  So  wäre  es  denkbar,  dass  auch  die  gleiche,  der 
Paralyse  zu  Grunde  liegende  Allgemeinerkrankung  auf  verschiedenen 
Wegen  zu  Stande  kommen  könnte,  von  denen  derjenige  der  lueti- 
schen Ansteckung  nur  der  gangbarste  ist.  Damit  endlich  würde 
die  Thatsache  begreiflich,  dass  uns  die  Syphilisstatistik  immer  noch 
in  einer  ziemlich  grossen  Zahl  von  Fällen  im  Stiche  lässt. 

Die  Erkennung  der  Paralyse*)  ist  eine  der  wichtigsten 
Aufgaben  des  Irrenarztes,  weil  von  ihr  fast  immer  sehr  ein- 
schneidende Massregeln,  namentlich  auch  wirthschaftlicher  Natur 
(Entmündigung,  Auflösung  von  Geschäften),  abhängig  sind.  Die 
grössten  Schwierigkeiten  erwachsen  natürlich  im  ersten  Beginne, 
so  lange  körperliche  wie  psychische  Störungen  noch  unbestimmte 
sind.  Hier  gilt  zunächst  die  Regel,  dass  man  bei  geistigen  Er- 
krankungen, die  ohne  greifbare  Ursache  erstmals  in  mittleren  Lebens- 
jahren auftreten,  besonders  bei  Männern,  immer  an  die  Möglichkeit 
einer  Paralyse  denken  soll.  Von  körperlichen  Zeichen  sind  fast 
unbedingt  beweisend  reflectorische  Pupillenstarre  und  die  eigenartige 
Sprachstörung.  Nach  Siemerlings  Zusammenstellung  betraf  die 
Pupillenstarre  bei  Geisteskranken  in  92  °/0  der  Fälle  Paralytiker. 
Ebenso  dürfte  die  Unfähigkeit  zur  richtigen  Zusammenordnung  der 
Wörter,  Silben  und  Buchstaben  nahezu  oder  ganz  ausschliesslich 
der  Paralyse  angehören,  während  die  aphasischen  Störungen  be- 
kanntlich auch  anderen  Hirnerkrankungen  zukommen,  die  rein  arti- 
culatorischen  aber  zudem  angeboren  sein  können.  Auch  die  para- 
lytischen Anfälle  sind  ungemein  wichtige  Zeichen  der  Krankheit; 
doch  ist  es  begreiflicherweise  nöthig,  im  gegebenen  Falle  die  Möglich- 
keit epileptischer,  alkoholischer,  urämischer,  diabetischer  Anfälle  aus 
der  Art  derselben,  aus  der  Vorgeschichte  und  durch  die  körper- 
liche Untersuchung  auszuschliessen.  Anfälle  mit  vorübergehender 


*)  Hoc  he  , Die  Frühdiagnose  der  progressiven  Paralyse.  1896. 


298 


VI.  Dii  Dementia  paralytica. 


Aphasie  oder  rasch  schwindenden  Lähmungen  sind  stets  in  höchstem 
Grade  der  Paralyse  verdächtig.  Nicht  ganz  selten  gehen  einzelne 
körperliche  Krankheitszeichen  dem  Auftreten  der  psychischen  Ver- 
änderungen lange  Zeit  voraus.  Thomsen  hat  Fälle  berichtet,  in 
denen  Pupillenstarre,  Augcnmuskellähmungen , aphasische  oder  epi- 
leptiforme  Anfälle,  Verschlechterung  der  Sprache  5,  7,  ja  10  und 
11  Jahre  vor  dem  eigentlichen  Ausbruche  der  Krankheit  beobachtet 
wurden.  Ich  kann  diese  Angaben  durchaus  bestätigen.  Man  wird 
daher  beim  Auftreten  derartiger  Erscheinungen  immer  auf  die  all- 
mähliche Entwicklung  einer  Paralyse  gefasst  sein  müssen,  auch 
wenn  sich  zunächst  Jahre  lang  keine  weiteren  Erscheinungen  geltend 
machen. 

Wo  psychische  Veränderungen  neben  den  angeführten  kenn- 
zeichnenden körperlichen  Störungen  vorhanden  sind,  zu  denen 
noch  als  weniger  wrerthvoll  Steigerung  oder  seltener  Fehlen  der 
Kniesehnenreflexe  und  Herabsetzung  der  Schmerzempfindlichkeit 
hinzuzufügen  wären,  wird  im  allgemeinen  die  Aufdeckung  der 
Krankheit  keine  Schwierigkeiten  bieten.  Wir  sind  aber  that- 
sächlich  sehr  häufig  in  der  Lage,  die  Diagnose  der  Paralyse  aus- 
schliesslich oder  wesentlich  aus  dem  psychischen  Zustande  stellen 
zu  müssen.  Einzelne  Fehlgriffe  sind  dabei  unausbleiblich,  doch 
ist  die  Zuverlässigkeit  auch  dieser  Merkmale  eine  recht  grosse. 
In  erster  Linie  steht  dabei  die  Störung  des  Gedächtnisses  und 
der  Merkfähigkeit,  weiterhin  die  Urtheilsschwäche,  die  Gemüths- 
stumpfheit,  die  Beeinflussbarkeit  der  Stimmung  und  die  Bestimm- 
barkeit des  Handelns. 

Alle  diese  Zeichen  werden  bei  der  Abgrenzung  der  Paralyse 
von  der  Neurasthenie  zu  beachten  sein,  die  in  den  ersten  Zeiten 
der  Krankheit  zuweilen  ebenso  schwierig  wie  durch  die  Sachlage 
dringend  gefordert  erscheint.  Wir  haben  der  einzelnen  Unter- 
scheidungsmerkmale bereits  bei  Besprechung  der  nervösen  Er- 
schöpfung gedacht,  möchten  aber  hier  noch  hinzufügen,  dass  den 
Klagen  über  gelegentlichen  Schwindel,  leichtem  Stottern,  Zittern  der 
Zunge  und  mässiger  Steigerung  der  Sehnemeflcxe  keine  schwer- 
wiegende diagnostische  Bedeutung  zukommt.  Klare  Einsicht  und 
Verständniss  für  die  Krankheitserscheiuungon,  nachhaltiges  Streben 
nach  Beseitigung  derselben,  Zugänglichkeit  für  vernünftigen  Zu- 
spruch, fortschreitende  Besserung  durch  angemessene  Erholung 


Erkennung. 


299 


sprechen  für  Neurasthenie,  während  der  Paralytiker  manche  deut- 
liche Störungen  (Gedächtnissschwäche,  Reizbarkeit)  selbst  vielleicht 
gar  nicht  beachtet,  dafür  andere  in  hypochondrischer  Weise  vor- 
bringt, Belehrungen  nur  unvollkommen  versteht  und  verarbeitet,  im 
Vergleiche  zu  seinen  lebhaften  Klagen  merkwürdig  wenig  gegen 
seine  Krankheit  unternimmt,  keine  Behandlung  zu  Ende  führt  und 
durch  einfaches  Ausspannen  oft  gar  nicht  gebessert  wird. 

Sehr  gross  kann  öfters  die  äusserliche  Aehnlichkeit  der  para- 
lytischen Depression  mit  anderen,  sonst  ganz  verschiedenartigen 
Zuständen  sein.  Die  Abgrenzung  von  der  Melancholie  kommt 
namentlich  beim  weiblichen  Geschlechte  in  Frage,  bei  dem  ohnedies 
depressive  Paralysen  ziemlich  häufig  sind;  bei  Männern  wird  wegen 
der  grossen  Seltenheit  wirklicher  Melancholien  vor  dem  50.  Jahre 
schon  das  Lebensalter  einen  gewissen  Anhalt  geben.  Für  Paralyse 
spricht  ferner  der  Nachweis  auffallender  Schwäche  des  Urtheils,  der 
Stimmung,  des  Handelns  und  ganz  besonders  des  Gedächtnisses, 
mangelhafte  zeitliche  Orientirung,  Verständnisslosigkeit  für  die 
Umgebung  und  die  Sachlage,  Unsinnigkeit  und  Zusammenhangs- 
losigkeit der  Wahnbildungen.  Allerdings  treten  bei  Frauen  in  den 
50er  Jabren,  wo  die  Paralyse  noch  vielfach  beobachtet  wird,  auch 
in  der  Melancholie  öfters  schon  die  Zeichen  einer  psychischen 
Schwäche  deutlich  hervor.  Wenn  hier  nicht  das  Verhalten  des  Ge- 
dächtnisses die  Sachlage  klärt,  kann  die  sichere  Abgrenzung  der 
Paralyse  von  der  Melancholie  auf  Grund  des  psychischen  Bildes 
allein  in  der  ersten  Zeit  unmöglich  werden.  Ver werthbar  ist  bis- 
weilen auch  die  Entwicklung  des  Leidens,  die  bei  der  Paralyse  eine 
allmählichere  und  schleichendere  zu  sein  pflegt,  als  bei  der  Melan- 
cholie. Den  Ausschlag  aber  wird  meist  das  Auffinden  dieses  oder 
jenes  entscheidenden  körperlichen  Krankheitszeichens  geben  müssen. 

Aehnliches  gilt  von  der  Unterscheidung  der  Paralyse  gegenüber 
den  Depressionszuständen  des  manisch-depressiven  Irreseins.  Wo  frei- 
lich die  Vorgeschichte  frühere  manische  oder  depressive  Erkrankungen 
aufweist,  ist  die  Erkennung  leicht.  Da  sich  aber  die  ersten  Anfälle 
eines  manisch-depressiven  Irreseins  auch  in  mittlerem  und  höherem 
Lebensalter  zeigen  können,  so  ist  man  bei  der  Diagnose  nicht  selten 
auf  das  Zustandsbild  allein  angewiesen.  Bei  besonnenen  und  ge- 
ordneten Kranken  wird  der  Nachweis  oder  das  Fehlen  der  Ge- 
dächtnisstörung, der  Urtheilsschwäehe  und  der  Bestimmbarkeit  von 


300 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


besonderer  Bedeutung  sein.  Einfacher  Stimmungswechsel  und  das 
gelegentliche  Auftauchen  von  Bewegungsdrang  und  leichten  Grössen- 
ideen ist  wegen  der  Möglichkeit  des  Umschlagens  in  einen  manischen 
Zustand  nur  mit  grösster  Vorsicht  für  die  Annahme  einer  Paralyse 
zu  verwerthen.  Die  Diagnose  bei  Stuporzuständen  wird  im  all- 
gemeinen zu  berücksichtigen  haben,  dass  circulare  Kranke  einerseits 
etwas  besser  aufzufassen  pflegen,  als  paralytische,  andererseits  mo- 
torisch gebundener  sind.  Sie  folgen  daher  den  Vorgängen  in  der 
Umgebung  mit  grösserer  Aufmerksamkeit,  gerathen  leichter  in  Angst, 
wenn  man  sie  etwa  mit  einer  Nadel  bedroht,  bewegen  sich  aus 
freien  Stücken  wenig  und  langsam,  doch  macht  sich  die  innere  Er- 
regung bisweilen  in  flüsternden  Selbstgesprächen  Luft.  Dem  gegen- 
über kümmern  sich  stuporöse  Paralytiker  wenig  um  die  Aussen  weit, 
beachten  auch  drohende  Gefahren  kaum,  sind  in  ihren  Bewegungen 
freier,  entweder  unruhig,  ängstlich  oder  stumpf,  unzugänglich.  Es 
ist  aber  im  einzelnen  Falle  natürlich  nicht  immer  möglich,  sich  über 
die  inneren  Vorgänge  der  Kranken  soweit  Klarheit  zu  verschaffen, 
dass  die  Unterscheidung  ohne  Berücksichtigung  der  freilich  auch 
vielfach  unsicheren  körperlichen  Zeichen  rasch  und  zuverlässig 
durchführbar  wäre. 

Die  expansiven  Erregungszustände  der  Paralytiker  können  zu 
Verwechselungen  mit  manischen  Erkrankungen  Anlass  geben.  Ab- 
gesehen von  den  körperlichen  Zeichen  sprechen  Unfähigkeit,  sich 
neue  Eindrücke  einzuprägen,  Unsicherheit  in  den  Zeitangaben  und 
in  den  Schulkenntnissen  (Rechnen),  abenteuerliche  und  widerspruchs- 
volle Wahnbild ungen,  grosse  Beeinflussbarkeit  der  Stimmung,  Lenk- 
samkeit des  Willens  für  Paralyse.  Auch  in  der  Manie  werden 
übrigens  nicht  selten  Wahnvorstellungen  vorgebracht,  die  inhaltlich 
ganz  an  diejenigen  der  Paralytiker  erinnern,  aber  man  merkt  meist 
bald,  dass  die  Kranken  mit  ihnen  mehr  spielen,  aufschneiden,  ver- 
blüffen wollen,  sie  nicht  mit  der  naiven  Ueberzeugtheit  Vorbringen 
wie  die  Paralytiker.  Manische  Kranke  haben  ein  weit  besseres 
Verständniss  für  ihre  Lage,  pflegen  lebhaft  nach  Hause  zu  verlangen, 
Thatendrang  zu  zeigen,  lassen  sich  nicht  so  leicht  beschwichtigen 
und  vertrösten  wie  paralytische.  In  den  ganz  schweren  Erregungs- 
zuständen ist  die  Auffassung,  die  Orientirung  und  der  Gedanken- 
zusammenhang bei  den  Paralytikern  erheblich  stärker  getrübt,  als 
bei  manischen  Kranken.  Nicht  selten  wird  hier  auch  die  Vor- 


Erkennung. 


301 


geschichte,  das  frühere  Auftreten  manischer  oder  depressiver  Er- 
krankungen, Anhaltspunkte  für  die  Diagnose  liefern. 

Manche  sein  plötzlich  auftretende  Erregungszustände  der  Para- 
lytiker können  für  Delirium  tremens  gehalten  werden,  besonders 
wenn  Alkoholmissbrauch  vorlag.  Im  allgemeinen  sind  die  Para- 
lytiker dabei  schwerer  benommen,  geben  weniger  Auskunft,  zeigen 
auch  nicht  die  eigenthümliche  Mischung  von  Angst  und  Humor, 
die  wir  so  oft  bei  Alkoholdeliranten  finden.  Bisweilen  wird  uns 
aber  erst  die  nach  dem  Schwinden  des  Deliriums  zurückbleibende 
psychische  Schwäche  über  die  paralytische  Grundlage  des  Krank- 
heitsbildes aufklären,  wenn  nicht  Vorgeschichte  oder  körperliche 
Anzeichen  darauf  schon  hingewiesen  haben. 

Auf  die  Unterscheidung  der  Paralyse  von  der  Amentia  brauchen 
wir  wol  kaum  des  näheren  noch  einzugehen.  Es  dürfte  ge- 
nügen, auf  den  Anschluss  der  Amentia  an  schwere  erschöpfende 
Schädigungen,  auf  die  Erhaltung  der  Aufmerksamkeit  bei  tiefer 
Störung  des  Verständnisses  und  der  Orientirung,  auf  die  Ver- 
wirrtheit und  Unbesinnlichkeit  ohne  eigentliche  Schwäche  des 
Urtheils  und  des  Gedächtnisses  für  die  fernere  Vergangenheit  hin- 
zuweisen. 

Die  Abgrenzung  der  Paralyse  von  den  verschiedenartigen  Zu- 
ständen der  Dementia  praecox  haben  wir  bereits  bei  der  Darstellung 
jener  Krankheit  besprochen.  Massgebend  ist  überall  ausser  körper- 
lichen Zeichen  und  klinischer  Entwicklung  der  Krankheit  die  Ge- 
dächtnisstörung der  Paralytiker,  die  tiefere  Trübung  der  Besonnen- 
heit, das  Pehlen  oder  doch  die  weit  geringere  Ausbildung  der 
eigenthümlichen  katatonischen  Erscheinungen.  Dem  paralytischen 
Schwachsinn  fehlen  die  Schrullen  und  Manieren  sowie  die  perio- 
dischen Erregungen,  dem  Stupor  der  zähe,  unbeeinflussbare  Nega- 
tivismus, wenn  auch  Nahrungsverweigerung,  Stummheit,  Reactions- 
losigkeit  längere  Zeit  hindurch  bestehen  kann.  In  der  Erregung 
beobachten  wir  wol  einzelne  triebartige  Bewegungsstereotypen,  aber 
nicht  die  ganz  beziehungslosen  Antworten,  die  Sprachverwirrtheit; 
zudem  sind  die  Kranken  nicLt  besonnen  und  orientirt  wie  zumeist 
die  Katatoniker.  Immerhin  sind  auch  hier  die  Fälle  keineswegs 
selten,  in  denen  die  Unterscheidung  zwischen  Paralyse  und  Dementia 
praecox  erst  nach  längerer  Beobachtungszeit  mit  einiger  Sicherheit 
möglich  ist,  besonders  da  auch  manche  körperliche  Zeichen,  so  die 


302 


VI.  Die  Dementia  paralytioa. 


Anfälle,  die  Steigerung  der  Reflexe,  liier  für  die  Beurtheilung  nicht 
immer  verwerthbar  sind. 

In  ganz  vereinzelten  Fällen  können  besonnene  Paralytiker  zu- 
nächst das  Bild  einer  beginnenden  Paranoia  darbieten.  Soweit  die 
Klärung  hier  nicht  durch  den  Nachweis  körperlicher  Zeichen  gelingt, 
wird  eine  gewisse  Weichheit  lind  Nachgiebigkeit,  Unklarheit  und 
Veränderlichkeit  der  Wahnbildungen,  zeitweise  hervortretendes  Krank- 
heitsgefühl, Wechsel  zwischen  auffallender  Gereiztheit  und  Stumpf- 
heit die  Diagnose  erleichtern. 

Bei  weitem  am  schwierigsten,  aber  glücklicher  Weise  praktisch 
weniger  wichtig  ist  die  Abgrenzung  der  Paralyse  von  gewissen 
Krankheiten,  die  ebenfalls  ausgebreitete  Zerstörungen  der  Hirnrinde 
mit  sich  bringen.  Zunächst  käme  etwa  der  Altersblödsinn  in  seinen 
verschiedenen  Formen  in  Betracht.  Für  ihn  spricht  hohes  Alter, 
sehr  langsamer  Verlauf  der  Erkrankung,  Dürftigkeit  der  Wahnideen 
sowie  geringere  Entwicklung  der  motorischen  Störungen,  die  sich 
auf  einfache  Lähmungen  und  Paresen  zu  beschränken  pflegen. 
Ueber  die  Abgrenzung  einiger  weiteren,  zum  Theil  erst  neuerdings 
von  der  Paralyse  getrennten  Krankheitsbilder,  welche  durch  diffuse 
Hirnrindenveränderungen  erzeugt  werden,  haben  wir  im  folgenden 
Abschnitte  näher  zu  haudeln.  Hie  und  da  sieht  man  auch  einmal 
eine  Hirngeschwulst  unter  dem  Bilde  der  dementen  Paralyse  ver- 
laufen, indem  der  gesteigerte  Hirndruck  eine  ähnliche  allgemeine 
Abschwächung  der  psychischen  Leistungen  erzeugt  wie  die  paraly- 
tische Vergiftung.  Meist  / wird  hier  der  Nachweis  der  Stauungspapille 
Klarheit  bringen,  auch  wenn  wegen  des  Sitzes  der  Herderkraukung 
keine  örtlichen  Ausfallserscheinungen  vorhanden  waren.  Zerstreute 
Herderkrankungen  sind  von  der  dementen  Paralyse  nur  unter  Be- 
rücksichtigung des  Lebensalters,  durch  den  geringeren  Grad  der 
geistigen  Schwäche,  das  Fehlen  der  eigentlich  kennzeichnenden 
paralytischen  Störungen  und  den  meist  viel  langsameren  Verlauf 
des  Leidens  zu  unterscheiden.  Syphilitische  Hirnerkrankungen,  wenn 
sie  nicht  herdartig  sind  oder  durch  den  Erfolg  der  antiluetischen 
Behandlung  erkannt  werden,  lassen  sich  nicht  mit  Sicherheit  von  der 
Paralyse  abgrenzen.  Das  ist  verständlich,  weil  eben  die  Lues  an- 
scheinend nur  durch  Erzeugung  ausgebreiteter  Gefässerkrankungen 
und  dadurch  bedingte  Ernährungsstörungen  ausgeprägtere  psychische 
Krankheitsbilder  hervorruft 


Behandlung. 


303 


Bei  der  Behandlung  der  Paralyse  hat  man  in  erster  Linie 
häufig  genug  die  Ursache  der  Krankheit  dadurch  zu  beseitigen  ge- 
sucht, dass  man  mit  kräftigen  antisyphilitischen  Massnahmen  gegen 
die  Kranken  vorging.  Die  Erfahrung  lehrt  indessen  regelmässig, 
dass  hier  noch  weniger,  als  bei  der  Tabes,  durch  Quecksilber  oder 
Jodkalium  Heilerfolge  erzielt  werden.  Nachlässe  der  Krankheit 
kommen  allerdings  ebenso  wie  bei  jeder  anderen  Behandlungsart, 
namentlich  unter  dem  Einflüsse  der  Anstaltsruhe,  nicht  selten  vor. 
Auf  der  anderen  Seite  habe  ich  in  einer  ganzen  Reihe  von  Fällen, 
in  denen  Syphilis  sicher  voraufgegangen  und  zum  Theil  noch  in 
frischen  Anzeichen  vorhanden  war,  im  unmittelbaren  Anschlüsse  an 
eine  Schmiercur  raschen  Verfall  der  Kräfte  und  plötzliches  Auftreten 
schwerer  Aufregungszustände  beobachtet.  Ich  kann  daher  in  Ueber- 
einstimmung  mit  der  Mehrzahl  der  Irrenärzte  einstweilen  nur  rathen, 
sich  im  allgemeinen  höchstens  mit  der  Darreichung  von  Jodkalium 
oder  zunächst  überhaupt  mit  symptomatischer  Behandlung  der 
Paralyse  zu  begnügen. 

Das  wichtigste  Erforderniss  einer  solchen  ist  in  der  ersten  Zeit 
vor  allem  Ruhe,  Entfernung  des  Erkrankten  aus  den  gewohnten 
Verhältnissen  und  Beschäftigungen  sowie  eine  sorgfältige  Regelung 
der  gesammten  Lebensweise.  Aufgeregte  Kranke  und  solche  mit 
Selbstmordneigung  gehören  unbedingt  in  eine  Anstalt,  um  sie  und 
ihre  Umgebung  vor  den  Folgen  ihrer  Handlungen  zu  schützen;  ruhige 
und  lenkbare  Kranke  in  besseren  Vennögensverhältnissen  können, 
soweit  eine  sachverständige  Behandlung  und  Ueberwachung  mög- 
lich ist,  auch  in  privater  Pflege  erhalten  werden.  Zu  vermeiden 
sind  jedoch  besuchte  Badeorte  mit  ihren  vielfachen  Zerstreuungen 
und  Aufregungen,  anstrengende  Reisen,  alle  schwächenden  Mass- 
regeln,  angreifende  Hunger-,  Kaltwasser-,  Badecuren  u.  s.  f.  Eine 
sehr  gewöhnliche  Erfahrung  ist  rasche  Verschlechterung  des  All- 
gemeinzustandes und  plötzlicher  Ausbruch  tobsüchtiger  Erregung 
in  Folge  von  Kaltwassermisshandlung.  Ausser  der  Ruhe  ist  Sorge 
für  kräftige  Ernährung,  Regelung  der  Verdauung,  Bewegung  in 
frischer  Luft,  Vermeidung  von  geistigen  Getränken,  von  Tabak, 
Kaffee,  Thee  von  Wichtigkeit;  auch  eine  ganz  milde,  gut  über- 
wachte hydropathische  Behandlung  (Abreibungen,  laue  Bäder,  Ein- 
wicklungen; keine  Douche,  keine  Ueber-  und  Untergüsse!)  kann  gute 
Dienste  leisten. 


304 


VI.  Die  Dementia  paralytiea. 


Bei  den  Aufregungszuständen  der  Paralytiker  hilft  sehr 
häufig  schon  die  Versetzung  in  eine  ruhige  Umgebung,  die  Bettruhe, 
ein  verlängertes  Bad  sowie  die  Ablenkung  durch  freundliches  und 
geschicktes,  der  Stimmung  des  Kranken  angepasstes  Entgegen- 
kommen. Ist  die  Erregung  sehr  heftig,  so  gelingt  es  nur  durch 
grosse  Geduld,  allmählich  die  Kranken  an  die  hier  sehr  empfehlens- 
werthen  Dauerbäder  zu  gewöhnen,  zunächst  vielleicht  nach  vorauf- 
gehender Betäubung  durch  Sulfonal  oder  Hyoscin.  später  ohne  Arznei- 
mittel. Unter  Umständen  wird  man,  da  die  Kranken  vielfach  auch 
keine  genügende  Nahrung  zu  sich  nehmen,  ein  bis  zwei  Mal  täglich 
zur  Sondenfütterung  schreiten,  bei  der  man  versuchen  kann,  durch 
Zusatz  von  50 — 60  gr  Alkohol  oder  von  1 gr  Sulfonal  längere 
Ruhe  zu  erzielen.  Die  grössten  Schwierigkeiten  für  die  Behandlung 
bieten  die  ängstlichen  Aufregungen  der  Paralytiker.  Hier  erweisen 
sich  die  Bäder  meist  als  undurchführbar,  und  auch  die  Arzneimittel 
pflegen  nicht  viel  Erfolg  zu  haben.  Man  wird  sich  daher  unter 
Umständen  auf  beständige  Ueberwachung,  Schutz  der  Kranken  vor 
Verletzungen,  sorgfältige  Behandlung  der  entstehenden  Hautabschür- 
fungen u.  s.  w.  beschränken  müssen.  Gelegentlich  habe  ich  bei 
starker,  sinnloser  Erregung  den  Versuch  gemacht,  durch  planmässig 
zweimal  täglich  wiederholte  subcutane  Infusionen  Besserung  zu  er- 
zielen; wir  Hessen  jeweils  etwa  750  gr  Kochsalzlösung  einfliessen. 
Die  Behandlung  wurde  in  einem  Falle  ohne  üble  Zufälle  zwei  Wochen 
lang  fortgesetzt.  Es  trat  bei  dem  Kranken,  der  einem  raschen  Ver- 
falle entgegen  zu  gehen  schien,  eine  entschiedene,  andauernde 
Besserung  ein,  so  dass  weitere  Versuche  mit  dem  genannten  Ver- 
fahren in  verzweifelten  Fällen  gerechtfertigt  sein  dürften. 

Die  meiste  Pflege  erfordern  die  Paralytiker  im  letzten,  bett- 
lägerigen Stadium  und  besonders  in  den  Anfällen.  Schon  vorher 
ist  es  vielfach  nothwendig,  sorgfältig  auf  die  Reinhaltung  der  Kranken 
zu  achten  und  die  Nahrungsaufnahme  zu  überwachen,  wegen  des 
mangelhaften  Kauens  nur  gut  zerkleinerte,  leicht  verdauliche  Speisen 
einzuführen  und  das  gierige  Schlingen  durch  vorsichtiges  Eingeben 
zu  verhindern,  da  sonst  leicht  tödtliche  Erstickungsanfälle  Vorkommen. 
Im  Anfalle  und  bei  sehr  erschöpften,  blödsinnigen  Kranken  ist  vor 
allem  der  Entstehung  von  Decubitus  vorzubeugen.  Dieser  Auf- 
gabe dienen  peinlichste  Reinlichkeit,  häufige  Waschungen  der  ge- 
fährdeten Theilo  mit  kaltem  Wasser  oder  einer  spirituösen  Sublimat- 


Behandlung. 


305 


lösung,  sorgfältige  Beseitigung  aller  Falten,  Brodkrumen  u.  dergl. 
aus  dem  Bette,  die  Anwendung  von  Wasser-  oder  Luftkissen  oder 
die  Lagerung  auf  feine  Holzwolle  oder  Moos,  welche  rasch  jede 
Verunreinigung  aufsaugen,  aber  von  den  blödsinnigen  Kranken  leider 
vielfach  verzehrt  werden.  Endlich  aber  ist  ein  regelmässiger,  durch 
Wärterhände  bewirkter  Wechsel  der  Lage  nothwendig,  so  dass  der 
Kranke  (in  schweren  Fällen  alle  % Stunde  Tag  und  Nacht)  von 
einer  Seite  auf  die  andere,  auf  den  Rücken,  den  Bauch  u.  s.  f. 
herumgedreht  wird.  Diese  von  G u d den  eingeführte  Massregel, 
welche  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  der  Entstehung  von 
,, hypostatischen“  Pneumonien  entgegenarbeitet,  ermöglicht  es,  den 
sonst  für  unvermeidlich  gehaltenen  Druckbrand  von  den  Paralytikern 
(10%  derselben  sollen  nach  Mendel’s  Angaben  daran  zu  Grunde 
gehen)  fast  ganz  fernzuhalten  und  jedenfalls  gefahrdrohende  Formen 
desselben  vollständig  zu  verhüten.  Weit  schwieriger  ist  es,  den 
einmal  entstandenen  Druckbrand  wieder  zur  Heilung  zu  bringen, 
zumal  der  Kranke  durch  seine  Unruhe  und  Abreissen  des  Ver- 
bandes dieselbe  oft  sehr  erschwert.  Eine  regelrechte  chirurgische 
Behandlung  hat  mich  bei  rechtzeitigem  Einschreiten  dennoch  stets 
zum  Ziele  geführt,  wo  eine  Nachlässigkeit  des  Wartpersonals  die 
Vorbeugung  verabsäumt  und  (in  wenigen  Stunden!)  das  Uebel  herbei- 
geführt hatte. 

Als  ein.  ausserordentlich  zweckmässiges  Hülfsmittel  sowol  für 
die  Verhütung  des  drohenden  Druckbrandes  bei  sehr  unreinlichen 
und  schwer  beweglichen  Kranken  wie  zur  Heilung  selbst  der  aus- 
gebreitetsten  Formen  kann  ich  das  Dauerbad  empfehlen,  nach  Um- 
ständen unter  Lagerung  des  Kranken  auf  ein  durchgespanntes  Tuch 
oder  auf  ein  Wattepolster.  Selbst  die  Anwendung  bestimmter  Arznei- 
stoffe auf  die  Wundflächen  lässt  sich  mit  Hülfe  deckender  Pflaster 
im  Bade  ohne  Schwierigkeit  durchführen.  Die  Kranken  pflegen 
sich  sehr  leicht  an  das  Verfahren  zu  gewöhnen,  welches  ich  in 
einzelnen  Fällen  mit  bestem  Erfolge  Tag  und  Nacht  hindurch  fort- 
gesetzt habe. 

Für  die  Behandlung  des  paralytischen  Anfalles  empfiehlt  Kern  ml  er 
Einpackung  des  Kopfes  in  Eis,  bei  starken  Krämpfen  Klystiere  von 
Amylenhydrat  (6  gr)  oder  Chloralhydrat;  ersteres  Mittel  wurde  auch 
in  5 — 10%iger  Lösung  subcutan  gegeben.  Ist  rasche  Wirkung 
nothwendig,  so  soll  zur  Chloroformbetäubung  bis  zum  Nachlasse  der 

Kraepeün,  Psychiatrie.  6.  Aull.  II.  Hand.  20 


306 


VI.  Die  Dementia  paralytica. 


motorischen  Reizerscheinungen  geschritten  werden.  Bei  eintretender 
Herzschwäche  passen  anregende  Mittel,  Coffein,  Kampher,  Alkohol  in 
kleinen  Gaben,  endlich  Kochsalzinfusionen. 

Die  Entleerung  des  Mastdarms  und  der  Blase  bedarf  im  para- 
lytischen Anfalle  gewöhnlich  nur  anfangs  einer  Nachhülfe  durch 
Eingiessung,  Auspressen  der  Blase  oder  Einführung  des  (sorgfältigst 
gereinigten  und  desinficirten !)  Katheters;  später  vollzieht  sie  sich 
regelmässig  von  selbst,  wenn  man  nicht  durch  zu  langes  Warten 
Ueberfüllung  und  dadurch  Lähmung  beider  Organe  hat  entstehen 
lassen,  die  dann  zu  dauernder  Kunsthülfe  zwingt.  Leider  wird  die 
Behandlung  der  sehr  leicht  eintretenden  Blasenlähmung  öfters 
durch  alte  Stricturen  erschwert.  Zweckmässig  ist  es,  an  jede  künst- 
liche Entleerung  der  Blase  regelmässig  eine  Ausspülung  (Bor- 
säure) anzuschliessen,  der  man  bei  Schlaffheit  des  Detrusor  kühle 
Temperatur  gebe.  Auch  ausserhalb  des  Anfalles  sind  übrigens 
Urin-  und  Kothentleerimg  dauernd  zu  beachten,  wenn  nicht  an- 
haltendes Urinträufeln  und  Schlussunfähigkeit  des  Mastdanns  ent- 
stehen soll.  Ich  habe  bei  einem  Paralytiker,  der  bereits  2 Jahre 
lang  katheterisirt  worden  Avar,  nach  2 mal  täglich  wiederholten 
Blasenausspülungen  (Tanninlösung)  in  Zeit  von  4 Wochen  die  selb- 
ständige Entleerung  sich  wiederherstellen  und  dann  auch  in  einem 
13  Tage  dauernden  paralytischen  Anfalle  nicht  versagen  sehen.  Bei 
demselben  Kranken  entstand  trotz  andauernden  tiefsten  Komas  und 
fast  völliger  Pulslosigkeit  unter  der  oben  erwähnten  Behandlung  bis 
zum  Tode  keine  Spur  von  Druckbrand.  Die  Ernährung  hat  im 
Anfalle  stets  durch  die  Sonde  zu  geschehen  (nur  bei  mehrtägigen 
Anfällen  nöthig);  blosses  Eingiessen  in  den  Mund  ist  im  höchsten 
Grade  gefährlich.  Sorgt  man  dann  noch  für  häufige  Reinigung  und 
Desinfection  des  Mundes  durch  Auswischen  mit  einem  feuchten 
Läppchen  (Kali  chloricum)  und  für  Feuchterhaltung  der  Hornhaut 
durch  regelmässiges  (alle  1/2  Stunde)  Bewegen  der  meist  halbgeöffneten 
Augenlider  (Vermeidung  von  Ulcerationen),  so  kann  es  gelingen,  die 
Kranken  noch  nach  8 — 14  Tagen  aus  dem  paralytischen  Anfalle  sich 
erholen  zu  sehen. 


VH  Das  Irresein  bei  Hirnerkrankungen. 

In  ähnlicher  Weise  wie  bei  der  Paralyse  sehen  wir  auch  bei 
dem  an  sonstige  Hirnerkrankungen  sich  anschliessenden  Schwachsinn 
Seelenstörungen  mit  nervösen  Reizungs-  oder  Ausfalls- 
erscheinungen sich  verbinden.  Die  besondere  Gestaltung  der 
klinischen  Krankheitsbilder  ist  dabei  wesentlich  durch  die  Aus- 
dehnung, den  Sitz  und  die  Art  des  Hirnleidens  bedingt.  Wir 
werden  unter  diesem  Gesichtspunkte  vor  allem  ausgebreitete 
und  örtlich  begrenzte  Erkrankungen  auseinander  zu  halten 
haben. 

Wie  es  scheint,  lassen  sich  gerade  unter  den  Himerkrankungen, 
welche  sich  über  einen  grösseren  Rindenbezirk  erstrecken,  noch  eine 
Anzahl  verschiedener  Krankheitsvorgänge  von  einander  unterscheiden, 
die  wir  jetzt  mit  unter  dem  Sammelnamen  des  „fortschreitenden 
Blödsinns  mit  Lähmung“,  der  Dementia  paralytica,  zusammenwerfen. 
Ein  Anfang  in  dieser  Richtung  ist  bereits  gemacht  mit  der  besonders 
von  Eürstner*)  und  seinen  Schülern  näher  studirten  „Gliose  der 
Hirnrinde“,  vorwiegend  tumorartigen,  multiplen  Gliawucherungen 
in  den  oberflächlichen  Rindenschichten  mit  Höhlenbildung  und 
Schwund  der  nervösen  Bestandtheile.  Die  Krankheit  entwickelt  sich 
überaus  chronisch  bei  Menschen,  welche  schon  von  Jugend  auf 
einzelne,  als  erste  Anfänge  des  Leidens  zu  deutende  Störungen 
(Krämpfe,  Imbecillität,  Reizbarkeit)  dargeboten  haben;  später  stellt 
sich  dann  eine  fortschreitende  Verblödung  ein,  mit  Gedächtnis- 
schwäche, Sprachstörung,  Opticusatrophie  und  häufig  auch  tabischen 
Erscheinungen. 


*)  Fürstner  und  Stühlinger,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XVII,  1. 

20* 


308 


VII.  Das  Irresein  bei  Hirnerkrankungen. 


Id  einer  gewissen  Verwandtschaft  zu  dieser  Form  steht  vielleicht 
auch  jener  Krankheitsvorgang,  den  man  als  diffuse  Hirnsklerose 
bezeichnet,  eine  ausgedehnte  Vermehrung  des  Stützgewebes  in 
einer  oder  in  beiden  Hemisphären,  die  ebenfalls  mit  allmählich  fort- 
schreitendem Schwachsinn  und  mannigfachen  centralen  Ausfalls- 
und Reizungserscheinungen  einhergeht,  Hemiplegien,  Krampfanfällen. 
Steigerung  der  Patellarreflexe  und  Spasmen  in  den  Beinen.  Ferner 
hat  Homen*)  ein  eigenthümliches,  bei  mehreren  Geschwistern  be- 
obachtetes Krankheitsbild  als  vermuthliche  Erscheinungsform  der 
Lues  hereditaria  tarda  beschrieben,  welches  klinisch  der  dementen 
Form  der  Paralyse  ähnelt.  Das  Leiden  begann  in  jugendlicherem 
Lebensalter  mit  Schwindel,  Kopfschmerzen,  Unsicherheit  des  Ganges 
und  fortschreitender  Abnahme  des  Gedächtnisses  und  des  Ver- 
standes. Dazu  gesellten  sich  später  Verlangsamung  und  Er- 
schwerung des  Sprechens,  Spasmen,  Contracturen,  Incontinenz. 
Schluckstörungen,  leichter  Tremor  und  bisweilen  auch  Krämpfe, 
während  die  geistige  Schwäche  bis  zu  den  höchsten  Graden  fort- 
schritt.  Der  Tod  erfolgte  nach  einer  Reihe  von  Jahren.  Die  ana- 
tomische Untersuchung  ergab  vor  allem  sehr  ausgedehnte  end- 
arteriitische  Erkrankungen,  ferner  Faseratrophie,  namentlich  im 
Stirnhirn,  sowie  leichte  Veränderungen  an  den  Pyramidenzellen  und 
geringe  N eurogliawucherung. 

Endlich  ist  in  neuester  Zeit  der  Versuch  gemacht  worden,  noch 
einige  Krankheitsbilder  von  der  Paralyse  abzugrenzen,  als  deren 
Grundlage  umschriebene  oder  ausgebreitete  Erkrankungen  der  Him- 
gefässe  betrachtet  werden.  In  erster  Linie  ist  die  arterioskle- 
rotische Hirnentartung  zu  nennen,  wie  sie  von  Binswanger**) 
und  Alzheimer***)  bezeichnet  worden  ist.  Es  handelt  sich  dabei 
um  ausgebreitete,  aber  doch  in  einzelnen  Herden  auftretende 
arteriosklerotische  Veränderungen  an  den  Hirngefässen,  denen 
übrigens  ähnliche  Erkrankungen  in  anderen  Organen,  namentlich  in 
der  Niere,  auch  im  Herzmuskel,  zu  entsprechen  pflegen.  Die  Ge- 
fässe  sind  theils  atrophisch,  theils  verdickt,  die  Gefässlumina  stark 
erweitert;  vielfach  sieht  man  Aneurysmenbildungen  und  die  Spuren 


*)  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXIV,  1. 

**)  Berliner  klinische  Wochenschrift  1894,  49. 

***)  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie.  LI,  809;  ebenda  LEU,  863. 


Diffuse  Erkrankungen. 


309 


capillärer  Blutungen.  Diese  letzteren  habe  auch  ich  in  ausgedehn- 
testem Maasse  neben  ungemein  starken  Gefässveränderungen  bei 
einem  Kranken  gesehen,  der  im  Leben  ganz  das  Bild  der  dementen 
Paralyse  darbot.  Die  Neuroglia  ist  gewuchert,  ganz  besonders  in 
Herden  um  die  erkrankten  Gefässe  herum;  endlich  finden  sich 
Entartungsvorgänge  an  Nervenzellen  und  Fasern.  Klinisch  soll  die 
Krankheit  durch  die  langsame  Entwicklung  mit  Kopfschmerzen, 
Schwindel,  Reizbarkeit  und  Verlust  des  Gedächtnisses,  durch  viel- 
fache Nachlässe  der  Erscheinungen,  das  Auftreten  stumpfer  Be- 
nommenheit neben  vorübergehenden  guten  Verstandesleistungen,  ge- 
ordnetes Benehmen  bei  bereits  vorgeschrittenem  Blödsinn  gekenn- 
zeichnet sein,  doch  erscheint  die  Abgrenzung  des  psychischen 
Krankheitsbildes  nach  den  bisher  vorliegenden  Schilderungen  noch 
wenig  zuverlässig.  In  körperlicher  Beziehung  wird  auf  die  wesent- 
lich paretische  Sprachstörung,  die  aphasischen  Erscheinungen  und 
die  Häufigkeit  umschriebener,  dauernder  Lähmungen  hingewiesen. 
Das  Leiden  entwickelt  sich  zu  Ende  der  40  er  oder  zu  Beginn  der 
50  er  Jahre  und  ist  daher  in  nähere  Beziehung  zu  den  senilen  Ent- 
artungsvorgängen gebracht  worden.  Die  Syphilis  soll  keine  ursäch- 
liche Rolle  spielen.  Alzheimer  hat  als  perivasculäre  Gliose  auch 
Fälle  beschrieben,  in  denen  alle  Veränderungen  nur  in  einzelnen, 
sich  an  die  Gefässe  anschliessenden  Herden  auftraten.  Klinisch  ent- 
stand dadurch  das  Bild  einer  umschriebenen  Hirnerkrankung. 

Ein  zweites  Krankheitsbild  hat  Binswanger  mit  dem  Namen 
der  Encephalitis  subcorticalis  chronica  progressiva  be- 
zeichnet. Auch  diese  Krankheit  beginnt  am  häufigsten  an  der 
Schwelle  des  Greisenalters  und  selbst  noch  später.  Ihr  sollen  aus- 
geprägte Atrophien  des  Marklagers  mit  sehr  starker  Erweiterung 
der  Hirnhöhlen  zu  Grunde  liegen,  besonders  in  den  hinteren  Theilen 
des  Gehirns.  Zugleich  findet  sich  ausgebreitete  Atheromatose  der 
Gefässe.  Im  Krankheitsbilde,  welches  im  allgemeinen  wieder  eine 
allmählich  fortschreitende  Verblödung  darstellt,  sollen  dauernde 
Herderscheinungen  (Lähmungen,  die  verschiedenen  Formen  der 
Aphasie)  stark  in  den  Vordergrund  treten;  der  Verlauf  ist  ein  sein- 
langsamer. 

Bei  der  multiplen  Sklerose  gestaltet  sich  die  Stärke  und 
Ausdehnung  der  psychischen  Erscheinungen  je  nach  der  Oertlichkeit 
und  Grösse  der  einzelnen  Herde  sehr  verschieden.  Wo  überhaupt 


310 


VII.  Das  Irresein  bei  Hirnerkrankungen. 


das  Gehirn  in  beträchtlicherem  Maasse  betheiligt  ist,  sehen,  wir  in 
der  Regel  einen  einfachen,  fortschreitenden  Schwachsinn,  Abnahme 
des  Verstandes  und  des  Gedächtnisses  ohne  Verwirrtheit  oder  Auf- 
regung sowie  allmählich  zunehmende  Stumpfheit  und  Willenlosigkeit 
sich  entwickeln.  Unter  Umständen  können  derartige  Kranke  grosse 
Aeknlickkeit  mit  dementen  Paralytikern  darbieten;  die  Beachtung 
der  mehr  auf  einzelne  Herde  hinweisenden  nervösen  Störungen, 
gelegentlich  auch  der  scandirenden  Sprache,  des  Intentionszitterns, 
Nystagmus,  sowie  der  Mangel  jener  eigenartigen,  tieferen  Bewusst- 
seinstrübung, welche  den  Paralytiker  auszeichnet,  ermöglichen  jedoch 
fast  immer  die  Unterscheidung. 

Die  multiple  Sklerose  bildet  gewissermassen  den  Uebergang 
von  den  diffusen  zu  den  strenger  umgrenzten  Erkrankungen  des 
Gehirns.  Im  Bereiche  dieser  letzteren  haben  wir  hauptsächlich  zwei 
grössere  Gruppen  von  Veränderungen  auseinander  zu  halten,  die 
Geschwülste  auf  der  einen,  die  Blutungen,  Erweichungen, 
Embolien,  Thrombosen  auf  der  anderen  Seite.  Bei  grösseren  Ge- 
schwülsten pflegen  die  psychischen  Störungen  meist  wesentlich  durch 
die  Steigerung  des  Druckes  im  Schädel,  weniger  durch  ihren  Sitz 
bedingt  zu  werden.  So  kommt  es,  dass  dort,  wo  die  Geschwülste 
sehr  langsam  wachsen,  oder  wo  sie  mehr  zerstören,  als  verdrängen, 
die  psychischen  Erscheinungen  lange  Zeit  hindurch  gering  sein 
können.  Einer  meiner  Kranken,  dem  eine  über  faustgrosse,  im  An- 
schlüsse au  ein  Trauma  aufgetretene  tuberculöse  Geschwulst  den 
grössten  Theil  des  rechten  Stirnhirns  mit  der  Rinde  vernichtet  hatte, 
bot  bis  wenige  Tage  vor  seinem  Tode  keinerlei  Störung  der  Be- 
sonnenheit und  des  Verstandes  dar,  nur  eine  mässige,  von  dem 
Kranken  selbst  bemerkte  Gedächtnissschwäche.  Bei  denjenigen 
Geschwülsten  dagegen,  welche  den  Druck  in  der  Schädelhöhle 
erheblich  steigern,  stellt  sich  zunächst  eine  gewisse  Benommenheit 
und  Unbesinnlichkeit  ein.  Die  Aufmerksamkeit  der  Kranken  wird 
nur  durch  kräftigere  Reize  und  auch  dann  nur  für  kurze  Zeit 
erregt;  sie  liegen  theilnahmlos  oder  sich  unter  unerträglichen  Kopf- 
schmerzen herumwälzend  da,  ohne  sich  um  ihre  Umgebung  zu 
kümmern.  Bisweilen  tritt  Katalepsie  auf.  Nach  und  nach  werden 
die  Kranken  immer  stumpfer  uud  schlafsüchtiger,  obgleich  vielleicht 
noch  gar  keine  ausgeprägteren  Herderscheinungen  hervortreten. 
Nicht  selten  beobachtet  man  bis  in  die  letzte  Zeit  der  Schlafsucht 


Herderkranlcungen. 


311 


hinein  einzelne  Täuschungen  auf  Siunesgebieten,  die  für  gesunde 
Reize  völlig  unerregbar  geworden  sind,  namentlich,  wie  es  scheint, 
bei  Kleinhirngeschwülsten.  In  einem  solchen,  von  mir  beobachteten 
Falle  glaubte  der  blinde  Kranke  (Trinker)  lange  Reisen  zu  machen, 
sah  bunte  Gegenden  und  kleine  Schnapsgläser  vor  sich,  nach  denen 
er  griff;  ein  anderer  derartiger  Kranker,  der  kein  Trinker  war,  sah 
trotz  völliger  Atrophie  der  Sehnerven  ebenfalls  monatelang  wechselnde 
„Bilder“  und  hörte  bei  allmählich  fortschreitender  und  schliesslich 
vollständiger  Taubheit  sehr  häufig  seinen  Namen  und  allerlei  Schimpf- 
worte rufen.  Stärkere  Aufregungszustände  sind  bei  Hirngeschwülsten 
selten. 

Hirnabscesse  können  lange  Zeit  ohne  jegliche  psychische 
Störungen  verlaufen,  namentlich,  wenn  sie  sich  sehr  langsam  ent- 
wickeln. Ich  sah  einen  Schreiber,  der  bis  zum  Eintritte  in  die 
Abtheilung  seinen  Dienst  gethan  hatte,  dann  aber  unter  den  Er- 
scheinungen leichter  Benommenheit  und  mit  Krampfanfällen  er- 
krankte, die  auf  das  täuschendste  hysterischen  glichen.  Als  er 
3 Wochen  später  in  einem  solchen  Anfalle  starb,  fand  sich  ein  apfel- 
grosser  Abscess  im  linken  Hinterhauptslappen.  Bei  frischen  trauma- 
tischen Abscessen  pflegt  die  Benommenheit  im  Vordergründe  des 
Krankheitsbildes  zu  stehen.  Die  Kranken  verstehen  ihre  Umgebung 
und  die  an  sie  gerichteten  Anreden  nicht,  geben  ganz  verkehrte 
Antworten,  sind  theilnahmlos,  unruhig,  widerstrebend,  deliriren  bis- 
weilen in  traumhaft  zusammenhangsloser  Weise.  Dazu  können  sich 
dann  noch  Katalepsie,  aphasische  Störungen,  Rindenepilepsie,  Puls- 
verlangsamung, Cheyne -Stockes’sches  Athmen  und  andere  Reiz- 
erscheinungen gesellen. 

Ein  wesentlich  anderes  Bild  pflegen  die  psychischen  Störungen 
bei  Blutungen  und  Embolien  darzubieten.  In  unmittelbarem 
Anschlüsse  an  den  Schlaganfall  sind  die  Kranken  meist  benommen, 
desorientirt,  verwirrt,  verkennen  ihre  Umgebung,  begehen  allerlei 
verkehrte  Handlungen.  Bisweilen  treten  vorübergehend  lebhafte 
Erregungszustände  mit  lautem  Schreien,  Fortdrängen,  Widerstreben 
auf.  Späterhin  jedoch  pflegen  die  Kranken,  wenn  nicht  schon  um- 
fangreichere endarteriitische  Veränderungen  vorliegen,  vollständig 
klar  und  über  ihre  Umgebung  orientirt  zu  sein.  Am  meisten  in 
die  Augen  fällt  gewöhnlich  neben  den  nervösen  Störungen  eine 
mehr  oder  weniger  erhebliche  Gedächtnissschwäche.  Die  Kranken 


312 


VII.  Das  Irresein  bei  Hirnerkrankungen. 


irren  sich  leicht,  ohne  es  zu  bemerken,  hinsichtlich  wichtiger  Daten 
und  Ereignisse  aus  ihrem  Vorleben;  besonders  die  zeitliche  Ord- 
nung ist  sehr  unsicher.  Das  Rechnen  geht  schlecht,  selbst  wenn 
früher  grosse  Fertigkeit  darin  bestand.  Auch  die  Erinnerung  an 
die  jüngste  Vergangenheit  haftet  nicht  zuverlässig.  Dazu  kommt, 
dass  dem  Kranken  leicht  einzelne  Klassen  von  Vorstellungen,  Eigen- 
namen und  Zahlen,  verloren  gehen,  Störungen,  die  bereits  als 
erste  Andeutungen  der  amnestischen  Aphasie  zu  betrachten  sind. 

Die  Beurtheilung  der  Verstandesthätigkeit  wird  gerade  durch  das 
Hinein  spielen  aphasischer  und  paraphasischer  Störungen  vielfach 
sehr  erschwert;  die  Kranken  erscheinen  dadurch  bei  flüchtiger  Unter- 
suchung oft  weit  blödsinniger,  als  sie  wirklich  sind.  So  stellte  sich 
bei  einem  jugendlichen  Herzkranken  meiner  Beobachtung,  der  zu- 
nächst eine  -wahrscheinlich  embolische,  linksseitige  Hemiplegie  mit 
Hemianaesthesie,  Hemianakusie,  Abducens-  und  Trigeminus-Lähmung. 
Gesichtsfeldeinschränkung,  kurz  darauf  aber  eine  mit  Krämpfen  auf- 
tretende rechtsseitige  Hemiparese  erlitt,  ein  eigenthümlicher  Agram- 
matismus ein,  der  ihn  vollständig  kindisch  erscheinen  liess,  da  er 
ohne  jede  Construction  nur  in  Infinitivsätzen  nach  Art  der  Kinder 
sprach.  Als  sich  diese  Störung  nebst  sämmtlichen  übrigen  Krankheits- 
zeichen allmählich  verlor  und  er  mit  einer  gewissen  Anstrengung 
auch  die  immer  noch  vorhandene  Neigung  zum  Reden  in  Infinitiven 
überwinden  konnte,  stellte  sich  heraus,  dass  der  Verstand  vollkommen 
erhalten  war  und  sogar  nicht  unbeträchtlich  über  das  Mittelmaass 
hinausging.  Die  gleiche  Störung,  das  kindliche  Reden  in  Infinitiv- 
sätzen, beobachtete  ich  vorübergehend  bei  einer  62jährigen  Frau  mit 
Mammakarcinom  und  alter  Lues  nach  einem  Schlaganfall  mit  Aphasie 
und  starker  verwirrter  Aufregung. 

Wo  es  sich  um  ausgedehntere  Zerstörungen  in  der  Hirnrinde 
handelt,  pflegt  eine  gewisse  Schwächung  der  gesammten  Verstandes- 
thätigkeit nicht  auszubleiben.  Namentlich  langes  Fortbestehen  apha- 
sischer Störungen  scheint  regelmässig  eine  empfindliche  Einbusse  der 
geistigen  Leistungsfähigkeit  und  des  Vorstellungsschatzes  nach  sich 
zu  ziehen.  Die  Kranken  zeigen  eine  Erschwerung  und  Verlang- 
samung ihres  Denkens,  ermüden  ungemein  leicht,  vermögen  keinem 
schwierigeren  Gedankengange  mehr  zu  folgen,  verlieren  in  ihren 
Erzählungen  alle  Augenblicke  den  Faden,  werden  leichtgläubig  und 
urtheilslos.  Oft  haben  sie  ein  deutliches  Gefühl  für  die  Veränderung, 


Herclerkrankungen. 


313 


die  sich  mit  ihnen  vollzogen  hat,  jammern  über  ihre  Unfähigkeit. 
„Ich  bin  so  dumm“,  klagte  mir  eine  solche  Kranke.  In  einzelnen 
Fällen  treten  dürftige  Verfolgungsideen  auf;  eine  Kranke  meinte,  ihr 
Mann  treibe  Unzucht  mit  ihrer  Tochter;  sie  werde  verzaubert,  spüre 
es  an  ihrem  Körper.  Die  Stimmung  ist  bald  mehr  weinerlich, 
verdriesslich,  querulirend,  bald  sorglos  heiter  und  unbekümmert, 
immer  aber  leicht  erregbar  und  zu  Schwankungen  geneigt.  Bisweilen 
kommt  es  zeitweise  zu  lebhafteren  Aufregungszuständen  mit  Ideen- 
flucht, grosser  Geschwätzigkeit  und  Grössenvorstellungen,  namentlich 
im  Anschlüsse  an  epileptische  Anfälle,  wie  sie  bei  alten  Apoplektikern 
nicht  selten  auftreten.  Sehr  auffallend  ist  oft  die  sittliche  Stumpfheit, 
die  Gleichgültigkeit  gegenüber  den  Angehörigen,  gegenüber  den  früher 
sorgfältig  gepflegten  Lebensinteressen,  die  ausgeprägte  Selbstsucht 
und  die  Unempfindlichkeit  gegenüber  den  Geboten  der  Sitte  und  des 
Anstandes.  Der  Kranke  ist  lenksam,  leicht  bestimmbar,  fängt  häufig 
an,  zu  bummeln,  zu  trinken,  zu  vergeuden.  Ein  derartiger  Kranker 
aus  guter  Familie,  der  vor  13  Jahren  eine  rechtsseitige  Lähmung  in 
Folge  von  Lues  erlitten  hatte,  gerieth  dadurch  mit  dem  Strafgesetze 
in  Berührung,  dass  er  bei  jeder  Gelegenheit  ohne  klaren  Beweggrund 
Strümpfe  stahl. 

Auch  noch  in  anderer  Richtung  können  die  psychischen  Störungen 
nach  Hirnblutungen  eine  bedeutende  forensische  Wichtigkeit  ge- 
winnen. Die  Verstandesschwäche  und  Urtheilslosigkeit  der  Apo- 
plektiker, ihre  Reizbarkeit  auf  der  einen,  ihre  leichte  Bestimmbarkeit 
auf  der  andern  Seite  stellen  den  Arzt  bei  den  bisweilen  vorkommen- 
den Eheschliessungen,  bei  Kaufverträgen  und  Testamentsstreitigkeiteu 
vor  die  Frage  nach  dem  Vorhandensein  der  Dispositionsfähigkeit. 
Einer  meiner  Kranken,  der  sich  durch  seine  besondere  Tüchtigkeit 
ein  riesiges  Vermögen  erworben  hatte,  begann  nach  einem  Schlag- 
anfalle  auf  luetischer  Grundlage,  zu  trinken,  fremde  Personen  in  ver- 
schwenderischer Weise  zu  bewirthen,  überall  auf  das  handgreiflichste 
zu  prahlen  und  durch  unsinnige  geschäftliche  Massnahmen  alles  zu 
verschleudern,  so  dass  er,  trotz  seines  heftigsten  Widerstandes, 
entmündigt  werden  musste.  Sein  Zustand  dauerte  noch  fast 
20  Jahre  in  wesentlich  gleicher  Weise  fort.  Hier  können  be- 

deutende Schwierigkeiten  für  die  Beurtheilung  entstehen,  da  die 
Schwäche  auf  den  verschiedenen  Gebieten  des  psychischen  Lebens 
von  den  allerleichtesten,  noch  in  die  Gesundheitsbreite  fallenden 


314  VII.  Das  Irresein  bei  Hirnerkrankungen. 

Schädigungen  alle  Grade  bis  zum  tiefsten  Blödsinn  erreichen 
kann. 

Eine  besondere,  recht  wichtige  hierher  gehörige  Gruppe  stellen 
endlich  die  durch  schwere  Kopfverletzungen  erzeugten  Geistes- 
störungen dar.  Auch  dann,  wenn  wir  dabei  nicht  mit  umschriebenen 
Erkrankungen  der  Hirnrinde  (Blutungen,  Knocheneindrücke,  Ein- 
dringen von  abgesprengten  Splittern)  zu  rechnen  haben,  scheinen 
heftige  Erschütterungen  des  Kopfes  dauernde  und  tiefgreifende  Ver- 
änderungen in  den  Rindenzellen  hervorrufen  zu  können,  über  deren 
Wesen  wir  allerdings  einstweilen  noch  im  Unklaren  sind.  Die 
nächste  Folge  einer  schweren  Hirnerschütterung  pflegt  eine  mehr 
oder  weniger  lange  anhaltende  Bewusstlosigkeit  zu  sein,  an  die  sich 
bisweilen  wochenlange  Verwirrtheit  anschliessen  kann.  Die  Kranken 
sind  schwerfällig  in  ihrem  Denken,  vermögen  sich  zeitlich  und  ört- 
lich nicht  zu  orientiren,  verstehen  ihre  Lage  nicht  und  haben  ge- 
wöhnlich gar  keine  oder  nur  sehr  unklare  Erinnerung  an  den  Un- 
fall, erzählen  ihn  auch  wol  zu  verschiedenen  Zeiten  ganz  verschieden. 
Sie  fassen  schlecht  auf,  verlieren  leicht  den  Zusammenhang,  können 
sich  nicht  recht  besinnen,  fabuliren.  Sie  sind  reizbar,  eigensinnig, 
unruhig,  öfters  weinerlich,  sprechen  viel,  haben  kein  klares  Ver- 
ständniss  für  ihre  Krankheit,  fühlen  sich  ganz  gesund  und  begreifen 
nicht,  was  man  von  ihnen  will.  Bei  einem  meiner  Kranken  ent- 
wickelte sich  wenige  Tage  nach  einem  gewaltigen  Schlage  mit  dem 
Stuhlbein  auf  den  Schädel  eine  Monate  lang  andauernde  Benommen- 
heit, in  welcher  der  Kranke  nach  seiner  Angabe  „Papier  vor  den 
Gedanken  hatte“.  Er  wurde  in  diesem  Zustande,  aus  dem  er  ziem- 
lich plötzlich  mit  sehr  unklarer  Erinnerung  erwachte,  vom  Arzte  für 
blödsinnig  gehalten. 

In  anderen  Fällen  verlieren  sich  die  unmittelbaren  Folgen  der 
Verletzung  sehr  rasch;  nicht  einmal  eine  eigentliche  Bewusstlosigkeit 
braucht  zu  Stande  zu  kommen.  Früher  oder  später  aber  stellt  sich 
eine  ausgeprägte  Veränderung  des  psychischen  Gesammtzustandes 
heraus.  Der  Kranke  ermüdet  leicht,  wird  vergesslich,  zerstreut,  klagt 
über  Schwindel,  Benommenheit,  Ohrensausen,  Kopfdruck.  Er  wird 
reizbar,  heftig,  zeitweise  ängstlich,  verstimmt,  zeigt  meist  ein  starkes 
Krankheitsgefühl.  Dazu  gesellen  sich  sehr  häufig  einzelne  epilep- 
tische Anfälle,  sowol  Krämpfe  wie  Ohnmächten,  seltener  Dämmer- 
zustände, wie  ja  Hirnerschütterungen  auch  das  Bild  der  einfachen 


Kopfverletzungen. 


315 


Epilepsie  erzeugen  können.  In  einem  von  mir  beobachteten  Falle 
stellte  sich  der  erste  und  einzige  Krampfanfall  3 Wochen  nach  der 
ohne  Bewusstlosigkeit  verlaufenen  Verletzung  ein,  während  die  psy- 
chische Veränderung  erst  nach  5 Jahren  deutlicher  hervortrat.  Der- 
artig lange  Zwischenzeiten  scheinen  durchaus  nicht  ungewöhnlich  zu 
sein.  Im  weiteren  Verlaufe  pflegt  sich  der  Zustand  nur  langsam 
und  in  geringem  Maasse  zu  ändern.  Es  kann  jedoch  unter  Um- 
ständen zur  Entwicklung  eines  ausgeprägten  Schwachsinns  kommen. 
,,Der  Verstand  wächst  nicht  mit“,  sagte  der  Vater  eines  Jungen,  der 
vor  einigen  Jahren  vom  4.  Stockwerk  heruntergestürzt  war,  eine 
Basisfractur  mit  Sehnervenatrophie  und  Glykosurie  davongetragen 
hatte  und  nun  bei  voller  Besonnenheit  kindisch,  reizbar  und  ver- 
gesslich geworden  war. 

Fast  immer  finden  sich  nach  schweren  Hirnerschütterungen 
einzelne  nervöse  Zeichen,  die  auf  eine  organische  Hirnerkrankung 
hindeuten.  In  der  ersten  Zeit  beobachtete  ich  wechselnde  Pupillen- 
starre; ferner  sind  ungleiche  Innervation  der  Gesichtshälften,  Zittern 
der  Zunge,  der  Mundmuskulatur,  Abweichen  der  Zunge,  namentlich 
aber  starke  Steigerung  der  Sehnenreflexe  sehr  häufig.  Meist  besteht 
besondere  Empfindlichkeit  gegen  Alkohol.  In  einzelnen  Fällen  ent- 
wickelt sich  nach  Trauma  geradezu  das  Krankheitsbild  der  Paralyse. 
Ob  es  sich  dabei  bisweilen  um  eine  eigenartige  Erkrankung  oder 
nur  um  die  Auslösung  des  bereits  vorbereiteten  Leidens  handelt, 
lässt  sich  nicht  sicher  entscheiden. 

Die  verschiedenen  Formen  des  Schwachsinns  bei  Kirnleiden  sind 
im  Ganzen  überaus  häufige  Erkrankungen,  wenn  sie  auch  dem  Irren- 
arzte nur  selten,  vielmehr  zumeist  dem  inneren  Mediciner  oder  dem 
Nervenärzte  zu  Gesicht  kommen.  Wir  dürfen  annehmen,  dass  jede 
ausgedehntere  Erkrankung  der  Hirnrinde  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  psychische  Störungen  erzeugen  muss,  auch  wenn  wir  sie  heute 
bei  oberflächlicher  Betrachtung  nicht  immer  aufzudecken  verstehen. 

Die  Abgrenzung  von  der  Paralyse  ergiebt  sich  im  Leben  theils 
aus  den  ursächlichen  Verhältnissen,  theils  aus  der  Art  der  klinischen 
Entwicklung,  theils  endlich  aus  den  besonderen  Zeichen  herdartig 
umschriebener  Hirnerkrankuugen.  Diffuse  Erkrankungen  der  Hirn- 
rinde lassen  sich,  wie  es  scheint,  durch  die  Symptome  allein  nicht 
mit  Sicherheit  von  der  Paralyse  trennen.  Mitunter  können  organische 
Himerkrankungen  hysterieähnliche  Bilder  erzeugen,  und  umgekehrt 


316 


VII.  Das  Irresein  bei  Hirnerkrankungen. 


vermag  die  Hysterie  die  Zeichen  eines  schweren  Hirnleidens  vorzu- 
täuschen. Auf  die  einzelnen  Unterscheidungsmerkmale  in  solchen 
schwierigen  Fällen  können  wir  indessen  hier  nicht  eingehen,  da  sie 
wesentlich  auf  rein  neurologischem  Gebiete  liegen. 

Die  Behandlung  wird  sich  hier  im  allgemeinen  auf  die  Be- 
kämpfung der  Krankheitserscheinungen  zu  beschränken  haben.  An 
eine  ursächliche  Behandlung  kann  nur  bei  den  syphilitischen  Herd- 
erkrankungen, bei  umschriebenen  Geschwülsten,  Abscessen  und  beiden 
Hirnverletzungen  gedacht  werden,  namentlich  bei  Knocheneindrücken 
und  Absprengungen.  In  frischen  Fällen  ist  hier  der  operative  Ein- 
griff oft  von  ausgezeichnetem  Erfolge  begleitet.  Dagegen  hat  die 
Erfahrung  gelehrt,  dass  bei  langsam  sich  entwickelnden  Störungen 
nach  Trauma  die  Ergebnisse  auch  dann  weit  weniger  günstige  sind, 
wenn  Knocheneindrücke,  Narbenschmerzen,  halbseitige  Krämpfe  auf 
einen  bestimmten  Sitz  des  Leidens  hinweisen.  Meist  erreicht  hier 
die  Trepanation  mit  Entfernung  der  erkrankten  Theile  nur  eine 
vorübergehende  Besserung;  nach  einiger  Zeit  pflegt  sich  der  frühere 
Krankheitszustand  wieder  herauszubilden.  Wir  müssen  daraus 
schliessen,  dass  es  sich  in  solchen  Fällen  thatsächlich  nicht  um  eine 
eng  abgegrenzte,  sondern  um  eine  ausgebreitete  Veränderung  in 
der  Hirnrinde  handelt,  welche  sich  durch  den  örtlichen  Eingriff 
nicht  mehr  beseitigen  lässt. 


YIII.  Das  Irresein  des  ßückbildnng’salters. 


Als  Irresein  des  Rückbildungsalters  wollen  wir  alle  diejenigen 
Geistesstörungen  zusammenfassen,  die  in  ursächlichen  Beziehungen 
zu  den  allgemeinen  Altersveränderungen  stehen.  Ohne  Zweifel  giebt 
es  eine  Reihe  von  psychischen  Erkrankungen,  die  in  den  verschie- 
densten Lebensabschnitten  auftreten  können;  ebenso  unzweifelhaft 
ist  es  jedoch,  dass  sich  in  der  Zeit  des  körperlichen  Niederganges 
ganz  bestimmte  Formen  des  Irreseins  einstellen,  die  in  ihrer  klini- 
schen Gestaltung  den  Ursprung  aus  den  Rückbildungsvorgängen 
verrathen.  In  besonderem  Maasse  gilt  das  für  das  eigentliche  Greisen- 
alter;  aber  auch  schon  vorher,  vom  5.  Lebensjahrzehnte  an,  beginnen 
sich  die  ersten  Zeichen  auch  des  geistigen  Rückganges  in  dem  Auf- 
treten eigenartiger  Formen  des  Irreseins  bemerkbar  zu  machen.  Eine 
scharfe  Grenze  lässt  sich  natürlich  zwischen  diesen  beiden  Lebens- 
abschnitten nicht  ziehen.  Immerhin  tragen  die  Geistesstörungen  der 
Rückbildungsjahre  im  engeren  Sinne  trotz  mancher  gemeinsamer 
Züge  doch  ein  etwas  anderes  Gepräge,  als  diejenigen  des  eigent- 
lichen Greisenalters.  Ihre  kennzeichnende  Erkrankungsform  ist  in 
erster  Linie  die  Melancholie;  daneben  werden  wir  noch  kurz  den 
eigenartigen  praesenilen  Beeinträchtigungswahn  zu  schildern 
haben.  Den  letzten  Abschnitt  dagegen  bilden  die  verschiedenartigen 
Gestaltungen  des  Altersblödsinns. 

A.  Die  Melancholie.*) 

Mit  dem  Namen  der  Melancholie  bezeichnen  wir  alle  krank- 
haften ängstlichen  Verstimmungen  der  höheren  Lebens- 

*)  v.  Krafft-Ebing,  Die  Melancholie;  Christian,  etude  sur  la  melancolie 
1876;  Voisin,  de  la  melancolie.  1881;  Koubinowitsch  et  Toulouse,  la  me- 
lancolie. 1897. 


31B 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


alter,  welche  nicht  Verlaufsabschnitte  anderer  Formen 
des  Irreseins  darstellen.  Ausser  der  gemüthlichen  Störung  ge- 
hören zum  Krankheitsbilde  der  Melancholie  regelmässig  noch  Wahn- 
bildungen,  namentlich  Versündigungswahn,  aber  auch  Verfolgungs- 
ideen und  hypochondrische  Vorstellungen.  Die  Entwicklung  der 
Krankheit  vollzieht  sich  allmählich,  nachdem  meist  bereits  Monate, 
bisweilen  selbst  Jahre  lang  allerlei  unbestimmtere  Anzeichen  vorauf - 
gegangen  sind,  Kopfschmerzen,  Schlaflosigkeit,  Appetitlosigkeit,  Ver- 
stopfung, Mattigkeit,  Schwere  in  den  Gliedern,  Herzklopfen,  Ohren- 
sausen, Unschlüssigkeit,  Arbeitsunlust.  Die  Kranken  werden  nieder- 
geschlagen, verzagt,  weinerlich,  ängstlich;  wüste  Gedanken  steigen  ihnen 
auf,  Sorgen,  Befürchtungen,  Zweifel,  Selbstquälereien.  Sie  fühlen 
sich  schwer  krank,  dumm  im  Kopf,  sind  zerstreut,  vergesslich, 
bringen  nichts  mehr  fertig,  legen  die  Hände  in  den  Schooss,  um  ver- 
zweifelt zu  jammern  und  zu  wehklagen.  Freilich  schieben  sich 
dazwischen  einzelne  freiere  Tage  oder  Stunden  ein,  allein  allmählich 
stellt  sich  immer  klarer  heraus,  dass  die  vielleicht  zunächst  als  Folge 
eines  traurigen  Ereignisses  aufgefasste  Verstimmung  krankhafte  Aus- 
dehnung gewinnt. 

Vor  allem  zeigt  sich  sehr  bald  die  Entwicklung  der  dem  melan- 
cholischen Krankheitsbilde  besonders  eigenthümlichen  Versündi- 
gungsideen. Der  Kranke  beginnt  in  seiner  Verstimmung  sein 
früheres  Leben  zu  mustern.  Mit  erschreckender  Deutlichkeit  stellen 
sich  ihm  dabei  eine  ganze  Reihe  von  kleinen  imd  grossen  Ver- 
fehlungen vor  Augen,  die  ihm  jetzt  als  schwärzeste  Unthaten  und 
als  der  wahre  Grund  seiner  trüben  Gemüthsverfassung  erscheinen. 
Bisweilen  klagen  sich  die  Kranken  nur  in  allgemeinen  Ausdrücken 
an.  Sie  seien  schlecht,  nichts  mehr  werth,  Scheusale,  mit  Bosheit 
angefüllt,  haben  Fehler  begangen,  etwas  angestellt,  dumme  Streiche 
gemacht,  betrogen,  Unkeuschheit  getrieben,  nicht  gelebt,  wie  siclrs 
gehört.  Meist  aber  knüpfen  sich  die  Selbstanklagen  an  bestimmte, 
aber  mehr  oder  weniger  harmlose,  oft  sehr  weit  zurückliegende  Er- 
lebnisse an.  So  führte  ein  59  Jahre  alter  Krauker  an,  er  habe 
als  Junge  „Aepfel  und  Nüss’“  gestohlen,  „einer  Kuh  an  der  Natur 
herumgespielt“.  Das  Gewissen  regt  sich;  „freilich  wär’s  besser  ge- 
wesen, wenn  es  sich  schon  früher  geregt  hätte“,  meinte  er  auf  meinen 
Einwand,  dass  er  sich  doch  bis  dahin  über  die  vermeintlichen  Sünden 
keine  Gedanken  gemacht  habe.  Andere  haben  einmal  einen  Bettler 


Melancholie. 


319 


unfreundlich  abgewiesen,  bei  einer  Erkrankung  nicht  rechtzeitig  den 
Arzt  gerufen,  den  Tod  eines  Angehörigen  durch  mangelhafte  Pflege 
verschuldet,  imrichtige  Aussagen  gemacht,  Jemanden  beim.  Kauf 
iibervortheilt,  im  Amte  nicht  ihre  volle  Kraft  eingesetzt.  Durch  das 
Miethen  einer  Wohnung,  das  Unternehmen  eines  Neubaues,  einen 
unbedachten  Kauf,  einen  Selbstmordversuch  haben  sie  ihre  Familie 
ins  Elend  gebracht;  sie  haben  gelogen,  ihre  Krankheit  übertrieben, 
sich  verstellt,  den  Arzt  und  die  Angehörigen  hintergangen,  sich  nicht 
genug  „zusammengenommen“,  hätten  nicht  in  die  Anstalt  gehen 
sollen,  dann  wäre  alles  ganz  anders  gekommen.  In  ganz  vereinzelten 
Fällen  endlich  liegen  auch  wirkliche  ernstere  Verschuldungen  zu 
Grunde,  mit  denen  sich  der  Kranke  in  gesunden  Tagen  längst  ab- 
gefunden hatte,  die  aber  nun  von  neuem  drohend  in  seiner  Erinne- 
rung auftauchen.  Häufig  spielen  die  Selbstanklagen  in  das  religiöse 
Gebiet  hinüber.  Der  Kranke  kann  nicht  mehr  so  beten  wie  früher, 
hat  den  Glauben,  den  Segen  Gottes,  die  ewige  Seligkeit  verloren, 
die  Sünde  wider  den  Heiligen  Geist  begangen,  die  Kirche  nicht 
fleissig  besucht,  das  Göttliche  verkauft,  nicht  genug  Lichter  geopfert, 
ist  vom  Herrgott  abgefallen,  vom  Teufel  besessen;  der  Geist  Gottes 
hat  ihn  verlassen;  der  böse  Feind  hat  ihn  holen  wollen.  Ihm  ist, 
als  dürfe  er  nicht  in  die  Kirche  hinein;  er  muss  mit  der  Sünden- 
schuld in  die  Ewigkeit  gehen,  arme  Seelen  erlösen. 

Einen  guten  Einblick  in  den  Seelenzustand  solcher  Kranken 
gewährt  der  nachfolgende  Ausschnitt  aus  dem  Briefe  einer  Dame, 
in  welchem  sich  Versündigungsideen  mit  unklarem  Krankheits- 
gefühl und  der  Hoffnung  auf  Genesung  in  sehr  bezeichnender  Weise 
mischen. 

„Ein  krankhafter,  teuflischer  Zug  trieb  mich  von  Hause  fort;  ich  war  krank, 
ebenso  wie  ich  jetzt  krank  hin,  geplagt  von  Gewissenspein.  Die  Meinigen  mussten 
glauben,  dass  ich  krank  sei,  mussten  mich  hierher  bringen,  weil  ich  noch  mehr 
Krankheit  heuchelte,  als  factisch  da  war,  und  nur  ein  in  derartigen  Betrügereien 
erprobter  Arzt  das  Falsche  vom  Wahren  unterscheiden  konnte.“  . . . „Mein  Leben 
war  eine  lange  Kette  von  Lügen,  indem  ich  mich  besser  stellte,  als  ich  war,  tiefere 
Gefühle  heuchelte,  als  ich  sie  hatte,  wovon  ich  mich  gerade  in  letzter  Zeit  immer 
mehr  überzeugte , dass  ich  lange  nicht  das  leisten  konnte , was  man  von  mir 
voraussetzte.  Ich  kam  eben  in  einen  solchen  Zwiespalt,  dass  ich  zur  Verbrecherin 
wurde,  indem  ich  N.  verliess.“  . . . „Wenn  ich  immer  sagte,  ich  könne  nicht  mehr 
lügen,  so  wollte  ich  damit  sagen,  dass  ich  nicht  mehr  im  Stande  sei,  ein  schein- 
bar guter  Mensch  zu  sein,  während  ich  doch  eigentlich  durch  und  durch  nichts 
taugte.“  ...  „0  fürchterliches  Gericht,  dass  ich,  ein  erbärmliches  Wesen,  ein 


320 


VIII.  Das  Irresein  des  Kückbildungsalters. 


Räthsel,  wie  es  vielleicht  nur  wenige  giebt,  so  viel  Schönes,  Edles  zerstören  musste. 
Mir  graut  davor;  ich  möchte  mich  einzeln  zerstückeln  lassen,  wenn  ich  nur  etwas 
ungeschehen  machen  könnte.“  . . . „ Jetzt,  wo  alles  zu  spät  ist,  kommt  es  mir  vor, 
als  könnte  es  wieder  sein,  wenn  Alle  nur  vergessen  könnten,  aber  dies  ist  unmög- 
lich, und  das  Fatum  muss  sich  erfüllen.“ 

Griesinger  hat  das  Auftreten  von  Versündigungsideen  aus 
dein  Untergründe  der  trüben  Verstimmung  als  eine  Art  Erklärungs- 
versuch angesehen,  den  der  Kranke  unternimmt,  um  sich  überden 
Ursprung  des  peinlich  empfundenen  Unbehagens  Rechenschaft  zu 
geben,  ähnlich  etwa,  wie  der  Gesunde  nach  einem  schweren  Schicksals- 
schlage geneigt  ist,  über  die  Fehler  und  Unterlassungen  nachzu- 
grübeln, welche  vielleicht  das  Unheil  haben  herbeiführen  helfen. 
Es  ist  wahrscheinlich,  dass  in  der  That  ein  tieferer  Zusammenhang 
zwischen  Verstimmung  und  Versündigungswahn  besteht,  aber  schwer- 
lich ist  derselbe  durch  Ueberlegungen  vermittelt.  Das  lehren  am 
besten  die  häufigen  Fälle,  in  denen  die  Kranken  sich  geradezu 
gegen  die  in  ihnen  zahlreich  auftauchenden  Selbstvorwürfe  mit  allen 
Kräften  wehren.  Ich  habe  doch  nichts  Schlechtes  gethan,  nichts 
gestohlen,  das  Vaterland  nicht  verrathen,  hört  man  solche  Kranke 
jammern.  Andere  fürchten,  dass  man  sie  wegen  des  Todes  eines 
Angehörigen  im  Verdachte  des  Giftmordes  haben  könne  („Ist  denn 
Gift  gefunden?“),  sie  vor  Gericht  stelle,  weil  sie  über  den  Kaiser 
geschimpft,  ein  Attentat  geplant  haben  sollen. 

Für  den  gemeinsamen  Ursprung  der  Versündigungsideen  und 
der  Verstimmung  aus  einer  krankhaften  Veränderung  des  Gesammt- 
zustandes  spricht  ferner  auch  die  häufige  Beobachtung,  dass  die 
Selbstanklagen  sich  fortlaufend  an  alle  Handlungen  und  Erlebnisse 
des  Kranken  anknüpfen.  Er  merkt,  dass  er  immer  neue  Fehler 
begeht,  so  dumm  daherredet,  Alle  beleidigt  „Was  ich  mache,  ist 
verkehrt;  ich  muss  immer  alles  wieder  zurücknehmen,  was  ich 
rede.“  Er  macht  zu  viel  Mühe,  ist  Schuld,  dass  die  Andern  so 
jammern,  fortgebracht  werden.  „Ich  werd’  wol  der  Thäter  sein  von 
all  Dem“,  meinte  ein  Kranker.  Er  hat  alle  Mitkranken  herein- 
gebracht, muss  für  Alle  sorgen,  ist  für  Alle  verantwortlich,  jammert, 
dass  er  doch  nicht  im  Stande  sei,  die  Andern  zu  füttern,  den  Dienst 
des  Oberwärters  zu  versehen,  für  Alle  zu  zahlen.  Alle  müssen 
hungern,  wenn  er  isst. 

In  solchen  Fällen  gewinnen  alle  Vorgäuge  in  der  Umgebung 


Melancholie. 


321 


sofort  eine  besondere  Bedeutung  für  das  eigene  Wohl  und  Wehe. 
Der  Kranke  bezieht  jede  Aeusserung  der  Mitkranken  auf  sich;  die- 
selben sind  unruhig  um  seinetwillen,  beschimpfen  ihn,  sprechen 
über  seine  Angelegenheiten.  „Jemand  hat  von  Amerika  gesprochen; 
gewiss  ist  mein  Sohn  mit  dem  Schiff  untergegangen,“  sagte  eine 
Krau.  Der  Kranke  fühlt  sich  zu  viel  da,  gehört  nicht  daher,  sollte 
fort,  ist  Allen  ein  Dorn  im  Auge.  Die  Anderen  missbilligen  seine 
Anwesenheit,  empfinden  sie  als  eine  Beleidigung,  können  ihn  gar 
nicht  mehr  unter  sich  dulden.  Er  ist  ehrlos,  wird  ausgelacht,  kann 
sich  nicht  mehr  sehen  lassen. 

An  das  bisher  gezeichnete  Bild  des  Versündigungswahns 
schliessen  sich  nicht  selten  noch  andere  depressive  Vorstellungskreise 
an,  die  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  entwickelt  sein  können. 
Am  häufigsten  handelt  es  sich  um  die  Befürchtung  schwerer  Strafen, 
die  sich  gewissermassen  als  Folgerung  aus  dem  Schuldbewusstsein 
ergiebt.  Der  Kranke  ist  so  sündhaft  und  verworfen,  dass  ihm  Gott 
nicht  mehr  verzeihen  kaun ; er  wird  verdammt  werden,  in  die  Hölle 
kommen.  Man  wird  ihn  abholen,  fortschleppen,  vor  Gericht  stellen, 
ihm  den  Process  machen,  ihn  ins  Zuchthaus  sperren,  öffentlich  preis- 
geben, hinrichten,  ins  Feuer,  ins  heisse  Wasser  werfen,  ersäufen. 
Die  Leute  stehen  schon  draussen;  die  Anklageschrift  ist  schon  ge- 
schrieben; er  ist  ganz  verlassen,  bittet  um  gnädige  Strafe;  wie  wirds 
ihm  ergehen!  Freilich  hat  er  es  nicht  anders  verdient,  ist  das  Essen 
nicht  werth,  das  man  ihm  reicht,  will  gerne  büssen  für  seine 
Schlechtigkeit,  verlangt  Gift.  Nicht  selten  schildert  er  daher  seine 
Fehler  in  recht  lebhaften  Farben  oder  bekennt  selbst  Dinge,  die  er 
gar  nicht  begangen  hat,  um  die  Bestrafung  zu  erreichen,  die  ihm  die 
Ruhe  seines  Gewissens  wiedergeben  soll.  Auch  die  Angehörigen  müssen 
leiden,  werden  gemartert;  „sie  werden  doch  hoffentlich  noch  daheim 
sein?“  Die  Familie  ist  eingesperrt;  die  Kinder  verhungern,  liegen 
in  Ketten,  werden  von  den  Wölfen  gefressen;  die  Tochter  muss 
nackt  im  Schnee  herumirren. 

In  anderen  Fällen  tragen  die  Wahnvorstellungen  mehr  hypo- 
chondrischen Inhalt.  Der  Kranke  ist  das  elendeste,  unglücklichste 
Menschenkind  auf  der  ganzen  Welt;  so,  wie  er,  hat  noch  nie  ein 
Wesen  gelitten;  seit  Jahrtausenden  ist  so  etwas  nicht  vorgekommen. 
Alles  ist  aus  und  vorbei  durch  seine  eigene  Schuld;  er  ist  jetzt  so 
tief  hineingerathen,  dass  seine  Genesung  gar  nicht  mehr  möglich  ist. 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  AuQ.  II.  Band.  21 


322 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


Er  hat  Gift  bekommen;  Krebs  und  Schlaganfall  sind  im  Anzuge; 
jede  Hoffnung  ist  verloren;  er  muss  „verrückt“  werden,  sein  Lebe- 
lang in  der  Anstalt  bleiben,  sterben,  verlangt  operirt  zu  werden. 
In  Eolge  von  alten  „Jugendsünden“,  Onaniren,  überstandener  Syphilis 
ist  das  ganze  Nervensystem  zerrüttet,  die  Lunge  angegriffen,  der 
Magen  vollständig  in  Unordnung;  der  Stuhlgang  geht  nicht  mehr; 
man  hat  ihn  dumm  gemacht.  Endlich  erstrecken  sich  die  Befürch- 
tungen häufig  auch  auf  die  äusseren  Verhältnisse  des  Kranken.  Es 
langt  nicht  mehr;  er  muss  sparen,  kann  nicht  mehr  zahlen,  hat 
sein  ganzes  Vermögen  verloren,  soll  aus  dem  Amte  gejagt  werden, 
muss  betteln  gehen. 

Nicht  selten  bestehen  neben  den  Wahnvorstellungen  einzelne 
Sinnestäuschungen,  freilich  meist  ziemlich  unbestimmter  Art 
Der  Kranke  sieht  Engel,  Kinder,  Teufel,  Schutzmänner,  die  ihn  holen 
■wollen,  erblickt  seine  Angehörigen  als  Leichen  vor  sich;  man  führt 
ihm  alles  Schreckliche  von  Hause  vor  Augen;  alles  wird  ihm  vor- 
gespiegelt, ganz  tolles  Zeug.  Innere  Stimmen,  „Einsprechungen“ 
fordern  ihn  zum  Selbstmorde  auf,  machen  ihm  Vorwürfe,  rufen  ihm 
zu : „Du  schlechtes  Mensch !“ 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  meist  ungetrübt.  Abgesehen 
von  den  wahnhaften  Deutungen  fassen  sie  die  Personen  und  Vor- 
gänge in  ihrer  Umgebung  richtig  auf;  die  Orientirung  bleibt  er- 
halten. Freilich  kommt  es  vor,  dass  die  Kranken  glauben,  an  ganz 
anderem  Orte,  nicht  in  der  „richtigen“  Anstalt,  bei  „richtigen“ 
Aerzten,  sondern  im  Zuchthause  zu  sein,  dass  sie  die  Mitkranken 
für  Bekannte  oder  Angehörige  halten,  Briefe  als  gefälscht  bezeichnen- 
Allein  man  überzeugt  sich  leicht,  dass  dabei  die  Wahrnehmung  an 
sich  nicht  gestört  ist.  Auch  der  Gedaukengang  zeigt  keine  gröberen 
Widersprüche  und  ist  zusammenhängend,  wenn  auch  meist  sehr  ein- 
förmig. In  dem  begrenzten  Rahmen  der  krankhaften  Vorstellungen 
kann  dabei  allerdings  die  Menge  der  auftauchenden  Gedanken  eine 
recht  grosse  sein.  Die  Kranken  müssen  zwangsmässig  immer  wieder 
über  die  Vergangenheit  und  über  allerlei  traurige  Möglichkeiten 
nachgrübeln.  Vielfach  klagen  sie  geradezu  darüber,  dass  ihnen  so 
Vieles  einfällt  und  sie  sich  an  alle  möglichen  Dinge  erinnern  müssen, 
die  ihnen  längst  entfallen  waren  und  nun  mit  peinlicher  Deutlich- 
keit sich  wieder  aufdrängen.  „Ich  komme  in  der  ganzen  Welt  herum 
mit  meinen  Gedanken,“  meinte  eine  solche  Kranke.  In  der  Regel 


Melancholie. 


323 


besitzen  sie  ein  deutliches  Gefühl  für  die  Veränderung,  welche  die 
Krankheit  erzeugt  hat,  wenn  auch  nicht  immer  die  wirklichen 
Krankheitszeichen  als  solche  klar  erkannt  werden;  der  Kopf  ist 
verfinstert;  „ich  hab’s  gerade  wie  eine  Gemüthskrankheit“.  Vor- 
übergehend Averden  auch  wol  einzelne  der  Wahnvorstellungen 
von  dem  Kranken  berichtigt;  sobald  jedoch  die  gemtithliche  Er- 
regung steigt,  geht  die  besonnene  Ueberlegung  rasch  wieder  ver- 
loren. 

Von  diesen  leichteren  Formen  der  Erkrankung  führen  all- 
mähliche Uebergänge  zu  einer  zweiten,  weit  weniger  zahlreichen  und 
besonders  den  höheren  Lebensaltern  angehörenden  Gruppe  von 
Fällen,  bei  der  die  Wahnbildungen  der  Kranken  einen  ganz  aben- 
teuerlichen, unsinnigen  Inhalt  annehmen.  Es  handelt  sich  hier 
um  jenes  klinische  Bild,  welches  man  vielfach  unter  dem  Namen 
des  depressiven  Wahnsinns  geschildert  hat.  Die  ganze  Umgebung 
erscheint  in  schreckhafter  Weise  verändert.  Die  Häuser  machen 
den  Eindruck  von  Festungen;  die  Anstalt  ist  ein  Todtenpalast,  ein 
ewiges  Haus,  ein  Gefängniss  ohne  Ausgang  und  Zugang,  in  welchem 
sich  fürchterliche  Ereignisse  abspielen.  Jedes  Geräth,  jeder  Vorgang 
hat  einen  grauenerregenden,  unheimlichen  Anstrich;  die  Worte  der 
Umgebung  enthalten  einen  versteckten  Sinn.  Das  Licht  ist  ein 
Todtenlicht,  das  Bett  ein  Zauberbett,  der  rasselnde  Wagen  draussen 
ein  Leichenwagen;  die  Bäume  im  Walde,  die  Felsen  erscheinen 
unnatürlich,  als  wenn  sie  künstlich  gemacht  und  eigens  für  ihn  dort 
aufgebaut  wären.  Die  Personen,  die  ihn  besuchen,  sind  nicht  die 
richtigen,  werden  ihm  nur  vorgemacht;  die  Aerzte  sind  Figuranten, 
ja  selbst  die  Sonne,  der  Mond,  das  Wetter  sind  ganz  anders,  als 
früher,  und  kommen  ihm  vor  wie  Blendwerk,  dazu  bestimmt,  ihn 
noch  mehr  zu  verwirren.  Aus  allen  Wahrnehmungen  ziehen  die 
Kranken  die  absonderlichsten  Schlüsse.  Fliegende  Baben  bedeuten, 
dass  die  Tochter  im  Keller  zerschnitten  wird;  der  Sohn  hat  beim 
Besuche  einen  schwarzen  Shlips  getragen,  also  ist  die  Kleinste  todt. 
Ein  abgenutztes  Streichholz  sagt  dem  Kranken,  dass  er  ebenfalls 
verbraucht  sei  und  den  Kopf  verlieren  müsste;  die  Krautsuppe  bei 
Tisch  soll  ihn  an  den  Scharfrichter  „Krauts“  erinnern,  der  ihn  alsbald 
hinrichten  wird. 

Der  Kranke  hat  die  ganze  Welt  ins  Unglück  gestürzt,  die  eigenen 
Kinder  gegessen,  die  Gnadenquelle  fortgetrunken,  die  Dreifaltigkeit 

21  * 


824 


VIII.  Das  Irresein  des  Eiickbildungsalters. 


gepeinigt,  kann  nicht  leben  vor  Schande.  Die  Häuser  fallen  ein: 
Städte  und  Länder  sind  um  seinetwillen  verwüstet  worden;  jedes- 
mal, wenn  er  isst  oder  wenn  er  sich  im  Bette  umdreht,  wird  ein 
Mensch  hingerichtet.  In  der  Nacht  schläfert  man  ihn  ein,  bringt 
ihn  fort,  lässt  ihn  tolle  Streiche  begehen,  für  die  man  ihn  später 
verantwortlich  machen  wird,  ohne  dass  er  etwas  davon  weiss.  Er 
ist  nicht  werth,  dass  mau  mit  ihm  spricht,  ihn  auch  nur  ansieht; 
man  soll  ihn  doch  nur  erschiessen,  in  ein  finsteres  Loch  werfen, 
lebendig  begraben,  ihm  die  Zunge  herausreissen,  den  Kopf  ab- 
schlagen;  er  will  sich  vom  Abfall  nähren  und  auf  der  Diele  schlafen. 
Man  soll  ihn  in  den  Fluss  werfen,  nackt  in  den  Wald  hinauslaufen 
lassen,  am  besten,  wenn  es  recht  schneit  und  friert.  Die  Welt  geht 
unter;  das  jüngste  Gericht  kommt;  die  Rache  Gottes  bricht  herein: 
er  wird  von  einer  Million  Teufel  geholt,  auf  ein  „ExtraschafFot“  ge- 
schleppt, nach  Sibirien  zu  den  Eskimos  geschickt,  an  eine  Leiche 
festgebunden,  nackt  im  wilden  Wald  von  den  Wölfen  zerrissen,  in 
1000  Stücke  zerfetzt;  ihm  wird  die  Haut  abgezogen;  Hände  und 
Füsse  werden  ihm  abgehackt.  Die  Angehörigen  werden  vom  Pöbel 
umgebracht,  gekreuzigt,  müssen  Trillionen  von-  Jahren  unter 
Räubern  und  Mördern  leben;  den  Kindern  ist  das  Augenwasser 
herausgelassen  worden. 

In  einzelnen  Fällen  wird  das  Krankheitsbild  ganz  durch  so- 
genannte „nihilistische“  Wahnideen  beherrscht.  Es  ist  kein  Geld 
mehr  da;  es  giebt  keine  Eisenbahnen,  keine  Städte,  keine  Aerzte  mehr: 
das  Meer  läuft  aus.  Alle  Menschen  sind  todt.  verbrannt,  verhungert, 
weil  es  nichts  mehr  zu  essen  giebt,  weil  der  Kranke  in  seinen  un- 
geheuren Magen  alles  hiueingeschlungen.  die  Wasserleitung  leer 
getrunken  hat.  Niemand  isst  oder  schläft  mehr;  der  Kranke  ist  das 
einzige  Wesen  von  Fleisch  und  Blut,  allein  auf  der  Welt,  nicht  mehr 
da,  überhaupt  gar  nichts  mehr.  Er  hat  kein  Nachtlager,  keinen 
Namen,  kann  nicht  sterben,  nicht  todtgeschlagen  werden,  ist  so  alt 
wie  die  Welt,  muss  ewig  herumlaufen.  Es  wird  nicht  mehr  Nacht: 
alles  ist  gefälscht  und  Schein;  die  Menschen  sind  Schatten  und 
Geister;  es  ist  ein  ganz  anderes  Jahrhundert..  Einer  meiner  Kranken 
hielt  die  Sonne  für  künstliche  elektrische  Beleuchtung  und  beklagte 
sich  über  die  Schwäche  seiner  Augen,  weil  er  die  eigentliche  Sonne 
(in  der  Nacht)  nicht  sehen  könne.  Bisweilen  gesellt  sich  dazu  die 
Vorstellung  häufiger  Ortsveränderung.  „Ich  bin  wieder  da,“  sagte 


Melancholie. 


325 


eine  Kranke  bei  jeder  Visite,  da  sie  meinte,  sie  werde  immer  fort- 
geführt, sei  jede  Stunde  an  einem  anderen  Ort. 

Häufig  sind  ferner  gerade  hier  unsinnige  hypochondrische  Vor- 
stellungen. Es  ist  ein  Stück  aus  dem  Kopf  in  den  Schlund  gefahren; 
der  Teufel  hat  das  Gehirn  herausgenommen;  im  Schädel  ist  Dreck; 
die  Adern  sind  eingetrocknet,  mit  Gift  gefüllt;  die  Kehle  geht  zu; 
ein  Stein  sitzt  im  Halse;  in  allen  Gliedern  steckt  Eiter  und  geht 
massenhaft  mit  dem  Stuhlgang  fort,  wird  beim  Räuspern  aus- 
geworfen. Unter  der  Haut  liegen  Würmer  und  krabbeln;  die  Haut 
ist  über  den  Achseln  zu  eng;  der  Körper  dehnt  sich  aus  oder 
schrumpft  zusammen;  auf  der  Brust  sitzt  das  Panzergefühl.  Es  ist 
aus;  der  Kranke  ist  todt,  versteinert,  syphilitisch,  innerlich  verfault, 
stinkt,  wird  das  ganze  Krankenhaus  anstecken,  hat  keine  Augen, 
keinen  Athem,  keinen  Kopf,  keine  Seele  und  kein  Herz  mehr,  kann 
nicht  sitzen,  keinen  Schritt  gehen,  nicht  die  Hand  geben.  Er  ist  in 
ein  wildes  Thier  verwandelt,  wenigstens  innerlich,  muss  bellen,  rasen 
und  toben. 

Auch  geschlechtliche  Wahnideen  sind  nicht  selten.  Eine  65jährige 
Kranke  beklagte  sich  über  unsittliche  Angriffe,  glaubte,  in  einem 
schlechten  Hause  untergebracht,  in  die  Wochen  gekommen  zu  sein; 
eine  andere  in  gleichem  Alter  wähnte  sich  fortwährend  den  Nach- 
stellungen alter  Junggesellen  ausgesetzt,  die  sich  zu  ihr  ins  Bett 
legten.  Vielfach  halten  weibliche  Kranke  ihre  Mitkranken  für  ver- 
kleidete Männer.  Ein  älterer  Herr  wurde  seiner  Meinung  nach 
gegen  seinen  Willen  allnächtlich  in  Bordells  herumgeschleppt,  um 
dort  syphilitisch  gemacht  zu  werden. 

Endlich  kommt  es  in  einzelnen  Fällen,  namentlich  bei  vor- 
geschrittener geistiger  Schwäche,  auch  zur  Entwicklung  dürftiger 
Grössenideen.  Die  Kranken  erzählen  mit  geheimnissvoller  Miene, 
dass  man  sie  für  die  Jungfrau  Maria  halte,  die  nun  bald  mit  Christus 
niederkommen  werde,  dass  man  immer  glaube,  sie  hätten  die  ganze 
Welt  hergestellt,  könnten  Wunder  thun,  Gold  machen  und  alle 
Krankheiten  heilen.  Sie  sollen  in  einem  „silbernen  Kessel“  gesotten 
werden;  der  Kaiser  soll  kommen  und  sie  ansehen.  Der  Arzt  ist 
der  Grossherzog,  andere  Personen  der  Schah  von  Persien  oder  die 
Königin  von  England.  Eine  Kranke  mit  Namen  Fürst  meinte,  sie 
sei  nun  eine  Fürstin,  und  verlangte  fürstliches  Essen. 

Sinnestäuschungen  pflegen  hier  vielfach  eine  Rolle  zu  spielen. 


326 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


Teufelsstimmen  tönen  ins  Ohr;  im  Kopf  sitzt  ein  Männlein,  welches 
schwätzt;  die  Gedanken  werden  laut.  Eine  meiner  Kranken  gab 
an,  in  der  Zunge  zu  fühlen,  dass  sie  immerfort  unverantwortliche 
Sachen  rede.  Viele  dieser  Täuschungen  sind  wol  mehr  als  Illusionen 
aufzufassen.  Das  „schreckliche“  Essen  ist  fade  von  Geschmack  oder 
brennt  wie  Feuer  auf  der  Zunge.  Oft  stinkt  es  wie  die  Pest,  und 
der  Kranke  bemerkt  nun  bei  genauerem  Zusehen,  dass  es  ganz 
verdorben,  mit  Schimmel  bedeckt  ist,  sich  bewegt,  oder  dass  dem- 
selben die  abscheulichsten  Bestandteile,  Würmer,  Grünspan,  Blut. 
Menschenfleisch,  Sperma,  ganz  kleine  abgeschnittene  Köpfe  mit  grin- 
senden Fratzen  beigemischt  sind.  Die  kleinen  Knötchen  seiner  Bett- 
leinwand erscheinen  ihm  wie  zahlloses  Ungeziefer;  am  Fenster  er- 
blickt er  Todtengesichter,  die  Skelette  seiner  Angehörigen,  an  den 
Bäumen  aufgehängte  Leichen,  oder  er  sieht  Schlangen  auf  dem 
Boden  kriechen,  Katzen,  kleine  Männer  im  Zimmer  herumlaufen, 
glaubt  bis  an  die  Kniee  im  Blute  zu  waten. 

Das  Bewusstsein  erscheint  bei  dieser  Form  öfters  stärker 
getrübt,  die  Orientirung  unklar,  der  Gedankengang  verworren  und 
ungemein  einförmig,  namentlich  in  den  Zeiten  stärkerer  Erregung. 
Dennoch  ist  man  vielfach  überrascht  durch  die  Besonnenheit,  mit 
welcher  die  Kranken  auf  Fragen  Auskunft  geben  und  ihre  krank- 
haften Vorstellungen  äussern.  Bisweilen  besteht  sogar  ein  dumpfes 
Bewusstsein  von  der  Natur  der  Störung;  die  Kranken  klagen,  dass 
man  sie  durch  das  Essen,  die  Arzneien  ganz  verwirrt  gemacht, 
hypnotisirt  habe,  dass  sie  immerfort  Unsinn  reden,  bald  dies,  bald 
jenes  Verbrechen  bekennen  müssten,  verrückt  geworden  seien.  In 
anderen  Fällen  fehlt  den  Kranken  die  Fähigkeit  vollkommen,  selbst 
die  gröbsten  Widersprüche  zu  erkennen  und  zu  berichtigen;  sie 
behaupten,  dass  sie  keinen  Bissen  mehr  gemessen  könnten,  während 
sie  mit  vollen  Backen  kauen;  „dies  ist  der  letzte,“  meinte  einer 
meiner  Kranken  jedesmal,  wenn  man  ihn  auf  diesen  Widerspruch 
hinwies.  Sie  bitten  in  einem  Augenblicke,  dass  man  sie  durch  Gift 
aus  der  Welt  schaffen  möge,  während  sie  im  nächsten  erklären, 
dass  sie  überhaupt  nicht  sterben  könnten,  was  immer  man  auch  mit 
ihnen  anfange. 

Den  Grundzug  der  melancholischen  Verstimmung  bildet,  wie  ich 
glauben  möchte,  ganz  regelmässig  eine  mehr  oder  weuiger  deutliche 
Angst,  das  Gefühl  eines  schweren  Druckes,  einer  inneren  Beklemmung. 


Melancholie. 


327 


„Berg  und  Thal  liegen  auf  mir,“  sagte  mir  eine  Bäuerin,  die  später 
durch  Selbstmord  endete.  Die  Kranken  fühlen  sich  verzagt,  klein- 
miithig,  unbehaglich  und  pflegen  diese  Verstimmung  als  „Heimweh“, 
Sehnsucht  nach  den  Angehörigen,  dem  Geschäft,  Scheu  vor  der 
fremden  Umgebung  zu  deuten. 

Gleich wol  wird  die  heimliche  Furcht  und  Beunruhigung  regel- 
mässig ganz  besonders  durch  den  Verkehr  mit  denjenigen  Personen 
verstärkt,  an  die  den  Kranken  die  innigsten  Gefühlsbeziehungen 
knüpfen.  Je  stärker  der  gemüthliche  Widerhall  ist,  den  ein  Ein- 
druck in  seinem  Innern  weckt,  desto  lebhafter  werden  auch  die 
krankhaften  Gefühle  angeregt.  Der  fremden  Umgebung  stehen  sie 
ziemlich  theilnahmlos  gegenüber,  obgleich  sie  alle  Vorgänge  gut 
aufzufassen  pflegen.  Sie  sind  jedoch  so  völlig  mit  sich  selbst  be- 
schäftigt, dass  sie  dadurch  wenig  berührt  werden.  So  erklärt  es 
sich,  dass  ganz  ruhige  Melancholiker  durch  die  Aufregungszustände 
ihrer  Mitkranken  auffallend  wenig  belästigt  werden  und  gewöhnlich 
erst  dann  darüber  klagen,  wenn  die  eigene  Verstimmung  schon  be- 
deutend abgenommen  hat. 

In  einer  Reihe  von  Fällen  entladet  sich  die  innere  Beängstigung 
in  heftigen  Gefühlsausbrüchen.  Man  spricht  dann  wol  von  einer 
Angstmelancholie  (Melancholia  activa),  doch  giebt  es  zwischen  diesen 
und  den  weniger  stürmisch  auftretenden  Formen  (Melancholia  Sim- 
plex) keinerlei  scharfe  Grenzen.  Die  Lebhaftigkeit  der  krankhaften 
Verstimmung  und  Erregung  zeigt  regelmässig  vielfache  Schwankungen. 
Während  die  Kranken  vorübergehend  nahezu  frei  erscheinen  können, 
brechen  zu  anderen  Zeiten,  namentlich  nach  Besuchen  oder  vorzeitigen 
Entlassungen,  bisweilen  plötzlich  Angstanfälle  von  ausserordentlicher 
Heftigkeit  herein,  die  sogar  mit  tiefer,  selbst  deliriöser  Bewusst- 
seinstrübung einhergehen  können  (Raptus  melancholicus).  Hie  und 
da,  besonders  in  sehr  schweren  Fällen,  sieht  man  auch  wol  ganz 
vorübergehend  eine  eigenthiimlich  heitere  Stimmung  hervortreten. 
Bald  kommt  es  nur  zu  einem  unbestimmten  Lächeln,  bald  auch 
zu  einer  Art  Galgenhumor.  Die  Kranken  sind  ärgerlich  und  ver- 
zweifelt, lachen  aber  über  ihre  Dummheit,  ihre  krankhaften  Ideen, 
über  Vorkommnisse  in  ihrer  Umgebung,  machen  witzige  Bemer- 
kungen und  jammern  zugleich  darüber,  dass  sie  lachen,  da  ihnen 
nichts  weniger  als  froh  zu  Muthe  sei.  Das  Auftreten  dieser  Stim- 
mung scheint  Zeichen  einer  gewissen  geistigen  Schwäche  zu  sein. 


328 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


Das  Handeln  des  Kranken  wird  durch  die  melancholische 
Verstimmung  stets  erheblich  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Er  ver- 
liert die  Lust  und  das  Interesse  an  seiner  Thätigkeit,  die  Thatkraft, 
kann  nicht  mehr  recht  schaffen,  sich  zu  keinem  Entschlüsse  auf- 
raffen. Ein  estnischer  Bauer  sagte  mir,  er  komme  sich  vor  wie  ein 
Rad  am  Wagen,  das  willenlos  mitlaufen  müsse.  Man  kann  sich 
^jedoch  leicht  davon  überzeugen,  dass  nicht  die  Ausführung  der  Be- 
wegungen an  sich  erschwert  ist.  Die  Kranken  befolgen  Aufforde- 
rungen, wenn  sie  nicht  durch  ihre  Angst  gehindert  werden,  ohne 
Zögern,  vollziehen  alle  Verrichtungen  in  natürlicher,  freier  Weise, 
wenn  auch  ohne  besondere  Kraft  und  Schnelligkeit. 

Es  scheint  sich  demnach  bei  der  Melancholie  nicht  um  eine 
psychomotorische  Hemmung,  sondern  wesentlich  um  die  Wirkung 
der  gemiithlichen  Verstimmung  auf  die  Schaffensfreudigkeit  zu 
handeln.  Dem  Kranken  erscheint  seine  Berufsarbeit  zwecklos  und 
vergeblich;  alles  wird  ihm  zu  viel,  steht  bergehoch  vor  ihm.  In 
Folge  dessen  verabsäumt  er  die  nothwendigsten  Geschäfte  und 
Pflichten,  lässt  alles  gehen,  wie  es  geht.  Manche  Kranke  suchen 
noch  eine  Zeit  lang  gegen  diese  Unfähigkeit  anzukämpfen,  führen 
mit  grösster  Anstrengung  nothdürftig  ihre  täglichen  Aufgaben  durch; 
andere  entwickeln  sogar  eine  fieberhafte  Thätigkeit,  bitten  flehentlich 
um  Arbeit,  stehen  des  Nachts  auf,  um  zu  schaffen,  stricken  bis  zur 
völligen  Erschöpfung,  um  dem  vermeintlichen  Vorwurfe  der  Faul- 
lenzerei zu  entgehen. 

Der  Gesichtsausdruck  der  Kranken  ist  bald  bekümmert, 
bald  weinerlich  oder  ängstlich  gespannt.  Manche  geben  nur  spär- 
liche, von  Seufzern  und  Jammern  unterbrochene  Auskunft;  andere 
haben  das  Bediirfniss,  sich  auszusprechen,  erzählen  eingehend 
von  ihrem  Zustande,  kommen  aber  freilich  immer  rasch  auf 
ihre  Klagen  zurück,  sobald  man  den  Versuch  macht  über  fern- 
liegende Dinge  mit  ihnen  zu  sprechen.  Vielfach  wird  das  Bild 
vollkommen  von  der  ängstlichen  Unruhe  und  Erregung  beherrscht. 
Die  Kranken  sind  unfähig,  ein  geordnetes  Gespräch  zu  führen 
oder  sich  zusammenhängend  zu  beschäftigen,  jammern  vor  sich  hin. 
verkriechen  sich,  fragen,  ob  sie  fortmüssen,  fortgejagt  werden,  ent- 
schuldigen sich,  dass  sie  noch  da  sind.  Bei  stärkerer  Angst  können 
sie  schliesslich  nicht  mehr  ruhig  sitzen  oder  liegen,  springen  immer 
von  neuem  wieder  auf,  um  rastlos  umherzuwandern,  irren  im 


Melancholie. 


329 


Wald  herum,  klammern  sich  an  Vorübergehende  an,  drängen  zur 
Thüre  hinaus,  da  sie  nicht  mehr  dableiben  können,  „so  starkes 
Heimweh  haben“.  Auch  im  Bette  finden  sie  keine  Ruhe,  sondern 
steigen  immer  und  immer  wieder  heraus,  reissen  auch  Andere  aus 
den  Betten,  rufen  um  Hülfe,  flehen  um  Gnade,  klagen  sich  an, 
jedem  Zuspruche  unzugänglich,  anfangs  leise,  dann  immer  lauter, 
Tag  und  Nacht  unablässig,  einförmig  dieselben  abgerissenen  Rede- 
wendungen wiederholend,  bis  zur  völligen  Heiserkeit.  Sie  ringen 
die  Hände,  zittern  und  beben  am  ganzen  Leibe,  zupfen  sich  Nase, 
Ringer,  Lippen,  Ohrläppchen  blutig,  schlagen  sich  mit  der  Faust 
vor  die  Stirn,  zerraufen  ihre  Haare,  entblössen  ihre  Genitalien, 
zerschlitzen  ihre  Kleider  und  wälzen  sich  am  Boden.  Allen 
äusseren  Einwirkungen,  allen  Beschwichtigungsversuchen  setzen 
sie  unter  raschem  Anwachsen  der  Angst  den  verzweifeltsten  Wider- 
stand entgegen. 

Es  ist  unter  diesen  Umständen  selbstverständlich,  dass  die  Be- 
friedigung der  körperlichen  Bedürfnisse  bei  den  Kranken  erhebliche 
Störungen  erleidet.  Die  Kranken  hören  auf,  regelmässig  zu  essen, 
verlieren  ganz  den  Appetit,  weisen  schliesslich  auch  wol  die  Nah- 
rung, wenigstens  das  Fleisch,  zurück,  spucken  alles  wieder  aus5 
weil  sie  das  Essen  nicht  werth  sind,  den  Andern  nichts  wegnehmen 
wollen,  nicht  bezahlen  können,  Gift  oder  Unrath  im  Essen  bemerken. 
Auch  Arzneien  oder  Bäder  werden  abgelehnt,  so  dass  die  Sorge  für 
Reinlichkeit  und  Körperpflege  auf  grosse  Schwierigkeiten  stösst.  Ein 
Kranker  lief  barfuss  herum,  um  an  die  Kälte  gewöhnt  zu  sein,  wenn 
er  in  den  Schnee  hinausgejagt  werde.  In  einzelnen  Fällen  tritt 
Harnverhaltung  und  Bettnässen  auf,  sei  es,  dass  die  Kranken 
das  Bedürfniss  nicht  beachten,  sei  es,  dass  sie  nicht  wagen,  es  zu 
befriedigen. 

Das  bei  weitem  schwerste  und  von  allen  Irrenärzten  mit  Recht 
ausserordentlich  gefürchtete  Krankheitszeichen  ist  bei  Melancholi- 
schen die  Neigung  zum  Selbstmorde,  die  nur  sehr  selten  ganz 
fehlt,  oft  genug  aber  auch  ungemein  stark  in  den  Vordergrund  tritt. 
Diese  Erfahrung  steht  in  voller  Uebereinstimmung  mit  der  statistischen 
Thatsache,  dass  die  Häufigkeit  des  Selbstmordes  auch  in  der  gesunden 
Bevölkerung  mit  wachsendem  Lebensalter  stetig  zunimmt.  Der  An- 
trieb zum  Selbstmorde  erscheint  bisweilen  als  der  Ausfluss  einer 
gewissen  Ueberlegung.  Der  quälende  Gedanke,  ein  unnützes  und 


330 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


sittlich  verworfenes  Geschöpf,  von  aller  Welt  verachtet  zu  sein, 
der  Blick  in  eine  vermeintlich  finstere  und  trostlose  Zukunft, 
die  Unerträglichkeit  des  gegenwärtigen  Zustandes  regen  in  dem 
Kranken  den  Wunsch  der  Vernichtung  des  Daseins  an.  Wenn 
er  nur  weg  von  der  Welt,  nie  geboren,  als  kleines  Kind  ge- 
storben wäre!  Alle  würden  dann  von  ihm  befreit  sein  und  er 
selber  Ruhe  haben;  er  strebt  daher  bisweilen  in  geradezu  leiden- 
schaftlicher Weise  nach  einer  Gelegenheit  zur  Ausführung  seiner 
Selbstmordpläne. 

In  anderen  Fällen  tauchen  die  Selbstmordgedanken  ganz 
plötzlich,  triebartig  auf,  selbst  noch  bei  weit  vorgeschrittener 
Besserung,  ohne  dass  die  Kranken  sich  über  die  eigentlichen 
Beweggründe  klare  Rechenschaft  ablegen  können.  Eine  meiner 
Kranken  war  mit  häuslicher  Arbeit  beschäftigt,  als  ihr  unver- 
mittelt der  Antrieb  kam,  sich  zu  erhängen,  was  sie  auch  sofort 
ausführte;  mit  Mühe  wurde  sie  gerettet.  Nach  solchen  Handlungen 
wissen  die  Kranken  oft  selbst  nicht,  wie  es  kam.  ja  sie  erinnern 
sich  manchmal  des  Vorganges  überhaupt  nicht,  besonders  nach  Er- 
hängungsversuchen.  Hie  und  da  beginnt  die  Krankheit  nach  sehr 
unbestimmten  Vorboten  mit  einem  plötzlichen  Selbstmordversuche, 
nach  welchem  erst  das  ganze  Bild  deutlich  hervortritt.  Bisweilen 
hat  man  endlich  auch  den  Eindruck,  dass  die  Kranken  nur  mit  dem 
Gedanken  des  Selbstmordes  spielen,  ohne  den  Muth  und  die  Kraft 
zu  seiner  Ausführung  zu  haben.  Sie  selbst  geben  das  so  an;  trotz- 
dem darf  man  niemals  sicher  sein,  dass  nicht  plötzlich  einmal  ein 
Angstanfall  den  krankhaften  Drang  verstärkt  und  den  gesunden 
Widerstand  überwältigt. 

Jeder  Melancholiker  ist  daher  als  ein  äusserst  gefährlicher 
Kranker  zu  betrachten,  um  so  gefährlicher,  wenn  er  besonnen  oder 
gar  zu  Verstellung  und  List  geneigt  und  befähigt  ist.  Er  kann  dann 
auf  die  verschiedenste  Weise  die  Wachsamkeit  seiner  Umgebung 
täuschen,  sich  in  der  Badewanne  ertränken,  an  der  Thürklinke,  an 
irgend  einer  vorspringenden  Ecke  im  Abtritte,  ja  selbst  im  Bette 
(auch  in  der  Zwangsjacke!)  erwürgen,  Nadeln,  Nägel,  Glasscherben 
verschlucken,  sich  die  Treppe  hinunterstürzen,  den  Schädel  mit  einem 
schweren  Gegenstände  zertrümmern,  sich  aushungern  u.  s.  f.  Be- 
achtenswerth  erscheint  es,  dass  die  Kranken  in  ihrer  Aufregung  fast 
ganz  unempfindlich  gegen  körperlichen  Schmerz  zu  sein  pflegen,  ein 


Melancholie. 


331 


Umstand,  der  ihnen  die  Ausführung  ihres  Vorhabens  wesentlich  er- 
leichtert. Eine  meiner  Kranken,  die  sich  mit  einem  Küchenmesser 
im  Abtritte  eine  grosse  Schnittwunde  am  Halse  beigebracht  hatte, 
bohrte  in  derselben  mit  dem  stumpfen  Stiel  einer  Abtrittsbürste 
herum,  um  sie  zu  erweitern;  ein  anderer  Kranker  schlug  mit  dem 
Halse  so  oft  auf  die  Schneide  eines  am  Boden  aufgestellten  Stemm- 
eisens, bis  dasselbe  durch  die  ganzen  Weichtheile  in  den  Wirbel- 
körper eindrang. 

In  einer  kleinen  Zahl  schwerer  Fälle  kann  man  einzelne  kata- 
tonische Krankheitszeichen  beobachten,  namentlich  langdauernde 
Stummheit,  eigentümlich  gezwungene  Stellungen,  Katalepsie,  auch 
wol  Echolalie.  Stets  besteht  hier  stärkere  Bewusstseinstrübung. 
Ich  muss  es  einstweilen  dahingestellt  sein  lassen,  ob  diese  Formen, 
die  zum  Theil  in  Genesung,  zum  Theil  in  Blödsinn  übergehen,  der 
Melancholie  zuzurechnen  oder  etwa  als  Katatonien  aufzufassen  sind. 
Einstweilen  möchte  ich  mich  mehr  der  ersteren  Ansicht  zuneigen, 
da  die  eigentlich  kennzeichnenden  Erscheinungen  der  Katatonie,  der 
starre  Negativismus  bei  erhaltener  Besonnenheit,  die  Bewegungs- 
stereotypen und  Manieren,  die  Triebhandlungen,  in  den  von  mir 
beobachteten  Fällen  nicht  vorhanden  waren  und  wir  ja  auch  bei 
der  Paralyse  gelegentlich  katatonische  Andeutungen  auftreten  sehen. 
Immerhin  ist  die  Frage  keineswegs  spruchreif. 

Begleitet  wird  das  Krankheitsbild  der  Melancholie  regelmässig 
von  einer  Reihe  von  Störungen,  die  auf  eine  allgemeine  Betheiligung 
verschiedener  Körperverrichtungen  an  dem  Krankheitsvorgange  hin- 
weisen.  Der  Schlaf  der  Kranken  ist  regelmässig  schlecht,  kurz, 
unruhig,  von  lebhaften,  unangenehmen  und  quälenden  Träumen, 
bisweilen  von  nächtlichem  Aufschreien  begleitet.  „Der  Geist  kann 
nicht  schlafen, a sagte  mir  ein  Kranker.  Bei  Tage  besteht  ein 
dauerndes  Gefühl  der  Abspannung,  Müdigkeit  und  Schwere  in  allen 
Gliedern,  eine  dumpfe  Benommenheit  im  Kopfe,  die  sich  bisweilen 
zu  wirklich  schmerzhaften  Empfindungen,  Druck  auf  der  Scheitel- 
höhe, Spannung  im  Hinterkopfe  u.  dergl.  steigert.  Hie  und  da  be- 
obachtet man  die  ersten  Zeichen  seniler  Hirnveränderungen,  Schwindel- 
anfälle, träge  Pupillenreaction,  Facialisdifferenz,  Zittern  der  Zunge  und 
der  Hände.  Einmal  sah  ich  während  einer  ängstlichen  Erregung- 
vorübergehend  aphasische  Störungen  auftreten.  Schwerhörigkeit  als 
Alterszeichen  ist  nicht  gerade  selten.  Sehr  gewöhnlich  wird  über 


332 


VIII.  Datj  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


unangenehme  Empfindungen  in  der  Herzgegend  geklagt, 
Spannung,  Druck,  „Unruhe“,  „Beängstigung“,  „Vibriren“  am  Herzen, 
die  bisweilen  anfallsweise,  namentlich  Nachts,  stärker  hervortreten; 
„das  Herz  hat  arg  Angst“.  Der  Muskeltonus  erscheint  herabgesetzt; 
gleichzeitig  besteht  das  Gefühl  allgemeiner  körperlicher  Schwäche 
und  Hinfälligkeit.  Die  Ernährung  nimmt  nach  Ausweis  der 
Körpergewichtscurve  stets,  auch  dort,  wo  keine  Nahrungsverweigerung 
besteht,  im  Beginne  der  Erkrankung  rasch  ab,  um  erst  mit  dem 
Eintritte  der  Besserung  sich  wieder  zu  heben.  Die  Curve  IX  giebt 
dafür  ein  Beispiel.  Hier  wurde  der  anfangs  günstige  Krankheits- 
verlauf durch  einen  vorzeitigen,  von  den  Angehörigen  erzwungenen 

Entlassungsversuch  unterbrochen.  Nach 
einem  Selbstmordversuche  zu  Hause 
wurde  die  Kranke  in  die  Klinik 
zurückverbracht,  wo  sie  nach  einigen 
Wochen  nochmals  einen  schweren 
Selbstmordversuch  unternahm.  Erst 
nach  diesem  stellte  sich  rasche  Ge- 
nesung ein. 

Die  Schleimhäute  sind  blass,  blut- 
leer. Die  Esslust  ist  sehr  gering  oder 
ganz  aufgehoben,  die  Verdauung  träge; 
sehr  häufig  findet  man  äusserst  hart- 
näckige Stuhlverstopfung.  Starker 
Belag  der  Zunge  und  foetor  ex  ore 
pflegen  diese  Störungen  anzuzeigen. 
Die  Wärmeproduction  wie  die  Wärmeabgabe  ist  vermindert,  die 
Temperatur  häufig  dauernd  herabgesetzt,  vielfache  Unregelmässig- 
keiten in  ihrer  Vertheilung  auf  die  einzelnen  Körperpartien  dar- 
bietend. Sehr  erhebliche  Störungen  zeigen  regelmässig  die  Kreis- 
laufsorgane. Abgesehen  von  den  atheromatösen  Veränderungen  an  den 
Blutgefässen,  wie  sie  dem  Lebensalter  der  Kranken  entsprechen, 
finden  wir  Kleinheit  und  Verlangsamung,  öfters  auch  Unregel- 
mässigkeit des  Pulses,  Kälte  und  Cyanose,  ja  sogar  Oedeme  der 
Füsse  und  Hände.  Der  Befunde  von  Reinhold,  welcher  allerdings 
die  Melancholie  viel  weiter  fasst  (Veränderungen  des  Spitzeustosses, 
der  Herzdämpfung  und  Herztöne),  ist  bereits  bei  früherer  Gelegenheit 
gedacht  worden.  Seltener  werden  auch  an  der  Haut  die  Erscheinungen 


Curve  IX. 

Melancholie ; Rückfall ; Genesung. 


Melancholie. 


333 


ungenügender  Ernährung,  Trockenheit,  Sprödigkeit,  kleienartige  Ab- 
schuppung u.  s.  w.  beobachtet. 

Der  Verlauf  der  Melancholie  zeigt  regelmässig  ein  langsames 
Ansteigen  und  nach  längerer  Dauer  ein  noch  langsameres  Schwinden 
der  Krankheitserscheinungen.  Während  der  ganzen  Zeit  aber  pflegt  der 
Zustand  fast  immer  mehr  oder  weniger  regelmässige  Schwankungen 
darzubieten,  welche  die  Geduld  der  Kranken  und  namentlich  der 
Angehörigen  oft  auf  eine  recht  harte  Probe  stellen.  Zeitweise  kann 
sich  der  Kranke  ganz  leicht  und  wohl  fühlen,  um  doch  vielleicht 
bereits  am  nächsten  Tage  von  trüber  Stimmung  und  schweren  Ge- 
danken wieder  völlig  beherrscht  zu  sein.  Sehr  häufig  findet  sich 
ein  Nachlass  der  Krankheitserscheinungen  gegen  Abend,  während 
am  Morgen  die  Verstimmung  in  verstärktem  Maasse  wiederkehrt. 
Ferner  pflegen  äussere  Schädigungen,  namentlich  Briefe  oder  Besuche 
der  nächsten  Angehörigen,  auf  der  Höhe  der  Krankheit  fast  immer 
eine  deutliche  Verschlechterung  nach  sich  zu  ziehen.  Endlich  wird 
auch  bisweilen  ein  ziemlich  regelmässiger  Wechsel  zwischen  schlim- 
meren und  besseren  Zeiten  oder  Tagen  beobachtet,  ohne  dass  sich 
eine  äussere  Ursache  dafür  auf  finden  liesse. 

Das  allmähliche  Schwinden  der  Krankheit  unter  vielfachen 
Nachlässen  und  Verschlimmerungen  ist  durchaus  die  Regel;  plötz- 
liche, im  Verlaufe  weniger  Tage  eintretende  „Heilungen“  bedeuten, 
wenn  es  sich  nicht  um  ganz  leichte  und  kurzdauernde  Erkrankungen 
handelt,  die  Zugehörigkeit  des  Krankheitsbildes  zum  manisch- 
depressiven  Irresein  und  damit  meist  das  Umschlagen  der  traurigen 
in  eine  heitere  Verstimmung.  Einen  sehr  guten  Anhaltspunkt  für 
die  prognostische  Beurtheilung  der  Veränderungen  im  psychischen 
Krankheitsbilde  giebt  das  Verhalten  des  Körpergewichtes  an 
die  Hand.  Stetiges  Ansteigen  desselben  deutet  mit  Entschiedenheit 
auf  eine  bevorstehende  günstige  Wendung  hin.  Gleichzeitig  bessern 
sich  nach  und  nach  Schlaf  und  Verdauung;  die  Nachlässe  der  Ver- 
stimmung werden  anhaltender  und  ausgiebiger,  wenn  auch  noch 
einzelne  schlechte  Tage  dazwischen  Vorkommen.  Nicht  selten  ent- 
wickelt sich  in  dieser  Zeit  eine  ausserordentliche  Reizbarkeit,  die 
von  den  Kranken  selbst  als  krankhaft  empfunden  oder  auch  wol  im 
Sinne  des  Versündigungswahnes  als  sittliche  Verschlechterung  auf- 
gefasst wird.  An  Stelle  der  früheren  Angst  und  Verzagtheit  tritt 
eine  missmuthige,  nörgelnde,  unzufriedene  Stimmung.  Man  kann 


334 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildunijsalters. 


ihnen  nichts  mehr  recht  machen;  alles  quält  sie,  regt  sie  auf;  sie 
können  es  nicht  mehr  aushalten  und  drängen  stark  nach  Hause, 
wo  sie  „besser  ihre  Ordnung  haben“.  In  einzelnen  Fällen  kann, 
wie  es  scheint,  eine  solche  unleidliche,  reizbare  Stimmung  bei 
unvollkommener  Einsicht  als  Ueberbleibsel  der  Krankheit  nach 
dem  Schwinden  der  anderen  Störungen  dauernd  Zurückbleiben. 
Als  ein  Zeichen  von  besonders  guter  Vorbedeutung  ist  die  Rückkehr 
des  Interesses  für  die  gewohnten  Beschäftigungen  zu  betrachten. 
Sobald  der  Kranke  wieder  beginnt,  zu  arbeiten,  zu  lesen,  sich  zu 
unterhalten,  pflegt  die  Reizbarkeit  bald  zu  schwinden;  er  wird  ein- 
sichtig, geduldig,  dankbar  und  gehorsam.  Gleichwol  besteht  immer 
noch  für  einige  Zeit  eine  leichtere  Ermüdbarkeit  sowie  eine  ver- 
mehrte Empfindlichkeit  gegen  äussere  Schädlichkeiten,  besonders 
Gemüthsbewegungen,  Ueberanstrengungen,  Ausschweifungen,  welche 
vorübergehende  Verschlimmerungen  nach  sich  ziehen  können,  bis 
sich  im  Laufe  der  Wochen  und  Monate  auch  diese  Störung  voll- 
kommen ausgleicht. 

Die  Prognose  der  Melancholie  muss  im  ganzen  als  eine  zweifel- 
hafte bezeichnet  werden.  Von  meinen  Kranken  fanden  nur  32°/0 
volle  Genesung;  ausserdem  wurden  allerdings  noch  23 °/0  soweit 
gebessert,  dass  sie  in  ihre  Familie  zurückkehren  und  selbst  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  ihre  frühere  Beschäftigung  wieder  aufnehmen 
konnten.  Ungeheilt  blieben  26 °/0,  während  19°/0  innerhalb  der 
ersten  zwei  Jahre  nach  Beginn  der  Krankheit  zu  Grunde  gingen. 
Die  Wahrscheinlichkeit  der  Heilung  wird  nicht  unbedeutend  durch 
das  Lebensalter  der  Erkrankten  beeinflusst.  Von  meinen  Kranken 
unter  55  Jahren  wurden  40°/0,  von  den  älteren  dagegen  nur  25% 
vollständig  geheilt. 

Eine  ungünstige  Wendung  des  Krankheitsverlaufes  pflegt  sich 
im  allgemeinen  durch  eine  Abnahme  der  gemiithlichen  Erregung 
ohne  Zurücktreten  der  krankhaften  Vorstellungen  oder  gar  mit  der 
Ausbildung  unsinnigerer  Wahnideen  anzukündigen.  In  den  leichteren 
Fällen  schwindet  nun  allmählich  die  Verstimmung  nebst  den  Wahn- 
ideen, aber  die  Kranken  sind  trotz  einer  ungefähren  Krankheits- 
einsicht doch  stumpfer,  gleichgültiger,  leistungsunfähiger  geworden. 
Zugleich  besteht  meist  noch  ein  kleinmüthiges,  verzagtes  oder  weiner- 
liches Wesen.  Bei  weiter  fortschreitender  Schwäche  pflegen  zwar 
auch  die  Wahnvorstellungen  mehr  und  mehr  zu  verblassen,  aber  die 


Melancholie. 


335 


Kranken  werden  gedankenarm,  verworren,  desorientirt,  vergesslich, 
blöde,  affectlos,  arbeitsunfähig,  gewinnen  keine  Krankheitseinsicht, 
stehen  stumpfsinnig  und  trübselig  herum  oder  jammern  eintönig  vor 
sich  hin.  Andere  werden  ganz  unzugänglich,  kindisch-eigensinnig, 
mürrisch,  kreischen,  sobald  man  sie  anrührt,  kratzen,  schlagen  rück- 
sichtslos um  sich,  gehen  zeitweise  aus  dem  Bett,  um  ihre  Nachbarn 
zu  misshandeln,  gesticuliren  vor  sich  hin,  murmeln  unverständlich 
und  zusammenhangslos.  Hie  und  da  erhalten  sich  auch  wol  noch 
einzelne  zerfahrene  Reste  der  früheren  Wahnvorstellungen  und  Sinnes- 
täuschungen. Das  Körpergewicht  kann,  wie  die  Curve  X zeigt, 


Curve  X. 

Melancholie;  Ausgang  in  Schwachsinn. 


sehr  bedeutend  sinken,  um  nun  dauernd  auf  niedrigem  Stande  zu 
bleiben;  bisweilen  jedoch  erfolgt  später  wieder  ein  ausgiebiges  An- 
steigen ohne  psychische  Besserung.  Das  erste  rasche  Sinken  war 
hier  durch  Nahrungsverweigerung  bedingt,  die  durch  Kochsalz- 
infusionen erfolgreich  bekämpft  wurde. 

Der  Tod  erfolgte  in  meinen  Fällen  meist  unter  den  Er- 
scheinungen der  Herzschwäche  in  lebhaften  ängstlichen  Aufregungs- 
zuständen, einige  Male  an  Lungentuberculose  nach  längerem  Krank- 
heitsverlaufe. Zwei  meiner  Kranken  erhängten  sich  wenige  Tage 
nach  der  gegen  ärztlichen  Rath  erfolgten  Entlassung  zu  Hause.  Die 
pathologische  Anatomie  hat  uns  ausser  verbreiteter  Arteriosklerose 
mit  ihren  Folgezuständen  am  Herzen  und  in  den  Nieren  einst- 


336  VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungaalters. 

weilen  kein  verwertbares  Ergebniss  geliefert  Bei  zwei  älteren 
Kranken  wurden  die  Zeichen  einer  beginnenden  Hirnatrophie  auf- 
gefunden. 

Die  Dauer  der  Melancholie  erstreckt  sich  regelmässig  über  eine 
längere  Reihe  von  Monaten,  selbst  über  Jahre.  Von  meinen  ge- 
heilten Fällen  dauerten  die  meisten  etwa  % — 1 Jahr;  fast  ein 
Drittel  derselben  erstreckten  sich  jedoch  über  1 Jahr  hinaus.  Auch 
in  anscheinend  leichten  Fällen  ist  es  immer  misslich,  bestimmte 
Vorhersagen  über  die  muthmassliche  Dauer  zu  machen,  da  sich 
der  Krankheitsverlauf  oft  ungemein  schleppend  gestaltet,  ohne  dass 
man  darum  die  Hoffnung  auf  endliche  Genesung  aufzugeben  brauchte. 
Einzelne  Fälle  heilen  noch  nach  2 — 3 Jahren. 

Die  Melancholie,  wie  sie  hier  geschildert  wurde,  ist  eine  Er- 
krankung des  beginnenden  Greisenalters.  Sie  ist  vielleicht  als  der 
krankhafte  Ausdruck  jenes  schon  dem  gesunden  Alter  eigenthüm- 
lichen  Gefühls  der  wachsenden  Unfähigkeit  und  Unzulänglichkeit 
zu  betrachten,  im  Gegensätze  zu  dem  überquellenden  Kraftbewusst- 
sein der  Jugendjahre.  Mehr  als  64%  meiner  Kranken  standen 
zwischen  dem  50.  und  60.  Lebensjahre.  Die  ersten  Erkrankungen 
beginnen  bald  nach  dem  40.,  die  letzten  bald  nach  dem  65.  Jahre. 
Ob  auch  gewisse  der  Schwangerschaft  und  der  Lactation  angehörige, 
klinisch  ähnliche  Formen  aus  früherem  Lebensalter  hierher  zu  rechnen 
sind,  möchte  ich  einstweilen  noch  unentschieden  lassen.  In  den 
höheren  Altersklassen  werden  allmählich  die  Formen  mit  unsinnigen 
Wahnbildungen  häufiger.  Das  weibliche  Geschlecht  liefert  etwa  60% 
der  Kranken,  ist  also  ein  wenig  stärker  betheiligt,  als  das  männliche. 
Das  gilt  ganz  besonders  für  die  Erkrankungen  im  5.  und  zu  Anfang 
des  6.  Lebensjahrzehntes,  wo  Männer  nur  ausnahmsweise  melancho- 
lisch werden,  während  beim  Weibe  das  Klimakterium  gerade  für 
diese  Form  des  Irreseins  den  günstigen  Boden  abzugeben  scheint. 
Späterhin  ist  ein  Unterschied  zwischen  beiden  Geschlechtern  kaum 
mehr  erkennbar. 

Die  erbliche  Veranlagung  scheint  hier  hinter  der  erworbenen 
Disposition  zurückzustehen,  da  ich  nur  bei  53%  der  Kranken  mit 
genauer  bekannter  Vorgeschichte  irgend  eine,  wenn  auch  öfters 
nur  entfernte  Familienanlage  auffinden  konnte.  Auffallend  oft  be- 
gegneten mir  bei  Geschwistern  und  Eltern  Apoplexien  und  Alters- 
blödsinn, auch  Alkoholismus.  Zu  berücksichtigen  ist  übrigens,  dass 


Erkennung. 


337 


bei  den  älteren  Kranken  genauere  Angaben  über  das  Verhalten  der 
Eltern  und  deren  Geschwister  vielfach  fehlen.  Dadurch  wird  die 
Vergleichbarkeit  der  Zahlen  über  die  erbliche  Anlage  beeinträchtigt. 
Dem  entspricht  die  Erfahrung,  dass  hier  die  Häufigkeit  von  Geistes- 
störungen bei  Geschwistern  gegenüber  derjenigen  bei  den  Eltern  stark 
in  den  Vordergrund  trat.  Eine  Reihe  der  Kranken  werden  als 
Sonderlinge,  kleinliche,  ängstliche  Naturen,  zu  Grübeleien  geneigt 
geschildert;  mehrfach  fand  sich  vorzeitiges  Greisenthum.  Sehr  häufig 
scheinen  bestimmte  äussere  Anlässe  den  Ausbruch  der  Melancholie 
zu  begünstigen.  Als  solche  sind  zu  nennen  körperliche  Krankheiten 
(Influenza,  Magenkatarrh),  Operationen,  Vermögensverluste,  Schreck, 
Sorgen  durch  Unternehmungen,  Veränderungen  in  den  ganzen  Lebens- 
verhältnissen, vor  allem  aber  Krankheit  und  Tod  der  nächsten  An- 
gehörigen. 

In  der  hier  gegebenen  Abgrenzung  umfasst  die  Melancholie  den 
grössten  Theil  jener  Beobachtungen,  die  man  früher  als  einfache 
und  als  Angstmelancholie  zu  bezeichnen  pflegte,  ferner  den  de- 
pressiven Wahnsinn  und  endlich  die  senilen  Depressionszustände. 
Dass  diese  und  nur  diese  Formen  in  der  That  eine  innere  Zu- 
sammengehörigkeit darbieten,  davon  glaube  ich  mich  in  den  letzten 
Jahren  überzeugt  zu  haben.  Aus  dieser  Auffassung  ergiebt  sich, 
dass  zunächst  alle  depressiven  Verstimmungen  der  jugendlicheren 
Altersstufen  nicht  zur  Melancholie  zu  rechnen  sind.  Sie  gehören 
nach  meiner  Ueberzeugung  entweder  dem  manisch-depressiven  Irre- 
sein oder  der  Dementia  praecox  an,  einzelne  dem  Entartungsirresein 
und  vielleicht  auch  der  Hysterie.  Andererseits  ist  zu  bedenken, 
dass  sich  bisweilen  auch  das  manisch-depressive  Irresein  erst  in  den 
Rückbildungsjahren  entwickelt.  Auffallend  rascher  und  günstiger 
Verlauf  des  Anfalles  und  das  Auftauchen  einzelner  manischer 
Andeutungen,  starker  Thatendrang,  Ideenflucht,  Grössenideen,  fröhliche 
Stimmung  ohne  die  Zeichen  des  Schwachsinns  werden  hier  die 
Unterscheidung  ermöglichen.  Nicht  selten  freilich  wird  es  recht 
schwierig  sein,  den  vorliegenden  Anfall  richtig  zu  deuten.  Den 
besten  Anhalt  giebt,  wie  mir  scheint,  das  psychomotorische  Ver- 
halten. Während  das  Benehmen  der  Melancholiker  in  allen  Stücken 
den  natürlichen  Ausdruck  ihrer  ängstlichen  oder  reizbaren  Stimmung 
bildet,  sehen  wir  in  den  Depressionszuständen  des  circulären  Irre- 
seins die  Entscblussunfähigkeit,  die  Verlangsamung  und  Erschwerung 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aafl.  II.  Band.  22 


338 


VIII.  Das  Irresein  des  Riickbildungsalters. 


aller' Willenshandlungen  durchaus  in  den  Vordergrund  treten.  Anderer- 
seits geht  die  bei  dieser  Krankheit  gelegentlich  beobachtete  reizbare 
Verstimmung  regelmässig  mit  lebhaftem  Thätigkeits-  und  Rededrang 
einher,  indess  die  Reizbarkeit  der  Melancholiker  das  Gepräge  der 
inneren  Beängstigung  trägt. 

Auch  die  Melancholie  zeigt  übrigens  eine  gewisse  Neigung, 
sich  zu  wiederholen.  Unter  meinen  Kranken  fanden  sich  15% 
die  vor  der  beobachteten  schon  einmal  eine  Melancholie  über- 
standen hatten,  regelmässig  ebenfalls  in  den  Rückbildungsjahren. 
Fast  immer  waren  die  früheren  Anfälle  sehr  leicht  verlaufen. 
Endlich  fand  sich  noch  eine  ganz  kleine  Gruppe  von  Fällen, 
bei  denen  schon  im  4.  Lebensjahrzehnt  eine  depressive  Geistes- 
störung vorausgegangen  war;  gerade  diese  Kranken  schienen  sich  mir 
durch  grosse  psychische  Beeinflussbarkeit,  Zunahme  des  Jammerrs 
bei  äusserer  Anregung,  Einförmigkeit  des  Affectes  und  Dürftigkeit 
der  Wahnbilduugen  auszuzeichnen.  Ich  bin  nicht  sicher,  ob  sie  der 
Melancholie  zuzurechnen  sind  und  habe  sie  bei  meinen  Unter- 
suchungen überall  unberücksichtigt  gelassen. 

Die  mit  stärkerer  geistiger  Schwäche  und  unsinnigeren  'Wahn- 
bildungen einhergehenden  Formen  der  Melancholie  leiten  ganz  all- 
mählich in  die  senile  Verwirrtheit  hinüber.  In  einzelnen  Fällen 
kann  die  Frage  entstehen,  ob  wir  es  nicht  mit  einer  Dementia 
praecox  zu  thun  haben,  namentlich  beim  Auftreten  von  katatonischen 
Zeichen.  Wir  werden  uns  für  die  Annahme  einer,  in  diesem  Alter 
freilich  recht  seltenen,  katatonischen  Erkrankung  entscheiden,  wo 
sich  starrer  Negativismus,  eigenartige  läppische  Erregungszustände 
und  Manieren  entwickeln,  zumal  bei  Fortbestehen  der  Besonnenheit 
und  Orientirung.  Bei  weitem  die  grössten  diagnostischen  Schwierig- 
keiten jedoch  entstehen  bei  der  Abgrenzung  der  Melancholie  von 
der  Paralyse.  Namentlich  diejenigen  Fälle,  welche  etwa  zwischen 
dem  45.  und  dem  55.  Jahre  liegen,  können  lange  Zeit  zweifelhaft 
bleiben,  da  die  psychischen  Krankheitsbilder  einander  bisweilen  fast 
völlig  gleichen.  Grössere  Besonnenheit  und  Klarheit,  lebhafter, 
gleichmässiger  Affect,  subacute  Entwicklung  ohne  länger  zurück- 
reichende Vorboten  sprechen  mehr  für  Melancholie,  während  die 
Paralyse  aus  den  Zeichen  der  sonst  in  diesen  Jahren  noch  nicht 
leicht  vorkommenden  psychischen  Schwäche  (Vergesslichkeit,  mangel- 
hafte zeitliche  Orientirung,  Unbesinnlichkeit,  Urteilslosigkeit,  un- 


Behandlung. 


339 


sinnige  und  widerspruchsvolle  Wahnbildungen,  Schwächlichkeit  des 
Affectes),  dann  aber  namentlich  auch  aus  den  körperlichen  Krank- 
heitszeichen erkannt  wird.  Auch  die  schleichende  Entwicklung  des 
Leidens  unter  den  bekannten  Zeichen  einer  allmählichen  Verblödung 
kann  in  dieser  Richtung  einen  Fingerzeig  geben.  Wie  weit  die 
arteriosklerotischen  Hirnerkrankungen  das  Bild  der  Melancholie  dar- 
bieten können,  entzieht  sich  einstweilen  meiner  Beurtheilung. 

Die  Behandlung*)  der  Melancholie  hat  dem  Kranken  unter  allen 
Umständen  Ruhe  zu  verschaffen,  deren  das  leidende  Gehirn  un- 
bedingt bedarf.  In  erster  Linie  wird  es  daher  nöthig  sein,  für  die 
Entfernung  aller  den  Kranken  schädigenden  Reize  zu  sorgen. 
Dazu  gehören  namentlich  diejenigen  Personen  und  Dinge,  welche 
ihn  gemüthlich  am  meisten  berühren,  die  nächsten  Anverwandten, 
das  eigene  Heim  und  die  Berufsarbeit.  Bei  ganz  leichter  Erkrankung 
kann  unter  Umständen  ein  einfacher  Aufenthaltswechsel,  die  Unter- 
bringung bei  einer  befreundeten,  verständnisvollen  Familie  genügen. 
Dringend  zu  warnen  ist  vor  „Zerstreuungen“,  anstrengenden  Reisen, 
eingreifenden  Curen,  lebhafter  Geselligkeit,  die  ebenso  wie  lange 
Auseinandersetzungen  und  Zurechtweisungen  immer  rasch  ver- 
schlimmernd wirken.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  wird 
die  Verbringung  in  die  Anstalt  nothwendig  sein,  ganz  unbedingt 
dann,  wenn  irgendwie  Selbstmordneigung  hervortritt. 

Das  beste  Beruhigungsmittel  ist  die  Bettlagerung,  die  man 
namentlich  bei  schwachen  oder  sehr  gequälten  Kranken  mit  kurzen 
Unterbrechungen  durch  Aufenthalt  im  Freien  lange  Zeit  hindurch 
fortsetzen  kann.  Besondere  Aufmerksamkeit  erfordert  ferner  die 
Sorge  für  eine  gute,  kräftige  Ernährung.  Der  Kranke  wird 
regelmässig  zum  Essen  angehalten;  die  Appetitlosigkeit  und  Ver- 
dauungsträgheit wird  durch  Eingiessungen  oder  milde  Abführmittel, 
unter  Umständen  durch  Magenausspülungen,  sowie  durch  passende 
Auswahl  der  Speisen  bekämpft.  Meist  gelingt  es  besser,  in  häufiger 
Wiederholung  kleinere  Mengen  von  Nahrung  zuzuführen,  als  die 
reichlicheren  Hauptmahlzeiten  einzuhalten.  Geduld  und  Beachtung 
der  Wünsche  des  Kranken  vermag  hier  viel  zu  erreichen.  Bei  sehr 
ängstlichen  und  erregten  Kranken  'wird  man  die  Sondenfütterung 
nicht  immer  umgehen  können,  ja  ich  habe  bei  drohender  Herz- 
schwäche auch  schon  zu  Kochsalzinfusionen  meine  Zuflucht  nehmen 

*;  Ziehen,  Erkennung  und  Behandlung  der  Melancholie  in  der  Praxis.  1897. 

22* 


340 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


müssen.  Besonnene  Kranke  geben  den  Widerstand  gegen  das  Essen  meist 
bald  auf,  sobald  man  ihnen  die  Nutzlosigkeit  desselben  vor  Augen  führt. 

Yon  grösster  Wichtigkeit  ist  selbstverständlich  ferner  die 
Regelung  des  Schlafes.  Bei  der  langen  Dauer  der  Krankheit 
ist  die  Anwendung  von  Arzneimitteln  möglichst  zu  beschränken,  da 
sie  meist  nicht  sehr  lange  hintereinander  fortgegeben  werden  können. 
Häufig  thut  der  Alkohol  recht  gute  Dienste,  der  in  kleinen  Gaben 
die  innere  Spannung  mildert,  in  grösseren  den  Schlaf  begünstigt. 
Ausserdem  passen  gelegentliche  Gaben  von  Trional,  Sulfonal,  auch 
von  Brom  oder  Paraldehyd.  Yon  diätetischen  Massregeln  kommen 
abendliche  verlängerte  Bäder,  Priesnitz’sche  Einpackungen,  mässige 
Bewegung  im  Freien  u.  dgl.  in  Betracht,  soweit  sie  nicht  die  Angst 
der  Kranken  steigern. 

Als  Beruhigungsmittel  hat  sich  namentlich  bei  den  heftigeren  Angst- 
zuständen der  Melancholiker  mit  Recht  das  Opium  und  Morphium 
einen  grosseu  Ruf  erworben.  Man  giebt  diese  Mittel  planmässig 
in  rasch  steigender  Gabe  (bis  zu  dreimal  täglich  50  oder  selbst 
60  Tropfen  Opiumtinctur),  um  später  allmählich  wieder  herunterzu- 
gehen. Wo  nicht  bald  ein  deutlich  beruhigender  Einfluss  bemerk- 
bar wird,  ist  die  Fortsetzung  der  Cur  zwecklos.  Ausserdem  aber 
giebt  es  einzelne  Fälle,  in  denen  nicht  nur  keine  Besserung,  sondern 
geradezu  eine  Steigerung  der  Angst  eintritt;  hier  ist  schleunige,  aber 
vorsichtige  Beseitigung  des  Mittels  geboten.  Bei  den  leichteren  und 
ruhigeren  Formen  der  Melancholie  erweist  sich  oft  die  Yerbinduug 
mässiger  Opiumgaben  mit  Bromnatrium  nützlich. 

Wo  die  geringsten  Anzeichen  von  Selbstmordneigung  hervor- 
treten, ist  auch  in  den  anscheinend  mildesten  Formen  der  Er- 
krankung dringend  eine  sorgfältige  Ueberwachung  geboten, 
wie  sie  nur  in  einer  zuverlässigen  Irrenanstalt  (nicht  sogenannten 
„offenen“  Curanstalt)  durchgeftikrt  werden  kann.  Tag  und  Nacht 
muss  in  solchen  Fällen  Jemand  in  unmittelbarer  Nähe  des  Kranken 
sein  und  ihn  unausgesetzt  im  Auge  behalten.  Das  Schlafen  eines 
Wärters  im  gleichen  oder  gar  im  Nebenraum  ist  in  irgendwie 
bedenklichen  Fällen  durchaus  unzureichend.  Diese  peiuliche  Auf- 
merksamkeit, die  den  Kranken  keinen  Augenblick,  auch  auf  dem 
Abort  nicht,  ausser  Acht  lässt,  ist  bis  zur  vollen  Genesung  fort- 
zusetzen, da  oft  unvorhergesehene  Yerschlechterungen  mit  Wieder- 
erwachen der  krankhaften  Triebe  Vorkommen  und  die  Besserung 


Behandlung. 


341 


bisweilen  nur  eine  scheinbare,  zur  Erreichung  der  Entlassung  vor- 
getäuschte ist. 

Die  psychische  Behandlung  muss  eine  ruhige,  gleichmässig 
freundliche  und  geduldige  sein.  Viele  Gespräche  über  den  psychi- 
schen Zustand  sind  zu  vermeiden;  auch  tröstender  Zuspruch  pflegt 
meist  wenig  oder  nichts  zu  helfen.  Weit  zweckmässiger  ist  es,  eine 
Ablenkung  des  Vorstellungsverlaufes  auf  ganz  fernliegende  Gebiete 
anzustreben,  was  allerdings  fast  nur  in  leichteren  Fällen  mit  einiger 
Sicherheit  gelingt.  Auf  der  Höhe  des  Leidens  verbieten  sich  solche 
Versuche  von  selbst;  in  der  Genesungszeit  jedoch  sind  sie  ein 
wichtiges  Hülfsmittel,  das  Denken  und  Fühlen  wieder  in  die  ge- 
wohnten Bahnen  zu  leiten.  Dazu  dient  anregende,  nicht  ermüdende 
Beschäftigung,  Lesen,  Zeichnen,  Handarbeit,  sobald  mit  dem  Nach- 
lassen der  Verstimmung  eine  freiere  Hingabe  an  dieselbe  möglich 
wird.  Diese  Entwicklung  pflegt  sich  ganz  von  selbst  zu  vollziehen; 
der  Arzt  hat  nichts  zu  thun,  als  dieselbe  nach  Kräften  zu  fördern 
und  Störungen  durch  Lieberanstrengung,  starke  Gemiitksbewegungen, 
körperliche  Schädlichkeiten  zu  verhüten.  Besuche  seitens  der  nächsten 
Angehörigen  wirken  namentlich  auf  der  Höhe  der  Krankheit  nicht 
selten  sehr  aufregend,  machen  dem  Kranken  das  Herz  schwer;  hier 
ist  besondere  Vorsicht  geboten. 

Von  Wichtigkeit  ist  es  endlich,  den  Kranken  nicht  zu  früh 
aus  der  Anstaltsbehandlung  zu  entlassen;  Selbstmorde  sind 
nur  zu  häufig  die  Folge  davon.  Bisweilen  kehren  die  Kranken  auch 
von  selbst  wieder  zurück,  da  sie  merken,  dass  sich  ihr  Zustand  zu 
Hause  sofort  wieder  verschlechtert.  „Mich  hat  gleich  alles  gereut,“ 
sagte  mir  ein  solcher  Kranker.  Sehr  häufig  hat  man  freilich  den 
besonnenen,  über  „Heimweh“  klagenden,  stark  drängenden  Kranken 
und  noch  mehr  ihren  Angehörigen  gegenüber  einen  schweren  Stand. 
Erst  wenn  das  ungeduldige  Drängen  verschwindet,  volle  Krankheits- 
einsicht besteht,  die  Ernährung  auf  ihren  früheren  Stand  zurück- 
gekehrt  und  der  Schlaf  ungestört  ist,  kann  man  die  Heilung  als 
vollendet  und  die  Zeit  der  Entlassung  als  gekommen  ansehen ; Aus- 
nahmen sind  nur  bei  sehr  günstigen  Verhältnissen  und  zweifellos 
fortschreitender  Genesung  zulässig.  Jedenfalls  bedürfen  alle  Ent- 
lassenen noch  längere  Zeit  hindurch  einer  gewissen  Schonung  und 
Pflege  sowie  einer  verständigen,  ruhigen  Behandlung  seitens  ihrer 
Umgebung. 


342 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsaltere. 


B.  Der  praeseuile  Beeintriiclitigungswalm. 

Unter  dieser  Bezeichnung  möchte  ich  eine  kleine  Gruppe  von 
Fällen  aus  den  Rückbildungsjahren  zusammenfassen,  die  durch  all- 
mähliche Entwicklung  grosser  Urt heilsschwäche  mit  Wahn- 
bildungen  und  gesteigerter  gemüthlicher  Erregbarkeit 
gekennzeichnet  sind.  Der  Beginn  der  Krankheit  ist  immer  ein 
schleichender.  Ganz  unmerklich  stellt  sich  eine  Veränderung  im 
Wesen  und  Benehmen  der  Kranken  heraus.  Sie  werden  stiller, 
menschenscheu,  unzufrieden,  grundlos  traurig,  misstrauisch  und 
reizbar.  Die  Besonnenheit  und  Orientirung  bleibt  vollkommen  er- 
halten. Dagegen  tauchen  nach  und  nach  Wahnvorstellungen 
auf,  anfangs  unbestimmt  und  flüchtig,  später  hartnäckiger  und  in 
ausgeprägterer  Form.  Zunächst  sind  es  vielfach  hypochondrische 
Ideen.  Die  Kranken  klagen  über  die  verschiedenartigsten,  häufig 
wechselnden  nervösen  Schmerzen,  Singultus,  krampfhaftes  Zucken. 
Schwindel,  Schmerzen  hier  und  dort,  unruhige  Träume,  Schwäche 
Schwellungen,  Krachen  im  Kopf  u.  dergl.  Sie  erinnern  dadurch 
sehr  an  Hysterische,  doch  laufen  auch  sehr  unsinnige  Klagen  mit 
unter;  das  Rückenmark  ist  geschwunden,  das  Gehirn  vertrocknet, 
alle  Kraft  verloren  gegangen. 

Weiterhin  pflegen  sich  Verfolgungsideen  einzustellen,  die  eben- 
falls einen  ganz  abenteuerlichen  Inhalt  annehmen  können.  Kleider 
und  Gegenstände  werden  vertauscht  oder  gestohlen;  das  Klavier 
ist  nicht  mehr  das  alte,  muss  heimlich  ausgewechselt  worden 
sein.  Es  sind  Räuber  im  Hause;  Nachts  schleicht  sich  Jemand 
ein;  verdächtige  Dinge  geschehen;  im  Essen,  in  der  Cigarre  ist 
Gift.  Eine  meiner  Kranken  Hess  durch  den  Tapezierer  das 
Sopha  öffnen,  da  sie  vermuthete,  dass  in  demselben  Jemand  stecke, 
der  das  Haus  in  die  Luft  sprengen  wolle.  Die  Aerzte  machen 
heimliche  Eingiessungen  und  Einreibungen,  treiben  Schweinerei, 
reissen  die  Gebärmutter  heraus,  erzeugen  die  Krankheit  künst- 
lich, um  daran  zu  studiren;  die  Frau  wendet  hinter  dem  Rücken 
der  Kranken  Mittel  an. 

Ganz  besonders  häufig  pflegt  der  Wahu  ehelicher  Untreue 
in  den  Vordergrund  zu  treten.  Der  Mann  verkehrt  mit  allen 


Krankheitsbild. 


343 


möglichen  Frauenzimmern,  liebäugelt  auf  der  Pferdebahn  hinter 
der  Zeitung  mit  seiner  Nachbarin,  tauscht  verständnisvolle  Blicke 
mit  begegnenden  Mädchen,  hat  ein  Verhältnis  mit  der  Dienstmagd, 
bestellt  sich  zu  jeder  Reise  eine  Dame,  die  im  gleichen  Zuge  mit- 
fahren muss,  empfängt  Briefe  von  den  Schulfreundinnen  der  Tochter. 
Die  Frau  steht  in  der  Nacht  ohne  genügenden  Grund  aus  dem 
Bette  auf,  stöhnt  in  eigen thümlicher  Weise,  schrickt  bei  der  Heim- 
kehr des  Mannes  zusammen,  verliert  einen  Zettel  mit  höchst  ver- 
dächtigen Andeutungen. 

Gewöhnlich  sind  alle  diese  Wahnvorstellungen  ungemein  ver- 
änderlich; sie  tauchen  in  einem  Augenblicke  auf,  um  im  nächsten 
von  dem  Kranken  preisgegeben  zu  werden,  aber  ebenso  rasch  in 
anderer  Form  wiederzukehren.  Viele  Kranke  geben  auf  eindring- 
liche Vorstellungen  ohne  weiteres  zu,  dass  sie  sich  getäuscht  haben 
könnten,  krank  seien,  aber  sie  kommen  nicht  zu  einem  wirklichen 
Verständnisse  für  die  Unsinnigkeit  ihrer  Vorstellungen;  man  findet 
sie  vielleicht  schon  nach  einer  halben  Stunde  in  der  grössten  Er- 
regung darüber,  dass  sie  mit  der  Milch  soeben  ein  schreckliches 
Gift  zu  sich  genommen  hätten,  unfehlbar  sterben  müssten,  dass  ein 
Mann  unter  dem  Bette  gesteckt  haben  müsse,  ein  eigenthümliches 
Gefühl  am  Herzen  ihnen  nunmehr  den  Tod  ihrer  Tochter 
ganz  bestimmt  angezeigt  habe.  Auch  jetzt  genügen  meist  wieder 
einige  beruhigende  Worte,  um  diese  Befürchtungen  in  den  Hinter- 
grund zu  drängen. 

In  einzelnen  Fällen  geht  der  Wahn  mit  Sinnestäuschungen 
einher.  Der  Kranke  wird  bedroht,  hört,  wie  fremde  Personen  sich 
des  Verkehrs  mit  seiner  Frau  rühmen,  wie  seine  gemisshandelten 
Kinder  schreien,  sieht  Nachts  eine  dunkle  Gestalt  zur  Thür  hinaus 
huschen,  fühlt  beim  Hiuiiberlangen,  dass  Jemand  neben  der  Frau 
im  Bette  liegt.  Merkwürdiger  Weise  sucht  er  nun  den  Schuldigen 
nicht  näher  zu  überführen;  indessen  auch  wenn  die  sofortige  Unter- 
suchung kein  Ergebniss  liefert,  ist  er  nur  entrüstet  über  die  Scham- 
losigkeit und  Schlauheit,  mit  der  die  eheliche  Treue  in  seiner  Gegen- 
wart gebrochen  wird. 

Der  Gedankengang  der  Kranken  bleibt  vollkommen  geordnet. 
Dagegen  ist  man  immer  wieder  aufs  neue  erstaunt  über  die  ausser- 
ordentliche Schwäche  des  Urtheils,  welche  den  Kranken  die  aben- 
teuerlichsten Wahnvorstellungen  bei  voller  Besonnenheit  ohne  weiteres 


344 


VIII.  Das  Irresein  des  Eückbildungsalters. 


hinnehmen  lässt.  Ihm  fehlt  offenbar  durchaus  die  Fähigkeit,  deren 
Unsinnigkeit  wirklich  klar  einzusehen ; er  lässt  sich  im  Augenblicke 
wol  ohne  Mühe  überreden,  aber  nicht  überzeugen.  Das  Gedächtniss 
für  frühere  Zeiten  zeigt  keine  Störung,  doch  schieben  sich  in  die 
Darstellung  der  wahnhaft  verarbeiteten  Erlebnisse  leicht  allerlei  Zu- 
sätze und  Verdrehungen  hinein. 

Die  Stimmung  der  Kranken  ist  in  der  ersten  Zeit  nieder- 
geschlagen, ängstlich;  nicht  selten  kommt  es  zu  Selbstmordversuchen. 
Späterhin  tritt  meist  eine  gewisse  Erregung  und  Reizbarkeit  hervor. 
Die  Kranken  sprechen  viel,  beklagen  sich  mit  grossem  "Wort- 
schwall, führen  lärmende  Auftritte  herbei,  gerathen  in  heftige  W uth, 
schimpfen,  lassen  sich  aber  meist  leicht  beruhigen,  lachen  und  weinen 
ohne  Anlass.  Oefters  macht  sich  gehobenes  Selbstgefühl  bemerkbar. 

An  die  Wahnvorstellungen  schliessen  sich  vielfach  allerlei  un- 
sinnige Handlungen.  Manche  Kranke  laufen  bei  allen  Aerzten 
herum,  lassen  sich  ungezählte  Rathschläge  geben,  ohne  einen  einzigen 
zu  befolgen;  andere  hören  zeitweise  auf,  zu  essen,  ziehen  sich  von 
ihrer  Umgebung  zurück,  zerstören  plötzlich,  was  ihnen  unter  die 
Finger  kommt,  werden  gewaltthätig.  Eine  meiner  Kranken  hatte 
ihr  Dienstmädchen  so  vollständig  von  der  Wirklichkeit  ihrer  Yer- 
folgungsideen  überzeugt,  dass  dieses  mit  ihr  das  Haus  nach  ein- 
gedrungenen Mördern  durchsuchte  und  den  Nachbarn  der  Vertauschung 
des  Kronleuchters  beschuldigte.  Der  Eifersuchtswahn  führt  zu 
peinlicher  Ueberwachung  des  Gatten.  Das  Dienstmädchen  wird  ihm 
nachgesandt;  aus  dem  Papierkorbe  werden  zerrissene  Briefe  wieder 
zusammengestellt,  um  den  Beweis  der  Schuld  zu  erbringen.  Es 
kommt  zu  unverständlichen  Wuthausbrüchen  gegen  die  vermeintlichen 
Verführerinnen;  eine  Dame  ging  auf  die  Polizei,  um  ein  ihr  ver- 
dächtiges Fräulein  unter  Sittencontrolle  stellen  zu  lassen. 

Im  weiteren  Verlaufe  werden  die  Wahnvorstellungen  immer 
unsinniger.  Frau  und  Kinder  werden  gemartert,  das  Schnellen  am 
Boden  festgenagelt,  am  Gartenzaun  aufgehängt.  Die  Frau  geht  jede 
Nacht  aus  einer  Hand  in  die  andere;  alle  sprechen  davon.  Weib- 
liche Kranke  glauben,  dass  sich  der  Mann  mit  den  eigenen  Kindern, 
ja  mit  anderen  Männern  abgiebt,  die  sie  für  verkleidete  Frauen- 
zimmer halten;  sie  merken  es  an  den  Empfindungen  ihres  eigenen 
Körpers,  wenn  er  sie  mit  anderen  betrügt.  Der  hebe  Gott  verkündet 
alles,  spricht  dem  Kranken  ins  Ohr,  liegt  Nachts  wie  ein  Schatten 


Abgrenzung. 


345 


rechts  neben  ihm  im  Bett.  Personen  und  Umgebung  sind  vertauscht; 
der  eigene  Körper  wird  entstell  ^beeinflusst.  Manche  Kranke  verhalten 
sich  daher  sehr  ablehnend,  verhüllen  sich,  sprechen  zeitweise  kein 
Wort,  um  dann  plötzlich  wieder  ganz  freundlich  und  mittheilsam  zu 
werden.  Die  Wahnvorstellungen  wechseln  vielfach,  treten  wol  auch 
vorübergehend  in  den  Hintergrund,  wenn  auch  gewisse  allgemeine 
Grundzüge  immer  wiederzukehren  pflegen.  Trotz  weit  vorgeschrittenen 
Schwachsinns  werden  aber  die  Kranken,  soweit  meine  Erfahrung 
reicht,  nicht  verwirrt.  Heilungen  oder  auch  nur  weitgehende  Besse- 
rungen scheinen  nicht  vorzukommen. 

Das  hier  versuchsweise  abgegrenzte  Krankheitsbild  ist  nicht 
gerade  häufig;  ich  habe  in  den  letzten  10  Jahren  höchstens  etwa 
ein  Dutzend  Fälle  gesehen.  Die  Mehrzahl  bildeten  Frauen;  bei 
ihnen  begann  das  Leiden  regelmässig  im  5.  oder  im  Beginne  des 
6.  Lebensjahrzehntes,  während  die  Männer  immer  erst  in  den  50er 
Jahren  zu  erkranken  pflegen.  Fast  überall  bestand  erbliche  Ver- 
anlagung zum  Irresein;  sonstige  greifbare  Ursachen  habe  ich  nicht 
auffinden  können. 

Es  liegt  daher  die  Annahme  nahe,  dass  wir  es  hier  mit  einer 
vorzeitigen  Alterserkrankung  auf  krankhaft  vorbereitetem  Boden  zu 
thun  haben,  um  so  mehr,  als  wir  im  eigentlich  senilen  Verfolgungs- 
wahn ein  Bild  kennen,  welches  viele  ähnliche  Züge  aufweist. 
Ob  es  sich  indessen  um  einen  eigenartigen  Krankheitsvorgang 
handelt,  wird  erst  weitere  Erfahrung  entscheiden  müssen.  Meist 
werden  wol  diese  Fälle  zur  Paranoia  gerechnet.  Sie  unterscheiden 
sich  aber  meiner  Auffassung  nach  von  jener  Krankheit  dadurch 
ganz  scharf,  dass  es  hier  nicht  zu  einer  weiteren  Verarbeitung 
der  Wahnvorstellungen  kommt.  Vielmehr  machen  die  Kranken  gar 
keinen  Versuch,  die  feindseligen  Wahrnehmungen  etwa  auf  eine  be- 
stimmte Quelle  zurückzuführen.  Die  Verfolger  bleiben  ganz  unbestimmt, 
oder  sie  wechseln  doch  überaus  häufig;  selbst  die  beargwöhnten 
Ehegatten  werden  nicht  eigentlich  als  Feinde,  sondern  vielfach  als 
Verführte  betrachtet.  Auch  ziehen  die  Kranken  aus  ihren  auf- 
tauchenden und  wieder  schwindenden  Wahnvorstellungen  keine  weiteren 
Schlussfolgerungen  für  ihr  Handeln;  abgesehen  von  gelegentlichen 
Heftigkeitsausbrüchen  behandeln  sie  die  vermeintlichen  Verfolger 
gar  nicht  besonders  feindselig,  verkehren  mit  den  untreuen  Gatten 
weiter,  ja  drängen  sich  ihnen  auf,  sind  plötzlich  gegen  dieselben 


346 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


Personen  zugänglich  und  freundlich,  die  sie  kurz  vorher  verdächtigt 
und  beschimpft  haben.  Vielfach  bleiben  sie  auch  trotz  der  Klagen  über 
alle  möglichen  Nachstellungen  recht  gern  in  der  Anstalt,  freuen  sich 
über  den  Schutz,  den  sie  dort  gemessen.  Endlich  aber  sind  die 
Wahnvorstellungen  durchaus  nicht  feststehend,  sondern  vielfachem 
Wandel  unterworfen,  bisweilen  sogar  in  ganz  kurzen  Zeiträumen. 
Die  Kranken  gestehen  oft  überraschend  bereitwillig  und  nicht  blos. 
um  den  Arzt  zu  täuschen,  die  Möglichkeit  eines  Irrthumes  zu.  Auch 
ihre  Erregungszustände  scheinen  weniger  durch  Ueberlegungen.  als 
durch  gemiithliche  Schwankungen  bedingt  zu  sein. 

Auf  der  anderen  Seite  könnte  man  geneigt  sein,  diese  Formen 
des  Irreseins  einfach  der  Dementia  praecox  zuzurecbnen,  die  zweifel- 
los, wenn  auch  nicht  häufig,  noch  in  diesem  Alter  beobachtet  wird. 
Ich  vermag  diese  Auffassung  nicht  bestimmt  zu  widerlegen,  möchte 
aber  darauf  hinweisen,  dass  die  Kranken  keine  katatonischen  Zeichen 
darbieten.  Ihr  gelegentliches  Widerstreben,  ihre  Stummheit,  ihre 
Nahrungsverweigerung,  ihre  Erregungen  sind  regelmässig  durch 
Wahnvorstellungen  oder  Stimmungen  begründet,  nicht  einfach 
zwangsmässig  oder  triebartig.  Die  Kranken  werden  auch  nicht 
rasch  gemüthlich  stumpf,  sondern  bleiben  im  Gegentheil  erregbar: 
die  Urtheilsstörung  überwiegt  weit  diejenige  des  Fühlens  und 
Handelns.  Der  Ausgang  ist  niemals  tiefer  Blödsinn  oder  Sprach- 
verwirrtheit, sondern  ein  mässiger  Schwachsinn  mit  einzelnen 
wechselnden  und  zusammenhangslosen  Wahnvorstellungen.  Gegen- 
über der  Paralyse  ist,  abgesehen  natürlich  von  den  körperlichen 
Zeichen  und  dem  weiteren  Verlaufe,  auf  den  Mangel  einer  Gedächt- 
nisschwäche trotz  bedeutender  Urtheilslosigkeit  hinzuweisen. 

Von  einer  eigentlichen  Behandlung  dieser  Krankheitszustände 
kann  heute  keine  Rede  sein.  Manche  Kranke  bedürfen  der  Anstalts- 
pflege, weil  sie  zu  störend  werden  und  ihre  Umgebung  in  hohem 
Grade  beunruhigen;  sie  pflegen  sich  vielfach  ohne  besondere 
Schwierigkeiten  in  die  Freiheitsentziehung  und  die  Tagesordnung 
der  Anstalt  zu  finden.  Andere  vermögen  unter  einigermassen 
günstigen  Verhältnissen  auch  ausserhalb  der  Anstalt  zu  leben,  ohne 
dass  die  tiefgreifende  Störung  allzu  auffallend  hervorträte. 


347 


C.  Der  AltersMüdsinn.*) 

Schon  bei  Besprechung  der  allgemeinen  Ursachen  des  Irre- 
seins sind  in  grossen  Umrissen  die  Wandlungen  geschildert  worden, 
welche  die  psychische  Persönlichkeit  im  Alter  regelmässig  zu  erleiden 
pflegt.  In  ihrer  stärksten  Ausprägung  führen  diese  Veränderungen 
zum  Krankheitsbilde  des  Altersblödsinns.  Der  Grundzug  desselben 
ist  eine  allmählich  fortschreitende,  eigenartige  Verblödung. 
Die  Auffassung  äusserer  Eindrücke  geschieht  nur  noch  in  grossen 
Umrissen.  Feinheiten,  kleinere  Abweichungen  werden  nicht  mehr 
bemerkt,  der  Zusammenhang  verwickelterer  Erscheinungen  nicht  mehr 
verstanden.  Der  Kranke  verliert  daher  leicht  die  klare  Orientirung 
in  den  täglichen  Vorkommnissen,  findet  sich  nicht  gut  zurecht, 
weiss  im  Gespräche  nicht,  wovon  die  Rede  ist,  überhört  und  über- 
sieht wichtige  Einzelheiten.  Er  wird  schläfrig,  denkfaul,  benommen, 
zeitweise  verwirrt,  verliert  leicht  den  Faden. 

Die  Anpassungsfähigkeit  und  Beweglichkeit  des  Denkens  ist 
dahin;  die  schöpferische  Thätigkeit  versagt;  der  Kranke  ist  unfähig 
geworden,  seinen  geistigen  Standpunkt  zu  verändern,  neue  Ge- 
sichtspunkte zu  gewinnen.  Das  altgewohnte  Spiel  erstarrter  Vor- 
stellungsverbindungen erhält  sich  noch  in  stetem  Kreisläufe,  aber  es 
ist  keiner  weiteren  Entwicklung  mehr  fähig,  keiner  Anregung  von 
aussen  mehr  zugänglich.  Die  gleichen  Gedankenreihen  kehren  immer 
wieder,  flechten  sich  ohne  Rücksicht  auf  das  Ende  überall  ein,  so- 
bald sie  einmal  angeregt  wurden.  Die  geistige  Verarbeitung  äusserer 
Eindrücke,  die  Bildung  von  Urtheilen  und  Schlüssen,  die  kritische 
Sichtung  und  Prüfung  aufsteigender  Vorstellungsreihen  wird  immer 
ungenügender  und  unsicherer.  Daraus  erklärt  sich  der  völlige 
Mangel  an  Verständniss  für  fremde  Anschauungen  und  Verhältnisse, 
die  Unbeugsamkeit  seniler  Vorurtheile  und  die  geringe  Widerstands- 
fähigkeit gegenüber  den  hier  sehr  häufig  sich  einstellenden  Wahn- 
ideen. Meist  pflegen  sich  diese  letzteren  im  Rahmen  übertriebener 


*)  Fürstner,  Archiv  f.  Psychiatrie  XX,  2;  Nötzli,  Ueber  Dementia  senüis, 
Diss.  Zürich,  1895;  Alzheimer,  Monatsschrift  f.  Psychiatrie  u.  Neurologie, 
1898,  101. 


348 


VIII.  Das  Irresein  des  Riickbildungsalters. 


Krankheitsfurcht,  unsinnigen  Misstrauens  oder  kindischer  Selbst- 
überschätzung zu  halten.  Die  Kranken  haben  keinen  Stuhlgang 
mehr,  werden  bestohlen,  von  den  Franzosen  todtgeschossen.  Bis- 
weilen tauchen  Selbstmordgedanken  auf.  Dazu  kommen  vielfach 
Sinnestäuschungen,  namentlich  Illusionen,  aber  auch  einzelne  Hallu- 
cinationen.  Die  Kranken  hören  Engel,  Leute,  die  ihnen  den  Hals 
abschneiden  wollen,  sehen  abenteuerliche  Bilder,  namentlich  Nachts, 
Landschaften,  bunte  Scenen,  bekannte  Persönlichkeiten.  Wirkliche 
Krankheitseinsicht  besteht  nicht,  doch  klagt  der  Kranke  öfters,  dass 
er  zu  nichts  mehr  nütze  sei,  sich  über  nichts  mehr  freue,  etwas  im 
Kopfe  habe,  dass  es  mit  ihm  aus  und  vorbei  sei. 

Sehr  erheblich  sind  regelmässig  die  Störungen  auf  dem  Gebiete 
des  Gedächtnisses.  Zwar  die  Erinnerung  an  längst  entschwundene 
Tage  haftet  noch  fest,  ja  einzelne  Erlebnisse  aus  früher  Kindheit 
tauchen  nicht  selten  mit  erstaunlicher  Lebhaftigkeit  wieder  auf,  um 
in  weitschweifiger  Breite  immer  von  neuem  vorgebracht  zu  werden. 
Allein  das  Gedächtniss  für  die  jüngste  Vergangenheit  beginnt  immer 
zahlreichere  und  unbegreiflichere  Lücken  aufzuweisen.  Die  Gegen- 
wart geht  fast  spurlos,  ohne  zu  haften,  an  dem  Kranken  vorüber; 
sie  ist  ihm  schon  nach  kurzer  Zeit  völlig  entschwunden,  weil  sie 
keinen  Widerhall  in  seinem  Innern  findet.  Er  vergisst,  was  er 
gestern,  vorgestern  gethan  hat,  erzählt  im  Laufe  einer  Unterhaltung 
dieselben  altbekannten  Geschichten  zum  zweiten  Male,  ohne  es  zu 
bemerken,  verirrt  sich  in  seiner  neuen  Wohnung,  weiss  sich  auf  die 
Namen  alter  Bekannter  nicht  zu  besinnen  und  verwechselt  die 
Personen  seiner  Umgebung.  Ganz  ähnlich  wie  in  der  Paralyse 
können  auch  hier  die  wirklichen  Erinnerungen  nicht  nur  vielfache 
unwillkürliche  Abänderungen  erfahren,  sondern  es  können  auch  die 
Lücken  geradezu  durch  allerlei  Erdichtungen  ausgefüllt  werden, 
deren  subjective  Entstehung  dem  Kranken  selbst  nicht  klar  wird. 
Halberlebtes  und  frei  Erfundenes  mischt  sich  derart  zu  höchst  un- 
zuverlässigen Erzählungen,  dass  der  Wahrheitskern  oft  äusserst 
schwierig  oder  gar  nicht  sich  herausschälen  lässt.  Endlich  kommt 
es  bei  dem  fortschreitenden  Versagen  des  Gedächtnisses,  dem  kein 
neuer  Erwerb  gegenübersteht,  mehr  und  mehr  zu  einer  Ver- 
armung des  Vorstellungsschatzes,  deren  Folge  uns  in  der  ausser- 
ordentlichen Dürftigkeit  und  Einförmigkeit  des  Gedankeninhaltes 
entgegentritt. 


Krankheitsbild. 


349 


Auch  im  Gemüthsleben  macht  sich  die  Verödung  geltend. 
Der  Kranke  wird  stumpf  und  theilnahmslos ; seine  Empfänglichkeit 
für  die  Leiden,  aber  auch  für  die  Freuden  des  Daseins  erlischt.  In 
den  Vordergrund  des  Interesses  tritt  mehr  und  mehr  das  eigene 
Ich  und  die  Befriedigung  der  persönlichen  Bedürfnisse  und  Launen. 
Das  körperliche  "Wohlbefinden,  das  Essen  und  Trinken,  die  Ver- 
dauung, der  Schlaf,  der  Tabak  gewinnen  eine  ganz  besondere 
Wichtigkeit.  Verlust  der  nächsten  Angehörigen  und  ähnliche  Schick- 
salsschläge gehen  ohne  nachhaltigen  Eindruck  vorüber.  Die  Familie, 
der  Beruf,  seine  Lieblingsbeschäftigung  werden  dem  Kranken  gleich- 
gültig. Den  Stimmungshintergrund  bildet  bald  mürrische  Unzu- 
friedenheit, bald  mehr  kindische  Fröhlichkeit  und  gehobenes 
Selbstgefühl. 

Dabei  nimmt  die  augenblickliche  Erregbarkeit  häufig  zu.  Der 
Kranke  ist  rücksichtslos,  eigenwillig,  rechthaberisch,  fühlt  sich  durch 
jeden  Widerspruch  gereizt  und  beleidigt.  Dennoch  sind  die 
Schwankungen  der  Stimmung  oberflächlich  und  ohne  Nachhaltigkeit; 
weinselige  Rührung,  läppische  Freude,  klägliches  Verzagen  werden 
durch  die  geringfügigsten  Anlässe  hervorgerufen,  um  ebenso  rasch 
wieder  zu  verschwinden.  Der  Geschlechtstrieb  ist  vielfach  ge- 
steigert und  äussert  sich  in  schamlosen  Reden,  stutzerhafter  Kleidung, 
zotigen  Aufschneidereien,  Heirathsplänen,  aber  auch  in  unzüchtigen 
Handlungen,  namentlich  an  Kindern,  für  deren  strafrechtliche  Be- 
deutung dem  geschwächten  Verstände  die  klare  Einsicht  mangelt. 

Im  übrigen  zeigt  das  äussere  Verhalten  der  Kranken  grosse 
Verschiedenheiten.  Viele  bleiben  immer  ruhig,  harmlos,  zufrieden, 
geben  trotz  ihrer  wachsenden  geistigen  und  gemüthlichen  Stumpf- 
heit zu  keinerlei  Störungen  Anlass;  sie  werden  ohne  Schwierigkeit 
in  ihren  Familien,  in  Pfründen  und  Siechenhäusern  verpflegt.  Bei 
anderen  dagegen  entwickelt  sich  allmählich  eine  wachsende  Un- 
ruhe. Die  Kranken  jammern,  klagen,  nörgeln,  zanken  mit  ihrer 
Umgebung,  schimpfen  bei  jeder  Gelegenheit  in  den  unflätliigsten 
Ausdrücken,  drohen  oder  werden  sogar  gewaltthätig.  Andere  be- 
ginnen viel  zu  schwatzen,  sich  Ausschweifungen  hinzugeben,  zu 
masturbiren,  laufen  zwecklos  herum,  verirren  sich  im  Walde,  machen 
unsinnige  Einkäufe  und  Pläne,  sammeln  allen  möglichen  Plunder 
bei  sich  an  und  gerathen  durch  ihr  unvernünftiges  Treiben  in 
mannigfache  Schwierigkeiten.  Namentlich  in  der  Nacht  finden  sie 


350 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


keine  Ruhe,  sondern  führen  durch  vielfaches  Aufstehen,  Herum- 
wandern im  Hause,  Kramen  in  alten  Scharteken,  unvorsichtiges 
Hantiren  mit  Licht  allerlei  Störungen  und  selbst  ernste  Gefahren 
herbei.  Am  Tage  sind  die  Kranken  dann  müde  und  schläfrig, 
nicken  mitten  im  Gespräche  oder  bei  der  Mahlzeit  ein.  Für  ihre 
körperliche  Pflege  sind  sie  nicht  im  Stande,  selbst  zu  sorgen,  ver- 
kommen daher  vielfach  in  Schmutz  und  Ungeziefer,  wenn  Niemand 
sich  ihrer  annimmt. 

Die  körperlichen  Begleiterscheinungen  der  Dementia 
senilis  sind  ausser  der  unregelmässigen  Störung  des  Schlafes  ein  sehr 
beträchtlicher  Rückgang  des  allgemeinen  Kräftezustandes,  gewöhn- 
lich auch  eine  Abnahme  der  Esslust.  Die  abgemagerten  Kranken 
sehen  mit  ihren  gerunzelten  Zügen  und  der  fahlen  Gesichtsfarbe 
meist  noch  älter  aus,  als  sie  wirklich  sind;  ihre  Muskulatur  ist 
schwach ; die  Körperkräfte  sind  gering.  Der  ergraute,  spärliche  Haar- 


Schriftprobe  X. 


wuchs,  der  Greisenbogen  an  der  Hornhaut,  die  Linsentrübungen,  die 
Schwerhörigkeit,  die  Schwerfälligkeit  der  Bewegungen,  das  Zittern 
sind  als  Zeichen  des  Greisenalters  auch  bei  unseren  Kranken  häufig. 
Die  besonderen  Eigentümlichkeiten  der  letztgenannten  Erscheinung 
im  Gegensätze  zu  dem  Zittern  der  Paralytiker  und  der  Trinker,  die 
grosse  Regelmässigkeit  und  Ausgiebigkeit  der  einzelnen  Bewegungen, 
lässt  die  beigegebene  Schriftprobe  deutlich  erkennen.  Dazu  können 
sich  eine  Reihe  von  Erscheinungen  gesellen,  welche  auf  leichtere 
oder  tiefere  Veränderungen  in  der  Hirnernährung  hindeuten,  Kopf- 
schmerzen, Schwindelanfälle  mit  vorübergehenden  oder  andauernden 
aphasischen  Erscheinungen,  ferner  Hemianaesthesie,  Hemianopsie, 
Ptosis,  Hemiparesen  des  Gesichtes,  der  Zunge,  der  Extremitäten; 
auch  die  Gefahr  wirklicher  Apoplexien  und  Hemiplegien  liegt  hier 
überall  ausserordentlich  nahe.  Die  Pupillen  sind  nicht  selten  eDg, 
ungleich,  reagiren  träge,  in  einzelnen  Fällen  gar  nicht;  die  Reflexe 
sind  gesteigert,  seltener  geschwunden;  die  Sprache  ist  undeutlich. 


Senile  Verwirrtheit. 


351 


Vielfach  bestehen  neuritische  Störungen,  bisweilen  Pruritus  senilis. 
An  den  geschlängelten,  starren  Arterien,  an  dem  harten,  aber 
kleinen  und  verlangsamten,  nicht  selten  unregelmässigen  Pulse 
lassen  sich  oft  schon  im  Leben  die  Zeichen  der  arteriosklerotischen 
Veränderungen  erkennen,  welchen  wir  wol  nicht  mit  Unrecht 
die  wichtigste  Rolle  in  der  Entstehungsgeschichte  der  Dementia 
senilis  zuschreiben  dürfen. 

Die  höchsten  Grade  des  Altersblödsinns  bezeichnen  wir  als 
senile  Verwirrtheit.  In  diesen  Zuständen  geht  das  Verständniss 
der  Lebensereignisse  und  die  Orientirung  allmählich  ganz  verloren. 
Die  Kranken  fassen  wol  noch  Anreden  auf,  geben  auch  sinngemässe 
Antworten,  haben  aber  keine  Ahnung  mehr  davon,  wo  sie  sich  be- 
finden, reden  die  Personen  ihrer  Umgebung  wahllos  mit  den  Namen 
längst  verstorbener  Jugendbekannter  an,  kennen  ihre  eigenen  An- 
gehörigen nicht  mehr,  wissen  nicht,  wie  alt  sie  sind,  wie  viel  Kinder 
sie  haben,  entschuldigen  sich  mit  ihrer  Vergesslichkeit.  Meist  sind 
sie  ungemein  ablenkbar,  vermögen  keinen  Gedanken  festzuhalten. 
Der  Vorstellungskreis  ist  stark  eingeengt;  die  gleichen,  oft  ganz 
sinnlosen  Wendungen  werden  immer  wieder  vorgebracht.  Auch 
sinnlose,  eigen thiimlich  rhythmische,  halb  singende  Wiederholung 
einzelner  Wörter  oder  Silben  wird  beobachtet.  Bisweilen  bemerkt 
man  in  dem  Fehlen  der  Hauptwörter  und  in  der  eigenthümlichen 
Unbestimmtheit  der  Reden  die  Spuren  aphasischer  Störungen.  Ein 
Beispiel  dafür  giebt  die  folgende  Nachschrift: 

„0  Gott,  wie  ich  dann  herein  gekommen  hin  in  die  Stube,  wo  die  vielen 
sind,  wie  sie  da  auch  sind  in  der  Stube,  da  haben  sie  gekrischen  und  da  haben 
sie  mir  mein  Sach  ausgezogen.  Und  da  ist  er  heraus  und  die  haben  es  zugemacht 
und  haben  mich  hier  dabei  gelassen  und  die  auch,  wo  da  so  kreischen,  und  da 
haben  sie  mich  in  die  Stube  daneben  hinein  und  da  — ach  Gott  ich  bin  ganz 
verwälscht  — es  ist  mir  nicht  ganz  klar  — mein  Kopf  — ich  bin  doch  recht 
gescheidt.“ 

Vielfach  entwickeln  sich  ganz  abenteuerliche,  wechselnde  Wahn- 
bildungen, Verfolgungs-  oder  Grössenideen.  Hier  bestehen  fliessende 
Uebergänge  zu  den  früher  besprochenen  Spätformen  der  Melancholie, 
deren  unsinnigen  hypochondrischen  und  nihilistischen  Vorstellungen 
wir  wieder  begegnen.  Der  Kranke  kann  nichts  mehr  reden,  nichts 
essen,  ist  todt,  wird  bestohlen,  soll  geschlachtet  werden;  man  will 
ihn  prügeln,  ihm  den  Zwangskittel  anziehen,  den  Bauch  auf- 
schneiden, die  Därme  herausnehmen:  „die  Wärter  freuen  sich  schon 


352 


VIII.  Das  Irreaeiu  des  Rückbildungsalters. 


darauf.“  Der  Arzt  ist  ein  Mörder,  wird  ihn  vergiften;  die  Frau 
hält  es  mit  anderen  Männern;  er  muss  die  Leiden  des  Heilands 
durchmachen.  Kleider,  Geld,  Kaffee  ist  für  ihn  angekommen; 
er  besitzt  Millionen,  ist  von  Adel;  Gott  gehorcht  ihm  auf  den 
leisesten  Wink. 

Ganz  besonders  ausgebildet  pflegt  die  Neigung  zum  Fabuliren 
zu  sein.  Der  Kranke  erzählt  von  allen  möglichen  wahnhaft  er- 
fundenen Erlebnissen,  dass  er  einen  Brief  erhalten,  Besuch  gehabt, 
einen  Spaziergang  gemacht  habe.  Er  hat  Kartoffeln  herausgenommen, 
kommt  soeben  aus  dem  Stall.  Gestern  hat  er  beim  Kaiser  gespeist, 
im  Kriege  ein  ganzes  Regiment  eigenhändig  umgebracht,  fabelhafte 
Reisen  unternommen  und  Abenteuer  erlebt,  deren  Einzelheiten  sich 
durch  Gegenfragen  leicht  beeinflussen  lassen.  Bei  diesen  Erzäh- 
lungen lässt  sich  öfters  ein  gewisses  Gefühl  der  Unsicherheit  fest- 
stellen; der  Kranke  verbessert  sich,  nimmt  auf  eindringlichen  Vor- 
halt seine  Aussagen  zurück,  meint,  er  sei  ganz  irre,  nicht  richtig 
im  Kopf.  Vielfach  leben  die  Kranken  wie  in  einer  Traumwelt,  weit 
zurück  in  der  Kindheit,  verkehren  mit  Eltern  und  Grosseitem, 
halten  sich  für  20  Jahre  alt,  faseln  von  ihrer  Hochzeit,  glauben, 
die  Menses  zu  haben,  wähnen  sich  bei  einer  eingebildeten  Be- 
schäftigung. Einzelne  Sinnestäuschungen,  besonders  des  Gesichts, 
sind  nicht  selten. 

Die  Stimmung  ist  bald  niedergeschlagen,  ängstlich,  verzagt, 
bald  reizbar,  unwirsch,  bald  entwickelt  sich  eine  läppische  Heiterkeit, 
die  allerdings  oft  unvermittelt  in  weinerliche  Angst  umschlägt  Die 
Kranken  jammern  und  schimpfen,  kratzen,  schlagen  zu,  sind  eigen- 
sinnig und  widerspenstig,  machen  plötzliche  Selbstmordversuche;  sie 
tänzeln  mit  freundlich-blödem  Lächeln  herum,  springen  ausgelassen 
durchs  Zimmer,  werfen  Kusshände.  Oft  sind  sie  sehr  unruhig, 
ganz  besonders  des  Nachts,  gehen  aus  dem  Bette,  wollen  fort, 
wühlen  ihre  Bettstücke  durcheinander,  packen  alles  zusammen, 
um  abzureisen,  zerstören,  schmieren,  kriechen  und  wischen  am 
Boden  herum,  entkleiden  sich  am  Tage,  weil  sie  meinen,  es 
sei  Schlafenszeit.  Sie  werden  hülflos  und  unrein;  der  Schlaf  ist 
stets  sehr  gestört,  die  Nahrungsaufnahme  bald  gierig,  bald  ganz  un- 
genügend. — 

Auf  der  Grundlage  des  Altersschwachsinns  können  sich  eine 
Reihe  von  Krankheitsbildern  entwickeln,  in  deren  klinischer  Ge- 


Klinische  Formen. 


353 


staltung  mehr  oder  weniger  deutlich  der  Einfluss  der  allgemeinen 
psychischen  Rückbildung  zum  Ausdrucke  kommt.  Wir  sehen  dabei 
ganz  ab  von  denjenigen  Störungen,  die  in  jedem  und  somit  auch  in 
hohem  Alter  eintreten  können,  wenn  auch  eine  gewisse  Färbung 
derselben  durch  die  Greisenveränderungen  sich  häufig  genug  be- 
obachten lässt. 

Die  überwiegende  Mehrzahl  der  Geistesstörungen  des  Greisen- 
alters  sind  Depressionszustände,  deren  senile  Gestaltungen  wir 
bereits  in  dem  Abschnitte  über  Melancholie  eingehender  geschildert 
haben.  Erheblich  seltener  sind  manische  Erregungszustände,  entweder 
in  der  leichteren  Form  der  Hypomanie  oder  mit  starker  ideen- 
flüchtiger Verwirrtheit,  Wahnbildungen  und  Sinnestäuschungen.  Da 
solche  Erregungen  sich  meist  mehrmals  wiederholen,  öfters  auch  mit 
deutlichen  Depressionen  abwechseln,  so  halte  ich  es  für  wahrschein- 
lich, dass  wir  es  hier  einfach  mit  Spätformen  des  manisch-depressiven 
Irreseins  zu  thun  haben.  Im  Klimakterium  gehört  die  Entwicklung 
zweifellos  circulärer  Geistesstörungen  nicht  gerade  zu  den  Selten- 
heiten, aber  auch  noch  erheblich  später  habe  ich  einzelne  ganz 
sichere  derartige  Fälle  beobachtet. 

Etwas  anders  liegt  die  Sache,  wie  mir  scheint,  mit  den  deli- 
riösen  Erkrankungen  des  Greisenalters;  hier  dürften  wir  wahrschein- 
licher eigenartige  Aeusserungen  der  senilen  Hirnveränderungen  vor 
uns  haben.  Es  handelt  sich  um  plötzlich  sich  entwickelnde  und 
rasch  verlaufende  verwirrte  Aufregungszustände  mit  lebhaften  Sinnes- 
täuschungen. Regelmässig  sind  schon  einzelne  Zeichen  des  be- 
ginnenden Altersblödsinns  einige  Zeit  voraufgegangen.  Den  äusseren 
Anstoss  zum  Ausbruche  des  Deliriums  giebt  eine  acute  Erkrankung, 
ein  Fall,  eine  gemüthliche  Aufregung;  bisweilen  schliesst  es  sich 
an  einen  Schlaganfall  an;  öfters  ist  auch  gar  kein  Anlass  auf- 
findbar. 

Die  Kranken  werden  unter  starker  Trübung  des  Bewusstseins 
rasch  völlig  verwirrt,  sind  nicht  zu  fixiren,  halluciniren  und  ge- 
rathen  in  eine  äusserst  hochgradige  Erregung  hinein,  welche  binnen 
kurzem  für  sie  verhängnisvoll  werden  kann.  Aus  ihren  kaum  ver- 
ständlichen Reden  entnimmt  man,  dass  sie  sich  vergiftet,  verhext 
glauben,  dass  der  Teufel  vor  der  Thüre  steht,  Leute  mit  Beilen, 
Pistolen  und  Messern  hereindringen,  dass  ein  Schaffot  gezimmert 
wird.  Sie  sind  in  der  Unterwelt,  von  feindlichen  Mächten  um- 

Kraepelin.  Psychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  23 


354 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


geben,  sehen  das  Gnadenlicht  nicht  mehr;  die  Polizei  ist  da; 
die  Welt  geht  unter.  Sie  erblicken  Gestalten  an  der  Decke,  hören 
Stimmen,  Singen,  drohende  Zurufe,  geschlechtliche  Vorwürfe;  es 
wird  Sand  in  das  Zimmer  geworfen.  Die  Umgebung  wird  voll- 
ständig verkannt. 

Die  Stimmung  ist  meist  ängstlich  oder  gereizt,  vorübergehend 
aber  auch  heiter  und  vergnügt  oder  theilnahmlos,  brütend.  Die 
sprachlichen  Aeusserungen  sind  ganz  zusammenhangslos,  weitschweifig, 
ideenflüchtig,  beschränken  sich  oft  auf  abgerissene,  kaum  verständ- 
liche Worte  oder  die  eintönige  Wiederholung  einzelner  sinnloser 
Silben;  dabei  besteht  meist  ausgeprägter  Rededrang.  Hie  und  da 
wird  Echolalie  beobachtet.  Die  Kranken  sind  unruhig,  nahezu 
schlaflos,  drängen  fort,  rütteln  an  den  Thüren,  schlagen  die  Fenster 
entzwei,  schreien  laut,  rufen  um  Hülfe,  schimpfen  und  drohen;  sie 
verkriechen  sich,  rutschen  am  Boden  herum,  zerreissen,  wischen, 
schmieren,  wälzen  und  rollen  sich,  beissen,  knirschen  mit  den  Zähnen, 
widerstreben  sinnlos,  verweigern  die  Nahrung.  Bei  den  Dunkelzimmer- 
delirien nach  Kataraktoperationen,  die  vielleicht  auch  zum  Theil 
hierher  gehören,  pflegt  die  motorische  Erregung  nicht  so  stürmisch 
zu  sein;  dagegen  treten  Täuschungen  des  Gesichts  wie  des  Gehörs 
stärker  in  den  Vordergrund. 

Der  Verlauf  dieser  Formen,  welche  eine  grosse  Aehnlichkeit 
mit  dem  Collapsdelirium  und  mit  paralytischen  Delirien  darbieten 
können,  zeigt  fast  regelmässig  Schwankungen,  plötzliche  Nachlässe 
mit  mehr  oder  weniger  vollständiger  Rückkehr  der  Besonnenheit 
Bisweilen  setzt  kurze  Zeit  nachher  das  Delirium  wieder  ein,  oder 
aber  die  Erregung  geht  in  einen  Zustand  von  weinerlich-ängstlicher 
Schwäche  über,  der  sich  einigermassen  allmählich  wieder  verlieren, 
aber  auch  ein  bleibender  sein  kann.  Im  ungünstigsten  Falle 
steigert  sich  die  Erregung  rasch  zu  sehr  hohen  Gradeu;  es 
kommt  zu  Flockenlesen  und  Fädenspinnen,  zu  äusserstem  Verfalle 
der  Kräfte  und  zu  tödtlichem  Zusammenbruche  in  Folge  von  Er- 
schöpfung, Schluckpneumonien  oder  zufälligen  Erkrankungen  und 
Verletzungen. 

Eine  eigenartige  Erscheinungsform  des  Altersblödsinns  bildet 
schliesslich  noch  der  senile  Verfolgungswahn,  der  dem  ent- 
sprechenden Krankheitsbilde  der  früheren  Lebensalter  in  vieler  Be- 
ziehung ähnlich  ist  und  wol  ohne  scharfe  Grenze  in  denselben  über- 


Ursachen. 


355 


geht.  Auch  diese  Form  entwickelt  sich  ganz  allmählich,  indem  die 
Kranken  verschlossen,  reizbar,  misstrauisch  werden,  sich  zurückziehen 
und  der  Umgebung  feindlich  gegenüber  stellen.  Nach  und  nach 
wird  es  deutlich,  dass  sie  von  Wahnvorstellungen  beherrscht  sind. 
Sie  glauben  sich  bestohlen,  von  den  Nachbarn  verhöhnt,  geschmäht, 
entdecken  Gift  in  ihren  Speisen ; Gebrauchsgegenstände  werden  ihnen 
verdorben  und  vertauscht.  Meist  sind  diese  Wahnvorstellungen 
ziemlich  dürftig,  verworren  und  zusammenhangslos,  werden  nicht 
weiter  ausgebildet,  können  aber  längere  Zeit  unverändert  bleiben. 
Oefters  bestehen  einzelne  Sinnestäuschungen  („Du  musst  ver- 
recken“), namentlich  bei  schwerhörigen  Kranken.  Sie  hören  Schimpf- 
worte, Drohungen,  fühlen,  dass  sie  elektrisirt,  mit  Glassplittern  be- 
schossen, mit  Säuren  bespritzt,  mit  Dampfausströmungen  gequält 
werden,  dass  man  ihnen  künstlich  den  Stuhlgang  zurückhält,  Pferde- 
staub in  den  Hals  bläst.  Die  Besonnenheit  und  Orientirung  der 
Kranken  bleibt  vollkommen  erhalten.  Dagegen  verkennen  sie  leicht 
die  Personen  ihrer  Umgebung,  bringen  fabulirende  Erzählungen 
über  dieselben  vor,  verflechten  sie  in  ihre  Wahnbildungen.  Die 
Stimmung  ist  im  allgemeinen  gleichmüthig,  hie  und  da  gereizt, 
bisweilen  selbstbewusst  und  hochfahrend.  Die  Kranken  benehmen 
sich  geordnet,  beschäftigen  sich,  sind  leicht  lenkbar,  nur  zeitweise 
erregter. 

Die  Entwicklung  des  Altersblödsinns  beginnt  meist  erst 
zwischen  dem  65.  und  75.  Lebensjahre,  doch  kann  sich  bei  ein- 
zelnen schon  ursprünglich  schwach  veranlagten  oder  durch  auf- 
reibende Lebenserfahrungen  und  schwere  Ueberarbeitung  „ver- 
brauchten“ Menschen  auch  bereits  erheblich  früher,  selbst  schon 
gegen  Ende  des  fünften  Lebensjahrzehntes,  ein  vorzeitiges  Greisen- 
thum  (Senium  praecox)  einstellen.  Bei  dem  stärker  durch  Arbeit 
und  Ausschweifungen  gefährdeten  Manne  scheint  der  Eintritt  des 
gewöhnlichen  Altersblödsinns  im  allgemeinen  etwas  früher  zu  er- 
folgen als  beim  weiblichen  Geschlechte.  Die  Erblichkeit  spielt  hier 
anscheinend  keine  grosse  Rolle;  nur  bei  wenig  mehr  als  der 
Hälfte  der  Fälle  mit  bekannter  Vorgeschichte  fand  ich  Geistes- 
störung in  der  Familie.  Fast  ausschliesslich  handelte  es  sich  um 
kranke  Geschwister,  wol  auch  um  altersblödsinnige  Eltern;  der 
Verdacht  unvollkommener  Nachrichten  über  die  Schicksale  der  Vor- 
fahren erscheint  daher  sehr  begründet.  Einzelne  der  Kranken  waren 

23* 


356 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


von  jeher  schwach  im  Kopf.  Sehr  vielfach  hört  man,  dass  sich  die 
ersten  Zeichen  der  Verblödung  nach  äusseren  Schädigungen,  nach 
einer  Kopfverletzung,  einer  fieberhaften  Krankheit,  besonders 
Influenza,  Bronchialkatarrh,  nach  einer  heftigen  Gemüthsbewegung 
gezeigt  haben. 

Der  Leichenbefund*)  zeigt  uns  in  schwereren  Fällen  des  Alters- 
blödsinns makroskopisch  wie  mikroskopisch  deutliche  Atrophie  der 
Nervensubstanz.  Das  Hirngewicht  ist  verringert,  nach  Forel’s 
"Wägungen  im  Mittel  um  200  gr;  das  Volumen  hat  abgenommen 
(compensatorische  Schädelverdickungen  und  hvdropische  Serum- 
ansammlungen); die  Rinde  der  gesammten  Hirnwindungen  ist  gleich- 
mässig  verschmälert.  Die  Ganglienzellen  erscheinen  in  verschiedenem 
Grade  atrophisch,  vielfach  sehr  stark  pigmentirt;  dazu  können  sich 
alle  die  acuteren  Veränderungen  gesellen,  die  wir  schon  bei  der 
Paralyse  als  Ausdruck  allgemeiner  Erkrankungen  der  Nervenzellen 
kennen  gelernt  haben.  Auch  von  den  markhaltigen  Nervenfasern 
geht  in  den  Tangential-  wie  in  den  Radiärbahnen  ein  mehr  oder 
weniger  grosser  Theil  zu  Grunde. 

Die  Figur  1 der  Tafel  IX  zeigt  die  Rinde  einer  an  Altersblöd- 
sinn erkrankten  Frau.  Man  erkennt  leicht  die  grossen  Lücken,  die 
durch  den  Ausfall  zahlreicher  Nervenzellen  entstanden  sind.  Auch 
die  noch  vorhandenen  Zellen  erscheinen  ausnahmslos  erheblich  er- 
krankt. Ausser  den  Spuren  einer  langsam  verlaufenden  Sklerose 
zeigen  sie  die  beginnende  Auflösung  durch  acute  Zellveränderungen. 
Dagegen  hat  der  allgemeine  Aufbau  der  Rinde,  im  Gegensätze  zur 
Paralyse,  nicht  gelitten;  eine  ungleichmässige  Schrumpfung  ist  nicht 
wahrzunehmen.  Vielfach  finden  sich  capilläre  Blutungen  und 
Blutaustritte  in  die  adventitiellen  Lymphscheiden  der  Gefässe,  die 
ihrerseits  in  weitem  Umfange  atheromatös  entartet  sind.  Ausserdem 
trifft  man  gelegentlich  auf  Erweichungsherde  und  Blutungen  in  Rinde 
und  Marklager,  in  deren  Umgebung  das  Hirngewebe  in  höherem 
oder  geringerem  Grade  zu  Grunde  gegangen  ist.  Die  Neuroglia  er- 
scheint stark  gewuchert;  ihre  Kerne  sind  vermehrt  Die  zarten 
Hirnhäute  sind  getrübt  und  verdickt;  auch  pachymeningitische  Er- 
krankungen, namentlich  Hämatome,  sind  verhältnissmässig  häufig. 
Im  Rückenmarke  und  an  den  peripheren  Nerven  lässt  sich  ebenfalls 


*)  Campbell,  Journal  of  mental  Science,  1894,  638. 


Abgrenzung;  Behcindlung. 


357 


der  Untergang  zahlreicher  Nervenfasern  sowie  Wucherung  des  Stütz- 
gewebes und  Verdickung  der  Gefässe  nachweisen.  Auch  im  Bereiche 
des  übrigen  Körpers  finden  wir  ausgedehnte  arteriosklerotische  Ver- 
änderungen an  den  grossen  und  kleinen  Gefässen  mit  deren 
Folgezuständen,  Erkrankungen  der  Aorta,  des  Herzmuskels,  der 
Nieren. 

Der  unmerkliche  Uebergang  der  ausgeprägten  Formen  des  Alters- 
blödsinns in  die  gewöhnlichen  psychischen  Veränderungen  der  Greise 
macht  eine  scharfe  Abgrenzung  derselben  von  der  Gesundheits- 
breite unmöglich.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  ist  daher  die 
Kennzeichnung  des  Krankhaften  hier  vollkommen  willkürlich,  wenn 
auch  das  Auftreten  von  Wahnideen  und  stärkeren  Erregungszuständen 
natürlich  an  der  Ueberschreitung  der  gesunden  Grenzen  keinen 
Zweifel  mehr  zulässt.  Andererseits  gehen  die  senilen  Geistesstörungen 
auch  ganz  allmählich  in  diejenigen  der  Btickbildungsjahre  über,  in 
denen  sich  ja  gewissermassen  die  Einleitung  des  Greisenalters  voll- 
zieht. Bei  den  Depressionszuständen  kündigt  sich,  wie  schon  er- 
wähnt, die  geistige  Schwäche  des  Alters  durch  das  Auftreten 
hypochondrischer,  nihilistischer  oder  anderer  unsinniger  Wahn- 
bildungen sowie  durch  das  Missverhältnis  zwischen  Verstandes- 
störung und  Stärke  der  gemiithlichen  Erregung  an.  Der  Abgrenzung 
von  der  Paralyse  ist  bei  Besprechung  jener  Krankheit  bereits  ein- 
gehend gedacht  worden.  Die  senilen  Delirien  werden  sich  zur  Zeit 
klinisch,  soweit  ich  sehe,  wesentlich  nur  durch  die  einleitenden  oder 
begleitenden  Erscheinungen  des  Altersblödsinns  von  anderen  ähn- 
lichen Formen  unterscheiden  lassen,  mit  denen  sie  vielleicht  inner- 
lich eine  gewisse  Verwandtschaft  haben.  Der  senile  Verfolgungs- 
wahn geht  in  den  praesenilen  Beeinträchtigungswahn  unmerklich 
über.  Immerhin  ist  vielleicht  neben  den  sonstigen  Zeichen  stärkerer 
Verblödung  auf  die  dürftigere  Ausbildung  und  die  Verworrenheit 
der  Wahnvorstellungen  wie  auf  das  Fehlen  tieferer  gemüthlicher  Er- 
regung hinzuweisen.  Gegenüber  der  Paranoia  ist  ebenfalls  die 
starke  geistige  Schwäche,  die  Gleichgültigkeit  der  Kranken,  die  ge- 
ringe Folgerichtigkeit  in  der  geistigen  Verarbeitung  des  Wahnes  und 
endlich  der  Mangel  an  Zusammenhang  zu  beachten. 

Die  Behandlung  der  Krankheit  hat  naturgemäss  meist  nur 
einen  sehr  engen  Spielraum.  Sorgsame  körperliche  Pflege  und  Ueber- 
wachung  der  oft  gebrechlichen  und  schlecht  genährten  Kranken,  ge- 


358 


VIII.  Das  Irresein  des  Rückbildungsalters. 


legentliche  Bekämpfung  der  Schlaflosigkeit  durch  Trional  oder  Sulfonal, 
der  Angst  durch  vorsichtige  Darreichung  von  Morphium  oder  Opium, 
zuweilen  auch  passend  durch  geistige  Getränke  (abendliches  Bier) 
und  Regelung  der  Lebensweise  ist  so  ziemlich  alles,  was  geschehen 
kann.  In  den  deliriösen  Aufregungszuständen  ist  häufiger  die  An- 
wendung des  Polsterbettes,  verlängerter  Bäder  sowie  die  Sonden- 
fütterung (mit  Alkohol  oder  Paraldehyd)  notwendig.  Andererseits 
ist  bei  den  ruhigen  Schwachsinnsformen  sehr  häufig  die  Anstalts- 
behandlung unnöthig  und  unter  günstigen  häuslichen  Verhältnissen 
durch  die  Verpflegung  in  der  Familie  oder  in  einer  Pfründe  voll- 
ständig zu  ersetzen. 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein*). 


Das  manisch-depressive  Irresein,  wie  es  in  diesem  Abschnitte 
geschildert  werden  soll,  umfasst  einerseits  das  ganze  Gebiet  des  so- 
genannten periodischen  und  circularen  Irreseins,  andererseits 
die  meist  noch  davon  unterschiedene  einfache  Manie.  Im  Laufe 
der  Jahre  habe  ich  mich  mehr  und  mehr  davon  überzeugt,  dass  alle 
die  genannten  Bilder  nur  Erscheinungsformen  eines  einzigen  Krank- 
heitsvorganges darstellen.  Möglich  ist  es  freilich,  dass  sich  späterhin 
eine  Reihe  von  Unterformen  bilden  oder  auch  einzelne  kleine 
Gruppen  wieder  ganz  abspalten  werden;  wenn  das  aber  geschieht, 
so  werden  dabei  nach  meiner  Ansicht  ganz  gewiss  nicht  diejenigen 
Zeichen  massgebend  sein  dürfen,  die  man  zur  Zeit  überall  in  den 
Vordergrund  zu  stellen  pflegt.  Was  mich  zu  dieser  Stellung  in  der 
Frage  veranlasst,  ist  die  Erfahrung,  dass  in  allen  angeführten 
Krankheitsbildern  trotz  vielfacher  äusserlicher  Verschiedenheiten 
doch  gewisse  Grundzüge  immer  in  gleicher  Weise  wiederkehren. 
Kennt  man  diese,  so  wird  man,  abgesehen  von  gewissen  praktischen 
Schwierigkeiten,  stets  im  Stande  sein,  aus  ihnen  die  Zugehörigkeit 
des  einzelnen  Zustandsbildes  zu  dem  grossen  Formenkreise  des 
manisch-depressiven  Irreseins  zu  erschliessen  und  damit  eine  Reihe 
von  Anhaltspunkten  für  die  besondere  klinische  und  prognostische 
Bedeutung  des  Falles  zu  gewinnen.  Auf  der  anderen  Seite  ist  es, 
so  viel  ich  sehe,  gänzlich  unmöglich,  irgend  welche  bestimmten 
Grenzen  zwischen  den  einzelnen  bisher  auseinander  gehaltenen 


*)  Kirn,  Die  periodischen  Psychosen.  1878;  Mendel,  Die  Manie,  eine 
Monographie.  1881;  Emmerich,  Schmidt’s  Jahrbücher  CXC,  2;  Pick,  Circu- 
lares Irresein,  Eulenburg’s  Realencyclopädie , 2.  Auflage;  Hoche,  Ueber  die 
leichteren  Formen  des  periodischen  Irreseins.  1897;  Hecker,  Zeitschrift  für 
praktische  Aerzte,  1898,  1. 


360 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Krankheitsbildern  aufzufinden.  Von  der  „einfachen“  Manie  führen 
die  zahlreichen  Beobachtungen  mit  2,  3,  4 Anfällen  im  Leben  ganz 
unmerklich  zur  periodischen  Form  hinüber,  und  von  dieser  gelangen 
wir  zum  circulären  Irresein  durch  jene  Fälle,  in  denen  immer  deut- 
lichere depressive  Vor-  oder  Nachstadien  das  reine  Bild  der  Manie 
allmählich  trüben,  oder  in  denen  die  lange  Reihe  der  manischen 
Anfälle  unvermuthet  einmal  durch  einen  Depressionszustand  unter- 
brochen wird. 

Es  giebt  keinen  Irrenarzt,  und  kann  nach  meiner  Ueberzeugung 
keinen  geben,  der  im  Stande  wäre,  aus  dem  Zustandsbilde  allein  zu 
erkennen,  ob  ein  gegebener  Krankheitsfall  als  einfache,  als  periodische 
Manie  oder  als  circulares  Irresein  aufzufassen  ist.  So  verschieden- 
artig sich  auch  das  Bild  der  Erregung  oder  Verstimmung  an  sich 
gestalten  kann  — für  die  besondere  klinische  Deutung  des  Falles 
erfahren  wir  daraus  ebenso  wenig,  wie  wir  etwa  die  verschiedenen 
Gestaltungen  der  paralytischen  Erregung  imd  Depression  zu  Schlüssen 
über  den  muthmasslichen  weiteren  Verlauf  verwerthen  können,  ab- 
gesehen natürlich  in  beiden  Fällen  von  gewissen  allgemeinen  statisti- 
schen Regeln,  die  im  einzelnen  Falle  sehr  trügerisch  sein  und  daher 
niemals  zur  Abgrenzung  wirklicher  Krankheiten  dienen  können. 

Dazu  kommt,  dass  wir  in  einem  und  demselben  Krankheitsverlaufe 
gar  nicht  selten  die  verschiedensten  Zustandsbilder  nach  einander 
auftreten  sehen.  Alle  die  mannigfachen  Erscheinungsformen  der 
manischen  Erregung  können  einander  ablösen  in  demselben  wie  in 
verschiedenen  Anfällen,  bei  einfacher  wie  bei  periodischer  Manie 
und  beim  circulären  Irresein.  Sie  erscheinen  daher  als  Aequi- 
valente,  als  Ausdruck  ganz  nahe  verwandter  und  ohne  weiteres  in 
einander  übergehender  Grundzustände.  Aehnlich  wie  wir  in  den 
äusserlich  so  mannigfaltigen  Zustandsbildern  des  epileptischen  Irre- 
seins, der  Dementia  praecox,  der  Paralyse  doch  immer  wieder  den 
bestimmten  zu  Grunde  liegenden  Krankheitsvorgang  erkennen,  wie 
sich  dort  bei  demselben  Kranken  alle  jene  Bilder  nach  einander 
entwickeln  können,  so  giebt  es  auch  für  das  manisch-depressive 
Irresein  einen  ganz  bestimmten  Kreis  von  klinischen  Erscheinungs- 
formen, die  mit  einander  abwechseln,  ohne  dass  wir  berechtigt 
wären,  die  so  entstehenden  zahllosen  Spielarten  des  Krankheitsbildes 
auf  wesentlich  verschiedene  Grundvorgänge  zurückzuführen.  Dagegen 
sind  wir  durchaus  in  der  Lage,  auch  jedes  kleinste  Bruchstück  eines 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


361 


hierher  gehörigen  Krankheitsverlaufes  ohne  weiteres  in  den  grossen 
Rahmen  des  manisch-depressiven  Irreseins  einzuordnen;  zu  den 
übrigen  Gruppen  von  Geistesstörungen,  abgesehen  etwa  vom  Ent- 
artungsirresein, führen  keine  Brücken  hinüber.  Aus  allen  diesen 
Gründen  sehe  ich  mich  veranlasst,  den  klinischen  Formenkreis  des 
manisch-depressiven  Irreseins  als  eine  Einheit  aufzufassen  und  die 
einzelnen  Zustandsbilder  und  Verlaufsarten  als  Sondergestaltungen 
des  einen  gemeinsamen  Krankheitsvorganges  darzustellen. 

Das  manisch-depressive  Irresein  verläuft,  wie  schon  sein  Name 
andeutet,  in  einzelnen  Anfällen,  die  entweder  die  Zeichen  einer  so- 
genannten manischen  Erregung,  Ideenflucht,  gehobene  Stimmung 
und  Beschäftigungsdrang,  oder  diejenigen  einer  eigenartigen  psy- 
chischen Depression  mit  psychomotorischer  Hemmung 
oder  endlich  eine  Mischung  beider  Zustände  darbieten. 

Die  Auffassung  und  das  Verständniss  äusserer  Eindrücke  zeigt 
gewöhnlich  eine  mehr  oder  weniger  schwere  Beeinträchtigung;  nur 
in  den  ganz  leichten  Formen  scheint  diese  Störung  bisweilen  zu 
fehlen.  In  den  Erregungszuständen  spielt  dabei  eine  wesentliche  Rolle 
die  ausserordentliche  Ablenkbarkeit  der  Aufmerksamkeit. 
Den  Kranken  geht  die  Fähigkeit  zur  Answahl  und  Ordnung  der 
Eindrücke  verloren;  jeder  auffallende  Sinnesreiz  drängt  sich  ihnen 
mit  einer  gewissen  Gewalt  auf,  so  dass  sie  sich  ihm  sofort  zu- 
zuwenden pflegen.  Wenn  man  daher  auch  meist  im  Stande  ist, 
ihre  Aufmerksamkeit  durch  Vorzeigen  von  Gegenständen,  Zurufen 
von  Worten  rasch  anzuziehen,  so  schweift  dieselbe  doch  ungemein 
leicht  wieder  auf  irgend  einen  neuen  Reiz  ab.  Das  Bild  der  Um- 
gebung bleibt  darum  für  den  Kranken  auch  dann  unzusammen- 
hängend und  lückenhaft,  wenn  eine  schwerere  Beeinträchtigung 
des  Wahrnehmungsvorganges  an  sich  gar  nicht  vorhanden  ist.  Es 
muss  indessen  als  sehr  wahrscheinlich  betrachtet  werden,  dass  die 
centrale  Erregbarkeit  für  äussere  Eindrücke  bei  diesen  Kranken 
meistens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  herabgesetzt  ist.  Dafür 
spricht  namentlich  die  ganz  auffallende  Unempfindlichkeit  der 
Kranken  gegen  Hitze  und  Kälte,  Hunger  und  Durst,  Schmerzen 
und  Verletzungen.  Sie  setzen  sich  stundenlang  dem  glühendsten 
Sonnenbrände  aus,  entkleiden  sich  bei  Wintertemperatur,  vergessen 
Essen  und  Trinken,  reissen  schonungslos  die  Verbände  von  ihren 
Wunden  und  misshandeln  ihre  kranken  Körpertheile  oder  ge- 


362  IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 

brochenen  Glieder,  ohne  auch  nur  ein  Zeichen  des  Unbehagens  zu 
äussem. 

In  den  Depressionszuständen  kann  die  Auffassung  sehr  hochgradig 
gestört  sein.  Einerseits  ist  auch  hier  die  Ablenkbarkeit  nicht  selten 
erhöht,  so  dass  die  Kranken  sich  neuen  kräftigen  Reizen  sofort 
widerstandslos  zuwenden.  Noch  stärker  aber  pflegt  die  Unfähigkeit 
hervorzutreten,  die  Eindrücke  geistig  zu  verarbeiten,  zu  begreifen. 
Wir  sehen  daher  die  Kranken  unter  Umständen  ganz  verständnislos 
der  Aussen  weit  gegenüber  stehen,  auch  wenn  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung an  sich  noch  leidlich  gut  von  Statten  geht. 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  bei  den  schwereren  Formen 
des  Leidens  regelmässig  etwas  getrübt.  Auf  der  Höhe  der  Erregung 
werden  Eindrücke  und  Vorstellungen  unklar  und  verschwommen. 
In  Folge  dessen  leidet  die  Klarheit  der  Orientirung.  Die  Kranken 
wissen  nicht  recht,  wo  sie  sich  befinden,  verkennen  die  Personen, 
begriissen  Aerzte  oder  Mitkranke  mit  den  Namen  von  Angehörigen 
oder  Nachbarn.  Diese  Verkennungen  knüpfen  sich  bisweilen  an 
entfernte  Aehnlichkeiten  an;  in  anderen  Fällen  aber  erscheinen 
sie  mehr  als  ein  scherzhaftes  Spiel,  in  dem  der  Kranke  sich 
gefällt,  halb  und  halb  der  Willkiirlichkeit  seiner  Bezeichnung  sich 
bewusst.  Das  tritt  namentlich  bei  Abnahme  der  Erregung  hervor,  wenn 
die  falschen  Bezeichnungen  noch  festgehalten  werden,  -während  aus 
dem  sonstigen  Benehmen  und  gelegentlichen  Aeusserungen  des 
Kranken  hervorgeht,  dass  er  über  Aufenthaltsort  und  Personen  seiner 
Umgebung  völlig  im  klaren  ist.  Am  stärksten  pflegt  die  Bewusstseins- 
trübung in  den  Depressionszuständen,  besonders  im  Stupor  zu  sein. 
Hier  kann  sich  der  Kranke  bisweilen  viele  Monate  lang  in  geradezu 
traumhafter  Benommenheit  befinden  und  die  abenteuerlichsten,  ver- 
worrensten deliriösen  Schicksale  durchleben. 

Vielfach  und  in  den  verschiedensten  Zuständen  beobachtet  man 
einzelne  Sinnestäuschungen,  wenn  sie  auch  nicht  gerade  häufig 
sehr  in  den  Vordergrund  treten.  Meist  handelt  es  sich  um  illusionäre 
Vorgänge,  wie  sie  durch  die  Unvollkommenheit  und  Flüchtigkeit 
der  Wahrnehmungen  besonders  begünstigt  wt erden,  aber  auch  wirk- 
liche Hallucinationen  kommen  öfters  vor,  namentlich  in  den  de- 
pressiven und  stuporösen  Zuständen.  Ebenso  sind  Wahnbild ungen 
keineswegs  selten.  In  der  Erregung  pflegen  dieselben  vielfach  zu 
wechseln  und  in  der  Form  von  scherzhaften  Aufschneidereien  und 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


363 


Uebertreibungen  aufzutreten,  doch  werden  bei  grösserer  Besonnen- 
heit auch  lange  festgehaltene  und  ausgesponnene  Wahnvorstellungen 
beobachtet,  Grössenideen  wie  Verfolgungswahn,  Eifersuchtswahn, 
Vergiftungsfurcht.  In  den  Depressionszuständen  tauchen  vor  allem 
Versündigungs-  und  Verfolgungsideen,  ferner  hypochondrische  Vor- 
stellungen auf.  Alle  diese  Wahnbildungen  können  unter  Umständen 
ungemein  abenteuerliche  Formen  annehmen,  so  dass  sie  bisweilen 
an  diejenigen  bei  der  Paralyse  oder  beim  Altersblödsinn  erinnern, 
einer  von  den  vielen  Beweisen  dafür,  dass  der  Inhalt  der  Wahnideen 
ebenso  wenig  wie  ihr  Vorkommen  überhaupt  irgend  welche  zuver- 
lässigen Schlüsse  auf  die  Art  eines  Krankheitsvorganges  zulässt 
Ein  gewisses  Verständniss  für  die  durch  die  Krankheit  erzeugte 
Veränderung  ist  recht  häufig  vorhanden,  doch  wird  in  der  Regel 
die  Erregung  wie  die  traurige  Verstimmung  nicht  auf  eine  Er- 
krankung, sondern  auf  äussere  oder  innere  Ursachen  zurückgeführt, 
Lebensschicksale,  ungeeignete  Behandlung,  Verfehlungen. 

Sehr  wichtige  und  ausgeprägte  Störungen  bietet  regelmässig  der 
Vorstellungsverlauf  unserer  Kranken  dar.  In  den  Erregungs- 
zuständen vermögen  sie  nicht,  einen  bestimmten  Gedankengang 
planmässig  zu  verfolgen,  sondern  sie  springen  immerfort  von  einer 
Vorstellungsreihe  auf  eine  ganz  andere  über,  um  auch  diese  sofort 
wieder  fallen  zu  lassen.  Eine  beliebige  Frage  wird  zunächst  viel- 
leicht ganz  richtig  beantwortet,  aber  es  knüpfen  sich  daran  eine 
Menge  von  Nebenbemerkungen,  die  nur  in  sehr  lockerem  oder  bald 
in  gar  keinem  Zusammenhänge  mehr  mit  dem  Ausgangspunkte 
stehen.  In  Folge  dieser  fortwährenden  Einschiebsel  und  Zwischen- 
fälle sind  die  Kranken  ganz  ausser  Stande,  etwa  allein  irgend  ein 
verwickelteres  Erlebniss  zu  erzählen,  wenn  man  sie  nicht  durch 
stete  Unterbrechungen  und  Zwischenfragen  immer  von  neuem  auf 
den  angefangenen  Weg  zurückführt.  Der  Vorstellungsverlauf  wird 
somit  nicht  mehr,  wie  beim  Gesunden,  durch  eine  Gesammtvorstellung 
beherrscht,  welche  zur  Zeit  nur  eine  bestimmte  Richtung  der  Ge- 
dankenverknüpfung zulässt  und  alle  nebensächlichen  und  zufälligen 
Einfälle  hemmt.  Nicht  die  von  dem  ganzen  Zusammenhänge  ge- 
forderten, sondern  die  durch  allgemeine  Denkgewohnheiten  be- 
günstigten Vorstellungen  gewinnen  daher  in  jedem  Augenblicke  die 
Oberhand.  Dadurch  kommt  es  zum  Abschweifen  von  einem  Gegen- 
stände auf  andere  ähnliche  oder  häufig  damit  verbundene,  ohne 


364 


IX.  Das  manisch-depresaive  Irresein. 


Rücksicht  auf  das  Ziel  des  ursprünglichen  Gedankenganges.  Der 
Zusammenhang  des  Denkens  lockert  sich  mehr  und  mehr;  es  ent- 
steht jene  Störung,  die  wir  als  ideenflüchtige  Verwirrtheit 
kennen  gelernt  haben. 

Nicht  selten  pflegen  bei  solchen  Kranken  auch  äussere  Ein- 
drücke, namentlich  solche  aufdringlicher  Art,  den  Anstoss  zu  einer 
neuen  Wendung  des  zügellosen  Gedankenganges  zu  geben.  Man 
hat  darin  bisweilen  das  Anzeichen  einer  gesteigerten  Empfänglich- 
keit für  äussere  Wahrnehmungen  erblickt.  In  Wirklichkeit  zeigt 
sich  indessen,  dass  die  Kranken  keineswegs  genau  beobachten,  sich 
vielmehr  um  die  Vorgänge  in  ihrer  Umgebung  oft  sehr  wenig 
kümmern.  Aber  wenn  sie  etwas  bemerken,  so  geschieht  das  nicht 
ohne  Reaction;  sie  fassen  ihre  Wahrnehmung  sogleich  in  Worte  und 
sprechen  sie  aus,  weil  die  Auslösung  von  Bewegungsvorgängen  bei 
ihnen  erleichtert  ist.  Auch  in  den  Depressionszuständen  scheint  bis- 
weilen eine  gewisse  Ideenflucht  zu  bestehen.  Für  den  Beobachter 
deutlich  wird  sie  allerdings  nur  dann,  wenn  die  Kranken  ihre  Ge- 
danken auch  fortlaufend  aussprechen,  was  nur  bei  gleichzeitigem 
Rededrang,  in  Mischzuständen,  der  Fall  ist.  Wir  hören  indessen 
nicht  selten  deprimirte  Kranke  darüber  klagen,  dass  ihnen  alle  mög- 
lichen Gedanken  in  den  Kopf  kämen,  dass  in  ihrem  Kopfe  alles  wirr 
durcheinander  gehe. 

Ganz  regelmässig  aber  können  wir  in  der  Depression,  ferner 
in  manisch -stuporösen  Mischzuständen  und  mit  ihnen  verwandten 
Formen  der  manischen  Erregung  eine  mehr  oder  weniger  aus- 
gesprochene Denkhemmung  nachweisen,  die  Unfähigkeit,  über  die 
eigenen  Vorstellungen  nach  Bedarf  zu  verfügen.  Daraus  entsteht 
eine  grosse  Schwerfälligkeit  und  Verlangsamung  des  Denkens,  Un- 
besinnlichkeit bei  der  Beantwortung  einfacher  Fragen,  Ideenarmut!). 
Solche  Kranke  fördern  nur  eine  auffallend  dürftige  Zahl  von  Vor- 
stellungen zu  Tage,  auch  wenn  sie  augenscheinlich  am  Aussprechen 
ihrer  Gedanken  durchaus  nicht  gehindert  sind.  Sie  werden  dann 
gewöhnlich  für  sehr  schwachsinnig  gehalten,  während  der  weitere 
Verlauf  deutlich  zeigt,  dass  es  sich  hier  nur  um  eine  Erschwerung 
des  Denkens,  nicht  um  eine  Vernichtung  des  Vorstellungsschatzes 
gehandelt  hat. 

Die  hier  vertretene  Auffassung  steht  in  einem  gewissen  Gegen- 
sätze zu  der  weit  verbreiteten  Ansicht,  dass  der  Gedankengang  in 


Kraepelin.  Psychiatrie.  G.  Aufl.  TAFEL  VI. 


Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig. 


• Allgemeine  Krankheitszeichen. 


365 


der  Manie  überstürzt  sei.  Man  nimmt  gewöhnlich  an,  dass  die 
ideenflüchtige  Zusammenhangslosigkeit  der  Vorstellungen  in  der 
Manie  wesentlich  durch  das  Ausfallen  ganzer  Gedankenreihen 
bedingt  sei,  welche  schneller  auf  einander  folgen,  als  die  Sprach- 
organe  sie  ausdrücken  können.  Genauere  Untersuchungen  haben 
mir  gezeigt,  dass  jene  Ansicht  nicht  nur  nicht  beweisbar,  sondern 
höchst  wahrscheinlich  falsch  ist.  Es  lässt  sich  nämlich  bei  der  künst- 
lich, durch  Alkohol  oder  körperliche  Anstrengung,  erzeugten  Ideen- 
flucht zeigen,  dass  keineswegs  unausgesprochene  associative  Binde- 
glieder zwischen  den  ganz  sinnlos  aneinander  geknüpften  Vor- 
stellungen bestehen,  und  dass  der  Associationsvorgang  thatsächlich 
sehr  beträchtlich  verlangsamt  ist.  Dagegen  ist  es  richtig,  dass  die 
einzelnen  Vorstellungen,  weil  sie  nicht  durch  feste  Zielvorstellungen 
gestützt  werden,  nur  von  sehr  kurzer  Dauer  sind  und  rasch  von 
anderen  abgelöst  werden.  Die  Ideen  sind  flüchtig,  aber  sie  drängen 
einander  nicht.  „Meine  Gedanken  sind  so  schnell,  dass  ich  sie  gar 
nicht  festhalten  bann,“  sagte  eine  Kranke.  Nicht  auf  eine  Be- 
schleunigung des  Gedankenganges  weist  uns  diese  Aeusserung  hin, 
sondern  auf  die  Flüchtigkeit  und  Unbeständigkeit  der  einzelnen 
Glieder.  Thatsächlich  lehrt  auch  die  Beobachtung  manisch  erregter 
Kranker,  dass  sie  keineswegs  ideenreich,  sondern  nur  wortreich  sind 
und  sich  häufig  ganz  eintönig  wiederholen.  Auch  die  gelegentlichen 
Witze  solcher  Kranken  sind  fast  immer  einfache  Wortspiele,  wie  sie 
eben  durch  die  Neigung  zu  Klangassociationen  hervorgerufen  werden. 
Wir  begegnen  ihnen  wie  der  Sucht,  in  fremden  Sprachen  zu  reden, 
und  einer  Reihe  von  ähnlichen  Zügen  im  Alkoholrausche,  bei  dem 
die  Lähmung  der  Verstandesthätigkeit  mit  voller  Sicherheit  nach- 
gewiesen werden  konnte.  Trotzdem  stossen  wir  hier  im  Gegensätze 
zu  dem  Messungsergebnisse  häufig  auf  die  Selbsttäuschung  einer 
Erhöhung  der  geistigen  Leistungsfähigkeit.  Sie  hat  ebensowenig 
Beweiskraft  wie  die  aus  dem  manischen  Wohlgefühl  erwachsende 
Vorstellung  besonderer  geistiger  Frische  und  Gesundheit. 

Die  Stimmung  ist  in  der  manischen  Erregung  meist  eine  ge- 
hobene. Die  Kranken  sind  vergnügt,  fühlen  sich  sehr  wohl,  zu  allen 
möglichen  Spässen  und  Neckereien  aufgelegt,  lachen,  singen  und 
scherzen.  Den  Ausdruck  dieser  Stimmung  in  verschiedener  Färbung 
von  leichter  Fröhlichkeit  bis  zum  unbändigen  Lachen  giebt  das 
beigefügte  Gruppenbild  manisch  erregter  Kranker  wieder  (Tafel  VI). 


366 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Zugleich  beobachten  wir  gewöhnlich  eine  erhebliche  Steigerung 
der  gemüthlichen  Reizbarkeit.  Daher  schieben  sich  in  die 
ausgelassene  Heiterkeit  bei  .geringfügigen  Anlässen  Zornausbrüche 
mit  rücksichtslosestem  Schimpfen  und  Neigung  zu  Gewalttätigkeiten 
ein.  Andererseits  aber  schlägt  die  Stimmung  auch  auffallend  leicht  in 
Traurigkeit  und  Weinerlichkeit  um,  freilich  meist  nur  ganz  vorüber- 
gehend. Ich  möchte  annehmen,  dass  sich  in  dieser  Erfahrung  die 
nahe  Verwandtschaft  der  manischen  und  der  depressiven  Zustände 
ausdrückt.  In  diesen  letzteren  ist  die  Stimmung  regelmässig  düster, 
hoffnungslos,  verzweifelt  oder  ängstlich,  wenn  es  auch  einzelne 
Fälle  giebt,  in  denen  neben  der  Hemmung  eine  bestimmte  Färbung 
der  Gemiithslage  nicht  deutlich  erkennbar  ist  Auch  in  der  De- 
pression deutet  indessen  nicht  selten  ein  verlorenes  Lächeln  oder 
selbst  eine  plötzliche  Fröhlichkeit  darauf  hin,  wie  leicht  hier  die 
Stimmungen  in  einander  übergehen.  In  den  Misch-  und  Uebergangs- 
zuständen  sehen  wir  einerseits  Stupor  mit  stiller  Lustigkeit,  anderer- 
seits eine  erregte  Verstimmung,  die  sich  in  unleidlichem  Nörgeln  und 
reizbarer  Missvergnügtheit  kundgiebt. 

Die  bei  weitem  auffallendsten  Störungen  liegen  beim  manisch- 
depressiven  Irresein  auf  psychomotorischem  Gebiete.  In  den  Er- 
regungszuständen ist.  das  Krankheitsbild  beherrscht  vom  Be- 
schäftigungsdrange. Wir  haben  es  hier  mit  einer  allgemeinen 
Erleichterung  der  Umsetzung  centraler  Erregungen  in  Handlungen 
zu  thun.  Jeder  aufsteigende  Antrieb  führt  alsbald  zur  That,  während 
der  Gesunde  zahllose  Willensregungen  schon  im  Entstehen  zu  unter- 
drücken pflegt.  Die  Störung  scheint  in  hohem  Grade  mit  derjenigen 
übereinzustimmen,  die  wir  künstlich  durch  Alkoholeinwirkung  er- 
zeugen können;  daher  die  grosse  Aehnlichkeit  vieler  manischer 
Kranker  mit  leichter  oder  schwerer  Angetrunkenen.  Freilich  pflegt 
im  Rausche  die  Beeinträchtigung  der  Auffassung  und  des  Denkens 
verhältnissmässig  weit  stärker  hervorzutreten,  als  bei  unseren  Kranken- 
Der  manische  Beschäftigungsdrang  führt  naturgemäss  zu  mehr  oder 
weniger  ausgesprochener  Unruhe  (Tobsucht).  In  den  leichtesten 
Graden  ist  es  nur  eine  gewisse  Unstetigkeit  und  Vielgeschäftigkeit, 
die  uns  auffällt,  rastlose,  überstürzte  Unternehmungslust.  Bei 
stärkerer  Erregung  drängen  sich  die  Antriebe  immer  mehr,  und  der 
Zusammenhang  des  Handelns  geht  allmählich  verloren.  Der  Kranke 
ist  ausser  Stande,  irgend  eine  weiterreichende  Absicht  wirklich 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


367 


durchzuführen,  weil  sich  ihm  immerfort  neue  Antriebe  dazwischen 
schieben,  die  ihn  von  dem  ursprünglichen  Ziele  ablenken.  So  kann 
sich  schliesslich  sein  Thatendrang  in  eine  bunte  Folge  immer  neuer, 
rasch  wechselnder  Willenshandlungen  auflösen,  die  gar  kein  ge- 
meinsames Ziel  mehr  erkennen  lassen,  sondern  kommen  und  gehen, 
wie  sie  der  Augenblick  geboren  hat.  Immer  aber  sind  die  ein- 
zelnen Handlungen,  im  Gegensätze  zu  dem  katatonischen  Bewegungs- 
drange, durch  Vorstellungen  oder  Stimmungen,  wenn  auch  noch  so 
flüchtiger  Art,  verursacht;  es  sind  Ausdrucksbewegungen,  tiber- 
miithige  Scherze,  Angriffe,  Zeitvertreib,  Liebeswerbungen  u.  dergl. 
Ausser  der  Erregung  besteht  bei  unseren  Kranken  regelmässig  auch 
eine  Steigerung  der  Erregbarkeit.  Vielleicht  ist  diese  sogar 
als  die  wesentliche  Grunderscheinung  zu  betrachten.  Oft  sind  die 
Kranken  ziemlich  ruhig,  so  lange  man  alle  äusseren  Reize  nach 
Möglichkeit  abschliesst;  eine  Anrede,  ein  Besuch,  das  Schreien  der 
Mitkranken  führt  aber  ungemein  leicht  zu  rasch  wachsender  Er- 
regung. Je  mehr  man  sie  reden  und  gewähren  lässt,  desto  stärker 
pflegt  der  Beschäftigungsdrang  zu  werden,  eine  für  die  Behandlung 
sehr  wichtige  Erfahrung. 

Trotz  der  hochgradigsten  motorischen  Erregung,  die  bisweilen 
Wochen,  ja  viele  Monate  lang  mit  geringen  Unterbrechungen  in 
vollster  Stärke  fortdauert,  fehlt  dem  Kranken  das  Ermüdungs- 
gefühl vollständig.  Er  ist  nicht  matt  und  abgespannt;  der  Verbrauch 
des  Muskelgewebes  erzeugt  keine  Unlustempfindung,  zum  Theil  viel- 
leicht wegen  der  früher  besprochenen  Abstumpfung  seiner  Empfind- 
lichkeit, namentlich  aber  wol  wegen  der  Leichtigkeit,  mit  welcher 
die  centrale  Auslösung  seiner  Bewegungen  von  Statten  geht.  Bei 
ihm  genügt  schon  der  leiseste  Antrieb,  um  ausgiebige  Bewegungs- 
äusserungen hervorzurufen,  während  der  Gesunde  zur  Erzielung  des 
gleichen  Erfolges  eines  unvergleichlich  grösseren  Aufwandes  von 
centraler  Arbeitsleistung  bedürfen  Avürde.  Darum  muss  auch  jeder 
Versuch  der  Nachahmung  dieses  Zustandes  nothwendig  nach  sein- 
kurzer  Zeit  an  der  Unmöglichkeit  scheitern,  das  lähmende  Ermüdungs- 
gefühl durch  die  blosse  Willensanstrengung  zu  überwinden.  Dieser 
Umstand  wie  die  Rücksichtslosigkeit,  mit  der  die  Kranken  ihre 
Glieder  gebrauchen,  hat  zu  der  verbreiteten,  unrichtigen  Anschauung 
geführt,  dass  sie  über  aussergewöhnliche  Körperkräfte  verfügen. 

Eine  Theilerscheinung  des  allgemeinen  Thatendranges  ist  der 


308 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


oft  sein-  ausgeprägte  Rededrang  der  Kranken.  Auch  die  Umsetzung 
von  Wortvorstellungen  in  Sprachbe wegungen  ist  krankhaft  erleichtert. 
Wie  wir  schon  früher  ausgeführt  haben,  dürfte  gerade  dieser  Um- 
stand bei  der  besonderen  Gestaltung  der  manischen  Ideenflucht  eine 
gewisse  Rolle  spielen.  Die  leicht  angeregten  motorischen  Sprach- 
vorstellungen  gewinnen  einen  unverhältnissmässig  starken  Einfluss 
auf  den  Ablauf  des  Gedankenganges,  -während  die  inhaltlichen  Be- 
ziehungen der  Vorstellungen  mehr  in  den  Hintergrund  treten.  So 
kommt  es,  dass  in  den  höheren  Graden  der  Ideenflucht,  ganz  wie 
unter  dem  Einflüsse  des  Alkohols,  an  die  Stelle  des  sachlichen 
Bandes  der  Vorstellungen  mehr  und  mehr  sprachlich  eingelernte 
Redensarten,  Wortzusammensetzungen,  Anklänge  und  Reime  treten. 
Namentlich  gewinnen  mehr  und  mehr  die  reinen  Klangasso- 
ciationen die  Oberhand,  bei  denen  jede  Spur  einer  inneren  Be- 
ziehung der  Vorstellungen  verschwunden  ist,  die  Gleichklänge  und 
Reime,  sogar  ganz  sinnlose.  Eine  Kranke  schrieb  auf  ein  Blatt: 
Nelke  — welke  — Helge  — Hilde  — Tilde  — Milde  — Hand  — Wand 
— Sand. 

In  den  sprachlichen  Aeusserungen  des  Kranken  macht  sich 
die  Ideenflucht  und  der  Rededrang  gleichzeitig  geltend.  Er  kann 
nicht  lange  Stillschweigen,  sch-watzt  und  schreit  mit  erhobener 
Stimme,  lärmt,  brüllt,  johlt,  pfeift,  überstürzt  sich  im  Reden,  reiht 
zusammenbangslose  Sätze,  Worte,  Silben  aneinander,  predigt  mit 
feierlicher  Betonung  und  leidenschaftlichen  Geberden,  vom  Hoch- 
trabenden ganz  unvermittelt  ins  Humoristisch-Gemüthliche,  Drohende, 
Weinerliche  verfallend  oder  plötzlich  in  ausgelassenem  Lachen 
endigend.  Bisweilen  kommt  es  zu  eigenthümlich  gezierter  Sprechweise, 
auch  wol  zum  Reden  in  selbsterfundenen  Sprachen,  die  zum  Theil 
aus  sinnlosen  Silben,  zum  Theil  aus  fremdländisch  zurechtgestutzten 
und  verstümmelten  Wörtern  bestehen.  Eine  Probe  manischer  Reden 
giebt  die  folgende  Nachschrift: 

„Notiren  Sie  genau,  es  scheint  mir  alles  so  grau;  die  Uhr  (wurde  der 
Kranken  vorgehalten)  bedeutet  den  Kreislauf  der  Zeit;  Herr  N.  hat  einen  Chrono- 
meter bereit.  Mein  Magen  thut  mir  weh,  immer  hipp,  hipp  hurrah!  Der  Geibel 
ist  der  Dichter,  der  Genius  der  Zeit  gewesen,  ete,  der  Sommer  muss  kommen,  die 
Bäume  schlagen  aus,  und  Du  bist  nicht  zu  Haus.  Köslein,  so  hold  am  Haag, 
mich  doch  Niemand  holen  mag.  Les  extremes  se  touchent;  Zeiten  fliehen  so 
manches  Jahr,  mich  doch  Niemand  holen  mag.  (Zur  Wärterin)  Du  Luder,  Du 
unverschämtes  Saumensch,  kannst  Du  darüber  lachen,  dass  die  guter  Hoffnung 


Allgemeine  Krankheitszeiclien. 


369 


ist,  von  Rosa  gesprochen,  drum  bist  Du  Esel  so  grau.  Grau,  theurer  Freund , ist 
alle  Theorie.  Stern,  Blume  so  gern.  Der  Grossherzog  soll  leben  hoch.  Leberecht 
Hühnchen“  u.  s.  w. 

Die  Zusammenhangslosigkeit  ist  hier  keineswegs  durch  einen 
sprudelnden  Reichthum  an  Gedanken,  sondern  durch  die  mangelnde 
Ausbildung  richtunggebender  Ziel  Vorstellungen  bedingt.  Auch  der 
Gesunde  kann  ganz  ähnliche  Reihen  liefern,  wenn  er  seinem  Denken 
die  Zügel  schiessen  lässt  und  wahllos  alles  ausspricht,  was  ihm  in 
den  Sinn  kommt.  Freilich  ist  in  der  Manie  dieses  Aussprechen  er- 
heblich erleichtert  und  beschleunigt.  In  Folge  dessen  setzt  sich  jede 
auftauchende  Vorstellung  sofort  in  Worte  um;  der  Kranke  sagt  alles, 
was  er  denkt.  Da  aber  beim  ziellosen  Denken  stets  die  Vor- 
stellungen rascher  auf  einander  folgen,  als  man  sie  in  Worte  kleiden 
kann,  überhastet  sich  das  Reden  des  Kranken,  trotzdem  sein  Denken 
eher  verlangsamt,  als  beschleunigt  ist. 

Auch  in  den  Schriftstücken  der  Kranken  zeigt  sich  die  Neigung, 
Fremdwörter  zu  gebrauchen,  verschiedene  Sprachen  durcheinander 
zu  werfen.  Die  Ablenkbarkeit  und  Erregbarkeitssteigerung  pflegt 
sich  in  dem  Umstande  kundzugeben,  dass  die  ersten  Worte  oder 
Zeilen  meist  ganz  zusammenhängend  geschrieben  sind,  während  sich 
der  weitere  Inhalt  in  eine  wirre  Folge  von  Aufzählungen,  Rerainis- 
cenzen.  Versbruchstücken,  Anklängen  und  Reimen  auflöst.  Zugleich 
werden  auch  die  Schriftzüge  grösser,  anspruchsvoller  und  unregel- 
mässiger. Sie  nehmen  keine  Rücksicht  mehr  auf  den  Leser,  laufen 
durcheinander,  werden  verschmiert;  die  Unterstreichungen,  Aus- 
ruf ungszeichen,  kühnen  Schnörkeleien  nehmen  zu.  Alle  diese  Stö- 
rungen, die  inhaltlichen  wie  die  formalen,  treten  an  der  beigegebenen 
Schriftprobe  in  ausgezeichneter  Weise  hervor.  Die  Menge  der  von 
manischen  Kranken  erzeugten  Schriftstücke  ist  bisweilen  eine  er- 
staunliche; freilich  rechnen  sie  selbst  nicht  darauf,  dass  sie  gelesen 
werden:  nur  das  Vergnügen  des  Schreibens  selbst  ist  der  Be- 
weggrund. 

In  den  Depressionszuständen  des  manisch-depressiven  Irreseins 
tritt  an  Stelle  des  Beschäftigungsdranges  sein  völliges  Gegen- 
stück, die  psychomotorische  Hemmung.  Die  centrale  Aus- 
lösung von  Handlungen  ist  hier  erschwert,  selbst  bis  zur  Un- 
möglichkeit. Die  leichteren  Grade  der  Störung  zeigen  sich  in 
der  Entschlussunfähigkeit  der  Kranken.  Die  auf  tauchenden 

Kraepelin.  Psychiatrie.  6.  Anfl.  II.  Band.  24 


370 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Antriebe  gewinnen  nicht  die  Macht,  die  entgegenstehenden  Hem 
mnngen  zu  überwinden;  trotz  der  klaren  Erkenntnis«  der  Noth 


Schriftprobe  XI. 


wendigkeit,  trotzdem  alle  wirklichen  Gegengründe  oder  Bedenken 
fehlen,  vermag  sich  der  Kranke  doch  nicht  zu  den  einfachsten  Han 


Allgemeine  Krankheitszeichen. 


371 


lungen  aufzuraffen.  Auch  die  endlich  nach  vielem  Zögern  begonnene 
Thätigkeit  bleibt  jeden  Augenblick  stecken,  da  ihr  der  Nachdruck 
des  kräftigen  Entschlusses  fehlt.  Alle  einzelnen  Bewegungen,  soweit 
sie  einen  Willensantrieb  erfordern,  sind  mehr  oder  weniger  verlang- 
samt und  geschehen  ohne  Kraft.  Aeussere  Einwirkung  und  nament- 
lich gemiithliche  Erregung  kann  die  Hemmung  verringern.  Untei; 
stetem  Zureden  oder  in  der  Gefahr  vermag  der  Kranke  noch 
Leistungen  zu  vollbringen,  die  ihm  sonst  unmöglich  sind.  Bei  den 
schwersten,  stuporösen  Formen  kann  jede  Willensäusserung  des 
Kranken  aufgehoben  sein,  so  dass  er  nicht  mehr  im  Stande  ist,  das 
Bett  zu  verlassen  oder  seine  Bedürfnisse  zu  verrichten.  Bomerkens- 
werth  ist  es,  dass  die  Ausdrucksbewegungen,  die  am  meisten  durch 
seelische  Einflüsse  beherrscht  werden,  am  schwersten  von  der 
Hemmimg  betroffen  zu  sein  pflegen.  Wir  sehen  Kranke  bisweilen 
schon  sich  ohne  wesentliche  Störung  beschäftigen,  während  sie  trotz 
guten  Verständnisses  doch  noch  kein  Wort  über  die  Lippen  zu 
bringen  vermögen. 

Einen  guten  Einblick  in  die  Eigenthümüchkeiten  der  psycho- 
motorischen Störungen  beim  manisch-depressiven  Irresein  dürfte 
die  beiliegende  Curventafel  gewähren.  Dieselbe  stellt  die  Druck- 
schwankungen beim  Schreiben  der  1 und  der  10  aus  einer  fort- 
laufenden Zahlenreihe  vor,  wie  sie  mit  Hülfe  der  Schriftwage  ge- 
wonnen werden.  Die  senkrechten  Bewegungen  einer  kleinen,  durch 
Federzug  immer  wieder  in  die  Gleichgewichtslage  zurückkehrenden 
Platte,  auf  die  der  Druck  des  Bleistiftes  beim  Schreiben  wirkte, 
wurden  auf  einer  Drehtrommel  aufgezeichnet.  Die  Abstände  auf  den 
wagerechten  Linien  geben  einen  Begriff  von  der  während  des 
Schreibens  verflossenen  Zeit;  die  Höhe  der  Curven  dagegen  stellt 
in  vergrössertem  Maassstabe  den  in  jedem  Augenblicke  auf  die 
Schreibunterlage  ausgeübten  Druck  dar.  Unter  den  einzelnen  Curven 
befinden  sich  getreue  Nachbildungen  der  Schriftzüge,  die  bei  den 
Versuchen  geliefert  wurden.  Figur  I stammt  von  einer  gesunden 
Wärterin.  Man  erkennt  bei  der  ersten,  noch  besser  bei  der  zweiten  1 
das  Nachlassen  des  Druckes  während  der  Umkehr  der  Schreib- 
bewegung sowie  das  Ansteigen  im  Grundstriche;  auch  in  der  0 ent- 
spricht der  Umbiegung  eine  kleine  Druckschwankung.  Die  Zacken 
am  Schlüsse  der  Curven  entstehen  durch  Nachschwingungen  der 
Feder  bei  raschem  Absetzen  des  Stiftes. 


24* 


372 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Figur  III  wurde  von  einer  manischen  Kranken  geliefert.  Die 
psychomotorische  Erregung  tritt  hier  schon  in  den  mächtigen,  an- 
spruchsvollen Schriftzeichen  hervor.  Der  Druck  ist  erheblich  ge- 
steigert, ebenso  die  Schreibgeschwindigkeit,  wenn  wir  die  verschiedene 
Länge  des  zurückgelegten  Schreibweges  berücksichtigen.  In  der 
zweiten  1 sind  sowol  Druck  wie  Geschwindigkeit  sehr  bedeutend 
gestiegen,  eine  Erscheinung,  die  sich  auch  bei  Gesunden  überall 
findet,  nur  in  ungleich  schwächerer  Ausprägung.  Da  sie  uns  die 
wachsende  Erleichterung  der  Leistung  während  der  Arbeit  anzeigt, 
darf  sie  als  Ausdruck  der  gesteigerten  psychomotorischen  Erregbar- 
keit angesehen  werden.  Die  im  Laufe  des  Schreibens  rasch  zu- 
nehmende Ausgiebigkeit  der  Nachschwingungen  deutet  auf  die 
grössere  Plötzlichkeit  der  Druckschwankungen  bei  den  heftigen 
Schreibbewegungen  hin. 

Ein  vollkommen  anderes  Bild  bietet  die  Figur  II  dar,  die  von 
einer  Kranken  im  Depressionszustande  gewonnen  wurde.  Die  Schrift- 
züge sind  auffallend  klein;  trotzdem  nahmen  sie  erheblich  grössere  Zeit 
in  Anspruch  als  Figur  I,  waren  also  stark  verlangsamt  Zugleich  ist 
der  Druck  ausserordentlich  niedrig;  er  betrug  noch  nicht  50  gr  und 
zeigt  sehr  wenig  ausgeprägte  Schwankungen.  Nachschwingungen 
fehlen  ganz;  der  Schreibdruck  hörte  also  nicht  plötzlich,  sondern 
ganz  allmählich  auf.  Auch  hier  ist  übrigens  eine  geringe  Zunahme 
der  Geschwindigkeit  bei  der  zweiten  1 nachzuweisen.  Fanden  wir 
demnach  bei  der  manischen  Kranken  heftige,  sehr  beschleunigte  Be- 
wegungen mit  rascher,  erheblicher  Zunahme  der  Erregbarkeit,  so 
begegnet  uns  hier  zögerndes  Ein-  und  Ausschleichen,  geringer  Nach- 
druck und  bedeutende  Verlangsamung  des  Schreibens,  Zeichen,  die 
in  klarer  Weise  auf  das  Bestehen  einer  psychomotorischen  Hemmung 
hindeuten. 

Allein  die  beiden  hier  auseinandergehaltenen  Zustände  des  Werk- 
zeuges unseres  Willens  sind  schwerlich  solche  Gegensätze,  wie  es 
auf  den  ersten  Blick  scheinen  mag.  Wir  sehen  sie  wenigstens  im 
Verlaufe  der  Krankheit  häufig  genug  unvermittelt  in  einander  über- 
gehen. Hemmung  und  Erleichterung  der  Willensantriebe  müssen 
demnach  nur  nahe  verwandte  Erscheinungsformen  einer  gemeinsamen 
Grundstörung  sein.  Noch  deutlicher  wird  das,  wenn  wir  sehen,  dass 
sich  die  Zeichen  beider  krankhafter  Veränderungen  gar  nicht  selten 
mit  einander  mischen.  Die  besonderen  klinischen  Gestaltungen 


373 


374 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


dieser  Mischung  werden  wir  späterhin  genauer  ins  Auge  zu  fassen  haben. 
Hier  möchte  ich  nur  auf  die  Figur  IV  der  Curventafel  hinweisen, 
die  von  der  gleichen  Kranken  geschrieben  wurde  wie  Figur  IH. 
Nur  befand  sich  dieselbe  damals  in  einem  Zustande,  in  dem  während 
einer  schweren  Manie  einige  Tage  lang  der  Beschäftigungsdrang 
vollständig  geschwunden  war.  Die  Druckcurve  der  Schrift  zeigt 
uns  bei  kleiner  gewordenen  Schriftzügen  eine  geringe  Abnahme  des 
Druckes,  langsames  Ansteigen  und  Erlöschen  desselben  und  sehr 
erhebliche  Verlangsamung  des  Schreibens,  also  eine  höchst  eigen- 
artige Mischung  der  Veränderungen,  die  wir  oben  bei  der  manischen 
Erregung  und  bei  der  Hemmung  kennen  gelernt  haben.  — 

Wie  schon  die  Betrachtung  der  allgemeinen  Krankheitszeichen 
lehrt,  haben  wir  beim  manisch-depressiven  Irresein  zunächst  zwei 
grosse  Gruppen  von  Zustandsbildem  auseinanderzuhalten , die  ma- 
nischen und  die  depressiven.  Ihnen  schliessen  sich  dann  noch 
als  dritter  Formenkreis  die  bisher  viel  zu  wenig  beachteten  Misch- 
zustände an,  die  neben  einander  einzelne  Erscheinungen  der  ma- 
nischen Erregung  und  der  Hemmung  darbieten.  Gerade  die  That- 
sache  solcher  Mischzustände  lehrt  uns,  dass  die  manischen  und 
die  depressiven  Formen  ohne  bestimmte  Grenzen  in  einander 
übergehen;  trotzdem  wird  es  sich  der  Uebersichtlichkeit  halber 
empfehlen,  diese  beiden  Gruppen  von  Krankheitsbildern  in  einer 
Reihe  häufiger  beobachteter  Spielarten  gesondert  darzustellen. 

Manische  Zustände.  Die  leichtesten  Formen  der  manischen 
Erregung  pflegt  man  als  „Hypomanie“,  Mania  mitis,  mitissima,  auch 
wol,  aber  unzweckmässig,  als  Mania  sine  delirio  zu  bezeichnen.  Die 
Franzosen  haben  von  einer  „Folie  raisonnante“,  einem  Irresein  ohne 
Verstandesstörung  gesprochen.  In  der  That  erscheint  die  Besonnen- 
heit, die  Auffassungsfähigkeit,  das  Gedächtniss  der  Kranken  im  all- 
gemeinen ungestört.  Die  geistige  Regsamkeit,  die  Beweglichkeit  der 
Aufmerksamkeit  ist  sogar  nicht  selten  gesteigert;  die  Kranken  können 
aufgeweckter,  scharfsinniger,  leistungsfähiger  erscheinen,  als  früher. 
Namentlich  ist  es  die  Gewandtheit  in  der  Erfassung  entfernter 
Aehnlichkeiten,  die  nicht  selten  den  Hörer  überrascht,  weil  sie  den 
Kranken  zu  witzigen  Wendungen  und  Einfällen,  Wortspielen,  ver- 
blüffenden, wenn  auch  bei  genauerer  Betrachtung  meist  wenig  stich- 
haltigen Vergleichen  und  ähnlichen  Leistungen  der  Einbildungskraft 
befähigt  Dennoch  ist  auch  bei  den  leichtesten  Graden  der  Störung 


Manische  Zustände. 


375 


der  Mangel  an  innerer  Einheit  des  Vorstellungsverlaufes, 
die  Unfähigkeit  zur  folgerichtigen  Durchführung  einer  bestimmten 
Gedankenreihe,  zur  ruhigen,  logischen  Verarbeitung  und  Ordnung- 
gegebener  Ideen,  die  Unbeständigkeit  des  Interesses,  das  jähe,  un- 
vermittelte Abspringen  von  einem  Gegenstände  zum  andern  ausser- 
ordentlich bezeichnend.  Allerdings  wissen  die  Kranken  nicht  selten 
mit  einiger  Anstrengung  diese  Erscheinungen  vorübergehend  zu 
verwischen  und  die  Herrschaft  über  ihren  zügellos  gewordenen  Vor- 
stellungsverlauf noch  für  einige  Zeit  wiederzugewinnen;  in  Schrift- 
stücken und  namentlich  in  den  oft  eifrig  betriebenen  Reimereien 
pflegt  dann  doch  eine  leichte  Ideenflucht  regelmässig  deutlich  her- 
vorzutreten. Vorübergehend  kann  sich  übrigens  auch  bei  diesen 
leichten  Formen  stärkere  Erregung  und  Verwirrtheit  einstellen. 

Die  Erinnerung  an  die  jüngsten  Erlebnisse  ist  nicht  immer  treu, 
sondern  vielfach  durch  eigene  Zuthaten  gefärbt  und  ergänzt.  Der 
Kranke  lässt  sich  in  seinen  Erzählungen  leicht  zu  Uebertreibungen 
imd  Verdrehungen  hinreissen,  die  zum  Theil  schon  einer  schiefen 
Auffassung,  zum  Theil  aber  auch  nachträglicher  Umdeutung  ent- 
springen, ohne  dass  deren  Willkürlichkeit  dem  Kranken  selbst  klar 
zum  Bewusstsein  kommt.  Obgleich  daher  eigentliche  Wahnbildungen 
fehlen,  begegnet  uns  doch  regelmässig  eine  stark  übertriebene 
Selbstschätzung.  Der  Kranke  rühmt  seine  Leistungen  und  Fähig- 
keiten, prahlt  mit  seinen  vornehmen  Bekanntschaften,  versteht  alles 
am  besten,  bespöttelt  das  Treiben  Anderer  mit  vornehmer  Gering- 
schätzung und  verlangt  besondere  Anerkennung  für  seine  eigene 
Person.  Demgemäss  ist  von  einer  Krankheitseinsicht  gar  keine 
Rede;  auch  durch  den  Hinweis  auf  frühere  Anfälle,  die  er  während 
der  traurigen  Verstimmung  vielleicht  ganz  richtig  beurtheilte,  lässt 
er  sich  keinen  Augenblick  von  der  krankhaften  Natur  seines  Zustandes 
überzeugen. 

Im  Gegentheil  fühlt  er  sich  gesünder  und  leistungsfähiger,  als 
jemals,  höchstens  [etwas  erregt  durch  die  unwürdige  Behandlung. 
Die  Beschränkung  seiner  Freiheit  betrachtet  er  als  einen  schlechten 
Witz  oder  als  eine  unverzeihliche  Kränkung,  die  er  auf  Quer- 
treibereien seiner  Angehörigen  oder  sonst  ihm  feindlich  gesinnter 
Personen  zurückführt  und  zu  deren  Beseitigung  und  Sühne  er  ge- 
setzliche Massregeln  zu  ergreifen  droht.  Nicht  selten  meint  er, 
nicht  er,  sondern  diejenigen  seien  geisteskrank,  die  seine  geistige 


376 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Ueberlegenheit,  seine  Begabung  nicht  zu  würdigen  verständen  und 
ihn  durch  aufreizende  Reibereien  in  Erregung  zu  versetzen  suchten. 
Man  wird  durch  dieses  Verhalten  an  die  Erfahrungen  erinnert,  die 
man  so  häufig  über  die  Selbsttäuschungen  Angetrunkener  zu  machen 
Gelegenheit  hat. 

Die  Stimmung  des  Kranken  ist  vorwiegend  eine  gehobene, 
heitere,  durch  das  Gefühl  der  erhöhten  Leistungsfähigkeit  beeinflusste. 
Er  ist  in  unverwüstlich  guter  Laune,  fühlt  sich  glücklich  und  froh, 
nicht  selten  in  etwas  überschwänglicher  Weise,  sieht  sich  von  lieben, 
edlen  Menschen  umgehen,  findet  volle  Befriedigung  in  den  Genüssen 
der  Freundschaft,  der  Kunst,  der  Humanität.  Bisweilen  entwickelt 
sich  ein  ausgeprägt  humoristischer  Zug,  die  Neigung,  allen  Dingen 
und  Ereignissen  die  scherzhafte  Seite  abzugewinnen,  Spitznamen  zu 
erfinden,  sich  selbst  und  Andere  lustig  zu  verspotten.  Meist  treten 
jedoch  gerade  die  Bedürfnisse  und  Wünsche  der  eigenen  Person 
gänzlich  in  den  Vordergrund.  Auf  der  anderen  Seite  besteht  regel- 
mässig eine  grosse  gemüthliche  Reizbarkeit.  Der  Kranke  ist  unzu- 
frieden, unduldsam,  nörgelnd,  namentlich  im  Verkehr  mit  Nahe- 
stehenden, wo  er  sich  gehen  lässt;  er  wird  rücksichtslos,  patzig  und 
selbst  roh,  wo  er  mit  seinen  Wünschen  und  Neigungen  auf  Wider- 
stand stösst;  geringfügige  äussere  Anlässe  können  ungemein  heftige 
Zornesaushrüche  mit  kräftigem  Schimpfen  und  Neigung  zu  Gewalt- 
tätigkeiten herbeiführen.  Der  innere  Halt  des  Kranken  ist  ver- 
loren gegangen;  er  lässt  sich  gänzlich  durch  augenblickliche  Ein- 
drücke und  Gemütsbewegungen  beherrschen,  die  sofort  eine  un- 
widerstehliche Macht  über  seinen  steuerlosen  Willen  erlangen.  Seine 
Handlungen  tragen  daher  vielfach  das  Gepräge  des  Triebartigen. 
Unüberlegten  und  — wegen  der  geringen  Störung  des  Verstandes 
— des  Unsittchen. 

Was  vor  allem  auffällt,  ist  seine  erhöhte  Geschäftigkeit  Der 
Kranke  fühlt  das  Bedürfniss,  aus  sich  herauszugehen,  mit  seiner 
Umgebung  in  lebhafteren  Verkehr  zu  treten,  eine  Rolle  zu  spielen. 
Da  er  keine  Ermüdung  kennt,  duldet  es  ihn  nicht  lange  im  Bett; 
in  aller  Frühe,  um  4 Uhr  bereits,  steht  er  auf,  räumt  alle  Rumpel- 
kammern auf,  erledigt  rückständige  Angelegenheiten,  unternimmt 
Morgenspaziergänge,  Ausflüge.  Er  beginnt,  Gesellschaften,  Ver- 
gnügungen mitzumachen,  viele  und  lange  Briefe  zu  schreiben,  ein 
Tagebuch  zu  führen,  viel  zu  musiciren,  zu  Schriftstellern,  entfernte  Be- 


Manische  Zustände. 


377 


kannte  zu  besuchen,  sich  um  alle  möglichen  Dinge  und  Verhältnisse 
zu  kümmern,  die  ihm  früher  gänzlich  fern  lagen.  Namentlich  die 
Neigung  zum  Reimen  (Briefe!)  pflegt  sich  stark  geltend  zu  machen. 
Ein  einfacher  Bauer  gab  seine  ideenflüchtigen  Reimereien  im  Selbst- 
verläge heraus;  eine  junge  Dame  verfasste  bei  ihrem  Scheiden  aus 
der  Anstalt  ein  humoristisches  Testament  in  Knittelversen  und  liess 
es  drucken.  Der  Kranke  knüpft  zahlreiche  Verbindungen  an,  zahlt 
plötzlich  ohne  Nöthigung  sämmtliche  Geschäftsschulden,  macht  gross- 
artige Geschenke,  baut  allerlei  Luftschlösser  und  stürzt  sich  mit 
rascher  Begeisterung  in  gewagte,  seine  Kräfte  weit  übersteigende 
Unternehmungen.  Er  lässt  von  seinem  Dörfchen  16000  Stück  An- 
sichtspostkarten drucken,  sucht  einen  Negerknaben  aus  Kamerun  zu 
adoptiren.  Ein  Kranker  erbot  sich  plötzlich,  der  Polizei  einen  lange 
gesuchten  politischen  Verbrecher  sofort  zur  Stelle  zu  schaffen,  verlieh 
dabei  dem  Beamten  in  scherzhafter  Weise  eine  Phantasieuniform, 
lud  durch  die  Zeitung  „die  ganze  Haute  volöe“  zum  Ballfest  in 
einem  Aussichtshäuschen  ein. 

Die  wirkliche  Arbeitsfähigkeit  des  Kranken  erleidet  dabei 
regelmässig  eine  erhebliche  Einbusse.  Er  hat  keine  Ausdauer 
mehr,  lässt  das  Angefangene  halbfertig  liegen,  ist  liederlich  und 
sorglos  in  der  Ausführung,  thut  nur,  was  ihm  zusagt.  Wie  es  ihm 
gerade  einfällt,  unternimmt  er  unnöthige  Reisen,  treibt  sich  herum, 
macht  zwecklose  Einkäufe  und  Tauschgeschäfte,  auch  ohne  einen 
Pfennig  in  der  Tasche,  weil  jeder  neue  Gegenstand  seine  Begierde 
reizt.  Selbst  der  gelegentliche  Diebstahl  und  die  Uebervortheilung 
wird  in  dieser  krankhaften  Lust  am  Besitze  bisweilen  nicht  gescheut, 
um  das  Gewünschte  zu  erlangen. 

Im  äusseren  Benehmen  des  Kranken  macht  sich  gewöhnlich 
das  gehobene  Selbstgefühl,  die  Sucht,  hervorzutreten,  dann  aber  Un- 
ruhe und  Unstetigkeit  bemerkbar.  Er  kleidet  sich  gegen  seine 
sonstige  Gewohnheit  nach  der  neuesten  Mode,  wenn  auch  vielleicht 
nachlässig,  trägt  Blumen  im  Knopfloch,  begiesst  sich  mit  Wohl- 
gerüchen. Die  Schrift  zeigt  grosse,  anspruchsvolle  Züge,  viele 
Ausrufungs-  und  Fragezeichen,  Unterstreichungen  neben  Flüchtig- 
keiten in  der  äusseren  Form.  Der  Kranke  führt  überall  das  Wort, 
drängt  sich  bei  jeder  Gelegenheit  in  den  Vordergrund,  declamirt 
öffentlich,  zeichnet  hohe  Beiträge  bei  Sammlungen,  sucht  Aller 
Augen  auf  sich  zu  lenken,  Eindruck  zu  machen;  er  spricht  viel  und 


378 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


gern,  weitschweifig,  laut,  mit  lebhaften  Geberden  und  besonderer 
Betonung,  in  gesuchten  Ausdrücken,  von  sich  selbst  oft  in  der 
dritten  Person,  um  sich  ein  gewisses  Ansehen  zu  geben,  ergeht  sich 
in  handgreiflichen  Prahlereien  und  Aufschneidereien.  Er  benimmt 
sich  sehr  ungenirt,  lässt  sich  Verstösse  gegen  Anstand  und  Sitte 
zu  Schulden  kommen,  macht  trotz  tiefer  Trauer  geräuschvolle  Ver- 
gnügungen mit,  erzählt  gewagte  Witze  in  Damengesellschaft,  nimmt 
sich  mit  lustigem  Uebermuthe  unpassende  Vertraulichkeiten  gegen 
Fremde  oder  höher  stehende  Personen  heraus,  schliesst  mit  dem 
ersten  Besten  Freundschaft  und  Duzbrüderschaft  und  geräth  in  die 
mannigfaltigsten  Streitigkeiten  mit  seiner  Umgebung  und  der  öffent- 
lichen Ordnung,  indem  er  seinen  augenblicklichen  Launen  folgt, 
die  ihn  zu  allerlei  muthwilligen,  unüberlegten  und  ungehörigen 
Streichen  treiben. 

Besonders  verhängnissvoll  pflegt  dem  Kranken  die  Neigung  zu 
Ausschweifungen  zu  werden.  Er  fängt  an,  sich  häufig  zu  betrinken, 
unsinnig  zu  spielen,  die  Nächte  auszubleiben,  sich  in  Bordellen  und 
zweifelhaften  Wirthschaften  herumzutreiben,  übermässig  zu  rauchen 
und  zu  schnupfen,  stark  gewürzte  Speisen  zu  essen.  Ein  älterer,  sonst 
sehr  eingezogen  lebender  Familienvater  begann,  mit  den  Kunst- 
fechterinnen eines  Circus  Champagner  zu  trinken.  Bei  Frauen  treten 
in  der  Erregung  häufig  lebhafte  geschlechtliche  Gelüste  hervor,  die 
sich  in  auffallender  Kleidung,  künstlichen  Frisuren,  flottem  Benehmen, 
zweideutigem  Entgegenkommen,  in  der  Neigung,  Bälle  zu  besuchen, 
zu  tändeln,  Liebesverhältnisse  anzuknüpfen,  schlüpfrige  Romane  zu 
lesen,  besonders  kundzugeben  pflegen.  Eine  meiner  Kranken  erliess 
in  diesem  Zustande  regelmässig  Heirathsgesuche,  die  schliesslich  den 
Erfolg  hatten,  dass  sie  unter  Beihülfe  eines  Vermittlers  thatsächlich 
mit  einem  wenig  vertrauenswürdigen  Menschen  die  Ehe  einging. 
Unbegreifliche  Verlobungen,  auch  Schwängerungen  sind  in  diesen 
Zuständen  nicht  selten;  ich  kenne  Fälle,  in  denen  sich  das  Ein- 
setzen der  Erregung  mehrfach  durch  eine  plötzliche  Verlobung  an- 
kündigte. 

Alle  seine  auffallenden  und  unsinnigen  Handlungen  weiss  der 
Kranke  mit  ausserordentlicher  Spitzfindigkeit  zu  begründen;  um  einen 
Entschuldigungs-  und  Erklärungsgrund  ist  er  nie  in  Verlegen- 
heit. Die  Bemühungen  seiner  Angehörigen,  ihn  zu  beruhigen,  er- 
weisen sich  daher  nicht  nur  als  erfolglos,  sondern  sie  reizen  den 


Manische  Zustände. 


379 


Kranken  geradezu  und  führen  leicht  zu  heftigen  Zornausbrüchen 
und  selbst  Gewalttaten.  In  der  Anstalt  drängt  er  meist  vom  ersten 
Tage  an  auf  Entlassung,  führt  seine  Heftigkeit  ausschliesslich  auf  die 
ungerechte  Freiheitsberaubung  zurück,  verlangt,  von  anderen  Aerzten 
untersucht  zu  werden.  Einer  meiner  Kranken  wusste  seine  Frau 
durch  Nörgeln  dazu  zu  bewegen,  dass  sie  ihm  gegen  meinen  Rath 
die  Uebersiedelung  in  eine  andere  Austalt  zugestand.  Auf  der  ganz 
kurzen  Reise  übernahm  er  jedoch  selbst  die  Führung,  fuhr  seiner 
Frau  davon  und  begab  sich  nach  Berlin,  um  sich  von  einem  Arzte 
untersuchen  zu  lassen,  der  sich  in  der  Gesunderklärung  Geistes- 
kranker einen  gewissen  Ruf  erworben  hat. 

Die  Mannigfaltigkeit  dieses  Krankheitsbildes  im  einzelnen  ist 
trotz  aller  gemeinsamen  Züge  eine  sehr  grosse.  Je  leichter  der 
eigentliche  Krankheitsvorgang  den  Menschen  berührt,  desto  mehr 
muss  ja  seine  persönliche  Eigenart  in  der  Gestaltung  der  Krankheits- 
erscheinungen mit  zur  Geltung  kommen.  Namentlich  in  der  Art 
und  Heftigkeit  der  gemüthlichen  Regungen  machen  sich  die  Ver- 
schiedenheiten bemerkbar.  Während  manche  Kranke  in  dieser  Zeit 
liebenswürdig,  gutmiithig,  lenksam,  umgänglich  sind  und  höchstens 
durch  ihre  Ruhelosigkeit  für  die  Umgebung  störend  werden,  sind 
andere  wegen  ihrer  Reizbarkeit,  ihrer  Herrschsucht  und  ihres  rück- 
sichtslosen Thatendranges  ausserordentlich  schwierig  und  unan- 
genehm. Gerade  die  eigenthümliche  Mischung  von  Besonnenheit  mit 
echt  tobsüchtigem  Handeln,  vielfach  auch  die  grosse  Anstaltserfahrung 
macht  sie  überaus  erfinderisch  in  Mitteln,  ihre  zahlreichen  Gelüste 
zu  befriedigen,  die  Umgebung  zu  hintergehen,  sich  allerlei  Vortheile 
zu  verschaffen,  fremdes  Eigenthum  in  ihren  Besitz  zu  bringen.  Ihre 
Mitkranken  pflegen  sie  bald  vollständig  zu  beherrschen,  sie  aus- 
zubeuten,  dem  Arzte  in  Kunstausdrücken  über  sie  zu  berichten,  sie 
zu  bevormunden  und  in  Schach  zu  halten. 

Von  den  hier  geschilderten  leichteren  Formen  der  Manie  führen 
zahllose  Uebergänge  allmählich  hinüber  zu  dem  Krankheitsbilde  der 
eigentlichen  Tobsucht.  Der  Beginn  der  Erkrankung  ist  regel- 
mässig ein  ziemlich  plötzlicher;  höchstens  gehen  Kopfschmerzen, 
Mattigkeit,  Arbeitsunlust  dem  Ausbruche  der  stürmischeren  Er- 
scheinungen einige  Tage  oder  Wochen  voraus,  wenn  nicht  etwa  ein 
ausgeprägter  Depressionszustand  die  Einleitung  gebildet  hat.  Die 
Kranken  werden  rasch  unruhig,  reizbar,  zusammen!) augslos  in  ihren 


380 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Reden,  gewaltthätig,  lärmend,  so  dass  -in  der  Regel  schon  nach 
wenigen  Tagen  die  Verbringung  in  die  Anstalt  erfolgen  muss.  Hier 
erweisen  sie  sich  als  besonnen  und  annähernd  orientirt,  aber  ausser- 
ordentlich ablenkbar  in  ihrer  Auffassung  und  ihrem  Gedankengange. 
Sie  verstehen  eindringliche  Anreden,  geben  auch  einzelne  zutreffende 
Antworten,  lassen  sich  aber  durch  jeden  neuen  Eindruck  beeinflussen, 
schweifen  ab,  kommen  vom  hundertsten  ins  tausendste,  kurz  zeigen 
mehr  oder  weniger  entwickelte  Ideenflucht,  wie  wir  sie  früher  ein- 
gehend geschildert  haben. 

In  einer  ganzen  Reihe  von  Fällen  aber  kommt  es  vorüber- 
gehend oder  dauernd  zu  einer  schwereren  Trübung  des  Bewusst- 
seins mit  völliger  Verworrenheit.  Die  Kranken  fassen  nur  noch 
ganz  bruchstückweise  auf,  was  um  sie  her  vorgeht,  wissen  nicht 
mehr,  wo  sie  sich  befinden,  schwatzen  zusammenhangslos  und  un- 
verständlich, bisweilen  in  selbsterfundener  Sprache. 

Vielfach  wird  auch  das  Auftreten  von  ausgeprägten  Sinnes- 
täuschungen und  Wahnvorstellungen,  Grössenideen  sowol  wie 
Verfolgungsideen,  beobachtet,  namentlich  in  den  Formen  mit  stärkerer 
Verworrenheit.  An  der  Wand  erscheint  ein  Todtenkopf,  „schim- 
mernde Seiden würmer“;  die  Kranken  sehen  Schlangen  und  Leichen, 
den  Teufel,  die  Franzosen,  arme  Seelen,  Geisterköpfe,  Engelsgesichtchen, 
die  Mutter  Gottes;  auf  der  Bettdecke  werden  Bilder  vorgeführt  durch 
das  Fenster  farbige  Signale  gegeben.  Die  Personen  ihrer  Umgebung 
sind  ganz  verändert,  werden  für  frühere  Bekannte,  Prinz  Heinrich, 
den  Grossherzog  von  Luxemburg,  auch  wol  für  historische  Grössen, 
Ludwig  XIV.,  Caesar.  Elisabeth  gehalten.  Meist  bleiben  die  einmal 
gewählten  wahnhaften  Bezeichnungen  während  des  ganzen  Krankheits- 
verlaufes die  gleichen.  Ferner  hören  die  Kranken  Stimmen  aus  der 
Unterwelt,  verworrenes  Getöse;  sie  werden  verhöhnt  und  verspottet; 
der  knarrende  Fussboden,  die  pfeifende  Lokomotive,  die  Glocken 
sprechen  mit  ihnen.  Es  wird  ihnen  befohlen,  dass  sie  nicht  essen 
sollen;  Gott  bestimmt  sie  zu  etwas  Höherem.  In  der  Nacht  werden 
giftige  Dünste,  Schwefelgeruch  ins  Zimmer  geleitet,  geschlecht- 
liche Angriffe  auf  sie  ausgeführt;  sie  fühlen  elektrische  Schläge; 
die  Speisen  schmecken  nach  Gift  Ihre  Gedanken  werden  ihnen 
eingegeben,  nachgesprochen,  die  Eingeweide  verdorben;  sie 
sind  verhext,  verzaubert,  in  einem  Zauberpalast,  werden  durch 
Mittel  aufgeregt,  sind  allen  möglichen  Verfolgungen  ausgesetzt. 


Manische  Zustände. 


381 


müssen  mit  dem  Tode  ringen;  man  quält  sie,  macht  ihnen  Zahn- 
schmerzen. 

Sehr  bemerk enswerth  ist  dabei  die  Neigung,  beliebigen  Wahr- 
nehmungen eine  besondere  Bedeutung  beizulegen.  Auf  einem  alten 
Zettel  entdecken  sie  das  Zeichen  von  Oesterreich  und  Deutschland ; die 
Buchstaben  ihres  Namens  weisen  auf  königliche  Abstammung  hin;  die 
Schwalben  fliegen  genau  nach  den  Winken  ihrer  Hand.  Sie  haben  über- 
natürliche Kräfte,  himmlische  Gedanken,  sind  eine  Art  Erlöser,  zweite 
Braut  Christi,  Joseph  von  Aegypten,  vom  heiligen  Geiste  über- 
schattet, Gott  der  Allmächtige.  Andere  sind  adelig,  Husarenoffizier, 
Königin  von  England,  Schlachtenlenker,  General,  Kaiser  und  Papst 
Leo  XIII.  Der  Kranke  hat  Berge  erschaffen,  Städte  gebaut,  besitzt 
die  ganze  Anstalt,  diamantene  Tassen,  bekommt  eine  goldene  Krone, 
ein  Schloss  in  Gibraltar,  den  Paradiesgarten,  kündigt  dem  Kaiser 
den  Krieg  an.  Das  Deutsche  Reichsheer  gehört  ihm;  er  muss  böse 
Geister  bannen,  ein  Regiment  führen,  wird  seines  Glaubens  wegen 
verfolgt;  alles  geht  durcheinander;  die  Welt  geht  unter. 

Alle  diese  Wahnbildungen,  die  noch  durch  allerlei  fabulirende 
Erzählungen  von  merkwürdigen  und  grossartigen  Erlebnissen  be- 
reichert werden,  pflegen  flüchtig  zu  sein  und  vielfach  zu  wechseln; 
sie  werden  als  Einfälle,  oft  mit  lachendem  Munde,  vorgebracht  und 
nicht  weiter  verarbeitet.  Hie  und  da  kommt  es  indessen  auch  vor, 
dass  gewisse  Vorstellungen  lange  Zeit  hindurch  in  gleicher  Weise 
und  mit  Leidenschaftlichkeit  festgehalten  werden.  Nicht  selten  be- 
steht Krankheitsgefühl;  die  Kranken  sprechen  davon,  dass  sie 
„närrisch“  seien,  ihre  Gedanken  nicht  beisammen  halten  könnten. 

Die  Stimmung  ist  ausgelassen,  lustig,  übermüthig,  oft  aber 
auch  reizbar,  zornmüthig,  gelegentlich  in  heftiges  Weinen  und 
Jammern  umschlagend.  Auf  motorischem  Gebiete  besteht  lebhafte 
Unruhe  und  Erregung.  Der  Kranke  kann  nicht  lange  still  sitzen 
oder  liegen,  geht  herum,  springt,  läuft,  tanzt,  wälzt  sich  am  Boden. 
Er  schwatzt  unaufhörlich,  singt,  jodelt  und  jauchzt,  bedeckt  ungezählte 
Bogen  mit  mächtigen,  flüchtigen  Schriftzügen;  er  gesticulirt  lebhaft, 
klatscht  in  die  Hände,  schneidet  Gesichter,  schmiert  und  wischt  am 
Boden,  an  den  Wänden  und  Fenstern  herum,  poltert  und  trommelt 
an  der  Thür,  entkleidet  sich,  zerschlitzt  seinen  Anzug,  sein  Bettzeug, 
um  die  Fetzen  hundertfältig  verknotet  und  verschlungen  zu  aben- 
teuerlichem Aufputz  zu  benutzen.  Alle  irgend  erreichbaren  Gegen- 


382 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


stände  werden  in  ihre  Bestandteile  zerlegt,  um  zu  neuen  Gebilden 
verschiedener  Art  zusammengesetzt  zu  werden,  wie  es  just  der 
Augenblick  eingiebt.  Die  Knöpfe  werden  abgedreht,  die  Taschen 
herausgerissen,  der  Rock  umgekehrt,  die  Hosen  in  die  Strümpfe  ge- 
steckt, die  Hemdzipfel  zusammengeknüpft,  Ringe  aus  Gamresten  um 
die  Finger  geknotet.  Was  dem  Kranken  in  die  Hände  fällt,  Steine, 
Holzstückchen,  Glasscherben,  Nägel,  sammelt  er  auf,  um  mit  ihrer 
Hülfe  Wände,  Möbel,  Fenster  zu  zerkratzen  und  kreuz  und  quer  mit 
Malereien  oder  Schriftzeichen  zu  bedecken.  Nicht  selten  dienen 
ihm  dabei  in  Ermangelung  anderer  Hülfsmittel  auch  die  eigenen 
Ausscheidungen.  Cigarrenreste  und  trockene  Blätter  werden  in 
Papier  gewickelt  geraucht,  Papierfetzen  zum  Schreiben,  Nägel  zum 
Pfeifen  stopfen,  Scherben  zum  Bleistiftspitzen  benutzt;  andere  Funde 
dienen  als  Tauschmittel,  um  von  den  Mitkranken  kleine  Vortheile  zu 
erlangen.  Bisweilen  wird  auch  allerlei  in  die  Nase  oder  die  Ohren 
gesteckt,  das  Ohrläppchen  mit  Streichhölzern  oder  Drahtstückchen 
durchbohrt,  Asche  und  Staub  als  Schnupftabak  verwendet,  das  Bart- 
haar theilweise  mit  der  Cigarre  versengt  Mit  den  anderen  Kranken 
geräth  er  wegen  seiner  Herrschsucht  und  Rücksichtslosigkeit  häufig 
in  Streit;  er  nimmt  ihnen  fort,  was  ihm  gefällt.  Die  Erhöhung  der 
gemüthlichen  Reizbarkeit  führt  bei  den  geringfügigsten  Anstössen 
zu  Wuthausbrüchen  von  ungemeiner  Heftigkeit,  zu  wahren  Hoch- 
fluthen  von  überlautem  Schimpfen  und  Brüllen,  zu  gefährlichen 
Drohungen,  zu  blindem  Zerstören  und  Angreifen.  Das  weibliche 
Geschlecht  ist  zu  solchen  Ausbrüchen  ungleich  mehr  geneigt  als  das 
männliche.  Die  geschlechtliche  Erregung  macht  sich  in  unfläthigen 
Reden,  Herandrängen  an  jugendliche  Kranke,  schamlosem  Onaniren, 
beim  weiblichen  Geschlechte  auch  im  Duzen  der  Aerzte,  Auflösen 
der  Haare,  Salben  mit  Speichel,  häufigem  Ausspucken,  Schimpfen  in 
unanständigen  Ausdrücken  sowie  in  geschlechtlichen  Verdächti- 
gungen des  Wartpersonals  Luft. 

Eine  weitere,  seltenere  Form  der  manischen  Erregung  ist  ge- 
kennzeichnet durch  die  rasche  Entwicklung  tiefer,  traumhafter 
Bewusstseinstrübung  mit  zahlreichen  Sinnestäuschungen 
und  verworrenen  Wahnideen  (deliriöse  Form).  Der  Anfall  be- 
ginnt gewöhnlich  ganz  plötzlich;  nur  Schlaflosigkeit,  Unruhe  oder 
ängstliche  Verstimmung  kann  sich  schon  1 — 2 Tage,  seltener  einige 
Wochen  voi’her  bemerkbar  machen.  Das  Bewusstsein  trübt  sich 


Manische  Zustände. 


383 


rasch;  die  Kranken  werden  schwer  benommen,  verwirrt,  verkennen 
ihre  Umgebung  und  verlieren  vollständig  die  zeitliche  und  örtliche 
Orientirung.  Sofort  treten  massenhafte  Sinnestäuschungen  auf.  Alles 
ist  verändert;  es  brennt;  Vögel  fliegen  in  der  Luft  herum;  Engel 
erscheinen;  Geister  werfen  den  Kranken  Schlangen  ins  Gesicht;  an 
den  Wänden  huschen  Schatten.  Sie  hören  Glockenläuten,  Schiessen, 
Wasserrauschen;  die  Stimme  Gottes  kündigt  ihnen  das  jüngste  Ge- 
richt, die  Erlösung  von  allen  Sünden  an.  Der  Kaffee  riecht  nach 
Todten,  die  Hände  wie  verwest;  das  Essen  schmeckt  wie  Ziegen- 
oder Menschenfleisch,  das  Wasser  nach  Schwefel.  Der  Kopf  ist  ganz 
taumelig,  voll  Fieberhitze;  die  Kranken  glauben  gehoben,  in  Abgründe 
geworfen  zu  werden;  alles  stürzt  um  sie  her  zusammen.  Zugleich 
entwickeln  sich  zerfahrene,  traumhafte  Wahnideen.  Ein  schreck- 
liches Unglück  bricht  herein;  der  Teufel  kommt;  der  Kranke  muss 
sterben,  schreckliche  Kämpfe  durchmachen;  er  soll  vergiftet,  geköpft 
werden,  ist  verloren,  verflucht,  verfault,  ganz  allein  auf  der  Welt. 
Alles  ist  vernichtet;  die  Angehörigen  sind  sämmtlich  gestorben.  Er 
hat  das  grosse  Loos  gewonnen,  ist  zum  Kaiser  ausgerufen,  der  ver- 
heissene  Held,  der  die  Welt  erlösen  soll.  Das  1000jährige  Reich  ist 
angebrochen ; die  grosse  Schlacht  mit  dem  Antichristen  wird  geschlagen. 

Die  Stimmung  ist  während  dieses  Deliriums  sehr  wechselnd, 
bald  ängstlich  verzweifelt  („Todesgedanken“),  weinerlich  schreckhaft, 
bald  ausgelassen  heiter  oder  verzückt,  bald  theilnahmlos  und  gleich- 
gültig. Im  Anfänge  bieten  die  Kranken  vielfach  die  Zeichen 
der  sinnlosesten  Tobsucht  dar,  schwatzen,  schreien,  tanzen  herum, 
wälzen  sich  am  Boden,  entkleiden  sich ; sie  widerstreben,  zerstören, 
lassen  unter  sich  gehen,  schmieren,  machen  triebartige  Selbstmord- 
versuche, werden  rücksichtslos  gewaltthätig.  Sie  sind  gar  nicht  zu 
fixiren,  geben  keinerlei  Auskunft,  beten,  schimpfen,  bitten  um  Ver- 
zeihung; in  ihren  unverständlichen,  stammelnden  Reden  zeigt  sich 
hochgradige  Ideenflucht  und  Ablenkbarkeit.  Zeitweise  werden  sie 
plötzlich  ruhig,  sind  aber  dabei  nicht  klar,  sondern  unbesinnlich, 
verworren,  bis  ebenso  rasch  die  Erregung  wieder  beginnt.  Während 
der  ersten  Zeit  pflegt  fast  völlige  Schlaflosigkeit  zu  bestehen.  Die 
Nahrung  wird  häufig  verweigert;  die  Ernährung  sinkt  sehr  schnell. 
Der  Kopf  erscheint  nicht  selten  stark  geröthet;  die  Reflexe  sind 
lebhaft;  bisweilen  beobachtet  man  deutliches  Zittern  am  ganzen 
Körper  ohne  alkoholische  Grundlage. 


384 


IX.  Das  manisch-dopressive  Irresein. 


Auf  voller  Höhe  erhält  sich  der  Anfall  gewöhnlich  nur  sehr 
kurze  Zeit.  Nach  einigen  Tagen,  spätestens  nach  3 — 4 Wochen, 
pflegt  ziemlich  rasch  Beruhigung  einzutreten.  In  einzelnen  Fällen 
verlieren  sich  sämmtliche  Krankheitserscheinungen  von  einem  Tage 
zum  andern;  meist  jedoch  vollzieht  sich  dieser  Nachlass  mehr  all- 
mählich. Einzelne  Täuschungen,  Reste  der  Wahnideen  und  nament- 
lich der  Stimmungsanomalien  bleiben  noch  kurze  Zeit  zurück,  nach- 
dem die  Aufregung  und  Verwirrtheit  bereits  geschwunden  sind.  Die 
Kranken  sind  zunächst  noch  misstrauisch,  einsichtslos,  unzufrieden, 
reizbar,  auch  wol  leicht  ideenflüchtig,  namentlich  in  Schriftstücken, 
redselig  oder  unzugänglich,  drängen  fort,  bis  dann  im  Laufe 
einiger  Wochen  nach  und  nach  auch  die  letzten  Krankheits- 
zeichen zurücktreten.  Die  Erinnerung  an  die  deliriöse  Zeit  ist 
meist  eine  ziemlich  unklare ; vielfach  besteht  sogar  fast  völlige 
Amnesie.  — 

Die  körperlichen  Erscheinungen  der  manischen  Zustände  sind 
je  nach  der  besonderen  Gestaltung  derselben  etwas  verschieden.  Bei 
den  Formen  mit  stärkerer  Erregung  ist  der  Schlaf  stets  sehr  gestört: 
bisweilen  besteht  sogar  fast  völlige,  höchstens  auf  wenige  Stunden 
unterbrochene  Schlaflosigkeit,  die  Wochen,  selbst  Monate  andauem 
kann.  Auch  in  den  leichteren  Erregungszuständen  kommen  die 
Kranken  spät  zur  Ruhe  und  sind  schon  sehr  früh  wieder  munter, 
scheinen  aber  ausserordentlich  tief  zu  schlafen.  Die  Esslust  ist 
vielfach  gesteigert,  die  Nahrungsaufnahme  aber  dennoch  in  Folge  der 
Hast  und  Unruhe  unregelmässig.  Das  Körpergewicht  sinkt  bei 
der  Tobsucht  stets  sehr  bedeutend,  während  es  in  hypomanischen 
Anfällen  meist  ansteigt.  Dem  entsprechend  gewinnt  hier  die  Haut 
frische  Farbe  und  Spannung;  die  Bewegungen  werden  elastisch  und 
kräftig;  das  spärlich  gewordene  Haar  wächst  nach,  bisweilen  mit  ver- 
jüngtem Pigment.  Bei  starker  Erregung  ist  die  Temperatur  bis- 
weilen hochnormal,  der  Puls  etwas  beschleunigt;  die  Reflexe  sind 
gesteigert.  In  vereinzelten  Fällen  treten  Ohnmächten  und  selbst 
epileptiforme  Anfälle  auf;  häufiger  sind  einzelne  hysterische  Er- 
scheinungen. Hie  und  da  beobachtet  man  Wallungen  zum  Kopfe, 
geröthetes  Gesiebt,  injicirte  Bindehäute,  starkes  Schwitzen  am  Kopfe, 
Kälte  der  Extremitäten.  Einige  Male  sah  ich  in  Folge  des  anhaltenden 
Schreiens  hochgradige  Ausdehnung  und  Schlängelung  der  oberfläch- 
lichen Venen  am  Halse.  Im  Harn  fand  Mendel  eine  auffallende 


Manische  Zustände. 


385 


Abnahme  des  Phosphorgehaltes;  in  einzelnen  Fällen  wird  Diabetes 
insipidus  beobachtet.' 

Der  Verlauf  des  manischen  Anfalles  ist  ein  recht  verschiedener. 
Die  Höhe  der  Krankheitserscheinungen  wird  in  der  Regel  ziem- 
lich rasch  erreicht,  bisweilen  schon  innerhalb  weniger  Tage.  Von 
da  ab  kann  der  Zustand  ebenso  schnell  wieder  dem  gesunden  sich 
nähern,  doch  ist  das  meist  nur  bei  den  deliriösen  Formen,  selten 
auch  einmal  bei  einfacher  Tobsucht  der  Fall.  In  der  Regel  erhält 
sich  die  manische  Erregung  längere  Zeit  hindurch  in  annähernd 
gleicher  Stärke,  allerdings  immer  mit  vielfachen  Schwankungen. 
Sehr  häufig  sind  Einschiebsel  trauriger  Verstimmung  und  selbst 
vorübergehenden  Stupors,  eine  Erscheinung,  die  uns  das  Verständniss 
für  die  später  zu  besprechenden  Mischformen  eröffnet.  Die  end- 
gültige Beruhigung  stellt  sich  nach  längerer  Krankheitsdauer  stets 
ganz  allmählich  ein,  indem  die  Besserungen  des  Zustandes  sich 
immer  deutlicher  ausprägen.  Die  Kranken  werden  klarer  über  ihre 
Umgebung,  zugänglicher,  aufmerksamer,  gerathen  aber  sehr  leicht 
wieder  in  die  frühere  Ideenflucht  hinein.  Auch  dann,  wenn  die 
stürmischeren  Störungen  bereits  in  den  Hintergrund  getreten  sind, 
pflegt  doch  eine  erhöhte  gemüthliche  Reizbarkeit,  gehobenes  Selbst- 
gefühl sowie  eine  gewisse  Unstetigkeit  noch  einige  Zeit  lang 
zurückzubleiben.  Plötzliche,  unerwartet  heftige  Zornausbrüche 
können  sich  an  die  geringfügigsten  Anlässe  anschliessen,  auch 
nachdem  anscheinend  schon  längst  völlige  Beruhigung  eingetreten 
ist,  namentlich  bei  den  späteren,  gern  schleppend  verlaufenden 
Anfällen.  Oefters  sieht  man  auch  die  anscheinend  gänzlich  ge- 
schwundene manische  Erregung  noch  einmal  aufflackern,  wenn 
die  Kranken  in  ungünstige  Verhältnisse  kommen  oder  zu  trinken 
anfangen. 

Auch  die  Dauer  der  manischen  Erregung  ist  grossen  Schwan- 
kungen unterworfen.  Während  die  deliriösen  Formen  meist  innerhalb 
einiger  Wochen  ablaufen,  erstreckt  sich  die  übergrosse  Mehrzahl 
der  Erkrankungen  über  viele  Monate.  Aber  auch  Anfälle  von  2 bis 
3 jähriger  Dauer  gehören  keineswegs  zu  den  Seltenheiten;  ich  habe 
sogar  eine  Tobsucht  gesehen,  die  noch  nach  7 Jahren  in  Genesung 
überging.  Es  scheinen  namentlich  die  Formen  mit  allerlei  Wahn- 
bildungen und  mässiger,  sich  nur  von  Zeit  zu  Zeit  steigernder  Er- 
regung zu  sein,  die  einen  so  langwierigen  Verlauf  zeigen. 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  25 


386 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Recht  häufig  schliesst  sich  an  das  Schwinden  der  manischen 
Erregung  ein  mehr  oder  weniger  ausgeprägter  Zustand  von  Schwäche 
und  Kleinmüthigkeit  an,  der  gewöhnlich  als  Erschöpfung  nach  der 
schweren  Krankheit  aufgefasst  wird,  während  ich  mehr  geneigt  bin, 
darin  einfach  den  Umschlag  in  die  unserer  Krankheit  eigenthüm- 
liche  Depression  zu  erblicken.  Die  Kranken  sind  äusserst  leicht 
ermüdbar,  unfähig  zu  jeder  geistigen  oder  körperlichen  Anstrengung, 
meist  niedergeschlagen,  besorgt  wegen  ihrer  Zukunft,  einsilbig, 
schwerfällig,  unentschlossen.  Im  weiteren  Verlaufe  pflegen  sich 
diese  Störungen  unter  beträchtlichem  Steigen  des  Körpergewichtes 
nach  und  nach  wieder  zu  verlieren.  In  einzelnen,  ganz  be- 
sonders schweren  Fällen  kann  jedoch,  wie  es  scheint,  eine  ge- 
wisse Abnahme  der  geistigen  Leistungsfähigkeit  (Urtheilslosigkeit 
mangelhafte  Krankheitseinsicht)  und  namentlich  der  gemüthlichen 
Widerstandsfähigkeit  (Reizbarkeit,  Bestimmbarkeit)  dauernd  Zurück- 
bleiben. 

Der  Ausgang  in  Tod  ist  nicht  sehr  häufig.  Derselbe  kann  durch 
verschiedenartige  hinzutretende  Erkrankungen,  durch  einfache  Er- 
schöpfung (Collaps),  durch  Verletzungen  und  durch  Fettembolien 
der  Lungen  in  Folge  von  ausgedehnten  Zerquetschungen  oder  Ver- 
eiterungen des  Unterhautzellgewebes  herbeigeführt  werden.  Sehr 
fettreiche  Personen  mit  ungenügender  Leistungsfähigkeit  des  Herz- 
muskels sind  in  schwereren  manischen  Anfällen  entschieden  ge- 
fährdet. Von  irgend  gesicherten  Leichenbefunden  ist  noch  keine 
Rede.  Jedenfalls  ist  auf  die  häufig  berichtete  Hyperaemie  des  Hirns 
und  seiner  Häute  wegen  der  bekannten  Fehlerquellen,  welche  der 
Beurtheilung  von  Blutfüllungen  an  der  Leiche  anhaften,  kein  grosses 
Gewicht  zu  legen. 

Depressive  Zustände.  Die  leichtesten  Formen  der  Depressions- 
zustände sind  gekennzeichnet  durch  das  Auftreten  einer  einfachen 
psychischen  Hemmung  ohne  Sinnestäuschungen  und  ohne 
ausgeprägte  Wahnideen.  Dem  Kranken  wird  das  Denken  schwer; 
er  vermag  nicht  mehr  aufzufassen,  dem  Gedankengange  eines  Buches, 
eines  Gespräches  zu  folgen,  fühlt  sich  müde,  abgespannt,  verdummt; 
er  beherrscht  die  ihm  sonst  geläufigen  Kenntnisse  nicht  mehr,  muss 
sich  auf  einfache  Dinge  lange  besinnen,  findet  keine  Worte,  kann 
die  Sätze  nicht  richtig  zusammenfügen. 

Die  Stimmung  ist  eine  trübe,  hoffnungslose.  Nichts  vermag 


Depressive  Zustände. 


387 


sein  Interesse  dauernd  anzuregen;  nichts  macht  ihm  Freude;  er  ist 
gleichgültig  geworden  gegenüber  seinen  Angehörigen  und  dem,  was 
ihm  früher  das  Liebste  war.  Ueberall  sieht  er  nur  die  Schatten- 
seiten und  Schwierigkeiten;  die  Menschen  um  ihn  herum  sind  nicht 
so  gut  und  uneigennützig,  wie  er  gedacht  hat;  eine  Enttäuschung 
und  Ernüchterung  folgt  der  andern.  Schwere  Gedanken  steigen  auf: 
seine  Vergangenheit  wie  seine  Zukunft  erscheinen  ihm  in  gleich- 
massig  trübem  Lichte;  er  fühlt  sich  namenlos  unglücklich,  ohne  doch 
sagen  zu  können,  warum.  Sein  Leben  ist  verpfuscht;  er  passt  nicht 
für  seinen  Beruf,  will  umsatteln,  hätte  sein  Leben  anders  einrichten, 
sich  mehr  zusammennehmen  sollen.  Er  hat  keinen  Lebenszweck 
mehr,  zweifelt  an  unserem  Herrgott,  ist  ein  „Enterbter  des  Schick- 
sals“ und  schleppt  sich  mit  einer  gewissen  dumpfen  Ergebung,  die 
jeden  Trost  und  jeden  Lichtblick  ausschliesst,  mühsam  von  einem 
Tage  zum  andern  hin.  Alles  ist  ihm  verleidet;  er  hat  keine  Freude 
in  der  Welt,  mag  nicht  mehr  leben,  wird  missmuthig,  unfreundlich, 
menschenscheu,  bald  weinerlich-verzagt  oder  ängstlich,  bald  reizbar 
und  finster.  An  allen  Ecken  und  Enden  kostet  es  Geld,  mehr  als 
er  bezahlen  kann.  Der  wirtschaftliche  Zusammenbruch  ist  unaus- 
bleiblich; der  Kranke  fängt  daher  an,  zu  sparen  und  zu  knausern, 
sich  und  Andern  nichts  mehr  zu  gönnen,  trägt  seine  schlechtesten 
Kleider,  isst  sich  nicht  mehr  satt. 

Bisweilen  tauchen  in  diesen  Zuständen  allerlei  Zwangsvor- 
stellungen auf.  Die  Kranken  müssen  wider  ihren  Willen  grübeln, 
sich  mit  der  Ausmalung  unangenehmer  Bilder  beschäftigen.  Eine 
meiner  Kranken  wurde  auf  das  schwerste  durch  den  Zwang  ge- 
peinigt, an  religiöse  Darstellungen  (Crucifixe)  obscöne  geschlecht- 
liche Vorstellungen  anzuknüpfen.  Andere  quälen  sich  mit  dem  Ge- 
danken, wie  man  sie  martern,  stückweise  zerreissen  könnte.  Auch 
Zwangsantriebe  kommen  gelegentlich  vor,  die  eigene  Mutter  umzu- 
bringen, Feuer  anzulegen.  Diese  Erscheinungen  dürfen  wir  vielleicht 
als  den  Ausdruck  einer  gewissen,  auch  durch  andere  Gründe  ge- 
stützten Verwandtschaft  des  manisch-depressiven  Irreseins  mit  dem 
Entartungsirresein  betrachten. 

Ganz  besonders  auffallend  ist  der  vollständige  Mangel  an  That- 
kraft.  Der  Kranke  ist  „muthlos  und  willenlos“,  wie  erstarrt  und  ver- 
steinert, spricht  kaum  ein  Wort,  sitzt  oft  tagelang,  die  Hände  in  den 
Schooss  gelegt,  stumpf  vor  sich  hinbrütend  da,  unfähig,  sich  zu  irgend 

25* 


388 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


einer  Handlung  emporzuraffen.  Jede  kleinste  Leistung  kostet  ihm 
eine  unerhörte  Anstrengung;  selbst  die  alltäglichsten  Verrichtungen, 
das  Aufstehen,  Ankleiden,  Waschen  werden  nur  mit  der  grössten 
Mühe  erledigt,  unterbleiben  schliesslich  auch  wol  ganz.  Arbeiten, 
wichtige  Briefe,  Geschäfte  bleiben  liegen,  weil  der  Kranke  nicht  die 
Kraft  findet,  die  entgegenstehenden  Hemmungen  zu  überwinden. 
Beim  Spazierengehen  bleibt  er  in  der  Hausthüre  oder  an  der 
nächsten  Ecke  stehen,  unschlüssig,  wohin  er  sich  wenden  soll, 
fürchtet  sich  vor  jeder  Begegnung,  jedem  Gespräche.  Bisweilen 
entwickelt  sich  eine  förmliche  Bettsucht;  die  Kranken  versprechen 
immer  wieder,  „morgen“  aufzustehen,  haben  aber  stets  neue  Vor- 
wände, liegen  zu  bleiben.  Gerade  wegen  dieser  schweren  Willens- 
störung kommt  es  verhältnissmässig  selten  zu  ernsteren  Selbst- 
mordversuchen, wenn  auch  der  Wunsch,  zu  sterben,  recht  häufig 
auftaucht. 

Die  Besonnenheit  und  Orientirung  der  -Kranken  ist  trotz  der 
starken  Erschwerung  der  Auffassung  und  des  Denkens  vollständig 
erhalten.  Zumeist  besteht  auch  ein  sehr  lebhaftes  Krankheits- 
gefühl, ja  nicht  selten  sogar  eine  gewisse  Krankheitseinsicht,  in- 
sofern die  Kranken  ihr  Bedauern  über  früher  vorgekommene  Un- 
gehörigkeiten  und  die  Besorgniss  aussprechen,  dass  sie  sich  in  der 
Aufregung  aufs  neue  hinreissen  lassen  möchten.  Vielfach  -wird 
indessen  die  Wiederkehr  der  Verstimmung  auf  äussere  Zufälligkeiten, 
unangenehme  Erfahrungen,  Aenderungen  in  den  Verhältnissen  u.  dergl. 
zurückgeführt.  Für  den  unbefangenen  Beobachter  ist  es  dabei  deut- 
lich, dass  die  psychische  Wirkung  jener  Einflüsse  überhaupt  erst 
durch  die  krankhafte  Trübung  der  Gemiithslage  zu  Stande  ge- 
kommen war. 

In  ihren  höchsten  Graden  kann  die  psychische  Hemmung  bis 
zur  Entwicklung  eines  ausgeprägten  Stupors  fortschreiten.  Die 
Kranken  sind  tief  benommen,  vermögen  die  Eindrücke  der  Um- 
gebung nicht  mehr  aufzufassen  und  zu  verarbeiten,  verstehen  die  an 
sie  gerichteten  Fragen  nicht,  haben  keine  Ahnung  von  ihrer  Lage. 
Ein  bestimmter  Affect  ist  dabei  meist  nicht  erkennbar,  doch  pflegt 
sich  in  den  erstaunten  Mienen  der  Kranken  die  Rathlosigkeit  gegen- 
über den  eigenen  Wahrnehmungen,  ferner  in  ihren  Abwehr- 
bewegungen eine  gewisse  ängstliche  Unsicherheit  auszudrücken.  Die 
Willensäusserungen  der  Kranken  sind  äusserst  spärliche.  In  der 


Depressive  Zustände. 


389 


Regel  liegen  sie  stumm  im  Bette,  geben  keinerlei  Antwort,  ziehen 
sich  höchstens  scheu  vor  Annäherungen  zurück.  Bald  zeigen  sie 
Katalepsie  und  Willenlosigkeit,  bald  planloses  Widerstreben  bei 
äusseren  Eingriffen.  Sie  sitzen  hülflos  vor  ihrem  Essen,  lassen  es 
sich  aber  vielleicht  ohne  weiteres  einlöffeln;  sie  halten  fest,  was  man 
ihnen  in  die  Hand  drückt,  drehen  es  langsam  in  der  Hand,  ohne 
zu  wissen,  wie  sie  sich  wieder  davon  befreien  können.  Sie  sind 
daher  gänzlich  ausser  Stande,  für  ihre  körperlichen  Bedürfnisse  zu 
sorgen,  werden  nicht  selten  unrein.  Von  dem  eigenthümlich  verstörten 
Gesichtsausdrucke  solcher  Kranker  giebt  die  Figur  1 auf  Tafel  VII 
eine  gute  Vorstellung.  Die  Erinnerung  ist  nach  der  meist  ziemlich 
rasch  eintretenden  Aufhellung  des  Bewusstseins  sehr  unklar  und  für 
manche  Zeiten  ganz  erloschen. 

In  einer  zweiten  grossen  Gruppe  von  Fällen  gesellen  sich  der 
Denkstörung  und  der  psychomotorischen  Hemmung  verschieden- 
artige Wahnbildungen  hinzu,  vor  allem  Versündigungs-  und  Ver- 
folgungsideen. Der  Kranke  fühlt  sich  ganz  von  Gott  verlassen,  ist 
unnütz  auf  der  Welt,  von  Jugend  auf  der  schlechteste  Mensch,  ein 
grosser  Sünder  und  Verbrecher,  heimgesucht  vom  bösen  Geist,  ganz 
verworfen  und  verdammt;  er  hat  seine  Schuldigkeit  nicht  gethan, 
die  Ehe  gebrochen,  nicht  alles  gebeichtet,  Alle  beleidigt  und  un- 
glücklich gemacht,  ist  Schuld  am  Krieg.  Es  werden  ihm  so  Sachen 
vorgestellt,  als  ob  er  jeden  Schritt  und  Tritt  in  seinem  Leben  nicht 
richtig  gemacht  hätte.  Ihm  ist,  als  müsse  er  fort;  die  Leute  sehen 
ihn  an;  er  kann  nicht  mehr  beten,  hat  kein  Gefühl,  keine  Thränen 
mehr,  so  roh  ist  er;  im  Gemüth  fehlt’s.  Er  hat  sich  verkauft,  kommt 
in  die  Hölle;  der  Teufel  holt  ihn.  Alle  verachten  und  verspotten 
ihn;  er  wird  eingesperrt,  von  den  Gensdarmen  abgeholt,  kommt  ins 
Zuchthaus,  muss  sterben,  wird  vergiftet,  mit  Hunden  gehetzt,  ver- 
stümmelt; das  Schaffot  wird  schon  gezimmert.  Die  ganze  Familie 
wird  eingesperrt;  die  Frau  hat  sich  ertränkt;  der  Kranke  wird 
schimpflich  aus  seiner  Stellung  gejagt,  muss  nackt  und  elend^herum- 
laufen;  das  Vermögen  reicht  nicht  mehr;  er  kann  nichts  zahlen, 
kommt  nicht  mehr  durch.  Häufig  sind  auch  hypochondrische  Vor- 
stellungen. Der  Kranke  hat  seine  Gedanken  verloren,  seine  Gesund- 
heit zerstört,  fühlt  sich  wie  halb  todt;  er  ist  unheilbar,  kann  nie 
wieder  gesund  werden.  Weibliche  Kranke  fühlen  sich  schwanger, 
sind  geschlechtlich  gemissbraucht  worden;  eine  Kranke  fing  an,  zu 


390 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


fasten  und  ganz  dünne  Röckchen  zu  tragen,  um  ihren  vermeintlich 
gesegneten  Zustand  nicht  offenkundig  werden  zu  lassen.  Eine  solche 
Kranke  mit  tief  bekümmertem  Gesichtsausdrucke  stellt  die  Figur  3 
der  Tafel  VII  dar. 

Yielfach  gewinnen  die  Wahnideen  einen  ganz  abenteuerlichen 
und  unsinnigen  Inhalt.  Alles  kracht  zusammen,  ist  verändert,  ge- 
fälscht, „alles  fingirt,  alles  Talmi“;  es  ist  eine  ganz  andere  Welt,  gar 
nicht  die  richtige  Stadt.  Die  Heimath  ist  vom  Erdboden  ver- 
schwunden; die  Angehörigen  sind  todt.  Der  Kranke  hat  den  Kaiser 
vergiftet,  gehört  gar  nicht  mehr  zur  Welt,  ist  kein  Mensch  mehr, 
eine  Missgeburt,  ein  Bild,  ein  Gespenst,  „gerade  nur  so  eine  Gestalt1-. 
Er  kann  nicht  leben  und  nicht  sterben,  muss  so  herumschweben, 
ewig  auf  der  Welt  sein.  Wenn  man  ihn  mit  der  Axt  vor  den 
Kopf  schlägt,  ihm  die  Brust  aufschneidet,  ihn  ins  Feuer  wirft,  ist  er 
doch  nicht  umzubringen.  „Man  kann  mich  nicht  mehr  begraben1-, 
sagte  eine  Kranke;  „wenn  ich  mich  auf  die  Wage  setze,  so  heisst 
es:  Kuli!“  Das  Herz  schlägt  nicht  mehr,  ist  ein  todtes  Stück  Fleisch: 
die  Eingeweide  sind  vertrocknet  und  zerfressen,  der  Stuhlgang  seit 
Monaten  ausgeblieben,  alle  Glieder  aus  dem  Gelenk,  die  Knochen 
heruntergerutscht;  der  Körper  ist  durch  und  durch  syphili tisch,  hat 
keinen  Zusammenhalt  mehr;  der  Magen  ist  gar  nicht  mehr  da,  der 
Kopf  so  gross  wie  Palaestina;  ein  Wurm  steckt  im  Leibe,  ein  Stück 
Fleisch  im  Halse. 

Hie  und  da  werden  auch  Sinnestäuschungen  beobachtet  Der 
Kranke  sieht  drohende  Schatten,  Gespenster,  Geister,  erblickt  Thiere 
mit  spitzen  Zähnen,  die  zur  Thüre  hereinkommen,  junge  Löwen, 
Schlangen,  einen  grauen  Kopf  mit  grossem  Munde  auf  seinem  Bett. 
Er  hört  seine  Angehörigen  jammern,  wird  bedroht,  beschimpft,  mit 
Vorwürfen  überhäuft;  seine  eigenen  Gedanken  werden  laut.  Man 
lässt  ihm  Qualm  ins  Zimmer;  ihm  wird  Russ  ins  Gesicht  geworfen, 
in  die  Augen  geschossen. 

In  einzelnen  Fällen  entwickeln  sich  bei  völliger  Besonnenheit 
zusammenhängende  Verfolgungsideen  mit  Sinnestäuschungen,  die 
etwa  an  den  Alkoholwahnsinn  erinnern.  Die  Kranken  werden  miss- 
trauisch, fühlen  sich  beobachtet,  werden  von  Spionen  verfolgt,  von 
verkappten  Mördern  bedroht,  erblicken  einen  Dolch  in  der  Hand  des 
Nachbarn.  Bei  anderen  bestehen  dauernd  zahlreiche  Gehörs- 
täuschungen. Sie  hören  auf  der  Strasse,  im  Wirthshause  vom  Neben- 


raepelin,  Psychiatrie,  6.  Auf!. 


TAFEL  Vn. 


Fig.  1.  Circulärer  Stupor 


Fig.  2.  Hypomanie 


bei  derselben  Kranken. 


Fig.  3.  Circulare  Depression. 


Fig.  4.  Manischer  Stupor. 


Circuläres  Irresein. 


ig  von  Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig, 


Depressive  Zuf.ände. 


/ 


391 


tische  einzelne  Bemerkungen  über  sich  fallen.  Im  Nebenzimmer 
findet  eine  Gerichtssitzung  über  sie  statt;  es  werden  Intriguen  ge- 
sponnen, Versuche  an  ihnen  gemacht;  mit  geheimen  Worten  und  mit 
verdächtigen  Geberden  wird  gedroht;  die  Personen  werden  wahnhaft 
verkannt. 

Trotz  aller  dieser  Wahnbildungen  pflegt  die  Besonnenheit  und 
Orientirung  der  Kranken  vollständigerhalten  zu  sein,  obgleich  sie 
vielleicht  ihren  Aufenthaltsort  wie  die  Personen  ihrer  Umgebung 
wahnhaft  umdeuten.  Sie  verstehen  ohne  weiteres  alle  Anreden, 
wenn  sie  auch  mit  ihren  Gedanken  nicht  sehr  dabei  sind,  bringen 
ihre  Klagen  geordnet,  aber  in  überaus  eintöniger  Weise  vor,  kehren 
sofort  zu  denselben  zurück,  sobald  man  versucht,  über  andere  Dinge 
mit  ihnen  zu  sprechen.  Sie  sind  denkträge,  mögen  und  können  sich 
nicht  viel  besinnen,  versagen  sehr  bald,  wenn  man  ihnen  Auf- 
gaben stellt,  erlahmen  beim  Versuche,  einen  einfachen  Brief  zu 
schreiben. 

In  leichteren  Fällen  kann  auch  ein  gewisses  Krankheitsver- 
ständniss  vorhanden  sein.  Der  Kranke  kommt  vielleicht  von  selbst 
in  die  Anstalt,  wenn  er  nicht  von  vorn  herein  alles  für  nutzlos  hält. 
An  dieser  Ansicht  vermag  auch  der  Hinweis  auf  frühere,  glücklich 
verlaufene  Anfälle  nichts  zu  ändern.  Damals  war  alles  noch  ganz 
anders;  damals  war  noch  die  Möglichkeit  einer  Wiederherstellung, 
jetzt  nicht  mehr.  Dieser  Anfall  ist  viel  schlimmer,  als  irgend 
einer  zuvor. 

Die  Stimmung  ist  muthlos,  düster,  verzweifelt  und  macht  sich 
bisweilen  in  lebhaftem,  eintönigem  Jammern  Luft.  Vielfach  aber 
erscheinen  die  Kranken  im  Zusammenhalte  mit  den  von  ihnen  ge- 
äusserten  Wahnvorstellungen  merkwürdig  stumpf,  gehen  wenig  aus 
sich  heraus,  starren  vor  sich  hin,  ohne  sich  um  die  Umgebung  zu 
bekümmern.  Eine  Kranke  verkroch  sieh  in  den  Keller,  um  Ruhe 
zu  haben.  Bei  Besuchen  der  Angehörigen  kann  man  sich  indessen 
öfters  überzeugen,  dass  die  Kranken  durchaus  nicht  gleichgültig 
sind;  sie  können  dabei  in  sehr  lebhafte  Erregung  gerathen. 

In  der  Regel  lassen  sich  deutlich  die  Zeichen  der  psychomoto- 
rischen Hemmung  nachweisen,  leise,  zögernde  Antworten,  langsame, 
müde  Bewegungen,  Fehlen  selbständiger  Handlungen.  In  anderen 
Fällen  sind  die  Kranken  lebhafter,  ängstlich.  Sie  wollen  sich  selbst 
der  Polizei  stellen,  bitten  um  Verzeihung,  flehen  um  Erbarmen. 


392 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Sehr  häufig  sind  Todesgedanken.  Der  Kranke  möchte  weg  sein  von 
der  Welt;  man  soll  ihm  den  Kopf  herunterschlagen.  Er  macht 
auch  Versuche,  sich  umzubringen,  allerdings  in  Folge  der  Entschluss- 
unfähigkeit vielfach  mit  geringem  Nachdruck,  stösst  mit  dem  Kopfe 
gegen  die  Wand,  knüpft  sich  ein  Tuch  um  den  Hals,  ritzt  sich  mit 
dem  Tischmesser  am  Handgelenk.  Eine  meiner  Kranken  kaufte  sich 
Strychninweizen  und  Phosphorpasta,  nahm  aber  zum  Glück  nur  den 
ersteren,  weil  der  Phosphor  „zu  wüst  roch“.  Eine  andere  trat  auf 
die  Fensterbrüstung  im  zweiten  Stocke,  um  sich  herunterzustürzen, 
kehrte  aber  ins  Zimmer  zurück,  als  ihr  ein  zufällig  vorübergehender 
Polizist  mit  dem  Finger  drohte. 

Auch  die  wahnhaften  Formen  der  Depressionszustände  können 
sich  mit  tiefer,  stuporöser  Trübung  des  Bewusstseins  verbinden. 
Die  Kranken  versinken  hier  in  einen  Dämmerzustand,  in  welchem 
sie  äusseren  Eindrücken  nahezu  völlig  unzugänglich  sind,  während 
sie  von  bunten,  zusammenhangslosen  Delirien  und  Sinnestäuschungen 
erfüllt  werden.  Ihre  Umgebung  verändert  sich  in  der  abenteuer- 
lichsten Weise:  das  Zimmer  dehnt  sich  aus  ins  Unendliche,  wird 
zum  Himmel,  in  welchem  sie  Gott  auf  dem  Throne  sitzen  sehen,  oder 
zum  engen  Grabe,  in  dem  sie  ersticken,  während  draussen  Todten- 
gebete gemurmelt  werden.  Die  ganze  Welt  verbrennt  und  erstarrt  dann 
wieder  zu  Eis;  der  Kranke  ist  der  letzte  Mensch,  der  ewige  Jude, 
allein  in  der  Verwüstung,  in  Sibirien.  Draussen  wird  das  Schaffot 
aufgeschlagen;  eine  zahlreiche  Gesellschaft  beobachtet  und  verspottet 
ihn;  der  Ofen  macht  bissige  Bemerkungen.  Man  lässt  ihn.  nackt  auf 
der  Strasse  herumlaufen,  stellt  ihn  als  siamesischen  Zwilling  öffent- 
lich aus,  fordert  ihn  auf,  sich  aufzuhängen,  um  seine  Schande  zu 
begraben.  Er  befindet  sich  auf  schaukelndem  Schiffe,  wohnt  der 
feierlichen  Beerdigung  eines  Fürsten  mit  Trauermusik  und  grossem 
Gefolge  bei ; auf  einem  hohen  Berge  sitzt  ein  kleines  Männchen  mit 
einem  Begenschirm,  das  immer  wieder  vom  Winde  heruntergeblasen 
wird.  Die  Gesichter  um  ihn  herum  verzerren  sich;  die  Personen 
haben  eine  geheimnissvolle  Bedeutung,  sind  geschichtliche  Grössen, 
Gottheiten.  Der  Kranke  selbst  ist  anderen  Geschlechtes  geworden, 
geschwollen  wie  ein  Fass;  er  ist  von  hoher  Abkunft,  der  Welt- 
erlöser, ein  Schlachtross. 

Während  dieser  wechselnden,  traumhaften  Erlebnisse  sind  die 
Kranken  äusserlich  meist  stark  gehemmt,  ausser  Stande,  ein  Wort 


Depressive  Zustände. 


393 


zu  sprechen  oder  selbst  für  ihre  Bedürfnisse  zu  sorgen,  essen  nicht, 
werden  unreinlich.  Ohne  lebhaftere  Gefühlsregungen  zu  verrathen, 
liegen  sie  stumm,  unzugänglich,  theilnahmlos  im  Bett;  nur  der  ge- 
spannte, scheue  Gesichtsausdruck  und  das  Widerstreben  gegenüber 
äusseren  Einwirkungen , bisweilen  auch  einzelne  absonderliche 
Stellungen  oder  Bewegungen  sowie  unvermuthete  triebartige 
Handlungen  (Selbstmordversuche)  deuten  auf  die  Vorgänge  in 
ihrem  Innern  hin.  Hie  und  da  hört  man  auch  einzelne  ab- 
gerissene, langsam,  wie  staunend,  von  ihnen  vorgebrachte  Aeusse- 
rungen.  Die  folgende  Nachschrift  lässt  die  tiefe  Verworrenheit 
deutlich  erkennen: 

„Eine  Stimme  hat  die  andere  verstießt  — Nein,  so  wars  nicht  — Es  ist 
etwas  sonderbar  — Es  war  ganz  anders  — Das  Haus  ist  überzwerch  — Alle  haben 
Gift  — Nein,  die  haben  das  geschrieen  — Nein,  ich  hab’s  extra  geschrieben  — 
Ja,  jetzt  ess’  ich  nichts  mehr  — Hätten  Sie  es  anders  nun  gemacht,  dann  wär’s 
besser  gewesen  — Sie  hätten  gar  nichts  geschrieben  — Die  hat  alle  Leute  ver- 
schreckt — Es  ist  halt  keine  richtige  Schildwache  droben  — jetzt  wird’s  nicht 
mehr  besser  — 

Bei  dem  allmählichen  Erwachen  aus  diesem  Zustande  bleiben 
oft  noch  längere  Zeit  hindurch  einzelne  illusionäre  oder  hallucina- 
torische  Täuschungen  zurück,  selbst  wenn  die  Kranken  sie  schon 
richtig  zu  beurtheilen  verstehen. 

Auch  die  Depressionszustände  sind  regelmässig  von  allerlei 
körperlichen  Störungen  begleitet.  Die  Kranken  klagen  über  Druck 
und  Benommenheit,  Leere  im  Kopfe,  Ohrensausen,  Beklemmungs- 
gefühle, Herzklopfen,  Schaudern  im  Nacken,  Schwere  in  den  Gliedern. 
Die  Esslust  ist  in  der  Regel  sehr  herabgesetzt,  die  Zunge  belegt, 
der  Stuhlgang  angehalten ; die  Kranken  nehmen  nur  mit  Wider- 
willen und  auf  vieles  Zureden  Nahrung  zu  sich.  Der  Schlaf  ist 
trotz  starken  Schlafbedürfnisses  stets  empfindlich  beeinträchtigt;  die 
Kranken  liegen  stundenlang,  von  peinigenden  Vorstellungen  ge- 
quält, schlaflos  im  Bette,  um  nach  wirren,  ängstlichen  Träumen  am 
andern  Morgen  mit  wüstem  Kopfe,  abgeschlagen  und  ermattet  zu 
erwachen.  Sie  stehen  meist  sehr  spät  auf,  bleiben  auch  wol  Tage 
oder  Wochen  lang  ganz  liegen.  Der  Gesichtsausdruck  und  die 
Körperhaltung  ist  schlaff  und  matt,  die  Sprache  leise,  zögernd, 
die  Augen  glanzlos;  die  Haut  ist  fahl,  runzelig,  welk;  das 
Körpergewicht  pflegt  bedeutendzu  sinken,  namentlich  in  den  mit 
Wahnbildungen  oder  Stupor  eingehenden  Formen. 


394 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Mischzustände.  Wenn  man  genauer  eine  grossere  Zahl  von 
Fällen  beobachtet,  die  den  verschiedenen  Gestaltungen  des  manisch- 
depressiven  Irreseins  angehören,  so  macht  man  bald  die  Bemerkung, 
dass  zwischen  den  bisher  auseinandergehaltenen  Grundformen,  der 
manischen  Erregung  und  der  Depression,  zahlreiche  Uebergänge  be- 
stehen. Wir  haben  schon  darauf  hingewiesen,  dass  manische  Kranke 
vorübergehend  nicht  nur  traurig  oder  verzweifelt,  sondern  auch  still 
und  gehemmt  erscheinen  können.  Solche  plötzliche  Umschläge  für 
Stunden  oder  einzelne  ganze  Tage  sind  in  der  einen  wie  in  der 
anderen  Richtung  ungemein  häufig.  Ein  Kranker  geht  vielleicht 
verstimmt  und  gehemmt  zu  Bette,  wacht  plötzlich  mit  dem  Gefühle 
auf,  als  ob  ein  Schleier  von  seinem  Hirn  weggezogen  wäre,  ver- 
bringt den  Tag  in  manischer  Schaffensfreudigkeit,  um  am  nächsten 
Morgen  zerschlagen,  mit  schwerem  Kopfe  das  ganze  Elend  seines 
Zustandes  wieder  in  sich  vorzufinden.  Oder  der  hypomanische, 
übermtithige  Kranke  unternimmt  ganz  unvermuthet  einen  schweren 
Selbstmordversuch. 

Weiterhin  aber  beobachten  wir  auch  wirkliche  Mischungen 
gleichzeitig  bestehender  manischer  und  Repressiver 
Krankheitszeichen.  So  begegnen  uns  in  den  Depressions- 
zuständen vielfach  einzelne  Zeichen  heiterer  Stimmung  oder  er- 
leichterter Auslösung  von  Willensantrieben.  Wir  sehen  die  tief- 
bekümmerten Kranken  bei  der  Aeusserung  einer  unsinnigen  Wahn- 
vorstellung plötzlich  lächeln;  sie  machen  trotz  ihrer  Verzweiflung 
vielleicht  eine  treffende,  witzige  Bemerkung  über  einen  Vorfall 
in  der  Umgebung.  Umgekehrt  werden  manische  Kranke  zeitweise 
missmuthig,  unzufrieden,  äussern  Verfolgungsideen  und  ängstliche 
Befürchtungen;  sie  werden  vergiftet,  unterdrückt,  von  der  Frau 
betrogen. 

Abgesehen  aber  von  solchen  mehr  vorübergehenden  Erschei- 
nungen, giebt  es  bei  unseren  Kranken  auch  ganze,  mitunter  sehr 
lange  dauernde  Anfälle,  die  wir  wol  am  zutreffendsten  als  Zwischen- 
formen zwischen  den  bisher  besprochenen  Zuständen  auffassen  dürfen. 
In  der  Hauptsache  lassen  sich  vielleicht  zwei  grosse  Gruppen  aus- 
einanderhalten, manische  Zustände  mit  Hemmung  und  De- 
pressionszustände mit  Erregung. 

Zu  der  erstgenannten  Gruppe  sind  zunächst  die  Fälle  zu 
rechnen,  in  denen  die  Kranken  trotz  unzweifelhaft  manischer  Störung 


Mischzustände. 


395 


ganz  auffallend  gedankenarm  und  unbesinnlich  sind.  Die 
Kranken  nehmen  langsam  und  ungenau  wahr,  verstehen  Fragen 
öfters  erst  bei  mehrfacher,  eindringlicher  Wiederholung,  passen  gar 
nicht  auf,  geben  vielfach  verkehrte,  ausweichende  Antworten,  können 
sich  auf  einfache  Dinge  nicht  gleich  besinnen.  Sie  machen  darum 
nicht  selten  einen  geradezu  schwachsinnigen  Eindruck,  während  sie 
sich  später  sogar  als  recht  begabt  erweisen  können.  Der  Zustand 
ist  grossen  Schwankungen  unterworfen,  so  dass  die  Kranken  vorüber- 
gehend sehr  schlagfertig  und  gewandt  antworten,  während  sie  zu 
anderen  Zeiten  gar  nichts  vorzubringen  vermögen. 

Die  Stimmung  der  Kranken  ist  heiter,  vergnügt,  ausgelassen;  sie 
lachen  mit  und  ohne  Anlass,  freuen  sich  über  jede  Kleinigkeit.  Ihre 
Reden  sind  zusammenhangslos,  faselig,  oft  sehr  einförmig;  sie  sprechen 
weder  besonders  hastig  noch  viel,  können  sich  lange  Zeit  hindurch 
ganz  still  verhalten,  wenn  sie  nicht  von  aussen  angeregt  werden. 
Immerhin  pflegt  eine  gesteigerte  Erregbarkeit  zu  bestehen.  Während 
die  Kranken  zunächst  keine  Worte  finden,  kann  sich  im  Laufe  eines 
Gespräches  allmählich  ein  rasch  anschwellender  Rededrang  ent- 
wickeln. Der  Beschäftigungsdrang  beschränkt  sich  vielfach  auf 
Gesichterschneiden,  gelegentliches  Herumtanzen,  übermiithiges 
Schleudern  von  Gegenständen,  Veränderung  in  Kleidung  und  Haar- 
tracht, ohne  die  rastlose  Geschäftigkeit  zu  zeigen,  wie  sie  sonst  der 
Manie  eigenthümlich  ist.  Manche  dieser  Kranken  benehmen  sich 
für  gewöhnlich  so  ruhig  und  geordnet,  dass  die  Erregung  bei  ober- 
flächlicher Beobachtung  gar  nicht  hervortritt.  Dagegen  sind  sie  in 
gehobener,  hie  und  da  etwas  gereizter  Stimmung  und  gerathen  in 
Gesprächen  bei  grosser  Gedankenarmuth  sofort  in  ein  zusammen- 
hangsloses, ideenflüchtiges  Gefasel  hinein,  das  mit  einer  gewissen 
zufriedenen  Selbstverständlichkeit  vorgebracht  wird.  Allmählich  be- 
merkt man  dann,  dass  sie  zu  keiner  geordneten  Beschäftigung  fähig 
sind,  vielmehr  Neigung  zu  allerlei  Schabernack  und  imnützen 
Streichen  zeigen,  sammeln,  zusammenstehlen,  zerreissen,  verknoten, 
Schlüssellöcher  verstopfen,  Papierfetzen  an  die  Wand  kleben,  muth- 
willig  verderben.  Zeitweise  kommt  es  auch  zu  ganz  unvermittelten, 
kurzdauernden,  triebartigen  Ausbrüchen  von  grosser  Heftigkeit. 
Ein  solcher  Kranker  sprang  ohne  Anlass  plötzlich  aus  dem  Bade, 
schlug  den  Wärter  mit  einem  Stuhle  nieder,  zertrümmerte  einige 
Fensterscheiben  und  schlüpfte  völlig  nackt  in  den  schneebedeckten 


396 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Garten  hinaus,  wo  er  sich  ganz  ruhig*  wieder  einfangen  Hess,  als 
ob  nicht  das  Geringste  geschehen  wäre ; er  war  auch  nicht  im 
Stande,  irgend  einen  Beweggrund  für  sein  Handeln  anzugeben. 
Vorübergehend  kann  sich  auch  wirkliche  Tobsucht  mit  Ideenflucht 
und  lebhaftem  Rededrang  einstellen. 

Am  überzeugendsten  vielleicht  tritt  die  wechselvolle  Zusammen- 
setzung der  Krankheitsbilder  aus  den  einzelnen  Zeichen  des  manisch- 
depressiven  Irreseins  in  jenen  Zuständen  hervor,  für  die  ich  die 
Bezeichnung  des  „manischen  Stupors“  vorgeschlagen  habe.  Es 
handelt  sich  hier  um  die  Mischung  von  stuporöser  Hemmung  mit 
manischer  Erregung.  Die  Kranken  sind  gewöhnlich  ganz  unzu- 
gänglich, kümmern  sich  nicht  um  ihre  Umgebung,  geben  keine  Amt- 
wort,  sprechen  höchstens  leise  vor  sich  hin,  lächeln  ohne  erkenn- 
baren Anlass,  liegen  vollkommen  still  im  Bett  oder  nesteln  an  ihren 
Kleidern  und  Bettstücken  herum,  putzen  sich  in  abenteuerücher 
Weise  heraus,  alles  ohne  Zeichen  von  äusserer  Unruhe  oder  ge- 
müthlicher  Erregung.  Bisweilen  werden  einzelne  Wahnvorstellungen 
wechselnden  Inhaltes  geäussert.  Die  Kranken  fühlen  Kälte  im 
Hirn,  haben  eine  Zunge  von  Eisen,  werden  von  Eisbären  gefressen, 
sind  vertauschtes  Fürstenkind,  Eleonora  von  Halberstadt.  Meist 
aber  erweisen  sie  sich  als  ziemlich  besonnen  und  orientirt.  Nicht 
selten  lässt  sich  Katalepsie  nachweisen.  Ganz  unvermuthet  jedoch 
werden  sie  lebhaft,  schimpfen  laut  und.  heftig,  machen  unter  aus- 
gelassenem Lachen  eine  schnippische,  treffende  Bemerkung,  springen 
aus  dem  Bett,  werfen  ihr  Essen  ins  Zimmer,  entkleiden  sich  plötz- 
lich, rennen  im  Sturmschritt  durch  einige  Säle,  zerreissen  ein 
Kleidungsstück  oder  misshandeln  ohne  äussere  Veranlassung  einen 
Mitkranken,  um  sofort  wieder  in  ihre  frühere  Unzugänglichkeit  zurück- 
zuversinken. Zu  anderen  Zeiten  trifft  mau  sie  auch  wol  einmal 
ruhig,  besonnen  und  einsichtig  an,  meist  allerdings  nur  ganz  vor- 
übergehend. Manche  Kranke  wandern  gemessenen  Schrittes  auf  der 
Abtheilung  herum,  reden  fast  nichts,  machen  aber  gelegentlich  einen 
Witz,  duzen  den  Arzt,  drängen  sich  erotisch  an  ihn  heran,  lächeln. 
Eine  solche  Kranke  stahl  Nachts  ihrer  schlafenden  Wärterin  die 
Schlüssel  und  entwich  damit  in  das  Zimmer  eines  Arztes,  freute 
sich  sehr  über  den  gelungenen  Streich,  ohne  ein  Wort  zu  sprechen. 
Oft  haben  die  Kranken  eine  ganz  genaue  Erinnerung  an  die  ver- 
flossene Zeit,  vermögen  aber  ihr  absonderliches  Benehmen  durchaus 


Mischzustände. 


397 


nicht  zu  erklären.  „Ich  wollte  keinen  Willen  haben,“  sagte  mir  ein 
derartiger  Kranker.  Er  hatte  die  Nahrung  verweigert,  um  leichter 
zu  werden  und  dadurch  die  Gesundheit  zu  erlangen,  fühlte  sich  aber 
durch  den  Hunger  veranlasst,  grosse  Mengen  Milch  durch  die  Nase 
einzuschlürfen  und  an  einer  Semmel  leidenschaftlich  zu  riechen. 
Bei  diesen  absonderlichen  Veranstaltungen  lächelte  er  selbst,  sprach 
aber  kein  Wort  und  liess  sich  nicht  davon  abbringen. 

Eine  gewisse  Vorstellung  von  diesem  Zustande  kann  vielleicht 
die  Figur  4 der  Tafel  VII  geben.  In  dem  mürrischen,  finsteren  Ge- 
sichtsausdrucke der  immer  starr  auf  demselben  Flecke  stehenden 
Kranken  giebt  sich  deutlich  die  Verstimmung  und  Hemmung  zu 
erkennen,  die  sie  viele  Monate  lang  beherrschte  und  stumm  machte. 
Gleichzeitig  aber  trat  in  der  fast  unüberwindlichen  Neigung  zum 
Zerreissen  und  Schmieren  die  manische  Erregung  hervor,  die  in  dem 
Schmucke  aus  abgerupften  Blättern  und  Zweigen  auch  auf  dem 
Bilde  erkennbar  ist.  Bisweilen,  wie  bei  dieser  Kranken,  dauert  der 
manische  Stupor  während  eines  ganzen  Anfalles  an.  Oefters  aber  schiebt 
sich  dieser  Zustand  nur  vorübergehend  in  einen  ausgeprägt  manischen 
Anfall  ein.  Noch  häufiger  bildet  er  den  Uebergang  zwischen  einem  de- 
pressiven Stupor  und  der  an  ihn  sich  anschliessenden  Manie.  Man 
kann  dann  schrittweise  die  verschiedenen  Zwischenstufen  verfolgen, 
das  Nachlassen  der  traurigen  Verstimmung,  das  Auftreten  des  ersten 
Lächelns,  das  Freierwerden  der  Bewegungen,  die  Entwicklung  einer 
gewissen  Unruhe  mit  leisem  Flüstern  und  endlich  das  Schwinden 
der  Hemmung  auch  auf  sprachlichem  Gebiete  mit  Hervorbrechen 
von  Rededrang  und  Ideenflucht. 

Auf  eine  Mischung  von  manischen  und  depressiven  Krankheits- 
zeichen lassen  sich  ferner  wol  auch  die  nicht  seltenen  nörgelnden 
Formen  der  Manie  zurückführen,  auf  deren  leichteste  Gestaltungen 
Hecker  besonders  hingewiesen  hat.  Hier  zeigen  die  Kranken  wol 
ein  gehobenes  Selbstgefühl,  aber  durchaus  keine  heitere  Stimmung. 
Vielmehr  sind  sie  unzufrieden,  unleidlich,  vielleicht  sogar  leicht 
ängstlich,  haben  an  allem  etwas  auszusetzen,  fühlen  sich  bei  jeder 
Gelegenheit  schlecht  behandelt,  bekommen  schlechtes  Essen,  können 
es  in  der  entsetzlichen  Umgebung  nicht  aushalten,  in  den  miserablen 
Betten  nicht  schlafen,  mit  den  anderen  Kranken  nicht  verkehren. 
Bei  ihrer  völligen  Besonnenheit  haben  sie  eine  grosse  Neigung  und 
Fähigkeit,  Andere  zu  verletzen  und  zu  kränken,  sie  unter  einander 


398 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


zu  verhetzen,  aufzuwiegeln,  überall  das  Unangenehme  herauszufinden 
und  in  den  Vordergrund  zu  stellen.  Jeden  Tag  bringen  sie  neue 
Klagen  vor,  bevormunden  ihre  Umgebung,  -werden  gereizt  wenn 
man  ihnen  nach  ihrer  Meinung  nicht  genügend  Gehör  schenkt  Die 
manische  Grundlage  deutet  sich  in  leichter  Ideenflucht,  grosser  Un- 
stetigkeit und  Rastlosigkeit  an,  die  den  Kranken  dazu  treibt  viel 
herumzuwandern,  alle  möglichen  Curen  zu  beginnen,  ohne  eine 
einzige  durchzuführen,  übermässig  zu  rauchen  und  zu  trinken. 

Die  richtige  Deutung  dieser  Fälle  wird  uns  durch  die  Er- 
fahrung gegeben,  dass  derartige  Zustände  ungemein  häufig  in  der 
Uebergangszeit  zwischen  manischer  Erregung  und  Depression 
beobachtet  werden.  Die  bis  dahin  gehemmten  und  traurig  ver- 
stimmten Kranken  sehen  wir  allmählich  unruhiger  werden,  aber  sie 
erscheinen  zunächst  mit  sich  und  aller  Welt  zerfallen,  bringen  in 
immer  lebhafterer  Weise  alle  möglichen  Klagen  über  ihren  Zustand 
und  bald  auch  über  die  Umgebung  vor,  machen  treffende,  oft  bissige 
Bemerkungen,  beschäftigen  sich  gewandt,  aber  ruhelos,  sind  immer- 
fort in  Bewegung,  sprechen  viel,  einförmig,  bis  endlich  ein  ge- 
legentliches Lächeln,  Neigung  zu  Reimereien  und  Wortspielen,  Unter- 
nehmungslust die  Ausbildung  des  manischen  Krankheitszustandes 
immer  deutlicher  verkündet.  Umgekehrt  verliert  sich  bei  manischen 
Kranken  die  ausgelassene  und  übermiithige  Stimmung;  sie  werden 
missmuthig,  unverträglich,  unlenksam,  quälerisch  für  ihre  Umgebung, 
drängen  und  nörgeln,  bis  nach  und  nach  die  Unruhe  immer 
mehr  zurücktritt  und  die  Zeichen  der  psychomotorischen  Hemmung 
das  Uebergewicht  erhalten.  Während  aller  dieser  Uebergangszustände, 
in  denen  sich  traurige  Verstimmung  ohne  ausgesprochene  Hemmung 
findet,  sind  die  Kranken  sich  selbst  am  gefährlichsten,  obgleich  ihr 
Zustand  vielleicht  weniger  schwer  erscheint,  als  auf  der  Höhe  der 
Verstimmung  oder  Erregung.  Mehrfach  sah  ich  gerade  dann  Selbst- 
mordversuche, die  vorher  wegen  der  Willenlosigkeit  trotz  schweren 
Lebensüberdrusses  nicht  zu  Stande  gekommen  waren.  Ein  Kranker 
mit  sehr  leichter  Verstimmung  erhängte  sich  wenige  Tage  vor  seiner 
Entlassung  auf  einem  freien  Ausgange,  nachdem  er  bereits  auf- 
fallend heiter  erschien. 

Wir  erkennen  bei  diesen  Zuständen  unmittelbar,  dass  sie  durch 
die  Verbindung  von  psychomotorischer  Erregung  mit  depressiver 
Verstimmung  gekennzeichnet  sind,  und  werden  diese  Auffassung 


Ursachen. 


399 


daher  auch  für  diejenigen  Fälle  festhalten  dürfen,  bei  denen  das 
Krankheitsbild  dauernd  die  Erscheinungen  der  depressiven  Erregung 
aufweist. 

In  einer  kleinen  Zahl  von  Fällen  habe  ich  neben  schweren 
depressiven  Wahnvorstellungen  und  verzweifelter  Stimmung  geradezu 
ausgeprägte  Ideenflucht  beobachtet.  Eine  Kranke  mit  Versün- 
digungswahn schrieb  zu  meinem  Erstaunen  ausserordentlich  flott 
bogenlange  Briefe  voll  von  Selbstanklagen  und  wahnhaften  Be- 
fürchtungen. Manche  traurig  verstimmte  Kranke  sind  ungemein 
redselig  und  überschütten  ihre  Umgebung  mit  zusammenhangslosen 
Klagen  über  ihr  schreckliches  Unglück.  Da  wir  auch  diese  Erscheinung 
vielfach  in  der  Uebergangszeit  zur  manischen  Erregung  beobachten, 
bin  ich  geneigt,  darin  schon  das  Umschlagen  der  psychomotorischen 
Hemmung  in  erleichterte  Auslösung  vpn  Bewegungsantrieben  zu 
sehen.  Nicht  selten  erfahren  wir  von  gehemmten  Kranken,  sobald 
sie  wieder  anfangen,  sich  über  ihre  Zustände  zu  äussern,  dass  sie 
ihre  Gedanken  gar  nicht  festhalten  können,  dass  ihnen  immerfort 
massenhafte  Dinge  in  den  Kopf  kämen,  an  die  sie  niemals  gedacht 
hätten.  Im  Hinblicke  auf  die  sonstigen  Erfahrungen  über  Mischung 
der  Krankheitszeichen  läge  die  Annahme  nahe,  dass  wir  es  in 
solchen  Fällen  mit  dem  Auftreten  einer  Ideenflucht  zu  thun  haben, 
die  nur  wegen  der  Hemmung  der  sprachlichen  Bewegungen 
nach  aussen  hin  nicht  erkennbar  wird.  Gesellt  sich  späterhin  der 
Rededrang  hinzu,  so  haben  wir  das  gewöhnliche  Bild  der  manischen 
Ideenflucht  vor  uns.  — 

Das  manisch-depressive  Irresein  in  dem  hier  umgrenzten  Sinne 
ist  eine  recht  häufige  Krankheit;  etwa  10 — 15  °/0  der  Aufnahmen  in 
meiner  Klinik  gehören  demselben  an.  Die  Ursachen  desselben 
haben  wir,  wie  es  scheint,  wesentlich  in  krankhafter  Veranlagung 
zu  suchen.  Erbliche  Belastung  konnte  ich  in  etwa  80°/o  meiner 
Fälle  nachweisen,  vielfach  gerade  auch  circuläres  oder  periodisches 
Irresein  bei  anderen  Familienmitgliedern.  Nicht  selten  findet  sich 
bei  den  Kranken  eine  vortreffliche  verstandesmässige  oder  künst- 
lerische Begabung.  Bei  anderen  wird  berichtet,  dass  sie  von  Jugend 
auf  ungewöhnliche,  aufgeregte  Menschen  mit  häufigem,  grundlosem 
Stimmungswechsel  oder  im  Gegentheil  grüblerisch,  übertrieben 
fromm,  scheu  und  still  gewesen  seien.  Hie  und  da  besteht  auch 
geradezu  angeborener  Schwachsinn.  In  einer  Reihe  von  Fällen 


400 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


treten  namentlich  während  der  Anfälle,  aber  auch  schon  vorher, 
allerlei  hysterische  Züge  hervor,  Schreianfälle,  Magenkrämpfe,  Ohn- 
mächten, grosse  Anfälle.  Auch  körperliche  Entartungszeichen,  be- 
sonders Schädelverbildungen,  Kleinheit  desselben,  Skoliosen,  hydro- 
cephalische  Ausbuchtung,  finden  sich  öfters.  Das  weibliche  Geschlecht 
liefert  nahezu  zwei  Drittel  der  Kranken.  Die  Yertheilung  der  ersten 
Anfälle  auf  die  einzelnen  Lebensalter  erhellt  aus  der  nebensteben- 

I- 


4? 


Jahre 

den  Darstellung.  Die  Krankheit  beginnt  demnach  in  mehr  als  2/s 
der  Fälle  vor  dem  25.  Lebensjahre;  hie  und  da  reichen  ihre 
ersten  Andeutungen  schon  vor  das  10.  Lebensjahr  zurück.  Ganz 
besonders  stark  ist  das  Ueberwiegen  der  jugendlicheren  Lebensalter 
beim  weiblichen  Geschlechte.  Hier  fallen  8/4  der  Fälle  vor  das 
25.  Jahr;  auch  im  Rückbildungsalter  findet  sich  bei  den  Frauen 
wieder  eine  etwas  stärkere  Neigung,  in  der  hier  geschilderten  Weise  zu 
erkranken.  Bisweilen  setzt  die  Krankheit  mit  dem  ersten  Auftreten  der 
Menses  ein;  auch  späterhin  beobachten  wir  häufig  Verschlimmerungen 


Ursachen. 


401 


des  Zustandes  während  der  Regel.  Umgekehrt  deutet  das  Wieder- 
erscheinen derselben  nach  längerem  Aussetzen  während  der  De- 
pression auf  eine  bevorstehende  Aenderung  des  Krankheitsbildes 
hin.  Nicht  ganz  selten  sieht  man  einen  Anfall  im  Wochenbette 
beginnen.  Bei  einer  meiner  Kranken  erfolgten  die  drei  ersten  Anfälle  im 
Anschlüsse  an  Geburten,  die  späteren  dann  freilich  ohne  solchen 
Anlass;  eine  andere  erkrankte  zunächst  nach  einem  von  ihr  selbst 
herbeigeführten  Abortus  und  dann  wieder  in  einem  Wochenbette, 
gebar  aber  dazwischen  einmal  ohne  Störung. 

Yon  sonstigen  äusseren  Anlässen  ist  die  Entwicklung  der  Krank- 
heit im  allgemeinen  unabhängig,  wenn  auch  gewöhnlich  vom  Kranken 
und  seiner  Umgebung  irgend  welche  Zufälle  zur  Erklärung  herbei- 
gezogen werden.  Immerhin  können  allerlei  Schädigungen,  eine  heftige 
Gemüthserschütterung,  ein  körperliches  Unwohlsein,  eine  fieberhafte 
Krankheit,  auf  vorbereitetem  Boden  den  letzten  Anstoss  zum  Ausbruche 
der  Störung  geben.  Eine  meiner  Kranken  wurde  manisch  nach  einem 
Bauchschnitte.  Kopfverletzungen  werden  öfters  als  Ursachen  der 
Krankheit  angegeben,  doch  lässt  sich  der  Nachweis  des  Zusammen- 
hanges wol  kaum  jemals  in  überzeugender  Form  erbringen.  Auf 
der  anderen  Seite  beobachten  wir  vielfach  eine  erstaunliche  Unab- 
hängigkeit der  gesammten  Krankheitsanfälle  von  äusseren  Ein- 
wirkungen, so  dass  wir  an  der  inneren  Verursachung  derselben 
nicht  wol  zweifeln  können. 

Vielleicht  der  wichtigste  Beweisgrund  für  diese  Auffassung  ist 
aber  die  Thatsache,  dass  die  manisch-depressiven  Geistesstörungen 
eine  sehr  ausgesprochene  Neigung  haben,  im  Leben  mehrfach,  ja 
sogar  sehr  häufig  wiederzukehren;  in  manchen  Fällen  können  die 
verschiedenartigen  Formen  desselben  Jahrzehnte  lang  ununterbrochen 
mit  einander  abwechseln.  Diese  Eigenthümlichkeit  der  Krankheit 
hat  von  jeher  die  Aufmerksamkeit  der  Irrenärzte  in  besonderem 
Maasse  auf  sich  gezogen  und  ihnen  Anlass  gegeben,  die  Haupt- 
masse der  Beobachtungen  unter  dem  Namen  des  periodischen 
Irreseins  zusammenzufassen.  Da  man  die  selbständige  Periodicität 
als  ein  wesentliches  Kennzeichen  der  Krankheit  betrachtete,  schloss 
man  aus  dem  Bilde  alle  diejenigen  Formen  aus,  welche  jene  Eigen- 
schaft anscheinend  oder  wirklich  nicht  darboten.  Zunächst  ins  Auge 
fielen  unter  diesem  Gesichtspunkte  diejenigen  Beobachtungen,  in  denen 
die  einzelnen  Anfälle,  seien  sie  manischer  oder  depressiver  Gestaltung, 

Kraopelin.  Paychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  26 


402 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


mit  grösster  Regelmässigkeit  wiederkehrten.  So  unterschied  man 
eine  periodische  Manie,  eine  periodische  Melancholie  und 
das  circulare  Irresein  mit  regelmässigem  Wechsel  zwischen 
„Manie“  und  „Melancholie“.  Diese  Umgrenzung  ist  noch  heute  in 
Deutschland  die  verbreitetste.  Schwierigkeiten  entstehen  dabei  einmal 
für  die  Mischformen  und  für  die  Fälle  mit  ausgeprägten  Wahn- 
bildungen, die  auch  woi  als  „periodische  Paranoia“  bezeichnet  wer- 
den, andererseits  für  jene  Fälle,  in  denen  die  einzelnen,  bald  mani- 
schen, bald  depressiven  Anfälle  ganz  unregelmässig  auf  einander 
folgen.  Meist  wird  hier  die  Zugehörigkeit  zum  „periodischen“  oder  „cir- 
culären“  Irresein  verneint  oder  doch  stark  bezweifelt.  Vielmehr  handelt 
es  sich  dabei  nach  der  landläufigen  Anschauung  um  einzelne,  von 
einander  unabhängige  Erkrankungen  an  „Manie“  und  „Melancholie“. 
Vor  allem  gilt  das  natürlich  für  die  Fälle  mit  sehr  wenigen  oder 
gar  nur  einem  einzigen  Anfalle  im  Leben.  Allerdings  hat  die  Er- 
fahrung überall  gezeigt,  dass  die  Zahl  solcher  Fälle  bei  genauerer 
Untersuchung  merkwürdig  stark  einschrumpft  und  die  einfache 
Manie  eine  immer  seltenere  Krankheit  wird*);  immerhin  aber  giebt 
es  ohne  Zweifel  vereinzelte  Beobachtungen,  in  denen  nur  ein  einziger 
Anfall  manischer  Erkrankung  im  ganzen  Leben  nachgewiesen 
werden  kann. 

Wer  meinen  bisherigen  Darlegungen  gefolgt  ist,  wird  leicht 
erkennen,  dass  diese  Thatsache,  um  deren  Festlegung  sich  eine 
Reihe  von  Forschern  bemüht  haben,  in  keiner  Weise  geeignet  ist, 
die  hier  vertretene  Anschauung  von  der  Einheitlichkeit  des  manisch- 
depressiven  Irreseins  zu  erschüttern.  Auf  dem  Wege  einer  mehr 
oder  weniger  angreifbaren  Statistik  kann  diese  Frage  überhaupt 
nicht  entschieden  werden.  Vielmehr  kommt  es  offenbar  darauf  an, 
festzustellen,  ob  die  Wiederkehr  der  Anfälle  bei  dieser  Krankheit 
ein  wesentliches  oder  ein  mehr  nebensächliches  Krankheitszeichen 
darstellt.  Im  ersteren  Falle  werden  -nur  die  „periodischen“  Formen 
den  „einfachen“  als  besondere  Krankheitsgruppe  gegenüberzustellen 
haben,  im  letzteren  nicht. 

Zu  dieser  Frage  ist  zunächst  zu  bemerken,  dass  die  mehr  oder 
weniger  regelmässige  Wiederkehr  gewisser  Störungen  eine  allgemeine 


*)  von  Erp  Taalman  Kip,  Allgern.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  119^ 
Hinrichsen,  ebenda,  86. 


Periodiqjjtät. 


403 


Eigenschaft  aller  derjenigen  Formen  des  Irreseins  ist,  die  aus  einem 
gleichmässigen  psychischen  Schwächezustande  hervorwachsen  oder 
zu  einem  solchen  führen.  Alle  aus  krankhafter  Veranlagung  ent- 
stehenden Geistesstörungen,  das  Entartungsirresein  im  engeren 
Sinne,  die  Epilepsie,  die  Hysterie,  andererseits  wieder  die  Endzustände 
der  Dementia  praecox  zeigen  die  Neigung,  von  Zeit  zu  Zeit  sich  in 
heftigeren  Krankheitserscheinungen  zu  entladen,  in  „Krisen“,  An- 
fällen, Aufregungen  u.  s.  f.  Bisweilen  spielen  dabei  auslösende  An- 
stösse  eine  gewisse  Rolle,  bisweilen  auch  nicht,  ganz  wie  bei  den 
sogenannten  periodischen  Geistesstörungen.  In  manchen  Fällen  ist 
die  Wiederkehr  eine  streng  regelmässige,  so  namentlich  hie  und  da 
in  der  Epilepsie;  meist  aber  wird  die  Periodicität  durch  allerlei 
unberechenbare  Einflüsse  derart  gestört,  dass  nur  ganz  im  all- 
gemeinen die  häufigere  Wiederholung  derselben  Zufälle  ins  Auge 
fällt.  Ueberall  aber,  auch  in  der  sonst  am  meisten  zu  gesetzmässiger 
Periodicität  neigenden  Epilepsie,  kann  man  einzelne  Beobachtungen 
sammeln,  in  denen  die  eigenartigen  Störungen  nicht  häufig,  sondern 
nur  wenige  oder  gar  nur  ein  einziges  Mal  im  Leben  zur  Entwick- 
lung kommen.  Wie  wir  wol  annehmen  dürfen,  scheint  in  derartigen 
Fällen  die  krankhafte  Grundlage  so  wenig  ausgeprägt  zu  sein,  dass 
sich  der  schlummernde  Krankheitskeim  nur  unter  besonders  un- 
günstigen Umständen  wirklich  einmal  zur  geistigen  Störung 
ausbildet.  Trotzdem  sprechen  wir  auch  in  solchen  Ausnahmefällen  von 
epileptischen,  hysterischen  Zuständen,  von  Zwangsirresein  u.  dergl., 
ohne  die  häufigere  Wiederkehr  der  Erscheinungen  als  durchaus 
massgebend  für  die  Diagnose  zu  betrachten. 

Mit  vollem  Recht.  Entscheidend  ist  uns  das  klinische  Krank- 
heitsbild selbst,  dessen  sämmtliche  Einzelheiten  sich  widerspruchslos 
in  den  Rahmen  der  bekannten  Formen  einordnen  lassen  müssen.  Wie 
mir  scheint,  ist  nicht  abzusehen,  warum  -wir  bei  den  sogenannten 
periodischen  Geistesstörungen  ein  anderes  Verfahren  einschlagen 
sollten.  Zunächst  ist  von  einer  wirklich  streng  periodischen  Wieder- 
kehr der  Anfälle  nur  in  einer  verhältnissmässig  recht  kleinen  Zahl  von 
Beobachtungen  die  Rede.  Von  diesen  aber  führt  eine  unabsehbare 
Schaar  allmählicher  Uebergänge  zu  den  Formen  mit  ganz  un- 
regelmässigem Verlaufe  hinüber,  ja  wir  sehen  — und  darauf  möchte 
ich  besonderes  Gewicht  legen  — überaus  häufig,  dass  auch  bei  sonst 
ausgeprägter  Periodicität  die  Anfälle  im  Beginne  des  Leidens  oder 

26* 


404 


IX.  Das  manisctylepressive  Irresein. 


selbst  nach  längerer  Dauer  sehr  unregelmässig  einsetzen  oder  eine 
Reihe  von  Jahren  plötzlich  ausbleiben.  Mit  anderen  Worten,  die 
Fälle  mit  grosser  Regelmässigkeit  unterscheiden  sich  nur  nach  dem 
Grade,  nicht  nach  dem  Wesen  der  Störung  von  den  übrigen. 

Ganz  ähnliche  Erwägungen  aber  gelten  für  die  Zahl  der  An- 
fälle bei  dem  einzelnen  Kranken.  Wir  kennen  Beobachtungen,  in 
denen  viele  Dutzende  von  Anfällen  in  unabsehbarer  Reihe  zu  ver- 
zeichnen sind.  Sodann  giebt  es  Kranke  mit  6,  8,  10  Anfällen  im 
Leben,  die  in  grösseren  Pausen  auf  einander  folgen.  Wird  hier  die 
Zugehörigkeit  zum  periodischen  Irresein  zugestanden,  so  wird  man 
sie  auch  nicht  ablehnen  können,  wenn  etwa  alle  15 — 20  Jahre  von 
der  Entwicklungszeit  an  ein  Anfall  eintritt,  also  im  ganzen  3—4 
während  des  Lebens.  Wer  aber  will  behaupten,  dass  hier  die 
Grenze  des  „periodischen“  Irreseins  endgültig  erreicht  wäre?  Es 
giebt  Fälle,  in  denen  zwischen  den  Anfällen  17,  28,  ja,  wie  es  mir 
kürzlich  vorgekommen  ist,  sogar  32  Jahre  liegen;  natürlich  schrumpft 
hier  die  Zahl  der  Erkrankungen  auf  höchstens  2 — 3 zusammen. 
Erkrankt  Jemand  mit  so  langen  Zwischenzeiten  erst  in  höherem 
Lebensalter  oder  dehnt  sich  die  Pause  noch  länger  aus,  so  kann  es 
leicht  geschehen,  dass  er  einen  späteren  Anfall  überhaupt  nicht 
mehr  erlebt,  ganz  abgesehen  von  der  Möglichkeit,  dass  er  gar 
schon  in  verhältnissmässig  frühen  Jahren  stirbt. 

Wie  man  sieht,  könnte  man  die  vereinzelten  Ausnahmefälle 
mit  nur  einmaliger  Erkrankung  auch  unter  der  Voraussetzung  recht 
wol  erklären,  dass  wir  es  bei  unserer  Krankheitsform  überall 
wirklich  mit  einer  strengen  Periodicität  zu  thun  hätten.  Da  aber 
davon  schlechterdings  gar  keine  Rede  sein  kann  und  wir  vielmehr 
nur  von  einer  allgemeinen  Neigung  zu  häufigerer  Wiederkehr 
sprechen  dürfen,  so  bedürfen  wir  derartiger  Künsteleien  gar  nicht 
Worauf  es  uns  vielmehr  einzig  und  allein  ankommt,  das  ist  die 
grundsätzliche  und  vollkommene  D ebereinstimmung  des 
allgemeinen  klinischen  Krankheitsbildes.  Bis  auf  den 
heutigen  Tag  hat  man  sich  immer  wieder  abgemüht,  die  einfache 
und  die  periodische  Manie  aus  den  Kraukheitszeichen  selbst  von 
einander  abzugrenzen,  aber  stets  vergebens,  weil  diese  Grenze  eine 
künstliche  ist,  von  der  die  Natur  nichts  weiss.  So  sicher  wir  bei 
gehöriger  klinischer  Erfahrung  die  Zugehörigkeit  eines  gegebenen 
Krankheitsfalles  zu  dem  vielgestaltigen  Formenkreise  des  manisch- 


Verlauf. 


405 


depressiven  Irreseins  zu  erkennen  vermögen,  so  unmöglich  ist  es, 
irgend  ein  Kennzeichen  anzugeben,  welches  ons  gestatten  soll,  den 
j, einfachen“  von  dem  „periodischen“  manischen  Anfalle  zu  unter- 
scheiden. Dass  uns  hier  die  Thatsache  der  Wiederkehr  allein  nicht 
helfen  kann,  liegt  auf  der  Hand;  wir  müssten  ja  sonst  unter  Um- 
ständen 30  und  mehr  Jahre  warten,  bis  wir  unserer  Diagnose  ge- 
wiss wären.  Oder  will  man  den  Punkt  ganz  willkürlich  bestimmen, 
jenseits  dessen  ein  sich  wiederholender  Anfall  nicht  mehr  der  Aus- 
druck einer  periodischen,  sondern  eine  Neuerkrankung  an  einfacher 
Manie  ist?  Wären  beide  Krankheiten  nicht  wirklich  wesensgleich, 
so  müssten  sich  wenigstens  nachträglich  bei  den  Pallen  mit  nur 
einer  Erkrankung  irgend  welche  Eigenthümlichkeiten  auffinden 
lassen,  die  wir  bei  den  übrigen  nicht  finden.  Bis  das  geschehen 
ist,  halte  ich  die  Ansicht  für  berechtigt,  dass  wir  es  hier  mit  einer 
einheitlichen  Krankheit  zu  thun  haben,  die  zwar  in  der  Kegel, 
aber  nicht  ausnahmslos  mehrfach,  bisweilen  sogar  sehr  oft  im  Leben 
wiederkehrt. ) 

Die  einzelnen  Anfälle  des  manisch-depressiven  Irreseins  sind,  wie 
schon  aus  der  klinischen  Schilderung  hervorgeht,  unter  einander  nicht 
gleich,  sondern  können  sich  recht  verschieden  gestalten.  Yor  allem 
können  wir  diejenigen  Beobachtungen  auseinanderhalten,  deren  sämmt- 
liche  Anfälle  wenigstens  die  gleiche  Stimmungsfärbung  aufweisen, 
die  sogenannte  periodische  Manie  bezw.  Melancholie,  und  diejenigen 
mit  einem  Wechsel  von  manischen  und  depressiven  Anfällen,  das 
circulare  Irresein.  Auch  ich  habe  früher  diese  drei  Formenkreise 
unterschieden,  freilich  mehr  der  Ueberlieferung,  als  der  eigenen 
Ueberzeugung  folgend.  Im  Laufe  der  Zeit  bin  ich  zu  der  Ansicht 
gelangt,  dass  alle  diese  Gruppenbildungen  nur  eine  sehr  unter- 
geordnete Bedeutung  haben.  Zwischen  periodischer  Manie  und 
circulärem  Irresein  ist  eine  scharfe  Grenze  schlechterdings  nicht  zu 
ziehen.  Bei  der  ungeheuren  Mehrzahl  der  Manien  beobachtet  man, 
sobald  man  einmal  darauf  aufmerksam  geworden  ist,  einleitende 
oder  abschliessende  Depressionszustände,  die  freilich  oft  nur  einige 
Tage  andauern  und  wenig  ausgeprägt  sind.  Auch  in  den  Verlauf 
der  Erregung  schieben  sich  ungemein  häufig  Stunden  oder  Tage 
von  ganz  entgegengesetzter  Färbung  ein,  und  endlich  entdeckt  man 
oft  genug,  dass  leichtere  Verstimmungen  in  den  Zwischenzeiten 
zwischen  den  manischen  Anfällen  vorhanden  gewesen  sind.  Um- 


406 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


gekehrt  folgt  den  hierher  gehörigen  Depressionszuständen  vielfach 
eine  auffallende  „reactive“  Heiterkeit,  die  von  Aerzten  und  Kranken 
gewöhnlich  als  Ausdruck  der  Freude  über  die  Genesung  angesehen 
wird,  wie  die  reactive  „Melancholie“  nach  Manie  als  Erschöpfung 
oder  als  Trauer  wegen  der  überstandenen  Geisteskrankheit.  Während 
der  Depression  beobachten  wir  plötzliche  Erregungszustände,  vorüber- 
gehende Lustigkeit,  oder  wir  erfahren,  dass  die  Kranken  sich  vorher 
oder  nachher  auffallend  geputzt,  gegen  ihre  Gewohnheit  Vergnügungen 
besucht  haben,  reizbar  und  aufgeregt  gewesen  seien.  Von  ganz 
besonderer  Bedeutung  aber  sind  die  Mischzustände,  die  uns  auf  das 
eindringlichste  lehren,  dass  manische  und  depressive  Bilder  in  aller- 
nächstem Grade  mit  einander  verwandt  sind.  Sehen  wir  doch  auch  un- 
gezählte Male  die  anscheinend  so  verschiedenartigen  Zustände  ganz 
unvermittelt  in  einander  übergehen!  Wie  mir  scheint,  ist  demnach 
der  Schluss  unabweisbar,  dass  alle  die  geschilderten  Gestaltungen 
des  Krankheitsbildes  nichts  anderes  sind,  als  Erscheinungsformen 
eines  und  desselben  grundlegenden  Krankheitsvorganges. 
Aequivalente,  wie  es  die  mannigfachen  Abarten  des  epileptischen 
Anfalles  sind. 

Eine  wichtige  Bestätigung  erhält  dieser  Satz  durch  die  Er- 
fahrung, dass  thatsächlich  in  einem  und  demselben  Krankheitsfälle 
die  verschiedenartigsten  Zustandsbilder  für  einander  eintreten  können. 
Man  beobachtet  zwar  im  allgemeinen,  dass  die  einzelnen  Anfälle 
bei  einem  Kranken  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  einander  dar- 
bieten, die  sich  hie  und  da  zur  „photographischen“  Gleichheit 
steigern  kann.  Allein  andererseits  hat  man  nicht  selten  Gelegenheit, 
in  demselben  Krankheitsverlaufe  eine  ganze  Anzahl  der  hier  ge- 
schilderten Zustände  nach  einander  auftreten  zu  sehen,  von  der 
leichten  Depression  und  dem  Stupor  durch  die  mannigfachsten 
Mischzustände  hindurch  zur  Hypomanie  und  zur  schweren  Tobsucht. 
Irgend  eine  Gesetzmässigkeit  dabei  aufzufinden,  ist  mir  bisher 
nicht  gelungen.  Namentlich  ist  auch  ein  ganz  regelmässiger  Wechsel 
zwischen  manischen  und  depressiven  Krankheitsabschnitten  ver- 
hältnissmässig  selten.  Weit  häufiger  ist  die  unregelmässige  Auf- 
einanderfolge oder  ein  starkes  Ueberwiegen  der  .Anfälle  einer 
Färbung.  In  eine  ganze  Reihe  von  mauischen  Anfällen  schiebt 
sich  unvermuthet  einmal  ein  depressiver  oder  ein  Mischzustand  und 
umgekehrt.  Die  klinischen  Zeichen  der  manischen  Anfälle  selbst 


Verlauf;  Grundlage. 


407 


sind  auf  ein  Haar  dieselben,  gleichviel,  ob  sie  mit  depressiven  ge- 
mischt auftreten  oder  nicht.  Auf  Grund  aller  dieser  Erwägungen 
und  Erfahrungen  sehe  ich  keine  Möglichkeit,  die  periodische  Manie 
im  allgemeinen  wie  im  einzelnen  Falle  vom  circulären  Irresein 
abzutrennen. 

Weniger  einfach  liegt  die  Frage  vielleicht  hinsichtlich  der 
periodischen  „Melancholie“.  Da  es  ohne  Zweifel  Beobachtungen  mit 
nur  manischen  Anfällen  giebt,  so  lässt  sich  die  Wahrscheinlichkeit 
nicht  von  der  Hand  weisen,  dass  auch  hierher  gehörige  Erkrankungen 
Vorkommen,  deren  sämmtliche  Anfälle  depressive  Bilder  aufweisen. 
In  der  That  kennen  wir  solche  wiederkehrende  Formen,  deren 
einzelne  Anfälle  in  allen  klinischen  Kennzeichen,  namentlich  in  der 
ausgeprägten  psychomotorischen  Hemmung,  den  depressiven  Ab- 
schnitten circulär  verlaufender  Erkrankungen  entsprechen.  Auf  der 
anderen  Seite  sehen  wir  aber  auch  die  klimakterischen  Melancholien 
sich  öfters  mehrmals  wiederholen.  Freilich  pflegen  hier  die  späteren 
Anfälle,  anders  als  bei  circulären  Fällen,  deutlich  die  fortschreitende 
Greisenschwäche  zu  zeigen.  Ausserdem  dürfte  auch  das  klinische 
Bild  gewisse,  früher  näher  besprochene,  eigenartige  Züge  aufweisen. 
Immerhin  ist  die  genauere  Umgrenzung  derjenigen  Formen  perio- 
discher Depressionszustände,  die  der  hier  behandelten  Krankheit 
angehören,  einstweilen  noch  etwas  erschwert.  So  lange  wir  die 
Kennzeichen  der  circulären  Depressionszustände  noch  nicht  bis  in 
ihre  feinsten  Einzelheiten  erforscht  haben,  werden  wir  vielleicht  im 
einzelnen  Falle  zweifelhaft  bleiben,  ob  wir  uns  auf  die  Möglichkeit 
einer  späteren  Manie  gefasst  machen  müssen  oder  nicht.  Dass  diese 
Schwierigkeit  indessen  nicht  im  Wesen  der  Sache,  sondern  nur  in 
unserer  unvollkommenen  Kenntniss  beruht,  bedarf  keiner  besonderen 
Begründung.  — 

Ueber  das  Wesen  des  manisch-depressiven  Irreseins  sind  wir 
noch  gänzlich  im  Unklaren.  Sowol  die  häufige  Wiederkehr  der 
Anfälle  wie  der  eigentümliche  Wechsel  zwischen  Erregung  und 
Hemmung  sind  durchaus  rätselhafte  Thatsachen.  Wir  können  vor- 
erst nur  darauf  verweisen,  dass  in  unserem  Nervensysteme  die 
Neigung  zu  periodischem  Ablaufe  der  Hemmungs-  und  Erregungs- 
vorgänge auf  den  verschiedensten  Gebieten  wiederkehrt.  Meynert 
hat  die  Erklärung  für  den  Wechsel  gegensätzlicher  Zustände  in 
periodischen  Störungen  der  vasomotorischen  Innervation  gesucht. 


408 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


In  Folge  von  gesteigerter  Reizbarkeit  des  Gefässcentrums  soll  sich 
ein  verstärkter  Spannungszustand  im  gesammten  Arteriengebiete  mit 
gleichzeitiger  Hirnanaemie  als  Ursache  der  depressiven  Verstimmung 
entwickeln.  Gerade  die  so  entstandene  mangelhafte  Ernährung  des 
vasomotorischen  Centrums  soll  dann  weiterhin  eine  Lähmung  des- 
selben, Erweiterung  der  Gefässe  und  Hyperaemie  des  Gehirns  herbei- 
führen, als  deren  Ausdruck  die  Entwicklung  der  manischen  Erregung 
betrachtet  wird.  Zweifellos  ist  es,  dass  Veränderungen  im  Verhalten 
der  Pulsbilder  den  beiden  Abschnitten  des  Anfalles  entsprechen;  im 
übrigen  jedoch  rechnet  die  vorgetragene  Anschauung  mit  völlig 
unbekannten  Grössen.  Zudem  versagt  sie  durchaus  vor  der  That- 
sache  der  Mischzustände. 

Die  sehr  beträchtlichen  Schwankungen  des  Körpergewichtes 
könnten  auch  hier  an  allgemeinere  Umwälzungen  im  Bereiche 
der  Stoffwechselvorgänge  denken  lassen,  doch  reichen  unsere  Kennt- 
nisse durchaus  nicht  zur  Aufstellung  brauchbarer  Gesichtspunkte 
aus.  Erwähnen  will  ich,  dass  mir  einige  Male  von  den  Kranken 
über  epileptiforme  Anfälle  berichtet  wurde.  Das  würde  etwa 
auf  eine  chemische  Theorie  hinweisen  können,  um  so  mehr, 
als  man  jetzt  auch  bei  der  ebenfalls  periodischen  Epilepsie 
sich  der  Annahme  einer  Selbstvergiftung  zu  nähern  scheint. 
Lange*)  hat  eigenthiimliche  periodische  Depressionszustände  mit 
psychischer  Hemmung  beschrieben,  für  die  er  eine  gichtische 
Entstehungsweise  annimmt.  Nach  seiner  Schilderung  kann  ich,  wie 
Hecker,  nicht  zweifeln,  dass  er  leichte  Formen  des  manisch- 
depressiven  Irreseins  im  Auge  gehabt  hat,  deren  manische  Ab- 
schnitte ihm  entgangen  sind.  Dass  wirklich  die  Gicht  eine  wesent- 
liche Ursache  bilden  sollte,  ist  jedoch  bis  jetzt  weder  erwiesen  noch 
auch  wahrscheinlich ; immerhin  dürfte  von  Stoffwechseluntersuchungen 
vielleicht  einmal  Auikhirung  in  dieser  Frage  zu  erwarten  sein. 

Den  Beginn  der  ganzen  Krankheit  bildet  am  häufigsten,  in 
etwas  über  60  °/0  der  Fälle,  ein  Depressionszustand,  namentlich  beim 
weiblichen  Geschlechte  und  bei  den  in  jugendlichem  Alter  ein- 
setzenden Formen.  Die  Färbung  des  ersten  Anfalls  ist  bald  eine 
einfach  traurige  oder  ängstliche,  bald  diejenige  eines  stärkeren  oder 

*)  Periodische  Depressionsz.ustände  und  ihre  Pathogenesis  auf  dem  Boden  der 
harnsauren  Diathese,  deutsch  von  Kureil a.  1896. 


Beginn;  Dauer  der  Anfälle. 


409 


schwächeren  Stupors.  Auf  diesen  ersten  Anfall  folgt  etwa  in  der 
Hälfte  der  Fälle  eine  freie  Zwischenzeit;  ebenso  häufig  jedoch 
schliesst  sich  an  die  Depression  sogleich  eine  manische  Erregung, 
die  meist  in  vorläufige  Genesung  überführt.  Nur  in  einer  kleinen 
Zahl  von  Fällen  beginnt  nun  sofort  die  Depression  von  neuem,  um 
wieder  einer  Erregung  Platz  zu  machen  u.  s.  f.  Wo  die  Krankheit 
mit  einem  manischen  Anfalle  beginnt,  scheint  in  der  Regel  zunächst 
eine  Remission  einzutreten;  weit  seltener  knüpft  sich  schon  jetzt 
eine  Verstimmung  oder  ein  Stupor  an.  Auch  der  nächste  oder  so- 
gar mehrere  der  folgenden  Anfälle  sind  oft  noch  manisch,  so  dass 
es  längere  Zeit  den  Anschein  haben  kann,  es  handle  sich  um  eine 
periodische  Manie,  bis  unvermuthet  ein  depressiver  Anfall  sich  ein- 
schiebt. Ebenso  können  sich  mehrere  depressive  Anfälle  mit  freien 
Zwischenzeiten  wiederholen,  bevor  einmal  die  manische  Erregung 
sich  zeigt.  Bei  den  Fällen,  welche  nicht  schon  im  ersten  Anfalle 
beide  Bilder  vereinigt  darbieten,  ist  zunächst  die  gleichartige  Fort- 
setzung der  Anfälle  sogar  das  häufigere  Verhalten.  Auch  im  weiteren 
Verlaufe  der  Krankheit  ist  ein  regelmässiger  Wechsel  zwischen 
manischen  und  depressiven  Zuständen  eher  die  Ausnahme.  Viel- 
mehr sind  die  Fälle  gar  nicht  selten,  bei  denen  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  Anfälle  eine  gleichartige  Färbung  aufweist,  während 
einige  wenige  oder  auch  wol  nur  ein  einziger  dem  anderen 
Formenkreise  angehört.  Vielfach  entwickelt  sich  ein  regelmässigerer 
Wechsel  nach  längerer  Krankheitsdauer,  wenn  in  der  ersten  Zeit 
die  eine  Art  von  Anfällen  überwog  oder  allein  vorhanden  war. 
Auch  die  Mischformen,  insbesondere  der  manische  Stupor,  kommen, 
wie  es  scheint,  gewöhnlich  erst  nach  wiederholten  Anfällen  zur 
Ausbildung. 

Die  Dauer  der  einzelnen  Anfälle  ist  eine  ungemein  verschiedene. 
Es  giebt  solche,  die  nur  8 — 14  Tage  währen,  ja  wir  sehen  bisweilen, 
dass  zweifellos  krankhafte  Verstimmungen  oder  Erregungen  bei  diesen 
Kranken  nur  einen  oder  zwei  Tage  anhalten  können.  Meist  pflegt 
jedoch  ein  einfacher  Anfall  6 — 8 Monate  zu  dauern.  Andererseits 
sind  die  Fälle  nicht  ganz  selten,  bei  denen  sich  ein  Anfall  1 — 2, 
ja  3 und  4 Jahre  hindurch,  ein  Doppelanfall  die  doppelte  Zeit  fort- 
setzt. Die  depressiven  Anfälle  verlaufen  meist  etw-as  schleppender, 
doch  pflegen  die  ersten  Anfälle  verhältnissmässig  selten  die  Dauer  von 
einigen  Monaten  zu  überschreiten. 


410 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Fast  immer  liegen  zwischen  je  zwei  einfachen  oder  Doppel- 
anfällen freie  Zwischenzeiten.  Die  Dauer  derselben  ist  ebenfalls 
ausserordentlichen  Verschiedenheiten  unterworfen  und  steht,  soviel 
ich  sehen  kann,  in  keinem  bestimmten  Verhältnisse  zu  derjenigen 
der  Anfälle  selbst.  Leichte  Anfälle  können  sich  rasch  wiederholen, 
schwere  durch  längere  Zwischenzeiten  getrennt  sein  und  umgekehrt. 
Im  Beginne  der  Krankheit  betragen  die  Pausen  meist  einige  Jahre, 
können  sich  aber  bis  zu  10  Jahren  und  darüber,  ja  soweit  aus- 
dehnen, dass  überhaupt  nur  noch  ein  oder  zwei  Anfälle  im  späteren 
Leben  folgen.  Bisweilen  ist  die  Dauer  der  Zwischenzeiten  so  regel- 
mässig, dass  sich  die  Kranken  zur  gewohnten  Zeit  pünktlich  wieder 
in  der  Anstalt  einstellen;  meist  aber  zeigt  die  Krankheit  die  Neigung, 
späterhin  in  rascherem  Zeitmaasse  zu  verlaufen  und  die  Zwischen- 
zeiten abzukürzen,  selbst  bis  zum  vollständigen  Fortfallen  der- 
selben. Dabei  pflegt  die  Dauer  der  Anfälle  allmählich  zu  wachsen. 
So  sah  ich  bei  einer  Kranken  im  Laufe  von  13  Anfällen  die 
Dauer  dieser  letzteren  von  3 — 4 auf  6 — 7 Monate  wachsen,  während 
die  Zwischenzeiten  von  1 Jahre  auf  6 — 7 Monate  abnahmen.  Uebrigens 
kann  auch  trotz  langen  Bestandes  der  Krankheit  ein  Anfall  einmal 
unerwartet  rasch  verlaufen,  besonders  bei  den  Formen  mit  langen 
Zwischenzeiten. 

In  den  Rückbildungsjahren  nehmen  die  Zwischenzeiten  gern  ab, 
bisweilen  um  sich  später  wieder  zu  verlängern.  In  einzelnen  Fällen 
sieht  man  nach  den  ersten  Anfällen  im  Entwicklungsalter  eine  Pause 
bis  zum  Ende  der  40er  Jahre  ein  treten,  wo  die  Krankheit  wieder- 
kehrt, nun  vielleicht  ohne  weitere  Unterbrechung. 

Zuweilen  beginnt  das  Leiden  mit  einer  abgeschlossenen  Reihe 
sehr  kurzer  und  sehr  rasch  auf  einander  folgender  Anfälle  von 
manischer  oder  manisch-stuporöser  Färbung,  denen  dann  eine  längere, 
mehrjährige  Pause  folgt.  Besonders  ist  das  der  Fall  bei  einer  kleinen 
Gruppe  von  jugendlichen,  wie  es  scheint,  vorzugsweise  weiblichen 
Kranken.  Die  einzelnen  Erregungen  dauern  dabei  oft  nur  wenige 
Tage,  können  aber  sehr  heftig  sein  und  mit  starker  Verworrenheit 
einhergehen.  Nur  eine  kleine  Minderzahl,  wol  kaum  mehr  als 
4 — 5°/0,  bilden  die  Fälle,  in  denen  vom  ersten  Anfalle  an  die 
Krankheit  in  regelmässigem  Wechsel  der  Färbung  das  ganze  Leben 
gleichmässig  und  vollständig  ausfüllt  Mehrfach  sah  ich  dabei  die 
Verstimmung  im  Herbste  einsetzen,  um  im  Frühling,  „wenn  der  Saft 


Veriaufsarten. 


411 


in  die  Bäume  schiesst“,  in  Erregung  überzugehen,  in  gewissem  Sinne 
den  Stimmungswandlungen  entsprechend,  welche  auch  den  gesunden 
Menschen  im  Wechsel  der  Jahreszeiten  überkommen.  In  der  Regel 
dürfte  es  sich  dabei  um  sehr  leicht  verlaufende  Formen,  Hypomanie 
und  einfache  Hemmung,  handeln.  Auch  nach  längerem,  ununter- 
brochenem Verlaufe  kann  übrigens  doch  immer  gelegentlich  noch 
eine  Remission  sich  einstellen. 

Die  verschiedenen  Verlaufsarten  des  manisch  - depressiven 
Irreseins,  wie  sie  durch  das  wechselnde  Verhalten  in  Dauer  und 
Färbung  der  einzelnen  Anfälle  wie  in  der  Länge  der  Zwischenzeiten 
bedingt  werden,  sind,  namentlich  von  französischen  Forschern,  in 
eine  Reihe  von  klinischen  Abarten  zerlegt  worden.  Ich  glaube  mich 
überzeugt  zu  haben,  dass  derartige  Bestrebungen  zur  Gruppirung  an 
der  Regellosigkeit  der  Krankheit  nothwendig  scheitern  müssen. 
Die  Art  und  Länge  der  Anfälle  und  Zwischenzeiten  bleibt  im  ein- 
zelnen Falle  durchaus  nicht  die  gleiche,  sondern  kann  vielfach 
wechseln,  so  dass  derselbe  immer  neuen  Formen  zugerechnet  werden 
müsste.  Bis  jetzt  sind  auch  alle  meine  Bemühungen  vergebens  ge- 
blieben, aus  den  Eigenthümlichkeiten  eines  Anfalles  einigermassen 
zuverlässige  Schlüsse  für  die  weitere  Gestaltung  des  Krankheits- 
falles zu  gewinnen;  vielleicht  aber  gelingt  es  bei  sehr  ausgedehntem 
Beobachtungsstoffe  doch  einmal,  gewisse  prognostische  Regeln  abzu- 
leiten, wenn  auch  die  unberechenbaren  Einflüsse  der  persönlichen 
Veranlagung  und  Lebensführung  stets  bedeutende  Fehlerquellen  dar- 
stellen werden.  Immerhin  kann  man  etwa  sagen,  dass  sich  Hypo- 
manie am  häufigsten  mit  einfacher  Hemmung  verbindet,  während 
auf  schwere  Tobsucht  leicht  tiefer  Stupor  folgt.  Sinnestäuschungen 
und  Wahnbildungen  scheinen  gern  beide  Abschnitte  der  Krankheit 
zu  begleiten,  wenn  sie  überhaupt  auftreten. 

In  den  Zwischenzeiten  erscheinen  die  Kranken  zunächst  wenig- 
stens vollkommen  gesund.  Vielleicht  fällt  nach  einer  Depression 
das  besonders  blühende  Aussehen  und  die  Lebensfrische,  nach  einer 
Manie  die  Muthlosigkeit  und  Verdrossenheit  auf,  die  der  Kranke 
lange  Zeit  hindurch  nicht  überwinden  kann.  Bei  längerer  Dauer 
der  Krankheit  und  bei  häufigerer  Wiederholung  der  Anfälle  pflegen 
sich  die  psychischen  Veränderungen  auch  während  der  Zwischen- 
zeiten deutlicher  herauszustellen.  Wenn  auch  keine  auffallenden 
Krankheitszeichen  mehr  nachweisbar  sind,  so  ist  doch  eine  gewisse 


412 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Unfreiheit  und  Unselbständigkeit,  gedrücktes,  menschenscheues.  .,ver- 
zweiflerisches“  Wesen,  leichte  Ermüdbarkeit,  grosses  Schlafbedürfniss 
und  Herabsetzung  der  Arbeitskraft,  andererseits  Reizbarkeit,  stark  ge- 
hobenes Selbstgefühl,  Streitsucht,  Unstetigkeit,  Aufgeregtheit  vielfach 
unverkennbar.  Oefters  gewinnen  die  Kranken  auch  keine  volle  Klarheit 
über  den  Umfang  und  die  Bedeutung  ihres  Leidens.  Sie  geben  wol  zu, 
aufgeregt  oder  schwermüthig  gewesen  zu  sein,  schieben  aber  die 
Schuld  zum  grossen  Theile  auf  zufällige  Umstände,  das  Verhalten 
ihrer  Umgebung,  die  Verbringung  in  die  Anstalt.  Darum  werden 
sie  auch  nicht  gern  an  die  Zeit  der  Krankheit  erinnert,  weichen 
allen  Erörterungen  darüber  aus,  gehen  dem  Arzte  bei  späteren  zu- 
fälligen Begegnungen  aus  dem  Wege. 

Ausserordentlich  häufig  sind  während  der  Zwischenzeiten  ganz 
leichte,  angedeutete  Anfälle,  deren  krankhafte  Natur  nur  aus  genauer 
Kenntniss  der  ausgebildeteren  Anfälle  und  dieser  Krankheitsformen 
überhaupt  erschlossen  werden  kann,  plötzlich  erwachende  Lebenslust, 
ungewöhnlicher  Unternehmungsgeist,  Abschütteln  der  Alltagssorgen, 
Geschwätzigkeit,  Ausgelassenheit,  Reizbarkeit,  oder  unbegründet 
sorgenvolles,  in  sich  gekehrtes  Wesen,  wochenlange  Unthätigkeit  und 
Theilnahmlosigkeit,  die  dann  auf  Ueberarbeitung,  einen  Aerger  oder 
dergl.  zurückgeführt  wird,  aber  ebenso  rasch  wieder  verschwindet, 
wie  sie  gekommen  war.  Einer  meiner  Kranken  liess  sich  in  einem 
hypomanischen  Anfalle  von  einer  Hochstaplerin  ausbeuten : die 
dann  folgende  Verstimmung  wurde  von  der  Familie  durch  die 
erlittene  Enttäuschung  anscheinend  ganz  natürlich  erklärt.  Kürzere 
Erregungen  schliessen  sich  bei  Frauen  leicht  an  die  Menses  an. 

Das  Herannahen  eines  neuen  Anfalles  fühlen  die  Kranken 
selbst  bisweilen  schon  Tage  oder  gar  Wochen  vorher,  ohne  sich 
darüber  klare  Rechenschaft  zu  geben.  Eine  meiner  Kranken  machte 
häufig  einige  Zeit  vor  dem  Ausbruche  des  Anfalls  eiuen  sonst  ganz 
zwecklosen  Besuch  in  der  Anstalt,  bei  dem  sie  noch  keine  Spur 
von  Krankheitszeichen  darbot.  Andere  haben  noch  Zeit,  vor  dem 
Beginne  der  Erregung  ihr  Haus  zu  bestellen  und  sich  dann  frei- 
willig in  die  Behandlung  zu  begeben;  ein  derartiger  Kranker  sprang 
einmal  mitten  in  der  Nacht  über  die  hohe  Mauer  in  die  Anstalt 
herein,  nachdem  er  schon  mehrere  Stunden  weit  gelaufen  war. 

Der  Uebergang  der  beiden  Krankheitsabschnitte  in  einander  voll- 
zieht sich  bisweilen  ganz  plötzlich  und  dann  regelmässig  in  der  Nacht. 


Wechsel  der  Zustände. 


413 


Der  deprimirte  Kranke  wacht  zur  gegebenen  Zeit  wider  sonstige  Ge- 
wohnheit sehr  früh  auf  und  ist  nun  manisch;  der  Erregte  fühlt  sich 
eines  Morgens  müde,  abgeschlagen,  gehemmt.  Häufiger  sieht  man 
den  Wechsel  der  Zustände  sich  schon  von  langer  Hand  vorbereiten. 
Der  Gesichtsausdruck  und  die  Haltung  des  bis  dahin  depfimirten 
Kranken  wird  allmählich  freier,  sein  Auge  lebhafter;  Esslust  und 
Ernährung  heben  sich.  Seine  Haut  gewinnt  die  frühere  Spannung 
seine  Bewegungen  ihre  Spannkraft  wieder.  Nach  und  nach  wird 
er  zugänglicher,  zeigt  mehr  Antheilnahme  für  seine  Umgebung, 
beginnt  sich  andauernder  zu  beschäftigen,  fühlt  sich  frischer  und 
wohler,  äussert  die  Sehnsucht  nach  Freiheit  und  Berufsthätigkeit, 
..nach  Frühling  und  Waldesgrün“,  fasst  seine  Entlassung  ins  Auge 
und  macht  oft  längere  Zeit  hindurch  den  Eindruck  eines  Genesenden 
Eine  entlassene  Kranke  schrieb  in  diesem  Zustande,  sie  wolle  als 
Wärterin  eintreten,  „aber  nur  auf  der  ruhigen  Abtheilung“. 

Die  krankhafte  Natur  der  anscheinenden  Besserung  deutet  sich 
oft  schon  jetzt  an.  „Es  geht  mir  unnatürlich  gut,“  erklärte  mir  eine 
später  durch  Selbstmord  endende  Kranke;  sie  fühle  sich  um  Jahre 
verjüngt,  schlafe  ganz  kurze  Zeit  und  sei  dabei  doch  immer  frisch: 
„so  kann  es  doch  eigentlich  nicht  weiter  gehen“.  Einzelne  Hand- 
lungen tragen  vielleicht  bereits  einen  manischen  Anstrich,  während 
im  ganzen  noch  die  Zeichen  der  Hemmung  überwiegen.  Ich  be- 
handelte eine  Kranke,  die  nach  schwerer  Depression  trotz  völliger 
Besonnenheit  kaum  im  Stande  war,  ein  Wort  hervorzubringen,  dabei 
körperlich  aufblühte,  häufig  lächelte  und  zum  allgemeinen  Erstaunen 
plötzlich  blitzschnell  eine  Ohrfeige  austheilte.  Eine  Dame,  die  noch 
von  schweren  Verfolgungsideen  geplagt  wurde,  erfasste  unversehens 
eine  Bauersfrau,  um  mit  ihr  um  den  Tisch  herumzutanzen.  Eine 
andere  hatte,  als  sie  verzweifelnd  an  einem  Putzgeschäfte  vorüber- 
ging, den  Einfall,  sich  ein  Ballkleid  zu  kaufen,  und  erschien  zur 
grössten  Verwunderung  ihrer  Angehörigen  in  demselben  zwei  Tage 
später  auf  einem  Balle,  den  sie  bereits  abgesagt  hatte.  Mehr  und  mehr 
gewinnt  dann  die  gehobene  Erregung  die  Oberhand.  „Charfreitag 
ist  heute,  aber  bei  mir  ist  schon  Ostern  geworden,“  schrieb  eine 
Kranke  in  ihr  Tagebuch. 

In  ähnlicher  Weise  spielt  sich  die  entgegengesetzte  Wandlung 
ab.  Das  Körpergewicht,  welches  sich  trotz  der  Erregung  in  der 
letzten  Zeit  gehoben  hatte,  beginnt  langsam  wieder  zu  sinken.  Nun 


414 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


lässt  die  Vielgeschäftigkeit  allmählich  nach;  die  grossen  Pläne  treten 
in  den  Hintergrund;  der  Kranke  hat  „keinen  solchen  Muth  mehr“: 
die  Stimmung  wird  ruhiger,  ernster,  trüber.  Ein  junger  Jurist,  der 


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Schriftprobe  XU.  Manisch-depressives  Irresein:  Erregung  nach  Streit 
mit  einer  Wärterin  (13.  H.  92,  Mittags  2 U.). 


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Schriftprobe  XIH.  Depression  (14.  II.  92,  Morgens  8 U.). 


in  der  Erregung  eine  Preisarbeit  verfasst  hatte,  besass  iu  der  folgenden 
Verstimmung  nicht  den  Muth,  sie  einzureichen.  Zum  Glücke  kehrte 
die  Erregung  noch  rechtzeitig  wieder,  und  er  gewann  den  Preis. 
Hie  und  da  tauchen  einzelne  Betrachtungen  über  getäuschte  Hoff- 


Wechsel  der  Zustände. 


415 


nungen,  verfehlte  Anläufe,  schwere  Lebenserfahrungen  auf;  die  Be- 
wegungen werden  Langsamer,  schlaffer,  kraftloser,  der  Gesichtsausdruck 
matt,  abgespannt,  der  Blick  müde,  und  nun  treten  auch  alle  die 
übrigen  Erscheinungen  der  früheren  Depressionszustände  eine  nach 
der  andern  wieder  hervor. 

Der  gesetzmässige  Verlauf  dieser  allmählichen  Uebergänge  ist 
oft  in  hohem  Grade  schlagend.  Bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  der 
Lebensführung,  Kleidung,  Haartracht,  in  alle  Neigungen  und  Ab- 
neigungen hinein  pflegt  sich  der  durchgreifende  Gegensatz  der  Zu- 
stände zu  erstrecken,  so  dass  man  glauben  möchte,  zwei  vollständig 
verschiedenartige  Menschen  vor  sich  zu  haben.  Sehr  deutlich  wird 
das  bei  Vergleichung  der  Figuren  1 und  2 auf  Tafel  VII.  welche 


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Hypomanie  | Hemmung  | Hypomanie  | Hemmung  | 

Curve  XI. 

Manisch-depressives  Irresein:  2 Doppelanfalle. 


dieselbe  Kranke  einmal  im  Stupor  und  wenige  Wochen  später  in 
hypomanischer  Erregung  darstellt,  das  letztere  Mal  mit  riesigem 
Strausse  an  der  Brust  und  geziertem  Lächeln.  Ebenso  sind  die 
Schriftproben  XH  und  XHI  geeignet,  diesen  Wechsel  zu  zeigen. 
Die  erste  mit  den  flüchtigen,  zusammenhangslosen,  stark  abge- 
kürzten Zügen  ist  in  der  Erregung  nach  einem  Streite  mit  der 
Wärterin  geschrieben;  die  zweite  dagegen,  welche  in  der  kleinen, 
gedrängten,  stark  geneigten  Schrift  die  eingetretene  Depression  an- 
deutet, stammt  vom  Morgen  des  nächsten  Tages.  Auch  der  Unter- 
schied in  Ton  und  Inhalt  der  kleinen  Briefe  ist  ungemein  be- 
zeichnend. 


416 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Den  Gang  des  Körpergewichtes  in  zwei  Doppelanfällen  von 
einer  Kranken  mit  leichter  Hypomanie  und  einfacher  Hemmung 
zeigt  die  Curve  XI.  Wir  erkennen,  wie  dasselbe  während  der  Er- 
regung ansteigt  und  genau  mit  dem  Einsetzen  der  Verstimmung 
wieder  sinkt. 

Die  Prognose  des  manisch-depressiven  Irreseins  ist  für  den 
einzelnen  Anfall  eine  günstige.  Seit  langer  Zeit  gelten  namentlich 
die  Heilungsaussichten  bei  manischer  Erregung  als  recht  gute.  In 
der  That  kann  man  auch  nach  sehr  langer  Dauer  der  Erregung  oder 
Verstimmung  bei  zuverlässiger  Diagnose  noch  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit auf  völlige  Wiederherstellung  hoffen.  Insbesondere 
darf  man  sich  nicht  durch  die  anscheinend  während  der  Manie  oder 
nach  schwerer  Tobsucht  öfters  bestehende  geistige  Trägheit  täuschen 
lassen,  die  gewöhnlich  nur  der  Ausdruck  der  Denkhemmung  ist 
und  sich  später,  wenn  auch  langsam,  völlig  wieder  auszugleichen 
pflegt.  Dagegen  müssen  wir  es  in  jedem  Falle,  der  dem  Formen- 
kreise des  manisch-depressiven  Irreseins  angehört,  für  äusserst 
wahrscheinlich  halten,  dass  der  erste  Anfall  nicht  der  letzte  sein 
wird,  sondern  dass  die  Krankheit  sich  mehrfach  oder  selbst  sehr 
häufig  im  Leben  wiederholen  wird.  Leider  lässt  sich  der  Zeitpunkt 
der  Wiederkehr,  wenn  sich  nicht  schon  eine  gewisse  Regelmässig- 
keit herausgestellt  hat,  bis  jetzt  auch  nicht  annähernd  Voraussagen. 
Im  allgemeinen  freilich  dürfte  bei  den  sehr  früh  und  ohne  äusseren 
Anlass  einsetzenden  Fällen  auf  vielfache  Wiederkehr  der  Anfälle 
mit  kurzen  Pausen  zu  rechnen  sein.  Tritt  jedoch  das  Leiden  erst 
später  und  im  Anschlüsse  an  tiefer  greifende  Schädigungen,  etwa 
im  Wochenbette,  auf,  so  pflegen  die  späteren  Anfälle  weniger  zahl- 
reich zu  sein.  Im  Klimakterium  muss  man  auf  die  Wiederkehr 
früherer  Anfälle  gefasst  sein;  die  Formen,  die  in  diesem  Alter  zu- 
erst auftreten,  schienen  mir  eine  gewisse  Neigung  zu  mehrfacher 
Aneinanderreihung  wechselnder  Anfälle  zu  haben. 

Auch  bei  sehr  langer  Dauer  der  Krankheit  entwickelt  sich  kein 
eigentlicher  Schwachsinn,  wenn  die  Anfälle  selbst  in  milden  Formen 
verlaufen.  Im  Gegentheil  giebt  es  zahlreiche  derartige  Kranke,  die 
in  ihren  Zwischenzeiten  recht  tüchtige  geistige  Leistungen  aufzuweisen 
haben.  Kahl  bäum  hat  diese  leichteren  Gestaltungen  der  Krankheit 
als  „Cyclothymie“  den  schwereren,  zum  Schwachsinn  führenden 
gegenübergestellt,  die  er  als  „Vesania  typica  circularis“  bezeichnete. 


Prognose. 


417 


Von  der  Berechtigung  einer  derartigen  grundsätzlichen  Scheidung 
habe  ich  mich  nicht  zu  überzeugen  vermocht,  zumal  wir  in  dem- 
selben Krankheitsverlaufe  ganz  leichte  und  sehr  schwere  Anfälle 
nach  einander  auftreten  sehen.  Auch  giebt  es  Kranke  genug  mit 
heftigen,  aber  seltenen  Tobsuchtsanfällen,  die  keine  Einbusse  ihrer 
geistigen  Fähigkeiten  erkennen  lassen.  Es  ist  jedoch  richtig,  dass 
namentlich  sehr  lange  anhaltende  und  häufige,  schwere  Krankheits- 
anfälle auf  die  Dauer  nicht  ohne  schädigenden  Einfluss  bleiben. 
Solche  Kranke  sind  während  der  Zwischenzeiten  zwar  besonnen, 
orientirt,  behalten  ein  leidliches  Gedächtnis«,  aber  sie  werden 


Curve  XL 

Manisch-depressives  Irresein.  Käscher,  ununterbrochener  Wechsel  von  Tobsucht  und  Stumpfheit. 
Bei  jedem  Einsetzen  der  Erregung  Sinken  des  Körpergewichtes. 


schliesslich  dauernd  urtheilslos,  reizbar,  ungemein  schwankend  in 
ihrer  Stimmung,  oder  stumpf,  gleichgültig  und  willenlos.  Begel- 
mässig  handelt  es  sich  dabei  um  Kranke,  bei  denen  das  Leiden  in 
der  Entwicklungszeit  begonnen  hat,  während  die  später  einsetzenden 
Formen  meistens  leichter  verlaufen. 

Eine  ganz  besonders  ungünstige  Bedeutung  dürfte  die  Kürze 
der  Zwischenzeit  zwischen  den  Anfällen  haben.  Wir  kennen 
eine  kleine  Gruppe  von  Fällen,  bei  denen  Anfälle  wie  Zwischen- 
zeiten nur  wenige  Wochen  andauern,  so  dass  ein  ziemlich 
regelmässiger  Wechsel  zwischen  Erregung  und  Beruhigung  ent- 
steht Das  eigentliche  Krankheitsbild  ist  fast  immer  das  einer 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  n.  Band.  27 


418 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


ganz  acut  sich  entwickelnden  und  rasch  verlaufenden  Tobsucht. 
Beim  weiblichen  Geschlechte  schliesst  sich  der  Ausbruch  der- 
selben häufig  an  die  M enstrualperioden  an,  in  der  Weise,  dass 
mit  dem  Eintritte  der  Menses  oder  kurz  vorher  auch  der  Anfall 
beginnt,  um  dann  etwa  1 — 2 Wochen  anzudauern,  bis  er  einer  ge- 
wöhnlich etwas  längeren  freien  Zwischenzeit  weicht  (menstruelles 
Irresein).  Nachdem  höchstens  leichte  Andeutungen  des  beginnenden 
Anfalles,  grundloses  Lächeln,  Blitzen  der  Augen,  Herumwandern, 
voraufgegangen  sind,  werden  die  Kranken  von  einem  Tage  zum 
andern,  oft  mitten  in  der  Nacht,  unruhig,  aufgeregt,  verwirrt,  stark 
ideenflüchtig,  sind  in  gehobener  Stimmung,  reizbar  und  zeigen  leb- 
haften Beschäftigungsdrang.  Sie  tanzen  und  singen,  fangen  an,  zu 
zerreissen  und  zu  schmieren,  ihre  Umgebung  zu  necken,  sind  oft 
geschlechtlich  stark  erregt,  essen  in  ihrer  Unruhe  wenig  und  schlafen 
fast  gar  nicht.  Das  Körpergewicht  nimmt  dabei  regelmässig 
rasch  ab,  bisweilen  um  5 — 8 Pfund  in  24  Stunden  (Fürstner). 
Die  Curve  XI  veranschaulicht  den  Gang  desselben  während  einer 
längeren  Reihe  von  Anfällen. 

Der  Eintritt  der  Beruhigung  vollzieht  sich  in  der  Regel  ebenso 
schnell  wie  derjenige  der  Erregung,  wenn  man  auch  meist  schon 
gegen  das  Ende  des  Anfalles  eine  leichte  Abnahme  der  Ideenflucht 
und  der  Unruhe  bemerken  kann.  Mehrfach  schien  mir  die  anfäng- 
lich heitere  und  iibermüthige  Stimmung  späterhin  mehr  reizbar  und 
unwirsch  zu  werden.  Der  Kranke  ist  nun  mit  einem  Male  geordnet, 
aber  auffallend  still,  gleichgültig,  stumpf  und  gewinnt  in  der  Regel 
keine  vollständige  Einsicht  in  die  krankhafte  Natur  seines  Zustandes, 
wenn  er  sich  auch  vieler  Einzelheiten  desselben  noch  gut  erinnert- 
Yielmehr  sucht  er  die  überstandene  Aufregung  als  etwas  ganz  Harm- 
loses oder  als  durch  die  Umgebung,  die  Zurückhaltung  in  der  An- 
stalt und  dergl.  veranlasst  hinzustellen.  Eine  gewisse  körperliche 
Erholung  pflegt  sich  dann  rasch  zu  vollziehen,  doch  bleibt  das 
Körpergewicht  auch  während  der  nun  folgenden  Zwischenzeit  häufig 
niedriger,  als  in  früheren,  gesunden  Zeiten. 

Gerade  diese  Form  führt  gewöhnlich  ziemlich  rasch  zur  Ver- 
blödung, wenn  nicht  nach  einer  Reihe  von  Anfällen  ein  Stillstand 
des  Leidens  eintritt.  In  diesem  Falle  pflegen  späterhin  neue  Gruppen 
von  Anfällen  aufzutreten,  die  durch  längere  Zwischenzeiten  von 
einander  geschieden  sind.  Folgen  die  Anfälle  dauernd  rasch  auf 


Erkennung. 


419 


einander,  so  zeigen  sie  regelmässig  die  Neigung,  sich  im  Laufe  der 
Zeit  immer  mehr  auszudehnen,  und  es  kommt  auf  diese  Weise  all- 
mählich zu  einem  Zustande  dauernder  ideenflüchtiger  Verwirrtheit 
und  Aufregung,  der  nur  hie  und  da  in  unregelmässigen,  selteneren 
Zwischenräumen  durch  plötzlich  eintretende  und  ebenso  plötzlich 
wieder  abschneidende  ruhigere  Zeiten  unterbrochen  wird. 

Das  gesammte  Seelenleben  der  Kranken  pflegt  bei  diesem  Ver- 
laufe sehr  empfindlich  zu  leiden.  Verstand  und  Gedächtniss  nehmen 
stark  ab,  wenn  die  Kranken  auch  bisweilen  in  den  Zwischenzeiten 
noch  durch  einzelne  Ueberbleibsel  aus  gesunden  Tagen  überraschen. 
Das  Urtheil  über  die  Umgebung  und  namentlich  über  den  eigenen 
Zustand  ist  stets  äusserst  unklar:  die  Kranken  halten  sich  schon 
am  ersten  Tage  der  eingetretenen  Beruhigung  für  völlig  gesund  und 
drängen  auf  Entlassung.  Ebenso  hat  die  gemüthliche  Seite  aus- 
nahmslos sehr  gelitten.  Ist  auch  oft  die  äussere  Form  ihrer  Gefühls- 
beziehungen, annähernd  wenigstens,  die  frühere  geblieben,  so  ver- 
mag sie  doch  den  tieferblickenden  Beobachter  nicht  über  die  innere 
Leere  und  Theilnabmlosigkeit  dieser  schwachsinnig  gewordenen 
Kranken  hinwegzutäuschen. 

Die  Erkennung  des  manisch-depressiven  Irreseins  ist  leicht 
in  denjenigen  Fällen,  in  denen  bereits  eine  Reihe  von  wechselnden 
oder  gleichartigen  Anfällen  voraufgegangen  ist.  Immerhin  ist  zu 
bemerken,  dass  auch  in  der  Paralyse  und  in  der  Dementia  praecox 
ein  ähnlicher  Wechsel  zwischen  Erregung  und  trauriger  Verstimmung 
oder  Stupor  Vorkommen  kann  wie  hier.  Die  Unterscheidung  hat  in 
solchen  Fällen  die  besonderen  klinischen  Zeichen  der  Anfälle  selbst 
zu  berücksichtigen,  auf  die  wir  später  näher  eingehen  werden.  Die 
leichteren  und  leichtesten  Formen  des  manisch-depressiven  Irreseins 
gehen,  wie  es  scheint,  ganz  unmerklich  in  gewisse  Entartungs- 
zustände über,  bei  denen  wir  häufig  genug  mehr  oder  weniger 
regelmässige  Schwankungen  in  der  Gemiithslage,  in  der  gesammten 
Lebensauffassung  und  im  Handeln  beobachten.  Solche  Zeiten 
grundloser  Verstimmung  oder  ungestümer  Ausgelassenheit  können 
lange  Zeit  für  einfache  Launen  gehalten  und  mit  allerlei  Zufällig- 
keiten in  Verbindung  gebracht  werden.  Derartige  Fälle,  die  viel- 
leicht niemals  in  die  Hände  des  Irrenarztes  kommen,  sondern 
höchstens  wegen  „Nervosität“  die  verschiedensten  Curen  durchmachen, 
sind  ungemein  häufig.  Trifft  dann  die  Cur  gerade  mit  dem  Um- 

27* 


420 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


schlage  der  Stimmung  zusammen,  so  erzielt  sie  einen  glänzenden 
Erfolg.  Auch  hier  kann  übrigens  die  Umgebung  jederzeit  einmal 
durch  einen  schwereren  Anfall  überrascht  werden,  wenn  auch 
meistens  das  Lehen  in  einem  Wechsel  zwischen  allerlei  tollen 
Streichen  und  der  vermeintlichen  Reue  über  dieselben,  zwischen 
fieberhafter  Unternehmungslust  und  den  anscheinenden  Nach  wehen 
der  Ueberarbeitung  hinzufliessen  pflegt. 

Weit  schwieriger,  als  aus  dem  Gesammtverlaufe,  lässt  sich  das 
manisch-depressive  Irresein  aus  dem  einzelnen,  besonders  dem  ersten 
Anfalle  erkennen;  manche  Irrenärzte  halten  diese  Diagnose  über- 
haupt für  unmöglich.  Dem  gegenüber  glaube  ich  ohne  weiteres  be- 
haupten zu  können,  dass  zunächst  alle  wirklich  manischen  Anfälle 
nichts  anderes  sind,  als  Erscheinungsformen  der  hier  beschriebenen 
Erkrankung.  Auch  hier  giebt  es  Formen,  deren  Aeusserungen 
so  wenig  aus  dem  Rahmen  des  Gesunden  heraustreten,  dass 
sie  nur  von  dem  Erfahrenen  richtig  beurtheilt  werden  können. 
„Sie  wird  von  Leuten,  die  sie  nicht  kennen,  blos  als  lebens- 
lustig bezeichnet,“  schrieb  uns  die  sehr  verständige  Mutter  einer 
solchen  Kranken.  Massgebend  ist  hier  stets  der  Umstand,  dass  die 
erhöhte  Geschäftigkeit  und  Ruhelosigkeit  nicht  von  Jugend  auf  be- 
standen, sondern  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkte  eingesetzt  hat, 
vielleicht  auch  zu  wiederholten  Malen  dageweseu  und  immer  wieder 
verschwunden  ist. 

Die  Abgrenzung  der  manischen  Erregung  von  der  katato- 
nischen und  paralytischen  wie  von  den  Erschöpfungspsychosen 
haben  wir  bei  der  Besprechung  jener  Krankheitsformen  bereits 
ausführlicher  gewürdigt.  Den  hysterischen  Erregungszuständen, 
auf  welche  die  Erscheinungen  bisweilen  hindeuten,  fehlt  die 
Ideenflucht  und  die  grosse  Ablenkbarkeit;  die  Erregung  schliesst 
sich  mehr  an  bestimmte  Anlässe  an  und  tritt  in  Form  einzelner 
Gefühlsausbrüche  auf  gegenüber  dem  ganz  allgemeinen  manischen 
Bethätigungsdrange.  Zudem  schwindet  die  hysterische  Aufregung 
jeweils  nach  kurzer  Dauer  rasch  und  vollständig,  während  auch  die 
leichtesten  Formen  des  manischen  Anfalles  ungleich  länger  an- 
dauem  und  erst  allmählich  zur  Gleichgewichtslage  zurückkehren. 
Die  deliriösen  Anfälle  können  mit  epileptischen  Dämmerzuständen 
verwechselt  werden.  Davor  schützt  die  ausgeprägte  Ideenflucht  und 
die  Ablenkbarkeit  der  Kranken.  Der  epileptische  Gedankengang  ist 


Erkennung. 


421 


in  den  Delirien  einförmig  und  ganz  durch  Wahnvorstellungen  und 
Sinnestäuschungen  beherrscht,  die  Stimmung  vorwiegend  ängstlich, 
reizbar  oder  verzückt,  während  die  manischen  Kranken  deutlichen 
Wechsel  der  Stimmung  mit  Ueberwiegen  der  heiteren  Gefühls- 
betonuugen  darzubieten  pflegen. 

Viele  der  hier  beschriebenen  manischen  wie  depressiven  Zu- 
stände werden  noch  immer  als  „acute  Paranoia“  bezeichnet.  Dass 
man  sich  durch  diese  Auffassung  selber  den  richtigen  Weg  zu 
einer  Prognose  verbaut,  wird  hier  keiner  weiteren  Ausführung  mehr 
bedürfen.  Sobald  Wahnbildungen,  und  seien  sie  noch  so  „paranoisch“, 
von  den  Zeichen  der  manischen  Erregung  oder  von  psychomotorischer 
Hemmung  begleitet  sind,  handelt  es  sich  stets  um  Anfälle  des 
manisch-depressiven  Irreseins. 

Die  depressiven  Zustände  müssen  vor  allem  von  den  einleiten- 
den Verstimmungen  der  Dementia  praecox  abgegrenzt  werden. 
Wie  wir  schon  früher  ausgeführt  haben,  liegt  hier  der  Schwerpunkt 
auf  der  Unterscheidung  von  Negativismus  und  psychomotorischer 
Hemmung,  die  im  gegebenen  Falle  recht  schwierig  sein  kann. 
Weiterhin  ist  die  Besonnenheit  und  das  Fehlen  der  Denkstörung 
sowie  namentlich  die  gemüthliche  Stumpfheit  bei  der  Dementia 
praecox  gegenüber  der  Benommenheit,  Unbesinnlichkeit  und  traurigen 
oder  ängstlichen  Verstimmung  bei  der  hier  besprochenen  Krankheit 
zu  berücksichtigen.  Rasches  Auftreten  sehr  unsinniger  Wahn- 
bildungen und  zahlreicher  Sinnestäuschungen  ohne  stärkere  Bewusst- 
seinstrübung und  Verstimmung  spricht  sehr  für  Dementia  praecox. 

Langdauernde  Stuporzustände  können  als  Schwachsinn  aufgefasst 
werden.  Ich  kenne  eine  Kranke,  die  nach  zwei  Anfällen  von  Depression 
und  nachfolgender  Tobsucht  später  an  Erregung  mit  folgendem 
Stupor  erkrankte  und  als  unheilbar  der  Pflegeanstalt  überwiesen 
wurde.  Dort  genas  sie  wider  Erwarten  und  ist  nach  einer  freien 
Zwischenzeit  von  15  Jahren  nochmals  erkrankt,  dieses  Mal  unter 
dem  Bilde  des  manischen  Stupors.  Die  Entstehungsgeschichte  und 
der  Nachweis  von  Hemmungserscheinungen  auf  dem  Gebiete  des 
Denkens  und  Handelns  wird  uns  vor  solchen  Irrthümern  bewahren 
können.  Wirklich  tiefe  und  rasche  Verblödungen  scheinen  bei 
manisch-depressiven  Kranken  überhaupt  nicht  vorzukommen;  darum 
darf  man  auch  nach  sehr  langer  Dauer  noch  auf  annähernde  Wieder- 
herstellung rechnen. 


422 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Die  Abgrenzung  der  Depressionszustände  von  denen  der  Paralyse 
und  von  der  Melancholie  haben  wir  bereits  eingehend  besprochen. 
Die  leichtesten  Formen  werden  vielfach  für  Neurasthenie,  Hysterie, 
Hypochondrie  gehalten,  wie  Hecker  sehr  zutreffend  betont  hat,  da 
die  Kranken  in  den  zugehörigen  manischen  Zeiten  für  gesund  gelten- 
Sie  haben  jedoch  in  der  Depression,  die  sie  zum  Arzte  treibt,  recht 
häufig  selbst  ein  deutliches  Gefühl  für  die  Krankhaftigkeit  der  Er- 
regung, die  sie  bisweilen  sehr  fürchten.  Es  gelingt  daher  meist 
leicht,  den  Wechsel  der  Zustände,  die  Wiederkehr  der  einzelnen 
Abschnitte  und  damit  die  Natur  des  vorliegenden  Leidens  auf- 
zudecken. Die  einfache,  ohne  Anlass  hereinbrechende  Entschluss- 
unfähigkeit ist  so  eigenartig,  dass  sie  oft  ohne  weiteres  den  richtigen 
Schlüssel  für  die  Deutung  des  Zustandes  liefert. 

Am  häufigsten  werden  die  Mischzustände  verkannt.  Die  Manien 
mit  Denkhemmung  betrachtet  man  vielfach  als  „Imbecillität  mit  Er- 
regung“; davor  schützen  die  Zeichen  von  Ideenflucht,  die  Unbesinn- 
lichkeit der  Kranken  und  ihre  tobsüchtigen  Handlungen  bei  geringer 
Unruhe.  Der  manische  Stupor  kann  leicht  für  katatonisch  gehalten 
werden.  Indessen  die  Kranken  sind  nicht  negativistisch.  Wo  sie 
etwa  widerstreben,  liegt  eine  ärgerliche,  gereizte  Stimmung  zu  Grunde, 
die  sich  dann  auch  in  gewaltthätigen  Handlungen  oder  Schimpf- 
ausbrüchen kundgiebt.  Die  Kranken  beachten  die  Umgebung  viel 
mehr,  werden  in  ihrem  Thun  und  Lassen  deutlich  durch  die  Um- 
stände beeinflusst,  im  Gegensätze  zu  der  stumpfen  oder  geflissent- 
lichen Gleichgültigkeit  der  Katatoniker.  Ihre  gelegentlichen  Aeusse- 
rungen  zeigen  grosse  Gedankenarmuth,  aber  nicht  die  Stereotypie 
und  unsinnige  Beziehungslosigkeit  jener  Kranker.  Auch  die  Er- 
regungen führen  hier  zu  zielbewussten,  oft  scherzhaften  und  der 
Sachlage  angepassten  Handlungen,  während  wir  es  dort  mit  plan- 
losem, triebartigem,  oft  einförmigem  Bewegungsdrange  zu  thun 
haben.  Die  nörgelnden  Erregungszustände  unserer  Kranken  erweisen 
ihre  Zugehörigkeit  zum  manischen  Formenkreise  durch  die  Weit- 
schweifigkeit und  Ideenflucht;  zudem  bilden  sie  meist  den  Ueber- 
gang  zwischen  ausgeprägter  Manie  und  Verstimmung,  so  dass  dadurch 
ihre  richtige  Deutung  erleichtert  wird. 

Eine  ursächliche  Behandlung  des  manisch-depressiven,  tief  in 
der  Persönlichkeit  wurzelnden  Irreseins  giebt  es  nicht.  Dass  eine 
sehr  gleichmässige  Lebensweise  in  geschützten  Verhältnissen,  nament- 


Behandlung. 


423 


lieh  auch  unter  Vermeidung  von  Alkohol,  eine  gewisse  vorbeugende 
Wirkung  bei  gefährdeten  Menschen  haben  kann,  darf  im  Hinblicke 
auf  den  vielfach  zweifellosen  Einfluss  äusserer  Schädigungen  als 
wahrscheinlich  angesehen  werden.  Auch  in  dem  ruhigen  Anstalts- 
leben sieht  man  oft  die  Anfälle  verhältnissmässig  milde  verlaufen. 
Wie  weit  es  möglich  ist,  den  einzelnen  drohenden  Anfall  im  Ent- 
stehen zu  unterdrücken,  wissen  wir  noch  nicht.  Kohn  hat  der- 
artige Versuche  namentlich  für  die  Formen  mit  kurzen,  rasch  auf 
einander  folgenden  Anfällen  angestellt,  bei  denen  man  den  Eintritt 
einer  neuen  Verschlechterung  etwas  genauer  vorhersehen  kann.  Er 
empfahl  die  Einspritzung  von  Chininlösung,  besonders  aber  sehr 
grosse  Gaben  von  Bromsalzen.  Man  giebt  12 — 15  gr  täglich,  wo- 
möglich schon  einige  Tage  vor  dem  erwarteten  Ausbruche  des 
Anfalls  beginnend,  dessen  erste  Anzeichen  man  recht  genau  be- 
achten soll.  Es  gelingt  auf  diese  Weise  bisweilen  mit  ganz  über- 
raschender Zuverlässigkeit,  das  Auftreten  der  Erregung  zu  ver- 
hindern. Nachdem  die  besonders  gefährlichen  Tage  vorüber- 
gegangen sind,  geht  man  ganz  allmählich  mit  der  Gabe  des 
Mittels  herunter,  um  bei  der  Annäherung  an  den  nächsten  zu  er- 
wartenden Anfall  von  neuem  zu  der  angeführten  grossen  Gabe 
anzusteigen  u.  s.  f.  Neuerdings  hat  Hitzig  in  einigen  Fällen  die 
Anwendung  von  Atropineinspritzungen  versucht.. 

Die  Behandlung  der  manischen  Erregung  wird  vor  allem 
möglichst  die  äusseren  Beize  abzuhalten  haben.  Dieser  Anzeige 
dient  die  Versetzung  in  die  Anstalt,  von  der  man  in  ganz  leichten 
Formen  absehen  darf,  sobald  die  Freiheitsbeschränkung  schlecht  er- 
tragen wird  und  nicht  zu  schweren  Schädigungen  und  Unzuträg- 
lichkeiten führt.  Da  wir  ferner  wissen,  dass  die  Erregung  sich 
durch  die  Thätigkeit  immer  mehr  steigert,  werden  wir  den  Be- 
schäftigungsdrang nach  Möglichkeit  beschränken  und  alle  un- 
ruhigen Kranken  im  Bette  halten,  was  namentlich  bei  körper- 
licher Schwäche  und  Blutleere  dringend  anzurathen  ist.  Bei 
sehr  starker  Erregung  empfiehlt  sich  statt  dessen  das  Dauerbad. 
Hat  man  den  Kranken  erst  einmal  an  diese  Einrichtung  ge- 
wöhnt, was  im  Beginne  vorübergehend  die  Anwendung  von  Sulfonal 
oder  selbst  Hyoscin  erfordern  kann,  so  ist  die  wohlthätige  und 
beruhigende  Wirkung  des  Dauerbades  eine  geradezu  überraschende. 
Alle  die  sonst  so  gefürchteten  Uebelstände,  die  Isolirung,  das 


424 


IX.  Das  manisch-depressive  Irresein. 


Schmieren,  Zerstören,  die  Gewalttätigkeit  lassen  sich  durch  diese 
Massregel  ganz  oder  doch  nahezu  ganz  vermeiden.  Nach  Ab- 
nahme der  Erregung  lässt  sich  die  Badebehandlung  recht  gut 
mit  zeitweiligem  Aufenthalte  im  Freien  verbinden.  Wo  bei  sehr 
stürmischer  Tobsucht  die  Gefahr  eines  Collapses  besteht,  zieht 
man  Alkoholica  (Grog,  Glühwein,  Champagner),  auch  Campher 
Moschus,  Aether,  letztere  allerdings  mit  meist  nur  ganz  vorüber- 
gehendem Erfolge,  in  Anwendung;  gleichzeitige  Herzschwäche  lässt 
vorsichtige  Gaben  von  Digitalis  oder  Coffein  rathsam  erscheinen. 
Bei  andauernder  hochgradiger  Schlaflosigkeit  wird  man  die  Schlaf- 
mittel, vielleicht  auch  das  Hyoscin,  nicht  immer  umgehen  können. 
Für  die  Behandlung  sehr  schleppend  verlaufender  Manien  ist  von 
J o 1 ly  das  Opium  empfohlen  worden. 

Besondere  Aufmerksamkeit  erfordert  die  Ernährung  der  Kranken, 
die  vielfach  unter  ihrer  Unruhe  Noth  leidet.  Reichliche,  leicht  ver- 
dauliche Nahrung  soll  häufig  gereicht,  nach  Umständen  mit  grosser 
Geduld  eingegeben  werden.  In  schweren  Fällen  empfehlen  sich 
tägliche  Wägungen,  um  genau  den  Stand  des  Körpergewichtes  be- 
urtheilen  und  im  Nothfalle  rechtzeitig  mit  der  Sonden ernährung 
eingreifen  zu  können. 

Die  psychische  Behandlung  des  Tobsüchtigen  hat  natürlich 
auf  seine  Reizbarkeit  Rücksicht  zu  nehmen.  Ruhige  Freundlichkeit, 
im  geeigneten  Augenblicke  mehr  scherzhaftes  Eingehen  auf  die 
heitere  Stimmung  desselben,  vorsichtiges,  geduldiges  Laviren  er- 
leichtern den  Verkehr  ungemein  und  machen  oft  den  in  un- 
geschickten Händen  recht  gefährlichen  und  widerspenstigen  Kranken 
lenksam  und  gutmüthig.  Beim  Eintritte  der  Beruhigung  wird  auf 
die  Vermeidung  äusserer  Anreizungen  und  Verführungen  besonders 
Bedacht  genommen  werden  müssen.  Nicht  unerhebliche  Schwierig- 
keiten können  bei  Festsetzung  des  Entlassungszeitpunktes  entstehen, 
da  die  Kranken  oft  sehr  ungeduldig  sind  und  auf  alle  Weise  hinaus- 
drängen. Selbst  ganz  beruhigte  Kranke  können  aber  in  der  Freiheit, 
besonders  unter  dem  Einflüsse  des  Alkohols,  sofort  wieder  erregt 
werden  und  die  gefährlichsten  Streiche  begehen.  Den  sichersten 
Anhalt  für  die  Beurtheilung  des  Zustandes  giebt  auch  hier  das 
Körpergewicht. 

In  den  Depressionszustiinden  pflegt  man  Opium  oder  Morphium, 
Bromsalze,  hie  und  da  auch  Schlafmittel,  abendliche  Bäder  mit 


Behandlung. 


425 


kühlen  Ueberrieselnngen,  gelegentlich  vorsichtige  Massage  in  An- 
wendung zu  ziehen;  dazu  kommt  die  Sorge  für  kräftige  Ernährung, 
Regelung  der  Verdauung,  Bettruhe  mit  regelmässigem  Aufenthalte 
im  Freien,  endlich  sorgfältige  Ueberwachung,  namentlich  in  den 
Uebergangszeiten  zwischen  Erregung  und  Verstimmung. 

Die  psychische  Behandlung  wird  sich  wesentlich  auf  die  Fern- 
haltung gemüthlicher  Reize  zu  beschränken  haben.  Besuche  von 
Angehörigen,  lange  Gespräche,  Briefe,  geschäftliche  Auseinander- 
setzungen sind  nach  Möglichkeit  zu  vermeiden.  Besonderer  trösten- 
der Zuspruch  ist  auf  der  Höhe  der  Verstimmung  meist  ziemlich 
wirkungslos;  späterhin,  wenn  die  Stimmung  sich  aufhellt,  erscheint 
sein  Nutzen  gewiss  oft  grösser,  als  er  in  Wirklichkeit  ist.  In  leichten 
Fällen  kann  gegen  die  unangenehmen  Empfindungen,  die  Schlaf- 
losigkeit und  Niedergeschlagenheit  hypnotische  Beeinflussung  gewisse 
Dienste  leisten.  Grosse  Vorsicht  ist  bei  deprimirten  Kranken  hin- 
sichtlich der  Entlassung  aus  dem  Schutze  der  Anstalt  anzurathen. 
Wo  Selbstmordneigung  vorhanden  ist,  pflegt  sie,  wie  schon  früher 
erwähnt,  meist  nicht  während  der  stärksten  Hemmung,  sondern 
gerade  mit  dem  Nachlasse  derselben  zur  That  zu  führen,  so  lange 
dabei  die  verzweifelte  Stimmung  noch  fortbesteht.  Oft  wissen  der- 
artige Kranke  die  letzten  Reste  ihrer  trüben  Gemüthslage  mit 
grosser  Geschicklichkeit  vor  dem  Arzte  zu  verbergen,  um  das  lange 
geplante  Vorhaben  sicherer  zur  Ausführung  bringen  zu  können. 


X.  Die  Verrücktheit  (Paranoia)*). 


Unter  dem  Namen  der  Paranoia  fasst  eine  grosse  Zahl  Deutscher 
Irrenärzte  alle  diejenigen  functionellen  Geisteskrankheiten  zusammen, 
bei  denen  die  Störung  sich  hauptsächlich  oder  ausschliesslich  auf 
dem  Gebiete  der  Yerstandesthätigkeit  abspielt.  Als  wesent- 
liches Kennzeichen  dieser  Krankheit  gilt  daher  einfach  das  Auftreten 
von  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen.  Der  tiefere  Grund  für  diese 
ganz  verschwommene  Begriffsbestimmung  liegt  in  der  Entstehungs- 
geschichte derselben.  Nach  der  älteren  Lehre  Griesingers  war  die 
Verrücktheit  stets  der  Ausgang  einer  voraufgegangenen  affectiven 
Geistesstörung.  Erst  die  Untersuchungen  von  Snell,  Westphal, 
Sander  haben  dazu  geführt,  dass  man  eine  „primäre“  Form  der 
Verrücktheit  allgemein  anerkannte.  Unter  dem  Eindrücke  dieses 
unleugbaren  Fortschrittes  kam  man  dazu,  die  neugewonnene  Krank- 
heitsform als  primäre  Erkrankung  des  Verstandes  in  Gegensatz  zu 
stellen  zu  der  Manie  und  Melancholie,  bei  denen  man  die  mass- 
gebenden Störungen  auf  dem  Gebiete  des  Gefühlslebens  erblickte. 
Die  bei  der  ersteren  Form  gelegentlich  beobachteten  Affectschwan- 
kungen  sollten  ausschliesslich  „secundär“,  durch  Vermittlung  von 
Wahnbildungen  oder  Sinnestäuschungen,  zu  Stande  kommen,  gerade 
so  wie  man  das  Auftauchen  von  Verstandesstörungen  bei  den  affec- 
tiven Erkrankungen  erst  als  Folgeerscheinung  aus  der  primären 
heiteren  oder  traurigen  Verstimmung  ableiten  zu  können  glaubte. 


*)  Snell,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  XXII,  S.  368;  Griesinger,  Archiv 
f.  Psychiatrie  I,  S.  148;  Sander,  ebenda  S.  387;  Westphal,  Allgem.  Zeitschr.  f. 
Psychiatrie  XXXIV.  S.  252;  Mercklin,  Studien  über  primäre  Verrücktheit  1879; 
Amadei  e Tonnini,  Archivio  italiano  per  le  malattie  nervöse,  1884,  1,  2;  Werner, 
Die  Paranoia.  1891;  Schule,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  L,  1 u.  2;  Cramer, 
ebenda,  LI,  2;  Sandberg,  ebenda,  LII,  619. 


Begriffsbestimmung. 


427 


Es  war  daher  für  die  Diagnose  von  grösster  Bedeutung,  im  einzelnen 
Falle  zu  wissen,  ob  die  Störungen  der  Stimmung  oder  diejenigen 
des  Verstandes  den  Ausgangspunkt  der  Krankheitserscheinungen  ge- 
bildet hatten. 

Besonders  verhängnisvoll  für  die  weitere  Entwicklung  der 
klinischen  Psychiatrie  wurde  die  von  Westphal  zuerst  kurz  an- 
gedeutete Möglichkeit  eines  acuten  Verlaufes  der  Verrücktheit  mit 
Uebergang  in  Genesung.  Die  letzten  Folgerungen  dieser  Lehre 
haben  in  neuester  Zeit  Cramer  und  Ziehen  gezogen.  Durch  diese 
Verschiebung  des  ursprünglichen  Begriffes,  der  nur  mit  chronischen, 
unheilbaren  Zuständen  rechnete,  wurde  die  rein  äusserlich-sympto- 
matische  Fassung  des  Krankheitsbildes  mächtig  gefördert.  Wenn  der 
Verlauf  der  Krankheit  nicht  mehr  massgebend  war,  blieb  eben  die 
Verstandesstörung,  das  Auftreten  von  Wahnideen  oder  Sinnestäu- 
schungen, als  das  einzig  greifbare  Kennzeichen  der  Verrücktheit 
übrig.  Mit  Nothwendigkeit  mussten  nun  eine  Reihe  von  Krankheits- 
bildern zur  Verrücktheit  gezogen  werden,  die,  klinisch  genommen, 
nicht  mehr  die  geringste  wirkliche  Gemeinschaft  mit  der  ursprüng- 
lichen Verrücktheit  darboten,  so  die  Amentia,  der  Alkoholwahnsinn 
und  zahlreiche  Zustandsbilder,  die  unzweifelhaft  der  Dementia  praecox 
oder  dem  manisch-depressiven  Irresein  angehören.  Sprach  man  doch 
ganz  harmlos  von  einer  periodischen  Paranoia ! 

Es  bedarf  wol  kaum  einer  besonderen  Ausführung,  dass  ich 
diese  Entwicklung  der  Paranoiafrage  für  eine  völlig  verfehlte*halten 
muss.  In  ihr  begegnet  uns  mit  greifbarster  Deutlichkeit  der  Grund- 
fehler unserer  klinischen  Psychiatrie  in  den  letzten  Jahrzehnten,  die 
rein  symptomatische,  auf  ausgeklügelten  Voraussetzungen  be- 
ruhende Abgrenzung  der  Krankheitsformen.  Der  als  grundlegend 
angesehene  Gegensatz  zwischen  den  Störungen  des  Verstandes  und 
denjenigen  der  Gefühle  ist  nur  ein  psychologischer,  aber  durchaus 
kein  klinischer.  In  den  wirklichen  Krankheitsbildern  sehen  wir 
beide  in  ganz  unberechenbarer  Weise  sich  mit  einander  verknüpfen. 
Wem  das  nicht  einleuchtet,  der  versuche  doch  einmal  bei  dem  all- 
seitig anerkannten  Krankheitsbilde  der  Paralyse,  die  Fälle  nach  der 
primären  oder  secundären  Entstehung  der  Wahnideen  zu  gruppiren. 
An  diesem  klaren  Beispiele,  von  dem  die  klinische  Auffassung  der 
Seelenstörungen  noch  immer  nichts  lernen  will,  zeigt  es  sich  bis 
zum  Ueberdrusse,  dass  Wahnbildungen  und  Sinnestäuschungen  an 


428 


X.  Die  Verrücktheit. 


sicli  für  die  Kennzeichnung  eines  Krankheitshildes  ebenso  unwesent- 
lich sind  wie  das  Auftauchen  von  Verstimmungen  und  Erregungen. 
Ganz  dasselbe  kann  man  aus  dem  manisch-depressiven  Irresein  und 
aus  der  Dementia  praecox  lernen,  wenn  man  sich  nicht  den  freien 
Blick  zuvor  durch  bestimmte  Yoraussetzungen  versperrt  hat 

In  der  That  hat  denn  auch  jeder  bisher  unternommene  Versuch, 
die  „Paranoiagruppe“  in  sich  zu  ordnen  und  sie  von  anderen  Formen 
des  Irreseins  abzugrenzen,  regelmässig  mit  dem  Geständnisse  geendet 
dass  Mischformen  und  Uebergänge  in  Menge  die  Formen  selbst 
überwuchern  und  sogar  zu  den  angeblich  grundverschiedenen  affec- 
tiven Geistesstörungen  hinüberführen.  Dadurch  fällt  die  einzige 
Grundlage  des  jetzigen  Paranoiabegriffes,  der  künstliche  Gegensatz 
zwischen  Yerstandeskrankheiten  und  Gemüthskrankheiten,  in  sieh 
zusammen.  Wir  können  nicht  zweifeln,  dass  die  Hoffnungslosigkeit, 
auf  dem  eingeschlagenen  Wege  zu  einer  Klarheit  zu  kommen,  einen 
grossen  Theil  der  Schuld  an  der  allgemeinen  Unlust  zur  Beschäf- 
tigung mit  klinisch -psychiatrischen  Fragen  trägt.  Was  nützt  uns 
auch  die  Zerlegung  der  grossen  Verstandeskrankheit  in  ihre  feinsten 
Spielarten,  wenn  wir  dadurch  nicht  zugleich  erfahren,  ob  der  Kranke 
gesund,  ob  er  periodisch,  ob  er  einfach  schwachsinnig  oder  im  alten 
Sinne  „verrückt“  werden  wird?  Ueber  diese  wichtigen  Fragen  muss 
uns  jede  Diagnostik  Aufschluss  geben,  die  uns  befriedigen  und 
unsere  Anschauungen  klären  soll.  Dass  uns  gerade  nach  dieser 
KichAng  die  jetzige  Universalkrankheit  Paranoia,  die  bei  manchen 
Irrenärzten  bereits  70 — 80%  des  gesammten  Krankenmaterials  um- 
fasst, nicht  einen  einzigen  Schritt  weiter  bringt,  bedarf  keines 
Beweises.  Wir  wissen  zur  Genüge,  dass  Wahnbildungen  und 
Sinnestäuschungen  bei  den  günstigsten  und  ungünstigsten,  bei  den 
acutesten  und  chronischesten,  bei  einfachen  und  periodischen  Formen 
des  Irreseins  Vorkommen  können  und  daher  an  sich  keinerlei  Schlüsse 
auf  den  weiteren  Verlauf  des  einzelnen  Falles  gestatten. 

Dem  gegenüber  ist  kein  Mittel  in  so  hohem  Grade  geeignet, 
maseren  Blick  für  die  wirklich  wesentlichen  Eigentümlichkeiten 
eines  Krankheitsvorganges  zu  schärfen,  wie  die  Beachtung  des  Ver- 
laufes und  endlichen  Ausganges.  Hat  sich  doch  auch  die  Erkennt- 
nis der  Paralyse  und  ihrer  körperlichen  Zeichen  zuerst  an  die 
Erfahrung  angeknüpft,  dass  alle  Kranken  mit  Sprachstörung  und 
Lähmungen  schliesslich  in  gleicher  Weise  zu  Grunde  gingen.  Haben 


Begriffsbestimmung. 


429 


wir  einmal  eine  Gruppe  von  Fällen  vor  uns,  die  den  gleichen  Aus- 
gang genommen  haben,  so  werden  wir  nunmehr  vielfach  auch  im 
klinischen  Bilde  selbst  schon  kleine  Eigenthümlichkeiten  erkennen, 
die  uns  von  vorn  herein  gestatten,  ähnliche  Fälle  künftighin  richtig 
zu  beurtheilen.  So  sind  wir  heute  meist  im  Stande,  die  paralytische 
Erregung  nur  an  der  Hand  der  psychischen  Krankheitszeichen  von 
der  so  sehr  ähnlichen  manischen  oder  katatonischen  sicher  zu  unter- 
scheiden, aus  den  besonderen  Zeichen  des  circulären  oder  katato- 
nischen Stupors  den  periodischen  oder  fortschreitenden  Verlauf  zu 
prognosticiren,  die  verschiedenen  Depressionszustände  der  Paralyse, 
der  Melancholie,  der  Dementia  praecox,  des  manisch-depressiven  Irre- 
seins beim  ersten  Beginne  der  Krankheit  in  ihrer  Bedeutung  für  die 
Zukunft  zu  würdigen.  In  der  praktischen  Thätigkeit  werden  wir 
natürlich  nicht  immer  das  Richtige  treffen,  sondern  uns  nicht  selten 
auch  irren.  Immer  aber  wird  die  Geschichte  des  einzelnen  Falles  die 
Wahrheit  unfehlbar  an  den  Tag  bringen;  sie  wird  uns  bestätigend 
oder  berichtigend  zu  immer  klarerer  Erfassung  des  Wesentlichen 
gegenüber  dem  Zufälligen  und  Nebensächlichen  führen  müssen. 
Dagegen  kann  eine  Diagnose,  die  darauf  verzichtet,  mehr  als 
eine  Umschreibung  einzelner  Krankheitszeichen  zu  sein,  überhaupt 
weder  bewiesen  noch  widerlegt  werden.  Wer  heute  damit  zufrieden 
ist,  jede  Psychose  mit  vorwiegender  Verstandesstörung  als  Paranoia 
zu  bezeichnen,  lernt  aus  der  weiteren  Beobachtung  schlechter- 
dings nichts  für  künftige  Fälle.  Da  seine  Diagnose  nichts  ent- 
hält, was  nicht  auch  jeder  Laie  sofort  sehen  könnte,  so  wird  ihn 
auch  die  Zukunft  nicht  enttäuschen,  aber  sie  wird  ihm  auch  nichts 
offenbaren. 

Dies  sind  in  Kürze  die  Ueberlegungen,  welche  mich  bewegen, 
in  der  Paranoiafrage  eine  grundsätzlich  abweichende  Stellung  ein- 
zunehmen. Ich  kann  nur  solche  Krankheitsfälle  für  wesensgleich 
halten,  welche,  von  gradweisen  Unterschieden  und  besonderen 
Zwischenfällen  abgesehen,  in  der  Hauptsache  zu  demselben  Ende 
führen.  Aus  diesem  Grunde  halte  ich  die  Aufstellung  einer  acuten 
Paranoia  für  ein  Unding,  weil  durch  sie  wesentliche  Merkmale  der 
Krankheit,  die  grundsätzliche  Unheilbarkeit,  das  dauernde  Fort- 
bestehen der  auftretenden  Wahnbildungen,  vollkommen  verwischt 
werden.  Wenn  die  'Paranoia  eine  Krankheit  ist,  so  kann  sie  nur 
entweder  acut  oder  chronisch  sein.  Ich  ziehe  die  letztere  Bestimmung 


430 


X.  Die  Verrücktheit. 


vor,  da  ich  die  sogenannten  acuten  Formen  weit  befriedigender  zu 
deuten  weiss. 

Aber  auch  von  der  grossen  Zahl  chronischer  Fälle,  die  man  der 
Paranoia  zuzurechnen  pflegt,  bedürfen,  wie  ich  denke,  diejenigen 
einer  gesonderten  Betrachtung,  bei  denen  die  Wahnbildung  mit  den 
Zeichen  einer  deutlichen  geistigen  Schwäche  einhergeht.  Wir  sehen 
dabei  die  Wahnvorstellungen  rasch  sehr  abenteuerliche  Gestaltungen 
annehmen,  widerspruchsvoll,  ausserordentlich  üppig  oder  sehr  dürftig 
werden,  sich  vielfach  verändern  und  wechseln,  endlich  nach  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  in  den  Hintergrund  treten  und  verblassen.  Diese 
Zustandsbilder  tragen  in  allen  Zügen  so  deutlich  den  Stempel  der 
hebephrenischen,  katatonischen,  senilen  Erkrankungen,  dass  wir  bei 
Beachtung  dieser  Zeichen  schon  im  ersten  Beginne  die  nebensäch- 
liche Bedeutung  der  Wahnbildungen  und  die  Entwicklung  eines 
ganz  bestimmten  Endzustandes  Voraussagen  können.  Andererseits 
aber  giebt  es  ohne  Zweifel  eine  Gruppe  von  Fällen,  in  denen  sich 
von  Anfang  an  klar  erkennbar  ganz  langsam  ein  dauerndes, 
unerschütterliches  Wahnsystem  bei  vollkommener  Er- 
haltung der  Besonnenheit  und  der  Ordnung  des  Ge- 
dankenganges herausbildet.  Diese  Formen  sind  es,  denen  ich 
die  Bezeichnung  der  Paranoia  Vorbehalten  möchte.  Sie  sind  es, 
die  mit  Nothwendigkeit  zu  einer  tiefgreifenden  Umwandlung  der 
gesammten  Lebensanschauung,  zu  einer  „Verrückung'1  des  Stand- 
punktes führen,  welchen  der  Kranke  gegenüber  den  Personen  und 
Ereignissen  seiner  Umgebung  einnimmt. 

Die  Entwicklung  dieser  Krankheit  scheint  sich  immer  sehr  lang- 
sam zu  vollziehen.  Den  oft  über  Jahre  sich  erstreckenden  Beginn 
bilden  leichte  Verstimmungen,  Misstrauen,  auch  wol  unbestimmte 
körperliche  Beschwerden  und  hypochondrische  Befürchtungen.  Der 
Kranke  ist  unzufrieden  mit  seiner  Lage ; er  fühlt  sich  zurückgesetzt, 
glaubt  sich  vielleicht  schon  von  seinen  Eltern  und  Geschwistern 
nicht  mit  der  rechten  Liebe  behandelt,  sondern  vielfach  verkannt; 
man  hat  für  seine  Eigenart  kein  Verständniss.  So  entwickelt  sich 
ein  geheimer,  allmählich  wachsender  Gegensatz  zwischen  ihm  und 
seiner  Umgebung;  er  steht  seinen  Angehörigen  als  ein  Fremder,  als 
Mensch  aus  einer  anderen  Welt  gegenüber;  sein  Verhältniss  zu  ihnen 
ist  ein  kaltes,  äusserliches,  unnatürliches,  selbst  feindliches.  „Gott 
ist  mein  Vater  und  die  Kirche  meine  Mutter,“  sagte  ein  Kranker, 


Krankheitsbild. 


431 


der  durch  häufiges  Fasten  das  Irdische  in  sich  abtödten  und  dad  ureh 
in  ein  inniges  Verhältniss  zu  Gott  kommen  wollte.  Er  zieht  sich 
daher  von  ihnen  zurück,  begegnet  ihnen  schroff,  abweisend,  such 
die  Einsamkeit  auf,  um  ungestört  seinen  Gedanken  nachhängen  zu 
können,  beschäftigt  sich  mit  unpassender  und  unverstandener  Lectür  e. 
Im  Innern  des  Kranken  besteht  dabei  eine  tiefe  Sehnsucht  nach 
etwas  Grossem  und  Hohem,  ein  geheimes  Drängen  nach  kühner  Be- 
thätigung,  die  stille  Hoffnung  auf  ein  unfassbares  Glück,  die  sich 
bisweilen  in  dem  Aufbau  und  der  genauen  Ausmalung  unwirklicher 
Situationen,  farbenreicher  Luftschlösser  befriedigt,  in  denen  die  eigene 
Person  die  Heldenrolle  spielt.  Mehr  und  mehr  befestigt  sich  in  ihm 
die  Ueberzeugung,  zu  etwas  „Besonderem“  geboren,  „nicht  wie  der 
grosse  Haufe  gebacken“  zu  sein.  Er  glaubt  an  seine  „Bestimmung“^ 
an  seine  Mission,  die  er  zu  erfüllen  hat.  Alle  praktischen  Misserfolge 
können  ihn  dabei  nicht  entmuthigen.  „Um  den  Glauben  mir  zu 
nehmen,“  schrieb  ein  Kranker,  „müsste  die  Stimme  meiner  innersten 
Seele  ausgerodet,  die  Seele  selbst  oder  mein  Leben  vernichtet  werden: 
per  aspera  ad  astra!“ 

Nach  und  nach  beginnen  die  krankhaften  Ahnungen  und  Ge- 
dankenreihen auch  seine  Wahrnehmungen  zu  beeinflussen.  Er  macht 
die  Bemerkung,  dass  man  ihm  bei  dieser  oder  jener  Gelegenheit  nicht 
mehr  so  freundlich  entgegenkommt  wie  früher,  dass  man  zurück- 
haltender gegen  ihn  ist,  ihm  aus  dem  Wege  geht  und  trotz  manchen, 
wie  er  meint,  heuchlerischen  Freundschaftsbeweises  nichts  mehr  mit 
ihm  zu  thun  haben  will.  In  Folge  dessen  steigert  sich  seine  Em- 
pfindlichkeit imd  sein  Misstrauen;  er  beginnt,  in  einer  harmlosen 
Bemerkung,  einer  zufälligen  Geberde,  einem  aufgefangenen  Blicke 
Beleidigungen  und  versteckte  Andeutungen  einer  feindseligen  Ge- 
sinnung zu  argwöhnen.  Aus  den  Gesprächen  der  Tischgesellschaft 
entnimmt  er,  dass  ein  geheimes  Einverständniss  besteht;  die  gleichen 
Redewendungen  werden  mit  auffallender  Absichtlichkeit  bei  ganz 
bestimmten  Gelegenheiten  zu  Tode  gehetzt.  Man  pfeift  in  bemerkens- 
werter Weise  gewisse  Lieder,  um  damit  auf  kleine  Erlebnisse  in 
seiner  Vergangenheit  hinzuweisen,  ihm  Winke  für  sein  Handeln  zu 
geben.  In  Theaterstücken,  Zeitungsartikeln  finden  sich  besondere 
Beziehungen  auf  sein  Thun  und  Treiben;  der  Geistliche  auf  der 
Kanzel,  ein  Wahlredner  macht  „in  der  Bildersprache“  nicht  misszu- 
verstehende Anspielungen  über  seine  Person.  Er  begegnet  plötzlich 


432 


X.  Die  Verrücktheit. 


immerfort  denselben  Menschen,  die  ihn  anscheinend  beobachten, 
ihm  wie  zufällig  folgen;  man  fixirt  ihn,  sieht  ihn  von  der  Seite  an; 
man  räuspert  sich,  hustet  um  seinetwillen,  spuckt  vor  ihn  hin  oder 
weicht  ihm  aus;  in  öffentlichen  Localen  rückt  man  von  ihm  fort  oder 
steht  auf,  sobald  er  erscheint,  wirft  ihm  verstohlene  Bücke  zu  und 
kritisirt  ihn.  Die  Droschkenkutscher,  Eisenbahnschaffner,  Arbeiter 
unterhalten  sich  über  ihn.  Ueberall  ist  die  Aufmerksamkeit  auf  ihn 
gerichtet;  seine  Kleidung  wird  trotz  ihrer  Ungewöhnlichkeit  von  zahl- 
reichen Unbekannten  nachgeahmt.  Einzelne  Bemerkungen,  die  er 
hat  fallen  lassen,  werden  sofort  zur  öffentlichen  Parole.  Einer  meiner 
Kranken  hatte  Gelb  als  die  Farbe  des  Verstandes  bezeichnet;  am 
nächsten  Tage  trug  alle  Welt  gelbe  Rosen,  um  ihm,  da  die  Rose 
das  Symbol  des  Schweigens  ist,  anzudeuten,  dass  er  klug  sein  und 
schweigen  solle.  „Wer  wül  all  das  aufzählen,  was  hier  zu  mir 
spricht !“ 

Alle  diese  Erfahrungen  sind  an  sich  ganz  gleichgültigen  Inhalts ; 
sie  erscheinen  „Jedem  nicht  Eingeweihten  ganz  natürüch“,  als  Zu- 
fälügkeiten,  aber  der  Kranke  merkt  nur  zu  deutlich,  dass  alles  mit 
der  ausgesuchtesten  Schlauheit  „gemacht“  wird,  dass  es  sich  um  die 
„künstliche  Erzeugung  von  Zufällen“  handelt,  hinter  der  sich  ein 
abgekarteter  Handel,  irgend  ein  niederträchtiger  Anschlag  verbirgt. 
Allerdings  wird  das  ganze  Spiel  äusserst  geschickt  eingefädelt,  um 
ihn  zu  täuschen  und  um  ihm  jede  Mögüchkeit  einer  wirksamen 
Yertheidigung  gegen  alle  die  versteckten  Gemeinheiten,  gegen  das 
ganze  Spionir-  und  Beobachtungssystem  zu  benehmen.  So  oft  er 
Jemanden  offen  zu  Rede  stellt  und  zu  erkennen  giebt,  dass  er 
alles  durchschaut,  thut  man  ganz  unschuldig  und  erfindet  allerlei 
Ausflüchte;  man  steuert  nicht  geradezu,  sondern  auf  Umwegen 
dem  Ziele  zu,  indem  die  wirklichen  Zwecke  nur  in  verschleierten 
Andeutungen  berührt  werden.  Man  kommt  ihm  freundüch  entgegen, 
um  seine  Wachsamkeit  zu  täuschen,  verwickelt  ihn  in  eigen- 
thümüche  Gespräche,  macht  ihm  allerlei  Vorspiegelungen  mit  Hinter- 
gedanken, deren  wahren  Sinn  er  sofort  erkennt  Ein  junger  Jurist, 
der  die  feindseügen  Absichten  seiner  Mutter  durch  unmittelbare 
Eingebung  zu  verstehen  glaubte , betrachtete  die  telegraphische 
Nachricht  von  deren  Tode  als  eine  „kindische  Mystification“  und 
war  nicht  zu  einer  Regelung  der  Erbangelegenheiten  zu  be- 
wegen, da  er  überzeugt  war,  dass  die  Mutter  noch  lebe  und 


Krankheitsbild. 


433 


sich  nur  zum  Zwecke  ihrer  Wiederverheirathung  von  ihm  los- 
sagen wolle. 

Von  der  ganz  eigenthiimlichen  Verschiebung,  die  sich  in  dem 
Verhältnisse  des  Kranken  zur  Aussenwelt  vollzieht,  giebt  vielleicht 
eine  Vorstellung  die  folgende  Stelle  aus  dem  Tagebuche  eines 
Kranken,  der  sich  von  einem  Geheimbunde  zur  Beförderung  der 
Päderastie  aufs  Kom  genommen  glaubte: 

„Dass  eine  Verbindung  mit  Zwecken,  wie  sie  aus  diesen  Zeilen  ersichtlich 
sind,  alles  aufbietet,  um  dieselben  nicht  in  die  Oeffentlichkeit  kommen  zu  lassen, 
und  daher  in  versteckter  oder  symbolischer  Form  Propaganda  zu  machen  sucht, 
ist  einleuchtend.  Da  sie  nun  nicht  sicher  sein  kann,  welche  Stellung  der  von  ihr 
Beeinflusste  der  Sache  gegenüber  einnehmen  wird,  so  sucht  sie  durch  allerlei 
mit  der  Hauptbestrebung  gleichsam  parallel  laufende,  aber  in  sich  unschuldige 
Kunstgriffe  denselben  zu  verwirren,  bezw.  sich  vor  unliebsamen  Enthüllungen  zu 
schützen.  So  z.  B.  hatte  ich  mir  damals,  wie  dies  ja  bei  fast  allen  Menschen 
der  Fall  ist,  einige  stereotype  Redensarten  angewöhnt,  unter  anderem:  „Gewiss!“ 
und  „Kaum  zu  glauben“,  und  siehe  da,  ich  fand  diese  beiden  Sentenzen  und  noch 
manches  andere  in  rascher  Aufeinanderfolge  als  Ueberschrift  einer  Reclame  fett 
gedruckt  im  Generalanzeiger.  Daraus  musste  ich  natürlich  schliessen,  dass  das 
Zufall  und  mein  Leben  also  tagtäglich  aus  lauter  Zufällen  zusammengesetzt  sei, 
so  dass  es  schliesslich  das  reinste  phantastische  Doppelleben  geworden  wäre.  — 
Das  ist  allerdings  kaum  zu  glauben!  — “ 

Durch  die  fortgesetzte  vorurtheilsvolle  Verarbeitung  seiner  Er- 
fahrungen wird  dem  Kranken  klar,  dass  eine  weitverbreitete  Ver- 
schwörung gegen  ihn  im  Werke  ist.  Es  werden  Verleumdungen 
über  ihn  ausgestreut,  er  habe  sich  durch  Ausschweifungen  ein 
Nervenleiden  zugezogen,  sei  syphilitisch,  der  Paederastie  ergeben. 
Man  hat  seine  Photographie  in  Bordells  gesandt,  um  ihn  dort  als 
Stammgast  hinzustellen;  es  wurden  gefälschte  Rechnungen  ver- 
öffentlicht, als  ob  er  täglich  unsinnige  Mengen  Alkohol  trinke.  Das 
Essen  schmeckt  höchst  verdächtig ; der  Tischnachbar  erkrankt,  nach- 
dem er  zufällig  aus  dem  für  den  Kranken  bestimmten  Glase  getrunken 
hat.  Man  will  ihn  also  aus  dem  Wege  räumen,  mit  Gewalt  unter- 
drücken, wahnsinnig  machen,  zu  geschlechtlichen  Ungeheuerlichkeiten, 
zur  Onanie  verführen.  Diese  Zwecke  verfolgt,  wie  er  annimmt,  eine 
mit  erstaunlichen  Mitteln  arbeitende  Gesellschaft,  der  nicht  nur  alle 
möglichen  Privatpersonen  aller  Stände,  sondern  auch  Beamte,  Gerichte, 
Zeitungsschreiber,  Geistliche,  Schriftsteller  als  geheime  Agenten  an- 
gehören, Die  Triebfeder  derselben  sind  entweder  einzelne,  bestimmte 
Personen,  oder  es  handelt  sich  um  einen  allgemeinen  Bund  der 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Anfl.  II.  Band.  28 


434 


X.  Die  Verrücktheit. 


Freimaurer,  Socialisten,  welcher,  durch  furchtbare  Eide  zusammen- 
gehalten, aus  besonderen  Gründen  den  Kranken  in  seine  Gewalt  zu 
bringen  trachtet. 

Hand  in  Hand  mit  der  Entwicklung  des  Verfolgungswahns  gehen 
regelmässig  Grössenideen.  Bisweilen  halten  sich  dieselben  im 
Rahmen  eines  stark  erhöhten  Selbstgefühls.  Schon  die  Ungeheuer- 
lichkeit der  ganzen  Machtmittel,  die  der  Kranke  gegen  sich  auf- 
geboten  wähnt,  deutet  auf  eine  sehr  bedeutende  Ueberschätzung  der 
eigenen  Persönlichkeit,  des  vermeintlichen  Mittelpunktes  derartiger 
Kraftanstrengungen,  hin.  Der  Kranke  betrachtet  sich  als  besonders 
veranlagt,  genial,  als  bedeutenden  Dichter,  Musiker,  Entdecker,  Ge- 
lehrten, legt  grossen  Werth  auf  sein  Aeusseres,  hält  etwas  auf  sich, 
glaubt  sich  berufen,  eine  hervorragende  Stellung  in  der  Welt  einzu- 
nehmen. Weiterhin  aber  schiesst  vielfach  nach  jahrelangem,  un- 
klarem Grübeln  in  dem  Kranken  die  siegreiche  Ahnung  hervor,  dass 
er  überhaupt  nicht  das  rechte  Kind  seiner  Eltern,  sondern  viel  höherer 
und  herrlicherer  Abstammung  sei.  Den  äusseren  Anlass  zur  Ent- 
stehung dieser  Wahnidee,  welche  sofort  für  ihn  unzweifelhafte  Ge- 
wissheit erlangt,  giebt  oft  eine  ganz  gleichgültige  Begebenheit  In 
einem  Streite  gebraucht  der  Vater  einen  heftigen  Ausdruck,  den  er 
seinem  wirklichen  Kinde  gegenüber  niemals  anwenden  würde.  Der 
Kranke  merkt,  dass  seine  Eltern  im  Nebenzimmer  flüstern,  bei  seinem 
Eintritte  erblassen,  ihn  mit  besonderem  Ernste  begrüssen;  es  wird 
in  seiner  Gegenwart  „bedeutungsvoll“  der  Name  einer  hochgestellten 
Persönlichkeit  genannt;  auf  der  Strasse,  im  Theater  blickt  ihn  irgend 
eine  vornehme  Dame  aussergewöhnlich  freundlich  an;  beim  Be- 
schauen des  Bildes  eines  Grafen  oder  Fürsten,  der  Büste  Napoleons 
fällt  ihm  plötzlich  eine  überraschende  Aehnlichkeit  zwischen  sich 
und  Jenem  auf,  oder  endlich  es  wird  ihm  ein  Brief  in  die  Hände 
gespielt,  zwischen  dessen  Zeilen  er  das  grosse  Geheimniss  ohne  Mühe 
herausliest. 

Mit  besonderer  Genugthuung  erkennt  der  Kranke,  dass  auch 
von  seiner  näheren  und  ferneren  Umgebung  die  Ueberlegenheit 
seiner  Person  und  seiner  Stellung  mehr  oder  weniger  offen  anerkannt 
wird.  Man  behandelt  ihn,  wohin  er  kommt,  mit  unverkennbarer 
Ehrerbietung;  fremde  Personen  ziehen  tief  den  Hut  vor  ihm;  die 
königliche  Familie  sucht  ihm  möglichst  oft  zu  begegnen;  die  Musik 
auf  der  Parade  oder  im  Theater  beginnt  zu  spielen,  sobald  er  er- 


Krankheitsbild. 


435 


scheint.  In  den  Zeitungen,  die  ihm  vom  Kellner  vorgelegt  werden, 
in  den  Büchern,  die  ihm  der  Buchhändler  zuschickt,  findet  er  mehr 
oder  weniger  verblümte  Anspielungen  auf  sein  Schicksal.  Die  Schau- 
spieler auf  der  Bühne,  der  Geistliche  auf  der  Kanzel  richten  lange 
Sätze  mit  dem  Hinweise  auf  seine  hohe  Abkunft  geradezu  an  ihn, 
und  die  Vorübergehenden  auf  der  Strasse  begleiten  ihn  mit  bei- 
fälligen und  beziehungsreichen  Bemerkungen.  Nicht  selten  vermag 
er  bei  gewissen  Gelegenheiten  das  unmittelbare  Eingreifen  der  Vor- 
sehung in  sein  Lebensschicksal  festzustellen.  Aus  den  Veränderungen 
des  Wetters,  dem  eigenthümlichen  Blinken  der  Sterne,  aus  dem 
Fluge  der  Vögel,  aus  der  Kleidung  der  Menschen,  die  ihm  begegnen, 
dem  Papierfetzen,  den  er  auf  der  Landstrasse  findet,  geht  auf  das 
klarste  hervor,  dass  Gott  in  ganz  besonderer  Weise  seine  Hand  über 
ihm  hält  und  ihm  Zeichen  für  sein  Handeln  giebt,  die  er  ohne 
weiteres  zu  deuten  versteht  und  auch  mit  freudiger  Zuversicht  auf 
das  gewissenhafteste  befolgt.  In  Folge  aller  dieser  Erfahrungen 
entsteht  ein  ausgedehntes  Netz  geheimnissvoller  Beziehungen,  dessen 
Mittelpunkt  der  Kranke  bildet.  Er  ist  Thronerbe,  Reformator,  Friedens- 
fürst, Kaiser  und  Papst  in  einer  Person,  Messias,  Gottesgebärerin,  er- 
hält seine  Gedanken  von  Gott,  wird  zum  auserwählten  Werkzeuge 
des  Himmels,  ja  zum  Mittelpunkte  der  Welt. 

In  manchen  Fällen  macht  der  Kranke  die  Bemerkung,  dass 
eine  wirklich  oder  vermeintlich  durch  hervorragende  Stellung  aus- 
gezeichnete Person  des  anderen  Geschlechts  ihm  gewogen  ist  und  ihm 
eine  nicht  misszuverstehende  Aufmerksamkeit  schenkt  (erotische 
Verrücktheit).  Bisweilen  ist  es  ein  aufgefangener  Blick,  eine 
vermeintliche  Fensterpromenade,  eine  zufällige  Begegnung,  welche 
diese  verborgene  Liebe  dem  Kranken  zur  Gewissheit  werden  lässt; 
häufiger  jedoch  erfährt  er  davon  nur  auf  Umwegen  durch  verblümte 
Anspielungen  seiner  Umgebung,  Zeitungsanzeigen,  ohne  dass  er  viel- 
leicht den  Gegenstand  seines  Interesses  jemals  gesehen  hat. 

Sehr  bald  mehren  sich  die  Zeichen  des  geheimen  Einverständ- 
nisses. Jedes  zufällige  Erlebniss,  Kleidung,  Begegnungen,  Lectüre, 
Gespräche  gewinnen  für  den  Kranken  eine  Beziehung  zu  seinem 
eingebildeten  Abenteuer.  Seine  Liebe  ist  öffentliches  Geheimniss  und 
Gegenstand  allgemeinster  Aufmerksamkeit;  überall  spricht  man  davon, 
allerdings  niemals  mit  klaren  Ausdrücken,  sondern  immer  nur  in 
feinen  Andeutungen,  deren  tiefen  Sinn  er  aber  sehr  gut  versteht. 

28* 


436 


X.  Die  Verrücktheit. 


Natürlich  muss  diese  ausserordentliche  Liebe  einstweilen  geheim 
gehalten  werden;  darum  erhält  der  Kranke  alle  Nachrichten  nie  auf 
geradem  Wege,  sondern  stets  durch  Vermittelung  Anderer,  durch  die 
Zeitung  und  in  Form  versteckter  Bemerkungen;  auf  dieselbe  Weise 
weiss  er  sich  durch  gelegentliches  Fallenlassen  von  Anspielungen 
mit  dem  Gegenstände  seiner  Liebe  in  Verbindung  zu  setzen.  Der 
Flug  der  Tauben,  die  symbolisch  ihn  und  die  Geliebte  darstellen, 
zeigt  ihm,  dass  man  ihn  verstanden  hat,  dass  er  nach  langen 
Kämpfen  endlich  sein  Ziel  erreichen  wird;  irgend  eine  Person,  mit 
der  er  in  Berührung  tritt,  erscheint  ihm  als  die  Erkorene,  die  sich 
verkleidet  hat,  um  ihre  Zuneigung  der  Welt  zu  verbergen,  ja,  eine 
geheime  Ahnung  vermag  ihn  bei  einer  derartigen  Erkennungsscene 
über  die  handgreiflichsten  Unähnlichkeiten,  sogar  über  die  Ge- 
schlechtsverschiedenheit hinwegzusetzen. 

Dieser  eigen thtimliche  Wahn  kann  sich,  besonders  durch  Ver- 
mittelung von  verblümten  Zeitungsanzeigen  genährt,  lange  Zeit  hin- 
durch in  der  geschilderten  Weise  fortspinnen,  ohne  dass  im  sonstigen 
Thun  und  Treiben  des  Kranken,  der  ja  seine  Angelegenheit  geheim 
zu  halten  sucht,  etwas  Verkehrtes  hervortritt.  Im  weiteren  Verlaufe 
gesellen  sich  nicht  selten  traumhafte  Sinnestäuschungen,  das  Gefühl 
eines  Kusses  im  Schlafe  u.  dergl.  hinzu.  Die  ganze  Färbung  der 
Liebe  ist  dabei  stets  eine  schwärmerische,  romanhafte,  häufig  plato- 
nische, der  eigentliche  Geschlechtstrieb  bei  dem  Kranken  oft  wenig 
oder  in  ungesunder  Weise  (Onanie)  entwickelt.  Zwischen  die  Zeiten 
seligen  ,, Hangens  und  Bangens“  schiebt  sich  bisweilen  tiefe  Zer- 
knirschung ein,  das  Gefühl  der  Unwürdigkeit  gegenüber  dem  mit 
allen  möglichen  Vorzügen  ausgeschmückten  Ideale,  Enttäuschung 
über  unbegreifliche  Zurückweisungen,  unbestimmter  Versündigungs- 
wahn. 

Die  Entstehung  aller  dieser  Wahnbildungen  vollzieht  sich 
wesentlich  auf  dem  Wege  krankhafter  Auslegung  wirklicher  Erleb- 
nisse. Einmal  werden  thatsächliche  Wahrnehmungen  in  vorurtheils- 
voller  Weise  gedeutet.  Ganz  gleichgültige  Erfahrungen  gewinnen 
für  den  Kranken  eine  geheime  Beziehung  zu  seiner  eigenen 
Person,  wie  das  aus  vielen  der  angeführten  Züge  klar  erkennbar 
ist.  Ein  Fleck  am  Kleide,  ein  Loch  im  Stiefel  ist  nicht  die  Folge 
der  gewöhnlichen  Abnutzung,  sondern  eine  sehr  auffallende  That- 
sache,  deren  Zustandekommen  nur  durch  ganz  besondere  Um- 


Krankheitsbild. 


437 


stände,  durch  feindliche  Machenschaften  zu  erklären  ist.  Ein 
Wassertropfen  in  der  Essschüssel,  Ohrensausen,  Hitze  im  Kopf,  Bauch- 
grimmen beweisen  auf  das  unzweideutigste  einen  Yergiftungsversuch; 
}4ch  weiss  schon,  was  das  ist11.  Namentlich  in  den  Reden  der  Um- 
gebung und  im  Lesestoffe  fliesst  diese  Quelle  reichlich.  Stets  ist  es 
„die  gewohnte  Bildersprache“;  „sie  haben  gemeint,  ich  versteh’s 
nicht“.  Der  Kranke  liest  etwas  vom  Antichrist  und  weiss  sofort, 
dass  er  gemeint  ist  und  zu  Christus  verklärt  werden  soll;  einen 
biblischen  Satz:  „Die  Stadt  liegt  viereckig“  bezog  ein  Kranker  ohne 
weiteres  auf  seine,  im  quadratisch  gebauten  Mannheim  erlittene 
Untersuchungshaft.  Ein  Kranker  hörte  in  einer  Volksversammlung 
davon  sprechen,  dass  man  doch  einem  Ertrinkenden  helfen  werde 
und  schloss  daraus,  dass  man  ihn  beschuldige,  einen  hohen  Beamten 
umgebracht  zu  haben,  der  sich  ertränkt  hatte.  Weiterhin  werden 
sehr  häufig  innere  Zusammenhänge  zwischen  zwei  zufällig  auf- 
einanderfolgenden Ereignissen  angenommen.  Ein  Kranker  hatte  an 
den  Kaiser  geschrieben:  „Ich  bin  nicht  gekommen,  aufzulösen, 
sondern  zu  erfüllen“;  alsbald  wurde  der  Reichstag  aufgelöst. 
Ein  anderer  unterbreitete  dem  Badischen  Ministerpräsidenten  eine 
Karte,  auf  der  die  noch  nicht  besetzten  Gebietstheiie  der  Erde  an- 
gezeichnet waren;  unmittelbar  darauf  begann  die  Deutsche  Colonial- 
politik. 

Weit  seltener,  als  die  wahnhafte  Verarbeitung  wirklicher  Er- 
fahrungen sind  eigentliche  Sinnestäuschungen.  Nur  in  vereinzelten 
Fällen  begleiten  zahlreichere  Sinnestäuschungen  längere  Zeit  den 
Krankheitsverlauf;  in  der  Regel  kommt  nur  hie  und  da  einmal  eine 
Gehörstäuschung  vor,  meist  ein  einzelnes  Wort  oder  ein  kurzer 
Satz:  „Heinrich,  Heinrich!“  „der  säuft“;  „da  kommt  der  stinkige 
Prophet“.  Personen  am  Nebentische  stecken  die  Köpfe  zusammen 
und  flüstern  sich  Bemerkungen  zu,  die  der  Kranke  deutlich  ver- 
steht, da  er  „ein  feines  Gehör  hat“.  Oder  es  fällt  auf  dem 
Spaziergange  ein  Schuss,  und  der  Kranke  hört  die  Kugel  an 
seinem  Kopfe  vorbeipfeifen,  fühlt  auch  wol  den  Luftdruck.  Aus 
der  Luft  sprüht  ein  feiner  Giftregen  auf  ihn  herab;  eine  plötz- 
liche Beklemmung  überfällt  ihn,  und  dabei  hört  er  eine  warnende 
Stimme.  Auch  nächtliche  Visionen  kommen  vor,  das  Sehen  von 
Sternen,  glänzenden  Figuren,  göttlichen  Erscheinungen.  Eine  Ver- 
heissung  ertönt;  dem  Kranken  wird  der  Segen  Esaus  auf  die  linke, 


438 


X.  Die  Verrücktheit. 


der  Segen  Jacobs  auf  die  rechte  Schulter  verliehen.  Stets  pflegt  es 
sich  hier  nur  um  vereinzelte  Erlebnisse  zu  handeln,  die  auch  von 
dem  Kranken  regelmässig  als  ganz  besondere,  aus  dem  Rahmen 
der  gewöhnlichen  Erfahrung  herausfallende  Vorkommnisse  aufgefasst 
werden. 

Wie  mir  scheint,  haben  wir  es  dabei  vielfach  mit  einer  eigen- 
artigen Störung  zu  thun,  die  nachweisbar  in  der  Entstehung  der 
Wahnbildungen  bisweilen  eine  gewisse  Rolle  spielt,  nämlich  mit 
Erinnerungsfälschungen.  Indem  der  Kranke  die  Erfahrungen 
seiner  Yergangenheit  durchmustert,  fällt  es  ihm  wie  Schuppen  von 
den  Augen.  Mit  voller  Klarheit  treten  ihm  eine  Menge  von  Einzel- 
heiten entgegen,  die  er  früher  gar  nicht  beachtet  hat,  die  aber  jetzt 
plötzlich  eine  hohe  Bedeutung  für  ihn  gewinnen.  Sein  Gedächtnis.? 
schärft  sich,  wie  er  meint,  in  erstaunlichem  Maasse,  so  dass  sein 
ganzes  vergangenes  Leben  wie  ein  abgeschlagenes  Buch  vor  ihm 
liegt.  Der  Kranke  weiss  noch  ganz  genau,  wie  er  als  kleines  Kind 
seinen  wirklichen  Eltern  aus  einem  schönen  Schlosse  geraubt,  in  der 
Welt  herumgeschleppt  und  schliesslich  bei  seinen  falschen  Eltern 
untergebracht  wurde.  Vielfache  Aeusserungen  und  Handlungen 
dieser  letzteren,  der  Zuschnitt  und  die  Farbe  seiner  Kleidung,  die 
Behandlung  in  der  Schule,  prophetische  Träume,  alle  kleinen  und 
grossen  Ereignisse  seines  Lebensganges  haben  von  seiner  frühesten 
Jugend  an  auf  seine  Abstammung,  seinen  zukünftigen  hohen  Beruf 
hingewiesen.  Ein  wenig  gebildeter  Kranker  schilderte  genau  die 
Villa  seines  Vaters,  der  Hannoverscher  Finanzminister  gewesen  sei 
und  sich  Windthorst’s  Plänen  widersetzt  habe.  Als  man  ihm  nach- 
wies, dass  es  einen  Minister  seines  Namens  niemals  gegeben  habe, 
behauptete  er,  man  habe  aus  Feindschaft  sämmtliche  alte  Staatshand- 
bücher von  Hannover  vernichtet  und  gefälscht  neugedruckt,  um  den 
Namen  seines  Vaters  auszumerzen.  Bisweilen  kann  man  es  un- 
mittelbar verfolgen,  wie  derartige  Erinnerungen  in  dem  Kranken  ' 
auftauchen  und  sich  festsetzen.  Ein  Kranker  meinte,  schon  früher 
sei  alles  wahr  geworden,  was  er  sich  dachte. 

Die  gemeinsame  Eigenthümlichkeit  aller,  auf  den  verschiedensten 
Wegen  entstandenen  Wahnbildungen  ist  ihre  grundsätzliche  Un- 
erschütterlichkeit.  Obgleich  der  Kranke  vielleicht  selbst  zugiebt, 
dass  er  selten  oder  nie  den  zwingenden  Beweis  für  die  Richtigkeit 
seiner'  Auffassung  erbringen  könne,  prallt  doch  jeder  Versuch,  ihn 


Krankheitsbild. 


439 


von  der  Wahnhaftigkeit  seiner  Ideen  zu  überzeugen,  wie  an  einer 
Mauer  ab.  Man  geht  eben  so  schlau  vor,  dass  sich  die  Erkenntniss 
des  inneren  Zusammenhanges  aller  der  scheinbaren  Zufälligkeiten 
nur  vom  Standpunkte  jener  subjectiven  Ueberzeugung  aus  gewinnen 
lässt,  „die  einmal  unerschütterlich  bestand  und  bestehen  wird“,  wie 
ein  Kranker  sagte.  „Ich  lebe  in  der  Einbildung,  dass  das  keine 
Einbildung  ist;  ich  drücke  mich  eben  sein  vorsichtig  aus.“  Der 
Kranke  fühlt  daher  auch  bisweilen,  dass  ein  Uneingeweihter  seinen 
Gedankengängen  nicht  überall  folgen  kann,  und  fürchtet  dann,  dass 
seine  Verfolger  sich  diese  Sachlage  zu  Nutze  machen  möchten, 
um  ihn  für  einen  mit  Verfolgungswahn  Behafteten  zu  erklären. 
Von  einer  Krankheitseinsicht  ist  niemals  die  Rede;  dagegen  be- 
stehen nicht  selten  allerlei  hypochondrische  Klagen,  über  Nervosität, 
Kopfdruck,  Verdauungsschwäche,  für  die  gern  die  ärztliche  Behand- 
lung verantwortlich  gemacht  wird;  die  Kranken  nehmen  daher  wol 
zu  allerlei  absonderlichen,  zum  Theil  selbst  erfundenen  Curen  ihre 
Zuflucht. 

Die  Stimmung  des  Kranken  steht  mit  seinen  Wahnvorstellungen 
in  innigstem  Zusammenhänge.  Er  empfindet  die  vermeintlichen 
Verfolgungen  als  eine  Art  „geistiger  Folter“,  fühlt  sich  dauernd  be- 
unruhigt und  gequält,  wird  argwöhnisch,  menschenscheu,  gereizt. 
Andererseits  sind  die  Kranken  selbstzufrieden,  anmassend,  hoch- 
fahrend und  rechthaberisch.  Oft  wechselt  die  Stimmung  aus  wahn- 
haften Anlässen.  Einen  sonst  sehr  selbstbewussten  Kranken  fand 
ich  eines  Tages  ängstlich  und  am  ganzen  Leibe  zitternd,  da  er  aus 
einem  zufällig  gehörten  Schimpfworte  den  Schluss  gezogen  hatte, 
dass  man  ihn  eines  vor  Jahren  vorgekommenen  Mordes  beschuldige. 
Bisweilen  tauchen  auch  plötzlich  Selbstmordgedanken  auf. 

Das  Handeln  und  Benehmen  des  Kranken  kann  verhältniss- 
mässig  lange  ohne  deutlichere  Störung  bleiben.  Allerdings  erscheint 
seine  gesammte  Lebensführung  oft  sonderbar  und  unverständlich. 
Ein  Kaufmann,  der  sich  in  Amerika  ein  kleines  Vermögen  erworben 
hatte  und  krank  von  dort  zurückgekehrt  war,  verzehrte  dasselbe  all- 
mählich, bis  er  der  Armenpflege  anheimfiel,  zu  stolz,  um  eine  seiner 
hohen  Selbstschätzung  nicht  angemessene  Arbeit  zu  übernehmen. 
Nun  erst  stellte  sich  heraus,  dass  er  seit  fast  20  Jahren  an  aus- 
geprägten Verfolgungs-  und  Grössenideen  litt.  Trotz  guter  Anlagen 
bringt  der  Kranke  doch  nichts  Rechtes  fertig,  sondern  hat  überall 


440 


X.  Die  Verrücktheit. 


Misserfolge,  macht  Ausgaben,  die  weit  über  seine  Verhältnisse  hinaus 
gehen,  beschäftigt  sich  mit  absonderlichen  Fragen,  baut  an  einem 
Perpetuum  mobile,  an  einem  lenkbaren  Luftschiffe  mit  nie  entmuthigter 
Zuversicht  herum.  Da  er  überall  Geheimbündelei  vermuthet,  hält 
er  nirgends  lange  aus,  zieht  sich  zurück,  schreibt  an  fremde  Per- 
sonen beleidigende  Briefe,  führt  gelegentlich  Auftritte  mit  seinen 
Freunden  und  Verwandten  herbei,  die  diesen  gänzlich  unverständ- 
lich bleiben.  Viele  dieser  Kranken  sind  jedoch  im  Stande,  ihre 
Kämpfe  und  Wünsche  dauernd  derart  in  sich  zu  verschliessen,  dass 
nur  der  Eingeweihte  über  den  Krankheitszustand  ins  Klare  kommt 
and  im  täglichen  Lebensgange  keine  krankhaften  Handlungen  ohne 
weiteres  erkennbar  sind.  Dennoch  fällt  wol  hier  und  da  einmal 
eine  räthselhafte  Aeusserung,  eine  imbegreifliche  Handlung  des 
Kranken  auf,  absonderliche  Lebensgewohnheiten,  ungewöhnliche 
Kleidung,  schwärmerische  Vorliebe  für  gewisse  einseitige  religiöse, 
künstlerische,  populär- wissenschaftliche  Bestrebungen,  allein  man 
pflegt  alle  diese  Dinge  berechtigten  Eigentümlichkeiten  einer 
stark  entwickelten  Persönlichkeit  oder  einfachen  Charakterfehlern 
zuzuschreiben,  ohne  die  tiefere  Bedeutung  derselben  zu  durch- 
schauen. 

Um  sich  den  Verfolgungen  und  fortgesetzten  Anzapfungen  zu 
entziehen,  wechselt  der  Kranke  plötzlich  unter  nichtigem  Vorwände 
seine  Stellung,  oder  er  begiebt  sich  auf  Beisen.  Dieses  Mittel  hilft 
nicht  selten  für  einige  Zeit.  Allein  sehr  bald  bemerkt  er,  dass  man 
ihm  wie  einer  bereits  angemeldeten  Persönlichkeit  begegnet,  über 
ihn  und  sein  gesammtes  Vorleben  vollständig  untem chtet  ist.  In 
allerlei  Andeutungen  spinnen  sich  geheime  Fäden  aus  seiner  früheren 
in  die  jetzige  Umgebung  hinein.  Man  spionirt  ihm  überall  nach; 
einzelne  Personen,  die  er  trotz  vermeintlicher  Verkleidung,  falscher 
Bärte,  gefärbter  Haare  überall  wiedererkennt,  folgen  ihm  auf  Schritt 
und  Tritt,  überwachen  ihn  beständig,  so  dass  seine  Lage  oft  „schlimmer 
ist,  als  die  eines  steckbrieflich  Verfolgten'1.  Seine  Vorstellungen 
von  der  Ausdehnung  und  den  Machtmitteln  der  ihn  verfolgenden 
Bande  erweitern  sich  dabei  allmählich  immer  mehr.  Zugleich  wird 
seine  Lebensführung  wie  sein  äusseres  Benehmen  eigenthümlich 
unstet  und  zerfahren.  Die  Fähigkeit  zu  andauernder  sachlicher 
Beschäftigung,  zur  regelmässigen  Erfüllung  bestimmter  Berufspflichten 
wird  durch  die  fortwährende  gemüthliche  Beunruhigung  empfindlich 


Krank  hei  tsbild. 


441 


beeinträchtigt,  auch  wenn  seine  Verstandesleistungen  an  sich  keine 
gröberen  Störungen  erkennen  lassen. 

In  dem  Gefühle  wachsender  Unsicherheit  sucht  er  nun  in  Form 

I 

von  Zeitungsanzeigen  oder  Flugblättern  das  schändliche  Spiel  seiner 
Gegner  öffentlich  zu  brandmarken  und  sich  gegen  die  versteckten 
Anschuldigungen  zu  vertheidigen.  Er  reicht  auch  wol  eine  Ver- 
leumdungsklage  ein,  ruft  die  Hülfe  der  Behörden,  des  Staatsober- 
hauptes an.  Oder  er  greift  zur  Selbsthülfe,  ohrfeigt  einen  vermeint- 
lichen Spion  im  Wirthshause,  sucht  einen  Yerleumder  niederzu- 
schiessen,  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  durch  eine  auffallende 
Handlung  auf  seine  Person  und  seine  gefährdete  Lage  zu  lenken. 
Auch  Selbstmordversuche  kommen  vor.  Ein  Student,  der  sich  für 
einen  Napoleoniden  hielt,  brachte  seiner  Mutter,  seinen  beiden 
Schwestern  und  sich  selbst  schwere  Verletzungen  bei,  weil  der 
sonderbare  Geschmack  der  Suppe  ihm  einen  Yergiftungsversuch 
anzeigte.  Die  Grössenideen  können  den  Kranken  veranlassen,  sich 
seinen  vermeintlichen  hohen  Eltern,  seiner  erlauchten  Braut  zu 
nähern,  anfangs  vielleicht  auf  allerlei  Umwegen,  indem  er  an  ihrem 
Hause  vorübergeht,  Fremden  gegenüber  geheimnissvolle  Andeutungen 
fallen  lässt,  von  denen  er  überzeugt  ist,  dass  sie  richtig  verstanden 
und  an  die  bestimmte  Adresse  befördert  werden.  Er  schreibt  einen 
Brief  und,  da  derselbe  erfolglos  bleibt,  einen  zweiten  und  dritten, 
macht  schliesslich  den  Versuch,  persönlich  zu  den  in  sein  Wahn- 
system verflochtenen  Personen  und  Behörden  vorzudringen.  Bei 
mehr  religiöser  Färbung  des  Grössemvahns  tritt  der  Kranke  öffent- 
lich als  Apostel  hervor,  sucht  sich  eine  Gemeinde  zu  gründen,  einen 
neuen  Gottesdienst  in  eigenartigen  Formen  einzuführen,  predigt  in 
Wort  und  Schrift,  unterbricht  den  Geistlichen  in  der  Kirche. 

Vielfach  führen  absonderliche  oder  gefährliche  Handlungen  ver- 
schiedenster Art  zur  Verbringung  des  Kranken  in  die  Irrenanstalt. 
Dieses  Ereigniss  ist  für  ihn  ein  neuer  hinterlistiger  Schachzug  seiner 
Gegner,  die  ihm  schon  längst  angedeutet  haben,  dass  er  mit  Wahn- 
sinn endigen  müsse.  Zunächst  fügt  er  sich,  da  er  sicher  ist,  dass 
man  seine  geistige  Gesundheit  bald  erkennen  werde.  In  allen  seinen 
Aeusserungen  hält  er  sich  sehr  zurück,  weicht  eindringlicheren  Fragen 
aus  und  verbirgt  oft  lange  Zeit  das  Netz  seiner  Wahnideen  hinter 
einem  äusserlich  tadellosen  Benehmen,  bis  ihm  ein  besonderer  Anlass, 
eine  gemüthliche  Erregung  dieselben  herauslockt.  Allmählich  wird 


442 


X.  Die  Verrücktheit. 


ihm  jedoch  klar,  dass  sich  das  versteckte  Verfolgungssystem  auch  in 
der  Anstalt  fortsetzt.  Die  Aerzte  sind  gedungen,  ihn  unschädlich  und 
womöglich  wirklich  geisteskrank  zu  machen,  da  man  ihm  auf  andere 
Weise  nicht  beizukommen  vermochte.  Kleine  Reibereien  und  Un- 
annehmlichkeiten, Aenderungen  im  Befinden,  gelegentliche  Be- 
merkungen zeigen  ihm,  dass  die  Anfechtungen  und  Einschüchte- 
rungen auch  von  der  neuen  Umgebung  ins  Werk  gesetzt  werden. 
Seine  Mitpatienten  sind  gar  nicht  krank,  sondern  bestochene  Simu- 
lanten oder  Polizeispione,  welche  ihn  durch  ihr  Verhalten,  ihre  un- 
sinnigen Streiche  „prüfen“  sollen.  Er  dringt  daher  sehr  nachdrück- 
lich auf  seine  Entlassung,  schreibt  Briefe  über  Briefe,  um  dieselbe 
zu  erwirken,  verfasst  Beschwerden  wegen  widerrechtlicher  Freiheits- 
beraubung, macht  Fluchtversuche  und  führt  nicht  selten  den  er- 
bitterten Kampf  um  seine  Menschenrechte  mit  grossem  Geschicke 
und  äusserster  Hartnäckigkeit. 

Oder  aber  der  Kranke  erkennt,  dass  der  Aufenthalt  in  der  An- 
stalt nur  ein  nothwendiges  Glied  in  der  Kette  der  Prüfungen  dar- 
stellt, die  er  bestehen  muss,  um  am  Ende  zu  seinem  hohen  Ziele 
zu  gelangen.  Ja,  bei  genauerem  Nachdenken  ergiebt  sich  ihm 
klar,  dass  schon  in  seiner  Vergangenheit  vielfache  Hinweise  auf 
dieses  Fegefeuer  der  Irrenanstalt  enthalten  waren.  Weit  entfernt 
daher  von  der  Muthlosigkeit  und  Verzweiflung,  schöpft  er  aus  dem 
pünktlichen  Eintreffen  alles  dessen,  was  das  Schicksal  vorher  mit 
ihm  bestimmt  hatte,  neue  Hoffnung  auf  die  Erreichung  auch  seiner 
letzten  und  höchsten  Ziele.  Eine  besondere  Bestätigung  findet 
diese  seine  Auffassung  nicht  selten  in  der  alsbald  von  ihm  ge- 
machten Wahrnehmung,  dass  auch  in  der  Anstalt  die  geheimniss- 
vollen  Andeutungen  über  seine  glänzende  Zukunft  nicht  ausbleiben. 
Er  wird  mit  besonderer  Aufmerksamkeit  behandelt;  man  giesst 
ihm  Rosenöl  in  sein  Badewasser,  sagt  ihm  verblümte  Schmeicheleien, 
spielt  ihm  Zeitungen  und  Bücher  in  die  Hand,  deren  Inhalt  sich 
auf  ihn  bezieht.  Es  kann  ihm  daher  nicht  entgehen,  dass  die 
Aerzte  ihn  nur  „auf  höheren  Befehl“  zurückhalten  und  gar  nicht 
daran  denken,  ihn  wirklich  für  krank  anzusehen.  Unter  seinen 
Mitkranken  entdeckt  er  sehr  hochgestellte  Persönlichkeiten,  die  man 
unter  falschem  Namen  zu  seiner  Gesellschaft  mit  in  die  Anstalt 
versetzt  hat. 

Der  weitere  Verlauf  der  Krankheit  ist  regelmässig  ein  sehr 


Verlauf;  Ursachen. 


443 


langsamer,  meist  viele  Jahre  hindurch  fast  stillstehender.  Die  Kranken 
bleiben  ruhig,  besonnen,  bewahren  andauernd  eine  äusserlich  ge- 
ordnete Haltung  und  vermögen  sich  vielfach  sogar  recht  gut  geistig 
zu  beschäftigen.  Ein  einfacher  Bauernsohn,  der  sich  für  den  Kaiser 
und  Papst  in  einer  Person,  späterhin  sogar  für  unsterblich  hielt, 
lernte  im  Laufe  einiger  Jahre  unter  meinen  Augen  mit  äusserst  un- 
zulänglichen Hülfsmitteln  nicht  weniger  als  acht  verschiedene  alte 
und  neuere  Sprachen  leidlich  lesen,  um  sich  die  für  seinen  hohen 
Beruf  nöthige  Bildung  zu  verschaffen.  Andere  sind  künstlerisch 
oder  schriftstellerisch  thätig,  sogar  mit  Erfolg,  oder  sie  vermögen 
doch  wenigstens  ihren  Lebensunterhalt  zu  verdienen,  werden  nur 
für  eigenthümliche  Käuze  gehalten,  da  sie  ihre  Wahnvorstellungen 
sorgfältig  in  sich  verschliessen.  Vielfach  führen  sie  freilich  ein 
unstetes,  abenteuerliches  Leben  voller  Unbegreiflichkeiten  und  Ab- 
sonderlichkeiten. Erst  im  Laufe  von  Jahrzehnten  pflegt  sich  eine 
langsam  zunehmende  psychische  Schwäche  geltend  zu  machen,  Nach- 
lassen der  geistigen  Regsamkeit  unter  ganz  allmählicher  Weiter- 
bildung des  Wahnsystems.  Irgend  welche  körperliche  Störungen, 
insbesondere  Schwankungen  des  Gewichtes,  pflegen  die  Krankheit 
nicht  zu  begleiten;  sie  können  nur  einmal  durch  zufällige  Neben- 
umstände herbeigeführt  werden. 

Die  Häufigkeit  der  hier  beschriebenen  Form  des  Irreseins  ist 
keine  grosse ; sie  erreicht  nach  meinen  Erfahrungen  noch  nicht  1 °/0 
der  Aufnahmen.  Männer  scheinen  in  höherem  Maasse  betheiligt  zu 
sein,  als  Frauen.  Erbliche  Veranlagung  zu  Geistesstörungen  dürfte 
eine  erhebliche  Rolle  spielen.  Im  übrigen  werden  widrige  Lebens- 
schicksale, Enttäuschungen,  Einsamkeit,  der  Kampf  mit  Noth  und 
Entbehrung  als  Ursachen  aufgeführt;  oft  sind  sie  aber  wol  mehr 
als  Folge  des  schon  lange  Zeit  absonderlichen  Verhaltens  der  Kranken 
anzusehen.  Meist  tritt  die  Krankheit  zwischen  dem  25.  und  40.  Lebens- 
jahre auf.  Allerdings  hat  Sander  unter  dem  Namen  der  originären 
Paranoia  eine  Form  beschrieben,  bei  der  nach  seiner  Anschauung 
die  Krankheit  bis  in  die  Jugendzeit  zurückreichen  sollte.  In  der 
That  hört  man  nicht  selten  von  solchen  wie  von  anderen  wahn- 
bildenden Kranken,  dass  schon  ihre  früheste  Jugend  von  Ahnungen 
und  Wahrnehmungen  erfüllt  gewesen  sei,  die  auf  ihre  hohe  Geburt 
und  auf  die  mächtigen  Feinde  hingewiesen  hätten.  Ich  habe  mich 
indessen  allmählich  davon  überzeugen  können,  dass  sich  in  diesen 


444 


X.  Die  Verrücktheit. 


Fällen  der  Beginn  der  Krankheit  mit  einiger  Sicherheit  meist  nur 
bis  in  die  erste  Hälfte  des  3.  Lebensjahrzehntes  verfolgen  lässt.  Alle 
weiter  in  die  Vergangenheit  hineinreichenden  Erzählungen  der  Kranken 
sind  höchst  wahrscheinlich  immer  nachträgliche  Erfindungen.  Neisser 
hat  geradezu  als  kennzeichnendes  Merkmal  der  von  Sander  ge- 
schilderten Gruppe  das  dort  in  der  That  besonders  häufige  Krankheits- 
zeichen  der  Erinnerungsfälschungen  bezeichnet  und  die  Unterscheidung 
einer  „confabulirenden  Paranoia“  vorgeschlagen.  Es  erscheint  mir 
indessen  nicht  möglich,  unter  dem  einen  oder  dem  anderen  Gesichts- 
punkte eine  einheitliche  Gruppe  von  Krankheitsfällen  gegenüber 
anderen  Formen  abzugrenzen. 

Die  Erkennung  der  Krankheit  hat  bei  aufmerksamer  Be- 
achtung der  langsamen  Entwicklung,  der  eigenthümlichen,  zusammen- 
hängenden Wahnbildung,  der  ausgezeichneten  Erhaltung  des  Ver- 
standes sowie  der  Ordnung  in  Gedankengang,  Benehmen  und 
Handeln  kaum  irgend  welche  Schwierigkeiten.  Freilich  können 
manche  Fälle  von  Dementia  praecox,  von  Paralyse,  Altersblödsinn 
und  selbst  von  manisch-depressivem  Irresein  für  die  oberflächliche 
Betrachtung  vorübergehend  ein  ganz  ähnliches  Bild  darbieten.  Wir 
sind  bei  den  genannten  Krankheiten  überall  schon  auf  die  unter- 
scheidenden Merkmale  eingegangen  und  wollen  hier  daher  nur  noch- 
mals betonen,  dass  die  Paranoia  immer  schon  Jahre  lang  besteht, 
bevor  sie  überhaupt  erkannt  wird,  dass  die  Wahnvorstellungen 
folgerichtig  verarbeitet,  Einwände  scharfsinnig,  wenn  auch  vielleicht 
durch  Trugschlüsse,  widerlegt  werden.  Ferner  steht  das  ganze 
Denken  und  Handeln  des  Kranken  hier  vollkommen  unter  dem 
Einflüsse  des  Wahnes;  er  ist  durchaus  unbelehrbar,  leidenschaftlich, 
hartnäckig  in  der  Verteidigung  und  in  der  Verfolgung  seiner 
Ideen.  Die  Freiheitsberaubung  empfindet  er  als  eine  schwere  Un- 
bill und  wird  nicht  müde,  mit  allen  Mitteln  gegen  dieselbe  anzu- 
kämpfen, alles  im  Gegensätze  zu  der  Weichheit  und  Bestimmbarkeit 
der  Paralytiker,  zu  der  Zerfahrenheit  und  gemüthlichen  Stumpfheit 
in  der  Dementia  praecox.  Der  senile  und  praesenile  Beeinträchtigungs- 
wahn sind  durch  die  rasche  Entstehung,  den  Wechsel,  die  Zu- 
sammenhangslosigkeit und  Abenteuerlichkeit  der  Wahnbildung  aus- 
gezeichnet, während  das  manisch-depressive  Irresein  überall  neben 
dem  Wahne  die  Zeichen  der  psychomotorischen  Hemmung  oder 
Erregung  erkennen  lässt. 


QueTulantenwahn . 


445 


Die  Behandlung  unserer  Kranken  hat  nur  die  Aufgabe,  sie 
durch  Ablenkung  und  Beschäftigung  möglichst  von  der  Versenkung 
in  ihre  Wahnvorstellungen  abzuhalten.  Vielfach  gelingt  das  unter 
günstigen  Verhältnissen  Jahrzehnte  lang  so  gut,  dass  die  Kranken 
trotz  der  ausgeprägtesten  Wahnbildungen  doch  im  Stande  sind, 
ohne  allzu  grosse  Schwierigkeit  in  der  Freiheit  zu  leben.  Die 
Zurückhaltung  in  der  Anstalt  vertragen  sie  regelmässig  sehr  schlecht; 
man  wird  daher  bestrebt  sein,  ihnen,  so  weit  es  irgend  angeht,  diese 
Beschränkung  zu  ersparen.  — 

Eine  ganz  eigenartige  Entwicklungsform  der  Verrücktheit  bildet 
der  Querulantenwahn*).  Den  Grundzug  im  Krankheitsbilde 
liefert  hier  die  Vorstellung  der  rechtlichen  Benachtheiligung 
und  der  leidenschaftliche  Drang,  gegen  das  vermeintlich  erlittene  Un- 
recht bis  auf  das  äusserste  anzukämpfen.  In  der  Regel  knüpft  sich 
jene  Vorstellung  an  irgend  einen  wirklichen  Nachtheil  an, 
den  der  Kranke,  meistens  in  einem  Rechtsstreite  und  mit  vollem 
Rechte,  erlitten  hat.  Bei  dieser  Gelegenheit  stellt  sich  heraus,  dass 
ihm  die  Fähigkeit  fehlt,  sein  Unrecht  einzusehen.  Er  ist  ausser  Stande, 
die  Sachlage  unparteiisch  zu  betrachten,  auch  den  gegnerischen  Stand- 
punkt zu  würdigen,  und  verlangt  ohne  weiteres  die  allgemeine  An- 
erkennung seiner  persönlichen  Auffassungen  und  Wünsche.  Der 
Widerstand,  auf  den  er  dabei  stösst,  meist  auch  greifbare  Nachtheile, 
die  ihm  erwachsen,  befestigen  in  ihm  die  Ansicht,  dass  ihm  bitteres 
Unrecht  geschehen  sei,  gegen  das  er  sich  mit  allen  Mitteln  auflehnen 
müsse.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  der  Gedanke,  auf  jeden  Fall 
die  Anerkennung  der  eigenen  Rechtsansprüche  zu  erzwingen,  an 
sich  ein  vollkommen  gesunder  genannt  werden  muss.  Was  den 
Querulanten  kennzeichnet,  ist  der  Mangel  an  Verständniss  für  das 
wirkliche  Recht,  die  einseitige  Betonung  der  persönlichen  Interessen 
gegenüber  dem  höheren  Gesichtspunkte  des  allgemeinen  Rechts- 
schutzes. „Er  sucht  das  Recht,  kann  es  aber  nicht  finden,“  sagte 
ein  Zeuge  im  Entmündigungsverfahren  sehr  bezeichnend  von  einem 
Querulanten. 

Ihre  tiefere  Grundlage  hat  die  Entwicklung  einer  derartig 
schiefen  Auffassung  immer  in  einer  Unzulänglichkeit  des  Urtheils. 


*)  Hitzig,  Ueber  den  Querulantenwahnsinn,  1895;  Koppen,  Archiv  f.  Psy- 
chiatrie, xxvm,  221. 


446 


X.  Die  Verrücktheit. 


Thatsächlich  lässt  sich  diese  Störung  regelmässig  bei  Querulanten 
nachweisen.  Sie  zeigt  sich  namentlich  in  der  vollkommenen  Un- 
belehrbar keit  dieser  Kranken.  Selbst  die  handgreiflichsten  Beweis- 
stücke machen  nicht  den  geringsten  Eindruck  auf  sie,  ja  sie  werden 
gar  keiner  eigentlichen  Prüfung  gewürdigt.  Die  Kranken  hören  die 
an  sie  gerichteten  Auseinandersetzungen  wol  ruhig  mit  an,  geben 
zu,  was  nach  ihrer  Ansicht  unverfänglich  ist,  entziehen  sich  jedoch 
jedem  logischen  Zwange  dadurch,  dass  sie  als  Antwort  einfach  ihre 
früheren  Ansichten  wiederholen  oder  alle  Einwendungen  durch 
einen  gänzlich  untriftigen  Gegenbeweis  abschneiden.  „Ich  bleibe  bei 
meiner  Sache  stehen;  was  geschrieben  ist,  ist  geschrieben.“  Selbst 
die  Gewährung  der  vom  Kranken  geforderten  Genugtuung  ver- 
mag ihn  nicht  zu  befriedigen.  Einer  meiner  Kranken,  der  sich  auf 
Grund  einer  Aeusserung  des  Richters  „amtlich  für  närrisch  er- 
klärt“ glaubte,  machte  diese  Behauptung  zum  Ausgangspunkte  eines 
erbitterten  Kampfes  gegen  die  Behörden,  obgleich  ihm  wiederholt 
sogar  vom  Ministerium,  dargelegt  wurde,  dass  gar  nichts  gegen  ihn 
geschehen  sei,  und  obwol  man  sich  von  allen  Seiten  bemühte, 
ihn  durch  freundliches,  schonendes  Entgegenkommen  zu  beruhigen; 
er  wies  kurzer  Hand  jeden  Versuch,  ihm  zu  helfen,  zurück,  „so 
lange  die  amtliche  Närrischerklärung  nicht  aufgehoben  sei“.  Durch 
diese  Unerschtitterlichkeit  kennzeichnet  sich  die  Vorstellung  recht- 
licher Benachteiligung  schon  von  vorn  herein  als  Wa  h n.  Alle 
der  eigenen  Ansicht  entgegenstehenden  Aussagen  werden  ohne 
weiteres  für  unglaubwürdig  und  erlogen  erklärt;  die  fremden 
Zeugen  sind  meineidig,  bestochen.  Dem  gegenüber  beruft  sich  der 
Kranke  bei  jeder  seiner  Behauptungen  auf  eine  Menge  namhaft  ge- 
machter Zeugen,  die  indessen  gar  keine  oder  ganz  belanglose  An- 
gaben zu  machen  wissen  und  dann  verleugnet  werden,  weil  sie 
nicht  recht  ausgesagt  haben.  An  ihre  Stelle  treten  gewöhnlich 
andere  und  wieder  andere,  von  denen  der  Kranke  besonders  wichtige 
Aufschlüsse  in  Aussicht  stellt,  um  stets  von  neuem  in  seiner  Er- 
wartung betrogen  zu  werden. 

Aus  der  Quelle  des  Wahnes  entspringt  auch  die  eigenthümliche 
Leichtgläubigkeit  der  Querulanten,  die  inbemerkenswerthem  Gegen- 
sätze zu  ihrer  Unbelehrbarkeit  steht.  Jede  Klatschgeschichte,  jedes 
Gerücht,  jede  beliebige  Rederei  gilt  ihnen  sofort  als  unumstössliche 
Gewissheit,  sobald  sich  ihr  Inhalt  in  den  eigenen.  Vorstellungskreis 


Querulanten  wahn . 


447 


einfügt.  So  unzugänglich  sie  gegenüber  den  schlagendsten  Ein- 
wänden sind,  so  empfänglich  erweisen  sie  sich  für  jede  üble  Nach- 
rede über  ihre  Gegner.  Sie  halten  sich  nicht  nur  für  berechtigt, 
ohne  die  geringste  Prüfung  daran  zu  glauben,  sondern  sie  auch  in 
der  schärfsten  und  übertriebensten  Form  weiter  zu  verbreiten.  Die 
eingehendsten  und  wohlwollendsten  Belehrungen  über  die  Rechts- 
lage von  wirklich  Sachverständigen  fruchten  bei  ihnen  nichts,  sobald 
sie  ihrer  Auffassung  zuwiderlaufen;  dagegen  bauen  sie  felsenfest 
auf  die  Bestätigung  dieser  letzteren,  welche  ihnen  „rechtskundige 
Männer“  im  Dorfe  gegeben  haben. 

Die  Auffassung  und  das  Gedächtniss  des  Querulanten  erscheint  zu- 
nächst ungestört,  ja  man  ist  oft  sogar  über  die  Genauigkeit  erstaunt,  mit 
welcher  der  Kranke  umfangreiche  Actenstücke,  Verhöre,  Gesetzesstellen, 
anscheinend  wörtlich,  auswendig  herzusagen  weiss.  Bei  eingehenderer 
Prüfung  findet  man  jedoch  sehr  häufig,  dass  der  Kranke  den  Sinn 
seiner  Ausführungen  durchaus  nicht  verstanden  hat  und  die  klarsten 
Sätze  in  ganz  verschrobener  Weise  ausdeutet,  sogar  in  ihr  Gegentheil 
verkehrt.  Ausserdem  laufen,  namentlich  bei  der  Wiedergabe  von 
Unterredungen,  die  gröbsten  Unrichtigkeiten  mit  unter,  von  denen  sich 
schwer  sagen  lässt,  ob  sie  durch  ursprüngliche  Missverständnisse 
oder  durch  nachträgliche  Fälschungen  der  Erinnerung  entstanden 
sind.  Zweifellos  kommt  auch  das  letztere  vor;  man  hat  bisweilen 
Gelegenheit,  unmittelbar  zu  beobachten,  wie  sich  eine  Erzählung  bei 
häufiger  Wiedergabe  immer  mehr  im  Sinne  des  Wahnes  verändert. 
Ein  Kranker  behauptete  hartnäckig,  ich  habe  ihn  vor  Gericht  für 
gesund  erklärt  und  gesagt,  die  Geisteskrankheit  werde  erst  in  3 bis 
4 Jahren  ausbrechen.  Er  hielt  an  dieser  Behauptung  trotz  meiner 
Ableugnung  dauernd  fest.  Bei  einem  anderen  Kranken  wuchs  die 
Summe,  um  die  er  geschädigt  sein  wollte,  sehr  rasch  von  1200  auf 
10000  Gulden  an;  eine  Geldschuld,  die  er  anfangs  zugab,  behauptete 
er  späterhin  bereits  vor  Jahren  abgetragen  zu  haben. 

Wenn  die  ersten  Anfänge  des  Querulan tenwahnes  wegen  ihrer 
Anknüpfung  an  thatsächliche  Vorkommnisse  für  die  oberflächliche 
Betrachtung  als  Ausfluss  eines  besonders  empfindlichen  Rechtsgefühls 
erscheinen  können,  so  tritt  nach  und  nach  die  krankhafte  Natur 
jener  Gedankengänge  immer  deutlicher  hervor.  Die  Unmöglichkeit, 
sein  vermeintliches  Recht  zu  erlangen,  beweist  dem  Kranken,  dass 
die  Zeugen  meineidige  Schurken,  die  Richter  und  Behörden  eine 


448 


X.  Die  Verrücktheit. 


Bande  von  Räubern  und  Spitzbuben  sind,  die  alle  Zusammenhalten, 
um  ihn  zu  unterdrücken  und  ihre  eigenen  Schlechtigkeiten  nicht  an 
den  Tag  kommen  zu  lassen.  „Dem  hilft  alles,“  sagt  er  von  seinem 
Gegner.  Man  ladet  seine  Zeugen  nicht,  die  nunmehr  ganz  gewiss 
glänzend  zu  seinen  Gunsten  ausgesagt  haben  würden;  man  verdreht 
seine  Aussagen,  fälscht  die  Acten  und  Protocolle,  seine  Unterschrift, 
schickt  ihm  die  Vorladungen  durch  falsche  Postboten,  macht  unter 
die  Bescheide  „Stempel,  wie  wenn  es  von  der  KgL  Hoheit  her- 
kommen  würde“.  Bisweilen  gesellen  sich  noch  auffallendere  Wahn- 
bildungen hinzu.  Der  Kranke  spürt,  dass  man  ihn  im  Gefängnisse 
durch  stark  gewürzte  und  gepfefferte  Speisen  hat  närrisch  machen 
wollen,  glaubt,  dass  man  ihm  nach  dem  Leben  trachte.  Mehrfach 
sah  ich  gleichzeitig  ausgeprägten  Eifersuchtswahn.  Hie  und  da 
kommen  einzelne  Sinnestäuschungen  vor;  in  einem  Falle  ent- 
wickelte sich  im  Gefängniss  vorübergehend  ein  ängstlicher  Er- 
regungszustand mit  zahlreichen  Gehörstäuschungen.  Der  Kranke 
hörte  Vorwürfe  und  Drohungen,  glaubte,  dass  seine  Hinrichtung 
bevorstehe. 

Die  Besonnenheit  des  Kranken  ist  dauernd  ungetrübt,  die  Ord- 
nung seiner  Gedanken  erhalten.  Niemals  aber  wird  man  eine  sehr 
grosse  Eintönigkeit  seines  Vorstellungsinhaltes  vermissen.  Jede 
Unterredung  mit  einem  Querulanten  pflegt  sehr  bald  auf  seine  Beein- 
trächtigungsideen zu  führen,  welche,  je  länger,  desto  mehr,  sein  ganzes 
wirkliches  Interesse  in  Anspruch  nehmen.  Von  jedem,  noch  so  ent- 
legenen Punkte  aus  führt  sein  Gedankengang  immer  wieder  auf 
diesen  Mittelpunkt  zurück.  In  endlosen,  vielfach  wörtlichen  Wieder- 
holungen kehren  bei  seinen  Ausführungen  dieselben  Gedankengänge 
wieder,  offenbar,  ohne  dass  der  Kranke  im  Stande  wäre,  sie  zu  unter- 
drücken oder  auch  nur  abzukürzen.  Bei  längerem  Bestände  der 
Krankheit  pflegt  übrigens  auch  der  Zusammenhang  der  langathmigen 
Auseinandersetzungen  zu  leiden.  Von  einer  Einsicht  in  die  Krank- 
heit ist  hier  natürlich  niemals  die  Rede;  vielmehr  betrachtet  der 
Kranke  den  Einwand  der  geistigen  Störung  als  einen  „treulosen 
Schwindel“.  Fast  immer  findet  er  aber  auch  Laien  und  selbst 
Aerzte  genug,  die  ihm  auf  Wunsch  seine  geistige  Gesundheit  be- 
scheinigen. Einer  meiner  Kranken  brachte  mit  Genugtuung  die 
Gesundheitszeugnisse  vor,  die  ihm  sechs  Bürgermeister  ausgestellt 
hatten. 


Querulanten  wahn. 


449 


Eine  regelmässige  Begleiterscheinung  des  Querulantenwahnes 
ist  das  stark  gehobene  Selbstgefühl.  Die  Kranken  halten  sich  für 
hervorragend  tüchtig  und  rechtlich,  blicken  daher  unter  allen  Um- 
ständen auf  ihre  Gegner  herab.  Sie  halten  etwas  auf  sich,  finden 
es  besonders  erschwerend,  dass  man  gerade  ihnen,  als  „verheiratheten 
Männern“  das  Recht  vorenthält.  Ein  Kranker  Unterzeichnete  sich : 
„Bürger,  Landwirth  und  Wittwer“;  ein  anderer,  der  ein  recht  ge- 
schickter Uhrmacher  war,  sprach  von  dem  Undanke,  mit  dem  das 
Vaterland  seinen  grossen  Söhnen  lohne.  Mit  dieser  Selbstüber- 
schätzung hängt  es  auch  zusammen,  dass  der  Kranke  die  unsitt- 
lichsten Mittel  für  erlaubt  hält,  sobald  sie  ihm  zur  Schädigung  seines 
Feindes  dienen,  während  selbst  die  mildesten  Formen  des  rechtlichen 
Zwanges  in  ihrer  Anwendung  auf  ihn  selbst  als  unerhörte  Angriffe 
und  Vergewaltigungen,  als  „gefühllose  Misshandlungen“  aufgefasst 
werden.  Ein  Kranker  empfand  die  verzögerte  Ablieferung  einer 
Postkarte  seitens  des  Postbeamten  an  ihn  als  eine  schwere  Schädigung, 
während  ihm  die  Blutschande  mit  seiner  Stieftochter  und  die  Unter- 
schlagung einer  Geldsumme  als  geringfügige  Uebertretungen  er- 
schienen; er  schrieb  seiner  Frau  Briefe  mit  hochtrabenden  Er- 
mahnungen zur  Sittlichkeit  und  rühmte  sein  gutes  Gewissen.  „So 
gefühlvoll?“  schrieb  ein  anderer  erstaunt,  als  wegen  eines  von  gröbsten 
Beleidigungen  strotzenden  Briefes  Anklage  gegen  ihn  erhoben  wurde. 
In  seinem  gehobenen  Selbstgefühle  pflegt  der  Kranke  ungeheure 
Summen  als  Entschädigung  für  das  ihm  angethane  Unrecht  zu  ver- 
langen. 

Ausnahmslos  finden  wir  ferner  bei  den  Querulanten  eine  be- 
deutende Steigerung  der  gemüthlichen  Erregbarkeit;  viel- 
leicht ist  in  ihr  der  nächste  Grund  für  den  Mangel  an  ruhiger 
sachlicher  Ueberlegung  bei  diesen  Kranken  zu  suchen.  Während 
sie  für  gewöhnlich  keine  auffallenderen  Störungen  der  Stimmung 
darbieten,  gerathen  sie  bei  der  Besprechung  ihrer  Rechtsstreitig- 
keiten sofort  in  die  leidenschaftlichste  Aufregung,  überschütten  den 
Hörer  mit  einer  wahren  Fluth  von  Schmähungen  über  ihre  Gegner 
und  wenden  sich  gegen  jeden  Widerspruch  oder  Einwand  mit 
der  gleichen  zornigen  Gereiztheit.  Einer  meiner  Kranken  bat  den 
Grossherzog  schriftlich  um  die  Erlaubniss,  seine  Gegner  selbst  abtbun 
zu  dürfen. 

Diese  Leidenschaftlichkeit  in  Verbindung  mit  der  Unbelehrbar- 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aull.  II.  Band.  29 


450 


X.  Die  Verrücktheit. 


keit  ist  es  auch,  welche  dem  Handeln  des  Kranken  den  eigenartigen 
Stempel  aufdrückt.  Er  ist  nicht  im  Stande,  sich  nach  Erschöpfung 
der  gewöhnlichen  Rechtsmittel  bei  der  endgültigen,  unabänderlichen 
Entscheidung  zu  beruhigen.  Ohne  jedes  Verständniss  für  die  völlige 
Nutzlosigkeit,  ja  die  sicheren  schweren  Folgen  weiterer  Schritte  sucht 
er  um  jeden  Preis  und  mit  allen  Mitteln  den  Sieg  im  Kampfe  um 
sein  vermeintliches  Recht  zu  erzwingen.  Blind  gegen  jeden  besseren 
Rath,  setzt  er  alle  nur  irgend  möglichen  Rechtsmittel  in  Bewegung, 
verlangt  „eine  richtige  Untersuchung“  über  Dinge,  die  längst  ab- 
gethan  sind,  appellirt  von  einer  Instanz  an  die  andere,  durch  keinen 
Misserfolg  belehrt  oder  wenigstens  eingeschüchtert.  Vielmehr  nimmt 
die  Hartnäckigkeit  und  Leidenschaftlichkeit  immer  zu.  Er  schreibt 
unzählige  Briefe  und  Eingaben  an  die  Gerichte,  an  Privatpersonen. 
Beamte,  an  den  Reichstag,  den  Landesfürsten  und  den  Kaiser,  in 
denen  er  in  den  schärfsten,  beleidigendsten  Ausdrücken,  ja  in  un- 
fläthigen  Schimpfereien  über  seine  Gegner,  über  die  Behörden,  die 
Richter  seinem  Herzen  Luft  macht.  Schon  in  der  äusseren  Form, 
in  den  Unterstreichungen,  Ausruf ungs-,  Frage-  und  Anführungs- 
zeichen, in  der  Hervorhebung  der  Kraftstellen  durch  besondere  Schrift 
oder  farbige  Tinte,  ferner  in  der  Langathmigkeit,  Umständlichkeit 
und  Eintönigkeit  des  Inhaltes  pflegen  diese  Schriftstücke  ihre  krank- 
hafte Entstehungsweise  zu  verrathen.  Auch  der  Stil  zeigt  vielfach 
eine  eigenthiimlich  verzwickte,  verschrobene  Ausdrucksweise,  die 
Wiederkehr  einzelner  absonderlicher,  halbverstandener,  aber  tönen- 
der Redewendungen,  die  sich  an  die  Rechtssprache  anlehnen.  Ein 
Kranker  schrieb  viel  vom  „falschen  Meineid“;  ein  anderer  ge- 
brauchte mit  Vorliebe  den  angeblich  von  mir  geäusserten  Satz: 
„Juristenrecht  geht  über  Reichsrecht“.  Die  Paragraphen  der  Gesetz- 
bücher, die  Berufung  auf  die  „Acten“  spielen  eine  grosse  Rolle. 
Abschriften  seiner  Eingaben,  Vorladungen,  Bescheide  pflegt  der 
Kranke  wohlverpackt  mit  sich  herumzutragen  und  bei  passeuder  Ge- 
legenheit auszukramen. 

Die  zunächst  folgenden  Anklagen  und  Strafen  wegen  Beleidigung 
oder  Verleumdung  steigern  nur  die  Erbitterung  des  Kranken;  er 
antwortet  mit  neuen,  immer  weiter  gehenden  und  ungeheuerlicheren 
Schmähungen.  Seine  ganze  Thätigkeit,  seine  Lebensinteressen  gehen 
immer  mehr  in  der  Sucht  auf,  Recht  zu  behalten,  mag  auch  alles 
Andere  darüber  zu  Grunde  gehen;  seine  Häuslichkeit,  sein  Geschäft, 


Querulanten  wahn. 


451 


sein  Vermögen,  alles  wird  diesem  krankhaften  Drange  geopfert.  Auf 
diese  Weise  kommt  er  in  seinen  Verhältnissen  herunter,  wird  durch 
die  endlosen  Processe  und  Anklagen  in  dauernder  Aufregung  er- 
halten, die  ihn  zu  immer  schrofferer  Stellungnahme  gegenüber  seinen 
Feinden  veranlasst.  Schliesslich  weist  er  jede  Gemeinschaft  mit  der 
bestehenden  Rechtsordnung,  ja  auch  mit  den  staatlichen  Einrichtungen 
überhaupt  zurück.  Er  unterschreibt  kein  Protokoll  mehr,  verweigert 
die  Annahme  von  Vorladungen,  lässt  sich  zur  Verhandlung  mit  Ge- 
walt vorführen.  Er  greift  zur  Selbsthülfe,  nimmt  einfach  fort,  was 
er  als  sein  Eigenthum  betrachtet,  wendet  sich  an  die  Presse,  be- 
droht seine  Gegner  persönlich,  schiesst  auf  den  pfändenden  Gerichts- 
vollzieher. 

Sehr  häufig  gelingt  es  dem  Kranken  mit  seiner  leidenschaftlichen 
Thatkraft,  diese  oder  jene  Person  seiner  Umgebung  von  der  Recht- 
mässigkeit seiner  Ansprüche  zu  überzeugen.  Ich  kannte  einen 
58jährigen  Querulanten,  der  in  einem  fernen  Dorfe  mehrere  Bauern 
veranlasst  hatte,  grosse  Geldopfer  zu  bringen,  um  eine  vermeintliche 
Entschädigungssumme  von  50,000  Mark  von  einem  Bürgermeister 
herauszupressen.  Die  von  ihnen  verfassten  Eingaben  ähnelten  denen 
des  Kranken  ganz  überraschend;  einer  der  Bauern  hatte  den  letzteren 
bereits  als  willkommenen  Schwiegersohn  in  Aussicht  genommen. 
Andererseits  ergreifen  Querulanten  vielfach  mit  Freuden  die  Ge- 
legenheit, auch  für  Andere  Briefe,  Eingaben,  Proteste,  Streitschriften 
zu  schreiben,  und  gerathen  auf  diese  Weise  bisweilen  geradezu  in 
die  Laufbahn  von  Winkeladvocaten  hinein.  Dabei  kommt  ihnen  be- 
sonders eine  gewisse  Spitzfindigkeit  und  ihre  äusserliche  Kenntniss 
der  Rechtssätze  zu  Gute,  die  sie  überall  hervorkehren. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Krankheit  stellt  sich  regelmässig  eine 
deutliche  Zunahme  der  geistigen  Schwäche  ein.  Die  Eingaben  und 
Reden  des  Kranken  werden  immer  einförmiger  und  zusammenhangs- 
loser. Der  Kranke  wartet  auch  meist  gar  nicht  mehr  auf  eine 
Antwort,  sondern  schreibt  nur  noch  gewohnheitsmässig  von  Zeit  zu 
Zeit  eines  seiner  eigenartigen  Schriftstücke.  Die  Erregbarkeit  nimmt 
ab;  der  Kranke  wird  stumpf,  harmlos  und  gleichmüthig,  öfters  sogar 
weinerlich  und  rührselig,  wenn  man  ihn  nicht  durch  Berührung  des 
wunden  Punktes  geflissentlich  reizt.  Er  verkehrt  freundlich  mit 
dem  Arzte,  den  er  vielleicht  eben  noch  in  einer  Eingabe  als  infamen 
Lügner  und  Schwindler  bezeichnet  hat.  Bisweilen  verleugnet  er 

29* 


452 


X.  Die  Verrücktheit. 


geradezu  seine  früheren  Handlungen,  um  unangenehmen  Auseinander- 
setzungen auszuweichen;  er  will  nichts  mehr  davon  wissen;  das  ist 
vorbei.  Von  einer  wirklichen  Berichtigung  der  krankhaften  Vor- 
stellungen ist  dabei  jedoch  keine  Rede;  vielmehr  lässt  sich  bei  An- 
regung der  alten  Erinnerungen  in  den  Augenblicken,  wo  die  Selbst- 
beherrschung versagt,  stets  erkennen,  dass  der  Kranke  unverändert 
auf  seinem  früheren  Standpunkte  stehen  geblieben  ist  und  nur  die 
Spannkraft  zu  äusserem  Widerstande  verloren  hat. 

Die  Erkennung  des  Querulantenwahnes  bietet  namentlich  im 
Beginne  gewisse  Schwierigkeiten.  Einerseits  kann  das  Queruliren 
als  Krankheitszeichen  bei  verschiedenen  Formen  des  Irreseins  auf- 
treten,  so  bei  der  Paralyse  und  namentlich  im  circulären  Irresein. 
Die  Beachtung  der  für  jene  Erkrankungen  kennzeichnenden  Er- 
scheinungen, der  körperlichen  und  Gedächtnisstörungen  dort,  der 
Ideenflucht,  der  Ablenkbarkeit,  des  Betätigungsdranges,  der 
Stimmungsschwankungen  und  des  anfallsweisen  Auftretens  hier,  wird 
die  Sachlage  in  der  Regel  bald  aufklären.  Andererseits  kann  unter 
Umständen  auch  ein  Gesunder  queruliren,  sogar  mit  Hartnäckigkeit 
und  Leidenschaftlichkeit.  Gerade  nach  dieser  Richtung  hin  sind  in 
neuerer  Zeit  vielfache  Fehldiagnosen  von  solchen  Gutachtern  zu 
verzeichnen,  denen  die  Thatsache  des  Querulirens  an  sich  und  der 
Umfang  der  aufgelaufenen  Acten  als  die  wesentlichen  Kennzeichen 
des  Querulantenwahnes  galten.  Dem  gegenüber  ist  als  massgebend 
für  die  Diagnose  vor  allem  die  wahnhafte  Gestaltung  der  Vor- 
stellungskreise zu  bezeichnen,  die  völlige  Unbelehrbarkeit,  die  all- 
mähliche Ausbreitung  der  Verfolgungsideen  auf  immer  weitere 
Personen,  der  Ausgang  der  ganzen  Entwicklung  von  einem  einzigen 
Punkte,  welcher  dauernd  im  Vordergründe  steht  imd  allen  späteren 
Gedanken  und  Handlungen  des  Kranken  immer  wieder  zur  An- 
knüpfung dient.  Gerade  deswegen  sind  die  Querulanten  nicht  zu 
verwechseln  mit  jenen  gesunden  streitsüchtigen  und  rechthaberischen 
Menschen,  die  mit  ihrer  ganzen  Umgebung  in  Unfrieden  leben. 
Im  Gegentheil  scheint  es  mir,  als  ob  Querulanten  wie  andere  Ver- 
rückte vielfach  im  täglichen  Verkehr  ganz  verträgliche,  wenn  auch 
oft  eigentümliche  Menschen  sind.  Während  jene  gesunden  Kampf- 
hähne bei  den  verschiedensten  Gelegenheiten  Zank  und  Streit 
vom  Zaune  brechen,  Processe  aufangen,  Beleidigungen  begehen, 
besteht  hier  ein  innerer  Zusammenhang  zwischen  allen  einzelnen 


Querulanten  wahn. 


453 


Abschnitten  des  Kampfes;  der  ganze  Rattenkönig  von  Processen, 
Klagen  und  Beschwerden  weist  auf  einen  bestimmten  ersten  An- 
stoss  zurück.  Bei  der  einfachen  Streitsucht  findet  jede  einzelne 
Angelegenheit,  wenn  auch  nach  langen  Kämpfen,  endlich  ihre  Er- 
ledigung, bei  der  sich  alle  Betheiligten  beruhigen;  hier  dagegen  endet 
der  ursprüngliche  Streit  niemals;  er  wächst  nur  immer  ungeheuer- 
licher an  und  erreicht  erst  in  der  Entmündigung  des  Kranken  seinen 
gewaltsamen  und  äusserlichen  Abschluss. 

Auf  der  anderen  Seite  ist  es  natürlich  möglich,  dass  die  an- 
scheinend wahnhaften  Vorstellungen  und  Behauptungen  wirklich  der 
Wahrheit  entsprechen.  Die  Erbitterung  und  der  rücksichtslose  Kampf 
bis  auf  das  äusserste  kann  die  gesunde  Antwort  eines  lebhaft  ent- 
wickelten und  schnöde  beleidigten  Rechtsgefühls  sein.  So  stellte 
sich  in  einem  von  mir  beobachteten  Falle  nachträglich  heraus,  dass 
der  schwer  angeschuldigte  Gegner  in  der  That  nicht  der  Ehreumann 
war,  für  den  er  amtlich  galt,  sondern  sich  ernster  Verbrechen 
schuldig  gemacht  hatte.  Ein  anderes  Mal  konnte  nachgewiesen 
werden,  dass  eine  zunächst  wahnhaft  erscheinende  Unterschrift- 
fälschung von  dem  Beschuldigten  wirklich  begangen  war.  In  dieser 
Beziehung  ist  also  äusserste  Vorsicht  geboten.  Trotzdem  waren 
übrigens  in  beiden  Fällen  die  Ankläger  Querulanten,  aber  das  liess 
sich  nicht  aus  der  Richtigkeit  oder  Unrichtigkeit  der  vorgebrachten 
Beschuldigungen  entscheiden,  sondern  aus  der  Art,  wie  sie  dieselben 
begründeten  und  wahnhaft  weiter  verarbeiteten.  Freilich  pflegt  auch 
in  ausgesprochenen  Fällen  der  Querulantenwahn  erst  nach  sehr  langer 
Zeit  erkannt  zu  werden,  weil  das  oft  gut  erhaltene  Gedächtniss  und 
die  Gewandtheit  im  Reden  und  Schreiben  für  den  richterlichen 
Beobachter  die  geistige  Schwäche  und  Zerfahrenheit  sowie  die  wahn- 
hafte Ausgestaltung  der  Vorstellungskreise  verdecken.  Die  Ent- 
stellungen und  Verdrehungen  des  Thatbestandes,  die  der  Kranke  vom 
Standpunkte  seiner  krankhaften  Auffassung  in  bestem  Glauben  vor- 
bringt, werden  leicht  für  absichtliche,  schlau  berechnete  Täuschungen 
gehalten  und  als  Beweis  für  die  sittliche  Verkommenheit  und  Un- 
verschämtheit desselben  angesehen. 

Die  eigentlichen  Ursachen  des  Querulantenwahnes  sind  höchst 
wahrscheinlich  in  krankhafter,  meist  ererbter  Veranlagung  zu  suchen. 
Mehrmals  fand  ich  Trunksucht  der  Eltern  angegeben.  In  der 
Regel  beginnt  die  Krankheit  zwischen  dem  35.  und  dem  45.  Lebens- 


454 


X.  Die  Verrücktheit. 


jahre,  bisweilen  auch  noch  etwas  später.  Der  Rechtsstreit  ist  ohne 
Zweifel  nur  als  Auslösung,  nicht  als  Ursache  zu  betrachten;  öfters 
haben  die  Kranken  früher  bereits  allerlei  Processe  gehabt,  ohne  da- 
bei zu  queruliren.  Die  Prognose  muss  als  ungünstig  bezeichnet 
werden;  der  Ausgang  ist  ein  mehr  oder  weniger  hoher  Grad  von 
geistiger  Schwäche  unter  Fortbestehen  der  Wahnbildungen.  Gleich- 
wol  scheinen  erhebliche  Besserungen  in  der  Weise  vorzukommen, 
dass  die  Kranken,  ohne  ihre  Auffassung  zu  ändern,  sich  wenigstens 
längere  Zeit  einer  Aeusserung  derselben  enthalten;  ganz  ähnliches 
sehen  wir  ja  auch  bei  anderen  Formen  der  Verrücktheit. 

Die  Behandlung  dieser  Kranken  hat  nur  die  Aufgabe,  die- 
selben für  einige  Zeit,  noch  besser  für  immer,  der  Umgebung  zu 
entziehen,  welche  auf  sie  erregend  wirkt.  Vorübergehend  kann  das 
durch  die  Verbringung  in  die  Anstalt,  dauernd  durch  die  Ueber- 
siedelung  in  andere  Verhältnisse  geschehen.  Längeren  Anstalts- 
aufenlhalt  vertragen  die  Kranken  in  der  Regel  schlecht.  Man  thut 
daher  gut,  sie  nach  eingetretener  Beruhigung  möglichst  rasch  wieder 
zu  entlassen,  wenn  man  nicht  durch  die  Rücksicht  auf  die  Ge- 
meingefährlichkeit im  einzelnen  Falle  genöthigt  wird,  sie  auch 
trotz  der  Schädigung  durch  das  Anstaltsleben  ihrer  Freiheit  zu  be- 
rauben. 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Als  allgemeine  Neurosen  wollen  wir  in  der  folgenden  Darstellung 
eine  Gruppe  von  Krankheitszuständen  zusammenfassen,  welche  mit 
mehr  oder  weniger  ausgeprägten  uervösen  Functionsstörungen 
einhergehen.  Gemeinsam  ist  diesen  Gestaltungen  des  Irreseins,  dass 
wir  es  überall  mit  dauernd  krankhafter  Verarbeitung  der  Lebens- 
reize zu  thun  haben;  gemeinsam  ist  ihnen  ferner  das  Auftreten 
mehr  vorübergehender,  eigenartiger  Krankheitsäusserungen  bald 
auf  körperlichem,  bald  auf  psychischem  Gebiete.  Diese  anfallsweise 
auftretenden  Schwankungen  des  psychischen  Gleichgewichtes  sind 
demnach  keine  selbständigen  Erkrankungen,  sondern  nur  die  ge- 
legentlichen Steigerungen  eines  anhaltenden  Krankheitszustandes. 
Sie  entsprechen  unter  diesem  Gesichtspunkte  ungefähr  den  Anfällen 
des  manisch-depressiven  Irreseins,  doch  pflegt  bei  den  allgemeinen 
Neurosen  auch  in  den  Zwischenzeiten  die  eigenartige  krankhafte 
Grundlage  weit  deutlicher  erkennbar  zu  sein,  als  bei  jenen  Formen. 
Vielfach  wenigstens  sind  wir  im  Stande,  schon  in  dem  alltäglichen 
Verhalten  der  Kranken  die  Anzeichen  einer  ganz  bestimmten  all- 
gemeinen Umwandlung  der  ganzen  Persönlichkeit  aufzufinden.  Es 
scheint  mir  zweckmässig,  vorläufig  zwei  Hauptformen  der  allgemeinen 
Neurosen  auseinanderzuhalten,  das  epileptische  und  das  hyste- 
rische Irresein.  An  dieses  letztere  schliesst  sich  jedoch  noch  ein 
besonderes,  ihm  näher  verwandtes  Krankheitsbild  an,  welches  unter 
dem  Namen  der  traumatischen  Neurose  oder  traumatischen  Hysterie 
bekannt  genug  geworden  ist.  Aus  Gründen,  die  späterhin  erörtert 
werden  sollen,  ziehe  ich  für  dasselbe  die  Bezeichnung  „Schreck- 


456 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


A.  Das  epileptische  Irresein. 

Am  tiefgreifendsten  sind  die  psychischen  Begleiterscheinungen 
der  allgemeinen  Neurose  bei  der  Epilepsie.  Zwar  ist  uns  aus  der 
Geschichte  bekannt,  dass  eine  Beihe  historischer  Grössen,  nament- 
lich Feldherrn  (Cäsar,  Narses,  Napoleon  I.),  an  Epilepsie  gelitten 
haben,  allein  diese  Fälle  sind  als  seltene  Ausnahmen  zu  betrachten, 
denen  die  ungeheure  Masse  jener  armen  Kranken  gegenübersteht, 
welche  durch  die  Epilepsie  der  psychischen  Entartung  entgegenge- 
führt  werden.  Zudem  lassen  sich  auch  bei  jenen  hervorragenden 
Persönlichkeiten  fast  immer  wenigstens  einige  Züge  nachweisen, 
die  auf  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  dem  klinischen  Bilde  des 
epileptischen  Irreseins  hindeuten. 

Yerhältnissmässig  am  wenigsten  scheint  die  Epilepsie  die  Ver- 
standesthätigkeit  zu  schädigen.  Es  giebt  einzelne  Epileptiker, 
die  dauernd  sogar  ganz  hervorragende  geistige  Leistungen  aufzu- 
weisen haben.  In  mehr  als  der  Hälfte  der  Fälle  jedoch,  die  dem 
Irrenärzte  zu  Gesicht  kommen,  findet  sich  eia  mehr  oder  weniger 
ausgeprägter,  eigenartiger  Schwachsinn.  Bei  demselben  bleibt  die 
Orientirung,  die  Besonnenheit  und  der  Zusammenhang  des  Gedanken- 
ganges fast  immer  vollständig  erhalten,  aber  die  geistige  Regsamkeit 
geht  allmählich  verloren ; das  ganze  geistige  Leben  spielt  sich  lang- 
sam und  schwerfällig  ab  (Verlängerung  der  psychischen  Zeiten); 
es  entwickelt  sich  ein  Zustand,  der  am  besten  durch  den  Ausdruck 
„Beschränktheit“  gekennzeichnet  wird.  Der  Kranke  vermag  ^keine 
wesentlich  neuen  Erfahrungen  mehr  in  sich  aufzunehmen  und  zu 
verarbeiten,  sondern  bewegt  sich  mit  Vorliebe  in  gewohnten  Bahnen. 
Stehende  Redensarten,  Gemeinplätze,  Bibelverse,  Sprichwörter  pflegen 
daher  eine  grosse  Rolle  in  seinen  Aeusserungen  zu  spielen.  Ihm 
fehlt  jener  Ueberblick  über  die  Lebenserfahrungen,  welcher  uns  be- 
fähigt, .überall  das  Wichtige  von  dem  Nebensächlichen  zu  trennen 
und  einen  Gedankengang  geradeswegs  einem  bestimmten  Ziele  zu- 
zuführen. So  kommt  gerade  hier  nicht  selten  ein  sehr  eigen- 

*)  Fere,  Die  Epilepsie,  Deutsch  v.  Ebers.  1896;  Marinesco  et  Serieux, 
essai  sur  la  patkogenie  et  le  traitement  de  l’epilepsie.  1895;  Roncoroni, 
trattato  clinico  dell’epilessia  con  speciale  riguardo  alle  psichosi  epüettic.he.  1895; 
J.  Yoisin,  l’epilepsie.  1897. 


Epileptisches  Irresein. 


457 


artiges  Kraukheitszeichen  zu  Stande,  die  Umständlichkeit  der 
Epileptiker.  Bei  jeder  Erzählung  beginnt  der  Kranke  mit  Daten, 
deren  Beziehung  zur  Frage  zunächst  kaum  erkennbar  ist,  und 
er  häuft  dabei  an  jedem  Punkte  eine  solche  Menge  von  ganz 
gleichgültigen  Nebenumständen,  dass  seine  Darstellung  schlechter- 
dings nicht  von  der  Stelle  zu  rücken  scheint.  Jeder  Versuch, 
hn  durch  Zwischenfragen  zu  einer  rascheren  Entwicklung  des 
Wesentlichen  zu  veranlassen,  pflegt  zu  scheitern;  der  Kranke  nimmt 
den  Faden  einfach  an  der  unterbrochenen  Stelle  wieder  auf.  Dabei 
verliert  er  jedoch  niemals  den  Zusammenhang,  sondern  kommt  immer 
schliesslich  zum  Ziel,  freilich  auf  stark  gewundenen  Pfaden.  Ge- 
wöhnlich wird  die  gleiche  Erzählung  immer  mit  den  gleichen  Wen- 
dungen und  in  derselben  Ausführlichkeit  vorgebracht. 

Bei  stärker  ausgebildetem  epileptischem  Schwachsinn  leidet  regel- 
mässig auch  das  Gedächtniss  in  erheblichem  Grade.  Der  Kranke 
wird  vergesslich,  merkt  sich  den  Namen  des  Arztes  oder  seiner  Mit- 
kranken nicht,  weiss  nichts  über  seine  Erlebnisse  zu  berichten,  erzählt 
wiederholt  dieselben  Dinge,  ohne  es  zu  bemerken.  Bisweilen  kommt 
es  zu  fabulirenden  Erzählungen,  die  vielleicht  als  Erinnerungen  an 
deliriöse  oder  traumhafte  Erlebnisse  aufzufassen  sind.  Auch  eine 
grosse  Zahl  von  Erfahrungen  des  früheren  Lebens  geht  dem  Kranken 
spurlos  -wieder  verloren,  und  nur  diejenigen  Vorstellungskreise  bleiben 
sein  dauerndes  Eigenthum,  die  sich  durch  immerwährende  Wieder- 
holung unverrückbar  befestigt  haben.  Auf  diese  Weise  entwickelt 
sich  eine  fortschreitende  Verarmung  des  Vorstellungsschatzes,  so 
dass  der  Kranke,  unfähig,  neue  Erfahrungen  zu  sammeln,  schliesslich 
nur  noch  über  einen  ganz  kleinen,  allmählich  immer  mehr  ein- 
schrumpfenden Vorrath  von  Ideen  verfügt.  Im  Gegensätze  zu 
anderen  Formen  des  erworbenen  Schwachsinns  ist  er  jedoch  im 
Stande,  sich  innerhalb  dieses  kleinen  Kreises  von  Vorstellungen 
noch  klar  und  zusammenhängend  zu  bewegen,  wenn  es  sich  auch 
dabei  zumeist  nur  um  die  ständige  Wiederholung  derselben  Ge- 
dankengänge und  Wendungen  handelt. 

Es  ist  natürlich,  dass  bei  der  Verarmung  des  Vorstellungs- 
schatzes nach  und  nach  die  Bedeutung  des  eigenen  Ich  in  der 
Weltanschauung  der  Kranken  ausserordentlich  anwachsen  muss.  So 
kommt  es,  dass  die  Kranken,  je  weiter  der  Schwachsinn  gediehen 
ist,  um  so  mehr  in  ihrem  Selbstgefühle  wachsen,  und  dass  schliess- 


458 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


lieh  der  Inhalt  ihrer  Reden  sich  wesentlich  auf  die  Lobpreisung  der 
eigenen  Person  und  alles  dessen,  was  mit  ihr  zusammen  bängt, 
namentlich  auch  der  übrigen  Familienglieder,  beschränkt.  Eine  grosse 
Rolle  spielt  vielfach  die  Sorge  um  das  eigene  Befinden,  dessen 
kleinste  Aenderungen  von  dem  Kranken  vermerkt  werden  und  auf 
ärztliche  Beachtung  Anspruch  machen.  Gleichzeitig  beobachtet  man 
öfters  eine  auffallende  Hoffnungsfreudigkeit  gegenüber  dem  eigent- 
lichen Leiden.  Die  Kranken  meinen  nach  jedem  Anfalle,  derselbe 
sei  nur  noch  ganz  klein  gewesen;  sie  seien  nun  bald  ganz  gesund, 
fühlen  sich,  Gott  sei  Dank,  recht  wohl.  Ausserdem  sind  es  reli- 
giöse Vorstellungen,  die  mit  imgemeiner  Vorliebe  gepflegt 
werden.  Sei  es,  dass  bisweilen  eigenthümliche,  mit  den  Anfällen 
verbundene  Empfindungen  die  Idee  einer  göttlichen  Beeinflussung 
nahe  legen,  sei  es,  dass  bei  den  hülflosen  Kranken  die  Hoffnung  auf 
Erlösung  durch  übernatürliche  Macht  einen  besonders  günstigen 
Boden  findet  — sehr  häufig  glauben  sie,  zum  Himmel  in  einem 
vorzugsweise  innigen  Verhältnisse  zu  stehen,  weil  sie  immer  so  brav 
gewesen  sind  und  immer  so  fleissig  gebetet  haben.  Sie  bitten  um 
Bibel  und  Katechismus,  ergehen  sich  in  frommen  Sprüchen,  lesen 
fleissig  im  Gesangbuche,  gehen  möglichst  häufig  in  die  Kirche,  zur 
Beichte  und  lieben  es,  Verbindung  mit  dem  Geistlichen  zu  unterhalten. 

Die  stärksten  Umwälzungen  pflegt  die  Epilepsie  auf  gemüth- 
lichem  Gebiete  herbeizuführen,  auch  dort,  wo  eine  Beeinträchti- 
gung des  Verstandes  nicht  erkennbar  ist.  Fast  immer  entwickelt 
sich  eine  Steigerung  der  gemüthlichen  Reizbarkeit,  die  in  geringerem 
Grade  dauernd  bestehen  kann,  vor  allem  aber  in  den  unten  näher 
zu  schildernden  Anfällen  und  unter  dem  Einflüsse  des  Alkohols  in 
krankhafter  Weise  hervortritt.  Die  Kranken  werden  empfindlich, 
schrullig,  launenhaft,  rechthaberisch,  schwer  zu  behandeln,  gerathen 
bisweilen  bei  geringfügigen  Anlässen  in  heftige  Zornausbrüche  mit 
rücksichtsloser  Gewaltthätigkeit.  Zugleich  bildet  sich  häufig  eine 
starke  Selbstsucht  aus,  welche  den  Kranken  jeden  Eingriff  in  die 
eigenen  Rechte  ungemein  lebhaft  empfinden  lässt,  während  ihn 
fremdes  Leid  sehr  wenig  berührt.  Dazu  kommt  vielfach  ein  un- 
glaublich hartnäckiger,  bornirter  Eigensinn,  der  den  Kranken  allen 
Ueberredungsversuchen  gegenüber  taub  macht  und  ihn  mit  der 
grössten  Rücksichtslosigkeit  eine  einmal  gefasste  Idee  festhalten  und 
durchführen  lässt. 


Epileptisches  Irresein. 


459 


Alle  diese  Eigenthtimlichkeiten  kennzeichnen  auch  das  äussere 
Verhalten  des  Epileptikers.  Dasselbe  bleibt  trotz  hochgradigster 
geistiger  Schwäche  meist  ein  ganz  geordnetes.  Die  Kranken  beschäf- 
tigen sich  in  der  Regel  gerne,  führen  ihre  Arbeiten  zwar  langsam, 
aber  oft  mit  kleinlicher  Genauigkeit  aus.  Freilich  pflegt  ihnen  dabei 
die  Fähigkeit  zu  freiem,  selbständigem  Schaffen  vollständig  abzugehen. 
Ein  recht  blödsinniger  Kranker  lieferte  mir  ziemlich  schwierige 
farbige  Federzeichnungen,  die  von  den  Steindruckvorlagen  nicht 
mehr  zu  unterscheiden  waren,  während  er  sich  ausser  Stande  erwies, 
trotz  genauester  Anleitung  ganz  einfache  Diagramme  aus  den  gege- 
benen Zahlen  herzustellen.  Andere  Kranke  zeigen  eine  gewisse 
täppische  Hülfsbereitschaft,  mischen  sich  in  alles  ein,  suchen  Wärter- 
dienste zu  thun,  ihre  Mitkranken  zu  erziehen.  Trotz  ziemlich  gut 
erhaltener  Arbeitsfähigkeit  bringen  es  die  Kranken  vielfach  zu  keiner 
dauernden  Beschäftigung,  weil  sie  eine  eigentümliche  Unstetigkeit 
darzubieten  pflegen.  Sie  versagen  plötzlich,  halten  nicht  lange  auf 
derselben  Stelle  aus,  verlassen  ohne  erkennbaren  Grund  ihre  Stel- 
lungen, ziehen  planlos  in  der  Welt  herum  und  liefern  auf  diese 
Weise  einen  sehr  starken  Beitrag  zu  den  Insassen  der  Arbeitshäuser 
und  Gefängnisse.  Zum  guten  Theil  steht  jene  Unstetigkeit  gewiss 
mit  den  sogleich  zu  besprechenden  periodischen  Verstimmungen  in 
nahem  Zusammenhänge.  Andererseits  bildet  die  Beschränktheit,  die 
Selbstsucht  und  die  Reizbarkeit  der  Epileptiker  ohne  Zweifel  den 
günstigen  Boden  für  die  Entwicklung  verbrecherischer  Neigungen. 
Lombroso  hat  bekanntlich  gerade  die  Epilepsie  als  die  eigentliche 
Grundlage  des  moralischen  Irreseins  und  damit  der  geborenen 
Verbrechernaturen  überhaupt  hingestellt,  eine  Anschauung,  die  in- 
dessen sicherlich  über  das  Ziel  erheblich  hinausschiesst.  Häufig 
sind  auch  krankhafte  geschlechtliche  Neigungen. 

In  ihren  Reden  sind  die  Kranken  im  allgemeinen  klar  und 
verständlich;  sie  begrüssen  den  Arzt,  vielfach  sogar  mit  einer  ge- 
wissen umständlichen  Förmlichkeit,  kleiden  sich  sauber  und  halten 
auf  Ordnung  und  Herkommen,  geben  allen  Vorgesetzten  in  Anrede 
und  Titel  die  Ehre,  die  ihnen  nach  ihrem  Dafürhalten  gebührt. 
Oefters  entwickelt  sich  bei  ihnen  ein  etwas  süssliches,  gespreiztes 
Wesen  und  eine  eigenthümlich  verzwickte  Redeweise.  Einer  meiner 
Kranken  sprach  von  dem  „immer  allgegenwärtigen,  verzweifelnden 
Täuschungssinn“.  Einen  guten  Einblick  in  so  manche  Eigenthüm- 


460 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


lichkeiten  des  epileptischen  Schwachsinns  giebt  vielleicht  der  nach- 
folgende Brief  eines  Kranken  an  den  Geistlichen  seines  Hei- 
mathsortes: 

Gestatten  der  Herr  Pfarrer,  dass  ich  mir  erlaube,  Herrn  Pfarrer  mit  einigen 
Zeilen,  soviel  und  wie  ich  es  vermag,  erfreuen  zu  können.  Ich  bekomme  hierzu 
von  ganzem  Herzen  Antriebe  und  will  so  meinem  allerhochgeehrtesten  Herrn 
Pfarrer  meine  Geistesempfindungen  und  körperliches  Gedeihen  aussprechen.  Ich 
habe  Tag  und  Nacht  zu  kämpfen,  bald  geistig,  bald  körperlich  und  hm  froh  damit, 
dass  es  so  ist,  sonst  würde  Manches  nicht  eifüllt  werden,  wovon  die  heilige  Schrift 
lehrt,  durch  unseren  Herrn  Jesum  Christum;  darum  sage  ich:  wer  auf  Gott  ver- 
traut, der  hat  auf  keinen  Sand  gebaut,  denn  ich  empfand  es  und  will  somit  meine 
Freude  auch  Herrn  Pfarrer  zu  Theil  werden  lassen,  indem  ich  sage:  Ich  freue 
mich  in  Christo,  von  ganzem  Herzen  mittheilen  zu  können,  dass  alles  von  Gott 
kommt,  worüber  ich  jetzt  in  keinem  Zweifel  mehr  bin. 

Dasselbige,  wie  ich  vernommen,  ist  geoffenbart  durch  die  heilige_Schrift.  Ich 
danke  täglich  Gott  für  seine  Gnade  allerseits,  und  hin  froh,  dass  Gott  mich  bin 
hierher  gebracht,  denn  er  hat  Grosses  an  mir  (uns)  gethan  und  thut  noch  Grösseres 
an  mir  (uns)  und  vielen  Menschen,  aber  selig  sind  diese  Menschen,  welche  es  ver- 
nehmen. Ich  wurde  zu  jahrelangem  Kampfe  verwendet,  sah  und  fühlte  es,  konnte 
mich  aber  nicht  frei  davon  machen,  aber  Gott  sei  Dank,  der  mir  (uns)  den  Sieg 
gegeben  hat  durch  Herrn  Jesum  Christum.  Ich  hoffe,  dass  ich  in  Manchem 
kräftiger  werde,  das  unruhige  Schlafen  hat  sich  gebessert. 

So  harre  ich  nun  wieder  der  Gnade  und  Kraft  Gottes  in  Christo  Jesu. 

Aufs  allerfreundlichste  grüsset  Herrn  Pfarrer  nebst  allerhochgeehrteste  Familie 

Georg  G. 

Man  erkennt  in  dem  nichtssagenden  und  inhaltlosen  Schriftstücke 
leicht  die  Umständlichkeit,  die  Verschrobenheit  der  Ausdrucks- 
Aveise,  die  gespreizte  Höflichkeit,  die  Neigung  zu  religiösen  Redens- 
arten, das  gehobene  Selbstgefühl  und  die  Hofinungsfreudigkeit 

Die  im  Vorstehenden  geschilderte  dauernde  Entartung  der  Epi- 
leptiker ist  in  den  einzelnen  Fällen  ausserordentlich  verschieden 
ausgebildet.  Häufig  nur  leise  angedeutet  oder  nur  bei  besonderen 
Gelegenheiten  erkennbar,  beherrscht  sie  in  anderen  Fällen  das 
Krankheitsbild  derartig,  dass  die  Diagnose  der  Epilepsie  schon  aus 
der  Eigenart  des  Sclrwaehsinns  abgeleitet  werden  kann,  Avie  es  mir 
nicht  selten  gelungen  ist.  Nicht  ganz  selten  sehen  Avir  aber  hier 
auch  die  schwersten  Formen  der  Verblödung  zu  Stande  kommen, 
die  wir  überhaupt  kennen,  namentlich  bei  jugendlichen  Kranken. 

Die  dauernde  epileptische  Veränderung  bildet  die  Grundlage,  auf 
welcher  sich  eine  Reihe  mehr  vorübergehender  Störungen  ent- 
wickeln können,  deren  gemeinsame  Eigenthümlichkeit  in  ihrer  selb- 


Epileptisches  Irresein. 


461 


ständigen,  von  äusseren  Einflüssen  unabhängigen  Periodici- 
tä  t liegt.  Zunächst  haben  wir  dabei  jener  wol  nur  wenigen  Epileptikern 
ganz  fehlenden  psychischen  Gleichgewichtsschwankungen  zu  geden- 
ken, welche  ohne  auffallende  Bewusstseinstrübung  mit  den 
Anzeichen  einer  starken  gemiithlichen  Spannung  einhergehen. 
Aschaffenburg  fand  sie  in  78 °/0  unserer  Fälle  ausgesprochen.  Meist 
ist  die  Verstimmung  Morgens  beim  Aufwachen  plötzlich  da;  seltener 
entwickelt  sie  sich  im  Laufe  des  Tages.  Im  Beginn  ist  öfters  eine 
gewisse  geschlechtliche  Erregung  vorhanden,  die  sich  in  Pollutionen, 
wollüstigen  Träumen  und  Gelüsten  kundgiebt.  Die  Kranken  werden 
plötzlich  missmuthig,  finster,  mürrisch,  abweisend,  ziehen  sich  zurück, 
griissen  nicht,  bleiben  von  der  Arbeit  weg,  oder  sie  beginnen  zu 
nörgeln,  zu  schimpfen,  ihre  Entlassung  zu  verlangen,  sich  in  stehen- 
den Wendungen  über  eine  längst  erlittene  Benachteiligung  zu  be- 
klagen. Dabei  sind  sie  regelmässig  sehr  reizbar,  drohend,  ärgern 
sich  „über  die  Fliege  an  der  Wand“,  gerathen  leicht  mit  ihrer  Um- 
gebung in  Streit  und  schlagen  bei  dem  geringsten  Anlasse  roh 
drauf  los.  „Da  darf  mich  Niemand  reizen;  wenn  man  mich  in  Ruhe 
lässt,  geht’s  schnell  vorüber,“  sagte  ein  solcher  Kranker.  „Das  sind 
Tage,  an  denen  ich  mich  selbst  nicht  leiden  kann,“  sagte  ein  anderer. 
Hie  und  da  stellen  sich  auch  unbestimmte  Gesichtstäuschungen 
(Funken  vor  den  Augen,  rothe  Flämmchen),  ferner  Gehörstäuschungen 
(Rauschen  und  Brausen  in  den  Ohren,  Stimmen)  sowie  einzelne 
Verfolgungsideen  ein.  Man  verachtet  und  verspottet  sie,  schaut  sie 
curios  an,  will  ihnen  ans  Leben,  sie  heimlich  überfallen,  zerstückeln, 
im  Abtritt  aufhängen.  Einer  meiner  Kranken  erklärte  sich  gerne 
bereit,  sich  von  den  Aerzten  ordnungsmässig  hinrichten  zu  lassen, 
verwahrte  sich  aber  gegen  die  vermeintlichen  Absichten  der  andern 
Patiepten,  ihn  hinterrücks  niederzumachen.  Er  sass  daher,  heimlich 
mit  selbstverfertigten , recht  gefährlichen  Waffen  ausgerüstet,  die 
ganze  Nacht  wachend  im  Bett,  um  sein  Leben  so  theuer  wie  mög- 
lich zu  verkaufen.  Nach  einem  oder  wenigen  Tagen  pflegen  diese 
Zustände  ebenso  rasch  zu  schwinden,  wie  sie  gekommen  sind.  Der 
Kranke  ist  wieder  zugänglich,  gutmüthig,  harmlos,  will  nichts  mehr 
von  den  „Verfolgungen“  wissen,  lacht  über  seine  „Einbildungen“. 
Seltener  beobachtet  man  Wochen  und  selbst  Monate  lang  eine  der- 
artige „Geladenheit“,  die  dann  vielfache  Schwankungen  zu  zeigen 
und  ganz  allmählich  zu  verschwinden  pflegt. 


462 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Ungemein  häufig  nehmen  die  gemüthlichen  Schwankungen  der 
Epileptiker  die  Form  innerer  Beängstigungen  an.  „So  Tage  habe 
ich,  dass  mir  das  Leben  gerad’  verleidet  ist,“  sagte  ein  Kranker; 
„das  dauert  verschiedene  Zeit,  bis  ich’s  wieder  vergesse.“  Es  kommt 
„wie  angeflogen“,  ohne  irgend  welchen  Anlass,  wenn  auch  der 
Kranke  bisweilen  bestimmte  Ueberlegungen  oder  Erfahrungen  dafür 
verantwortlich  macht.  „Ich  bin  betrübt,  wenn  ich  gerade  nach 
Hause  denke  und  man  weiss  nicht,  was  die  Zukunft  bringt,“  sagte 
ein  Kranker;  ein  anderer  gab  an,  dass  der  Zustand  jedesmal  komme, 
wenn  er  so  recht  schön  von  seiner  verstorbenen  Frau  geträumt 
habe;  der  Gegensatz  zu  seinem  freudlosen  Leben  beim  Erwachen 
drücke  ihn  dann  so  nieder.  Ihnen  wird  plötzlich  schwer  ums  Herz, 
mutklos,  „heimwehartig“,  „so  recht  von  innen  heraus  betrübt1^ 
„lebensmüd’  und  lebenssatt“;  es  steigen  ihnen  traurige  Gedanken, 
trübe  Ahnungen,  Versündigungsideen  auf.  Es  wäre  am  besten,  sie 
wären  nicht  mehr  auf  der  Welt;  ihr  Leben  ist  verpfuscht;  es  ist 
alles  umsonst;  sie  haben  sich  am  Allerhöchsten  vergangen,  den 
Kelch  verunreinigt,  sind  unbussfertig  gewesen;  sie  sind  nicht  gesund 
und  werden  nicht  gesund.  Meist  gesellt  sich  auch  das  Gefühl  von 
Benommenheit  und  Druck  im  Kopfe  hinzu,  Klingen  und  Läuten  in 
den  Ohren,  Erschwerung  des  Denkens  und  innere  Unruhe.  Sie  sind 
dann  unfähig  zu  arbeiten,  stieren  vor  sich  hin,  bleiben  im  Bett, 
beten  viel,  oder  sie  laufen  planlos  herum,  greifen  zum  Alkohol, 
machen  einen  triebartigen  Selbstmordversuch,  über  dessen  Beweg- 
gründe und  Ausführung  sie  sich  später  oft  selbst  keine  Rechenschaft 
zu  geben  vermögen.  Auch  diese  Störungen  pflegen  einige  Stunden 
oder  Tage  nicht  zu  überdauern;  bisweilen  scheint  ihnen  eine  Art 
Erleichterung,  ein  auffallendes  Wohlbefinden  zu  folgen. 

Seltener  ist  das  anfallsweise  Auftreten  expansiver  oder  eksta- 
tischer Stimmungen.  Die  Kranken  werden  erregt,  laufen  mit  glän- 
zenden Augen,  geröthetem  Kopfe  und  freudig  gehobenem  Gesichts- 
ausdrucke herum,  springen  und  jauchzen,  begehen  allerlei  muthwillige 
Streiche,  werfen  alles  durcheinander,  necken  die  Mitkrauken,  beten 
laut  und  feierlich,  äussem  auch  wol  religiöse  Grössenideen  oder 
prahlen  mit  hoher  Abkunft  und  vornehmer  Verwandtschaft.  Ideen- 
flucht scheint  dabei  nicht  vorzukommen,  wol  aber  grosse  gemütklicke 
Reizbarkeit  mit  Neigung  zu  raschen  Gewaltthaten.  Die  Dauer  ist 
meist  eine  kurze. 


Epileptisches  Irresein. 


463 


In  der  Regel  zeigen  die  einzelnen  Anfälle  bei  dem  gleichen 
Kranken  eine  ausserordentliche  Uebereinstimmung  untereinander. 
Man  bemerkt  sofort  an  einer  bestimmten  Redensart,  einer  kleinen 
Aenderung  im  Benehmen,  im  Gesichtsausdruck,  dass  wieder  etwas 
im  Gange  ist,  dass  „ein  schlechter  Wind  weht“.  Die  gleichen  Klagen, 
die  gleichen,  oft  berichtigten  Wahnideen  kehren  wieder,  die  gleichen 
Antriebe  und  Handlungen,  um  der  inneren  Erregung  einen  Ausweg 
zu  schaffen.  Freilich  giebt  es  auch  unvollkommene  Anfälle,  in 
denen  die  gewöhnlichen  Erscheinungen  nur  theilweise  oder  nur  in 
ganz  schwachen  Andeutungen  ausgebildet  sind  oder  sehr  rasch  wieder 
vorübergehen.  Die  Zwischenzeiten  zwischen  den  Anfällen  sind  bis- 
weilen regelmässige,  so  dass  man  den  Eintritt  der  Erscheinungen  mit 
ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  Vorhersagen  kann.  Meist  jedoch  wechseln 
die  Intervalle;  zeitweise  kann  es  zu  einer  Häufung  der  Störungen 
kommen.  Durchschnittlich  pflegen  sich  dieselben  etwa  alle  paar 
Wochen  oder  Monate  einzustellen,  in  einzelnen  Fällen  auch  wol  nur 
ein  oder  zwei  Mal  im  Jahre. s 

Diese  ungemein  wichtigen,  aber  meist  wenig  beachteten  Ver- 
stimmungen der  Epileptiker  gehen  ohne  scharfe  Grenze  allmählich 
in  diejenigen  Zufälle  über,  die  mit  mehr  oder  weniger  tiefer  Trübung 
des  Bewusstseins  einhergehen,  die  eigentlichen  Dämmerzustände. 
Gar  nicht  selten  bildet  eine  Verstimmung  die  Einleitung  des  Däm- 
merzustandes; oft  auch  wird  sie  durch  Alkoholeinfluss  in  einen 
solchen  übergeführt.  Wir  können  bei  der  Schilderung  der  Dämmer- 
zustände von  der  schweren  Bewusstseinsstörung  ausgehen,  die  regel- 
mässig den  epileptischen  Krampfanfall  begleitet.  Die  Auffassung 
äusserer  Eindrücke  wie  die  Erzeugung  von  Vorstellungen  sind  voll- 
ständig aufgehoben,  und  an  Stelle  der  Willenshandlungen  treten 
unwillkürliche  Muskelzusammenziehungen  (tonische  und  klonische 
Krämpfe).  Die  Krampfbewegungen  können  indessen  in  dem  Bilde 
des  epileptischen  Anfalles  auch  vollkommen  fehlen,  so  dass  einzig 
die  Bewusstseinsstörung  den  wesentlichen  Zug  desselben  ausmacht 
(psychische  Epilepsie).  ' Uebergangsformen  bilden  jene  Fälle,  in 
denen  sich  der  Krampf  nur  durch  ein  leichtes  Verdrehen  der  Augen, 
rasch  vorübergehende  starre  Haltung,  einige  eigenthümliche,  stereo- 
type Bewegungen,  unverständliche  Ausrufe,  krampfhaftes  Lachen 
gerade  noch  andeutet.  Die  einfachsten  Erscheinungen  der  psychi- 
schen Epilepsie  sind  leichte  Schwindelanfälle  (petit  mal),  Ohn- 


-164 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


machten,  Schlafanfälle  oder  rasch1  vorübergehende  Be- 
wusstlosigkeit (absence).  Die  letztere  Störung  ist  dadurch 
gekennzeichnet,  dass  der  Kranke  plötzlich  in  seiner  Beschäftigung, 
in  der  Unterhaltung  abbricht  und  regungslos  in  der  eingenommenen 
Stellung  verharrt,  um  nach  wenigen  Secunden  ohne  Bewusstsein 
des  Vorgefallenen  fortzufahren,  als  ob  nichts  geschehen  wäre. 

Vielfach  gewinnt  die  Bewusstseinstrübung  im  epileptischen  An- 
falle insofern  eine  grössere  Selbständigkeit,  als  sie  entweder  schon 
vor  dem  Beginne  der  Krämpfe  einsetzt  oder,  häufiger,  das  Ende 
derselben  überdauert.  Auf  diese  Weise  entstehen  jene  Dämmer- 
zustände, die  man  als  prae-  oder  post-epileptisches  Irresein 
zu  bezeichnen  pflegt.  Vor  dem  Anfalle  können  sich  allerlei  krank- 
hafte Sinnesempfindungen  einstellen,  Lichterscheinungen,  Verlust  der 
Farbenwahrnehmung,  Vergrösserung  oder  Verkleinerung  der  Gesichts- 
bilder, Sausen,  Klingen  und  Brodeln  in  den  Ohren,  Hören  bestimmter 
Worte,  eigenthümliche  Gerüche,  Tintengeschmack,  Kopfschmerzen. 
Hitzegefühl,  Zucken,  Stechen,  Kriebeln  in  verschiedenen  Körper- 
theilen,  Empfindung  von  Nässe  oder  Kälte  (Aura).  Bestimmte  Ge- 
danken, Zweifel  am  Dasein  Gottes,  Erinnerungen  tauchen  auf,  identi- 
ficirende  Erinnerungsfälschungen,  Worttaubheit,  aphasische  Störungen, 
einförmiges  Wiederholen  derselben  Wbrte,  Zwangsantriebe,  unwill- 
kürliche Bewegungen;  das  Bewusstsein  trübt  sich,  und  der  eigent- 
liche Anfall  beginnt.  In  der  Regel  dauern  diese  Vorläufer,  die  sich 
noch  nicht  in  der  Hälfte  der  Fälle  finden,  nur  ganz  kurze  Zeit, 
wenige  Minuten  oder  Secunden;  weit  seltener  geht  dem  Krampf- 
anfalle schon  Stunden  oder  Tage  lang  ein  ausgeprägter  Dämmer- 
zustand voraus. 

Nach  dem  Anfalle  dagegen  beobachten  wir  ganz  regelmässig 
eine  deutliche,  vielfach  sogar  recht  tiefe  Benommenheit.  Die 
Kranken  verstehen  die  an  sie  gerichteten  Fragen  nicht  und 
vermögen  nicht  zu  antworten,  reden  verworren,  paraphasisch ; sie 
wissen  nicht  recht,  wo  und  in  welcher  Lage  sie  sich  befinden,  ver- 
kennen die  Personen,  wälzen  sich  herum,  zupfen,  wühlen,  suchen 
sich  zu  entkleiden,  legen  sich  ins  Bett,  machen  Gehbewegungen, 
wie  um  eine  Treppe  zu  ersteigen,  trinken  aus  dem  Nachtgeschirr, 
stecken  allerlei  erreichbare  Gegenstände  in  die  Tasche.  Unzweifel- 
haft finden  dabei  nicht  selten  lebhafte  Sinnestäuschungen  statt. 

Ganz  ähnliche  Störungen  können  auch  unabhängig  von  den 


Epileptisches  Irresein. 


465 


Krampfanfällen,  als  psychische  Epilepsie  auftreten.  Die  Kranken 
werden  benommen,  verkennen  die  Personen,  äussern  einzelne  zusam- 
menhangslose Wahnvorstellungen,  hören  Stimmen,  sehen  die  Um- 
gebung in  unheimlicher,  veränderter  Gestalt.  Raben  folgen  ihnen 
krächzend;  die  Wellen  des  Flusses  scheinen  emporzusteigen.  In 
diesem  Traumzustande  begehen  sie  allerlei  verkehrte  Handlungen, 
verlassen  ihre  Arbeit,  irren  planlos  herum.  Nach  einigen  Stunden 
oder  Tagen  erwachen  sie  ohne  klare  Erinnerung  an  das  Vorgefallene, 
sehr  verwundert,  sich  in  der  inzwischen  entstandenen  Lage  wieder- 
zufinden. Ein  junges  Bauernmädchen  lief  in  einem  solchen  Anfalle 
beim  Mähen  in  einen  Bach,  dabei  immer  noch  mechanisch  die  Be- 
wegung des  Mähens  fortsetzend.  Später  legte  sie  in  einem  ähnlichen 
Zustande  zweimal  Feuer  an  (sehr  häufig  bei  jugendlichen  Epilep- 
tikern!) und  verübte  eine  Reihe  von  Diebstählen,  indem  sie  alle 
Gegenstände,  die  ihr  unter  die  Hände  kamen,  in  einem  versteckten 
Winkel  zusammentrug.  Ein  anderer  Kranker  zündete  sein  Bett  an, 
in  der  Absicht,  sich  Kaffee  zu  kochen.  Wieder  ein  anderer  klagte 
sich  in  Briefen  an  die  Polizei  mit  allen  Einzelheiten  verschiedener, 
gar  nicht  begangener  Verbrechen  an,  einmal  eines  unsittlichen  An- 
griffes, ein  anderes  Mal  des  Todtschlages.  Wegen  des  ersteren  wurde 
er  verurtheilt,  und  erst  in  der  späteren  Untersuchung  konnte  die 
Wahnhaftigkeit  auch  jener  früheren  Selbstbeschuldigung  festgestellt 
werden.  Der  Kranke  gab  an,  er  könne  sich  zu  gewissen  Zeiten  des 
Gedankens  durchaus  nicht  erwehren,  dass  er  dies  und  jenes  ver- 
brochen habe;  es  sei  ihm,  als  ob  Jemand  hinter  ihm  stehe  und  ihm 
zurufe,  er  müsse  sich  jetzt  der  Polizei  anzeigen.  „Ich  habe  es  mit 
nichts  zu  thun  gehabt,  als  mit  Mord  und  Todtschlag,“  erklärte  er 
später. 

In  manchen  Fällen  zeigen  die  Kranken  bei  traumhafter 
Bewusstseinstrübung  mehr  eine  heitere,  ausgelassene  Erregung,  in 
der  sie  zunächst  ganz  den  Eindruck  von  Angetrunkenen  machen 
können.  Sie  treten  patzig  und  selbstbewusst  auf,  schreien,  johlen, 
toben,  schimpfen,  lachen,  tanzen  herum,  geben  Antwort,  verstehen 
aber  ihre  Umgebung  nicht  und  kümmern  sich  auch  nicht  um  die- 
selbe. Endlich  gehören  hierher  manche  Beobachtungen,  in  denen 
unter  dumpfer  Benommenheit  eine  triebartige  geschlechtliche  Auf- 
regung periodisch  hervortritt.  Solche  Kranke  masturbiren,  selbst 
ganz  öffentlich,  entblössen  ihre  Genitalien  auf  der  Strasse  vor  Frauens- 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Anfl.  II.  Band.  30 


4bt> 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


personen  oder  Kindern,  begehen  geschlechtliche  Angriffe.  Gar  nicht 
selten  geben  derartige  Zustände  bei  Soldaten  Veranlassung  zu 
ärztlicher  Begutachtung,  da  in  ihnen  leicht  Gehorsamsverweigerung, 
auch  Fahnenflucht  begangen  werden. 

Recht  häufig  sind  solche  Dämmerzustände  in  der  Form  des 
Nachtwandeins.  Andeutungen  desselben  (lautes  Sprechen  im 
Schlafe,  Aufrichten  und  lebhafte  Bewegungen  im  Bette)  kommen 
allerdings  wol  auch  ohne  eigentlich  epileptische  Grundlage  bei  nervös 
veranlagten  Kindern  zur  Beobachtung.  Die  Handlungen  der  Kran- 
ken sind  auch  hier  gewöhnlich  sehr  einfache,  durch  vielfache  Ge- 
Avöhnung  eingeübte;  sie  stehen  aus  ihrem  Bette  auf,  gehen  im  Zimmer 
oder  im  Hause  herum,  zünden  Licht  an,  schüren  den  Ofen,  schliessen 
Thüren  auf  und  zu  u.  dergl.,  um  sich  dann  nach  kurzer  Zeit  (einige 
Minuten  bis  1/2  Stunde)  meist  wieder  ruhig  ins  Bett  zu  legen.  Die 
Augen  sind  dabei  geschlossen  oder  halb  geöffnet,  starr.  Die  Wahr- 
nehmung der  Aussenwelt  ist  sehr  beschränkt;  es  werden  nur  die- 
jenigen Gegenstände  bemerkt,  die  der  Kranke  gerade  vor  sich  hat: 
alles  Uebrige  entgeht  ihm.  So  kommt  es,  dass  der  Nachtwandler 
sich  nur  mit  solchen  Dingen  zu  beschäftigen  pflegt,  die  sich  an  ihrem 
gewohnten  Platze  befinden;  ein  wirkliches  planmässiges  „Suchen- 
ist in  diesem  Zustande  kaum  möglich.  Die  Auffassung  der  Umgebung 
scheint  eine  traumhaft  verfälschte  zu  sein;  der  Nachtwandler,  der 
durch  das  Fenster  steigt,  hält  dieses  für  eine  Thür  u.  s.  f. 

Die  Bewegungen  tragen  meist  die  Zeichen  des  Automatenhaften 
an  sich,  gehen  aber  zweifellos  oft  aus  Bewusstseinsvorgängen  bervor, 
da  sie  in  der  Vermeidung  und  Ueberwindung  von  Hindernissen 
bisweilen  die  Spuren  einer,  wenn  auch  nur  dunklen,  Ueberlegung 
verrathen.  Die  Sicherheit,  mit  welcher  Nachtwandler  sich  manchmal 
in  schwieriger  Lage,  bei  Wanderungen  auf  Dächern  bewegen,  erklärt 
sich  lediglich  aus  ihrer  unvollkommenen  Auffassung,  welche  ihnen 
die  Gefahr  nicht  zum  Bewusstsein  kommen  lässt  und  somit  die 
Entstehung  der  ängstlichen  Gefühlsregungen  hindert,  durch  die  ja 
unsere  Unsicherheit  bei  schwindelerregendem  Klettern  bedingt  wird. 
In  seltenen  Fällen  erheben  sich  die  Leistungen  von  Nachtwandlern 
über  diese  einfachen  Vorgänge  hinaus  zu  höheren  psychischen  Ver- 
richtungen. Es  werden  Beispiele  erzählt,  in  denen  man  mit  der- 
artigen Kranken  lange  Gespräche  über  gleichgültige  Dinge  führen 
konnte,  in  denen  Gedichte  angefertigt,  Recepte  ausgeführt  und  Auf- 


Epileptisches  Irresein. 


467 


gaben  gelöst  wurden.  Die  Verwandtschaft  mit  den  hypnotischen 
Dämmerzuständen  liegt  hier  sehr  nahe. 

Meist  genügen  schon  kräftiges  Anreden  oder  doch  Anspritzen 
mit  kaltem  Wasser  und  ähnliche  stärkere  Reize,  um  den  Nacht- 
wandler aus  seinem  Zustande  zu  erwecken.  Aus  naheliegenden 
Gründen  muss  man  sich  hüten,  das  Erwachen  in  irgend  einer  ge- 
fährlichen Lage  herbeizuführen,  weil  die  sich  sofort  einstellenden 
lebhaften  Affecte  dem  Gefährdeten  die  Sicherheit  der  Bewegung  als- 
bald rauben.  Ausgedehntere  Anfälle  von  Somnambulismus  machen 
sich  am  nächsten  Morgen  beim  Erwachen  gewöhnlich  durch  das 
Gefühl  einer  gewissen  Ermattung  und  Abgeschlagenheit  bemerk  lieh. 
Dabei  ist  die  Erinnerung  an  die  ausgeführten  Handlungen  vollständ  ig 
erloschen  und  kann  selbst  durch  die  Wahrnehmung  ihrer  unzweifel- 
haften Spuren  meist  nicht  wieder  erweckt  werden. 

Wahrscheinlich  ebenfalls  auf  epileptische  Grundlage  zurückzu - 
führen  sind  jene  vereinzelten  Beobachtungen,  in  denen  bei  plötz- 
lichem Erwachen  aus  dem  Schlafe  eine  mehr  oder  weniger 
lange  Andauer  der  Bewusstseinstrübung  mit  illusionärer  Verfälschung 
der  Wahrnehmung  besteht.  Die  Erwachenden  glauben  sich,  unter 
Fortspinnen  beängstigender  Traumvorstellungen,  in  grosser  Gefahr 
und  begehen  in  ihrer  Verwirrung  bisweilen  äusserst  gefährliche  Hand- 
lungen, namentlich  Angriffe  auf  Schlafkameraden. 

Die  ausgeprägteren  und  länger  dauernden  Formen  einfacher 
Bewusstseinstrübung  werden  als  epileptischer  Stupor  bezeichnet. 
Zuweilen  bleibt  dabei  die  äussere  Ordnung  des  Handelns  einiger- 
massen  erhalten;  die  Kranken  arbeiten,  essen,  sprechen,  aber  alles 
wie  im  Traume  und  ohne  klares  Verständniss,  auch  ohne  rechte  Er- 
innerung. Meist  jedoch  zeigen  die  Kranken  einen  schwer  benom- 
menen, stieren  Gesichtsausdruck,  sprechen  nicht  oder  bringen  höchstens 
einzelne  abgerissene,  zusammenhangslose,  stotternde  oder  flüsternde 
Worte  hervor.  Aeusserlich  verhalten  sie  sich  ruhig,  bleiben  im 
Bett  liegen,  verunreinigen  sich,  kümmern  sich  nicht  um  die  Vor- 
gänge in  ihrer  Umgebung,  antworten  auf  keine  Anrede.  Bei  äusseren 
Einwirkungen  widerstreben  sie  meist  sehr  heftig,  unter  Umständen 
auch  durch  plötzliche,  rücksichtslose  Angriffe,  doch  wird  in  einzelnen 
Fällen  wenigstens  zeitweise  Katalepsie  beobachtet.  Aus  den  Aus- 
drucksbewegungen der  Kranken,  ihrem  ängstlichen  Zusamm  enkauern, 
Kopfschütteln,  Händefalten,  Knieen  lässt  sich  entnehmen,  dass  sie 

30* 


468 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


wahrscheinlich  von  verworrenen  Wahnideen  beherrscht  sind,  welche 
am  häufigsten  einen  schreckenerregenden,  grauenvollen,  hie  und  da 
jedoch  auch  einen  beglückenden,  religiös-ekstatischen  Inhalt  zu  haben 
scheinen.  Die  Nahrung  wird  in  der  Regel  ganz  oder  theilweise  ver- 
weigert; triebartige  Selbstmordversuche  sind  nicht  selten. 

Die  Dauer  dieses  Zustandes  beträgt  gewöhnlich  1 — 2 Wochen, 
nur  bei  sehr  schwerem  Verlaufe  erheblich  mehr.  Die  Lösung  Ist 
fast  immer  eine  allmähliche.  Der  Kranke  wird  im  Verlaufe  einiger 
Tage  klarer,  orientirt  sich  wieder  über  seine  Umgebung,  hat  keine 
oder  nur  sehr  undeutliche  Erinnerung  an  den  Anfall;  „es  fehlten  mir 
zwei  Tage“,  sagte  ein  solcher  Kranker.  Höchstens  weiss  er  anzu- 
geben, dass  ihm  allerlei  Schreckliches  vorgekommen  sei  und  er 
grosse  Angst  gehabt  habe,  ist  auch  wol  noch  einige  Tage  gedrückt 
und  niedergeschlagen.  Einige  Male  sah  ich  während  des  allmählichen 
Schwindens  der  Bewusstseinstrübung  eine  ausserordentliche  Sug- 
gestibilität  bestehen,  die  ganz  an  das  Verhalten  in  der  Hypnose  er- 
innerte. Namentlich  bei  einer  jungen  Erau  war  es  möglich,  sie  zu 
der  Ueberzeugung  zu  bringen,  bald  dass  sie  7,  bald  dass  sie  70  Jahre 
alt  sei,  ein  künstliches  Gebiss  trage,  von  einem  Bären  gebissen 
worden  sei,  gestohlen  habe,  einen  erwachsenen  Sohn  in  Amerika 
besitze  und  dergl.  Mehrere  Tage  lang  ging  sie  auf  alle  diese  Sug- 
gestionen ein,  ergänzte  sie  und  hielt  sie  fest,  allerdings  in  stumpfer, 
theilnahmloser  Weise.  In  einzelnen  Fällen  verschwindet  die  Be- 
nommenheit und  Verworrenheit  ungemein  langsam.  Es  vergehen 
Monate  unter  immer  wiederholten  Rückfällen  mit  Krämpfen,  und 
auch  nach  der  endgültigen  Besserung  bleibt  der  Kranke  lange  Zeit 
hindurch  unklar,  zerfahren  und  stumpf. 

Die  praktisch  bei  weitem  wichtigste  Geistesstörung  der  Epi- 
leptiker ist  das  ängstliche  Delirium,  welches  viel  häufiger,  als 
der  Stupor,  auch  ohne  Verbindung  mit  Krampfanfällen,  beobachtet 
wird.  Die  Entwicklung  des  Zustandes  vollzieht  sich  rasch,  innerhalb 
einiger  Minuten  oder  längstens  Stunden.  Häufig  gehen  allerdings 
schon  kurze  Zeit  Verstimmungen,  ängstliche  Träume,  eigenartige 
Empfindungen  und  Benommenheit  voraus,  bis  dann  plötzlich  der 
eigentliche  Anfall  losbricht.  Vielfach  wird  die  Einleitung  durch  eiue 
ganz  bestimmte,  sich  regelmässig  wiederholende  Sinnestäuschung 
gebildet;  namentlich  bemerkenswerth  ist  der  „schwarze  Mann“  und 
das  Sehen  von  rothen  Gegenständen,  Blut,  Flammen,  Mann  im  rothen 


Epileptisches  Irresein. 


469 


Mantel  u.  s.  f.  Der  Kranke  verliert  völlig  die  Orientirung;  seine 
Umgebung  verändert  sich;  Sinnestäuschungen  und  ängstliche  Wahn- 
bildungen  treten  auf.  Er  fasst  nur  sehr  unvollkommen  auf,  was 
um  ihn  herum  vorgeht,  lauscht  auf  die  Stimmen,  die  ihn  beschimpfen 
und  bedrohen.  Er  soll  wegen  Onanie  bestraft  werden,  hört  Gott 
sprechen,  das  Todtenwägelchen  fahren,  muss  sterben,  hat  etwas 
angerichtet,  fühlt  sich  gepackt,  sieht  sich  von  Teufeln,  Gespenstern, 
wilden  Thieren,  grossen  Yolksmassen  umgeben,  die  aus  der  Wand 
kommen  und  oft  von  allen  Seiten  gegen  ihn  anrücken.  Yor  dem 
Fenster  steht  ein  Mann,  der  ihn  erschiessen  will;  er  hat  schon  Kugeln 
im  Leibe;  der  Arzt  führt  Böses  im  Schilde;  Milch  und  Brot 
schmecken  nach  Schwefel.  Schlachten  werden  geschlagen,  ein  furcht- 
bares Blutbad  angerichtet;  er  watet  im  Blut  und  schreitet  über 
Leichen;  Mutter  und  Schwester  sind  auf  der  Eisenbahn  umgekommen; 
das  Haus  wird  in  die  Luft  gesprengt.  Man  führt  ihn  in  einen 
unterirdischen  Gang,  in  welchem  auf  schrecklichen  Marterwerkzeugen 
Menschen  und  Thiere  zerstückelt  werden.  Alles  stürzt  über  ihm 
zusammen;  Luft  und  Licht  wird  ihm  abgeschnitten;  das  jüngste 
Gericht  bricht  herein;  er  fährt  in  die  Hölle.  Zugleich  bemächtigt 
sich  seiner  die  äusserste  Todesangst,  so  dass  er  zitternd  sein  Ende 
erwartet,  ein  Stossgebet  nach  dem  andern  stammelt  oder  in  feier- 
lichen Worten  sein  Leben  in  Gottes  Hände  legt.  Dazwischen  schieben 
sich  fabulirende  Aeusserungen;  der  Kranke  ist  gestern  mit  der  Post- 
kutsche angekommen,  zum  Militär  eingezogen  worden,  hat  mit  dem 
Grossherzog  gesprochen.  Bisweilen  erscheinen  auch  Gott  und 
Christus,  schenken  ihm  die  Freiheit,  verheissen  ihm  Gnade,  krönen 
ihn  zum  Friedenskaiser,  führen  ihn  auf  prächtigem  Wagen  ins 
Paradies,  in  den  Himmel,  wo  ihm  seine  selige  Mutter  erscheint; 
doch  sind  solche  freudigen  Erhebungen  regelmässig  nur  rasch  vorüber- 
gehende Einschiebsel. 

Die  mehr  oder  weniger  deutlich  ausgesprochene  Grundstim- 
mung des  ganzen  Anfalles  bleibt  immer  ängstliche  oder  zornige 
Erregung.  Sie  treibt  den  Kranken  nur  allzuhäufig  zu  grässlichen 
Gewalttaten,  die  sich  durch  die  rücksichtslose  Rohheit  ihrer  Aus- 
führung auszuzeichnen  pflegen.  Ihm  ist,  als  müsse  er  seiner  Frau 
den  Hals  abschneiden,  die  Kinder  aufhängen,  sich  erschiessen.  Er 
sucht  zu  entfliehen,  klettert  aus  dem  Fenster,  oder  er  greift  in  dem 
verzweifelten  Drange,  sich  den  vermeintlichen  furchtbaren  Gefahren 


470 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


zu  entziehen  oder  sein  Leben  zu  retten,  blindlings  zur  ersten  besten 
Waffe,  um  sie  gegen  sieh  selbst  oder  gegen  seine  Umgebung  zu 
richten.  Mit  stark  geröthetem  Kopfe  und  stierem  Gesichtsausdrucke, 
stumm  oder  kurze,  abgerissene  Sätze,  ein  unarticulirtes  Schreien 
und  Brüllen  ausstossend,  wüthet  er  unter  Aufgebot  seiner  ganzen 
Kraft  plan-  und  ziellos,  alles  zerstörend  und  vernichtend,  was  ihm 
erreichbar  ist.  Hierhin  gehören  auch  die  öfters  beobachteten  Sol- 
daten, die  plötzlich  blind  und  toll  um  sich  schiessen  und  zahlreiche 
Personen  verwunden  oder  tödten.  Vielleicht  handelt  es  sich  bei 
dem  „Amok11  der  Malayen  um  ähnliche  Zustände.  In  anderen  Fällen 
sind  es  ganz  bestimmte  Handlungen,  welche  der  Kranke  unter  dem 
Einflüsse  einer  in  ihm  auftauchenden  Idee,  einer  Sinnestäuschung, 
eines  Antriebes  begeht.  So  erinnere  ich  mich  eines  Falles,  in  wel- 
chem ein  Brauknecht  durch  den  Teufel  in  Gestalt  eines  schwarzen 
Hundes  zur  Zerschmetterung  seines  schlafenden  Kameraden  veran- 
lasst wurde.  Ein  anderer  Kranker  ging  mit  den  Worten:  ..Bist  du 
ein  Jude,  so  musst  du  sterben“  auf  einen  ihm  gänzlich  unbekannten 
Mann  los  und  brachte  ihm  mit  einem  bereit  gehaltenen  Messer  eine 
schwere  Verletzung  bei;  noch  ein  anderer  endlich  fühlte  bei  einer 
Procession,  wie  sich  sein  Arm  hob  und  mit  voller  Wucbt  auf  eine 
arme  alte  Frau  niedersauste,  die- am  Wege  sass.  Hier  können  die 
Kranken  für  die  oberflächliche  Betrachtung  einen  ziemlich  geordneten 
Eindruck  machen  und  ihre  Handlung  zunächst  in  unsinniger,  aber 
doch  zusammenhängender  Weise  begründen. 

Die  Dauer  des  ängstlichen  epileptischen  Deliriums  beträgt  oft 
nur  einige  Stunden,  höchstens  ein  bis  zwei  Wochen.  Die  Besonnen- 
heit kehrt  bisweilen  nach  einem  längeren  Schlafe  plötzlich  zurück; 
meist  aber  erfolgt  die  Aufhellung  des  Bewusstseins  allmählich,  so 
dass  sich  vorübergehend  deliriöse  und  gesunde  Vorstellungen  in 
eigenthümlicher  Weise  mischen.  Einer  meiner  Kranken  bezeichnete 
am  letzten  Tage  eines  solchen  Deliriums  mich  als  Gott,  den  kli- 
nischen Praktikanten  als  Christus,  während  er  doch  die  ihm  bereits 
vertrauten  Räume  der  Klinik  richtig  erkannte.  Unter  Umständen 
kann  der  Kranke  schon  ganz  klar  und  gesund  erscheinen,  während 
er  in  Wirklichkeit  noch  sehr  benommen  und  von  mannigfachen 
wahnbaften  Erinnerungen  wie  Verfälschungen  der  Auffassung  be- 
herrscht ist,  ein  Verhalten,  welches  sich  dann  nachträglich  erst  bei 
vollkommener  Genesung  herausstellt. 


Epileptisches  Irresein. 


471 


Eine  etwas  seltenere  Form  der  epileptischen  Dämmerzustände 
ist  das  langsamer  verlaufende  besonnene  Delirium,  welches  eben- 
falls im  Anschlüsse  an  einen  Krampf  oder  als  selbständiger  psy- 
chischer Anfall  beobachtet  wird.  Die  Bewusstseinstrübung  ist  hier 
weniger  tief,  so  dass  die  Kranken  äusserlich  fast  ganz  besonnen  er- 
scheinen. Dennoch  wird  die  Auffassung  der  Aussenwelt  sehr  stark 
beeinträchtigt;  mannigfache  illusorische  und  hallueinatorische  Trug- 
wahrnehmungen spiegeln  dem  Kranken  eingebildete  Gefahren  vor; 
meist  sind  auch  gleichzeitig  Grössenideen  vorhanden.  Trotzdem  er 
auf  einfache  Fragen  ganz  zutreffende,  oft  freilich  auch  mit  deliriösen 
Elementen  durchsetzte  Antworten  giebt,  lässt  doch  sein  ganzes  Be- 
nehmen eine  gewisse  Benommenheit  und  Desorientirtheit.  erkennen. 
Er  ist  in  gereizter,  meist  etwas  ängstlicher,  selten  auffallend  heiterer 
Stimmung  und  begeht  oft  genug  auch  plötzliche  Gewaltthaten  auf 
Grund  von  verschiedenartigen  Wahnideen,  die  indessen  meist  nicht 
näher  geäussert  werden.  In  anderen  Fällen  wird  das  Bewusstsein 
erfüllt  durch  traumartige  Einbildungen  mit  Personenverkennung  und 
Sinnestäuschungen  von  häufig  religiöser  Färbung  (Weltuntergang, 
jüngstes  Gericht),  während  dessen  der  Kranke  bei  scheinbarer  Be- 
sonnenheit eine  Menge  unsinniger,  zweckloser,  ja  verbrecherischer 
Handlungen  (Herumirren,  weite  Reisen,  wiederholtes  Hin-  und  Her- 
fahren auf  derselben  Strecke,  Diebstähle,  Brandstiftung,  Auflehnung 
gegen  die  Staatsgewalt,  Sittlichkeitsverbrechen)  begehen  kann,  ohne 
irgend  welche  Einsicht  in  die  Bedeutung  derselben  zu  besitzen. 
Sehr  bekannt  geworden  ist  der  von  Legrand  duSaulle  mitgetheilte 
Fall  eines  Pariser  Kaufmanns,  der  aus  einem  solchen  Anfalle  plötz- 
lich auf  der  Rhede  von  Bombay  wieder  erwachte.  Solche  Zustände 
können  Wochen,  ja  eine  Anzahl  von  Monaten  dauern;  es  können 
sich  auch  mehrere,  durch  kurze  Zwischenzeiten  getrennte  Anfälle 
aneinanderreihen. 

Die  Erinnerung  an  die  Zeit  des  Dämmerzustandes  kann  wäh- 
rend des  Anfalles  noch  ziemlich  klar  sein,  schwindet  aber 
später  rasch  und  zwar  entweder  vollständig  oder  nur  theilweise, 
so  dass  der  Kranke  sich  auf  einzelne  Erlebnisse  bisweilen  noch  zu 
besinnen  vermag,  während  ihm  andere  gänzlich  entfallen  sind.  Bis- 
weilen erstreckt  sich  der  Erinnerungsverlust  auch  rückschreitend 
auf  kürzere  oder  längere  Zeiten  vor  dem  Anfalle,  ähnlich  wie  das 
nach  einfachen  Krampfanfällen  beobachtet  wird.  Die  Kranken  wissen 


472 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


sich  dann  nicht  an  Erlebnisse  zu  entsinnen,  die  ihnen  in  noch  zwei- 
fellos völlig  gesundem  Zustande  begegnet  sind.  Alzheimer  hat 
Fälle  mitgetheilt,  in  denen  sich  der  Ausfall  bis  auf  l‘/t  Jahre  er- 
streckte, so  dass  die  Kranken  nichts  von  ihrem  Wohnungswechsel 
in  dieser  Zeit,  nichts  von  ihrem  jüngstgeborenen  Kinde  wussten. 
In  der  Regel  fallen  diese  Dinge  dem  Kranken  ziemlich  plötzlich 
wieder  ein,  während  die  Erinnerung  an  die  Zeit  kurz  vor  dem 
Anfalle  dauernd  verloren  sein  kann.  Auch  die  Erinnerung  an  die 
deliriösen  Erlebnisse,  die  zunächst  völlig  erloschen  war,  kann  nach 
einigen  Tagen  oder  Wochen  wenigstens  in  dunklen  Umrissen  wieder 
auftauchen.  Alle  diese  Erfahrungen  fordern  zu  grosser  Vorsicht  in 
der  forensischen  Beurtheilung  derartiger  Fälle  auf.  Scheint  doch 
der  Verdacht  einer  Verstellung  ausserordentlich  nahe  zu  liegen,  wenn 
ein  anfangs  zu  Protokoll  gegebenes  Geständniss  von  dem  Thäter 
weiterhin  vollständig  widerrufen  wird,  oder  wenn  der  Thäter  zuerst 
hartnäckig  leugnet,  später  aber,  anscheinend  auf  eindringlichen  Vor- 
halt hin,  dennoch  gesteht!  Hingewiesen  sei  hier  nur  auf  den  Um- 
stand, dass  wir  auch  unsere  Träume  sehr  häufig  unmittelbar  nach 
dem  Erwachen  noch  zurückzurufen  vermögen,  während  sie  später 
unserem  Gedächtnisse  völlig  entschwinden,  und  dass  sie  plötzlich 
von  selbst  wieder  auf  tauchen,  nachdem  wir  uns  lange  vergebens 
bemüht  haben,  uns  ihrer  zu  entsinnen. 

Als  körperliche  Begleiterscheinungen  der  epileptischen  Dämmer- 
zustände sind  Steigerung  der  Sehnenreflexe  und  starke  Erweiterung 
der  Pupillen  mit  sehr  geringer  Lichtreaction  zu  nennen;  mehrfach 
sah  ich  ausgeprägte  Dikrotie  des  Pulses  (Erschlaffung  der  Gefäss- 
wand).  Ausserdem  können  sich,  wo  Krampfanfälle  voraufgegangen 
sind,  noch  eine  ganze  Reihe  von  anderweitigen  nervösen  Zeichen 
bemerkbar  machen,  Gesichtsfeldeinschränkung,  Störung  des  Farben- 
sinnes, der  Hautempflndlichkeit,  des  Geruches  und  Geschmackes, 
Herabsetzung  der  Muskelkraft,  leichte  Lähmungserscheinungen,  Para- 
phasie, Nystagmus  u.  s.  f. 

Die  Häufigkeit  der  epileptischen  Dämmerzustände  bei  einem 
Kranken  ist  ausserordentlich  verschieden.  Während  sie  sich  bisweilen 
in  ganz  kurzen  Zeitabständen  wiederholen,  giebt  es  andererseits 
Fälle,  in  welchen  neben  sonstigen  epileptischen  Zufällen  nur  ein 
oder  zwei  Male  im  Leben  ausgeprägte  Dämmerzustände  auftreten- 
Bei  zahlreichen  Epileptikern  kommt  es  überhaupt  niemals  dazu.  Die 


Epileptisches  Irresein. 


473 


einzelnen  Anfälle  bei  demselben  Kranken  pflegen  eine  sehr  grosse 
Uebereinstimmung  in  ihrem  Inhalte  und  Verlaufe  darzubieten.  So 
begann  das  fast  alljährlich  wiederkehrende  besonnene  Delirium  bei 
einem  meiner  Kranken  regelmässig  damit,  dass  er  behauptete,  von 
einem  Beamten  der  Polizei  geschossen  worden  zu  sein.  Er  gerieth 
dann  in  einen  halb  traumhaften,  halb  besonnenen,  mehrfach  von 
Krampfanfällen  unterbrochenen  Dämmerzustand  hinein,  aus  dem  er 
nach  mehreren  Wochen  eines  Morgens  klar,  aber  ohne  jede  Er- 
innerung au  die  Zwischenzeit  erwachte. 

In  vereinzelten  Fällen  können  sich  auf  der  epileptischen  Grund- 
lage noch  andersartige  Geistesstörungen  entwickeln.  So  sah  ich  einige 
Male  bei  völliger  Besonnenheit  und  Orientirung  Monate  lang  Ver- 
folgungs-  und  Grössenideen  mit  lebhaften  Sinnestäuschungen  fort- 
bestehen,  die  dann  allmählich  vollständig  verschwanden.  Die  Fälle 
erinnerten  sehr  an  den  Wahnsinn  der  Trinker,  und  in  der  That  hatte 
vorher  Alkoholmissbrauch  stattgefunden.  Recht  häufig  ist  auch 
die  Verbindung  von  alkoholischen  mit  epileptischen  Delirien.  Wir 
sehen  dann  das  Zittern  und  die  eigenartigen  lebhaften  Gesichts- 
täuschungen der  Trinker  sich  mit  den  religiösen  Vorstellungen  und 
der  ängstlichen  Gewaltthätigkeit  der  Epileptiker  vermischen.  Natür- 
lich spreche  ich  hier  nicht  von  jener  Form  der  Epilepsie,  die  sich 
erst  in  Folge  des  Alkoholmissbrauches  entwickelt  und  auch  dem 
Bilde  des  Deliriums  keine  besondere  Färbung  zu  geben  pflegt. 
Endlich  kommt  es  bei  Epileptikern  bisweilen  auch  zu  dauernden 
Wahnbildungen,  die  ganz  dem  Bilde  der  Verrücktheit  entsprechen*). 
Wir  werden  uns  über  eine  solche  Verbindung  nicht  sonderlich  wun- 
dem, wenn  wir  berücksichtigen,  dass  beide  Formen  des  Irreseins 
auf  dem  Boden  krankhafter  Veranlagung  zu  erwachsen  pflegen. 

Unter  den  Ursachen  der  Epilepsie  spielt  die  erste  Rolle  ohne 
Zweifel  die  Erblichkeit.  In  87  °/0  der  Fälle  mit  genauer  bekannter 
Vorgeschichte  fand  ich  erbliche  Veranlagung  und  unter  diesen 
wieder  in  mehr  als  ein  Viertel  der  Fälle  Epilepsie  bei  den  Eltern. 
Umgekehrt  zeigte  Echeverria,  dass  von  den  Nachkommen 
epileptischer  Eltern  mehr  als  die  Hälfte  an  Krämpfen  erkranken. 
Bei  den  Vorfahren  und  Verwandten  der  Epileptiker  beobachtet  man, 


*)  Bucliholz,  Ueber  die  chronische  Paranoia  bei  epileptischen  Indivi- 
duen. 1895. 


474 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


wie  F6r6  mittheilt,  ausserdem  ungemein  häufig  Migräne,  ferner 
Kinderkrämpfe,  Geistesstörungen,  Altersblödsinn:  von  ihren  Kindern 
bleiben  höchstens  1/5  gesund.  Eine  ganz  besonders  grosse  Bedeutung 
aber  hat  endlich  der  Alkoholismus  für  die  Erzeugung  der  Epilepsie 
bei  den  Nachkommen;  nach  Wildermuths  Angaben  ist  sein  Ein- 
fluss nicht  viel  geringer,  als  derjenige  geistiger  Erkrankungen. 
Neumann  stellt  fest,  dass  in  etwa  23,7 °/0  der  Fälle  die  Epilepsie 
auf  Trunksucht  eines  oder  beider  Eltern  zurückzuführen  ist  Martin 
kommt  zu  dem  Schlüsse,  dass  von  den  überlebenden  Kindern  trunk- 
süchtiger Eltern  nicht  weniger  als  1/3  an  Epilepsie  erkranken.  Auch 
bedeutenden  Altersunterschieden  der  Eltern  sowie  starken  gemüthlichen 
Erregungen  der  Mutter  während  der  Schwangerschaft  hat  man  Einfluss 
auf  die  Entstehung  der  Epilepsie  bei  den  Kindern  zugeschrieben. 

Jedenfalls  entwickelt  sich  die  Epilepsie  regelmässig  auf  der 
Grundlage  einer  angeborenen  Entartung.  Häufig  deutet  sich 
dieselbe  in  körperlichen  Zeichen  an,  besonders  Verbildungen 
des  Schädels,  Mikrocephalie , Hydrocephalie,  Asymmetrien,  oder 
in  der  „epileptischen  Physiognomie“,  welche  durch  die  breite 
Stirn,  die  eingedrückte,  breite  Nase,  durch  vorspringende  Backen- 
knochen, wulstige  Lippen  und  glänzende  Augen  mit  auffallend 
weiten  Pupillen  gekennzeichnet  wird.  Dem  entspricht  die  Erfahrung, 
dass  ein  erheblicher  Theil  der  Epileptiker  schon  von  Jugend  auf 
einen  gewissen  Grad  von  Schwachsinn  darbietet.  Auch  sonstige  Ent- 
artungszeichen finden  sich  nicht  selten.  Bei  34 °/0  der  Kranken  treten 
schon  in  der  ersten  Kindheit  Krämpfe  auf.  Die  weitere  Entwicklung 
der  Krankheit  kann  durch  eine  ganze  Beihe  von  äusseren  Schädlich- 
keiten bestimmt  werden.  Dahin  gehören  acute  Krankheiten,  heftige 
Gemüthsbewegungeu,  Nervenverletzungen.  Ferner  werden  Fälle  be- 
richtet, in  denen  der  Geschlechtsact,  ein  cariöser  Zahn,  Fremdkörper 
im  Ohre,  ein  Glassplitter  in  der  Fusssohle  epileptische  Krämpfe 
erzeugt  haben.  Schon  die  Verschiedenartigkeit  dieser  Einflüsse 
lehrt  uns,  dass  sie  nicht  als  wahre  Ursachen,  sondern  nur  als  aus- 
lösende Beize  angesehen  werden  dürfen. 

Aehnliches  dürfte  wol  auch  für  die  Mehrzahl  der  Fälle  gelten,  in 
denen  sich  die  Epilepsie  an  Kopfverletzungen  anschliesst  Unter 
den  von  mir  in  den  letzten  Jahren  beobachteten  Fällen  befanden 
sich  fast  ein  Viertel,  in  denen  solche  Unfälle,  allerdings  oft  leichterer 
Art,  als  Ursache  des  Leidens  angeführt  wurden.  Alle  derartigen 


Epileptisches  Irresein. 


475 


Angaben  sind  schwer  zu  verwerthen,  weil  sich  ein  bestimmter  Be- 
weis für  den  inneren  Zusammenhang  zwischen  Verletzung  und 
Erkrankung  nur  selten  wird  führen  lassen.  Vielfach  sind  auch  die 
Verletzungen,  deren  Spuren  wir  so  häufig  in  Form  von  zahlreichen 
und  ausgedehnten  Narben  bei  Epileptikern  finden,  nicht  die  Ursache, 
sondern  die  Folge  des  Leidens;  der  Kranke  ist  gefallen,  weil  er  von 
epileptischem  Schwindel  ergriffen  wurde,  ohne  sich  des  wahren  Her- 
ganges recht  bewusst  zu  werden.  Dennoch  dürfen  wir  daran  fest- 
halten,  dass  in  einer  Anzahl  von  Fällen  ein  ursächlicher  Zusammen- 
hang thatsächlich  besteht.  Wildermut  h giebt  dessen  Häufigkeit 
nach  seinen  eigenen  Erfahrungen  auf  3,8 °/0,  nach  der  Statistik  des 
Deutschen  Heeres  auf  4,2  °/0  an.  Bei  einem  meiner  Kranken  traten 
4 Jahre  nach  einem  beim  Militär  erlittenen  Hufschlage  vor  die  Stirn 
mit  folgender  Bewusstlosigkeit  und  theilweiser  Zertrümmerung  des 
Nasenbeins  die  ersten  Anfälle  auf.  Den  allmählich  sich  weiter  ent- 
wickelnden Anfällen  ging  als  Aura  Stimkopfschmerz  voraus;  ein 
Anfall  wurde  durch  langwierige  Untersuchung  der  verengten  Nase 
hervorgerufen;  einigen  anderen,  die  zu  kommen  drohten,  konnte 
durch  Einpinselung  der  Nasenschleimhaut  mit  Cocainlösung  vorge- 
beugt werden.  Freilich  darf  man  auch  in  solchen  Fällen  wol  an- 
nehmen, dass  eine  gewisse  Neigung  zu  epileptischer  Erkrankung- 
schön  vorher  bestanden  haben  mag.  So  war  bei  jenem  Kranken 
der  Vater  epileptisch  gewesen. 

Die  bei  weitem  wichtigste  äussere  Ursache  der  Epilepsie  ist 
ohne  Zweifel  der  Alkoholmissbrauch.  Einerseits  ist  das  Auf- 
treten schwerer  Krampfanfälle  beim  chronischen  Alkoholismus 
nicht  selten,  wenn  es  auch  zweifelhaft  bleiben  muss,  ob  wir  es 
hier  mit  wirklicher  Epilepsie  zu  thun  haben.  Weit  häufiger  aber 
und  überzeugender  ist  die  verderbliche  Wirkung,  welche  selbst 
sehr  mässige  Alkoholgaben  bei  Epileptikern  auszuüben  pflegen. 
Zunächst  haben  wir  hier  der  sogenannten  pathologischen  Rausch- 
zustände zu  gedenken,  wie  sie  bei  Epileptikern  häufig  genug  beob- 
achtet werden.  Es  handelt  sich  dabei  um  das  Auftreten  schwerer 
Bewusstseinstrübungen  mit  mangelhafter  Erinnerung  und  meist  auch 
heftigen  zornmüthigen  Erregungen  in  Folge  von  verhältnissmässig 
geringen  Alkoholmengen.  Das  epileptische  Gehirn  mit  seiner  er- 
höhten Erregbarkeit  ist  eben  ganz  besonders  empfindlich,  „intolerant“ 
gegen  die  Wirkungen  des  Alkohols.  Begünstigt  wird  das  Zustande- 


476 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


kommen  solcher  häufig  verkannter  Störungen  durch  voraufgehende 
Gemüthsbewegungen,  welche  eben  gleichfalls  die  Erregbarkeit  steigern. 
Weiterhin  können  wir  bei  Epileptikern  vielfach  die  Erfahrung 
machen,  dass  auch  die  eigentlichen  Anfälle  durch  Alkoholgenuss 
mit  der  Sicherheit  eines  Experiments  ausgelöst  werden.  Einer 
meiner  Kranken,  ein  Student,  verfiel  regelmässig  nach  Commersen 
in  ein  epileptisches  Delirium,  in  welchem  er  mehrfach  nur  mit  ge- 
nauer Noth  an  der  Ausführung  des  Selbstmordes  verhindert  werden 
konnte. 

♦ 

Endlich  aber  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  nicht 
nur  leichte  epileptische  Zufälle  unter  dem  Einflüsse  geistiger  Ge- 
tränke in  schwere  und  schwerste  Formen  übergeführt  werden  können, 
sondern  dass  auch  die  schlummernde  epileptische  Anlage  häufig 
geradezu  erst  durch  den  Alkohol  geweckt  wird.  Fälle  dieser  Art 
sind  es,  welche  man  unter  dem  Namen  der  Dipsomanie  zu  einem 
Krankheitsbilde  zusammengefasst  hat,  das  nach  meiner  Ueberzeugung 
der  Epilepsie  angehört,  so  weit  es  überhaupt  als  ein  einheitliches 
angesehen  werden  kann.  Wir  haben  es  dabei  mit  dem  anfallsweise 
auftretenden  Drange  zu  ganz  unsinnigem  Missbrauche  geistiger  Ge- 
tränke zu  Thun.  Wie  sich  bei  genauerem  Befragen  herausstellt, 
beginnt  der  Anfall  regelmässig  mit  einem  Zustande,  der  vollständig 
den  oben  geschilderten  epileptischen  Verstimmungen  gleicht,  mit 
Unbehagen,  Beklemmuugsgefühlen,  tiefer  Traurigkeit,  Lebensüber- 
druss, erhöhter  Reizbarkeit,  Eingenommenheit  des  Kopfes,  Appetit- 
mangel, Schlaflosigkeit,  bisweilen  auch  geschlechtlicher  Erregung. 
Smith  fand  dabei  vorübergehende  Vergrösserung  der  Herzdämpfung. 
Gleichzeitig  bemächtigt  sich  des  Kranken  eine  lebhafte  innere  Un- 
ruhe und  damit  die  triebartige  Begierde,  sich  durch  den  Alkohol- 
genuss Erleichterung  zu  verschaffen,  so  dass  er  alles  stehen  und 
liegen  lässt  und  „im  hellen  Galopp“  der  Kneipe  zueilt  Unter  dem 
Einflüsse  des  Alkohols  kommt  es  in  einer  Reihe  von  Fällen  zur 
Entwicklung  eines  gewöhnlichen  epileptischen  Dämmerzustandes,  in 
welchem  der  Kranke  schimpft  und  lärmt,  gewaltthätig  wird,  sinnlose 
Reisen  unternimmt. 

Damit  ist  natürlich  die  Auffassung  der  Krankheit  gesichert.  So 
kannte  ich  einen  Herrn,  der  regelmässig  nach  einigen  Tagen  reiz- 
barer Verstimmung  ganz  plötzlich  davonlief,  jede  ihm  erreichbare 
Menge  schwerster  alkoholischer  Getränke  hinunterstürzte  und  dann 


Epileptisches  Irresein. 


477 


in  tiefer  Bewusstlosigkeit  irgendwo  aufgefunden  wurde,  einmal  auf 
dem  Eise  eines  Flusses,  wo  er  die  Nackt  zugebracht  hatte.  Ein 
anderer,  sonst  sehr  nüchterner  Kranker,  der  ausser  zwei  Ohnmachts- 
anfällen keine  Zeichen  von  Epilepsie  dargehoten  hatte,  gerieth  unter 
dem  Einflüsse  des  Alkohols,  zu  dem  er  in  seinen  Verstimmungen 
griff,  in  stundenlanges,  zwangsmässiges  Schimpfen  und  Singen ; dabei 
machte  er  nur  den  Eindruck  leichter  Angetrunkenheit,  vermochte 
sich  aber  später  durchaus  seiner  Erlebnisse  nicht  mehr  zu  entsinnen. 
Er  wurde  mehrfach  wegen  Majestätsbeleidigung  verurtkeilt,  die  er  in 
solchen  Zuständen  begangen  hatte.  In  einem  weiteren  Falle  trat 
nach  dem  durch  Verstimmungen  eingeleiteten  Alkokolgenusse  tage- 
und  wochenlange  leichte  Benommenheit  auf,  in  welcher  der  Kranke 
viel  trank,  planlos  herumfuhr,  bis  er  schliesslich  irgendwo  ohne  Geld 
und  ohne  Werthsachen,  in  verwahrlostem  Zustande  wieder  zu  sich 
kam,  völlig  im  Unklaren  über  das,  was  inzwischen  mit  ihm  vorge- 
gangen war.  Die  psychische  Veränderung  war  dabei  äusserlich  so 
geringfügig,  dass  sie  von  den  Personen,  mit  denen  er  in  Berührung 
kam,  durchaus  nicht  bemerkt  wurde.  Einmal  stellte  sich  zu  seinem 
Schrecken  nachträglich  heraus,  dass  er,  ein  wohlhabender  Kaufmann, 
während  einer  solchen  Zeit  mit  einem  Thierbändiger  einen  für  Jenen 
äusserst  vortkeilhaften  Vertrag  auf  Errichtung  einer  Menagerie  ab- 
geschlossen und  sich  dadurch  um  Tausende  geschädigt  hatte. 

Durch  diese  Erfahrungen  wird  ein  Licht  auf  jene  Fälle  geworfen, 
in  denen  bei  Dipsomanen  typisch  epileptische  Störungen  ausbleiben 
und  der  Kranke  nur  in  einen  rauschartigen  Zustand  gerätk,  in 
welchem  er  fortfährt,  fast  ohne  Unterbrechung  Wein,  Bier,  Schnaps, 
selbst  Spiritus  Tag  und  Nacht  in  grossen  Mengen  herunterzustürzen. 
Meist  kehrt  er  nicht  eher  nach  Hause  zurück,  als  bis  das  letzte 
Geldstück  vertrunken  ist,  ja  er  verkauft  und  versetzt  die  Kleidungs- 
stücke von  seinem  Leibe,  um  seine  krankhafte  Gier  zu  befriedigen. 
Dabei  besteht  Schlaflosigkeit,  vollständiger  Appetitmangel  und  eine 
deutliche  Unruhe.  Trotz  der  grossen  Mengen  des  genossenen  Alko- 
hols kommt  es  vielfach  doch  nicht  zu  sinnloser  Betrunkenheit.  Nach 
einigen  Tagen  oder  Wochen  hört  das  Trinken  plötzlich  auf;  es  stellt 
sich  unter  starkem  Ekelgefühl  ein  bisweilen  von  Delirien  und  Sinnes- 
täuschungen begleiteter  Collapszustand  ein,  in  welchem  auch  die 
körperlichen  Folgen  der  Unmässigkeit,  Erbrechen,  Appetitmangel, 
Magenkatarrh,  Unsicherheit  der  Bewegungen,  Zittern,  stark  hervor- 


478 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


treten.  Aus  ihm  geht  der  Kranke  verhältnismässig  gesund  hervor 
und  zeigt  oft  eine  tiefe  Reue  über  das  Yorgefallene  sowie  Abscheu 
gegen  den  Alkohol,  aber  meist  nur  eine  ziemlich  unklare  Erinnerung. 

Trotz  aller  guten  Vorsätze  wiederholen  sich  die  Anfälle  in  mehr 
oder  weniger  regelmässigen  Abständen  ohne  besonderen  äusseren 
Anlass  in  genau  gleicher  Weise.  Die  Zwischenzeiten,  während  derer 
die  Kranken  entweder  gar  keine  oder  doch  nicht  übermässig  geistige 
Getränke  zu  sich  zu  nehmen  pflegen,  betragen  einige  Wochen  oder 
Monate  („Quartalsäufer“),  seltener  Jahre;  sie  pflegen  sich  bei  längerem 
Bestände  des  Leidens  allmählich  zu  verkürzen,  wobei  sich  zugleich 
mehr  und  mehr  eine  Herabsetzung  der  sittlichen  Widerstandsfähig- 
keit und  namentlich  auch  die  körperlichen  Zeichen  des  Alkohol- 
missbrauches herausbilden. 

Dies  ist  das  eigentliche  Bild  der  Dipsomanie.  Von  ihm  zu  der 
ersterwähnten  Gruppe  führt  eine  ununterbrochene  Reihe  von  Ueber- 
gängen,  durch  welche  die  innere  Uebereinstimmung  beider  zweifellos 
dargethan  wird.  Eine  weitere  Bestätigung  für  diesen  Satz  wird 
durch  die  Erfahrung  geliefert,  dass  auch  bei  den  Dipsomanen  im 
engeren  Sinne  unabhängig  vom  Alkohol  die  gleichen  Verstimmungen 
auftreten  wie  bei  den  sonstigen  Epileptikern.  Endlich  aber  finden 
sich  Fälle,  bei  denen  einzelne  Anfälle  zwar  in  der  Form  der  Dipso- 
manie verlaufen,  während  andere  Male,  vielleicht  auch  nur  ein  ein- 
ziges Mal  im  Leben,  der  Rausch  unvermuthet  in  einem  epileptischen 
Dämmerzustände  endigt.  Führen  hier  die  Verstimmungen  und  der 
Wunsch,  sich  Erleichterung  zu  verschaffen,  zum  Alkoholmissbrauche, 
so  sind  die  Epileptiker  auch  sonst  in  grosser  Gefahr-,  Trinker  zu 
werden.  Ihre  Widerstandsfähigkeit  gegen  den  Alkohol  pflegt  herab- 
gesetzt zu  sein,  so  dass  leicht  schwere  Vergiftungserseheinungen 
auftreten;  ferner  haben  viele  von  ihnen,  da  sie  von  trunksüchtigen 
Eltern  abstammen,  von  Jugend  auf  durch  Vererbung  und  Erziehung 
schon  die  Neigung  zum  Trünke.  Endlich  aber  sind  sie  wegen  der 
grossen  Schwankungen  ihrer  Arbeitsfähigkeit,  die  das  Leiden  bedingt, 
in  grosser  Gefahr,  in  die  Klasse  der  Landstreicher  und  Obdachlosen 
herabzusinken,  bei  denen  die  Verführung  zum  Trinken  eine  so  ver- 
hängnisvolle Rolle  spielt. 

Mit  der  Bedeutung  des  Alkoholmissbrauches  für  die  Erzeugung 
der  Epilepsie  hängt  die  Thatsache  zusammen , dass  in  den  letzten 
Jahren  bei  uns  noch  nicht  15  °/0  der  in  die  Anstaltsbehandlung 


Epileptisches  Irresein. 


479 


gelangten  Epileptiker  Frauen  waren.  Bei  den  Frauen  tritt  nicht 
selten  eine  Verschlimmerung  der  epileptischen  Zufälle  zur  Zeit  der 
Menses  ein.  In  der  Schwangerschaft  werden  Besserungen,  aber  auch 
Verschlimmerungen  des  Leidens  beobachtet;  ich  sah  einmal  die 
Entwicklung  eines  Status  epilepticus  bei  einer  Schwangeren.  Meist 
beginnt  die  Krankheit  schon  in  der  Jugend  sich  zu  zeigen;  freilich 
bleiben  die  ersten  Anzeichen  derselben,  leichte  Ohnmächten,  Bett- 
nässen, gelegentliches  Fortlaufen,  Verstimmungen,  vielfach  unbeachtet, 
bis  ein  stärkerer  Krampfanfall,  vielleicht  nach  übermässigem  Alkohol- 
genusse,  die  Sachlage  klärt.  In  den  Entwicklungsjabren  verschlechtert 
sich  oft  die  Epilepsie,  oder  sie  tritt  erst  jetzt  deutlicher  hervor. 
Die  ersten  Menses  geben  dazu  bisweilen  den  Anstoss.  Andererseits 
giebt  es  auch  Formen,  welche  sich  weit  später,  besonders  nach 
Infectionskrankheiten  (Masern,  Scharlach,  Typhus)  oder  gar  erst  in 
den  Rückbildungsjahren  einstellen,  vielleicht  im  Zusammenhänge 
mit  den  Veränderungen  an  den  Gefässen,  wie  man  gewöhnlich  anzu- 
nehmen pflegt  (Epilepsia  tarda,  senilis). 

Ueber  das  Wesen  der  Epilepsie  gehen  die  Anschauungen  noch 
ziemlich  weit  auseinander.  Zunächst  steht  es  fest,  dass  in  einer 
gewissen  Anzahl  von  Fällen  gröbere  Hirnveränderungen  aufgefunden 
werden.  Wildermuth  theilt  mit,  dass  13,3 °/0  seiner  Fälle  auf 
Polioencephalitis,  5,8  °/0  auf  anderweitige  Rindenerkrankungen  zurück- 
zuführen seien.  In  der  That  begegnen  uns  öfters  die  Reste  früherer 
Hirnerkrankungen,  Hemiparesen,  Hemiathetose,  Contracturen.  Ana- 
tomisch entsprechen  ihnen  Porencephalien,  encephali tische  Karben, 
seltener  einmal  Missbildungen,  multiple  Tuberkel,  Geschwülste  u.  s.  f. 
Aber  auch  in  denjenigen  Fällen,  die  wir  als  „genuine“  Epilepsie  zu 
betrachten  pflegen  (nach  Wildermuth  82 °/0),  scheinen  sich  häufig 
genug  allerlei  Veränderungen  zu  finden,  die  nicht  ohne  Beziehung 
zu  den  klinischen  Erscheinungen  sein  dürften.  Im  Status  epilepticus 
fand  Kazowsky  starke  Blutüberfüllung,  Infiltration  der  Gefäss- 
wandungen  und  des  Hirngewebes  mit  Leukocythen,  zahlreiche  Blut- 
austritte und  Veränderungen  an  den  Nervenzellen.  Dass  bei  der 
senilen  Epilepsie  die  Alterserkrankungen  der  Gefässe  wie  des  Nerven- 
gewebes ausgesprochen  zu  sein  pflegen,  wurde  soeben  angedeutet. 
Chaslin  hat  ferner  bei  der  Epilepsie  eine  weit  verbreitete  Ver- 
mehrung und  Verdickung  der  Gliafasern  nachgewiesen,  die  vorzugs- 
weise die  oberen  Rindenschichten  betraf  und  sich  an  einzelnen 


480 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Stellen  strudelförmig  in  die  Rinde  hi  nein  erstreckte.  Ebenso  fand 
Bleuler  bei  26  Epileptikern  mit  chronischer  Verblödung  regelmässig 
eine  sehr  auffallende  Wucherung  der  Glia  in  den  obersten  Rinden- 
schichten („Randgliose“). 

Andererseits  liegen  von  zahlreichen  Beobachtern  Angaben  über 
sklerotische  Veränderungen  am  Ammonshorn  der  Epileptiker  vor, 
die  allerdings  bisher  noch  wenig  mit  feineren  Methoden  nachgeprüft 
wurden.  Bratz  konnte  neuerdings  feststellen,  dass  von  32  „genuinen- 
Epileptikern  14  in  der  That  auch  mikroskopisch  eine  meist  einseitige, 
ausserordentlich  gleichförmige  Erkrankung  des  Ammonshoms  dar- 
boten, „Atrophie  der  Zellen  eines  bestimmten  Gebietes  und  Erfüllung 
des  betroffenen  Raumes  mit  feinfasriger  NeurogliaF  Nissl.  der 
freilich  nur  wenige  Fälle  untersuchen  konnte,  ist  zu  der  Ansicht 
gekommen,  dass  die  Erkrankung  des  Ammonshomes  nur  die  beson- 
ders leicht  erkennbare  Theilerscheinung  einer  allgemeineren  Er- 
krankung der  gesammten  Rinde  bedeute,  bei  der  zunächst  am  meisten 
das  Auftreten  zahlreicher  und  stark  entwickelter  Spinnenzellen, 
besonders  in  den  oberen  Rindenschichten,  ins  Auge  fällt.  Auch  die 
Nervenzellen  erwiesen  sich  in  weitem  Umfange,  aber  in  verschie- 
dener Weise  und  in  sehr  verschiedenem  Grade  erkrankt,  vielleicht 
auch  das  zwischen  ihnen  liegende  Grau;  ebenso  zeigten  die  Gefässe 
ausgebreitete  Veränderungen.  Eine  irgend  befriedigende  Deutung 
lassen  leider  alle  diese  Befunde  zur  Zeit  noch  nicht  zu,  doch  dürfen 
wir  wol  annehmen,  dass  der  Verblödung  der  Epileptiker  eine  allge- 
meine uud  schwere  Erkrankung  der  Hirnrinde  entspricht. 

Eine  andere  Frage  ist  es,  wie  sich  die  eigentümliche  Periodi- 
cität  der  epileptischen  Störungen  erklärt.  Man  kann  hier  auf  die 
Thatsache  hinweisen,  dass  in  unserem  Nervensystem  offenbar  eine 
Reihe  von  Einrichtungen  vorhanden  sind,  die  eine  periodische  Ent- 
ladung von  dauernd  einwirkenden  Reizen  vermitteln.  Ausser  den 
vielfachen  Thatsachen  des  gesunden  Lebens  sei  hier  nur  die  Erfah- 
rung genannt,  dass  auch  in  den  Endzuständen  der  Dementia  praecox 
oft  eine  bemerkenswerte  Regelmässigkeit  der  Erregungen  beobachtet 
wird.  Man  hat  indessen  bei  der  Epilepsie  vielfach  versucht,  den 
Schwankungen  in  den  körperlichen  Zuständen  nachzugehen,  um 
dadurch  einen  Einblick  in  das  Zustandekommen  des  epileptischen 
Anfalles  zu  gewinnen.  Vor  allem  ist  nach  Giften  gefahndet  worden, 
die  sich  im  Körper  der  Epileptiker  bilden  oder  zu  gewissen  Zeiten 


Epileptisches  Irresein. 


481 


anhäufen  sollten.  Zunächst  hat  Yoisin  nachgewiesen,  dass  nach 
dem  epileptischen  Anfalle,  besonders,  wenn  eine  Reihe  derselben 
auf  einander  folgen  häufig  Eiweiss  im  Harn  auftritt.  Er  stellte 
ferner  fest,  dass  der  Harn  der  Epileptiker  vor  den  Anfällen 
eine  geringere,  nach  denselben  eine  grössere  Giftigkeit  für 
Kaninchen  besass,  als  in  den  anfallsfreien  Zeiten.  Agostini*) 
fand  den  Harn  unmittelbar  vor  und  nach  dem  Anfalle  am  giftigsten. 
Haig**)  kam  zu  dem  Ergebnisse,  dass  vor  dem  Anfalle  weniger, 
nach  demselben  aber  mehr  Harnsäure  ausgeschieden  werde,  als 
sonst;  er  meint  daher,  dass  ein  Ueberschuss  von  Harnsäure  im 
Blute  zu  einer  Verengerung  der  kleinen  Gefässe  und  damit  zu  einer 
Steigerung  des  Blutdruckes  führe,  der  dann  den  Anfall  auslöse.  Zu 
noch  genaueren  Vorstellungen  ist  Krainsky***)  gelangt,  der  die 
periodische  Anhäufung  von  carbaminsaurem  Ammoniak  mit  Be- 
stimmtheit für  die  Entstehung  der  epileptischen  Anfälle  verantwort- 
lich macht;  er  weist  es  nicht  nur  im  Blute  der  Epileptiker  nach, 
sondern  konnte  auch  bei  Thieren  epileptische  Anfälle  durch  Ein- 
spritzung jenes  Körpers  erzeugen.  Im  Anfalle  soll  das  carbamin- 
saure  Ammoniak  in  Harnstoff  und  Wasser  zerfallen,  von  dem  der 
erstere  in  Form  von  Harnsäure  im  Harn  erscheint.  Es  gelang  ihm 
geradezu,  aus  der  Verminderung  oder  Vermehrung  der  Harnsäure- 
ausscheidung die  Anfallstage  zu  bezeichnen  oder  vorherzusagen. 
Der  Anfall  bildet  also  gewissermassen  ein  Sicherheitsventil  gegen 
die  Anhäufung  des  Giftes  im  Blute. 

Vorster  fand  bisweilen  nach  den  Anfällen  eine  Erhöhung  des 
specifischen  Blutgewichtes  und  eine  Zunahme  des  Hämoglobingehaltes, 
während  F6re  umgekehrt  von  einem  Sinken  dieses  letzteren  berichtet. 
Vermehrte  Giftigkeit  des  Blutplasmas  nach  dem  Anfalle  führt  Agostini 
an,  ferner  Vermehrung  des  Salzsäuregehaltes  im  Magensafte,  abnorme 
Gährungsproducte,  Herabsetzung  der  Verdauungskraft,  der  Empfind- 
lichkeit, der  Beweglichkeit,  der  Aufsaugungsfähigkeit  des  Magens. 
Vor  dem  Anfalle,  noch  mehr  aber  kurz  nachher,  war  der  Magensaft 
in  erhöhtem  Maasse  giftig.  Cabittof)  fand,  dass  Blutserum  von 


*)  Eivista  sperimentale  di  freniatria,  XXII,  267. 

**)  Brain,  1896,  1. 

***)  Allgem.  Zeitachr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  612. 
t)  Eivista  sperimentale  di  freniatria,  XXIII,  36. 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Auü.  II.  Band. 


31 


482 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Epileptikern  bei  Kaninchen  Krämpfe  hervorrief;  der  Schweiss  der 
Kranken  erzeugte  ebenfalls  Krämpfe,  um  so  stärker,  je  näher  der 
Anfall  war.  Abnorme  Bestandteile,  Aceton,  Indican,  die  auf  krank- 
hafte Zersetzungen  im  Körper  hindeuten,  sind  auch  von  anderen 
Forschern  nachgewiesen  worden. 

Wenn  sich  die  hier  angeführten  Erfahrungen  bestätigen,  so 
würde  die  Epilepsie,  wenigstens  in  manchen  Fällen,  als  eine  Stoff- 
wechselkrankheit anzusehen  sein,  bei  der  sich  giftige  Zersetzungs- 
stoffe im  Blute  anhäufen,  die  dann  vielleicht  als  die  näheren  Ur- 
sachen des  Anfalles  zu  betrachten  wären.  Für  diese  Auffassung 
wird  namentlich  auch  die  Beobachtung  ins  Feld  geführt,  dass  die 
Anfälle  vielfach  von  Erscheinungen  begleitet  sind,  die  auf  eine  Ver- 
giftung hindeuten,  Hinfälligkeit,  Schläfrigkeit,  Kopfschmerzen,  Auf- 
stossen,  Erbrechen,  Zungenbelag,  Darmstörungen.  Aus  dem  Schwinden 
oder  Fortbestehen  dieser  Zeichen  soll  man  schliessen  können,  ob 
eine  Reihe  von  Anfällen  abgeschlossen  ist  oder  nicht  Ferner  wäre 
darauf  hinzu-weisen , dass  wir  gerade  bei  so  manchen  chronischen 
Vergiftungen,  vor  allem  durch  Alkohol  und  Blei,  bei  der  Urämie  u.  s.  f., 
epileptische  Anfälle  auftreten  sehen.  Allerdings  wird  es  wol  immer 
nur  ein  Theil  der  Fälle  sein,  auf  den  die  toxische  Erklärung  passt. 
Wo  wir  umschriebene  Himerkrankungen  antreffen,  bedürfen  wir 
jener  letzteren  kaum.  Aber  auch  sonst  bietet  sie  uns  noch  viele  Schwie- 
rigkeiten. Wollen  wir  auch  die  nachgewiesenen  allgemeinen  Hirn- 
veränderungen auf  chronische  Giftwirkungen  zurückführen,  so  bleibt 
doch  die  Periodicität  der  Anfälle,  die  anscheinende  Aufspeicherung 
des  Giftes  im  Körper  bis  zu  einem  gewissen  Zeitpunkte  noch  räthsel- 
haft,  ebenso  die  Erblichkeitsbeziehung  der  Epilepsie  zu  anderen 
Geistes-  und  Nervenkrankheiten.  Gerade  diese  letztere  Thatsache 
scheint  mir  sehr  dafür  zu  sprechen,  dass  doch  in  den  Zuständen 
des  Nervengewebes  die  eigentliche  und  letzte  Ursache  für  die  eigen- 
artigen Krankheitsäusserungen  liegt,  die  wir  unter  dem  Namen  der 
Epilepsie  zusammenfassen. 

Die  Prognose  des  epileptischen  Irreseins  hängt  sehr  wesentlich 
von  der  Ursache  des  Leidens  und  von  dem  Zeitpunkte-  seines  Auf- 
tretens ab.  Wo  gröbere  Hirnerkrankungen  zu  Grunde  liegen,  ist 
natürlich  eine  Besserung  nicht  zu  erwarten;  im  Gegentheil  beob- 
achtet mau  vielfach  sogar  ein  allmähliches  Fortschreiten  der  geistigen 
Schwäche.  Dagegen  kann  die  selbständige  Epilepsie  heilen  und  ist 


Epileptisches  Irresein. 


483 


auch  häufig  der  Behandlung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zugäng- 
lich, die  Alkoholepilepsie  und  die  dipsomanischen  Störungen  sogar 
in  ziemlich  hohem  Maasse.  Die  schweren  postepileptischen  stupo- 
rösen  und  deliriösen  Zustände  pflegen  sich  besonders  gern  nach 
Reihen  von  starken  Krampfanfällen  einzustellen,  während  sich  die 
rein  psychischen  Anfälle  mehr  mit  den  leichteren,  besonders  auch 
mit  den  nach  Kopfverletzungen  auftretenden  Formen  der  Epilepsie 
zu  verbinden  scheinen.  Die  Gefahr  des  epileptischen  Schwachsinns 
ist  im  allgemeinen  geringer  bei  den  örtlich  umgrenzten  Formen, 
doch  können  auch  diese  sich  allmählich  zu  allgemeiner  Epilepsie 
weiter  entwickeln  und  dann  zur  Verblödung  führen.  Am  schlimmsten 
sind  die  Fälle  mit  häufigen  und  schweren  allgemeinen  Krämpfen, 
vor  allem,  wenn  das  Leiden  in  frühem  Lebensalter  auftritt.  Auch 
abgesehen  von  den  beträchtlichen  Hindernissen,  welche  die  Krank- 
heitserscheinungen selbst  der  geistigen  Ausbildung  entgegensetzen, 
bleibt  hier  die  gesammte  psychische  Entwicklung  regelmässig  zurück, 
oft  sogar  auf  den  niedrigsten  Stufen.  Weit  seltener  und  wol  nur 
bei  den  leichten  Formen  der  Epilepsie  kann  sich  die  Störung  auf 
das  gemüthliche  Verhalten  beschränken,  während  die  Kranken  ver- 
standesmässig  normal  oder  sogar  besonders  gut  veranlagt  sind.  An- 
dererseits giebt  Fer6  an,  dass  sich  in  höherem  Alter  die  Verblödung 
auffallend  rasch  einstellen  könne,  bisweilen  ziemlich  plötzlich  nach 
einem  bestimmten  Anfalle.  Selbstverständlich  ist  bei  allen  Epileptikern 
auch  das  Leben  in  hohem  Maasse  gefährdet,  sei  es  durch  die  Ver- 
letzungen im  Anfalle,  sei  es  durch  Selbstmordversuche  und  Unglücks- 
fälle, sei  es  endlich  durch  die  Entwicklung  eines  Status  epilepticus. 
Worcester  fand,  dass  unter  70  Epileptikern  nicht  weniger  als  45 
in  Folge  ihrer  Anfälle  zu  Grunde  gingen. 

Die  Epilepsie  ist,  wie  so  viele  unserer  Krankheitsbezeichnungen, 
heute  noch  ein  Sammelbegriff,  dessen  Umfang  nicht  genau  feststeht. 
Ganz  allgemein  hat  man  sich  indessen  gewöhnt,  die  auf  gröberen 
Herderkrankungen  beruhenden  Formen  von  der  eigentlichen,  „ge- 
nuinen“ Epilepsie  abzutrennen.  Klinisch  unterscheiden  sie  sich 
namentlich  durch  das  Auftreten  solcher  Erscheinungen,  die  auf  einen 
bestimmten  Sitz  des  Leidens  in  der  Hirnrinde  hindeuten,  seien  es 
dauernde  Reizungen  oder  Lähmungen,  seien  es  Herdzeichen,  die  dem 
Anfalle  selbst  unmittelbar  vorangehen  oder  folgen.  Es  zeigt  sich 
jedoch  bei  genauerer  Betrachtung,  dass  die  Grenzen  zwischen  der 

31* 


484 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


allgemeinen  und  der  Örtlich  umgrenzten  oder  Rindenepilepsie  keines- 
wegs scharfe  sind.  Namentlich  kommt  es  häufig  vor,  dass  die 
ursprünglich  umgrenzten  Krankheitserscheinungen  sich  allmählich 
ausdehnen,  dass  sich  zwischen  Anfälle  zweifellos  umschriebenen 
Sitzes  andere  von  ganz  allgemeiner  Ausbreitung  einschieben. 

Eine  zweite  umstrittene  Gruppe  von  epileptischen  Erscheinungen 
sind  diejenigen,  die  bei  chronischen  Vergiftungen  auftreten.  So 
weit  wir  es  hier  nicht  einfach  mit  der  Erweckung  einer  schlum- 
mernden epileptischen  Anlage  zu  thun  haben,  scheinen  diese  Fälle 
eine  Sonderstellung  einzunehmen,  die  sich  klinisch  darin  ausdrückt, 
dass  bei  ihnen  zwar  schwere  Krampfanfälle  häufig  sind,  dass  aber 
die  übrigen  Gestaltungen  der  Epilepsie,  insbesondere  die  Geistes- 
störungen, ganz  in  den  Hintergrund  treten,  vielleicht  sogar  in  ihrer 
besonderen  Eigenart  völlig  fehlen.  Andererseits  vertritt  F6r6  den 
Standpunkt,  dass  die  Eklampsie,  die  wir  auf  urämische  Vergiftung 
zurückzuführen  pflegen,  nichts  sei,  als  gewöhnliche  Epilepsie,  für  die 
das  Wochenbett  nur  die  Rolle  einer  auslösenden  Ursache  spiele. 
Ein  abschliessendes  Urtheil  über  diese  Umgrenzungsfragen  ist  zur 
Zeit  noch  nicht  möglich. 

Sehen  wir  von  diesen  grundsätzlichen  Schwierigkeiten  ab,  so 
wird  die  Erkennung  einer  epileptischen  Geistesstörung  im  allgemeinen 
leicht  sein,  sobald  man  Gelegenheit  hat,  das  Vorhandensein  der  kennzeich- 
nenden Krämpfe  festzustellen,  deren  unterscheidende  Eigentümlich- 
keiten wir  bei  Besprechung  der  hysterischen  Anfälle  aufzuführen  haben 
werden.  Bei  der  Epilepsia  tarda  allerdings  ist  es  notwendig,  die 
Möglichkeit  einer  Paralyse  in  Erwägung  zu  ziehen,  die  bisweilen 
mit  epileptiformen  Anfällen  beginnt.  Die  Beachtng  der  sonstigen 
paralytischen  Krankheitszeichen  wird  hier  meist  rasch  Klarheit  bringen. 
Die  epileptischen  Erregungen  werden  durch  das  Fehlen  der  Ideen- 
flucht von  den  manischen  Zuständen  leicht  unterschieden.  Dagegen 
können  bei  der  Abgrenzung  von  den  Aufregungen  und  Stupor- 
zuständen der  Dementia  praecox  Schwierigkeiten  entstehen,  zumal 
auch  hier  epileptiforme  Anfälle  Vorkommen.  Wir  haben  die  unter- 
scheidenden Merkmale  bei  der  Besprechung  jener  Krankheit  bereits 
aufgeführt.  Besonderes  Gewicht  ist  auf  die  Vorgeschichte  zu  legen, 
den  Nachweis  einzelner  Schwindel-  oder  Ohnmachtsanfälle,  perio- 
discher Verstimmungen,  ferner  auf  solche  Anzeichen,  die  nächtliche 
Anfälle  wahrscheinlich  machen,  zeitweises  Bettnässen,  Zungenver- 


Epileptisches  Irresein. 


485 


letzimgen,  das  gelegentliche  Gefühl  starker  Abspannung  oder  heftiger 
Kopfschmerzen  am  Morgen.  Der  epileptische  Schwachsinn  unter- 
scheidet sich  von  den  Endzuständen  der  Dementia  praecox  vor  allem 
durch  das  Fehlen  des  Negativismus,  der  Stereotypie,  der  Schrullen 
und  Manieren.  Die  Kranken  fassen  schlechter  auf,  sind  ungemein 
schwerfällig  in  ihrem  Denken,  aber  nicht  so  verworren  wie  jene 
letzteren;  sie  sind  dauernd  reizbarer,  gewaltthätiger,  im  Gegensätze 
zu  den  selteneren  und  harmloseren  Erregungen  bei  verblödeten 
Hebephrenen  und  Katatonikern. 

Allein  selbst  nach  Abrechnung  aller  derjenigen  Fälle,  in  denen 
man  an  der  Hand  der  aufgeführten  Gründe  zur  Annahme  eines 
epileptischen  Irreseins  geführt  wird,  bleiben  noch  eine  Reihe  von 
Beobachtungen  übrig,  deren  klinisches  Bild  genau  demjenigen  des 
epileptischen  Irreseins  entspricht,  ohne  dass  doch  irgend  eines  der 
gewohnten  Zeichen  der  epileptischen  Neurose  nachweisbar  wäre. 
Einige  Forscher,  vor  allem  der  um  die  Kenntniss  der  epileptischen 
Psychosen  so  sehr  verdiente  Samt*),  sind  so  weit  gegangen,  auch 
hier  aus  allgemeinen  Gründen  eine  epileptische  Ursache  vorauszu- 
setzen. Der  psychisch -epileptische  Anfall  wurde  von  Samt  ge- 
wissermassen  als  ein  Aequivalent  des  Krampfanfalles  betrachtet, 
und  jene  zweifelhaften  Formen  waren  ihm  daher  nichts  Anderes,  als 
Epilepsie,  bei  welcher  sämmtliche  Krampfanfälle  in  psychisch-epilep- 
tische Aequivalente  umgewandelt  sind. 

Auf  Grund  meiner  eigenen  Erfahrungen  bin  ich  geneigt,  einer 
solchen  Auffassung  durchaus  zuzustimmen.  Wenn  wir  uns  gewöhnt 
haben,  als  das  eigentliche  Kennzeichen  der  Epilepsie  den  Krampf- 
anfall zu  betrachten,  so  ist  zu  bedenken,  dass  einerseits  durchaus 
nicht  alle  epileptiformen  Anfälle  wirklich  Epilepsie  bedeuten,  und 
dass  es  andererseits  zahlreiche  Fälle  giebt,  in  denen  alle  sonstigen 
Erscheinungsformen  der  Epilepsie  auf  das  schönste  ausgebildet  sind, 
während  Krämpfe  vollkommen  fehlen.  Endlich  lehrt  die  Erfahrung, 
dass  von  diesen  letzterwähnten  Fällen  alle  denkbaren  Uebergänge 
zu  denjenigen  hinüberführen,  welche  den  ganzen  Formenreich thum 
der  epileptischen  Anfälle  gleichzeitig  darbieten.  Ich  kannte  einen 
Kranken,  der  häufig  in  epileptischen  Stupor  verfiel,  aber  niemals 
Krämpfe  und  nur  zweimal  kurzdauernde  Ohnmächten  gehabt  hatte. 


*)  Archiv  für  Psychiatrie,  Y u.  VI. 


486 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Ein  anderer  bot  in  ausgeprägtester  Form  die  epileptische  Charakter- 
, Veränderung,  ferner  die  periodischen  Verstimmungen  mit  heftigen  Ge- 
walthandlungen, endlich  krankhafte  Rauschzustände  dar,  hatte  aber  nur 
ein  einziges  Mal  eine  Ohnmacht  und  einmal  einen  Anfall  von  Nacht- 
wandeln, dagegen  niemals  Krämpfe.  Diese  Beispiele,  deren  Zahl 
sich  leicht  beliebig  vermehren  Hesse,  sind  es  gewesen,  welche  mich 
zu  der  Anschauung  geführt  haben,  dass  der  Krampf  zwar  ein  wich- 
tiges, aber  doch  nur  ein  Zeichen  der  Epilepsie  darstellt,  und  dass 
wir  berechtigt  sind,  auch  dort  Epilepsie  anzunehmen,  wo  nur  eine 
oder  mehrere  der  übrigen  Erscheinungsformen  der  Epilepsie  nach- 
weisbar sind. 

Diese  Erweiterung  der  Begriffsbestimmung  ist  zunächst  von 
Bedeutung  für  die  Auffassung  der  Dipsomanie.  Es  giebt  ohne 
Zweifel  Periodentrinker,  welche  zugleich  einzelne  epileptische  Krampf- 
anfälle darbieten.  In  der  Regel  aber  ist  das  nicht  der  Fall.  Viel- 
mehr erkranken  vorzugsweise  solche  Personen  dipsomanisch,  bei 
denen  sich  die  Epilepsie  in  Form  von  periodischen  Verstimmungen 
äussert.  In  einer  Reihe  von  Fällen  kommt  es  ausserdem,  wie  oben 
ausgeführt,  unter  dem  Einflüsse  des  Alkohols  zu  Anfällen,  wie  sie 
uns  von  der  Epilepsie  bekannt  sind,  zu  schweren  Ohnmächten  und 
Dämmerzuständen.  Sobald  man  sich  einmal  daran  gewöhnt  hat,  als 
gleichberechtigte  Formen  der  Epilepsie  neben  den  Krämpfen  und 
Ohnmächten  ebenso  die  periodischen  psychischen  Störungen,  die 
Dämmerzustände  wie  die  plötzlichen  Verstimmungen  anzusehen, 
erkennt  man  unschwer  die  Zusammengehörigkeit  der  hier  vereinigten 
Krankheitsbilder,  welche  überall  neben  und  für  einander  auftreten 
können. 

Zugleich  wird  diese  Auffassung  uns  noch  über  eine  andere 
Schwierigkeit  hinweghelfen,  die  ebenfalls  zur  Aufstellung  einer  neuen 
Krankheitsform  geführt  hat.  Die  Epilepsie  ist  eine  periodische  Krank- 
heit. Man  hat  daher  Bedenken  getragen,  solche  Fälle  derselben  zu- 
zurechnen, in  denen  bei  Fehlen  sonstiger  epileptischer  Krankheits- 
zeichen nur  ein  einziges  Mal  im  Leben  ein  Dämmerzustand  be- 
obachtet wurde.  Vielmehr  hat  man  eine  besondere  Krankheit, 
die  „Mania  transitoria“*),  besser  vielleicht  das  Delirium  transitorium, 


*)  Schwartzer,  die  transitorische  Tobsucht.  18S0;  Yenturi,  le  pazzie 
transitorie.  1888;  v.  Kraffl-Ebing,  Psychiatrische  Arbeiten,  I,  1. 


Epileptisches  Irresein. 


487 


angenommen,  v.  Krafft-Ebing  spricht  auch  von  transi torischem 
Irresein  bei  Neurasthenie  und  scheint  dabei  namentlich  die  milder 
verlaufenden  Anfälle  im  Auge  zu  haben.  Es  handelt  sich  hier  um 
einen  mehr  oder  weniger  heftigen  Aufregungszustand  mit  traumhafter 
Trübung  des  Bewusstseins,  der  sehr  rasch  verläuft  und  keinerlei 
Erinnerung  hinterlässt.  Kleine  Alkoholmengen  und  voraufgehende 
Gemiithsbewegungen  scheinen  die  günstigen  Bedingungen  für  den 
Ausbruch  der  Krankheit  abzugeben.  Klinisch  geht  die  Ueberein- 
stimmung  mit  epileptischen  Dämmerzuständen  offenbar  bis  in  die 
kleinsten  Einzelheiten.  Ich  halte  es  daher  nicht  für  möglich,  solche 
Fälle  von  der  Epilepsie  zu  trennen.  Ganz  abgesehen  davon,  dass 
jene  kleinen,  gelegentlichen  Zufälle,  die  wir  sonst  als  Zeichen  der 
Epilepsie  anerkennen,  namentlich  die  viel  zu  wenig  beachteten  perio- 
dischen Verstimmungen,  sehr  leicht  übersehen  oder  vergessen  werden 
können,  ist  es  durchaus  denkbar,  dass  ein  an  sich  periodisches 
Leiden  bei  weniger  ausgeprägter  Veranlagung  nur  unter  ganz  be- 
sonders ungünstigen  Umständen  einmal  zum  Ausbruche  gelangt. 
Wie  es  Epileptiker  giebt,  die  neben  unscheinbaren  Störungen  etwa 
nur  ein  einziges  Mal  einen  Krampfanfall  erleiden,  so  kann  wol  auch 
nur  einmal  ein  Dämmerzustand  auftreten.  Meist  werden  dann  frei- 
lich andere  Zeichen  der  Epilepsie  deutlicher  ausgeprägt  sein.  Es 
ist  aber  gewiss  möglich,  dass  in  seltenen  Fällen  ganz  allein  jener 
Dämmerzustand  die  schlummernde  epileptische  Veranlagung  anzeigt. 
In  einem  von  mir  lange  Zeit  beobachteten  derartigen  Falle  stellte 
sich  übrigens  heraus,  dass  ausser  dem  schweren  Dämmerzustände 
wahrscheinlich  mehrfach  krankhafte  Rauschzustände  dagewesen  waren, 
und  dass  von  Jugend  auf  gut  gekennzeichnete  periodische  Ver- 
stimmungen bestanden  hatten;  später  treten  dann  noch  mehrfach 
leichtere  Dämmerzustände  auf. 

Die  Bekämpfung  der  Epilepsie  hat  vor  allem  mit  der  Vor- 
beugung zu  beginnen.  Der  Weg  wird  uns  hier  durch  die  erblichen 
Beziehungen  der  Krankheit  zum  Alkoholismus  gewiesen.  Wenn  wir 
bedenken,  dass  auf  1000  Menschen  mindestens  1 — 2 Epileptiker 
kommen,  und  dass  nahezu  1/i  derselben  von  trunksüchtigen  Eltern 
erzeugt  wurden,  so  wird  das  für  uns  Aerzte  ein  neuer  Antrieb  sein, 
mit  allen  Kräften  die  Verbreitung  des  furchtbaren  Volksgiftes  zu 
bekämpfen,  das  nicht  nur  die  Gegenwart,  sondern  auch  die  Zukunft 
vernichtet.  Weiterhin  wird  unsere  Aufgabe  die  ursächliche  Behänd- 


488 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Jung  des  einzelnen  Falles  sein,  wie  sie  bald  in  der  Trepanation 
(Knocheneindrücke  am  Schädel,  corticale  Herderkrankungen),  bald 
(Reflexepilepsie)  im  Ausschneiden  von  Narben,  der  Beseitigung 
cariöser  Zähne,  dem  Ausbrennen  der  Nase,  bald  auch  (Gummata, 
Periostitis)  in  einer  antiluetischen  Cur  zu  bestehen  hätte.  Meist 
werden  dadurch  allerdings  nur  vorübergehende  Erfolge  erzielt  Selbst 
in  Fällen,  die  sich  zweifellos  an  Kopfverletzungen  angeschlossen 
haben,  scheint  nach  längerem  Bestehen  des  Leidens  die  Aussicht 
gering  zu  sein,  durch  Ausschneidung  von  Narben  oder  Knochen- 
splittern dauernde  Heilung  zu  erzielen,  eine  Erfahrung,  die  sehr  für 
das  Bestehen  oder  die  allmähliche  Entwicklung  einer  allgemeinen 
epileptischen  Veränderung  in  solchen  Hirnen  spricht.  Andererseits 
sieht  man  auch  ohne  sonstige  Eingriffe  am  Hirn  die  einfache 
„Lüftung“  durch  die  Trepanation  bisweilen  eine  Zeit  lang  günstig 
wirken*)- 

Eine  ganz  besondere  Wichtigkeit  möchte  ich  in  der  Be- 
handlung der  Epilepsie  aus  früher  erörterten  Gründen  der  Durch- 
führung dauernder  und  vollständiger  Enthaltsamkeit  gegen- 
über dem  Alkohol  auch  in  jenen  Fällen  beilegen,  in  denen  es 
sich  nicht  um  eine  eigentliche  Alkoholepilepsie  handelt.  Jeder  Epi- 
leptiker ist  in  höherem  oder  geringerem  Grade  intolerant  gegen 
Alkohol  und  ist,  wie  ich  glauben  muss,  in  Gefahr,  durch  denselben 
gelegentlich  in  schwere  geistige  Störung  zu  verfallen,  sich  selbst 
und  Anderen  in  hohem  Grade  gefährlich  zu  werden.  Namentlich 
gilt  jene  Forderung  natürlich  für  die  Dipsomanie,  bei  welcher  ihre 
unbedingte  Durchführung  das  einzige,  aber  öfters  erstaunlich  günstig 
wirkende  Heilmittel  bildet.  Wie  ich  in  einer  Reihe  von  Fällen  be- 
obachtet habe,  verlaufen  die  hier  so  gefährlichen  Verstimmungen 
ohne  Alkohol  nicht  nur  ganz  harmlos,  sondern  sie  werden  auch  nach 
und  nach  seltener  und  unbedeutender  und  können  sich,  wie  es 
scheint,  allmählich  fast  ganz  verlieren. 

Eine  ganze  Reihe  von  Behandlungsvorschlägen  haben  sich 
an  die  Anschauungen  über  die  Verursachung  der  Epilepsie  durch 
Selbstvergiftung  angeknüpft  Um  die  Gifte  im  Magen  und  Ver- 
dauungskanal zu  beseitigen,  sind  Magen-  und  Darmausspülungen,  Ab- 
führmittel, innerliche  Desinfectionsmittel  (/S-Naphthol,  Salol,  Ca- 


*)  J o 1 1 y , Charitearm alen,  XX. 


Epileptisches  Irresein. 


489 


lomel)  empfohlen  worden.  Ferner  soll  die  Harnausscheidung  durch 
reichliches  Trinken  von  Wasser,  schwachem  Thee,  Kochsalzlösungen 
angeregt  werden,  die  Schweissabsonderung  durch  heisse  Luftbäder. 
Um  den  Stoffwechsel  dauernd  günstig  zu  beeinflussen  und  nament- 
lich die  Bildung  reichlicher  Harnsäure  zu  verhindern,  giebt  Haig 
eine  wesentlich  pflanzliche  Nahrung,  Milch,  Mehlspeisen,  Gemüse, 
und  vermeidet  ausser  Fleisch  auch  Thee,  Kaffee  und  Bouillon. 
Agostini  wiederum  befürwortet  mehr  gemischte  Kost,  da  er 
von  einseitiger  Pflanzennahrung  verderbliche  Magenstörungen  er- 
wartet. Trotz  so  mancher  Unklarheiten  scheint  übrigens  die  Ver- 
meidung allzu  reichlicher  Fleischkost  für  Epileptiker  thatsächlich 
vortheilhaft  zu  sein. 

Die  Anfälle  selbst  hat  man  mit  zahllosen  Mitteln  bekämpft. 
Allerdings  könnte  man  zweifelhaft  sein,  ob  dieses  Bestreben  zweck- 
mässig ist,  wenn  die  Anfälle  wirklich  Sicherheitsventile  vorstellen 
und  das  angesammelte  Gift  vernichten.  Vielleicht  geschieht  aber 
die  Verringerung  der  Anfälle  überhaupt  nur  durch  Beseitigung  ihrer 
Ursache.  Von  einer  Aufzählung  aller  Mittel,  die  man  zu  jenem 
Zwecke  angewendet  hat,  dürfen  wir  hier  absehen;  nur  der  Borax, 
der  bei  geringem  Nutzen  schwere  Verdauungsstörungen,  Haut- 
erkrankungen und  Nierenentzündungen  erzeugt,  das  Argentum 
nitricum,  das  Bromäthyl,  das  Atropin  und  das  von  verschiedenen 
Seiten  gerühmte  Zinkoxyd  (steigende  Gaben  von  0,06  gr  an)  sollen 
hier  kurz  erwähnt  werden.  Von  Wildermuth  sind  ferner  die 
Ueberosmiumsäure  und  namentlich  das  Amylenhydrat  empfohlen 
worden,  das  in  Gaben  von  5 — 8 gr  täglich  Zahl  und  Stärke  der 
epileptischen  Anfälle  herabzusetzen  scheint.  Besonders  gute  Dienste 
soll  es  neben  dem  Chloralhydrat  in  der  Behandlung  des  Status 
epilepticus  leisten,  den  man  ausserdem  durch  verlängerte  heisse 
Bäder,  Kochsalzinfusionen,  unter  Umständen  durch  Aderlass  be- 
kämpfen kann. 

Bei  weitem  die  wirksamsten  Mittel  in  der  Behandlung  der  Epi- 
lepsie sind  jedoch  immer  noch  die  Bromsalze,  die  hier  zum  ersten 
Male  im  Jahre  1851  von  Locock  angewendet  wurden.  Wir  geben 
sie  zu  5 — 6 gr  täglich,  einzeln  oder  in  Form  des  Erlenmeyer- 
schen  Gemisches,  doch  sind  schon  viel  grössere  Gaben,  bis  zu  30  gr. 
verordnet  und  anscheinend  auch  vertragen  worden.  Wollen  wir 
Erfolge  erzielen,  so  muss  das  Brom  ganz  planmässig  möglichst  lange 


490 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Zeit  hindurch  genommen  werden.  Man  nimmt  an,  dass  durch  das 
Schwinden  des  Rachenreflexes  der  Zeitpunkt  gekennzeichnet  werde, 
an  dem  der  Körper  mit  Brom  gesättigt  ist.  Bei  längerer  Dar- 
reichung von  Brom  in  grösseren  Gaben  wird  das  Mittel  im  Körper 
aufgespeichert,  vielleicht,  indem  es  an  Stelle  des  Chlornatrium  tritt, 
das  nach  Laudenheimers  Angaben  in  grösseren  Mengen  ausge- 
schieden wird.  Im  weiteren  Verlaufe  pflegen  dann  die  Erscheinungen 
der  Bromvergiftung  her  vorzutreten , Acne,  Verdauungsstörungen, 
bronchitische  Erkrankungen,  Herzschwäche,  Schläfrigkeit,  Gedächtnis- 
schwäche, Benommenheit.  Durch  fleissiges  Baden  kann  man  das 
Auftreten  der  Acne  einigermassen  hintanhalten;  auch  die  neueren 
Ersatzmittel,  das  Bromalin  und  Bromipin  (Merck),  sollen  weniger 
leicht  Vergiftungserscheinungen  herbeiführen.  Bei  schwererem  Bro- 
mismus ist  es  unbedingt  geboten,  sofort,  aber  langsam  mit  der 
Arzneigabe  herunterzugehen.  Es  gelingt  aber  bei  gehöriger  Vorsicht 
meist,  den  Kranken  mittlere  Bromgaben,  nach  Umständen  mit  kurzen 
Unterbrechungen,  Jahre  lang  zuzuführen.  Hier  kommt  es  in  ein- 
zelnen Fällen  vor,  dass  die  epileptischen  Störungen  nicht  nur  gänz- 
lich verschwinden,  sondern  auch  nach  dem  Aussetzen  des  Mittels 
nicht  wiederkehren,  so  dass  man  von  wirklichen  Heilungen  sprechen 
kann.  Meistens  wird  wenigstens  eine  erhebliche  Besserung  erreicht, 
doch  dauert  der  Erfolg  in  der  Regel  allerdings  nur  so  lange  und 
vielleicht  noch  nicht  einmal  so  lange  'wie  die  Darreichung  des  Heil- 
mittels. 

Nach  dem  Aussetzen  kommt  es  nicht  selten  vor,  dass  sich  die 
Krämpfe  und  mit  ihnen  auch  die  psychischen  Störungen  rasch 
wesentlich  verschlimmern.  Ausserdem  sah  ich  zweimal  gerade  unter 
dem  Einflüsse  des  Bromkalium  einen  wahren  Status  epilepticus  sich 
entwickeln,  der  erst  nach  Ersetzung  des  Mittels  durch  Atropin 
wieder  schwand,  und  endlich  wurden  in  einem  von  mir  beobachteten 
Falle  zwar  die  Anfälle  durch  das  Bromkalium  vorübergehend  be- 
seitigt, doch  stellten  sich  statt  ihrer  ungemein  heftige  Aufregungs- 
zustände mit  leichter  Bewusstseinstrübung  ein,  welche  mich  die 
Krämpfe  zurückwünschen  und  die  eingeleitete  Cur  aufgeben  Hessen. 
Indessen  auch  abgesehen  von  derartigen  Zwischenfällen  bleiben  die 
Bromsalze  in  einer  gewissen  Zahl  von  Fällen,  die  nach  den  Angaben 
von  Bratz  zwischen  4 und  36 °/0  schwankt,  ohne  Wirkung.  Man 
hat  daher  das  Mittel  mit  verschiedenen  anderen  verbunden,  nament- 


Epileptisches  Irresein. 


491 


lieh  mit  Adonis  vernalis  (0,3 --0,6  gr  täglich  als  Infas  nach  Bech- 
terew), Digitalis,  Codein,  Belladonna,  Chloralhydrat,  oder  man  hat 
die  Wirkung  durch  Abwechselung  mit  anderen  Arzneien  zu  erhöhen 
gesucht.  So  wurde  von  Möli  das  Brom  zeitweilig  durch  Atropin 
ersetzt,  während  Flechsig*)  die  planmässige  Folge  von  Opium  und 
Brom  in  solchen  Fällen  empfohlen  hat,  in  denen  die  einfache  Brom- 
behandlung keinen  Nutzen  zeigt  Man  soll  zunächst  6 Wochen  lang 
Opium  in  steigender  Gabe  bis  zu  1 gr  täglich  verabreichen,  dann 
plötzlich  dieses  Mittel  durch  8 gr  Bromsalz  täglich  ersetzen.  Durch 
Darmausspülungen  und  diätetische  Massregeln,  namentlich  aber  durch 
strenge  Bettbehandlung  soll  die  Cur  unterstützt  werden;  die  Kranken 
müssen  unter  genauester  ärztlicher  Aufsicht  bleiben.  Die  bisherigen 
Berichte  über  diese  Behandlung  gehen  ziemlich  weit  auseinander. 
Wie  es  scheint,  können  sich  recht  ernste  Erscheinungen  einstellen. 
Während  der  Opiumbehandlung  sinkt  das  Körpergewicht  bedeutend; 
die  Kranken  können  nicht  warm  werden,  verlieren  die  Esslust; 
mehrfach  traten  Delirien,  Status  epilepticus  und  selbst  tödtliche 
Collapse  auf.  Andererseits  wurden  einzelne  Kranke  erheblich  ge- 
bessert, bei  denen  andere  Behandlungen  ohne  Erfolg  gewesen  waren. 

In  symptomatischer  Beziehung  erheischen  die  epileptischen 
Dämmerzustände  eine  äusserst  sorgfältige  Ueberwachung  der  Kranken 
wegen  der  grossen  Gefahr,  welche  dieselben  für  sich  und  ihre  Um- 
gebung bedeuten.  Epileptiker  mit  häufigen  Dämmerzuständen  be- 
dürfen der  Anstaltsfürsorge  ebenso  wie  jene  zahlreichen  geistigen 
Krüppel  und  Halbkrüppel,  denen  das  Leiden  die  Möglichkeit  zu 
regelmässiger  und  lohnender  Erwerbsthätigkeit  raubt.  In  neuester 
Zeit  ist  auch  auf  diesem  Gebiete  der  öffentlichen  Fürsorge  die  Lö- 
sung der  vorliegenden  Aufgaben  in  Angriff  genommen  worden.  Den 
ersten  praktischen  Versuch  einer  Epileptikeranstalt  in  grösstem  Maass- 
stabe hat  Pastor  v.  Bodelschwingh  in  Bielefeld  gemacht.  Leider 
ist  indessen  schon  jetzt  erkennbar,  dass  hier  die  Wohlthaten  des 
Krankenhauses  durch  eine  specifisch  theologische  Auffassung  und 
Behandlung  der  ohnedies  zur  Frömmelei  neigenden  Kranken  vielfach 


*)  Neurolog.  Centralblatt,  1898,  230;  1897,  50;  Salzburg,  Ueber  die  Be- 
handlung der  Epilepsie,  insbesondere  mit  Opium -Brom  nach  Flechsig,  Diss. 
1894;  Linke,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  UI,  753;  Pollitz  ebenda,  LIII, 
377;  Bratz,  ebenda  UV,  208. 


492 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


beeinträchtigt  werden.  Dagegen  verdanken  wir  den  wenigen  unter 
ärztlicher  Leitung  stehenden  Epileptikeranstalten  schon  jetzt  eine 
Reihe  werthvoller  Aufschlüsse  über  Wesen  und  Behandlung  der 
Epilepsie,  die  uns  sicherlich  dem  Ziele  einer  wirksamen  Bekämpfung 
dieser  furchtbaren  Krankheit  näher  führen  werden. 


B.  Das  hysterische  Irresein. 

Wenn  es  heute  kaum  möglich  erscheint,  eine  knappe  und  scharfe 
Begriffsbestimmung  der  Hysterie*)  im  allgemeinen  aufzustellen,  so 
tritt  uns  diese  Schwierigkeit  in  fast  noch  höherem  Grade  entgegen 
heim  Hinblicke  auf  das  hysterische  Irresein.  Wir  geben  gelegent- 
lich einer  ganzen  Reihe  von  krankhaften  Seelenzuständen  den  Bei- 
namen des  „Hysterischen,“  ohne  immer  mit  genügender  Klarheit  die 
Begründung  desselben  durchführen  zu  können.  Ja,  es  kann  kaum 
in  Abrede  gestellt  werden,  dass  vielfach  ein  nicht  zu  rechtfertigender 
Missbrauch  mit  der  verallgemeinerten  Anwendung  jener  Bezeichnung 
getrieben  worden  ist.  Als  wirklich  einigermassen  kennzeichnend  für 
alle  hysterischen  Erkrankungen  dürfen  wir  vielleicht  die  ausser- 
ordentliche Leichtigkeit  und  Schnelligkeit  ansehen,  mit 
welcher  sich  psychische  Zustände  in  mannigfaltigen 
körperlichen  Störungen  wirksam  zeigen,  seien  es  Anaesthesien 
oder  Paraesthesien,  seien  es  Ausdrucksbewegungen,  Lähmungen, 
Krämpfe  oder  Secretionsanomalien. 

Die  eigentliche  Grundlage  dieser  krankhaften  Veränderung  haben 
wir  höchst  wahrscheinlich  in  das  Gebiet  der  Gefühle  zu  verlegen. 
Wir  wissen  wenigstens,  dass  von  dieser  Seite  her  schon  beim  ge- 
sunden Menschen  ein  sehr  bedeutender,  vielfach  dem  Willen  ent- 
zogener Einfluss  auf  die  Zustände  unseres  Körpers  ausgeübt  wird- 
Dem  entsprechend  pflegen  auch  Verstand  und  Gedächtniss  der 
Hysterischen  keine  auffallenderen  Störungen  darzubieten.  Allerdings 
begegnet  uns  nicht  selten  eine  besonders  starke  Empfänglichkeit  Die 

*)  Möbius,  Schmidts  Jahrbücher  199,  2,  S.  185  (Literatur);  Neurologische 
Beiträge  I;  Pitres,  lejons  cliniques  sur  l’hysterie  et  l’hypnotisme.  1891;  Gilles 
de  la  Tourette,  traite  clinique  et  thörapeutique  de  l'hysterie.  lS91;Janet,  Der 
Geisteszustand  der  Hysterischen  (die  psychischen  Stigmata).  1894;  Soll ier,  genese 
et  nature  de  l’hystörie.  1897;  Ziehen,  Eulenburgs  Realencyclopaedie, 
3.  Auflage. 


Hysterisches  Irresein. 


493 


Kranken  fassen  vortrefflich  auf,  beobachten  gut,  haben  ein  scharfes 
Auge  für  Kleinigkeiten,  namentlich  auch  für  die  Schwächen  ihrer 
Umgebung.  Einzelne  Kranke  zeigen  geradezu  hervorragende  Be- 
gabung, wenigstens  nach  gewissen,  namentlich  künstlerischen  Rich- 
tungen hin;  in  anderen  Fällen  freilich  bestehtim  Gegentheil  geistige 
Dürftigkeit  und  Gedankenarmuth.  Yielfach  überrascht  im  ersten 
Augenblicke  eine  grosse  geistige  Lebendigkeit  und  Regsamkeit.  Bei 
näherer  Bekanntschaft  pflegt  sich  aber  herauszustellen,  dass  sich  mit 
derselben  Ablenkbarkeit,  Oberflächlichkeit  des  Urtheils  und  Leicht- 
gläubigkeit verbindet.  Die  Kranken  sind  unbeständig  in  ihrem 
Interesse,  gehen  nirgends  in  die  Tiefe,  urtheilen  wesentlich  nach 
Aeusserlichkeiten,  ersten  Eindrücken,  zufälligen  Nebenumständen. 
Alles  Neue  hat  für  sie  einen  besonderen  Reiz;  sie  geben  sich  ihm 
um  so  lieber  und  um  so  urtheilsloser  hin,  je  mehr  es  mit  dem  All- 
täglichen und  Gewohnten  im  Widerspruche  steht.  Ungewöhnliche, 
äusserlich  wirkungsvolle  Persönlichkeiten  und  Begebenheiten  pflegen 
daher  auf  sie  einen  grossen  Eindruck  zu  machen.  Wegen  dieser 
ihrer  blinden  Empfänglichkeit  sind  Hysterische  zu  allen  Zeiten  die 
ersten  Gläubigen  und  begeistertsten  Vorkämpfer  für  Wunder- 
geschichten der  verschiedensten  Art  gewesen,  namentlich  auch  auf 
religiösem  Gebiete.  Nur  allzu  häufig  entspringt  ferner  aus  diesen 
Eigenthümlichkeiten  eine  starke  Neugier,  die  Neigung,  sich  um  fremde 
Angelegenheiten  zu  bekümmern,  die  Freude  am  Klatsch,  am  Skandal, 
an  öffentlichen  Schaustellungen,  aufregender  Lectüre  und  nerven- 
kitzelnden  Genüssen  aller  Art. 

Die  Erinnerung  ist  bei  unseren  Kranken  im  allgemeinen  treu, 
aber  nicht  selten  ungemein  einseitig.  Wahrnehmung  und  Deutung 
werden  nicht  immer  scharf  auseinandergehalten.  In  einzelnen  Fällen 
begegnet  uns  geradezu  ein  ausgeprägter  Hang  zu  freier  Aus- 
schmückung der  Vergangenheit,  ja  zur  Vermischung  der  Erinne- 
rungen mit  vollkommen  erfundenen  Zügen.  Bisweilen  handelt  es 
sich  hier  ohne  Zweifel  um  bewusste  Schwindeleien,  die  aus  dem 
Wunsche  entspringen,  Aufsehen  und  Theilnahme  zu  erregen.  Ich 
kannte  mehrere  Hysterische,  die  es  in  verblüffender  Weise  ver- 
standen, den  Hörer  ohne  das  geringste  Besinnen  mit  den  abenteuer- 
lichsten Erfindungen  über  ihre  Vergangenheit  zu  überschütten  und 
jedem  Einwande  mit  der  grössten  Seelenruhe  durch  immer  kühnere 
Ausflüchte  zu  begegnen.  Diesen  Kranken  gewährte  das  Schwindeln 


494 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


offenkundig  einen  hohen  Genuss,  und  sie  wurden  dadurch  mit  einer 
gewissen  Nothwendigkeit  in  die  Laufbahn  unternehmungslustiger, 
wenn  auch  im  ganzen  harmloser  Hochstapler  hineingedrängt,  zu  der 
sie  durch  ihre  rasche  Auffassung  und  ihre  Verstellungskunst  in 
hervorragendem  Maasse  befähigt  waren.  Bei  den  kleineren  Ab- 
weichungen von  der  Wahrheit,  wie  sie  uns  auch  in  den  landläufigen 
Fällen  von  Hysterie  häufig  genug  begegnen,  lässt  es  sich  mitunter 
kaum  entscheiden,  wie  weit  sie  absichtlicher  Täuschung,  wie  weit  sie 
der  Beeinflussung  der  Erinnerung  durch  eine  gesteigerte  Lebendig- 
keit der  Einbildungskraft  ihre  Entstehung  verdanken.  Pick  hat 
auf  die  Rolle  hingewiesen,  die  gerade  bei  Hysterischen  der  Neigung 
zu  träumerischer  Ausmalung  unwirklicher  Situationen  zukommen 
kann.  Einzelne  Kranke  können  sich  derart  in  ihre  Einbildungen 
hineinleben,  dass  sie  dadurch  in  ihrem  Denken  und  Handeln  voll- 
kommen beeinflusst  werden,  obgleich  es  sich  nicht  um  eigentliche 
Wahnvorstellungen,  sondern  nur  um  Gedankenspielereien  handelt, 
die  mit  Liebe  und  Leidenschaftlichkeit  ausgesponnen  werden. 

Beim  Zustandekommen  aller  dieser  Störungen  sind  vor  allem 
die  Schwankungen  der  Stimmung  massgebend.  Sie  sind  es,  welche 
in  hohem  Grade  das  gesammte  Seelenleben  der  Kranken  bestimmen. 
Ihr  Einfluss  ist  weit  stärker,  als  derjenige  der  vernünftigen  Ueber- 
legung  oder  der  sittlichen  Grundsätze.  Die  Kranken  sind  ungemein 
erregbar;  ihnen  fehlt  die  Dämpfung,  die  beim  gesunden  Menschen 
allmählich  die  raschen  und  starken  Gefühlsschwankungen  der  Kinder- 
jahre abschwächt.  Ihnen  ist  nichts  gleichgültig;  sie  sehen  sich  ver- 
anlasst, zu  allen  Ereignissen  in  ihrer  Umgebung  persönlich  Stellung 
zu  nehmen.  Daher  ihre  ausserordentliche  Empfindlichkeit,  die 
Heftigkeit  der  Gefühlsausbrüche  bei  den  geringfügigsten  Anlässen, 
daher  ihre  Neigung,  sich  überall  getroffen  zu  fühlen,  alle  sach- 
lichen Beziehungen  und  Ueberlegungen  sofort  mit  persönlichen 
Zuthaten  zu  durchsetzen.  In  einzelnen  Fällen,  aber  keineswegs 
besonders  häufig,  findet  sich  eine  erhöhte  geschlechtliche  Er- 
regbarkeit, welche  die  Kranken  zu  Ausschweifungen  verführt;  nicht 
so  selten  aber  besteht  im  Gegentheil  völlige  geschlechtliche  Un- 
empfindlichkeit. 

Die  natürliche  Folge  der  allzu  lebhaften  Gefühlsbetonung  ist 
ein  häufiger,  unvermittelter  Wechsel  der  Stimmung.  Die  Kranken 
sind  unberechenbar,  wetterwendisch,  launenhaft;  aus  plötzlicher  Aus- 


Hysterisches  Irresein. 


495 


gelassenheit  verfallen  sie  binnen  kürzester  Frist  und  bei  gering- 
fügigstem Anlasse  oder  auch  ganz  ohne  denselben  in  zornige,  ent- 
rüstete, in  bittere,  weltschmerzliche  oder  in  schwärmerisch  empfind- 
same Gefühlsregungen.  Diese  Maasslosigkeit  und  Sprunghaftigkeit 
der  Stimmungsäusserungen  zeigt  deutlich,  dass  die  Kranken  nicht 
jener  tiefen  Ergriffenheit  fähig  sind,  welche  trotz  geringer  äusserer 
Zeichen  das  gesammte  Fühlen  dauernder  und  mächtiger  beherrscht, 
als  die  Stürme  einer  stets  schwankenden,  unausgeglichenen  Gemüths- 
verfassung. 

Vielleicht  ist  es  auf  die  Steigerung  der  gemtithlichen  Erregbar- 
keit zurückzuführen,  dass  die  eigene  Person  für  den  Kranken  be- 
sondere Bedeutung  gewinnt.  Je  mehr  die  ruhige  Betrachtung  der 
Dinge  durch  die  fortwährend  sich  vordrängenden  Gefühlsbetonungen 
gefärbt  wird,  desto  stärker  wird  unwillkürlich  die  Aufmerksamkeit 
durch  diese  Regungen  des  eigenen  Innern  in  Anspruch  genommen. 
Sehr  gewöhnüch  kommen  daher  die  Kranken  dazu,  sich  mit  einer 
gewissen  Liebe  in  ihre  eigenen  Zustände  zu  vertiefen,  über  dieselben 
. nachzudenken,  sich  mit  sich  selbst  zu  beschäftigen.  An  diesem 
Punkte  liegt  die  Wurzel  der  bei  unseren  Kranken  so  überaus 
häufigen  hypochondrischen  Beschwerden.  Jedes  Unbehagen 
wird  von  den  überempfindlichen  Kranken  in  vergrössertem  Massstabe 
wahrgenommen  und  erregt  die  peinlichsten  Gefühle.  Weiterhin  aber 
haben  unangenehme  Gemüthsbewegungen  hier  in  noch  erheblich 
höherem  Grade,  als  schon  bei  Gesunden,  die  Neigung,  nach  den 
verschiedensten  Richtungen  hin  Störungen  des  körperlichen  Wohl- 
befindens zu  erzeugen.  Die  Leichtigkeit,  mit  welcher  sich  diese 
Beeinflussung  vollzieht,  die  Mannigfaltigkeit  der  Wege,  die  ihr  zu 
Gebote  stehen,  ist  ein  besonderes  Kennzeichen  der  hysterischen  Ver- 
anlagung; sie  erinnert  durchaus  an  die  erstaunliche  Zugänglichkeit, 
welche  die  verschiedensten  Verrichtungen  des  Körpers  im  hypnoti- 
schen Zustande  gegenüber  den  durch  Einreden  erzeugten  Vor- 
stellungen und  Gefühlen  darbieten. 

Vielfach  sind  es  wirkliche,  aber  durch  die  lebendige  Einbildungs- 
kraft der  Kranken  bis  ins  Ungeheuerliche  vergrösserte  Beschwerden, 
an  welche  sich  die  hypochondrischen  Vorstellungen  anknüpfen. 
Schmerz  und  Unbehagen,  die  durch  irgend  ein  Leiden  erzeugt 
wurden,  verlieren  sich  oft  nicht  mit  der  Ursache,  sondern  über- 
dauern dieselbe,  werden  gewissermassen  selbständig  und  nehmen 


496 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


vielleicht  sogar  allmählich  immer  grössere  Ausdehnung  an.  Das 
Gefühl  einer  allgemeinen  Schwäche  in  Folge  von  Blutarmuth,  Ver- 
dauungsbeschwerden, Kopfschmerzen  verschiedener  Art,  unangenehme 
Empfindungen  längs  des  Rückens,  in  den  Beinen,  im  Unterleibe, 
am  Herzen  bieten  der  empfänglichen  Selbstbetrachtung  die  Anhalts- 
punkte für  den  Aufbau  eines  äusserst  merkwürdigen  und  quälenden 
Leidens,  dessen  Einzelheiten  in  feinster  Ausmalung  und  wirkungs- 
vollen Uebertreib ungen  bei  jeder  Gelegenheit  in  den  Vordergrund 
geschoben  werden. 

Ein  solches  Leiden  wird  nicht  selten  zum  Mittelpunkte  der  ge- 
summten Interessen  der  Kranken.  Es  giebt  ihnen  eine  Art  Aus- 
nahmestellung gegenüber  allen  anderen  Menschen  und  wird  vielleicht 
gar  mit  einem  gewissen  heimlichen  Stolze  erduldet.  Ja,  es  kann 
dahin  kommen,  dass  die  Krankheit  trotz  der  mit  ihr  verbundenen 
Beschränkungen  zu  einer  Quelle  der  Unterhaltung,  zum  eigentlichen 
Lebensberufe  wird,  dem  der  Kranke  nur  mit  entschiedenem,  wenn 
auch  geheimem,  nicht  klar  bewusstem  Widerstreben  entsagen  würde. 
Man  möchte  fast  meinen,  dass  er  in  ihr  eine  Art  Ersatz  für  wirk- 
lich fruchtbringende  Lebensarbeit  findet,  die  ihm  durch  die  Unzu- 
länglichkeit seiner  Anlage  verkümmert  wird.  Wir  machen  dann 
die  merkwürdige  Beobachtung,  dass  die  Kranken  trotz  ihrer  beweg- 
lichen Klagen  doch  gänzlich  unfähig  erscheinen,  ernsthaft  und  ziel- 
bewusst an  ihrer  Wiederherstellung  zu  arbeiten.  Sobald  von  ihrer 
Ausdauer  und  Beharrlichkeit  die  gewissenhafte  Durchführung  eines 
langwierigen  Curplans  gefordert  wird,  pflegen  sie  ungemein  rasch 
zu  versagen.  Ihnen  fehlt  mehr  oder  weniger  vollständig  das  Ge- 
fühl der  eigenen  Verantwortlichkeit  für  ihre  Gesundheit,  die  natür- 
liche, brennende  Sehnsucht  nach  Genesung.  Der  Arzt  hat  dafür 
zu  sorgen,  dass  sie  sich  wohl  fühlen;  ihn  klagen  sie  an  bei  jeder 
Störung.  Nicht  für  sich,  sondern  ihm  zu  Gefallen  unterziehen  sie 
sich  der  Behandlung,  die  ihnen  daher  keine  Unbequemlichkeiten  zu- 
muthen  darf.  Nur  wo  es  ganz  absonderliche,  neu  erfundene  Me- 
thoden oder  grosse  Operationen  gilt,  sind  sie  gern  bereit,  erstaun- 
liche Dinge  zu  ertragen. 

Andererseits  sind  sie  oft  gar  nicht  geneigt,  auf  den  Lebensge- 
nuss zu  verzichten,  so  sehr  ihnen  auch  ihr  Leiden  den  Geschmack 
daran  verbittern  sollte.  Es  kommt  vor,  dass  die  ganz  gelähmten 
Kranken  sich  nicht  davon  abhalten  lassen,  weite  Reisen  zu  machen, 


Hysterisches  Irresein. 


497 


Gesellschaften  zu  geben,  Museen  zu  besuchen.  Ich  selbst  sab  eine 
Deutsche  Dame  mit  gelähmten  Beinen,  von  zwei  Männern  ge- 
tragen, oben  auf  der  Akropolis.  Das  vermag  nur  die  Hysterie  zu 
leisten. 

In  manchen  Fällen  sind  es  namentlich  psychische  Leiden,  welche 
die  Kranken  an  den  Rand  der  Verzweiflung  bringen.  Entsetzliche 
Gedanken,  Angstzustände,  die  Erinnerung  an  die  unerhörten  Schick- 
sale ihres  Lebens,  furchtbare  Seelenpein,  nächtliche  Träume  von 
grauenhafter  Ausführlichkeit  und  Schrecklichkeit,  selbst  angebliche 
Sinnestäuschungen  (ein  schwarzer  Mann  mit  einem  langen  Messer, 
die  Mutter  im  Leichengewande,  geschlechtliche  Angriffe),  alles  in 
theatralischem  und  selbstgefälligem  Aufputze,  pressen  den  Kranken 
bei  jeder  passenden  Gelegenheit  ganze  Sturzbäche  von  Thränen  aus 
den  Augen,  während  sie  gleichzeitig  einen  sehr  ausgeprägten,  wenn 
auch  bemäntelten  Sinn  für  die  Freuden  des  Lebens  besitzen,  bei 
keiner  Anstaltsfeierlichkeit  fehlen  und  überall  ihren  übermensch- 
lichen Schmerz  mit  heldenhafter  Ergebung  zur  Schau  tragen. 
Häufig  wird  hier  der  Wunsch  geäussert,  zu  sterben,  sich  das  Leben 
zu  nehmen;  auch  einige  einleitende  Schritte  werden  vielleicht 
gethan,  ein  Band  um  den  Hals  geschnürt,  eine  Nadel  verschluckt, 
eine  verdächtige  Flüssigkeit  getrunken;  in  der  Regel  hat  es  keine 
grosse  Gefahr  damit. 

Die  vielfachen  hypochondrischen  Beschwerden  pflegen  die  hyste- 
rischen Kranken  schon  früh  den  Aerzten  zuzuführen.  Oefters  be- 
steht ein  ausgeprägtes  Arztbediirfniss.  Der  Arzt  soll  sich  ihnen  be- 
sonders widmen,  auf  ihre  Klagen  und  W ünsche  ausführlich  eingehen, 
jeden  Augenblick  zu  ihrer  Verfügung  stehen.  Sie  lieben  es  daher, 
ihn  auch  in  der  Zwischenzeit  immer  über  ihre  Zustände  zu  unter- 
richten, ihn  mit  Briefen  zu  überschütten,  seine  Hülfe  bei  den  ge- 
ringfügigsten Anlässen  Tags  oder  Nachts  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Auf  diese  Weise  kann  sich  eine  geradezu  hülflose  Abhängigkeit 
von  einem  bestimmten  Arzte  herausbilden,  ohne  den  die  Kranken 
nicht  leben  zu  können  glauben.  Meistens  jedoch  wechseln  diese 
Beziehungen  häufiger.  Die  anspruchsvollen  Kranken  fühlen  sich 
nicht  genügend  berücksichtigt,  in  ihren  hochgespannten  Erwartungen 
getäuscht;  überdies  sehnen  sie  sich  nach  Veränderung.  So  kommt 
es,  dass  sie  bisweilen  von  einem  Arzte  zum  andern  wandern,  zahl- 
lose Berühmtheiten  und.  Specialisten  um  Rath  fragen,  aber  nirgends 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Anfl.  II.  Band.  32 


498 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


aushalten,  die  eingeholten  Rathschläge  gar  nicht  oder  nach  Gut- 
dünken befolgen.  Man  sieht  solche  Kranke,'  die  alle  nur  erdenk- 
lichen Heilverfahren  schon  an  sich  erprobt  haben  und  mit  Be- 
geisterung jedes  neue  Arzneimittel  schlucken,  freilich  nur,  um  nach 
kurzer  Zeit  wieder  zu  dem  allerneuesten  überzugehen.  „Sie  kann 
in  vielen  Stücken  ihr  Arzt  selbst  sein,“  schrieb  mir  der  Mann  einer 
solchen  Kranken.  Schliesslich  fallen  sie  dann  oft  genug  Cur- 
pfuschem  in  die  Hände,  die  ihren  Neigungen  entgegenkommen, 
ihren  Drang  nach  wunderbaren  Curen  befriedigen  und  dadurch  er- 
staunliche, wenn  auch  leider  nur  vorübergehende  Erfolge  erzielen. 
Meine  Voraussage,  dass  die  Röntgen  strahlen  hier  alsbald  die  merk- 
würdigsten Heilungen  herbeiführen  würden,  hat  sich  mit  grösster 
Pünktlichkeit  erfüllt. 

Eine  sehr  gewöhnliche  Erscheinung  bei  Hysterischen  ist  ferner 
das  erhöhte  Selbstgefühl.  Da  die  eigene  Person  und  deren  Zu- 
stände für  den  Kranken  eine  ganz  ungebührliche  Wichtigkeit  ge- 
winnen, so  tritt  die  Rücksicht  auf  Andere  und  allgemeine  Interessen 
in  den  Hintergrund.  Jede  kleine  Beeinträchtigung  seines  eigenen 
Behagens  empfindet  er  mit  krankhafter  Lebhaftigkeit,  während  ihm 
die  schwersten  Opfer  von  anderer  Seite  fast  selbstverständlich  er- 
scheinen. Er  wird  daher  ungerecht,  unzufrieden,  anspruchsvoll,  fordert 
Beachtung  und  Auszeichnung  von  seiner  Umgebung,  ist  sehr  ge- 
kränkt durch  vermeintliche  Zurücksetzungen  und  Vernachlässigungen. 
Daraus  entwickeln  sich  ungemein  leicht  Eifersüchteleien  mit  nach- 
folgenden Gefühlsausbrüchen,  langen  Aussprachen,  endlosen  Aus- 
einandersetzungen, Versöhnungsscenen,  alles  aus  lächerlich  unbe- 
deutendem Anlasse. 

Aus  dem  erhöhten  Selbstgefühl  und  der  Unbeständigkeit  der 
Stimmung  geht  die  Begehrlichkeit  so  vieler  Hysterischen  hervor.  Sie 
sind  immer  unbefriedigt,  des  Augenblickes  überdrüssig,  verlangen 
nach  Neuem,  noch  nicht  Dagewesenem,  besonders  nach  Vergünsti- 
gungen, die  sie  vor  Anderen  auszeichnen.  Immer  andere  Wünsche 
tauchen  auf;  Veränderungen  in  der  Ausstaff irung  des  Zimmers,  in 
der  Kleidung,  der  Nahrung  werden  vorgenommen,  der  Verkehr 
gewechselt,  und  in  zahllosen  Briefen  und  Kärtchen  ergiesst  sich 
ein  Strom  von  Aufträgen,  Bitten,  Forderungen,  Beschwörungen 
und  Klagen.  Es  ist  oft  erstaunlich,  mit  welchem  Geschicke 
Hysterische  es  verstehen,  nach  den  verschiedensten  Richtungen 


Hysterisches  Irresein. 


499 


hin  Beziehungen  anzuknüpfen,  kleine  und  grosse  Yortheile  zu  er- 
langen, sich  zum  wohlbeachteten  Mittelpunkte  ihrer  Umgebung 
zu  machen.  Selbst  unbegabte,  ja  geradezu  schwachsinnige  Kranke 
können  diese  Fähigkeit  in  hohem  Grade  besitzen.  In  den  Familien 
pflegen  daher  Hysterische  regelmässig  die  Herrschaft  zu  führen 
und  ihre  nächsten  Angehörigen  in  der  unglaublichsten  "Weise  zu 
tyrannisiren. 

Dabei  ist  meist  das  Bestreben  erkennbar,  interessant  zu  er- 
scheinen, sich  in  ein  besonderes  Licht  zu  stellen,  von  sich  reden  zu 
machen.  Ueberall  tritt  ihre  eigene  Persönlichkeit  in  den  Vorder- 
grund. Ihre  Gefühle,  Schmerzen,  Wünsche  spielen  eine  wichtige 
Rolle;  ihre  Mittheilungen  sind  vertrauliche  Herzensergüsse  oder 
unbestimmte  Redensarten  voll  gegenstandsloser  Geheimthuerei.  In 
den  Briefen  wird  die  Einförmigkeit  der  Klagen  durch  schillernde 
Selbstverlachung  schmackhaft  gemacht.  Eine  meiner  Kranken 
nannte  sich  Dulderin  Schmerzensreich,  die  grosse  Närrin,  das 
Studienobject. 

Dem  entspricht  es,  wenn  wir  bei  anderen  Kranken  an  Stelle 
der  krankhaften  Selbstsucht  vielmehr  eine  Neigung  zu  absichtlicher, 
geflissentlicher  Hintansetzung  der  natürlichen  selbstsüchtigen  Nei- 
gungen treten  sehen,  allerdings  mit  dem  stillen  Ansprüche  auf  be- 
sondere Anerkennung  der  weitgehendsten,  ja  geradezu  thörichtsten 
Aufopferung.  Viele  hysterische  Kranke  berauschen  sich  an  dem 
Gedanken,  alles  für  die  Armen  zu  gehen,  in  selbstgewählter  Er- 
niedrigung den  Kranken  und  Elenden  zu  dienen.  Sie  möchten  etwas 
Grosses  leisten,  eine  Thätigkeit  haben,  der  Menschheit  nützen.  Frei- 
lich bleibt  es  in  der  Regel  bei  solchen  grossen  Gedanken  oder 
einigen  unzweckmässigen  einleitenden  Schritten.  Dennoch  unterliegt 
es  keinem  Zweifel,  dass  die  schwärmerische  Entsagung  des  Kloster- 
lebens, der  Beruf  der  Krankenpflege  von  jeher  eine  grosse  Zahl 
hysterisch  veranlagter  Personen  besonders  angezogen  haben. 

Auf  dem  Gebiete  des  Willens  macht  sich  vor  allem  die  er- 
höhte Beeinflussbarkeit  bemerkbar.  Die  Kranken  sind  leicht  be- 
stimmbar, allen  möglichen  Einwirkungen  zugänglich,  rasch  begeistert, 
ebenso  rasch  aber  auch  wieder  abgelenkt.  Namentlich  das  Beispiel 
hat  für  die  Handlungen  der  Kranken  eine  sehr  grosse  Bedeutung. 
Mit  dieser  ausserordentlichen  Bestimmbarkeit  durch  die  verschieden- 
artigsten und  unbedeutendsten  Anlässe  steht  in  scheinbarem  Wider- 

32* 


500 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Spruche  die  häufig  sehr  stark  hervortretende  launenhafte  Eigen  - 
Willigkeit.  Wenn  sie  sich  etwas  „in  den  Kopf  gesetzt41  haben,  so 
kann  es  ausserordentlich  schwer  werden,  ihren  Widerstand  zu  über- 
winden; sie  sind  dann  widerspenstig,  hartnäckig,  zähe  und  unlenksam. 
Man  sieht  solche  Kranke  bisweilen  ohne  erkennbaren  Beweggrund 
sich  lange  Zeit  hindurch  den  peinlichsten  Selbstquälereien  unter- 
ziehen, sich  heimlich  verletzen,  die  Nahrung  verweigern,  auf  das 
Sprechen  verzichten.  Mehrfach  sind  mir  junge  Mädchen  vorge- 
kommen, die  mit  unglaublich  geringen  Nahrungsmengen  Jahr  und 
Tag  an  der  Grenze  des  Verhungerns  geblieben  und  zum  Skelett  ab- 
gemagert waren,  während  der  Versuch  ergab,  dass  sie  körperlich 
nicht  im  geringsten  am  ausreichenden  Essen  verhindert  waren.  In 
Wirklichkeit  entspringt  dieses  widerspruchsvolle  Verhalten  aus  der 
Bestimmbarkeit  des  Willens  durch  zufällige  Einflüsse,  seien  die- 
selben äussere  Eindrücke  oder  eigene  Einfälle.  Aus  der  gleichen 
Grundstörung  erwächst  auch  die  Neigung  der  Hysterischen  zu  un- 
überlegten, triebartigen  Handlungen.  Es  ist  nicht  die  verstandes- 
mässige  Verarbeitung  der  Lebenserfahrungen,  welche  das  Handeln 
bestimmt,  sondern  eine  plötzliche  Gefühlswallung,  ein  unvermittelter 
Antrieb,  ein  beliebiger  Anstoss.  So  kommt  es,  dass  die  gesammte 
Lebensführung  der  Kranken  eine  eigenthümlich  ungeregelte,  sprung- 
hafte wird.  Die  Entschlüsse  wechseln  rasch,  ohne  hinreichende  Be- 
gründung; es  entsteht  ein  wirres  Durcheinander  von  einzelnen, 
sich  kreuzenden  Anläufen,  verfehlten  Unternehmungen,  unüberlegten 
Streichen. 

Aus  diesem  Mangel  an  Einheitlichkeit  und  innerer  Festigkeit 
entwickelt  sich  eine  gewisse  Unruhe  und  Unstetigkeit,  die  oft 
in  bemerkenswerthem  Gegensätze  zu  der  stark  betonten  Kränklich- 
keit und  Hülfsbedürftigkeit  der  Kranken  steht.  Sie  haben  den 
Drang,  etwas  zu  unternehmen,  eine  Rolle  zu  spielen,  sich  her- 
vorzuthun,  alles  mitzumachen,  treiben  allerlei  Unfug,  gehen  auf 
Abenteuer  aus.  Auch  in  ihrem  Benehmen  macht  sich,  der  Maugel 
an  innerer  Einheitlichkeit  und  Festigkeit  geltend.  Die  Kranken 
schwanken  vielfach  unvermittelt  zwischen  herausfordernder  Unge- 
bundenheit, sprudelnder  Lebhaftigkeit,  gesuchter  Derbheit  einerseits, 
gezierter  Unnahbarkeit,  Verschämtheit  oder  leidseliger  Empfindsamkeit 
andererseits.  Vielfach  führt  sie  die  Gewohnheit  sehr  lebhafter  Ge- 
fühlsäusserungen zu  einer  mehr  oder  weniger  unwillkürlichen  Ueber- 


Hysterisches  Irresein. 


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treibung  der  Ausdrucksbewegungen.  Sie  haben  ihre  Ausdrucks- 
mittel so  verbraucht,  dass  sie  das  Bedürfniss  nach  immer  kräftigeren 
Kundgebungen  fühlen,  um  die  Stärke  der  inneren  Erregung  wieder- 
zugeben. Darum  pflegt  der  Leidenschaftlichkeit  ihres  äusseren  Gfe- 
bahrens  meist  auch  nicht  im  entfernteste^  die  wirkliche  Stärke  der 
Gemiithsbewegung  zu  entsprechen,  die  überraschend  schnell  durch 
eine  andere,  entgegengesetzte  Gefühlsschwankung  abgelöst  werden 
kann.  Auf  diese  Weise  entwickelt  sich  bei  den  Kranken  öfters  eine 
gewohnheitsmässige  Neigung  zum  Missbrauche  starker  Ausdrücke  für 
ihre  Gefühle,  zu  einer  Art  unwahrer  Ueberschwänglichkeit.  Das 
eigene  Leid  wird  als  entsetzlich,  unsäglich,  grenzenlos  geschildert; 
die  Kranken  bezeichnen  sich  als  Ausgestossene,  Verfluchte,  fallen 
bei  der  Erinnerung  an  die  ausgestandenen  Seelenqualen  in  Ohn- 
macht oder  gebrauchen  wenigstens  fleissig  das  Taschentuch.  Zugleich 
aber  ist,  im  Gegensätze  zu  wirklich  schweren  Gemüthserschütterungen, 
die  Freude  an  niederen  Genüssen  recht  gut  erhalten.  Eine  Kranke 
schloss  einen  Brief  voll  der  schauerlichsten  Selbstverwünschungen 
mit  der  Bitte  um  Zusendung  einiger  Makronen.  Auf  ihr  Aeusseres 
pflegen  die  Kranken  in  der  Regel  etwas  zu  halten.  Sie  putzen  sich 
möglichst  vortheilhaft  heraus,  bald  glänzend,  auffallend,  bald  mit  be- 
rechneter Einfachheit,  haben  Sinn  für  Zierlichkeit  und  Behaglichkeit, 
* sammeln  allerlei  niedliche  Sachen  um  sich,  die  sie  malerisch  aufzu- 
bauen lieben.  Ihre  eigentliche  Arbeitsfähigkeit  pflegt  unter  ihrer 
Abhängigkeit  von  Stimmungen  und  Einfällen  empfindlich  zu  leiden; 
die  Kranken  haben  keine  Neigung  zu  ernster,  anstrengender  Be- 
schäftigung, keine  Ausdauer,  fühlen  sich  leicht  angegriffen,  zu 
schwach,  müssen  sich  schonen.  Trotzdem  sie  oft  viel  Geschmack 
und  Geschick  zeigen,  vertändeln  sie  doch  ihre  Zeit  mit  allerlei 
Nichtigkeiten  und  Spielereien,  zierlichen  Handarbeiten,  künstlerischem 
Dilettantismus. 

Das  hier  in  grossen  Zügen  gezeichnete  Bild  der  hysterischen 
Persönlichkeit  ist  natürlich  nur  die  Zusammenfassung  einer  Reihe 
von  ganz  bestimmten  Erfahrungen.  Jeder  einzelne  Fall  kann  wieder 
seine  Besonderheiten  und  wird  vor  allem  eine  gradweise  sehr  ver- 
schiedene Ausbildung  der  aufgezählten  Eigenthiimlichkeiten  dar- 
bieten. Es  ist  sogar  von  angesehenen  Forschern  die  Ansicht  ver- 
treten worden,  dass  die  hier  geschilderte  psychische  Veränderung  an 
sich  gar  nichts  mit  der  Hysterie  zu  thun  habe,  sondern  dem  Bilde 


502 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


des  Entartungsirreseins  angehöre,  das  sich  mit  der  Hysterie  ver- 
binden könne,  aber  nicht  verbinden  müsse.  Dass  sich  in  der  hyste- 
rischen Veränderung  des  gesammten  Seelenlebens  die  Zugehörigkeit 
y.nin  Entartungsirresein  im  weiteren  Sinne  ausdrückt,  ist  unzweifel- 
haft. Gerade  weil  die  Hysterie  auf  einer  krankhaften  Veranlagung 
und  Entwicklung  der  Persönlichkeit  beruht,  scheinen  mir  die  Eigen- 
tümlichkeiten des  psychischen  Verhaltens,  die  wenigstens  uns  Irren- 
ärzten unendlich  oft  in  schärfster  Ausprägung  begegnen,  untrennbar 
zu  dem  ganzen  Krankheitsbilde  zu  gehören.  Eine  Abgrenzung  der 
„Entartung“  von  der  „Hysterie“  ist  nur  dann  möglich,  wenn 
man  das  Leiden  rein  vom  neurologischen  Standpunkte  aus  be- 
trachtet. Das  ist  aber  gerade  hier  ein  schwerer  Fehler.  Auch  in 
ganz  leichten  Fällen,  bei  denen  zunächst  nur  die  „neurologischen" 
Zeichen  ins  Auge  fallen,  wird  man  bei  genauerer  Betrachtung 
schwerlich  die  Andeutungen  der  oben  geschilderten  allgemeinen 
psychischen  Veränderung  vermissen.  Dass  diese  nicht  überall  ihre 
ausgesprochensten  Formen  erreicht,  ist  ebenso  begreiflich  wie  die 
Thatsache,  dass  auch  die  so  ungemein  kennzeichnende  epileptische 
Umwandlung  der  Persönlichkeit  in  leichten  Fällen  fast  vollständig 
fehlen  kann. 

Von  grosser  Bedeutung  für  das  Krankheitsbild  des  hysterischen 
Irreseins  sind  natürlich  auch  jene  körperlichen  Functions- 
störungen, die  wir  als  die  Kennzeichen  der  allgemeinen  Neurose 
zu  betrachten  pflegen  („Stigmata“).  Namentlich  sind  es  Lähmungen 
einzelner  Glieder  verschiedenen  Grades,  Gehstörungen  (Astasie- 
Abasie),  Chorea,  Ovarie,  unüberwindliche  Appetitlosigkeit,  hartnäckiges 
Erbrechen,  Athmungsstörungen,  Secretionsanomalien,  Stimmlosigkeit, 
Verlust  der  Sprache,  Sehstörungen,  mannigfaltige  Empfindungs- 
störungen, Globus,  Clavus,  Singultus,  Ohnmachtsanfälle,  örtliche  oder 
allgemeine  Krämpfe,  Contracturen,  welche  das  Krankheitsbild  in 
mannigfaltigster  Weise  begleiten.  Besonders  häufig  sind  auch 
schwere  Beeinträchtigungen  des  Schlafes.  Allen  diesen  Störungen, 
deren  Schilderung  im  einzelnen  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein 
kann,  ist  der  Umstand  gemeinsam,  dass  sie  einerseits  in  ihrer  Ge- 
staltung nicht  den  Regeln  der  anatomischen  imd  physiologischen 
Zusammenhänge  folgen,  und  dass  sie  in  ihrem  Auftreten  und  Ver- 
schwinden auf  sehr  bemerkenswerthe  Weise  von  psychischen  Ein- 
flüssen abhängig  sind.  So  schliessen  sich  Kopfschmerzen,  Krampf- 


Hysterisches  Irresein. 


503 


anfälle  an  einen  Aerger,  an  die  klinische  Demonstration,  an  starkes 
Reiben  der  Augäpfel,  ja  an  irgend  einen  beliebigen  Eingriff  an,  der 
die  Kranken  beunruhigt.  Eine  meiner  Kranken  fühlte  eine  kalte 
Stelle  an  ihrem  Rücken  dort,  wo  sie  von  einem  Schutzmanne  gefasst 
worden  war;  dieselbe  erwies  sich  unempfindlich. 

Andererseits  weichen  die  Erscheinungen  nicht  selten  dem  Drucke 
auf  das  hyperaesthetische  Hypogastrium,  der  kräftigen  Anwendung 
des  faradischen  Pinsels  oder  einer  kalten  Uebergiessung.  Eine 
heftige  Aufregung,  ein  kräftiger  Befehl  vermag  die  schwersten 
Lähmungssymptome  plötzlich  zum  Schwinden  zu  bringen;  das  Er- 
brechen wird  durch  Magenausspülungen,  die  Beibringung  von  Nähr- 
klystiren,  durch  die  Aussicht  auf  eine  Vergünstigung  beseitigt. 
Kranke,  die  monate-  und  jahrelang  erbrochen,  fast  nichts  gegessen, 
hülflos  im  Bett  gelegen,  sich  heimlich  immer  wieder  Verletzungen 
zugefügt  haben,  können  durch  ein  einziges  Wort,  einen  plötzlichen 
Einfall  in  ihrem  ganzen  Verhalten  vollständig  umgewandelt  werden. 
Ereilich  muss  bei  dem  geschilderten  Zustande  der  Kranken  allen 
solchen  Wirkungen  naturgemäss  die  Nachhaltigkeit  fehlen;  der 
nächste  Augenblick  schon  kann  Eindrücke  bringen,  welche  die 
Wiederkehr  der  alten  oder  das  Auftreten  neuer,  auch  ihrerseits 
bald  wieder  von  andern  abgelöster  Störungen  herbeiführen.  Dem 
entspricht  durchaus  die  weitere  Erfahrung,  dass  die  Kranken,  wenn 
sie  imbefangen  sind  und  sich  unbeachtet  glauben,  oft  alle  ihre  Be- 
schwerden vergessen  und  in  psychischer  wie  körperlicher  Beziehung 
(Essen,  Gehen)  eine  bedeutende  Leistungsfähigkeit  an  den  Tag  legen, 
die  sofort  der  alten,  Mitleid  heischenden  Hinfälligkeit  Platz  macht 
und  von  ihnen  vollständig  verleugnet  wird,  sobald  sie  auf  ihre 
Krankheit  hingewiesen  werden  oder  sich  dem  Arzte  gegenüber 
sehen.  Ich  behandle  eine  Kranke,  die  sich  seit  vielen  Monaten  als 
„blind  und  taub“  bezeichnet,  sich  aber  mit  geschlossenen  Augen 
ohne  die  geringste  Schwierigkeit  zurechtfindet  und  bei  der  klini- 
schen Vorstellung  sofort  grosse  Reden  hält,  während  sie  sonst  auf 
alle  Anreden  stumm  bleibt  und  in  Gegenwart  des  Arztes  auffällig 
herumtastet. 

Man  hat  aus  diesen  und  ähnlichen  Beobachtungen  nicht  selten 
den  in  der  That  oft  verführerischen  Schluss  gezogen,  dass  es  sich 
bei  Hysterischen  überhaupt  nicht  um  Krankheit,  sondern  um  ganz 
gewöhnliche  Verstellung  handele.  Ohne  Zweifel  werden  einzelne 


504 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Krankheitszeichen  (Geschwüre,  Fieber,  Blutspeien  u.  ähnl.)  von 
Hysterischen  willkürlich  und  zweckbewusst  vorgetäuscht,  um  ihnen 
die  Theilnahme  des  Arztes  zu  sichern  und  ihm  eine  möglichst 
schlimme  Vorstellung  von  der  Grösse  ihres  Leidens  beizubringen. 
So  kommt  es  nicht  zu  selten  vor,  dass  sie  vorgeben,  nichts  gegessen 
oder  keinen  Stuhlgang  gehabt  zu  haben,  trotzdem  eine  geschickte 
Beobachtung  ergiebt,  dass  sie  mit  grösster  Schlauheit  (in  der  Nacht, 
mit  Hülfe  anderer  Kranker)  sich  Nahrung  zu  verschaffen  oder  ihre 
Ausleerungen  zu  beseitigen  wissen,  während  sie  mit  .verzweiflungs- 
voller Duldermiene  oder  stillem  Trotze  an  ihrer  Behauptung  fest- 
halten.  Auch  habe  ich  es  erlebt,  dass  eine  solche  Kranke  sich  mit 
einer  Scheere  heimlich,  aber  planmässig  ziemlich  schwere  Ver- 
wundungen in  der  Vagina  beibrachte,  um  Uterusblutungen  vorzu- 
täuschen. Ein  Kranker  behauptete,  eine  von  einer  Lipomausschneidung 
herrührende  Narbe  sei  durch  einen  Bauchschnitt  entstanden,  den 
man  bei  ihm  wegen  eines  Magengeschwürs  vorgenommen  habe. 
Andere  übertreiben  wenigstens  und  suchen  ihre  Beschwerden  in 
recht  grellen  Farben  darzustellen.  Eine  meiner  Kranken  sah  alles 
„doppelt  und  dreifach“.  Man  darf  indessen  nicht  ausser  Acht 
lassen,  dass  uns  die  Neigung  zu  einer  Art  Vortäuschung  einzelner 
Störungen  auch  bei  einer  Reihe  von  anderen  psychischen  Erkrankungen 
gelegentlich  begegnet.  Es  wäre  daher  durchaus  verkehrt,  aus  dem 
Nachweise  einer  absichtlichen  Täuschung  auf  den  Mangel  einer 
psychischen  Erkrankung  überhaupt  schliessen  zu  wollen.  Wenn  auch 
dieses  oder  jenes  von  dem  Kranken  behauptete  Symptom  in  Wirk- 
lichkeit nicht  vorhanden  ist,  so  fällt  doch  eben  die  eigenthiimliche 
Neigung  zur  Täuschung  des  Arztes  und  der  dem  gesunden  Menschen 
ganz  unverständliche  Beweggrund  selber  ohne  Zweifel  in  das  Gebiet 
des  Krankhaften  hinein. 

Auf  der  allgemeinen  hysterischen  Grundlage  entwickeln  sich  sehr 
häufig  eigenartige,  mehr  vorübergehende  psychische  Störungen,  von 
denen  die  bekanntesten  und  wichtigsten  die  Dämmerzustände  sind. 
Man  bezeichnet  mit  diesem  Namen  kürzer  oder  länger  dauernde  Anfälle 
stärkerer  Bewusstseinstrübung,  welche  sich  entweder  für  sich  ein- 
stellen oder  unmittelbar  an  Krampfanfälle  anschliessen,  auch  häufig 
durch  solche  beendet  oder  unterbrochen  werden.  Als  einfachste 
Form  dieser  Dämmerzustände  können  wir  jene  Bewusstseinsstörungen 
betrachten,  welche  regelmässig  den  Krampfanfall  kürzere  oder  längere 


Hysterisches  Irresein. 


505 


Zeit  überdauern.  Die  Kranken  liegen  mit  schlaffen  Gliedern,  in 
denen  nur  gelegentlich  noch  eine  Andeutung  tonischer  Starre  her- 
vortritt, ruhig  athmend  und  mit  meist  verlangsamtem  Pulse,  die 
Augen  nach  oben  und  seitwärts  gerollt,  fast  unbeweglich  da,  rea- 
giren  aber  meist  durch  Ausweichbewegungen,  Zucken,  Augenrollen 
oder  durch  plötzliches  Zusammenschrecken  und  Erwachen  auf 
stärkere  Reize,  namentlich  auf  den  faradischen  Pinsel.  In  einzelnen 
Fällen  kann  sich  dieser  Zustand,  unterbrochen  durch  zahlreiche 
Krampfanfälle,  viele  Tage,  ja  Wochen  lang  mit  geringen  freieren 
Zwischenzeiten  hinziehen.  Bisweilen  gleichen  die  Dämmerzustände 
ganz  dem  gewöhnlichen  Einschlafen  („Schlafanfälle“).  Die  Gesichts- 
züge der  Kranken  nehmen  plötzlich  den  Ausdruck  der  Ermüdung 
an;  die  Augen  schliessen  sich;  der  Kopf  sinkt  herab;  die  Glieder 
werden  schlaff,  und  die  Kranken  scheinen  mit  tiefen,  regelmässigen 
Athemztigen  zu  schlafen.  Meist  erwachen  sie  nach  kurzer  Zeit 
von  selbst  wieder,  oder  es  gelingt,  sie  durch  kräftige  Reize  zu 
erwecken.  Sie  scheinen  dann  zunächst  noch  schlaftrunken,  blicken 
beim  Erwachen  verstört  um  sich  und  wissen  gar  nicht,  wie  alles 
gekommen. 

Solche  Schlafanfälle  bilden  den  Uebergang  zu  den  Erscheinungen 
des  Nachtwandeins  oder  Somnambulismus,  wie  sie  bei  Hyste- 
rischen während  des  natürlichen  Schlafes  beobachtet  werden.  Die 
Kranken  erheben  sich  aus  ihrem  Bette,  sehen  zum  Fenster  hinaus, 
gehen  im  Zimmer  oder  selbst  im  ganzen  Hause  herum,  verrichten 
allerlei,  oft  ganz  geordnete,  bisweilen  aber  auch  unsinnige  (Zer- 
reissen von  Kleidern,  Verstecken  von  Gegenständen)  und  sogar  ver- 
brecherische Handlungen  (Diebstähle,  Brandstiftungen),  um  sich  dann 
nach  einiger  Zeit  wieder  ins  Bett  zu  legen  und  am  anderen  Morgen 
mit  höchst  unklarer  Erinnerung  an  das  Geschehene  zu  erwachen. 
Nicht  selten  ist  es  möglich,  die  Kranken  durch  Anreden  oder  doch 
durch  stärkere  Reize  (Kälte,  Stechen,  Kneifen)  aus  ihrem  Zustande 
zu  erwecken.  Ganz  ähnliche  Anfälle  beobachtet  man  auch  bei  Tage, 
wo  sie  sich  gewöhnlich  im  Anschlüsse  an  einen  Krampfanfall,  bis- 
weilen auch  einen  Lach-  oder  Weinkrampf  entwickeln.  Die  Kranken 
machen  hier  ganz  den  Eindruck  von  Nachtwandlern,  indem  sie  mit 
verschränkten  Armen,  gesticulirend  oder  leise  und  unverständlich 
vor  sich  hinsprechend,  auf-  und  abgehen.  Indessen  lassen  sie  sich 
meist  durch  äussere  Störungen  gar  nicht  beirren;  selbst  gewaltsames 


506 


XL  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Festhalten  oder  faradische  Ströme  genügen  häufig  nicht,  um  den 
krankhaften  Zustand  zu  beseitigen. 

Eine  weitere  Form  der  Dämmerzustände  schliesst  sich  an  den 
deliriösen  Abschnitt  des  grossen  hysterischen  Anfalles  an.  Hier 
stellen  sich  bei  mässig  getrübtem  Bewusstsein  massenhafte  Sinnes- 
täuschungen ein,  welche  die  Kranken  entweder  in  unangenehme, 
aufregende  Lebenslagen  oder  in  Verzückungszustände  mit  Wonne- 
gefühlen und  himmlischen  Visionen  versetzen,  Stimmungen,  die  sich 
dann  natürlich  in  dem  ganzen  Benehmen,  den  Reden  und  den  Aus- 
drucksbewegungen widerspiegeln.  Eine  meiner  Kranken  kämpfte  in 
solchen  Zuständen  heftig  mit  einem  imaginären  Arzte,  der  ihr,  nach 
ihren  abgerissenen  Ausrufen  zu  schliessen,  Gewalt  anthun  wollte: 
eine  andere  sah  ganze  Berge  von  Papier  vor  sich,  durch  deren  An- 
brennen sie  die  Vernichtung  ihres  Anwesens  und  ihres  Wohlstandes 
herbeiführte. 

Endlich  beobachtet  man,  namentlich  bei  jugendlichen  Kranken, 
Dämmerzustände  mit  eigenthümlicher  läppischer  Erregung. 
Die  Kranken  befinden  sich  in  vorwiegend  heiterer,  ausgelassener  Stim- 
mung, in  welcher  sie  ihre  Umgebung  verkennen,  schnippische  Re  den 
führen,  ein  eigensinniges,  albernes  Wesen  an  den  Tag  legen  und 
allerlei  thörichte  oder  muthwillige  Streiche  begehen,  schreien,  Thier- 
stimmen nachalnnen,  davonlaufen.  Oft  tritt  hier  bei  dem  ziemlich 
besonnenen  Benehmen  der  Kinder  die  krankhafte  Natur  der  Störung 
dem  Zuschauer  erst  dann  recht  deutlich  zu  Tage,  wenn  nach  einigen 
Minuten  oder  Stunden  ein  leichter  Krampfanfall  die  Erregung  ab- 
schliesst  und  nun  plötzlich  bei  völligem  Mangel  der  Erinnerung  an 
das  Vorgefallene  ein  stilles,  gedrücktes  Wesen  an  Stelle  der  früheren 
Ausgelassenheit  tritt.  Die  letzteren  beiden  Formen  der  Dämmer- 
zustände war  Ri  ege  r durch  Hypnotisiren  künstlich  zu  erzeugen  im 
Stande,  doch  sind  sie  auch  sonst  nicht  gerade  selten. 

Die  Erinnerung  an  die  Zeit  des  Dämmerzustandes  pflegt  sehr 
unklar,  noch  häufiger  völlig  aufgehoben  zu  sein.  Auch  rück- 
schreitende Erinnerungslücken,  welche  die  Zeit  vor  dem  Anfalle  in 
mehr  oder  weniger  weiter  Ausdehnung  mit  umfassen,  kommen  vor. 
In  manchen  Fällen  taucht  die  Erinnerung  an  den  früheren  in  einem 
späteren  gleichartigen  Anfalle  vollständig  wieder  auf,  während  sie  in 
der  Zwischenzeit  verloren  gegangen  war.  Es  kann  auf  diese  Weise  zu 
einer  Art  Verdoppelung  der  Persönlichkeit  kommen,  insofern  der 


Hysterisches  Irresein. 


507 


Kranke  abwechselnd  zwei  ganz  verschiedene  Zustände  darbietet, 
deren  gleichartige  Abschnitte  je  untereinander  in  Zusammenhang 
stehen.  Auch  der  anscheinende  Wechsel  von  drei  oder  vier  ver- 
schiedenen Persönlichkeiten  ist  gelegentlich  beobachtet  worden.  Die 
Kenntnisse  und  Erfahrungen  des  einen  Zustandes  werden  nicht  in 
den  anderen  hinübergenommen.  Bisweilen  entspricht  der  eine  Zu- 
stand einer  ganz  bestimmten  Altersstufe,  ähnlich  wie  man  durch  die 
Hypnose  im  Stande  ist,  Jemanden  scheinbar  in  frühere  Abschnitte 
seines  Lebens  zurückzuversetzen.  Es  muss  indessen  darauf  hin- 
gewiesen werden,  dass  es  sich  bei  derartigen  Vervielfältigungen  der 
Persönlichkeit  immer  nur  um  die  Wirkung  von  Autosuggestionen 
handelt;  der  neue  Zustand  gestaltet  sich  so,  wie  der  Kranke  sich 
ihn  vorstellt;  er  wird  nicht  wirklich  geistig  zum  Kinde,  sondern 
ahmt  dasselbe  nur  nach,  wenn  auch  unwillkürlich  und  unbewusst. 

Da  die  Hysterie  mit  einer  Umwandlung  der  ganzen  psychischen 
Persönlichkeit  einhergeht,  werden  natürlich  auch  die  verschieden- 
artigsten nicht  eigentlich  hysterischen  Psychosen  auf  dieser  Grund- 
lage durch  Beimischung  einzelner  besonderer  Züge  eine  eigenartige 
Färbung  annehmen  können.  Das  gilt  besonders  für  das  manisch- 
depressive  Irresein,  von  dem  wir  ja  wissen,  dass  es  sich  ebenfalls 
wesentlich  aus  krankhafter  Veranlagung  heraus  entwickelt.  Auch  im 
Beginne  der  Dementia  praecox  begegnen  wir  vielfach  allerlei  hys- 
terischen Zügen.  Ausserdem  aber  werden  eine  ganze  Reihe  von 
Erkrankungen  mit  dem  Beinamen  des  Hysterischen  belegt,  die  mit 
der  hier  besprochenen  Neurose  gar  keine  Beziehungen  haben.  Meist 
will  man  auf  diese  Weise  das  Auftreten  von  geschlechtlicher  Er- 
regung kennzeichnen,  die  in  Wirklichkeit  bei  anderen  Formen  des 
Irreseins  weit  häufiger  und  stärker  in  den  Vordergrund  tritt,  als 
gerade  bei  der  Hysterie.  Endlich  jedoch  kommen  auch  im  Verlaufe 
der  Hysterie  gewisse  mehr  abgegrenzte  psychische  Störungen  zur 
Beobachtung,  die  nur  Erscheinungsformen  des  Grundleidens  zu  sein 
scheinen.  Dahin  gehören  zunächst  kürzer  oder  länger  dauernde, 
grundlose  traurige  oder  ängstliche  Verstimmungen,  welche  oft 
von  unbestimmten  Versündigungs-  und  Verfolgungsideen,  bisweilen 
auch  von  Sinnestäuschungen  begleitet  sind.  Noch  häufiger  fast  sind 
Aufregungszustände  aller  Art,  zumeist  in  Form  zorniger  Gereizt- 
heit mit  heftigen  Schimpf anfällen,  mit  der  Neigung,  zu  zerstören  und 
selbst  zu  schmieren,  gewöhnlich  an  irgend  einen  äusseren  Anlass, 


508 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


einen  Aerger,  eine  eifersüchtige  Regung  und  dergl.  sich  anschliessend. 
Alle  diese  Zustände  gehen  meist  rasch,  binnen  wenigen  Stunden, 
Tagen  oder  höchstens  Wochen,  wieder  vorüber.  Sie  nehmen  im 
Gegensätze  zu  den  manischen  Geistesstörungen  einen  ganz  unregel- 
mässigen, durch  Zufälligkeiten  beeinflussten  Verlauf,  wenn  sie  auch 
bisweilen  durch  die  Verbindung  mit  den  Menses  in  bestimmten 
Zwischenzeiten  wiederkehren.  Ueberdies  fehlen  den  Aufregungen 
stets  die  wichtigen  manischen  Zeichen  der  Ideenflucht  und  des 
eigenartigen  Beschäftigungsdranges;  vielmehr  tragen  sie  durchaus 
die  Züge  lebhafter  Gefühlsausbrüche.  Ebenso  sind  die  Verstim- 
mungen der  Hysterischen  nicht  von  der  psychomotorischen  Hemmung 
begleitet,  welche  die  Depressionszustände  des  manisch-depressiven 
Irreseins  kennzeichnet. 

Die  Hysterie  ist  in  der  Hauptsache  eine  Ausdrucksform  der 
krankhaften  Veranlagung.  Erbliche  Belastung  fand  sich  in  70 — 80 °/0 
meiner  Fälle.  Gewiss  ist  aber  dabei  auch  der  Einfluss  der  Nach- 
ahmung sowie  der  verkehrten  Erziehung  mit  zu  berücksichtigen. 
In  der  Regel  waren  allerlei  Eigentümlichkeiten  schon  vor  dem 
Auftreten  der  eigentlich  hysterischen  Störungen  bei  den  Kranken 
bemerkt  worden,  Beschränktheit,  selbst  bis  zum  Schwachsinn,  Eigen- 
sinn, Unstetigkeit,  Schwatzhaftigkeit,  Trägheit,  Neigung  zum  Prahlen, 
Schwindeln,  zum  Deliriren  bei  geringem  Fieber,  übertriebene  Fröm- 
migkeit, namentlich  aber  grosse  gemütliche  Reizbarkeit  und  häufiger, 
unvermittelter  Stimmungswechsel.  Vielfach  waren  einzelne  körper- 
liche Anzeichen  vorausgegangen,  Veitstanz,  Schwindelanfälle,  Schlaf- 
anfälle, Kopfschmerzen,  Verlust  der  Sprache.  Hie  und  da  schlossen 
sich  derartige  Vorboten  an  einen  Fall,  eine  Kopfverletzung,  eine 
acute  Krankheit,  eine  gemütliche  Erregung  an. 

Wie  der  Name  bereits  andeutet  (uore^a,  die  Gebärmutter),  ist 
die  Hysterie  so  sehr  eine  Krankheit  des  weiblichen  Geschlechts, 
dass  man  sogar  zweifelhaft  gewesen  ist,  ob  man  überhaupt  ein 
Recht  hat,  ähnliche  Erkrankungen  bei  Männern  mit  derselben  Be- 
zeichnung zu  belegen.  Indessen  die  „männliche  Hysterie“  ist  heute, 
wie  wir  der  Pariser  Schule  ohne  weiteres  zugestehen  müssen,  keine 
seltene  Krankheit  mehr,  und  es  lässt  sich  nicht  in  Abrede  stellen, 
dass  eine  scharfe  Trennungslinie  zwischen  den  allgemeinen  Neurosen 
der  beiden  Geschlechter  schwerlich  gezogen  werden  kann.  Weder 
die  eigenthüm liehen  Krampferscheinungen  noch  die  Charakterver- 


Hysterisches  Irresein. 


509 


änderung  oder  die  Dämmerzustände  fehlen  bei  Männern  vollständig, 
wenn  sie  auch  beim  weiblichen  Geschlechte  eine  viel  grössere  Aus- 
dehnung und  reichere  Entwicklung  zu  erlangen  pflegen.  Unter  den 
von  mir  beobachteten  Hysterischen  waren  die  Männer  mit  30  °/0 
betheiligt.  Recht  häufig  ist  die  Hysterie  bei  Kindern*)  bis  in  die 
jugendlichsten  Lebensalter  herab,  bei  denen  das  weibliche  Geschlecht 
kaum  mehr  vorwiegt.  Freilich  sehen  wir  hier  meist  nur  einzelne 
Krankheitserscheinungen  auftreten,  halbseitige  Blindheit,  Stummheit, 
Reflexkrämpfe,  Lähmungen,  Schreianfälle,  krampfhaftes  Husten,  läp- 
pische Dämmerzustände  (Chorea  magna).  Alle  diese  Störungen  werden 
leicht  durch  körperliche  Zufälle,  aber  auch  durch  Gemüthsbewegun- 
gen,  namentlich  durch  psychische  Ansteckung  ausgelöst  (Schulepi- 
deruien).  Armuth,  Abgeschlossenheit  und  mangelhafte  Bildung  be- 
günstigen, wie  Bruns  anführt,  die  Entstehung  derartiger  Zufälle. 

Aus  den  angeführten  Erfahrungen  geht  jedenfalls  soviel  hervor, 
dass  den  überlieferten  Beziehungen  der  Hysterie  zum  weiblichen 
Geschlechtsleben  nicht  diejenige  Unverbrüchlichkeit  zukommt,  welche 
ihnen,  selbst  bis  in  die  neueste  Zeit,  vielfach  zugeschrieben  worden 
ist.  Ebenso  muss  uns  der  Umstand,  dass  gerade  eine  Reihe  sehr 
tiefgreifender  Erkrankungen  der  Geschlechtsorgane  zwar  recht  schwere 
körperliche  und  selbst  psychische  Störungen  zu  erzeugen  vermögen, 
ohne  doch  dabei  die  Erscheinungen  der  Hysterie  auszulösen,  gegen 
die  Annahme  einer  massgebenden  Bedeutung  der  Sexualerkrankungen 
immerhin  misstrauisch  machen.  Sehen  wir  doch  ferner  hysterische 
Störungen  schon  lange  vor  dem  Eintritte  der  Geschlechtsreife,  sehen 
wir  sie  doch  endlich  auch  bei  vollkommen  gesunden  Geschlechts- 
organen in  deutlichster  Weise  sich  entwickeln. 

Auf  der  anderen  Seite  kann  nicht  geleugnet  werden,  dass  häufig 
genug  bei  Hysterischen  der  Untersuchungsbefund  oder  doch  die  Be- 
schwerden auf  das  Geschlechtsleben  als  auf  die  Quelle  der  Neurose 
hindeuten,  und  dass  die  Beseitigung  kleiner  Störungen  auf  diesem 
Gebiete,  vielleicht  auch  einmal  die  Entfernung  der  gesunden  Fort- 
pflanzungsorgane, unter  Umständen  eine  erhebliche  Besserung  der 
hysterischen  Leiden  herbeizuführen  vermag.  Aus  allen  diesen  That- 
sachen  geht  mit  Sicherheit  soviel  hervor,  dass  die  eigentliche  Ur- 
sache der  Hysterie,  wie  früher  ausgeführt,  in  einer  krankhaften 


*)  Bruns,  Die  Hysterie  im  Kindesalter.  1897. 


510 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Veranlagung  des  gesamraten  Nervensystems  gelegen  ist,  dass  wir 
aber  beim  Weibe  in  den  Genitalorganen  eine  der  ergiebigsten  Quellen 
für  jene  äusseren  Reize  und  Schädlichkeiten  zu  suchen  haben,  welche 
nun  auf  dem  vorbereiteten  Boden  die  hysterischen  Erscheinungen 
auslösen.  Nur  so  erklärt  es  sich,  dass  ein  und  dasselbe  greifbare 
Leiden  in  einem  Falle  fast  spurlos  verläuft,  im  zweiten  leichte  ner- 
vöse Beschwerden,  im  dritten  aber  die  ganze  Mannigfaltigkeit  der 
hysterischen  Erscheinungen  zu  erzeugen  im  Stande  ist. 

Die  Anschauungen  über  das  Wesen  der  Hysterie  zeigen  noch 
wenig  TJebereinstimmung.  Auf  der  einen  Seite  ist  sogar  die  ur- 
sprüngliche Entstehung  des  Leidens  aus  krankhaften  Gehirnzuständen 
bezweifelt  ; worden.  Biernacki  hat  aus  seinen  Erfahrungen  über 
das  Verhalten  des  Blutes  der  Hysterischen  geschlossen,  dass  hier 
wie  bei  der  „Neurasthenie“  primäre  Oxydationsstörungen  vorliegen, 
die  erst  weiterhin  die  übrigen  Krankheitszeichen  erzeugen.  Aehnlich 
betrachtet  Vigouroux  als  Grundlage  der  Hysterie  die  gichtische 
Stoffwechselstörung,  die  ja  auch  zur  Erklärung  der  Epilepsie  wie 
des  manisch-depressiven  Irreseins  schon  hat  herhalten  müssen.  Der- 
artige, durch  nichts  gestützte  Anschauungen  sind  mit  unseren  sonsti- 
gen klinischen  und  ätiologischen  Erfahrungen  unvereinbar,  da  sie 
die  innigen  Beziehungen  der  Hysterie  zu  anderen  Formen  der 
psychopathischen  Entartung,  die  angeborene  Eigenart  der  erkranken- 
den Personen  und  die  psychische  Entstehungsweise  der  einzelnen 
Krankheitszeichen  gänzlich  ausser  Acht  lassen.  Andere  Betrach- 
tungsweisen haben  unmittelbar  an  die  Verdoppelung  der  Persönlich- 
keit wie  an  die  eigenartigen  Lähmungen  und  Empfindungsstörungen 
angeknüpft.  Von  Charcot  und  seinen  Schülern  ist  durch  scharf- 
sinnige Versuche  gezeigt  worden,  dass  die  anscheinend  empfindungs- 
losen Theile  dennoch  Vorstellungen  und  Bewegungen  auslösen  kön- 
nen, allerdings  ohne  dass  die  Eindrücke  selbst  ins  Bewusstsein 
gelangen.  Es  liess  sich  sogar  nachweisen,  dass  diese  Umsetzung 
von  Reiz  in  Bewegung  rascher  vor  sich  ging,  als  die  willkürliche 
und  bewusste.  Man  hat  daher  von  einer  „Spaltung“  des  Bewusst- 
seins gesprochen  (Janet)  in  dem  Sinne,  dass  einzelne,  wechselnde 
Gebiete  der  Sinneserfahrung  den  Zusammenhang  mit  dem  Gesammt- 
bewusstsein  der  Persönlichkeit  verlieren  könnten.  Sollier  hat 
neuerdings  geradezu  einen  theilweisen  Schlafzustand,  einen  Somnam- 
bulismus der  Hysterischen  angenommen.  Aehnlich  wie  im  Schlafe 


J 


Hysterisches  Irresein. 


511 


mannigfache  Eindrücke  wohl  unsere  Träume  und  unsere  Bewegungen 
beeinflussen,  ohne  doch  bewusste  Empfindungen  und  Vorstellungen 
zu  erwecken,  so  fallen  auch  für  das  hysterische  Bewusstsein  ge- 
wisse Gebiete  der  Sinneserfahrung  aus,  weil  die  Himtheile  schlafen, 
denen  die  Reize  zufliessen;  ähnliches  gilt  für  die  Lähmungen.  Das 
sind  sicherlich  recht;  hübsche  Gleichnisse,  um  die  klinischen  That- 
sachen  unserem  Verständnisse  näher  zu  bringen. 

Mit  einer  höchst  merkwürdigen  Auffassung  der  hysterischen 
und  noch  einer  Reihe  von  anderen  Störungen  sind  Breuer  und 
Freud  hervorgetreten.  Nach  ihren  Versicherungen  soll  die  Hysterie 
durch  ganz  bestimmte  passive  sexuelle  Erlebnisse  in  der  frühesten 
Kindheit  erzeugt  werden,  die  dann  in  Form  unbewusster  Erinne- 
rungen durch  das  ganze  spätere  Leben  hindurch  fortspuken  und  in 
mannigfaltiger  Umformung  zur  hysterischen  „Abwehrneurose“  füh- 
ren. War  jenes  Erlebniss  nicht  die  Duldung,  sondern  die  Begehung 
einer  geschlechtlichen  Handlung,  so  entstehen  auf  demselben  Wege 
Zwangsvorstellungen,  ja  auch  paranoische  Krankheitsbilder  sollen 
ähnlichen  Ursprung  haben  können.  Man  erfährt  alle  diese  Dinge, 
indem  man  die  Kranken  in  der  Hypnose  ausfragt.  Wir  dürfen 
nicht  bezweifeln,  dass  man  auf  diesem  Wege  noch  ganz  andere 
Dinge  herausbringen  könnte.  Wenn  aber  unsere  vielgeplagte  Seele 
durch  längst  vergessene  unliebsame  sexuelle  Erfahrungen  für  alle 
Zeiten  ihr  Gleichgewicht  verlöre,  so  dürften  wir  am  Anfänge  vom 
Ende  unseres  Geschlechts  angekommen  sein;  die  Natur  hätte  ein 
grausames  Spiel  mit  uns  getrieben!  Freilich  sollen  alle  jene  Er- 
innerungen unschädlich  werden,  wenn  es  dem  kundigen  Arzte  ge- 
lingt, sie  ans  Licht  zu  ziehen  und  zu  bewussten  zu  machen. 

Kurz  und  gut,  die  Hysterie  ist  ein  angeborener  abnormer 
Seelenzustand,  dessen  Eigentümlichkeit  darin  liegt,  dass,  wie 
Möbius  es  ausdrückt,  krankhafte  Veränderungen  des  Körpers  „durch 
Vorstellungen“  hervorgerufen  werden.  Ich  möchte  hinzufügen,  was 
Möbius  an  anderer  Stelle  nachholt,  dass  es  gefühlsstarke  Vor- 
stellungen sind,  ja  oft  Gefühle,  deren  Vorstellungsinhalt  ein  sehr 
unklarer  ist.  Dadurch  erklärt  es  sich,  dass  jene  körperlichen  Stö- 
rungen ihrer  Form  nach  durchaus  nicht  immer  dem  Inhalte  der 
auslösenden  Reize  und  Vorstellungen  entsprechen  und  dass  sie  Ge- 
biete betreffen  können,  die  dem  Einflüsse  des  bewussten  Willens 
gar  nicht  zugänglich  sind,  ja,  dass  sie  bisweilen  von  den  Kranken 


512 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


selbst  gar  nicht  bemerkt  werden.  Das  sind  alles  Erfahrungen,  die 
uns  von  den  körperlichen  Begleiterscheinungen  der  Gefühle  her  wohl 
bekannt  sind.  Die  innere  Beziehung  zwischen  Trauer  und  Thränen 
ist  nicht  verständlicher  als  diejenige  zwischen  Schreck  und  Hemi- 
anästhesie.  Die  Angst  kann  unsere  Darmthätigkeit  anregen  und 
unser  Haar  bleichen,  wie  die  Hysterie  Oedeme  und  Störungen  in 
der  Herzbewegung  erzeugen  kann.  Auch  Bewusstseinstrübungen, 
höchste  einseitige  Inanspruchnahme  der  Aufmerksamkeit  bei  Unem- 
pfindlichkeit nach  anderen  Richtungen  begegnen  uns  unter  den 
Wirkungen  der  Gemüthsbewegungen.  So  wenig  ich  daher  auch 
daran  denke,  etwa  die  Erscheinungen  der  Hysterie  erklären  zu 
wollen,  komme  ich  doch  zu  dem  Schlüsse,  dass  bei  ihrem  Zustande- 
kommen wahrscheinlich  gesteigerte  Ausgiebigkeit  der  ge- 
müthlichen  Erregungen  und  krankhafte  Ausbreitung  ihrer 
unwillkürlichen  Begleiterscheinungen  eine  wesentliche  Rolle 
spielen. 

Gerade  darum  aber  muss  ich  Möbius  widersprechen,  wenn 
er  die  Geistesstörungen  der  Hysterischen  für  „Complicationen1,  hält. 
Sie  sind  nach  meiner  Ueberzeugung  nichts  als  Aeusserungen  der- 
selben Ursache,  die  den  körperlichen  Störungen  zu  Grunde  liegt 
Die  eigenartige  Steigerung  der  gemiithlichen  Beeinflussbarkeit  wird 
man  auch  in  denjenigen  Fällen  von  Hysterie  schwerlich  vermissen, 
in  denen  schwerere  Anzeichen  der  hysterischen  Entartung  noch 
fehlen.  Es  ist  daher  wol  kein  Zufall,  dass  wir  bei  Kindern  mit 
ihrer  grossen  gemüthlichen  Erregbarkeit  auch  ohne  stärkere  erbliche 
Belastung  einzelne  hysterische  Störungen  auftauchen  sehen,  die  sich 
später,  mit  der  Festigung  der  Persönlichkeit,  spurlos  wieder  ver- 
lieren können.  Ebenso  dürfte  sich  die  grössere  Häufigkeit  der 
Hysterie  bei  dem  leicht  erregbaren  weiblichen  Geschlechte  imd  die 
verhältnissmässig  ungünstige  Bedeutung  der  männlichen  Hysterie 
erklären.  Bei  der  geringen  Veranlagung  des  Mannes  zu  heftigen 
und  ausgebreiteten  Gefühlsreactionen  (Weinen,  Schreien,  Zittern. 
Ohnmächten  u.  s.  f.)  werden  hier  hysterische  Erscheinungen  im 
allgemeinen  nur  dann  zur  Ausbildung  kommen,  wenn  tiefgreifende 
Veränderungen  im  psychischen  Gesammtverhalten  vorliegen. 

Wie  sich  aus  den  vorstehenden  Erörterungen  von  selber  ergiebt, 
ist  der  Verlauf  der  Hysterie  regelmässig  ein  langwieriger,  nicht 
selten  über  Jahrzehnte  hinaus  sich  erstreckender.  In  manchen  Fällen 


Hysterisches  Irresein. 


513 


zeigen  sich  die  ersten  Andeutungen  der  Erkrankung,  namentlich 
beim  weiblichen  Geschlechte,  schon  im  zehnten  bis  zwölften  Lebens- 
jahre und  noch  früher,  ja  es  sind  einzelne  Fälle  aus  dem  zweiten 
Lebensjahre  berichtet  worden. 

Im  Gegensätze  zu  dem  andauernden  Fortbestehen  des  hysteri- 
schen Zustandes  können  die  einzelnen  Formen  psychischer  Er- 
krankung einen  ausserordentlich  wechselvollen  und  verschiedenartigen 
Verlauf  nehmen.  Ja,  der  rasche  und  unvermittelte  Wechsel  der 
Erscheinungen  ist  sogar  in  hohem  Grade  dem  hysterischen  Irre- 
sein eigentümlich.  Es  ist  gewissermassen  eine  Reihe  von  „Zu- 
fällen“, die  sich  auf  der  gemeinsamen  Grundlage  nach  einander 
abspielen  können,  und  deren  Einzeldauer  in  der  Regel  einige  Monate 
nicht  überschreitet,  häufig  aber  auch  nur  einige  Tage  oder  Stunden 
beträgt.  Immerhin  kann  sich  aus  Verstimmungen,  Erregungen, 
Dämmerzuständen,  körperlichen  Störungen  ein  überaus  mannig- 
faltiges, widerspruchsvolles  Krankheitsbild  zusammensetzen,  welches 
Jahr  und  Tag  ausfüllt  Bei  der  Hysterie  der  Kinder  und  nament- 
lich bei  derjenigen  der  Männer  pflegt  indessen  das  Bild  ein  weit 
einförmigeres  zu  sein.  Die  Reichhaltigkeit  der  Störungen  im  ein- 
zelnen Falle  ist  geringer,  und  diese  letzteren  haften,  wenn  sie  sich 
nicht  rasch  und  leicht  beseitigen  lassen,  oft  Jahre  lang  ohne  merk- 
liche Schwankung. 

Die  Prognose  des  hysterischen  Irreseins  ist,  was  die  eigent- 
lichen Anfälle  psychischer  Störung  anbetrifft,  eine  durchweg  günstige; 
dafür  aber  wird  man  fast  immer  mit  Sicherheit  beim  nächsten  An- 
lasse eine  Rückkehr  dieser  oder  einer  anderen  Form  des  Leidens 
erwarten  dürfen.  Nur  die  Hysterie  der  Kinder  scheint  sich  mit 
fortschreitender  körperlicher  Entwicklung  bis  auf  eine  gewisse  Herab- 
setzung der  psychischen  Widerstandsfähigkeit  nicht  selten  völlig  zu 
verlieren.  Bei  Erwachsenen  ist  an  eine  wirkliche  Umänderung  der 
hysterischen  Anlage  schwerlich  zu  denken.  Dagegen  werden  sehr 
bedeutende  und  ans  Wunderbare  grenzende  Heilerfolge  bisweilen 
in  solchen  Fällen  erzielt,  in  denen  sich  äussere  Reize  (Sexual- 
erkrankungen, ungeeignete  Lebensweise,  schädlicher  Einfluss  der  Um- 
gebung) als  wesentliche  auslösende  Ursache  der  Krankheitserschei- 
nungen erkennen  lassen.  Andererseits  giebt  es,  wie  es  scheint, 
vorzugsweise  beim  männlichen  Geschlecht,  schwere  Formen  der 
Hysterie  mit  hochgradigen  hypochondrischen  Beschwerden,  die  sich 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  33 


514 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


dem  ärztlichen  Eingreifen  auf  die  Dauer  nahezu  ganz  unzugäng- 
lich erweisen  und  eine  Art  fortschreitenden  Verlaufes  zeigen  mit 
stetiger  oder  schubweiser  Verschlechterung  des  gesammten  Krank- 
heitsbildes. Sie  bilden  die  Uebergänge  zum  Entartungsirresein  im 
engeren  Sinne. 

Schon  die  Schwierigkeit  einer  scharfen  Begriffsbestimmung  des 
hysterischen  Irreseins  deutet  auf  die  nahen  Beziehungen  hin,  die 
dasselbe  zu  verwandten  Krankheitszuständen  aufzuweisen  hat.  Nament- 
lich die  „männliche  Hysterie“  ist  es,  welche  diese  Beziehungen  am 
klarsten  hervortreten  lässt.  Nach  der  einen  Seite  hin  haben  wir  zahl- 
reiche Uebergänge  zum  Entartungsirresein  zu  verzeichnen.  Indessen 
pflegt  dieses  letztere  Krankheitsbild  weit  einförmiger  zu  sein,  als  die 
Hysterie;  überdies  fehlen  ihm  die  Dämmerzustände  und  die  mannig- 
fachen körperlichen  Begleiterscheinungen  dieser  Krankheit.  Auch 
die  Schreckneurose  bietet  eine  viel  einförmigere  Entwicklung,  doch 
ähneln  die  ungünstig  ausgehenden  Fälle  sehr  den  schweren,  fort- 
schreitenden Formen  der  Hysterie.  Zwischen  der  constitutionellen 
psychischen  Depression  und  der  hysterischen  Veranlagung  giebt  es 
fliessende  Uebergänge.  Auf  die  Abgrenzung  der  Hysterie  von  or- 
ganischen Hirnerkrankungen  werden  wir  hier,  wo  wir  es  nur  mit 
den  psychischen  Erscheinungen  zu  thun  haben,  nicht  näher  einzu- 
gehen brauchen.  Ich  will  nur  erwähnen,  dass  ich  einen  von 
seinem  Lehrer  geohrfeigten  Knaben  mit  hysterischen  Anfällen 
zu  begutachten  hatte,  bei  dem  der  Arzt  eitrige  Meningitis  mit 
voraussichtlich  tödtlichem  Ausgange  angenommen  hatte,  so  dass 
der  Lehrer  wegen  schwerer  Körperverletzung  in  Anklage  versetzt 
wurde. 

Dagegen  werden  wir  die  Frage  nach  der  Unterscheidung  zwischen 
hysterischen  und  epileptischen  Krampfanfällen  berühren  müssen, 
weil  sie  sich  sehr  wesentlich  auf  psychologische  Kennzeichen  stützt. 
Beim  hysterischen  Anfalle  ist  das  Bewusstsein  nicht  so  tief  ge- 
trübt wie  beim  epileptischen;  es  kommt  daher  auch  fast  nie  zu  dem 
plötzlichen,  rücksichtslosen  Hinstürzen,  zu  ernsthaften  Verletzungen 
und  zum  Zungenbiss.  Die  Kranken  merken  es  meist  vorher,  wenn 
der  Anfall  kommt;  hie  und  da  beobachtet  man  auch  wol  Zuckungen, 
Steifigkeit  einzelner  Glieder  bei  völlig  klarem  Bewusstsein,  was  frei- 
lich auch  in  manchen  Fällen  von  Epilepsie  vorkommt.  Die  Pupillen- 
starre während  des  Anfalles,  die  man  früher  als  wichtiges  Erken- 


Hysterisches  Irresein. 


515 


nungszeichen  der  Epilepsie  betrachtete,  ist  neuerdings  auch  bei  der 
Hysterie  gefunden  worden.*)  Sie  kann  sogar  bei  vereinzelten  Kranken 
ausserhalb  des  Anfalles  vorhanden  sein,  besonders  während  der 
Augenuntersuchung;  man  darf  sich  also  durch  sie  nicht  ohne  wei- 
teres zu  der  Annahme  einer  Paralyse  verführen  lassen.  Weiterhin 
pflegt  der  hysterische  Anfall  eine  viel  grössere  Mannigfaltigkeit  in 
seiner  Ausbildung  zu  besitzen,  als  der  fast  immer  gleichförmige  epi- 
leptische Insult.  Tonische  und  klonische  Muskelzusammenziehungen 
am  ganzen  Körper  und  einzelnen  Theilen,  Zwerchfellkrämpfe,  Opis- 
thotonus („arc  de  cercle“),  Jactation,  Herumrollen  an  der  Erde, 
Purzelbäume  („Clownismus“),  ferner  Delirien  mit  lebhaften  Aus- 
drucksbewegungen („attitudes  passioneiles“)  wechseln  mit  einander 
ab,  selbst  bei  demselben  Anfalle,  öfters  in  verschiedenartiger  Weise. 
Endlich  stehen  die  hysterischen  Krämpfe  in  besonderem  Maasse 
unter  dem  Einflüsse  äusserer  Einwirkungen.  Nicht  selten  gelingt 
es,  sie  durch  Gemüthsbewegungen  (ärztliche  Visite,  klinische  Vor- 
stellung) hervorzurufen  und  sie  durch  sehr  lebhafte  Reize  abzukürzen 
oder  plötzlich  zu  beseitigen.  Auch  schliessen  sie  sich  gern  an  ganz 
bestimmte  Anlässe,  an  das  Essen,  Aufstehen,  den  Glockenschlag  an ; 
sie  vereinigen  sich  zu  gehäuften  Reihen,  um  dann  plötzlich  wieder 
gänzlich  zu  verschwinden. 

Recht  unsicher  kann  die  Unterscheidung  der  hysterischen  und 
epileptischen  Dämmerzustände  ausfallen.  Im  allgemeinen  lässt  sich 
nur  sagen,  dass  die  letzteren  besonders  häufig  mit  sehr  heftigen 
Angstanfällen,  grosser  Reizbarkeit  und  der  Neigung  zu  rohen,  gewalt- 
tätigen Handlungen  einhergehen,  während  die  hysterischen  Dämmer- 
zustände in  der  Regel  ruhiger,  theatralischer,  mit  geringerer  Gemüths- 
erschütterung  zu  verlaufen  pflegen.  Das  Verhalten  der  Erinnerung 
ist  in  beiden  Fällen  ein  wechselndes.  Bei  längerer  Beobachtung 
wird  sich  übrigens  auf  Grund  anderweitiger  Anhaltspunkte,  aus  dem 
Vorhandensein  der  hysterischen  Stigmata,  aus  der  Art  der  Krampf- 
anfälle sowie  auch  aus  dem  gesammten  psychischen  Verhalten  der 
Kranken  regelmässig  eine  Abgrenzung  ermöglichen  lassen.  Dem 
hysterischen  Charakter  ist  die  sprunghafte  Launenhaftigkeit,  der 
rasche  Wechsel  der  Stimmung,  die  Abhängigkeit  von  äusseren  Be- 


*)  Karplus,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XVH,  1;  A.  Westphal,  Berl.  klin. 
Wocbenschr.  1897,  47. 


33* 


516 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


einflussungen  eigenthiiralich,  während  bei  dem  Epileptiker  die  rohe 
Zornmüthigkeit,  der  beschränkte  Eigensinn  und  die  selbständige 
Periodicität  der  krankhaften  Zufälle,  namentlich  auch  der  Verstim- 
mungen, in  den  Vordergrund  tritt.  Zudem  pflegt  bei  letzterem  die 
geistige  Schwäche  meist  häufiger  und  hochgradiger  zu  sein,  als  dort. 

Eine  vorbeugende  Bekämpfung  der  Hysterie  hätte  bei  der 
gesundheitsgemässen,  auf  die  körperliche  Ausbildung  gerichteten, 
einfachen  Erziehung  einzusetzen.  Sehr  häufig  sind  gerade  die  Eltern 
gefährdeter  Kinder  aus  nahe  liegenden  Gründen  am  wenigsten  ge- 
eignet, die  schlummernden  Krankheitskeime  an  weiterer  Entwick- 
lung zu  verhindern.  In  solchen  Fällen  wird  man  unter  Umständen 
geradezu  die  Entfernung  der  Kinder  aus  dem  Einflussbereiche  ihrer 
Angehörigen  durchzusetzen  suchen.  Eine  weitere  Aufgabe  wird  es 
sein,  wenigstens  die  auslösenden  Ursachen  nach  Möglichkeit  zu  be- 
seitigen. Dabei  können  allerlei  körperliche  Störungen,  namentlich 
solche  der  Verdauungsorgane  und  der  Geschlechtswerkzeuge,  in  Be- 
tracht kommen.  Gerade  diese  letzteren  haben  von  jeher  den  Haupt- 
angriffspunkt der  Heilbestrebungen  bei  der  Hysterie  gebildet  In 
der  That  übt  die  Beseitigung  greifbarer  Veränderungen  an  den  Geni- 
talien bisweilen  einen  sehr  günstigen  Einfluss  auf  die  Krankheits- 
erscheinungen aus.  Freilich  wird  man  dabei  gut  thun,  sich  hin- 
sichtlich der  Dauer  der  erzielten  Besserungen  keinen  übertriebenen 
Hoffnungen  hinzugeben.  Andererseits  haben  die  genannten  Ein- 
griffe durchaus  nicht  selten  entschiedene  Verschlechterungen  des 
Zustandes  zur  Folge.*) 

In  neuerer  Zeit  ist  man  sogar  vor  sehr  eingreifenden  Opera- 
tionen, bis  zur  Castration,  nicht  zurückgeschreckt,  um  auf  diese  Weise 
den  Hysterischen  Hülfe  zu  bringen.  Wie  es  scheint,  ist  dieses 
schneidige  Vorgehen,  welches  selbst  zur  Entfernung  ganz  gesunder 
Eierstöcke  fortgeschritten  ist,  in  einzelnen  Fällen  von  günstigem 
Erfolge  gekrönt  worden,  namentlich  dann,  wenn  die  Störungen  einen 
gewissen  Zusammenhang  mit  der  Menstruation  darboten.  Allerdings 
liegen  andererseits  sichere  Anhaltspunkte  dafür  vor,  dass  vielfach 
der  psychische  Eindruck  der  Operation  wirksamer  war,  als  die 
chirurgische  Bedeutung  derselben.  Endlich  aber  hat  sich  gezeigt, 
dass  nur  zu  häufig  jener  Erfolg  keinen  dauernden  Bestand  hatte,  oder 


*)  Augelucci  e Pieracini,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XXIII,  290. 


Hysterisches  Irresein. 


517 


dass  die  Verstümmelung  sogar  schwere  Depressionszustände  nach  sich 
zog.  Ich  habe  Gelegenheit  gehabt,  eine  ganze  Reihe  von  Hysterischen 
zu  behandeln,  welche  von  der  Keilexcision  bis  zur  Castration  und 
selbst  zurüterusamputation  die  ganze  Stufenleiter  der  gynäkologischen 
Eingriffe  überwunden  hatten.  Nur  in  einem  einzigen  Falle  schien 
mir  durch  das  Wegbleiben  der  sonst  immer  mit  starken  Beschwerden 
verbundenen  Menses  eine  länger  anhaltende  Erleichterung  des  Leidens 
erreicht  worden  zu  sein.  Meist  blieb  der  Eingriff  für  die  Dauer  völlig 
wirkungslos;  einmal  sah  ich  eine  sehr  bedeutende  Verschlechterung. 
Eine  sichere  und  allseitig  anerkannte  Feststellung  der  Anzeigen  für 
die  Verschneidung  der  Hysterischen  ist  bisher  nicht  erreicht  worden. 
Vielmehr  scheint  die  Messerfreudigkeit  auf  der  ganzen  Linie  bedeu- 
tend nachgelassen  zu  haben. 

In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  wird  man  sich  darauf 
beschränkt  sehen,  die  Erscheinungen  des  hysterischen  Irreseins  zu 
bekämpfen.  Einer  besonderen  Verbreitung  hat  sich  für  diesen  Zweck 
bei  den  leichteren  hypochondrischen  Formen  mit  Lähmungen,  Schlaf- 
losigkeit, Verdauungsstörungen  und  starker  Abmagerung  die  Weir 
Mitchell’sche  Mastcur*)  zu  erfreuen  gehabt,  mit  um  so  grösserem 
Rechte,  als  sie  durch  Bekämpfung  der  genannten  Zeichen  der 
Hysterie  zum  Theil  auch  gleichzeitig  die  Quellen  verstopft,  aus 
denen  die  Krankheit  immer  wieder  neue  Nahrung  zieht.  Die  Er- 
folge dieser  Cur,  welche  sich  allerdings  nur  für  eine  gewisse  Gruppe 
durch  den  Versuch  zu  erprobender  Fälle  eignet,  sind  ganz  ausser- 
ordentliche; selbst  nach  10 — 20jähriger  Dauer  schwerer  Erscheinungen 
gelang  es  bisweilen,  eine  durchgreifende  Besserung  aller  der  an- 
geführten Störungen  bis  zum  völligen  Verschwinden  derselben  her- 
beizuführen. 

Leider  ist  jedoch  immerhin  die  Zahl  jener  Fälle  nur  allzu  gross, 
in  denen  von  der  Mastcur  ein  Heilergebniss  nicht  erwartet  werden 
kann.  Dahin  gehören  namentlich  die  Formen  mit  sehr  ausgeprägten 
psychischen  Störungen,  mit  denen  es  der  Irrenarzt  vor  allem 
zu  thun  hat.  Abgesehen  von  denjenigen  Massregeln,  welche  durch 
die  gelegentlichen  psychischen  Gleichgewichtsschwankungen  selbst 
gefordert  werden,  wird  man  indessen  auch  hier  auf  eine  Verbesse- 
rung des  körperlichen  Allgemeinzustandes  durch  die  Sorge  für  zweck- 


*)  Burkart,  Volkmanns  Klinische  Vorträge,  245. 


518 


XI.  Dio  allgemeinen  Neurosen. 


massige  Ernährung,  für  ausreichende  Bewegung  in  frischer  Luft 
und  genügenden  Schlaf  sein  Augenmerk  zu  richten  haben.  Dem- 
selben Zwecke  dienen  ferner  Bäder  mit  kühlen  Ueberriesel ungen 
Massage,  Gymnastik,  allgemeine  Faradisation.  Yon  Arzneien  kommt 
als  Beruhigungs-  und  Schlafmittel  namentlich  das  Bromkalium  in 
Betracht,  ferner  bei  der  gewöhnlich  anaemischen  Körperbeschaffen- 
heit etwa  das  Eisen  und  zur  Beseitigung  leichterer  „Anfälle“  die 
Tinctura  Yalerianae,  Aqua  Laurocerasi  u.  dergl.  Ausserdem  können 
auch  noch  manche  der  übrigen  Schlafmittel  hie  und  da  in  Frage 
kommen,  doch  soll  man  mit  letzteren  möglichst  sparsam  sein,  da 
die  Kranken  bei  der  langen  Dauer  ihres  Leidens  sehr  die  Neigung 
haben,  Arzneien  zu  missbrauchen.  Namentlich  das  Morphium  führt 
bei  Hysterischen  ausserordentlich  leicht  zur  Gewöhnung  und  muss 
daher  unter  allen  Umständen  vermieden  werden;  eine  meiner 
Kranken  hatte  auch  Chloroform  gewohnheitsmässig  eingeathmet  Die 
Krampfanfälle  und  die  Dämmerzustände  lassen  sich  durch  kalte 
Uebergiessungen  oder  durch  den  faradischen  Pinsel  nicht  selten 
wesentlich  abkürzen. 

Den  bei  weitem  wichtigsten  Theil  der  Behandlung  Hysterischer 
bildet  indessen  die  psychische  Einwirkung.  Sehr  häufig  liegen 
in  der  Umgebung  der  Kranken,  wie  sie  sich  von  selber  oder  unter 
deren  Einflüsse  gestaltet  hat,  oder  in  der  ganzen  Lebensführung 
Schädlichkeiten,  welche  immer  von  neuem  das  Entstehen  der  krank- 
haften Erscheinungen  begünstigen.  In  allen  schwereren  Fällen  kann 
daher  eine  Cur  Hysterischer  erfolgreich  nur  dann  durchgeführt 
werden,  wenn  sie  vollständig  aus  ihren  bisherigen  Verhältnissen 
entfernt  und  bedingungslos  in  die  Hände  des  Arztes  gegeben  werden. 
Nichterfüllung  dieser  wichtigsten  Voraussetzung  führt  fast  regel- 
mässig zu  Misserfolgen,  während  man  in  anderen  Fällen  die  glän- 
zendsten Heilungen  in  kürzester  Frist  erleben  kann.  Für  die  wei- 
tere psychische  Einwirkung  lassen  sich  allgemeine  Vorschriften  kaum 
entwerfen,  da  sie  sich  in  jedem  Falle  der  besonderen  Eigentüm- 
lichkeit der  Kranken  anzupassen  hat.  Man  kann  den  Kranken  zart 
entgegenkommen , kühn  und  verwegen  Vorgehen  („Ueberrumpe- 
lungsverfahren“),  sich  scheinbar  gar  nicht  um  sie  kümmern  („zweck- 
bewusste Vernachlässigung“),  — man  kann  auch  mit  So  liier  die 
einzelnen  schlafenden  Hirntheile  nach  und  nach  erwecken  oder  mit 
Breuer  und  Freud  dio  unbewussten  geschlechtlichen  Erinnerungen 


Hysterisches  Irresein. 


519 


der  Kindheit  in  bewusste  um  wandeln  — immer  aber  wird  man  die 
ganze  psychische  Persönlichkeit  zu  berücksichtigen  haben,  mit  der 
man  es  zu  thun  hat,  wenn  man  die  Krankheitserscheinungen  be- 
kämpfen will.  Ohne  jeden  Zweifel  beruhen  die  Erfolge,  welche  hier 
durch  die  verschiedensten  Methoden,  durch  elektrische  und  diätetische 
Curen,  durch  Hydro-,  Metallo-,  Klimatotherapie,  von  Naturärzten, 
Homöopathen  und  Magnetiseuren  erzielt  werden,  wesentlich  oder  voll- 
ständig auf  dem  Glauben  der  Kranken. 

Diese  Erfahrung  muss  die  Richtschnur  des  gesammten  ärzt- 
lichen Handelns  bei  Hysterischen  bilden.  Es  ist  daher  für 
den  Arzt  vor  allem  nothwendig,  sich  das  unerschütterliche  Ver- 
trauen und  damit  die  unerlässliche  Macht  über  die  Kranken 
zu  verschaffen,  ein  Ziel,  das  nicht  durch  barsches  und  recht- 
haberisches Entgegentreten,  sondern  nur  durch  ruhiges,  ernstes, 
aber  stets  wohlwollendes  und  nicht  kleinliches  Festhalten  an  dem 
einmal  aufgestellten  Behandlungspläne  erreicht  wird.  Das  feste 
Vertrauen  der  Kranken,  dass  ihnen  geholfen  werden  wird,  ist  das 
mächtigste  Behandlungsmittel  in  der  Hand  des  Arztes  und  lässt  ihn 
oft  genug  durch  die  unbedeutendsten,  ja  scheinbar  unsinnigsten  Ein- 
griffe die  weittragendsten  Erfolge  erringen.  Seiner  Menschenkennt- 
nis und  seiner  persönlichen  Gewandtheit  ist  somit  hier  ein  Spielraum 
überlassen  wie  bei  keiner  anderen  Form  psychischer  Erkrankungen. 
Dass  unter  diesen  Umständen  auch  mit  Hülfe  der  hypnotischen 
Suggestion  gute  Erfolge  erzielt  werden  können,  liegt  auf  der  Hand, 
doch  müssen  wir  leider  oft  die  Beobachtung  machen,  dass  die  im 
Augenblicke  ungemein  wirksame  Suggestion  bei  diesen  Kranken  mit 
ihrer  geringen  inneren  Festigkeit  schon  nach  recht  kurzer  Zeit  durch 
andere  Einflüsse  wieder  in  den  Hintergrund  gedrängt  wird.  In  an- 
deren Fällen  entwickelt  sich  durch  das  hypnotische  Verfahren  eine 
höchst  unerwünschte  Abhängigkeit  des  Kranken  vom  Arzte,  die 
eine  wirksame  Erziehung  des  eigenen  Willens  zum  Kampfe  gegen 
die  krankhaften  Störungen  unmöglich  macht.  Endlich  aber  erweisen 
sich  gerade  die  schwersten  Formen  der  Hysterie  dem  Suggestivver- 
fahren nicht  selten  nur  in  beschränktem  Maasse  zugänglich.  Je 
grösser  die  Beeinflussbarkeit,  desto  leichter  bilden  sich  störende 
Eigensuggestionen,  und  desto  rascher  wird  die  Wirkung  der  ärzt- 
lichen Eingebung  durch  andere,  widerstrebende  Vorstellungen  wieder 
vernichtet.  Dagegen  kann  ich,  entgegen  den  Aeusserungen  von 


520 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Bruns,  aus  sehr  vielfacher  Erfahrung  mittheilen,  dass  die  Hysterie 
der  Kinder  für  die  hypnotische  Behandlung  vielleicht  das  aller- 
günstigste Feld  bildet.  Ich  habe  eine  ganze  Reihe  von  Kindern  mit 
umschriebenen  hysterischen  Krankheitserscheinungen,  die  zum  Theil 
von  hervorragenden  Fachgenossen  Monate  lang  nach  allen  möglichen 
Verfahren  ohne  Erfolg  behandelt  worden  waren,  durch  wenige 
hypnotische  Sitzungen  dauernd  von  ihren  Störungen  befreien  können. 
Auch  diejenigen  Erwachsenen,  bei  denen  einzelne  Krankheits- 
zeichen gewissermassen  als  Erinnerungen  an  frühere  Leiden  zu- 
rückgeblieben sind,  lassen  sich  nach  meinen  Erfahrungen  mit  Hülfe 
der  Hypnose  selbst  dann  überraschend  leicht  und  dauernd  heilen, 
wenn  alle  sonstigen  Curen  schon  viele  Jahre  hindurch  vergebens 
gewesen  sind. 


C.  Die  Schreckueurose. 

Das  im  Folgenden  unter  dem  Namen  der  Schreckneurose 
beschriebene  Krankheitsbild  ist  besonders  von  Westphal  und 
seinen  Schülern  sowie  von  C har  cot  genauer  studirt  und  als 
„traumatische  Neurose“*)  oder  „traumatische  Hysterie“  bezeichnet 
worden.  Es  handelt  sich  dabei  um  ein  aus  mannigfaltigen  ner- 
vösen und  psychischen  Erscheinungen  zusammengesetztes  Krank- 
heitsbild, welches  sich  in  Folge  von  heftigen  Gemüthserschiitterungen, 
plötzlichem  Schreck,  grosser  Angst  ausbildet  und  daher  nach  schweren 
Unfällen  und  Verletzungen,  besonders  nach  Feuersbrünsten,  Explo- 
sionen, Entgleisungen  oder  Zusammenstössen  auf  der  Eisenbahn 
u.  dergl.  beobachtet  wird.  Auch  manche  der  nach  Selbstmordver- 
suchen gelegentlich  auf  tretenden  Störungen  sind,  wie  Möbius  wahr- 
scheinlich gemacht  hat,  hierher  zu  rechnen. 

Bei  den  bis  dahin  wenigstens  anscheinend  ganz  gesunden 
Menschen  entwickelt  sich  im  Anschlüsse  an  den  vielfach  vorüber- 


*)  Oppenheim,  Die  traumatischen  Neurosen,  2.  Auflage.  1892;  Schultze, 
Sammlung  klinischer  Vorträge.  N.  F.  14  (Innere  Medicin  No.  6);  Deutsche  Zeit- 
schrift für  Nervenheilkunde,  I,  5 u.  6,  S.  445;  Strümpell,  Münchner  Medici- 
nische Wochenschrift,  1895,  49  u.  50;  Sänger,  Die  Beurtheilung  der  Nerven- 
erkrankungen nach  Unfall.  1896;  Fürstner,  Monatsschrift  für  Unfallheilkunde, 
1896,  10. 


Schreckneurose. 


521 


gehende  Bewusstlosigkeit  erzeugenden  Unfall  ganz  allmählich,  in 
Wochen  oder  selbst  Monaten,  ein  Zustand,  der  sich  psychisch  durch 
traurige  Verstimmung  mit  ängstlichen  Befürchtungen  der  verschie- 
densten Art,  Herabsetzung  der  körperlichen  und  gemüthlichen 
Widerstandsfähigkeit  wie  durch  Unfähigkeit  zu  jeder  ernsteren  An- 
strengung kennzeichnet.  Die  Kranken  erscheinen  still,  gedrückt, 
fassen  langsam  auf,  nehmen  wenig  Antheil  an  den  Vorgängen  in 
ihrer  Umgebung,  sind  vielmehr  dauernd  durch  quälende  Vorstel- 
lungen in  Anspruch  genommen.  Ihr  Gedankengang  ist  in  Folge 
dessen  meist  ungemein  einförmig  und  schwerfällig,  dreht  sich  wesent- 
lich um  den  Unfall,  der  bisweilen  mit  grossem  Wortreichthum  ge- 
schildert wird.  In  einzelnen  Fällen  bestehen  ausgeprägte  Zwangs- 
vorstellungen, Platzangst,  Grübelsucht;  meist  aber  treten  hypochon- 
drische Beschwerden  in  den  Vordergrund.  Die  Kranken  werden 
den  Eindruck  des  erlittenen  Unfalles  nicht  mehr  los  und  fühlen 
sich  durch  denselben  in  ihrem  Gesundheitszustände  auf  das  schwerste 
geschädigt.  Sie  sind  nicht  mehr  wie  früher,  müde  und  matt,  „schwer- 
müthig  im  Geiste“,  können  nicht  mehr  arbeiten  und  beobachten 
mit  peinlicher  Aufmerksamkeit  alle  Vorgänge  an  ihrem  Körper, 
welche  ihnen  mit  ihrem  Leiden  in  Zusammenhang  zu  stehen 
scheinen. 

In  gemüthlicher  Beziehung  sind  sie  auffallend  erregbar,  ge- 
rathen  ungemein  leicht  in  Verlegenheit  und  Verwirrung,  können 
sich  oft  nicht  zusammenhängend  aussprechen  und  fühlen  sich  dauernd 
durch  das  Gefühl  innerer  Beklemmung  und  Beängstigung  in  ihrem 
Denken  und  Handeln  gehemmt.  Auch  hier  kann  sich  die  Angst 
anfallsweise  zu  heftigeren  Ausbrüchen  steigern,  welche  die  Kranken 
sogar  bisweilen  zum  Selbstmorde  führen.  Das  Gedächtniss  ist 
trotz  der  Klagen  über  Abnahme  desselben  meist  gut,  wenn  sich 
auch  eine  gewisse  Zerstreutheit  und  Vergesslichkeit,  auf  dem  man- 
gelnden Interesse  und  der  Aufmerksamkeitsstörung  beruhend,  häufig 
nachweisen  lässt.  Die  Arbeitsfähigkeit  der  Kranken  wird  durch  ihre 
hypochondrische  Willenlosigkeit  wie  durch  die  zahlreichen  nervösen 
Beschwerden  stets  auf  das  empfindlichste  beeinträchtigt  oder  ganz 
aufgehoben.  Regelmässig  besteht  ungemeine  Ermüdbarkeit;  die 
Kranken  erlahmen  nach  ganz  kurzer  Zeit,  werden  ungeschickt,  stocken, 
begehen  Fehler  bei  einfachen  Aufgaben,  zeigen  in  Folge  vermehrter 
Anstrengung  Wallungen  zum  Kopf,  Herzklopfen,  Schweissausbrüche. 


522 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


Wir  konnten  in  einem  Falle  durch  planmässige  Untersuchung  der 
geistigen  Leistungsfähigkeit  die  bedeutende  Herabsetzung  der  Ar- 
beitsleistung wie  die  hochgradige  Ermüdbarkeit  zahlenmässig  fest- 
stellen. Eine  weitere  Ausbildung  gewinnen  die  psychischen  Stö- 
rungen in  der  Regel  nicht;  nur  hie  und  da  wird  das  Auftreten 
von  Dämmerzuständen,  acuten  hallucinatorischen  Aufregungen  oder 
noch  seltener  von  ausgebildetem  Schwachsinn  beobachtet.  Im 
letzteren  Falle  handelt  es  sich  wol  immer  um  wirkliche  Kopfver- 
letzungen. 

Der  Schlaf  der  Kranken  ist  regelmässig  durch  ängstliche  Träume 
hochgradig  gestört,  der  Appetit  gering;  das  Körpergewicht  sinkt 
vielfach  beträchtlich.  Im  Kopfe  bestehen  allerlei  krankhafte  Em- 
pfindungen, Druck,  Eingenommenheit,  Schwindelgefühl,  unangenehme 
Bewegungsempfindungen,  im  Rücken  und  Kreuz  das  Gefühl  von 
Spannung  und  Steifigkeit,  in  den  vom  Unfall  betroffenen  Theilen 
mannigfache  Paraesthesien  und  Schmerzen.  Ausserdem  wird  über 
asthenopische  Beschwerden,  Ohrenklingen  und  -sausen,  Herzklopfen. 
Abnahme  der  Potenz,  Erschwerung  der  Harnentleerung  und  Stuhl- 
verstopfung, bisweilen  auch  über  hartnäckiges  Erbrechen  geklagt. 
Objectiv  lassen  sich  in  einzelnen  Fällen  Empfindungsstörungen  in 
sehr  wechselnder  Ausbreitung  nachweisen,  Analgesie  neben  hyper- 
aesthetischen  Stellen,  Einschränkung  des  Gesichtsfeldes,  Schwer- 
hörigkeit. Auf  motorischem  Gebiete  werden  Steigerung  der  Sehnen- 
reflexe, Lähmungserscheinungen  der  verschiedensten  Art,  Langsamkeit 
und  Unsicherheit  der  Bewegungen,  Geh-  und  Sprachstörungen, 
leichtes  Zittern  beobachtet.  Ferner  treten  öfters  fibrilläre  Huskel- 
zuckungen  auf,  besonders  nach  Anstrengungen,  bei  Einwirkung  von 
Kälte  oder  nach  dem  Auf  hören  stärkerer  faradischer  Reize.  Nach 
lebhaften  Muskelbewegungen,  gemüthlicher  Erregung  oder  bei  Druck 
auf  schmerzhafte  Stellen  zeigen  sich  vielfach  der  Puls,  seltener  auch 
die  Athmung  beschleunigt;  hie  und  da  kommen  Ohnmächten  und 
selbst  ausgebildete  epileptiforme  Anfälle  vor.  Alle  diese  Erscheinungen 
weichen  in  ihrem  regellosen  Auftreten  durchaus  von  den  Störungen 
bei  organischen  Hirn-  oder  Rückenmarkserkrankungen  ab  und  ver- 
rathcn  durch  ihren  Sitz,  ihre  Ausbreitung,  ihr  wechselndes  Ver- 
halten und  den  verschlimmernden  Einfluss  gemüthlicher  Erregung 
ihre  psychische  Entsteh ungs weise.  Fried  mann  hat  ferner  noch 

auf  die  geringere  Widerstandsfähigkeit  der  Kranken  gegen  Anstren- 


Schreckneurose. 


523 


gungen,  Alkoholgen uss,  Gemüthsbewegungen,  Galvanisation  des 
Kopfes  und  Oarotidencompression  aufmerksam  gemacht.  Nur  ganz 
vereinzelt  und  nur  bei  wirklichen  Kopfverletzungen  werden  auch 
Störungen  beobachtet,  welche  mit  Sicherheit  auf  eine  organische 
Grundlage  hinweisen,  so  reflectorische  Pupillenstarre  und  Sehnerven- 
atrophie. 

Die  leichteren  Fälle  von  Schreckneurose,  die  unmittelbar  in  die 
natürliche  Ergriffenheit  nach  aufregenden  Erlebnissen  übergehen, 
können  sich  rasch  wieder  ausgleichen.  Es  giebt  indessen  auch  Fälle 
genug  mit  überaus  schleppendem  Verlaufe  und  ungünstiger  Prognose. 
Freilich  kann  nach  monate-  und  selbst  jahrelanger  Dauer  des 
Leidens  noch  Heilung  oder  doch  sehr  wesentliche  Besserung  ein- 
treten;  immerhin  aber  kommt  es  nicht  selten  zu  einem  langsam 
fortschreitenden  Siech thum,  welches  bisweilen  mit  Entwicklung  von 
Herzhypertrophie  und  Arteriosklerose  einherzugehen  scheint. 

Die  Deutung  dieses  Krankheitsbildes  hat  den  Anlass  zu  aus- 
gedehnten und  noch  heute  keineswegs  abgeschlossenen  Erörterungen 
gegeben.  Während  Westphal  und  seine  Schüler  dasselbe  anfangs 
unter  Betonung  gelegentlicher  objectiver  Befunde  auf  schleichende 
organische  Veränderungen  im  Centralnervensysteme  zurückführten, 
hat  Charcot  alle  diese  Fälle  der  Hysterie  zugetheilt.  Mit  Recht 
ist  indessen  geltend  gemacht  worden,  dass  der  Begriff  der  hysteri- 
schen Neurose  durch  diese  Erweiterung  noch  verschwommener  und 
unklarer  wird,  als  er  es  leider  heute  schon  ist.  Späterhin  hat 
Charcot  die  Schreckneurose  den  hypnotischen  Zuständen  ver- 
glichen, indem  er  meint,  dass  während  der  heftigen  Bewusstseins- 
erschütterung durch  den  Schreck  das  ganze  Krankheitsbild  auf  dem 
Wege  einer  später  fest  einwurzelnden  Eigensuggestion  entstehe.  An- 
dererseits hat  Oppenheim  die  Annahme  einer  organischen  Grund- 
lage, abgesehen  von  gewissen  Ausnahmefällen,  aufgegeben.  Die 
wesentlich  psychische  Entstehungsweise  des  Leidens  darf  jetzt 
als  allgemein  anerkannt  gelten. 

Für  diese  Ansicht  spricht  vor  allem  die  Thatsache,  dass  die 
Neurose  oft  genug  auch  dann  zu  Stande  kommt,  wenn  gar  keine 
wirkliche  Verletzung  stattgef unden  hat,  wenn  z.  B.  der  drohende 
Unfall  noch  im  Augenblicke  höchster  Gefahr  glücklich  abgewendet 
werden  konnte.  In  anderen  Fällen  sind  die  Verletzungen  sehr  ge- 
ringfügige, oder  sie  betreffen  gar  nicht  den  Kopf , sondern  irgend 


524 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


ein  unwichtiges  Glied  des  Körpers.  Meist  haben  dann  die  Be- 
schwerden gerade  in  den  betroffenen  Theilen  ihren  Sitz,  so  dass 
man  auch  wol  von  einer  „localen“  traumatischen  Neurose  gesprochen 
hat.  So  zeigte  ein  junger  Mann,  der  bei  einem  Brande  zum  Fenster 
hinausgesprungen  war,  noch  nach  Jahren  Lähmung  und  Unempfind- 
lichkeit an  der  ganzen  Seite,  auf  die  er  damals  gefallen  war.  Natür- 
lich ist  auch  in  solchen  Fällen  von  einem  umschriebenen  Sitze  des 
Leidens  keine  Rede.  Die  eigentliche  Grundlage  desselben  bleibt 
immer  die  allgemeine  psychische  Veränderung,  welche  durch  die 
Gemüthserschütterung  herbeigeführt  wird.  An  welchen  Punkt  des 
Körpers  die  krankhaft  erregte  Einbildungskraft  dann  die  Störungen 
verlegt,  ist  für  das  Wesen  des  Krankheitsbildes  ebenso  nebensäch- 
lich wie  etwa  der  besondere  Inhalt  der  hypochondrischen  Vorstel- 
lungen eines  Paralytikers. 

Es  ist  indessen  in  neuerer  Zeit  immer  zweifelhafter  ge- 
worden, ob  die  Gemüthsbewegung  beim  Unfälle  selbst  wirklich 
immer  als  die  wesentlichste  Ursache  der  Krankheit  angesehen 
werden  muss.  Sehr  häufig  vergehen  zwischen  dem  Unfälle  und 
dem  Auftauchen  der  kennzeichnenden  Krankheitserscheinungen 
mehrere  Wochen  und  selbst  Monate,  in  denen  der  Verletzte  sich 
verhältnissmässig  gesund  fühlt.  Sodann  aber  zeigt  sich,  dass  die 
Neurose  unter  dem  Einflüsse  des  Unfallversicherungsgesetzes  nicht 
nur  rasch  an  Häufigkeit  zunimmt,  sondern  auch  ungünstiger  ver- 
läuft. Ohne  Zweifel  kommen  die  geschilderten  Störungen  auch  ohne 
jeden  Zusammenhang  mit  dem  Versicherungsgesetze  vor,  aber  sie 
scheinen  dann  in  der  Regel  rascher  und  leichter  überwunden  zu 
werden.  Diese  Erfahrungen,  die  von  vielen  Beobachtern  bestätigt 
werden,  deuten  darauf  hin,  dass  in  unserer  Gesetzgebung  selbst 
schädigende  Einflüsse  liegen,  welche  die  rasche  Ausgleichung  der 
gemüthlichen  Erschütterungen  nach  Unfällen  hindern.  In  der  That 
dürfte  eine  solche  Schädigung  eingreifendster  Art  in  dem  Kampfe 
um  die  Rente  zu  suchen  sein,  zumal  er  von  Kranken  geführt 
werden  muss,  deren  Widerstandsfähigkeit  zweifellos  herabgesetzt  ist. 
Zu  der  Aufregung  über  den  Unfall,  den  Schmerzen,  der  Sorge  für 
die  Zukunft  gesellt  sich  der  Wunsch,  eine  möglichst  hohe  Rente  zu 
erlangen,  die  Verführung,  zu  übertreiben,  recht  lange  unthätig  zu 
bleiben,  das  Misstrauen  Seitens  der  Berufsgenossenschaften  und 
Aerzte,  die  endlosen  Begutachtungen,  die  Ungewissheit  über  den 


Schreckneurose. 


525 


endlichen  Ausgang,  vielfach  auch  drückende  Noth  in  der  Zeit  bis 
zur  Entscheidung.  Diese  Umstände  sind  es  wol  in  erster  Linie, 
die  den  Kranken  nicht  zur  Ruhe  kommen  lassen,  ihn  an  einer  kräf- 
tigen Willensanstrengung  zur  Ueberwindung  seiner  Beschwerden 
hindern  und  dadurch  den  schleppenden  und  ungünstigen  Verlauf 
des  Leidens  wesentlich  mit  verursachen. 

Gerade  die  psychische  Entstehung  der  Schreckneurose  hat  dazu 
geführt,  dieselbe  ohne  weiteres  der  Hysterie  zuzurechnen.  Es  ist 
aber  vielleicht  doch  nützlich,  darauf  hinzuweisen,  dass  gewisse  kli- 
nische Erwägungen  immerhin  für  eine  gewisse  Sonderstellung  der 
Schreckneurose  sprechen.  Zunächst  entsteht  die  Frage,  ob  wir  es 
überhaupt  mit  einer  einheitlichen  Krankheit  zu  thun  haben.  Viel- 
fach ist  darauf  hingewiesen  worden,  dass  nach  Unfällen  sehr  ver- 
schiedenartige Störungen  entstehen  können,  und  dass  man  daher 
hysterische,  neurasthenische,  hypochondrische,  melancholische  Zu- 
stände u.  dergl.  auseinanderhalten  müsse.  Das  ist  gewiss  richtig. 
Wenn  ich  auch  nicht  so  weit  gehen  möchte  wie  die  Esten,  die 
jede  beliebige  geistige  Störung  auf  einen  Schreck  zurückzuführen 
pflegen,  so  kann  doch  eine  heftige  Gemüthserschütterung  ohne 
Zweifel  einmal  eine  Melancholie,  ein  anderes  Mal  eine  hysterische 
Störung,  endlich  die  verschiedensten  Zufälle  des  Entartungsirreseins 
auslösen,  constitutionelle  Verstimmung,  Grübelsucht,  Zwangsvor- 
stellungen. 

Daraus  geht  hervor,  dass  die  Wirkung  des  Schreckes  sehr  wesent- 
lich durch  die  Eigenart  der  persönlichen  Veranlagung  bestimmt  wird, 
bei  der  auch  der  Alkoholmissbrauch  eine  gewisse  vorbereitende 
Rolle  spielen  dürfte.  So  sehen  wir  bei  grossen  Unglücksfällen  ja 
auch  nicht  alle  Betheiligten,  sondern  nur  vereinzelte  Personen  an 
einer  Schreckneurose  erkranken.  Die  gleiche  Mannigfaltigkeit,  die 
wir  in  den  Erscheinungsformen  der  krankhaften  Veranlagung  be- 
obachten, wird  uns  daher  auch  in  den  Krankheitsbildern  entgegen- 
treten, welche  hier  anscheinend  durch  die  gleiche  äussere  Ursache 
hervorgerufen  werden.  Eine  ganz  scharfe  Umgrenzung  des  Krank- 
heitsbildes der  Schreckneurose  ist  aus  diesem  Grunde  sehr  schwierig, 
vielleicht  sogar  unmöglich.  Gegenüber  der  eigentlichen  Hysterie 
möchte  ich  besonders  auf  die  Einförmigkeit  der  Krankheitszeichen 
im  einzelnen  Falle  hinweisen.  Unseren  Kranken  fehlt  durchaus 
der  sprunghafte  Wechsel  der  Erscheinungen,  die  Launenhaftigkeit, 


526 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


der  ausgeprägte  Stimmungswechsel,  die  Unternehmungslust  der 
Hysterischen;  allerdings  begegnet  uns  gerade  bei  der  männlichen 
Hysterie  vielfach  eine  ähnliche  Einförmigkeit.  Weiterhin  sind  die 
Unfallskranken  nicht  im  entferntesten  so  beeinflussbar  wie  Hyste- 
rische, auch  nicht  vorübergehend;  sie  erinnern  in  dieser  Beziehung 
an  gewisse  Formen  der  Hysterie  mit  einzelnen  sehr  fest  sitzenden 
Eigensuggestionen.  Zudem  begegnen  uns  hier  die  kennzeichnenden 
Dämmerzustände  und  Anfälle  höchstens  in  Ausnahmefällen  und  in 
sehr  geringer  Ausbildung.  Wenn  man  also  will,  kann  man  hier  von 
einer  besonderen  Form  der  Hysterie  sprechen,  die  nach  Ursache 
und  klinischem  Verhalten  durch  das  zwingende  Auftreten  einer 
ganz  bestimmten  Eigensuggestion  gekennzeichnet  ist. 

Mit  den  verschiedenen  Formen  des  Entartungsirreseins  finden  sich 
zahlreiche  Berührungspunkte ; die  Abgrenzung  hat  namentlich  die  plötz- 
liche Entstehung  der  Störung  im  Anschlüsse  an  den  Unfall  und  den 
immerhin  günstigeren  Verlauf  zu  berücksichtigen.  Vielfach  ist  bei 
der  Würdigung  dieser  Krankheitszustände  die  Vermuthung  aufge- 
taucht, dass  doch  unter  Umständen  durch  Erschütterungen  feinere 
Veränderungen  in  der  Hirnrinde  zu  Stande  kommen  könnten.  In 
solchen  Fällen  würde  natürlich  von  einer  psychischen  Entstehungs- 
weise und  von  einer  Zugehörigkeit  zur  Hysterie  nicht  mehr  die  Rede 
sein.  Die  Versuche  an  Thieren  scheinen  in  der  That  darauf  hinzu- 
deuten, dass  mechanische  Erschütterungen  des  Kopfes  auch  ohne 
gröbere  Verletzungen  bestimmte  Veränderungen  an  den  Nerven- 
zellen herbeiführen  können;  von  manchen  Forschern  w-ird  im  Hin- 
blicke auf  die  vasomotorischen  Störungen  bei  unseren  Kranken  na- 
mentlich auch  an  feinere  Gefässveränderungen  gedacht.  Wir  sind 
heute  noch  nicht  im  Stande,  die  hier  auftauchenden  Fragen  mit 
Sicherheit  zu  beantworten;  immerhin  werden  wir  in  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  von  Fällen  wol  mit  einer  psychischen  Ent- 
stehungsweise der  Krankheitserscheinungen  zu  rechnen  haben.  Das 
Irresein  nach  wirklichen  Kopfverletzungen  wird  sich  durch  die 
Zeichen  einer  schweren  Hirnerschütterung,  Verworrenheit,  Des- 
orientirtheit,  durch  das  Auftreten  von  cerebralen  Lähmungen,  epi- 
leptischen Anfällen,  aphasischen  Störungen  und  namentlich  durch 
den  Nachweis  einer  stärker  oder  schwächer  hervortretenden  psychi- 
schen Schwäche  von  den  Krankheitsbildern  mit  rein  psychischer 
Entstehungsweise  unterscheiden  lassen.  Dabei  ist  es  aber  sehr  wol 


Schreckneurose. 


527 


möglich,  dass  sich  im  einzelnen  Falle  einmal  beide  Gruppen  von 
Krankheitszeichen  mit  einander  mischen. 

Die  grössten  Meinungsverschiedenheiten  sind  über  die  Häufig- 
keit und  den  Nachweis  der  Verstellung  entstanden,  eine  Frage, 
die  im  Hinblicke  auf  die  Unfallsgesetzgebung  sehr  grosse  prak- 
tische Bedeutung  besitzt.  Leider  haben  sich,  wie  das  in  der  Natur 
der  Sache  liegt,  alle  bisher  angeführten  „objectiven“  Zeichen  des 
Leidens,  die  Gesichtsfeldeinschränkung,  die  Pulsbeschleunigung,  die 
traumatische  Muskelreaction,  die  Herabsetzung  der  galvanischen  Er- 
regbarkeit, die  Steigerung  der  Reflexe,  als  praktisch  wenig  brauchbar 
erwiesen,  um  einen  zuverlässigen  Beweis  für  das  Bestehen  des 
psychischen  Leidens  zu  erbringen.  Wie  ich  glaube,  ist  indessen 
die  Gefahr  einer  Täuschung  wirklich  sachverständiger  Aerzte  viel- 
fach bedeutend  überschätzt  worden.  Wir  stehen  der  Neigung  zur 
Uebertreibung  und  zur  Erfindung  seltsamer  Krankheitserscheinungen 
ja  häufig  genug  auch  bei  der  einfachen  Hysterie  gegenüber.  Hier 
wie  dort  sind  alle  Einzelvorschriften  für  die  „Entlarvung“  von  Simu- 
lanten nahezu  werthlos;  das  Massgebende  ist  überall  die  Ueberein- 
stimmung  des  klinischen  Gesam mtbildes  mit  einer  der  bekannten 
Erscheinungsformen  der  krankhaften  Veranlagung.  Leider  ist  aller- 
dings das  Verständniss  weiter  ärztlicher  Kreise  für  psychische  Krank- 
heitsbilder noch  ein  sehr  geringes. 

Nicht  selten  giebt  übrigens  die  bequeme  Diagnose  der  „trau- 
matischen Neurose“  den  Anlass  zum  Uebersehen  wichtiger  Krank- 
heitszeichen. Namentlich  beginnende  Paralysen  werden  bis- 
weilen unter  jenen  Sammelbegriff  untergebracht.  So  behandelte 
ich  einen  Kranken,  dessen  Beschwerden  Monate  lang  mit  einem 
Falle  auf  das  Gesäss  in  ursächliche  Verbindung  gebracht  wurden, 
bis  ich  vor  dem  Schiedsgerichte  nach  weisen  konnte,  dass  hier 
nicht  die  traumatische  „Neurose“  allmählich  in  „Psychose“  über- 
gegangen sei,  wie  angenommen  worden  war,  sondern  dass  es 
sich  einfach  um  die  Entwicklung  einer  progressiven  Paralyse 
handelte,  welche  mit  dem  auch  an  sich  geringfügigen  Unfälle 
in  gar  keiner  Beziehung  stand.  Neuerdings  haben  wir  in  einigen 
Fällen  versucht,  gewisse  Beschwerden  der  Kranken  mit  Hülfe  psycho- 
logischer Versuche  genauer  zu  prüfen.  Wir  kennen  jetzt  eine  ganze 
Reihe  von  Verfahren,  die  uns  gestatten,  z.  B.  über  die  Auffassungs- 
fähigkeit, die  Rechengeschwindigkeit,  die  Uebungsfähigkeit  und 


528 


XI.  Die  allgemeinen  Neurosen. 


namentlich  die  Ermüdbarkeit  zahlenmässige  Werthe  zu  gewinnen. 
In  den  zahlreichen  Erfahrungen,  die  schon  von  gesunden  Personen 
verschiedensten  Bildungsgrades  über  diese  Punkte  vorliegen,  be- 
sitzen wir  einen  recht  brauchbaren  Maassstab  zur  Beurtheilung  der 
von  ünfallskranken  gelieferten  Zahlen.  Zugleich  aber  dürfte  es 
selbst  für  denjenigen,  der  in  solche  Untersuchungen  auf  das  ge- 
naueste eingeweiht  ist,  kaum  möglich  sein,  willkürlich  die  Werthe 
zu  beeinflussen,  ohne  dass  grobe  Unregelmässigkeiten  in  die  hier 
überall  herrschende  feine  Gesetzmässigkeit  hineingetragen  würden. 
Wir  sind  daher,  wie  ich  glaube,  auf  diesem  Gebiete  in  der  Lage, 
jede  absichtliche  Täuschung  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  aus  den 
Ergebnissen  des  Versuches  zu  erschliessen.  Die  wenigen  bisher  an- 
gestellten  Prüfungen  haben  mir  diese  Vermuthung  durchaus  bestätigt 
Die  Behandlung  der  Schreckneurose  hätte  vor  allem  den 
Kampf  um  die  Rente  möglichst  einzuschränken.  Man  hat  nicht 
selten  gesehen,  dass  mit  der  Gewährung  der  Entschädigung  das 
Leiden  sich  rasch  besserte,  eine  Erfahrung,  die  natürlich  nicht  für 
die  Annahme  von  Verstellung  ins  Feld  geführt  werden  darf.  Jolly 
hat  empfohlen,  den  Verletzten  in  möglichst  weitem  Umfange  eine 
schleunige  Kapitalabfindung  zukommen  zu  lassen,  damit  sie  nament- 
lich über  die  erste  schwere  Zeit  ohne  drückende  Sorge  hinweg- 
kommen, späterhin  aber  dem  Kampfe  entrückt  sind  und  kein  Inter- 
esse mehr  an  der  Aufrechterhaltung  ihrer  Hülfsbedürftigkeit  haben. 
Das  wichtigste  Heilmittel  in  allen  diesen  Fällen  ist  ohne  Zweifel  die 
Beschäftigung,  welcher  der  Kranke  durch  den  Kampf  um  die  Rente 
geradezu  entzogen  wird.  Man  hat  daher  gesehen,  dass  dort,  wo  die 
No th wendigkeit  der  Weiterarbeit  gebieterisch  an  die  Kranken  heran- 
tritt, die  Folgen  des  Unfalls  verhältnissmässig  rasch  überwunden 
werden.  Vielleicht  sind  neben  den  angeführten  gesetzgeberischen 
Massregeln  die  Nervenheilanstalten  der  Zukunft  mit  ihrer  Erziehung 
zur  Arbeit  ganz  besonders  berufen,  die  Willensschwäche  und  Mut- 
losigkeit unserer  Kranken  zu  bekämpfen.  Dass  man  im  übrigen  mit 
allen  möglichen  kräftigenden  oder  beruhigenden  Mitteln  Heilerfolge 
erzielen  kann,  liegt  auf  der  Hand.  Es  können  daher  Bäder  wie 
Massage,  Gymnastik,  elektrische  Behandlung,  hypnotische  Suggestion, 
Bromsalze,  Eisen,  Ernährungs-  und  Luftcuren  im  einzelnen  Falle 
von  Nutzen  sein. 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 

Bei  den  psychopathischen  Zuständen  bildet  eine  dauernd 
krankhafte  Verarbeitung  der  Lebensreize  den  wesentlichen 
Inhalt  des  gesammten  Krankheitsbildes.  Wir  haben  es  durchweg 
mit  krankhaft  angelegten  Persönlichkeiten  zu  thun,  deren  Eigen- 
tümlichkeiten nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  aus  der 
Gesundheitsbreite  heraustreten  können.  Gemeinsam  ist  denselben 
die  krankhafte  Unzweckmässigkeit  des  Denkens,  Fuhlens  oder  Wol- 
lens  während  des  ganzen  Lebens.  Zugleich  fällt  uns  überall  die 
Mischung  von  gesunden  mit  krankhaften  Zügen,  der  Mangel  an  Ein- 
heitlichkeit im  Seelenleben  auf,  den  wir  früher  bereits  als  Kenn- 
zeichen der  krankhaften  Veranlagung  erwähnt  haben.  Namentlich 
sind  es  Widersprüche  zwischen  der  Klarheit  und  Folgerichtigkeit  des 
Denkens  einerseits,  unvermittelten  Stimmungsschwankungen  und  Ab- 
sonderlichkeiten des  Handelns  andererseits,  welche  den  Eindruck 
des  Unausgeglichenen,  Verschrobenen  erwecken. 

Wenn  irgendwo,  so  ist  hier  Berechtigung,  von  einer  „Entartung“ 
zu  sprechen.  Man  hat  daher  gerade  diese  Gruppe  von  Zuständen 
mit  dem  Namen  des  Entartungsirreseins  im  engeren  Sinne  be- 
legt. Im  weiteren  Sinne  freilich  umfasst  jener  Begriff  noch  eine 
Reihe  von  anderen  Geistesstörungen,  die  wir  aus  krankhafter  Ver- 
anlagung hervorgehen  sehen,  namentlich  die  allgemeinen  Neurosen, 
das  manisch-depressive  Irresein,  gewisse  Formen  des  Schwachsinns 
und  vielleicht  auch  die  Paranoia. 

Sehr  vielfach  weist  uns  schon  die  körperliche  Anlage  auf  das 
Bestehen  einer  Entartung  hin.  Wir  finden  Zurückbleiben  der  ge- 
sammten Körperentwicklung  auf  kindlicher  Stufe,  auffallend  jugend- 
liches oder  frühzeitig  gealtertes  Aussehen,  örtliche  und  allgemeine 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aofl.  n.  Band.  34 


530 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


Wachsthumshemmungen  des  Gehirns  und  Schädels,  schiefes  Gesicht, 
abnorme  Zahn-  und  Kieferstellung,  Missbildungen  aller  Art  an  Ohren. 
Gaumen,  Geschlechtstheilen,  Händen.  Seltener  sind  die  Spuren  über- 
standener Gehirnkrankheiten.  Die  klinischen  Gestaltungen,  in  denen 
uns  das  Entartungsirresein  entgegentritt,  sind  trotz  gewisser  gemein- 
samer Grundzüge  ausserordentlich  mannigfache.  Wir  wollen  uns 
indessen  hier  einstweilen  damit  begnügen,  die  constitutioneile 
Verstimmung,  das  Zwangsirresein,  das  impulsive  Irresein 
und  die  contra  re  Sexualempfindung  auseinanderzuhalten.  Die 
ersten  beiden  Formen  pflegt  man  auch  wol  unter  der  Bezeichnung 
der  angeborenen  Neurasthenie*)  zusammenzufassen. 

In  ihren  leichtesten  Andeutungen  gehen  diese  Krankheitszu- 
stände allmählich  in  jene  mannigfaltigen  kleinen  Unvollkommen- 
heiten der  persönlichen  Veranlagung  über,  welche  von  Koch**) 
unter  dem  Namen  der  „angeborenen,  dauernden  psychopathischen 
Minderwerthigkeiten“  beschrieben  worden  sind.  Dieselben  bilden 
ein  grosses  und  ungemein  reiches  Zwischengebiet  zwischen  dem 
zweifellosen  Irresein  und  der  Gesundheitsbreite.  Alle  die  verschie- 
denen krankhaften  Züge,  welche  dem  Entartungsirresein  im  engeren 
oder  weiteren  Sinne  eigenthümlich  sind,  können  sich  in  schwächerer 
Ausprägung  einzeln  oder  gemischt  bei  sonst  rüstigen,  leistungsfähigen, 
ja  hochentwickelten  Persönlichkeiten  wiederfinden.  Wir  sehen  daher 
in  diesen  Zuständen  vielfach,  wie  die  Entartung  unmerklich  auch 
im  kräftigen  Stamme  ihre  Wirkung  entfaltet;  wir  sehen  aber  wol 
auch  eben  so  oft,  wie  das  gesunde  Leben  allmählich  bis  auf  die 
letzten  unerheblichen  Spuren  die  krankhafte  Entwicklung  früherer 
Geschlechter  zu  überwinden  vermag. 


A.  Die  constitutiouelle  Verstimmung. 

Die  constitutioneile  Verstimmung  ist  gekennzeichnet  durch  eine 
andauernd  trübe  Gefühlsbetonung  aller  Lebenserfahrungen. 
Im  Bereiche  der  Verstandesthätigkeit  pflegt  meist  keine  auffallendere 


*)  Saury,  etude  clinique  sur  la  folie  bereditaire  (les  degeneres).  lS8fi; 
Binswanger,  Die  Pathologie  und  Therapie  der  Neurasthenie.  189(3;  v.  Krafft- 
Ebing,  Nervosität  und  neurasthenische  Zustände.  1895. 

**)  Koch,  die  psychopathischen  Minderwerthigkeiten.  1893. 


Constitution  eile  Verstimmung. 


531 


Störung  zu  bestehen.  Einzelne  Kranke  sind  sogar  sehr  begabt, 
während  in  anderen  Fällen  von  Jugend  auf  die  geistige  Entwicklung 
etwas  zurückgeblieben  ist.  Kegelruässig  aber  scheint  grosse  Ermüd- 
barkeit vorhanden  zu  sein.  Die  Kranken  sind  vielleicht  im  Stande, 
mit  Scharfsinn  und  Geschick  eine  Arbeit  anzugreifen,  aber  sie  er- 
lahmen rasch,  müssen  immer  wieder  aussetzen,  werden  von  Ab- 
spannung, Kopfdruck,  unangenehmen  Empfindungen,  innerer  Er- 
regung, Schlaflosigkeit  befallen,  sobald  sie  sich  stärker  anstrengen. 
Sie  sind  daher  öfters  gezwungen,  mit  vielfachen  Unterbrechungen 
zu  arbeiten,  besondere  Vorsichtsmassregeln  einzuhalten,  ihr  Leben 
peinlich  regelmässig  einzutheilen,  vermögen  aber  auf  diese  Weise 
bisweilen  trotz  aller  inneren  Hindernisse  auch  auf  geistigem  Gebiete 
Genügendes  und  selbst  Bedeutendes  zu  leisten.  Namentlich  der 
Zwang  der  Yerhältnisse  kann  die  sonst  unfehlbar  auftretenden  Hem- 
mungen durchbrechen.  Ich  kannte  einen  geistig  sehr  hochstehenden 
Gelehrten,  der  schon  nach  wenigen  Minuten  Lesens  oder  gleichgül- 
tigen Gespräches  von  den  peinlichsten  Empfindungen  im  Kopfe 
befallen  wurde,  aber  recht  wol  im  Stande  war,  seine  Vorlesung 
zu  halten  oder  sonstige  wirklich  nothwendige  geistige  Arbeit  zu 
leisten. 

Die  Ablenkbarkeit  der  Kranken  ist  meist  erhöht.  Nicht  nur 
genügen  geringfügige  äussere  Störungen,  um  ihnen  das  Festhalten 
der  Gedanken  und  die  planmässige  Arbeit  sehr  zu  erschweren,  son- 
dern es  drängen  sich  auch  leicht  allerlei  fremde  Vorstellungen  da- 
zwischen, die  ihre  Aufmerksamkeit  abziehen,  sie  in  ihrer  Thätigkeit 
unsicher  machen  und  sie  öfters  zwingen,  die  gleiche  Arbeit  mehr- 
fach zu  wiederholen.  Oefters  besteht  die  Neigung  zu  unfruchtbaren, 
namentlich  hypochondrischen  Grübeleien.  Das  Bewusstsein  der 
Kranken  ist  immer  völlig  klar,  der  Zusammenhang  ihres  Denkens 
in  keiner  Weise  gestört;  sie  besitzen  ein  gutes  Verständniss  für  das 
Wesen  ihrer  Krankheit,  oft  auch  ein  äusserst  peinliches  Gefühl  der 
Behinderung  durch  die  eigene  Unzulänglichkeit. 

Die  Stimmung  ist  meist  anhaltend  gedrückt  und  muthlos.  Die 
Kranken  haben  von  Jugend  auf  eine  besondere  Empfänglichkeit  für 
die  Sorgen,  Miihsale  und  Enttäuschungen  des  Lebens.  Sie  nehmen 
alles  schwer  und  empfinden  bei  jedem  Ereignisse  die  kleinen  Un- 
annehmlichkeiten weit  stärker,  als  die  erhebenden,  befriedigenden 
Seiten  des  unbekümmerten,  frohen  Genusses,  der  rückhaltlosen  Hin- 

34* 


532 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


gäbe  an  die  Gegenwart;  jeder  Augenblick  der  Freude  wird  ihnen 
durch  die  Erinnerung  an  trübe  Stunden,  durch  Selbstvorwürfe  und 
noch  mehr  durch  grell  ausgemalte  Befürchtungen  für  die  Zukunft 
vergällt.  Manche  Kranke  können  äusserlich  ganz  ruhig  erscheinen 
und  offenbaren  ihre  unglückliche  Gemüthsverfassung,  ihre  Selbst- 
quälereien nur  ihren  nächsten  Vertrauten  oder  dem  Arzte;  sie  sind 
bei  äusserer  Anregung  vielleicht  ganz  heiter,  hinreissend  liebens- 
würdig und  selbst  iibermüthig,  um  sich  dann,  sich  selbst  überlassen, 
mit  einer  gewissen  Befriedigung  wieder  in  das  Elend  ihres  Lebens 
hineinzugrübeln.  Jede  Aufgabe  steht  vor  ihnen  wie  ein  Berg;  das 
Leben,  die  Thätigkeit  ist  eine  Last,  die  sie  mit  pflichtmässiger  Selbst- 
verleugnung gewohnheitsmässig  tragen,  ohne  durch  die  Lust  am 
Dasein,  die  Freude  am  Schaffen  entschädigt  zu  werden.  Die  Kranken 
haben  kein  Vertrauen  zu  ihrer  eigenen  Kraft;  sie  verzweifeln  bei 
jeder  Aufgabe  und  werden  ungemein  leicht  ängstlich  und  verzagt, 
fühlen  sich  unnütz  auf  der  Welt,  zu  allem  untauglich,  nervös,  krank, 
fürchten  den  Ausbruch  eines  schweren  Leidens,  insbesondere  einer 
Geistesstörung,  einer  Hirnerkrankung.  Sie  sind  misstrauisch,  be- 
trachten sich  als  Stiefkinder  der  Natur,  werden  von  ihrer  Umgebung 
nicht  verstanden  und  beschäftigen  sich  vielfach  gern  mit  Todesge- 
danken, sogar  schon  in  den  Kinderjahren. 

Gewisse  Kranke  werden  dauernd  von  dem  Gefühle  gepeinigt, 
als  hätten  sie  irgend  etwas  nicht  recht  gemacht,  als  hätten  sie  sich 
etwas  vorzuwerfen.  Bisweilen  sind  es  wirkliche,  aber  lange  zurück- 
liegende oder  ganz  unbedeutende  Vorkommnisse,  an  die  sich  diese 
quälende  Unsicherheit  anknüpft.  Einer  meiner  Kranken  konnte 
mit  dem  Gedanken  an  eine  vor  Jahren  begangene  sexuelle  Verfeh- 
lung durchaus  nicht  fertig  werden;  ein  anderer  vermochte  die  Er- 
innerung daran  nicht  zu  überwinden,  dass  ihm  einmal  seine  Haus- 
wirthin  gesagt  habe,  er  werde  nie  sein  Examen  bestehen.  Obgleich 
ihm  letzteres  ohne  besondere  Schwierigkeit  geglückt  war,  verfolgte 
ihn  dauernd  der  Gedanke,  dass  er  ein  Waschlappen  gewesen  sei, 
sich  so  etwas  sagen  zu  lassen;  ihm  sehe  jeder  an,  dass  er  kein 
rechter  Kerl  sei,  solche  Dinge  auf  sich  sitzen  lasse.  Immer  wieder 
trieb  es  ihn,  Schritte  zu  thun,  um  auf  irgend  eine  Weise  sich  noch 
nach  vielen  Jahren  Genugthuung  zu  verschaffen  und  seine  vermeint- 
lich geschädigte  Ehre  wieder  herzustellen. 

Meist  wird  hier  das  Gefühlsleben  von  einer  weichlichen  Em- 


Constitutionelle  Verstimmung. 


533 


pfindsamkeit  beherrscht,  oft  mit  ausgeprägten,  künstlerischen  und 
schöngeistigen  Neigungen  und  Fähigkeiten.  Die  gesammte  Lebens- 
führung der  Kranken  wird  durch  ihr  Leiden  erheblich  beeinflusst. 
Sie  sind  unentschlossen,  langsam,  gehemmt  durch  ihre  trübe  Lebens- 
auffassung, bald  eigensinnig  und  hartköpfig,  bald  wetterwendisch  und 
bestimmbar;  jede  Regung  von  Leichtherzigkeit  oder  Wagemuth  wird 
erstickt  durch  das  Zurückschrecken  vor  Verantwortung,  durch  die 
Furcht  vor  den  entferntesten  Möglichkeiten.  Quälerische  Genauig- 
keit und  Pünktlichkeit  auch  in  Kleinigkeiten,  peinliches  Abwägen 
aller  Umstände  und  Folgen,  strengste  Vermeidung  aller  ungewöhn- 
lichen oder  gar  gefährlichen  Handlungen,  Selbstbeschränkung,  Un- 
freiheit, Einförmigkeit  pflegen  das  Handeln  der  Kranken  zu  kenn- 
zeichnen. Damit  kann  sich  indessen  hie  und  da  plötzliche  Leiden- 
schaftlichkeit und  Unbesonnenheit  verbinden.  Auf  der  anderen  Seite 
entwickeln  sich  nicht  selten  Schrullen  und  Eigenheiten,  die  gewöhn- 
lich in  irgend  einer  Beziehung  zu  der  Verstimmung  stehen  und 
Schutzmassregeln  bedeuten,  durch  welche  sich  der  Kranke  über  die 
inneren  Schwierigkeiten  hinwegzuhelfen  sucht.  Manche  Kranke 
spielen  fortwährend  mit  Selbstmordgedanken  und  sind  immer  darauf 
vorbereitet,  beim  nächsten  Anlasse  ihr  Leben  fortzuwerfen.  Wenn 
derartige  Aeusserungen  auch  in  der  Regel  nicht  sehr  ernst  zu  neh- 
men sind,  so  kommen  doch  Selbstmorde  aus  geringfügigem  Anlasse  bei 
diesen  krankhaft  haltlosen  Persönlichkeiten  immer  noch  oft  genug  vor. 

Vielfach  haben  die  Kranken  an  allerlei  nervösen  Beschwerden 
zu  leiden,  die  ihnen  einen  Theil  ihrer  Arbeitsfähigkeit  rauben, 
Druck  oder  Schmerzen  im  Kopfe,  unangenehmen  Empfindungen 
n den  verschiedensten  Theilen  des  Körpers,  Wallungen,  Pul- 
siren,  Vibriren;  nicht  selten  werden  einzelne  absonderliche  Be- 
wegungserscheinungen beobachtet,  Grimmassiren , choreatische  Un- 
ruhe, zwangsmässiges  Belecken  des  Gaumens,  Schnalzen  mit  der 
Zunge,  plötzliches  Schnüffeln  oder  Gautzen,  Muskelzuckungen  und 
ähnl.  Der  Schlaf  ist  meist  sehr  gestört,  zeitweise  bis  zu  fast  völliger 
Schlaflosigkeit,  weniger  die  Esslust;  die  Verdauung  pflegt  träge 
zu  sein. 

Auf  der  Grundlage  der  dauernden  „nervösen“  Verstimmung  können 
sich,  wie  cs  scheint,  gelegentlich  auch  länger  dauernde  Depressions- 
zustände ausgeprägterer  Art  entwickeln,  namentlich  im  Anschlüsse 
an  eine  heftige  Gemüthsbewegung,  einen  Schreck,  einen  Unglücksfall. 


534 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


Diese  Zustände  erinnern  bisweilen  sehr  an  die  Schreckneurose. 
Es  handelt  sich  um  ganz  leichte,  einfache  ängstliche  Verstimmungen 
ohne  Wahnvorstellungen  oder  Sinnestäuschungen  bei  vollkommener 
Besonnenheit  und  Krankheitseinsicht.  Die  Kranken  sind  niederge- 
schlagen, verzagt,  kleinmüthig,  haben  den  Schrecken  und  die  Angst 
in  den  Gliedern,  müssen  immer  an  ihren  Zustand  und  den  Anlass 
des  Leidens  denken,  können  sich  der  trüben  Gedanken  nicht  er- 
wehren, die  in  ihnen  aufsteigen.  Dieselben  werden  jedoch  nicht  zu 
eigentlichen  Wahnideen.  „Es  ist  mir,  als  ob  ich  an  allem  Schuld 
wäre,  auf  das  Schaffet  müsste“;  „ich  meine  immer,  ich  könnt’  nie 
wieder  gesund  werden  “,  sagen  solche  Kranke.  Auch  religiöse  Grübe- 
leien, Befürchtungen  für  die  Zukunft,  die  oft  in  peinlichen  Einzel- 
heiten ausgemalt  werden,  Selbstmordantriebe  stellen  sich  ein.  Den- 
noch kommt  es  nur  verhältnissmässig  selten  zu  wirklich  ernsthaften 
Selbstmordversuchen;  bisweilen  bitten  die  Kranken  selbst  um  Ueber- 
wachung,  um  vor  ihren  finsteren  Anwandlungen  geschützt  zu  sein. 
Regelmässig  besteht  ein  ausgeprägtes  Krankheitsgefühl  und  ein  ent- 
schiedenes Trostbedürfniss.  Bisweilen  hat  es  den  Anschein,  als  ob 
die  Beschwerden  bei  besonderem  Zuspruche  stärker  hervortreten- 
„Sie  ist  ganz  munter,  so  lange  sie  nicht  in  Verkehr  kommt  mit 
solchen  Frauen,  welche  auch  glauben,  krank  zu  sein,“  schrieb  uns 
der  Mann  einer  Kranken.  Häufig  sind  Klagen  über  Druck  und 
Beklemmung  in  der  Herzgegend,  Zusammenschnüren  im  Halse, 
dumpfe  Beengung  im  Kopfe,  Unruhe  im  Leibe.  Die  Arbeitsfähig- 
keit der  Kranken  ist  gering,  ihre  Esslust  meist  leidlich,  wenn  sie 
auch  keinen  „rechten  Genuss“  vom  Essen  haben,  die  Verdauung 
träge.  Der  Schlaf  pflegt  schlecht  zu  sein;  das  Körpergewicht  sinkt 
langsam. 

Der  Verlauf  dieser  Störung  ist  meist  ein  sehr  schleppender. 
Der  Zustand  zeigt  ganz  unregelmässige  Schwankungen,  bleibt  aber 
innerhalb  gewisser  Grenzen  ausserordentlich  einförmig.  Die  Dauer 
kann  eine  sehr  lauge  sein,  sich  selbst  über  eine  Reihe  von  Jahren 
erstrecken.  Der  erste  Anfall  tritt  nicht  selten  schon  um  das  20.  Le- 
bensjahr hervor.  Anfangs  pflegen  sich  zwischen  die  Anfälle  längere 
Zeiten  verhältnissmässigen  Wohlbefindens  einzuschieben;  späterhin 
aber  zeigt  das  Leiden  grosse  Neigung  zu  einer  Art  Versumpfung, 
insofern  die  Nachlässe  immer  unvollständiger  werden,  so  dass  sich 
schliesslich  ein  dauernder  krankhafter  Zustand  mit  geringen  Schwan- 


Constitutionelle  Verstimmung. 


535 


kungen  herausbilden  kann.  Auch  in  ihren  guten  Zeiten  jedoch 
bieten  die  Kranken  regelmässig  die  körperlichen  und  psychischen 
Zeichen  der  Entartung  dar.  Sie  werden  vielfach  als  eigenthüm- 
liche  Menschen  geschildert,  als  still,  scheu,  verdriesslich,  un- 
freundlich, stumpfsinnig,  geizig.  „Ich  kann  sagen,  ich  bin  in 
der  Angst  geboren,“  sagte  ein  solcher  Kranker  mit  riesigem 
Schädel. 

Ausser  den  geschilderten,  häufigsten  Fällen  mit  vorwiegend 
trauriger  Verstimmung  begegnen  uns  noch  eine  Reihe  weiterer 
Formen  des  Entartungsirreseins,  bei  denen  andere  Färbungen 
der  Gefühlsregungen  in  krankhaftem  Maasse  das  Seelenleben 
bestimmen.  Ihnen  ist  gemeinsam  einerseits  die  grosse  Beeinfluss- 
barkeit  der  gemüthlichen  Vorgänge  durch  geringfügige  Anlässe, 
andererseits  das  unvermittelte  Auftauchen  gewisser  Stimmungen 
ohne  erkennbaren  Anstoss,  aber  auch  ohne  die  Periodicität  der 
Epileptiker. 

Hauptsächlich  haben  wir  einer  Gruppe  von  Fällen  zu  ge- 
denken, bei  denen  das  Gefühlsleben  dauernd  von  einer  missmuthig- 
gereizten,  gallig- verbitterten  Stimmung  beherrscht  wird.  Regel- 
mässig besteht  dabei  ein  stark  erhöhtes  Selbstgefühl,  oft  auch 
schroffe  Selbstsucht.  Die  Kranken  sind  leicht  beleidigt,  empfindlich, 
schwer  zu  behandeln,  misstrauisch,  nörgelnd,  streitsüchtig  und  un- 
zufrieden; sie  sind  unbotmässig  gegen  die  Obrigkeit,  rechthaberisch, 
wollen  alles  besser  wissen  und  verwickeln  sich  nicht  selten  aus 
geringfügigstem  Anlasse  in  zahllose  Streitigkeiten.  Sie  werden  darum 
leicht  für  Querulanten  gehalten,  doch  fehlt  ihnen  gänzlich  die  wahn- 
hafte Verarbeitung  ihrer  Erfahrungen  sowie  die  einheitliche  Ent- 
wicklung ihrer  Klagen  aus  einem  bestimmten  Anlasse  heraus.  Immer^ 
hin  sind  auch  diese  Kranken  sehr  leidenschaftlich;  zeitweise  kommt 
es  zu  heftigen  Aufregungen,  maasslosen  Wuthausbrüchen,  Schimpfe- 
reien und  selbst  Gewaltthaten.  Dabei  fehlt  der  Stimmung  ganz  die 
Gleichmässigkeit  und  Einheitlichkeit.  Die  Kranken  schwanken  oft 
haltlos  zwischen  Missmuth,  feindseliger  Verbitterung,  schwächlicher 
Verzagtheit,  reuiger  Zerknirschung  und  verzweifelter  Selbstquälerei. 
In  ihrem  Handeln  sind  sie  unstet,  bald  leicht  bestimmbar,  bald 
planlos  eigensinnig.  Oft  besteht  krankhafte  Empfindlichkeit  gegen 
den  Alkohol. 

Bei  einzelnen  Kranken  tritt  ganz  besonders  eine  krankhafte 


536 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


Zornmüthigkeit  in  den  Vordergrund.  Es  kommt  zu  blinden 
Wuthanfällen  von  ausserordentlicher  Heftigkeit  mit  völligem  Verluste 
jeder  Selbstbeherrschung,  namentlich  unter  dem  Einflüsse  des  Alko- 
hols. Ich  bin  jedoch  nicht  sicher,  ob  wir  es  hier  nicht  mit  unaus- 
gebildeten  Fällen  von  Epilepsie  zu  thun  haben,  mit  Formen,  bei 
denen  vielleicht  nur  die  reizbaren  Verstimmungen  entwickelt 
sind,  während  alle  anderen  Aeusserungen  der  Epilepsie  fehlen. 
Manche  Erfahrungen  scheinen  mir  für  diese  Auffassung  zu 
sprechen. 

Das  Krankheitsbild  der  constitutionellen  Verstimmung  in  seinen 
verschiedenen  Färbungen  und  Abstufungen  ist  nichts,  als  eine  be- 
sondere Form  der  psychopathischen  Entartung.  Es  zeigt  daher  Ver- 
wandtschaft mit  manchen  anderen  Gestaltungen  des  Entartungsirre- 
seins, für  die  es  nicht  selten  die  allgemeinere  Grundlage  bildet 
Auch  zur  Hysterie  führen  Uebergänge,  doch  fehlt  den  hier  be- 
sprochenen Zuständen  ganz  der  schillernde  Wechsel  in  Gemüths- 
verfassung  und  sonstigen  Krankheitserscheinungen,  der  die  Hysterie 
auszeichnet.  Grösser  ist  die  Aehnlichkeit  mit  der  Schreckneurose, 
wenn  wir  von  der  Entstehungsweise  und  dem  stärkeren  Ueberwiegen 
der  hypochondrischen  Vorstellungen  bei  dieser  letzteren  absehen. 
Die  anfallsweisen  Verschlimmerungen  der  constitutionellen  Verstim- 
mung erinnern  unmittelbar  an  gewisse  Formen  des  manisch-depres- 
siven Irreseins.  Es  ist  vielleicht  möglich,  dass  hier  wirkliche  Ueber- 
gänge Vorkommen.  Immerhin  spricht  für  die  Eigenart  der  hier 
geschilderten  Zustände  der  ungemein  schleppende  Verlauf  bei  sehr 
geringfügigen  Krankheitserscheinungen,  das  Fehlen  einer  eigent- 
lichen psychomotorischen  Hemmung  und  jeder  manischen  An- 
deutung. 

Zwischen  der  constitutionellen  Verstimmung  und  der  chronischen 
nervösen  Erschöpfung  bestehen  keine  scharfen  Grenzen.  Je  mehr 
die  Unzulänglichkeit  der  Veranlagung  in  jenem  Krankheitsbilde 
hervortritt,  desto  mehr  nähert  es  sich  demjenigen  des  Entartungs- 
irreseins, bei  dem  eben  schon  von  Hause  aus  die  gewöhnlichen 
Lebensreize  in  krankhafter  Weise  verarbeitet  werden.  Abgesehen 
daher  von  dem  starken  Hervortreten  krankhafter  Verstimmungen 
gegenüber  der  einfachen  Reizbarkeit  der  Ueberarbeiteten,  sehen  wir 
beim  Entartungsirresein  die  Störungen  fortbestehen,  auch  wenn  wir 
den  Kranken  Gelegenheit  zu  ausgiebigster  Erholung  gewähren. 


Constitutionelle  Verstimmung. 


537 


Bei  der  Erschöpfung  dagegen  erweisen  sich  die  Störungen  durchaus 
abhängig  von  der  Ueberanstrengung;  völliges  Ausspannen  beseitigt 
sie.  Da  bei  der  constitutione! len  Verstimmung  krankhafte  gemüth- 
liche  Schwankungen  die  Hauptrolle  spielen,  kann  gerade  angespannte 
Arbeit  durch  die  Ablenkung,  die  sie  mit  sich  bringt,  unter  Um- 
ständen eine  entschiedene  Besserung,  längeres  Nichtsthun  im  Gegen- 
theil  eine  Verschlechterung  bewirken. 

Die  Behandlung  der  constitutionellen  Verstimmung  hat  ausser 
den  allgemeinen  vorbeugenden  Massnahmen  nur  geringen  Spielraum. 
Sehr  regelmässiges  Leben,  geschützte  Verhältnisse  können  dem  Kranken 
die  Last  bedeutend  erleichtern,  während  Kämpfe  und  grosse  Ver- 
antwortlichkeit meist  ungünstig  wirken.  Andererseits  pflegt  völlige 
Ungebundenheit  seine  Beschwerden  zu  steigern,  da  er  ohne  den 
Zwang  der  Pflicht  oft  ausser  Stande  ist,  die  inneren  Hemmungen 
zu  überwinden  und  sich  die  Wohlthat  ablenkender  Thätigkeit  zu 
verschaffen.  Eigentliche  „Curen“  pflegen  nicht  selten  geradezu  schlecht 
zu  wirken.  Gerade  solche  Kranke  würden  daher  von  den  Nerven- 
heilanstalten, wie  sie  Möbius*)  empfiehlt,  besonderen  Nutzen  haben. 
Sie  bedürfen  oft  der  Arbeit,  allerdings  in  richtiger  Abmessung  und 
Auswahl;  sie  müssen  dazu  erzogen  werden,  ihre  geistigen  und  kör- 
perlichen Kräfte  in  planmässiger,  ausdauernder  Arbeit  allmählich  zu 
üben,  anstatt,  wie  sie  so  oft  zu  thun  pflegen,  zwischen  unsinniger 
Ueberarbeitung  und  wehleidigem  Müssiggange  hin  und  her  zu 
schwanken.  Mehr  als  alle  sonstigen  Heilversuche,  mit  Wasser,  Elek- 
tricität,  Massage,  Gymnastik,  mit  Arzneien  und  Reisen,  wird  ohne 
Zweifel  die  beständige  psychische  Beeinflussung  durch  den  Arzt  und 
namentlich  der  Segen  einer  genau  der  persönlichen  Leistungsfähig- 
keit angepassten , die  Kräfte  und  das  Selbstvertrauen  hebenden 
Thätigkeit  erreichen.  In  manchen  Fällen  leistet  die  hypnotische  Be- 
handlung gute  Dienste,  indem  sie  gewisse  Krankheitszeicben,  nament- 
lich Schmerzen  und  Schlaflosigkeit,  beseitigt.  Sie  muss  lange  Zeit 
fortgesetzt,  aber  auch  immer  wieder  abgebrochen  werden,  damit  der 
Kranke  es  lernt,  nach  Milderung  seiner  Beschwerden  die  letzte,  ent- 
scheidende Hülfe  bei  sich  selbst  zu  finden. 


*)  Ueber  die  Behandlung  von  Nervenkranken  und  die  Errichtung  von  Nerven- 
heilstätten.  2.  Auf!.  1897. 


538 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


B.  Das  Zwangsirresein*). 

Mit  diesem  abgekürzten  Namen  wollen  wir  diejenigen  Formen  des 
Entartungsirreseins  bezeichnen,  bei  denen  Zwangsvorstellungen 
und  Zwangsbefürchtungen  das  Krankheitsbild  beherrschen  („Anan- 
kasmus“).  Auch  hier  kann  die  Verstandesbegabung  der  Kranken 
eine  genügende  oder  sogar  vortreffliche  sein.  Sie  behalten  dauernd 
ein  ausgeprägtes  Krankheitsgefühl  und  meist  auch  ein  recht  klares 
Verständniss  für  die  Krankhaftigkeit  der  einzelnen  Störungen.  Auf 
den  ersten  Blick  kann  daher  das  Leiden,  das  von  dem  Kranken 
selbst  als  quälender  Zwang  empfunden  wird,  den  Eindruck  einer 
umgrenzten  Erkrankung  machen.  Bei  genauerer  Betrachtung  er- 
giebt  sich  jedoch,  dass  die  tieferen  Wurzeln  des  Leidens  in  der  ge- 
summten Veranlagung  des  Kranken  liegen,  dass  in  der  Regel  die 
ersten  Andeutungen  desselben  in  eine  Zeit  zurückreichen,  in  welcher 
noch  Niemand  an  die  Möglichkeit  einer  geistigen  Erkrankung  dachte. 
Regelmässig  sind  es  gemüthliche  Verstimmungen,  welche  den 
günstigen  Boden  für  das  erste  Auftreten  der  Krankheitserscheinungen 
abgeben.  Gar  nicht  selten  bieten  die  Kranken  geradezu  das  Bild 
der  im  vorigen  Abschnitte  gezeichneten  constitutionellen  Verstim- 
mung in  mehr  oder  weniger  deutlichen  Zügen  dar. 

Zunächst  kann  es  zur  Entwicklung  einfacher  Zwangsvorstellungen 
kommen,  die  sich  dem  Kranken  gegen  seinen  Willen  aufdrängen  und 
auf  diese  Weise  die  freie  Beweglichkeit  seines  Gedankenverlaufes 
beeinträchtigen.  Bisweilen  sind  dieselben  an  sich  ganz  gleichgültigen 
oder  wenigstens  nicht  aufregenden  Inhaltes;  nur  in  der  häufigen 
Wiederholung  liegt  das  Peinigende  des  Vorganges.  Ich  kannte  einen 
Arzt,  dem  sich  bei  jeder  Gelegenheit  die  Vorstellung  eines  Abtrittes 
in  quälendster  Weise  aufdrängte.  Hie  und  da  verknüpfen  sich  die 
Vorstellungen  mit  hallucinatorischen  Bildern,  die  dem  Kranken  in 
grosser  sinnlicher  Deutlichkeit  vorschweben.  Löwenfeld  berichtet 
von  einer  Kranken,  die  immer  eine  riesige  Gespensterhand  vor  sich 
sah,  von  der  sie  in  einem  Romane  gelesen  hatte.  Auch  Gerüche, 
Melodien  können  den  Kranken  in  ähnlicher  Weise  verfolgen.  Be- 
sonders peinlich  werden  solche  Vorstellungen,  wenn  sie  einen 

*)  "Westphal,  Archiv  f.  Psychiatrie,  VIII,  S.7S7;  Kaan,  Der  neurasthenische 
AngstafTect  bei  Zwangsvorstellungen  und  der  primordiale  Grübelzwang.  1893. 


Zwangsirresein. 


539 


schmutzigen,  namentlich  geschlechtlichen  Inhalt  annehmen.  So  em- 
pfinden manche  Kranke  den  Zwang,  die  Genitalgegend  der  Personen 
ihrer  Umgebung  betrachten,  sich  dieselben  nackt  in  schlüpfrigen 
Stellungen  vorzustellen.  Andere  müssen  sich  allerhand  hässliche 
Situationen  ausmalen,  oder  sie  haben  beim  Stuhlgang  das  Gefühl 
des  Beschämenden  und  Unanständigen;  sie  vermeiden  denselben 
daher  so  viel  wie  möglich,  beschränken  ihre  Nahrungsaufnahme. 

In  einer  zweiten  Gruppe  von  Fällen  tritt  der  Zwang  zum  Nach- 
denken über  bestimmte  Dinge  in  den  Vordergrund.  Besonders  gern 
knüpft  sich  derselbe  an  die  Personennamen  an  („Onomatomanie“*), 
die  schon  dem  gesunden  Gedächtnisse  häufig  genug  Schwierigkeiten 
bereiten.  Die  Kranken  fühlen  sich  genöthigt,  sich  einen  beliebigen 
Namen,  den  sie  in  der  Zeitung,  auf  einem  Schilde  gelesen,  zufällig 
gehört  haben,  ins  Gedächtniss  zurückzurufen.  Sobald  sie  sich  des- 
selben nicht  zu  entsinnen  vermögen,  grübeln  sie  tagelang,  werden 
schlaflos  und  machen  die  verzweifeltsten  Anstrengungen,  um  auf 
irgend  eine  Weise  zum  Ziele  zu  kommen.  Die  unerträgliche  Span- 
nung weicht  erst  dann,  und  zwar  ganz  plötzlich,  wenn  ihnen  der 
Name  wieder  einfällt.  Andeutungen  dieses  peinlichen  Zustandes 
sind  uns  aus  dem  gesunden  Leben  genugsam  bekannt.  Bei  dem 
Kranken  führt  derselbe  aber  dazu,  dass  er  anfängt,  sich  alle  Namen, 
die  ihm  Vorkommen,  aufzuschreiben.  So  bekritzelte  eine  meiner 
Kranken  die  ganzen  Wände  der  Abtkeilung  mit  den  Namen  ihr 
ganz  fernstehender  Personen,  um  sie  in  ihrer  Noth  jederzeit  leicht 
wiederfinden  zu  können.  Manche  Kranke  fühlen  sich  schliesslich 
gezwungen,  sich  nach  den  Namen  der  Leute  zu  erkundigen,  die 
ihnen  begegnen,  an  ihnen  vorüberfahren,  um  sie  ihren  Heften  ein- 
zuverleiben ; andere  gehen  im  Gegentheil  mit  gesenktem  Blicke  durch 
die  Strassen,  um  nicht  die  Firmenschilder  ansehen  und  die  Namen 
sich  merken  zu  müssen,  ziehen  sich  ganz  aus  dem  Verkehr  mit 
anderen  Menschen  zurück.  Auch  der  Zwang,  sich  die  Gesichter, 
Tracht  und  Haarfarbe  fremder  Personen,  bestimmte  Bilder  zu  mer- 
ken, wird  beobachtet.  Baillarger  berichtet  von  einem  Kranken, 
der  sich  bei  jeder  Frauensperson  zwangsmässig  darüber  Rechenschaft 
geben  musste,  ob  sie  hübsch  oder  hässlich  sei,  und  selbst  Reisen 
machte,  um  ein  Versäumniss  in  dieser  Beziehung  nachzuholen. 


*)  Magnan,  Psychiatrische  Vorlesungen,  Deutsch  von  Möbius,  HeftlY.  u.  V. 


540 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


Eine  sehr  ergiebige  Anknüpfung  für  das  Zwangsdenken  pflegen 
ferner  Zahlen  zu  liefern  („Arithmomanie“).  Die  Kranken  müssen 
sich  mit  der  Nummer  ihrer  Droschke,  ihres  Gastzimmers  beschäftigen, 
prüfen,  ob  und  durch  welche  Zahlen  sie  theilbar  ist;  sie  zählen 
zwangsmässig  die  Personen  einer  Tafelrunde,  die  Messer,  Teller, 
Gläser  auf  dem  Tische,  die  Bretter  auf  einer  Brücke,  die  Wieder- 
holungen des  Tapetenmusters.  Auch  von  grossen  Rechenkünstlern 
(Dahse)  wissen  wir,  dass  sie  zwangsmässig  alle  ihnen  aufstossenden 
Gegenstände,  die  Worte  eines  Trauerspiels,  die  Buchstaben  eines 
gehörten  Gedichtes  zählen,  mit  allen  ihnen  vorkommenden  Zahlen 
umfangreiche  Rechnungen  ausführen  mussten,  ohne  sich  davon  los- 
machen zu  können.  Magnan  erzählt  von  einem  Kranken,  der 
20  Kirschen  gegessen  hatte,  aber  nur  19  Kerne  auffand  und  nun  in 
der  grössten  Aufregung  alles,  auch  seine  eigenen  Ausleerungen  durch- 
suchte, bis  er  in  letzteren  endlich  den  fehlenden  Kern  gefunden 
hatte  und  damit  beruhigt  war. 

Nicht  selten  nehmen  die  Zwangsvorstellungen  die  Form  von 
Fragen  an,  die  sich  an  beliebige  Eindrücke  anknüpfen.  Schon  aus 
dem  gesunden  Leben  ist  uns  die  Neigung  einzelner  Personen  be- 
kannt, bei  jedem  Vorfall  sogleich  zu  erörtern,  wie  das  nur  so  hat 
kommen  können.  Einer  meiner  Kranken  fing  an,  über  die  Her- 
kunft einer  Neujahrskarte  nachzudenken ; dann  waren  es  gleichgül- 
tige Zeitungsnachrichten,  denen  er  „auf  den  Grund  gehen“  musste, 
was  dies  und  jenes  zu  bedeuten  habe,  woran  Dieser  und  Jener  ge- 
storben sei;  ihm  war,  „als  müsse  er  alles  wissen“.  Auf  diese  Weise 
können  in  förmlichen  „Anfällen“  massenhafte,  zwecklose,  unlösbare, 
ja  gänzlich  alberne  Fragen  auftauchen,  die  sich  der  Kranke  ver- 
geblich zu  unterdrücken  bemüht.  Der  Inhalt  dieser  Fragen  nimmt 
nicht  selten  eine  allgemeine,  metaphysische  Richtung  und  beschäftigt 
sich  namentlich  gern  mit  der  Entstehung  und  Entwicklung  der  Dinge 
(„Schöpfungsfragen“),  indem  sich  immer  eine  ganze  Kette  derselben 
aneinander  knüpft:  Was  ist  Gott?  Wie  ist  er?  Woher  ist  er  ge- 
kommen? Giebt  es  überhaupt  einen  Gott?  Wie  ist  die  Welt,  der 
Mensch  entstanden?  Einer  meiner  Kranken  empfand  namentlich, 
wenn  er  von  Hause  fort  war,  das  Bediirfniss,  „über  die  Unendlich- 
keit“ nachzudenken,  „weil  alles  so  auf  ihn  drückte“.  Bisweilen  sind 
es  auch  irgend  welche  Gegenstände  der  zufälligen  Umgebung,  auf 
die  der  Blick  gerade  fällt,  welche  den  Anknüpfungspunkt  für  die 


Zwangsirresein. 


541 


Zwangsfragen  abgeben:  Warum  steht  dieser  Stuhl  so  und  nicht  so? 
Warum  nennt  man  ihn  gerade  Stuhl?  Warum  hat  er  vier  Beine, 
nicht  mehr,  nicht  weniger?  Warum  ist  er  braun,  warum  nicht  höher, 
nicht  niedriger?  Man  bezeichnet  diese  Form  der  Störung  gewöhn- 
lich mit  dem  Namen  der  Grübelsucht.*)  Grashey  hat  daran  er- 
innert, dass  ein  ähnlicher  Fragedrang  auf  gewissen  Entwicklungsstufen 
des  kindlichen  Seelenlebens  als  Ausdruck  der  ungesättigten  Wiss- 
begierde aufzutreten  pflegt.  Die  eigentliche  Grundlage  des  krankhaften 
Denkzwanges  sind  jedoch  Angstgefühle,  wenn  sie  auch  zunächst 
nur  unklar  ins  Bewusstsein  treten.  Sie  werden  aber  sofort  deutlich, 
wenn  der  Kranke  versucht,  dem  Zwange  zu  widerstehen.  Er  geräth 
dann  in  lebhafte  Erregung  und  kommt  meist  nicht  früher  wieder 
zur  Ruhe,  bis  er  nachgegeben  hat,  ja,  sein  Widerstand  pflegt  sogar 
die  Macht  des  Zwanges  noch  zu  erhöhen. 

Diese  Erfahrungen  zeigen  uns  die  Verwandtschaft  des  Denk- 
zwanges mit  den  sogenannten  „Phobien“,  den  Angstzuständen, 
die  sich  bei  unseren  Kranken  an  bestimmte  Eindrücke,  Handlungen 
oder  Absichten  anzuknüpfen  pflegen.  Sie  sind  verbunden  mit 
dem  allgemeinen  Gedanken  an  irgend  eine  grosse  Gefahr,  trotzdem 
der  Kranke  darüber  völlig  im  klaren  ist,  dass  ihm  in  Wirklichkeit 
nichts  zustossen  kann.  Heftiges  Herzklopfen,  Blässe,  Beklemmungs- 
gefühle stellen  sich  ein,  Zittern,  kalter  Schweiss,  Uebelkeit,  Meteoris- 
mus, Durchfälle,  Polyurie,  Schwäche  in  den  Beinen,  Ohnmachts- 
anwandlungen, so  dass  der  Kranke  vollständig  die  Herrschaft  über 
seine  Glieder  verliert  und  unter  Umständen  einfach  zusammenbricht. 
Diese  Zustände  erinnern  sehr  an  die  Angstgefühle,  die  auch  dem 
gesunden  Menschen  Angesichts  einer  peinlichen  Lage  oder  einer 
ernsten  Gefahr  die  Ruhe  der  Ueberlegung  und  die  Sicherheit  der 
Bewegung  rauben  können. 

Die  Anlässe,  bei  denen  solche  Angstanfälle  sich  im  einzelnen 
Falle  einstellen,  sind  sehr  verschiedene,  doch  begegnen  uns  gewisse 
Formen  der  Störung  mit  merkwürdiger  Regelmässigkeit  immer  wieder, 
nicht  selten  eine  ganze  Anzahl  bei  demselben  Kranken.  Am  be- 
kanntesten ist  vielleicht  die  Platzangst**;  (Agoraphobie)  geworden. 
Es  handelt  sich  hier  um  die  Unfähigkeit,  allein  über  einen  grossen, 

*)  Griesinger,  Archir  f.  Psychiatrie  I,  S.  626;  Berger,  ebenda  VI,  S.  217. 

**)  Westphal,  Archiv  f.  Psychiatrie  III,  138;  Cordes,  ebenda  III,  521; 
X,  48. 


542 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


menschenleeren  Platz  oder  durch  eine  lange,  weite  Strasse  zu 
schreiten;  bei  jedem  Versuche  dazu  überfällt  den  Kranken  jene 
namenlose  Angst,  die  es  ihm  unmöglich  macht,  weiter  zu  gehen. 
Die  Begleitung  eines  Knaben,  das  Hinterhergehen  hinter  einem 
anderen  Menschen  oder  einem  Wagen,  das  Festhalten  an  den 
Häusern  genügt  oft  schon,  um  die  lähmende  Angst  vollständig  zu 
überwinden.  In  den  höheren  Graden  ist  der  Kranke  überhaupt 
nicht  im  Stande,  auf  die  Strasse  zu  gehen,  das  Zimmer  zu  ver- 
lassen, ja  es  kann  so  Aveit  kommen,  dass  er  sich  kaum  oder  doch 
nur  mit  grösstem  Unbehagen  aus  dem  Schutze  seines  Bettes  heraus- 
wagt. Andererseits  kann  sich  die  Furcht  vor  dem  Alleinsein  hinzu- 
gesellen. Ich  kannte  einen  durch  langwierige  Verdauungsstörungen 
sehr  heruntergekommenen  Herrn,  der  Monate  lang  Tag  und  Nacht 
immer  Jemanden  um  sich  haben  musste.  Später,  mit  der  Besse- 
rung des  körperlichen  Zustandes,  verlor  sich  diese  Erscheinung, 
aber  die  Platzangst  bestand  in  allmählich  abnehmender  Stärke  fort 
Schliesslich  konnte  der  Kranke  auch  diesen  Zuständen  Vorbeugen, 
indem  er  sich  stets  bei  seinen  Ausgängen  mit  einem  Priessnitz’- 
schen  Umschläge  und  einem  Fläschchen  Valerianatinctur  versah. 
Obgleich  er  von  beiden  Mitteln  nie  Gebrauch  machte  und  sich  der 
Unsinnigkeit  seiner  Massregel  bewusst  war,  genügte  dieselbe  doch, 
das  sonst  unfehlbare  Auftreten  der  Angst  zu  verhindern. 

Der  Platzangst  nahe  verwandt  ist  die  auch  bei  gesunden  Menschen 
in  verschiedenen  Graden  sehr  häufige  Höhenangst,  das  Gefühl 
stärksten  ängstlichen  Unbehagens  beim  Stehen  auf  hohen  Thürmen, 
am  Rande  von  Abgründen,  beim  Gehen  über  Brücken,  selbst  wo 
nicht  die  mindeste  wirkliche  Gefahr  eines  Herabfallens  vorhanden 
ist.  Auch  können  sich  bei  unseren  Kranken  Angstzufälle  in  grossen, 
weiten  Räumen,  in  Kirchen  und  Theatern,  in  grossem  Gedränge, 
beim  Alleinsein  in  der  Dunkelheit  (Nyktophobie),  bei  geschlossenen 
oder  geöffneten  Thtiren  (Claustrophobie  und  Claustrophilie),  auf 
freiem  Felde,  beim  Fahren  auf  dem  Wasser  oder  in  der  Eisenbahn, 
besonders  durch  Tunnels,  einstellen.  Manche  Kranke  sind  daher 
ausser  Stande,  Vergnügungen,  Gesellschaften,  den  Gottesdienst  zu 
besuchen,  oder  sie  müssen  sich  Avenigstens  ein  Plätzchen  au  der 
Ecke,  nahe  bei  der  Thüre  sichern,  um  sich  durch  die  Möglichkeit 
einer  schleunigen  Flucht  zu  beruhigen.  Andere  können  sich  über- 
haupt nicht  Aveit  von  Hause  entfernen,  theils  des\A7egen,  weil  ihnen 


Zwangsirresein. 


543 


die  Benutzung  der  Verkehrsmittel  unmöglich  ist,  theils  darum,  weil 
sie  auf  Schritt  und  Tritt  die  Angst  verfolgt,  dass  ihnen  in  der  Ferne 
irgend  etwas  zustossen  könnte.  Sobald  sie  ihr  Heim  wieder  erreicht 
haben,  ist  sofort  alle  Beunruhigung  verschwunden. 

Der  gesunden  Erfahrung  begreiflicher  erscheinen  die  Angst- 
zustände, welche  sich  dann  einstellen,  wenn  die  Kranken  die  all- 
gemeine Aufmerksamkeit  auf  sich  gerichtet  wissen,  be- 
sonders bei  öffentlichen  Reden,  Gerichtsverhandlungen,  Vorträgen. 
Sie  fürchten,  sich  zu  blamiren,  etwas  recht  Dummes  zu  sagen,  stecken 
zu  bleiben.  Diesen  Zuständen  entspricht  der  hindernde  Einfluss, 
den  überall  die  „Befangenheit“  auf  die  Sicherheit  von  Leistungen 
auszuüben  pflegt,  die  sonst  mit  der  grössten  Leichtigkeit  von  Statten 
gehen,  jenes  Gefühl  völligen  Schwindens  aller  Gedanken,  welches 
den  ungeübten  Redner  bisweilen  plötzlich  auf  das  peinlichste  in  dem 
Flusse  seines  Trinkspruches  unterbricht. 

Solche  Kranke  werden  unsicher  und  linkisch  im  Verkehr,  weil 
sie  nicht  unbefangen  sein  können,  sondern  immer  daran  denken 
müssen,  welchen  Eindruck  sie  wol  machen.  Sie  haben  namentlich 
mit  den  allergrössten  Schwierigkeiten  zu  kämpfen,  um  Prüfungen 
zu  bestehen.  Trotzdem  sie  vielleicht  den  Stoff  längst  vollkommen 
beherrschen,  zwingt  sie  das  Examensfieber,  vorher  in  der  unsinnigsten 
Weise  Tage  und  Nächte  zur  letzten  Vorbereitung  zu  benutzen;  so- 
bald aber  der  entscheidende  Augenblick  gekommen  ist,  wird  die 
Angst  so  stark,  dass  sie  alle  anderen  Rücksichten  vergessen  und 
plötzlich  noch  zurücktreten,  auch  wol  ohne  weiteres  davon  reisen. 
So  mancher  sonst  gut  begabte,  derart  veranlagte  junge  Mann  schei- 
tert in  anscheinend  unbegreiflicher  Weise  an  der  Klippe  krankhafter 
Examensangst.  Ich  habe  wiederholt  Gelegenheit  gehabt,  mit  Hülfe 
einfacher  oder  hypnotischer  Beeinflussung  solche  Kranke  durch  die 
Fährnisse  der  hochnothpeinlichen  Prüfung  in  das  ruhigere  Fahr- 
wasser einer  geregelten  Berufsthätigkeit  hinüberzuretten.  In  den 
höchsten  Graden  des  Leidens  sind  die  Kranken  nicht  im  Stande,  zu 
schreiben,  zu  gehen,  zu  essen,  Urin  zu  lassen,  auf  den  Abtritt  zu 
gehen,  sobald  sie  sich  beobachtet  wissen,  während  sie  sonst  keinerlei 
Störungen  des  Handelns  darbieten.  Ein  Postbeamter  lebte  in  be- 
ständiger Furcht,  seine  Stellung  zu  verlieren,  weil  er  nicht  einmal 
seinen  Namen  zu  schreiben  vermöge,  wenn  man  ihm  zusehe;  sonst 
könnte  er  eigentlich  so  recht  glücklich  und  sorgenfrei  sein. 


544 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


Ganz  eng  an  die  geschilderten  Zustände  schliesst  sich  die  F urcht 
vor  dem  Erröthen  an  (Erythrophobie).  Die  Kranken  erröthen  unge- 
mein leicht  und  gerathen  gerade  dadurch  in  eine  Verlegenheit,  die 
ihr  Leiden  immer  mehr  steigert.  Bei  jedem  beliebigen  Anlasse,  wenn 
Jemand  ins  Zimmer  tritt,  wenn  ihr  Name  genannt,  wenn  von  pein- 
lichen Vorkommnissen  gesprochen  wird,  tritt  ihnen  das  Blut  ins 
Gesicht  Daran  knüpft  sich  die  Befürchtung,  dass  man  -wegen  ihres 
Erröthens  glauben  könnte,  sie  hätten  sich  etwas  zu  Schulden  kom- 
men lassen,  seien  an  dem  Diebstahl,  dem  Sittlichkeitsvergehen,  von 
dem  gerade  gesprochen  wurde,  irgendwie  betheiligt,  hätten  über- 
haupt kein  gutes  Gewissen.  Ihre  Unsicherheit  im  Verkehr  mit  der 
Umgebung  steigert  sich  dadurch  nicht  selten  bis  zur  vollkommenen 
Menschenscheu  und  zum  Lebensüberdrusse.  Im  Dunkeln  und  nahen 
Bekannten  oder  eingeweihten  Personen  gegenüber  bleibt  das  Er- 
röthen aus. 

Andere  Kranke  werden  den  Gedanken  nicht  los,  irgend  etwas 
Auffallendes  oder  Lächerliches  an  sich  zu  tragen,  eine  merk- 
würdig geformte  Nase,  krumme  Beine  zu  haben  und  dadurch  die 
Aufmerksamkeit  und  den  Spott  der  Begegnenden  hervorzurufen, 
ihrer  Umgebung  unangenehm  zu  sein.  Ein  Arzt  wurde  in  seiner 
Untersuchung  auf  das  Empfindlichste  durch  die  Vermuthung  ge- 
stört, dass  es  den  Kranken  zuwider  sei,  wenn  er  sie  ansehe.  Noch 
Andere  fürchten,  sich  unpassend  zu  benehmen,  auf  dem  Abtritte 
beobachtet,  in  peinlicher  Lage  von  Harndrang  oder  Blähungen  über- 
fallen, von  einem  Betrunkenen  belästigt  zu  werden,  ja  sie  fürchten 
sich  schliesslich  vor  ihren  eigenen,  sie  in  ihrer  Bewegungsfreiheit 
hochgradig  beeinträchtigenden  Befürchtungen. 

Ebenfalls  in  diese  Gruppe  von  Störungen  gehört  die  hie  und  da 
beobachtete  Kleiderangst.  Wie  der  Gesunde  sich  bisweilen  in 
einem  neuen  Anzuge  zunächst  nicht  recht  wohl  fühlt,  so  entsteht 
hier,  namentlich  beim  erstmaligen  Tragen  eines  Kleidungsstückes, 
ein  sehr  lebhaftes  Unbehagen,  welches  sich  mit  bestimmten  körper- 
lichen Empfindungen  verbinden  kann.  Die  Kranken  merken  deutlich, 
dass  die  Aermel  drücken,  die  Taille  nicht  ganz  gerade  sitzt,  der  Schuh 
zu  kurz  ist  — aber  trotz  zahlloser  Aenderungen  bleibt  alles  beim 
Alten,  so  dass  die  Kranken  schliesslich  überhaupt  neue  Kleidungs- 
stücke nicht  mehr  ertragen  können,  immerfort  an  dieselben  denken 
müssen  und  erst  dann  aufathmen,  wenn  sie  die  gewohnten  Kleider 


Zwangsirresein. 


545 


wieder  haben.  In  einzelnen  Fällen  kann  es  dahin  kommen,  dass 
die  Kranken,  wenn  ihre  Kleider  zu  sehr  verschlissen  sind,  allen 
Ernstes  dauerndes  Bettliegen  als  einzigen  Ausweg  ins  Auge  fassen, 
obgleich  sie  über  die  Lächerlichkeit  dieses  Auskunftsmittels  völlig 
im  Klaren  sind. 

Wenn  sich  alle  diese  Erscheinungen  als  krankhafte  Ueber- 
treibungen  jener  zweckmässigen  leisen  Gefühlsregungen  darstellen, 
welche  auch  das  gesunde  Handeln  fortgesetzt  begleiten,  so  haben 
wir  in  gewissen  Befürchtungen  abergläubischen  Inhalts  ver- 
zerrte Aeusserungen  der  mystischen  Neigungen  des  Menschen  vor 
uns.  Entsprechend  der  verbreiteten  Furcht  vor  der  Zahl  13,  vor 
der  Unheil  verkündenden  Begegnung  mit  alten  Weibern  u.  s.  f.  be- 
gegnen wir  bei  Kranken  der  Angst  vor  einzelnen  Gegenständen, 
Wochentagen,  Worten,  Farben  und  namentlich  Zahlen,  der  Idee, 
durch  ein  bestimmtes  Thun  oder  Lassen  Unheil  heraufzubeschwören. 
Natürlich  werden  sie  durch  solche  Besorgnisse  zu  allerlei  Sicher- 
heitsmassregeln  veranlasst.  Es  kommt  auf  diese  Weise  zu  den 
mannigfachsten  eigen thümlichen  Gewohnheiten,  welche  für  den  Kranken 
eine  Art  übertragener  Bedeutung  gewinnen  und  ihm  Beruhigung 
verschaffen,  auch  wenn  er  ihre  Unsinnigkeit  durchaus  anerkennt. 
Dahin  gehört  das  anscheinend  sinnlose  Wiederholen  oder  Unterlassen 
gleichgültiger  Handlungen,  das  geflissentliche  Vermeiden  oder  Auf- 
suchen und  Aussprechen  einzelner  Zahlen  oder  Worte,  die  Ausfüh- 
rung bestimmter,  an  sich  zweckloser  Bewegungen,  das  Innehalten 
der  gleichen  Reihenfolge  bei  gewissen  Beschäftigungen,  Antreten  mit 
einem  bestimmten  Fusse,  das  zwangsmässige  Beachten  hergebrachter 
oder  selbsterfundener  Vorbedeutungen. 

So  vielseitig  die  Gefahren,  die  den  Menschen  bedrohen  können, 
so  mannigfaltig  sind  die  Anlässe,  an  die  sich  Angstzustände  an- 
knüpfen. Das  unmittelbare  körperliche  Wohl  und  Wehe  liefert 
die  mächtigsten  Gefühlsschwankungen.  Ungemein  häufig  be- 
gegnet uns  daher  die  Furcht,  in  schwere  Krankheit  zu  verfallen. 
Die  Kranken  haben  das  Gefühl,  nichts  Rechtes  mehr  leisten  zu 
können,  halten  sich  für  unfähig,  aufzufassen,  zu  begreifen,  klar  zu 
denken  und  sich  verständlich  auszudrücken.  Namentlich  pflegt  auch 
der  Schlaf  sehr  gestört  zu  sein.  Ich  kannte  eine  Dame,  die  zunächst 
nicht  schlafen  konnte,  wenn  sie  am  nächsten  Tage  irgend  etwas  Be- 
sonderes vorhatte,  in  Gesellschaft  gehen,  einen  Ausflug  machen 

Kraepelin,  Psyobiatrie.  6.  Aufl.  U.  Band.  35 


546 


XII.  Die  psychopathischen  Zustande. 


wollte.  Allmählich  genügte  schon  die  geringste  Kleinigkeit,  um  sie 
in  eine  Spannung  zu  versetzen,  die  ihr  den  Schlaf  raubte,  bis  es 
durch  hypnotische  Beeinflussung  gelang,  ihr  die  Angst  vor  der 
Schlaflosigkeit  zu  benehmen.  Manche  Eiranke  spüren  allerlei  merk- 
würdige Empfindungen  an  ihrem  Körper,  die  sie  beunruhigen.  Na- 
mentlich beim  Einschlafen  erscheint  ihnen  der  Kopf  riesengross,  die 
Arme  und  der  Leib  zusammengeschrumpft;  auch  die  Gegenstände 
im  Zimmer  werden  bald  klein,  bald  gross,  nähern  sich  oder  rücken 
in  unendliche  Ferne,  Empfindungen,  die  auch  dem  Gesunden  im 
Halb  wachen  nicht  ganz  fremd  sind.  Andere  haben  das  unangenehme 
Gefühl  des  Harnträufelns,  oder  als  wenn  Käfer  aus  den  Körper- 
öffnungen herauskröchen,  als  wenn  der  Körper  schief  wäre.  Sie 
fürchten  daher  geisteskrank,  paralytisch  zu  werden,  einen  Schlag- 
anfall zu  bekommen,  an  ,, Vaguslähmung“  zu  Grunde  zu  gehen;  ein 
EAanker  telegraphirte  plötzlich  an  seine  Angehörigen,  dass  er  am 
Herzschlag  sterbe.  Andere  glauben  an  Syphilis  zu  leiden,  von  einem 
tollen  Hunde  gebissen  worden  zu  sein.  Ein  Kranker,  der  seit  langer 
Zeit  von  dieser  Zwangsbefürchtung  heimgesucht  war,  bat  mich  um- 
gehend um  Nachricht,  ob  nicht  ein  Mann,  dessen  Namen  er  in  der 
Klinik  gehört  hatte,  einmal  von  einem  Hunde  gebissen  worden  sei: 
sein  ganzes  Lebensglück  hänge  an  dieser  Auskunft. 

Alle  diese  Kranken  kommen  immer  und  immer  wieder  zum  Arzte. 
Obgleich  sie  es  gewöhnlich  lernen,  ihre  krankhaften  Zustände  in  ihrem 
Innern  zu  verschliessen,  haben  sie  doch  das  dringende  Bedürfniss,  hie 
und  da  sich  einmal  darüber  auszusprechen,  und  fühlen  sich  jedesmal 
für  einige  Zeit  wesentlich  beruhigt.  Da  sie  etwas  zu  vergessen  fürchten, 
so  erscheinen  sie  beim  Arzte  mit  einer  Menge  von  Aufzeichnungen,  mit 
einem  Fragebogen,  überreichen  ihre  schriftliche  Krankengeschichte, 
weil  sie  zweifeln,  ob  sie  bei  der  mündlichen  Erzählung  alles  in 
rechter  Ordnung  und  im  Zusammenhänge  würden  Vorbringen  können. 
Vielfach  fallen  sie  Quacksalbern  in  die  Hände.  Ein  Schuhmacher- 
geselle kaufte  sich  für  lü  Mark  ein  Elektrophor,  um  seine  Nerven- 
kraft  zu  regeneriren.  Andere  wägen  auf  das  genaueste  ihre  Speisen 
ab,  versuchen  sich  in  den  verschiedenartigsten  Curen. 

An  die  hypochondrischen  Befürchtungen  reiht  sich  die  Angst, 
vom  Blitze  erschlagen  (Reuters  „Dorchläuchting“),  scheintodt  be- 
graben zu  werden.  Die  Kranken  suchen  daher  alle  möglichen  Yor- 
sichtsmassregeln  zu  treffen,  damit  sie  sicher  sterben,  hinterlegen 


Zwangsirresein. 


547 


überall  genaue  Bestimmungen  über  die  Behandlung  ihrer  Leiche. 
Einzelne  haben  eine  unsinnige  Angst  vor  Schlangen,  Katzen,  Fröschen; 
sie  fürchten,  dass  ihnen  Käfer  ins  Ohr  kriechen,  dass  sie  sich  ver- 
brennen könnten.  Auch  ganz  harmlose  Gegenstände  können  solche 
unangenehmen  Erregungen  hervorrufen.  Ich  kannte  einen  sonst  ganz 
verständigen  Kranken,  der  um  keinen  Preis  dazu  zu  bringen  war,  in 
einen  Spiegel  zu  sehen.  Anderen  drängt  sich  auf  der  Strasse 
zwangsmässig  der  Gedanke  auf,  dass  ein  Stein,  ein  Mensch  vom  Dache 
auf  sie  fallen  werde;  ob  es  wol  ein  Mann  oder  eine  Frau  sein  wird? 

Ein  sehr  ergiebiges  Feld  für  Zwangsbefürchtungen  liefern  auch 
die  geschlechtlichen  Beziehungen.  Dahin  gehört  die  Furcht  vor  der 
Impotenz,  die  so  häufig  wirklich  den  Geschlechtsact  vereitelt.  Bei 
jungen  Bräuten  führt  die  krankhafte  Angst,  den  Mann  nicht  glück- 
lich machen  zu  können,  ihn  nicht  recht  zu  lieben,  nicht  selten  zum 
Yerzichte  auf  die  Ehe.  Auch  die  zwangsmässige  Eifersucht  ist  hier 
zu  nennen,  die  den  Kranken  veranlasst,  gegen  seine  Ueberzeugung 
immer  wieder  nach  neuer  Sicherheit  für  die  Treue  seiner  Gattin  zu 
suchen.  Im  Gegensätze  zu  dem  Eifersuchtswahne  wünscht  und  er- 
wartet der  Kranke  hier  nicht  ihre  Untreue,  sondern  ihre  Zuver- 
lässigkeit nachzuweisen,  um  den  quälenden  Zweifel  immer  von  neuem 
zu  entwaffnen. 

Eine  sehr  weite  Verbreitung  hat  ferner  die  Furcht  vor  Schmutz 
(Mysophobie),  Ansteckung  und  Vergiftung,  vor  Nadeln  und  Glas- 
scherben aufzuweisen,  namentlich  beim  weiblichen  Geschlechte.  Neuer- 
dings pflegen  sich  diese  Befürchtungen  gern  an  die  modernen  Vor- 
stellungen von  der  Ansteckung  durch  mikroskopische  Krankheits- 
erreger anzuknüpfen.  Der  Kranke  merkt  überall  „schlechte  Luft“, 
reisst  alle  Fenster  auf;  er  fürchtet  sich,  Messing  oder  Kupfer  (Thiir- 
klinken,  Geld)  wegen  der  Gefahr  der  Grünspan  Vergiftung  zu  be- 
rühren, kann  nichts  zu  sich  nehmen,  ohne  es  immerfort  auf  Nadeln 
und  Glasscherben  zu  untersuchen,  die  er  etwa  mit  verschlucken,  in 
seinen  Kleidern  verschleppen  könnte.  Er  schrickt  zusammen,  wenn 
er  Glas  klirren  hört,  flieht  vor  allen  Flüssigkeiten,  die  nach  seiner 
Ansicht  Gift  enthalten  könnten,  und  fühlt  sich  keinen  Augenblick 
sicher,  ob  er  nicht  irgendwo  durch  Anstreifen  einen  gefährlichen 
Ansteckungsstoff  aufge fangen  habe,  der  sich  nun  auch  noch  weiter 
auf  andere  Personen  übertragen  könnte.  Er  hätte  auf  einen  glän- 
zenden Punkt  im  Essen  aufmerksam  machen  sollen,  der  möglicher- 

35* 


548 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


weise  eine  Stecknadel  war  und  nun  vielleicht  einem  Menschen  den 
Tod  gebracht  hat.  Auch  Bücher  sind  ihm  sehr  verdächtige  An- 
steckungsträger. 

Nicht  selten  beobachtet  man  auch  die  Befürchtung,  irgend 
etwas  Werthvolles  zu  vernichten  oder  zu  verschleppen. 
Eine  junge  Dame,  die  ich  kannte,  wurde  von  der  Angst  verfolgt, 
möglicherweise  wichtige  Briefe,  namentlich  Testamente,  ins  Feuer  zu 
werfen  oder  auszukehren,  ja  sie  glaubte,  das  schon  ungezählte  Male 
gethan  zu  haben.  In  Folge  dessen  hatte  sie  eine  unüberwindliche 
Scheu  vor  allem  Papier,  schliesslich  sogar  vor  gedruckten  Büchern. 
Jedes  noch  so  kleine  Fetzchen  Papier  bewahrte  sie  auf  das  sorg- 
fältigste auf  und  war  erst  beruhigt,  wenn  sie  es  mir  übergeben  hatte. 
Sie  war  dabei  vollständig  klar  und  besonnen,  frei  von  sonstigen 
Wahnideen,  aber  von  Hause  aus  wenig  begabt.  Ein  anderer  Kranker 
hatte  bemerkt,  dass  im  Gottesdienst  ein  kleines  Blättchen  aus  seinem 
Gebetbuche  herausgefallen  war,  das  er  aufhob  und  in  die  Tasche 
steckte.  Alsbald  beschäftigte  ihn  die  Möglichkeit,  dass  er  aus  Ver- 
sehen ein  kleines  Stück  Hostie  mitgegriffen  haben  könne.  Diese  Vor- 
stellung wurde  durch  das  Tragen  des  damals  benutzten  Rockes  immer 
wieder  wachgerufen,  späterhin  auch  durch  andere  Röcke,  die  mit 
jenem  ersteren  im  gleichen  Schranke  gehangen  hatten.  Es  hätte 
möglich  sein  können,  dass  feine  Theile  des  Hostienstückchens  beim 
Umkehren  und  Ausstauben  der  Taschen  auch  in  die  anderen  Röcke 
gelangt  wären.  Selbst  der  geistliche  Zuspruch  vermochte  nur  für 
kurze  Zeit  Beruhigung  zu  bringen.  Noch  Andere  fürchten,  in  ihren 
Haaren,  mit  dem  Staube  in  ihren  Kleidern,  mit  dem  Schmutze  an 
ihren  Absätzen  irgend  etwas  Werthvolles  zu  verschleppen  und  zu 
veruntreuen. 

Diese  letzteren  Gestaltungen  der  Zwangsbefürchtungen  führen  uns 
hinüber  zu  denjenigen  Formen,  in  denen  der  Kranke  nicht  für 
sich,  sondern  für  Andere  fürchtet  und  so  zu  unendlichen  Selbst- 
quälereien getrieben  wird.  Der  Inhalt  seiner  Vorstellungen  erhält 
hier  eine  gewisse  äusserliche  Aehnlichkeit  mit  dem  Versündigungs- 
wahn. Nach  jeder  Unterredung,  namentlich  bei  wichtigeren  Anlässen, 
taucht  dem  Kranken  der  Gedanke  auf,  dass  er  sich  vielleicht  nicht 
ganz  klar  ausgedrückt  habe,  missverstanden  sein  könne.  Er  setzt 
sich  dann  hin,  um  schriftlich  noch  diese  oder  jene  seiner  Aeusse- 
rungen  genauer  zu  erläutern;  kaum  aber  ist  der  Brief  abgesandt, 


Zwangsirresein. 


549 


so  erhebt  sich  von  neuem  der  Zweifel,  ob  nunmehr  auch  jedes  Miss- 
verständnis ausgeschlossen  sei.  Dabei  entwickelt  sich  eine  peinliche 
Aufrichtigkeit,  die  den  Kranken  zwingt,  unter  allen  Umständen 
durchaus  die  Wahrheit  zu  sagen  und  auch  auf  die  kleinen  gesell- 
schaftlichen Lügen  zu  verzichten.  Jedes  Wort  wird  so  lange  herum- 
gedreht, bis  keine  Möglichkeit  einer  falschen  Auslegung  mehr  vor- 
handen ist  und  ihm  die  Absicht  einer  Zweideutigkeit  nicht  mehr 
untergeschoben  werden  kann.  Freilich  entdeckt  der  Kranke  nach- 
träglich immer  noch  Punkte,  an  denen  man  ihm  den  Vorwurf  der 
Ungenauigkeit  und  Unzuverlässigkeit  machen  könnte.  Er  ist  un- 
sicher, ob  er  nicht  einen  beleidigenden  Ausdruck  gebraucht,  etwas 
Anstössiges  oder  Zweideutiges  gesagt  hat,  lässt  daher  seine  Briefe 
stets  erst  von  Anderen  durchlesen,  zieht  zu  jeder  Unterredung 
Zeugen  herbei,  die  er  nachher  befragen  kann. 

Jede  verantwortliche  Aussage  wird  daher  für  ihn  zu  einer 
Quelle  der  peinigendsten  Selbstquälereien.  Besonders  die  Berührung 
mit  den  Gerichten  bringt  eine  starke  Steigerung  der  Beschwerden. 
Ich  kannte  einen  Kranken,  der  im  Anschlüsse  an  eine  Vernehmung 
als  Zeuge  von  einem  länger  dauernden,  schweren  Depressionszustande 
befallen  wurde;  er  versicherte  mir,  dass  er  sich  lieber  einsperren 
lassen  werde,  als  noch  einmal  diese  Qualen  zu  überstehen.  Ein  anderer 
konnte  vor  Gericht  nicht  vereidigt  werden,  weil  er  im  Hinblicke  auf  die 
Tragweite  seiner  Aussage  in  die  grösste  Aufregung  gerieth.  Ein  Richter 
wurde  immer  von  der  Befürchtung  verfolgt,  dass  vielleicht  ein  Haft- 
befehl aus  Versehen  nicht  aufgehoben  worden  sei.  Immer  wieder 
musste  er  sich  persönlich  davon  überzeugen,  dass  die  betreffenden 
Gefangenen  wirklich  entlassen  seien. 

Alle  Berührungen  mit  fremdem  Eigenthume  pflegen  ähnliche 
gemüthliche  Stürme  hervorzurufen.  Die  Kranken  versehen  ihre 
Schirme,  Hüte,  Ueberröcke  mit  möglichst  auffallenden  Kenn- 
zeichen, um  sich  nicht  achtlos  an  fremden  Sachen  zu  vergreifen, 
fürchten  aber  auch  dann  noch,  dass  doch  vielleicht  irgend 
Jemand  auf  ähnliche  Bezeichnungen  habe  verfallen  können.  Beim 
Bezahlen  wird  jedes  Geldstück  erst  auf  das  genaueste  geprüft, 
ob  es  nicht  etwa  falsch  oder  minderwerthig  ist;  zudem  erhebt  sich 
nachher  der  Zweifel,  ob  nicht  der  Verkäufer  zu  viel  herausgegeben 
habe  und  so  geschädigt  worden  sein  könne.  Vielleicht  war  über- 
haupt das  Geld  nicht  auf  ganz  ehrliche  Weise  erworben.  Stets  ist 


550 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


für  den  Kranken  nur  der  Gedanke  an  die  mögliche  Uebervortbeilung 
Anderer  quälend,  während  er  den  eigenen  Schaden  mit  Gleichmuth 
erträgt,  ja  ihn  geflissentlich  herbeizuführen  sucht,  um  die  stillen 
Selbstvorwürfe  im  Entstehen  zu  unterdrücken.  Einer  meiner  Kranken 
verlor  einige  Geldstücke  aus  seiner  Tasche.  Nach  dem  Aufsammeln 
kam  ihm  der  Gedanke,  dass  möglicherweise  auch  schon  ein  Anderer 
dort  Geld  verloren  haben  könne,  das  er  sich  jetzt  widerrechtlich 
aneigne.  Er  wurde  nicht  eher  ruhig,  bis  er  die  ganze  Summe  an 
die  Armen  gegeben  hatte.  Ein  äusserst  empfindliches  Gebiet  ist 
endlich  das  religiöse.  Die  Kranken  quälen  sich  mit  dem  Gedanken. 
nicht  ausreichend  gebeichtet  zu  haben,  nicht  mit  ganz  reinem  Herzen 
das  Abendmahl  genommen  zu  haben. 

In  manchen  Fällen  nehmen  die  Befürchtungen  einen  ziemlich 
unsinnigen  Inhalt  an.  Die  Kranken  können  sich  trotz  besseren 
"Wissens  des  Gedankens  nicht  erwehren,  dass  sie  an  irgend  einem 
Unglücke,  einem  Todesfälle,  ja  einer  Missernte  schuld  seien,  irgend 
ein  Verbrechen  begangen  hätten.  Sie  könnten  doch  Jemanden  er- 
mordet, den  Lehrer  erstochen  haben.  Eine  Kranke  erzählte  mir,  sie 
habe  einen  Brand  angelegt,  ihrem  Grossvater  Gift  gegeben,  nicht 
recht  gebeichtet,  das  Versprechen  gegeben,  ihre  zukünftigen  Kinder 
sollten  ins  Kloster  gehen.  Sie  wisse  nicht  recht,  ob  das  alles  wirk- 
lich sei,  aber  es  könnte  doch  möglich  sein,  dass  so  etwas  geschehen 
wäre.  Ein  Offizier  meinte  immer,  er  mache  seinen  Leuten  unsittliche 
Anträge,  und  probirte  den  ganzen  Tag,  ob  es  wol  möglich  sei,  dass 
die  in  ihm  aufsteigenden  peinlichen  Gedanken  von  Jemandem  gehört 
werden  könnten,  ob  er  sie  nicht  unwillkürlich  laut  ausspreche. 
Eine  Kranke  Donaths  konnte  die  Befürchtung  nicht  loswerden, 
sich  möglicherweise  mit  irgend  einem  fremden  Menschen  geschlecht- 
lich zu  vergehen,  und  trug  daher  eine  eng  anliegende,  mit  einem 
Schloss  versehene  Leinwandhose,  die  ihr  nicht  einmal  die  Ent- 
leerung des  Harnes  gestattete,  so  dass  sie  denselben  eigens  mit 
einem  Tuche  auffangen  musste. 

Die  ganze  Gruppe  der  hier  kurz  geschilderten  Erscheinungen 
pflegt  man  nach  dem  Vorgänge  von  Legrand  du  Saulle*)  als 
Zweifelsucht  („folie  du  doute“)  zu  bezeichnen.  Bisweilen  sind  es 
nur  einige  Gebiete,  auf  denen  die  Zweifel  sich  erheben;  in  schweren 
Fällen  können  sie  schliesslich  den  Kreislauf  der  Tagesbeschäftigungen 

*)  La  folie  du  doute.  1875. 


Zwangsirrpsein.  551 

fast  unablässig  begleiten.  Der  Kranke  hätte  vielleicht  lieber  das 
Glas  Wasser  nicht  trinken  sollen,  hat  sich  möglicherweise  durch  das 
Essen  jener  Speise  geschadet  oder  durch  das  Einnehmen  dieser 
Arznei  seine  Genesung  vereitelt.  Wäre  er  nicht  von  Hause  gereist, 
so  wäre  es  besser  gewesen ; so  ist  vielleicht  dort  ein  Unglück  ge- 
schehen, Jemand  krank  geworden,  Feuer  ausgebrochen.  Es  wird 
ihm  schliesslich  ganz  unmöglich,  sich  bündige  Beruhigung  darüber 
zu  verschaffen,  ob  er  eine  Thür  wirklich  gehörig  geschlossen,  einen 
abgesandten  Brief  zugeklebt,  ihn  nicht  verwechselt,  ob  er  einen 
Auftrag  richtig  gegeben  oder  ausgerichtet,  alle  Lichter  zuverlässig 
gelöscht  habe  u.  s.  f. 

Im  Zusammenhänge  mit  den  Zwangsbefürchtungen  entwickelt 
sich  regelmässig  bei  unseren  Kranken  eine  gewisse  Unentschlossenheit 
und  Willenlosigkeit,  da  sie  auf  Schritt  und  Tritt  durch  die  auf- 
tauchenden Zweifel  in  der  thatkräftigen  Durchführung  ihrer  Ent- 
schlüsse gehemmt  werden.  Zugleich  stellt  sich  mit  Notlnvendigkeit 
eine  immer  wachsende  Peinlichkeit  in  allen  kleinen  Verrichtungen 
des  täglichen  Lebens  ein.  Durch  allerlei  Merkzeichen,  abschliessende 
Geberden,  schriftliche  Buchung  und  ähnliche  Kunstgriffe  sucht  der 
Kranke  sich  dauernd  die  Möglichkeit  einer  rückschauenden  Prüfung 
aller  irgend  wichtigen  Handlungen  zu  erhalten,  ohne  doch  dabei  wirk- 
licheBeruhigung  zu  finden,  da  er  sich  ja  auch  geirrt  haben  könnte.  Beim 
Schliessen  jedes  Schlosses  versichert  er  sich  wiederholt,  dass  dasselbe 
wirklich  zugesperrt  ist,  reisst  den  Umschlag  wieder  auf,  um  zu  sehen, 
ob  der  richtige  Brief  hineingelegt,  ob  nicht  Unterschrift  oder  Datum 
vergessen  wurde,  zählt  jede  Summe  zehn,  zwanzig  Mal,  bevor  er 
sie  abgiebt,  macht  nächtliche  Runden  durchs  Haus,  um  sich  zu 
überzeugen,  dass  nirgends  mehr  ein  Funke  glimmt,  dass  sich  kein 
Dieb  eingeschlichen  hat. 

Aus  der  Besorgniss,  etwas  zu  verschleppen,  sich  zu  verunreinigen, 
entspringt  die  Berührungsfurcht,  das  „ddlire  du  toucher“.  Alle 
Nadeln  werden  aus  dem  Hause  verbannt;  es  darf  nicht  mehr  genäht 
werden;  Niemand  darf  die  Wäsche  anrühren;  die  Fenster  werden 
nicht  mehr  geputzt,  da  sie  sonst  zerbrechen  und  zum  Ausstreuen 
von  Splittern  Veranlassung  geben  könnten.  Der  Kranke  entwickelt 
eine  peinliche,  alle  anderen  Rücksichten  in  den  Hintergrund  drän- 
gende Reinlichkeitsliebe,  die  sich  im  Anfänge  vielleicht  noch  inner- 
halb der  hier  sehr  dehnbaren  Gesundheitsgrenzen  hält,  später  aber 


552 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


nicht  selten  eine  derartige  Ausdehnung  annimmt,  dass  sie  ihm  selbst 
und  noch  mehr  seiner  Umgebung  das  Leben  aufs  äusserste  verbittert 
Mit  der  grössten  Sorgfalt  sucht  der  Kranke  alle  Berührungen, 
namentlich  die  unmittelbaren,  zu  vermeiden,  giebt  nicht  die  Hand, 
öffnet  die  Klinken  mit  dem  Ellenbogen,  fasst  alles  mit  Papierläpp- 
chen an,  trägt  möglichst  Handschuhe.  Hat  aber  doch  eine  Berührung 
stattgefunden,  so  werden  sofort  nach  einem  oft  sehr  durchdachten 
Plane  die  umfangreichsten  Waschungen  vorgenommen,  die  sich  nicht 
nur  auf  die  Hände,  sondern  auf  den  ganzen  Körper,  sogar  auf  Möbel 
und  Kleidungsstücke  erstrecken  können.  Bisweilen  sind  es  nur 
Berührungen  bestimmter  Art,  welche  diese  Handlungen  hervorrufen, 
während  andere  den  Kranken  gleichgültig  lassen,  ja,  die  Kranken 
sind  trotz  ihrer  Angst  vor  dem  Schmutze  öfters  sogar  ziemlich  un- 
sauber, tragen  ihre  Wäsche,  die  sie  selber  reinigen,  bis  zum  Aeussersten. 
Natürlich  wird  durch  die  ganz  ins  Ungeheuerliche  gehenden 
Waschungen  mehr  und  mehr  die  gesammte  Zeit  des  Kranken  in 
Anspruch  genommen,  so  dass  er  schliesslich  zur  Erfüllung  seiner 
sonstigen  Pflichten  vollständig  unfähig  wird.  Eine  Kranke  Tambu- 
rinis  bedurfte  täglich  je  3 — 4 Stunden  zum  Aus-  und  Ankleiden, 
verbrauchte  beim  Waschen  20  Handtücher  und  musste  sich  schon 
waschen,  wenn  sie  nur  die  Verkäufer  auf  der  Strasse  ihre  schmutzigen 
Waaren  ausrufen  hörte.  Ein  wenigstens  ungefähres  Yerständniss 
für  die  Unsinnigkeit  dieses  Treibens  ist  trotz  der  Unmöglichkeit, 
davon  abzulassen,  regelmässig  vorhanden. 

In  einer  letzten  Reihe  von  Fällen  sehen  wir  die  Zwangsbefürch- 
tungen anscheinend  die  Form  von  Antrieben  gewinnen.  Dem 
Kranken  drängt  sich  die  Frage  auf:  Was  würde  geschehen,  wenn 
du  diese  oder  jene  Handlung  unternehmen,  mit  dem  daliegenden 
Messer  einen  Menschen,  dein  Kind  tödten,  dem  dich  trauenden 
Geistlichen  plötzlich  eine  Ohrfeige  geben,  im  Theater  mit  einem 
Male  auf  die  Bühne  springen  würdest?  u.  dergl.  Daraus  entspringt 
dann  die  Furcht  vor  allen  äusseren  Anlässen,  welche  derartige  An- 
triebe wachrufen  könnten.  Die  Kranken  wagen  es  nicht  mehr, 
Feierlichkeiten  beizuwohnen,  gerathen  in  äusserste  Angst  vor  allen 
gefährlichen  Werkzeugen.  Einer  meiner  Kranken,  ein  überaus  gut- 
müthiger,  weichherziger  Mensch,  musste  schon  von  weitem  allen 
Arbeitern  aus  dem  Wege  gehen,  die  Aexte,  Sägen  u.  dergl.  trugen, 
weil  ihm  deren  Anblick  immer  die  Befürchtung  aufdrängte,  er  könnte 


Zwangsirresein. 


553 


vielleicht  Jemanden  umbringen.  Andere  Kranke  denken  daran,  dass 
sie  Kindern  Nadeln  in  den  Kopf  bohren,  ihnen  den  Hals  abschneiden, 
das  Tafelsilber  stehlen,  sich  selbst  oder  Anderen  den  Bauch  auf- 
schlitzen müssten.  Meist  sind  es  gerade  geliebte  Personen,  an  die 
sich  diese  Gedanken  anknüpfen.  Bisweilen  gesellen  sich  auch  ein- 
zelne Täuschungen  hinzu;  die  Kranken  sehen  ein  blutiges  Messer 
vor  dem  Auge  schweben,  glauben  den  Schrei  zu  hören,  den  sie  ver- 
meintlich in  der  Kirche  ausgestossen  haben.  Manche  Kranke  lassen 
sich  einschliessen,  festbinden,  um  diesen  Antrieben  widerstehen  zu 
können.  Thatsächlich  kommt  es  jedoch  hier  niemals  zu  Handlungen; 
wir  haben  es  einfach  mit  Befürchtungen  zu  thun,  die  sich  gegen 
die  vermeintlich  aus  dem  eigenen  Innern  drohenden  Gefahren 
richten.  Höchstens  kann  es  Vorkommen,  dass  die  Kranken  einmal 
der  Versuchung  nicht  zu  widerstehen  vermögen,  bei  besonders  feier- 
licher Gelegenheit  zu  fluchen  oder  im  Gebete  an  Stelle  der  beab- 
sichtigten Worte  gotteslästerliche  oder  obscöne  Wendungen  zu  setzen 
(„Koprolalie“). 

Das  Bewusstsein  aller  dieser  Kranken  ist  dauernd  vollkommen 
klar.  Sie  behalten  auch  fast  immer  ein  gutes  Verständniss  für  die 
Krankhaftigkeit  ihres  Zustandes  und  haben  den  Wunsch,  aber  nicht 
die  Kraft,  sich  aus  demselben  zu  befreien.  Sie  wissen  ganz  genau, 
dass  ihnen  keine  wirkliche  Gefahr  droht,  dass  sie  nichts  be- 
gangen haben,  aber  die  „Angst  vor  der  Angst“  ist  doch 
so  mächtig,  dass  sie  immer  wieder  überwältigt  werden.  Ihr 
gänzlicher  Mangel  am  Selbstvertrauen  zeigt  sich  deutlich  in  der 
hülflosen  Abhängigkeit,  in  der  sie  so  oft  von  den  Vertrauens- 
personen stehen,  die  ihnen  immer  und  immer  wieder  die  Grund- 
losigkeit ihrer  Befürchtungen  versichern  und  dadurch  die  Be- 
ruhigung geben  müssen,  zu  der  sie  aus  eigener  Kraft  nicht  gelangen 
können. 

Den  Grundton  ihrer  Stimmung  bildet  die  krankhafte  Aengst- 
lichkeit,  die  bisweilen  in  auffallendem  Widerspruche  mit  ihrem 
Muthe  bei  wirklichen  Gefahren  steht.  Vielfach  sind  aber  die  Kranken 
von  jeher  sehr  weiche,  unselbständige,  willensschwache  Naturen,  die 
gewohnt  waren,  sich  auf  Andere  zu  stützen.  In  ihrem  Benehmen 
und  Handeln  bieten  die  Kranken  meist  nichts  Auffallendes,  zumal 
sie  sich  Fremden  gegenüber  oft  vorzüglich  zu  beherrschen  wissen. 
Erst  in  den  schwereren  Gestaltungen  des  Leidens  wird  das  tägliche 


554 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


Handeln  und  damit  die  Fähigkeit  zu  selbständiger  Lebensführung 
stärker  ^Mitleidenschaft  gezogen.  Die  Schutzmassregeln  des  Kranken 
zur  Bekämpfung  seiner  Angst  können  dann  seine  ganze  Aufmerk- 
samkeit derart  in  Anspruch  nehmen,  dass  er  alles  Andere  darüber 
verwahrlosen  lässt.  Er  kann  sie  um  seiner  Kühe  willen  nicht  unter- 
lassen, auch  wenn  er  sich  ihrer  Lächerlichkeit  und  Abgeschmacktheit 
klar  bewusst  ist.  In  weit  vorgeschrittenen,  veralteten  Fällen  kann 
sich  der  Kranke  schliesslich  auch  derart  in  sein  Leiden  einleben, 
dass  er  die  ganze  Ungeheuerlichkeit  seines  Treibens  nicht  mehr  recht 
übersieht. 

Eine  gemeinsame  Eigenthiimlichkeit  fast  aller  Arten  von  ..Phobien" 
sind  die  „Krisen“.  Sobald  man  den  Kranken  zwingt,  das  von  ihm 
Gefürchtete  zu  thun,  oder  ihn  daran  hindert,  jene  Schutzmassregeln 
zu  treffen,  welche  ihn  beruhigen,  entwickeln  sich  die  oben  geschil- 
derten ängstlichen  Aufregungszustände.  Nicht  selten  verbindet  sich 
damit  aber  auch  eine  Art  Zorn  mit  rücksichtsloser  Empörung  wider 
den  von  aussen  gegen  die  krankhaften  Erscheinungen  gerichteten 
Zwang.  Es  ist  oft  ganz  erstaunlich,  wie  der  bis  dahin  einsichtige 
und  selbst  die  Befreiung  von  seinem  Leiden  herbeisehnende  Kranke 
plötzlich  vollkommen  umgewandelt  erscheint  und  sich  auf  das  leiden- 
schaftlichste gegen  den  Helfer  auflehnt,  sobald  derselbe  versucht, 
wirklich  den  Kampf  mit  der  psychischen  Störung  aufzunehmen. 
Gelingt  es  trotzdem,  den  Widerstand  des  Kranken  zu  überwinden 
und  ihn  zum  steten  Kampfe  mit  seinen  krankhaften  Neigungen  zu 
zwingen,  so  bemächtigt  sich  seiner  oft  eine  tiefe,  andauernde  De- 
pression, ein  Druck,  der  erst  dann  dem  Gefühle  der  Erleichterung 
weicht,  wenn  der  Kranke  im  Stande  war,  sich  nach  seiner  eigenen 
Art  Ruhe  zu  verschaffen.  Freilich  geht  dann  regelmässig  in  dem 
fruchtlosen  Kampfe  mit  der  Krankheit  ein  gutes  Theil  der  geistigen 
und  körperlichen  Arbeitsfähigkeit  verloren. 

Der  Verlauf  der  hier  beschriebenen  Störungen  ist  im  ganzen 
ein  schwankender.  Völliges  Verschwinden  der  Krankheitszeichen 
kommt  selten  und  immer  nur  vorübergehend  vor.  Dagegen  werden 
erhebliche  Nachlässe  und  ebenso  rasche  Verschlimmerungen  vielfach 
beobachtet.  Die  Entstehung  des  Leidens  pflegt  bis  in  die  Jugendzeit 
oder  doch  ins  Entwicklungsalter  zurückzureichen.  Ungemein  häufig 
giebt  irgend  ein  äusserer  Anlass,  eine  Gemüthsbewegung,  ein  hin- 
geworfenes Wort,  eine  auffallende  Lebenserfahrung  den  ersten  An- 


Zwangsirresein. 


555 


stoss  zum  Auftauchen  der  Krankheitserscheinungen.  Bei  einer  meiner 
Kranken  begann  die  „Waschmanie“  nach  dem  Samariterunterricht, 
in  welchem  eindringlich  die  Gefahren  der  Wundansteckung  be- 
sprochen worden  waren.  Ein  Kranker  mit  Furcht  vor  "tollen  Hunden 
war  in  seiner  Jugend  einmal  von  einem  Hunde  angefallen  worden. 
In  anderen  Fällen  treten  die  Störungen  bei  irgend  einem  körperlichen 
Unwohlsein,  nach  einer  fieberhaften  Erkrankung,  einer  Entfettungscur, 
im  Wochenbett,  während  der  Lactation,  in  Folge  von  Ueberarbeitung 
zum  ersten  Male  hervor.  Ganz  besondere  ursächliche  Wichtigkeit 
wird  von  manchen  Aerzten  dem  Congressus  interruptus.  ferner  der 
ODanie  beigelegt.  Gerade  die  Geringfügigkeit  und  Verschieden- 
artigkeit  solcher  äusseren  Anlässe  zeigt  deutlich  genug,  dass  die 
wesentliche  Ursache  der  eigenartigen  Krankheitserscheinungen  aus- 
schliesslich in  der  besonderen  Veranlagung  der  gesammten  Per- 
sönlichkeit zu  suchen  ist.  Regelmässig  lässt  sich  hier  bei  einzelnen 
oder  mehreren  Familiengliedern  die  Neigung  zu  peinlicher  Ordnungs- 
liebe, übertriebener  Aengstlichkeit  oder  Schwarzseherei  nachweisen, 
selbst  wenn  ausgebildetere  Psychosen  nicht  vorgekommen  sind.  Auch 
die  Kranken  selber  pflegen  von  Jugend  auf  schon  die  Andeutungen 
jener  Eigen thümlichkeiten  darzubieten,  als  deren  Zerrbild  sich  die 
spätere  Störung  auffassen  lässt. 

Die  Prognose  des  Zwangsirreseins  ist  im  allgemeinen  eine 
ungünstige.  Zwar  gelingt  es  nicht  selten,  namentlich  bei  den  ein- 
fachen Zwangsvorstellungen,  der  Platzangst  und  den  verwandten 
Erscheinungen,  die  krankhaften  Störungen  für  kürzere  oder  längere 
Zeit  zum  Schwinden  zu  bringen,  aber  die  Gefahr  von  Rückfällen  ist 
bei  der  tief  wurzelnden  Grundursache  stets  eine  ausserordentlich 
grosse.  Man  wird  daher  gut  thun,  gegen  die  nicht  selten  berich- 
teten Heilungen  des  Zwangsirreseins  etwas  misstrauisch  zu  sein. 
Immerhin  giebt  es  so  manche  Fälle,  in  denen  auffallendere  Störungen 
vielleicht  nur  einmal  unter  besonders  ungünstigen  Bedingungen  auf- 
treten  und  demnach  auch  dauernd  beseitigt  werden  können.  Bei 
der  Grübelsucht,  der  Zweifelsucht,  der  Berührungsfurcht  scheinen  die 
Aussichten  auf  Besserung  sehr  geringe  zu  sein;  hier  wird  sogar 
häufiger  ein  im  ganzen  fortschreitender  Verlauf  beobachtet.  Dagegen 
kommt  ein  Uebergang  des  Leidens  in  andere  Geistesstörungen,  wie 
ihn  die  Kranken  immer  befürchten,  nicht  vor. 

Die  Erkennung  dieser  Zustände  bietet  in  ausgeprägten  Fällen 


556 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


keinerlei  Schwierigkeit.  Die  leichteren  Formen  gehen  allmählich 
in  entsprechende,  auch  dem  gesunden  Leben  bekannte  Erscheinungen 
über.  Andererseits  können  die  Zeichen  des  Zwangsirreseins  vor- 
übergehend auch  bei  einer  Reihe  von  anderen  Geistesstörungen  auf- 
treten,  ganz  besonders  in  den  Depressionszuständen  des  manisch- 
depressiven  Irreseins,  seltener  im  Beginne  einer  Paranoia  oder  auch 
der  Paralyse.  In  allen  diesen  Fällen  pflegen  die  Erscheinungen 
auffallend  plötzlich  einzusetzen  und  nicht  jenen  innigen  Zusammen- 
hang mit  dem  gesammten  Denken  und  Fühlen  aufzuweisen  wie 
beim  eigentlichen  Zwangsirresein.  Ueberdies  zeigt  hier  der  weitere 
Verlauf  überall  immer  deutlicher  die  Besonderheiten  der  erwähnten 
Krankheitsvorgänge. 

Die  Behandlung  kann  vielleicht  schon  mit  der  vorbeugenden 
Berücksichtigung  der  krankhaft  veranlagten  Kinder,  mit  rechtzeitiger 
und  ausgiebiger  Förderung  der  körperlichen  Entwicklung,  Be- 
kämpfung der  bedrohlichen  Eigenthümlichkeiten  durch  eine  ver- 
nünftige Erziehung  einsetzen.  Späterhin  werden  alle  Einflüsse  nach 
Möglichkeit  abzuweisen  sein,  welche  die  körperliche  und  geistige 
Widerstandsfähigkeit  schwächen.  Gegen  die  eigentlichen  Krankheits- 
erscheinungen hilft,  soviel  ich  sehe,  nur  eine  ausdauernde,  geduldige 
Erziehung,  welche  allmählich  das  stark  gesunkene  Selbstvertrauen 
wieder  zu  heben  und  den  Kranken  Schritt  für  Schritt  zum  Siege 
über  den  krankhaften  Zwang  zu  führen  sucht.  Es  ist  nützlich,  den 
Kranken  über  die  Eigenart  seines  Leidens  und  die  Bedeutung  der 
einzelnen  Störungen  möglichst  sachlich  aufzuklären.  Man  wird  ihn 
dabei  auf  die  Nothwendigkeit  hinweisen,  der  Macht  des  psychischen 
Zwanges  nicht  durch  besondere  Willensanspannung,  die  das  Uebel 
nur  zu  vergrössern  pflegt,  sondern  durch  Ablenkung zn  begegnen. 
Gelegentliche  Besprechungen  mit  einem  verständnisvollen  Arzte  pflegen 
den  Kranken  sehr  zu  beruhigen  und  ihm  Kraft  zu  neuem  Kampfe 
mit  seiner  krankhaften  Veranlagung  zu  geben.  Zur  Unterstützung, 
namentlich  in  den  Krisen,  dient  zweckmässig  die  hypnotische  Sug- 
gestion, doch  hilft  sie  nur  vorübergehend  und  versagt  in  schweren 
Fällen  vielfach.  Vor  der  Anwendung  stark  wirkender  Arzneimittel, 
ganz  besonders  des  Morphiums,  ist  wegen  der  Gefahr  der  Gewöhnung 
dringend  zu  warnen.  Auch  mit  dem  Alkohol  sei  man  aus  diesem 
Grunde  vorsichtig,  obgleich  kleine  Gaben  öfters  dem  Auftreten  der 
Angst  in  vorzüglicher  Weise  Vorbeugen. 


Das  impulsive  Irresein. 


557 


C.  Das  impulsive  Irresein. 

Unter  der  vorläufigen  Bezeichnung  des  impulsiven  Irreseins 
wollen  wir  alle  diejenigen  Formen  des  Entartungsirreseins  zusammen- 
fassen, denen  die  Entwicklung  krankhafter  Neigungen  und 
Triebe  eigenthümlich  ist.  Dieselben  können  entweder  dauernd 
den  'Willen  beherrschen  oder  nur  zeitweise,  in  einzelnen  Anwand- 
lungen hervortreten.  Der  Kranke  handelt  dabei  ohne  klaren  Be- 
weggrund, einfach,  weil  er  den  unwiderstehlichen  Antrieb  in 
sich  fühlt,  zu  handeln.  So  kommt  es  denn,  dass  seine  Willens- 
äusserungen vielfach  den  Stempel  des  Unvorbedachten,  des  Zweck- 
losen, ja  des  Widersinnigen  tragen,  weil  sie  eben  nicht  durch  einen 
zielbewussten  Plan,  sondern  durch  einen  plötzlich  auftauchenden  und 
sofort  zur  Ausführung  drängenden,  häufig  sehr  unklaren  Antrieb 
hervorgerufen  werden. 

Der  Inhalt  solcher  „Zwangshandlungen“  ist  vielfach  ein  gleich- 
gültiger, und  zahlreiche  Menschen  mit  „absonderlichen  Einfällen“, 
unvermittelt  hervortretenden  und  ebenso  rasch  wieder  verschwinden- 
den Antrieben  bilden  die  Uebergänge  von  den  schweren,  unzweifel- 
haft krankhaften  Formen  des  impulsiven  Irreseins  zum  gesunden 
Verhalten.  Maudsley  berichtet  von  einem  Herrn,  der  wochenlang 
von  dem  Antriebe  geplagt  wurde,  zwei  oben  auf  einer  Mauer  liegende 
Steine  herabzuwerfen  und  sich  schliesslich  Nachts  hinschlich,  um 
sich  durch  Ausführung  dieser  unsinnigen  Handlung  Ruhe  zu  ver- 
schaffen. Eine  sehr  ernste  Bedeutung  gewinnen  diese  Krankheits- 
zustände jedoch  dadurch,  dass  die  aufsteigenden  Antriebe  ungemein 
häufig  die  Umgebung  oder  das  eigene  Leben  und  Wohlergehen  ge- 
fährden. 

Die  klinische  Erfahrung  lehrt,  dass  im  einzelnen  Falle 
oft  nur  eine  bestimmte  Richtung  der  krankhaften  Antriebe  her- 
vortritt. Wahrscheinlich  am  häufigsten  ist  die  Neigung  zur  Brand- 
stiftung, wie  sie  besonders  bei  jugendlichen  Personen  weiblichen 
Geschlechtes  vor  und  während  der  Pubertätsentwicklung  beobachtet 
wird.  Bisweilen  geht  die  krankhafte  Freude  am  flackernden  Feuer 
und  der  unbezähmbare  Wunsch,  sich  diesen  Anblick  zu  ver- 
schaffen, bis  in  die  Kindheit  zurück.  In  einem  berühmt  gewordenen 
Falle,  in  welchem  ein  Student  zahllose  Brände  in  immer  genau 


558 


XII.  Die  ps3’c.boitathi8chen  Zustände. 


derselben  Weise  angelegt  hatte,  Hess  sich  feststellen,  dass  die 
Ausführung  dieser  Handlungen  regelmässig  unter  dem  Einflüsse 
des  Alkohols  erfolgt  war.  Vielleicht  handelte  es  sich  jedoch  hier 
um  Epilepsie. 

Eine  zweite  Hauptrichtung  der  krankhaften  Antriebe  ist  die 
dauernde  oder  vorübergehende  Neigung,  gelegentliche,  unsinnige 
Diebstähle  zu  begehen.  Solchen  Anwandlungen  begegnen  wir 
ebenfalls  am  häufigsten  beim  weiblichen  Geschlechte,  und  zwar  vor- 
zugsweise in  der  Zeit  geschlechtlicher  Umwälzungen  (Menstruation, 
Schwangerschaft).  Die  Krankhaftigkeit  dieser  Handlungen  zeigt  sich 
darin,  dass  denselben  jeder  verständige  Beweggrund  fehlt.  Die  ge- 
stohlenen Gegenstände  sind  vielfach  gänzlich  oder  doch  für  den 
Thäter  werthlos,  oder  sie  werden  auch  später  dem  Eigenthümer  ein- 
fach wieder  zugestellt.  In  anderen  Fällen  richtet  sich  die  Begierde 
des  Einzelnen  gerade  auf  eine  ganz  bestimmte  Art  von  Dingen,  die 
ohne  erkennbaren  Zweck  in  grossen  Mengen  zusammengestohlen 
werden;  hier  lassen  sich  bisweilen  Beziehungen  zum  Geschlechts- 
triebe nachweisen.  Wie  es  scheint,  ist  diesen  Neigungen  die  krank- 
hafte Kauflust  und  Sammelwuth  nahe  verwandt,  die  sich  nicht  selten 
auf  ganz  werthlose  Dinge  erstreckt.  So  giebt  es  Kranke,  welche 
gewisse  Abfälle  ihres  eigenen  Körpers,  abgeschnittene  Haare,  Nägel, 
Hautschüppchen,  Ohrenschmalz,  sammeln  und  in  sorgfältiger  Ver- 
packung aufbewahren.  Bei  anderen  ist  zwar  das  Ziel  der  Sammel- 
wuth vernünftiger,  aber  die  Leidenschaftlichkeit  derselben  führt  die 
Kranken  zu  gänzlicher  Vernachlässigung  aller  anderen  Rücksichten, 
unter  Umständen  sogar  zum  Verbrechen. 

Weitere  Aeusserungen  einer  Entartung  des  gesunden  Trieb- 
lebens sind  die  unsinnige  Liebe  zu  Thieren,  die  unwidersteh- 
liche Neigung  zum  Spiel,  die  krankhafte  Steigerung  des  Ge- 
schlechtstriebes und  zahllose  ähnliche  Abweichungen.  Auch  ge- 
wisse, plötzlich  auftauchende  sehnsüchtige  Zuneigungen  zu  be- 
stimmten Personen  gehören  vielleicht  hierhin.  Hecker  erzählt 
von  einem  60  jährigen  Herrn,  der  auf  der  Reise  von  überwältigen- 
der Sehnsucht  nach  einer  gleichalterigen  Dame  erfasst  wurde,  die 
er  im  Bade  kennen  gelernt  hatte.  Er  musste  sofort  umkehren  und 
zu  ihr  reisen,  obgleich  er  sich  der  Unsinnigkeit  seines  Handelns 
klar  bewusst  war.  Möglicherweise  liegen  in  solchen  Fällen,  wie 
Hecker  annimmt,  verkappte  Angstzustände  zu  Grunde,  die  sich 


Impulsives  Irresein.  559 

dann  in  die  Form  der  Sehnsucht  kleiden,  ähnlich  dem  „Heimweh“ 
der  Melau choliker. 

Von  ganz  hervorragender  praktischer  Bedeutung  ist  ferner  der 
krankhafte  Antrieb,  zu  verletzen  oder  zu  tödten.  Eine  be- 
sondere Gruppe  bilden  hier  die  triebartigen  Angriffe  junger  Mädchen 
auf  die  ihrer  Obhut  übergebenen  Kinder.  Ich  behandelte  eine  schon 
von  Emminghaus*)  kurz  erwähnte  Kranke,  die  im  Alter  von  drei- 
zehn Jahren  zwei  ihrer  Pflege  anvertraute  Kinder,  darunter  ihr 
eigenes  Brüderchen,  einfach  erstickte,  aus  keinem  anderen  Beweg- 
gründe, als  „weil  ihr  die  Lust  dazu  kam“.  Auf  diesem  Gebiete  des 
impulsiven  Irreseins  tritt  uns  am  deutlichsten  die  häufige  Verbin- 
dung krankhafter  Antriebe  mit  dem  Geschlechtstriebe  entgegen.  Ge- 
rade von  dem  letzteren  aus  scheinen  sich  bei  psychisch  wenig  wider- 
standsfähigen Menschen  verhältnissmässig  leicht  alle  jene  zwangs- 
mässigen  Beeinflussungen  des  Fiihlens  und  Handelns  geltend  zu 
machen,  die  wir  früher  als  Sadismus,  Masochismus,  Fetischismus  u.  s.  f. 
eingehend  geschildert  haben.  Die  Mädchenstecher  und  Zopfabschneider, 
manche  Exhibitionisten  und  Lustmörder,  die  Kranken,  die  aus  ge- 
schlechtlichen Gelüsteu  Schuhe  oder  weibliche  Wäsche  stehlen, 
Kleider  zerschneiden  oder  beschmutzen,  dürften  hierher  zu  rechnen 
sein,  soweit  es  sich  nicht  um  Epileptiker  handelt,  die  in  Dämmer- 
zuständen ähnliche  Thaten  begehen  können.  Endlich  aber  gehört 
hierher  auch  jene  Umwandlung  der  geschlechtlichen  Neigungen, 
welche  wegen  ihrer  klinischen  Eigenart  im  folgenden  Abschnitte 
einer  gesonderten  Besprechung  unterzogen  werden  soll. 

Die  geistige  Begabung  unserer  Kranken  braucht  keine  schärfer 
hervortretenden  Störungen  aufzuweisen,  doch  findet  sich  in  schweren 
Fällen  meist  ein  höherer  oder  geringerer  Grad  von  Schwachsinn. 
Auch  bei  leichteren  Abweichungen  wird  eine  genaue  Prüfung  wol 
selten  die  Anzeichen  einer  gewissen  Beschränktheit  oder  Zerfahren- 
heit und  Verschwommenheit,  namentlich  aber  ein  Zurückbleiben  der 
gesammten  geistigen  Ausbildung  hinter  der  durch  das  Lebensalter 
geforderten  vermissen  lassen.  Noch  deutlicher  pflegen  die  Störungen 
auf  gemüthlichem  Gebiete  hervorzutreten;  nach  dieser  Richtung 
haben  wir  es  regelmässig  mit  schwachen,  haltlosen,  oft  auch  mit 


*)  Die  psychischen  Störungen  im  Kindesalter,  1887,  S.  241. 


560  XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 

kindisch  eigensinnigen  oder  rohen,  menschenscheuen,  verschlossenen 
Naturen  zu  thun. 

Trotzdem  das  impulsive  Irresein  auf  Entartung,  also  auf  dauern- 
den Veränderungen  der  psychischen  Persönlichkeit  beruht,  sehen  wir 
die  klinischen  Erscheinungen  desselben  öfters  nur  während  bestimmter 
Lebensabschnitte,  namentlich  in  den  Entwicklungsjahren,  hervortreten. 
Diese  Erfahrung  entspricht  der  schon  bei  verschiedenen  Gelegenheiten 
besprochenen  Thatsache,  dass  es  im  Verlaufe  des  menschlichen  Da- 
seins gewisse  Zeiten  giebt,  in  denen  die  allgemeine  Widerstands- 
fähigkeit auf  körperlichem  und  seelischem  Gebiete  besonders  gering 
ist.  Gerade  der  Widerstreit  dunkler  Gefühle  und  Antriebe  während 
der  Geschlechtsentwicklung  wird  daher  auch  günstige  Bedingungen 
für  das  Anwachsen  krankhafter  Willensregungen  schaffen  können, 
welche  im  späteren  Leben  durch  das  gesunde  Wollen  einfach  in  den 
Hintergrund  gedrängt  werden.  Mit  der  vollen  Ausbildung  und 
Festigung  der  Persönlichkeit  kann  sich  in  einzelnen  Fällen  eine 
überraschend  weitgehende  Besserung  der  Störungen  heraussteilen. 
Hie  und  da  beobachtet  man  eine  gewisse  Periodicität  der  Krankheits- 
erscheinungen. 

Ausser  dem  gemeinsamen  Ursprünge  aus  einer  krankhaften  Ver- 
anlagung theilt  das  impulsive  Irresein  mit  anderen  Formen  der  Ent- 
artung manche  äussere  Eigenthümlichkeiten.  So  kann  man  die  unaus- 
rottbare Rückfälligkeit  des  sittlich  unfähigen  Gewohnheitsverbrechers 
mit  der  zwangsmässigen  Wiederholung  der  gleichen  verbrecherischen 
Handlungen  durch  unsere  Kranken  verwechseln.  Auch  der  sittlich 
Schwachsinnige  legt  Feuer  an,  tödtet  und  stiehlt,  aber  er  thut  es 
aus  selbstsüchtigen  Beweggründen,  zu  irgend  einem  bestimmten 
Zwecke  oder,  um  zu  schaden,  während  hier  einzig  der  gebieterische 
Antrieb  den  Kranken  gegen  seinen  eigentlichen  Willen  zur  Begehung 
der  That  zwingt.  Sehr  häufig  ist  dabei  sogar  ein  deutliches  Gefühl 
von  der  Widersinnigkeit,  Unnatürlichkeit  und  Krankhaftigkeit  der 
Handlungsweise  vorhanden.  Nach  einer  andern  Seite  hin  nähert 
sich  das  impulsive  Irresein  gewissen  Formen  des  Zwangsirreseins. 
Allein  jene  Kranken  wollen  durchaus  nicht  die  ihnen  vorschwebenden 
Handlungen  begehen;  sie  haben  vielmehr  einen  lebhaften  Abscheu 
davor  und  fürchten  nur,  dass  sie  möglicherweise  unterliegen  könnten, 
was  thatsächlich  nicht  geschieht.  Hier  dagegen,  beim  impulsiven 
Irresein,  verknüpft  sich  die  Vorstellung  der  krankhaften  That  mit 


Impulsives  Irresein. 


561 


dem  Gefühle  einer  gierigen  Wollust,  welche  dem  Kranken  für  die 
Ausführung  volle  und  ausgiebige  Befriedigung  verspricht,  so  dass 
er  nicht  ruhen  kann,  bis  er  gehandelt  hat.  Unmittelbar  nach  der 
That  folgt  eine  deutliche  Erleichterung,  beim  Misslingen  das  Be- 
dauern über  den  Misserfolg.  Von  Reue  ist  oft  gar  keine  Spur  vor- 
handen, oder  sie  kommt  doch  nur  bei  geringergradigem  sittlichem 
Defect  und  erst  dann,  wenn  nach  der  Aufregung  der  That  jene 
Gegenvorstellungen  auftauchen,  welche  bis  dahin  durch  die  alles 
beherrschende  Begierde  zurückgedrängt  worden  waren.  Es  ist 
daher  klar,  dass  wir  es  hier  mit  wirklich  krankhaften  Trieben, 
dort  dagegen  nur  mit  einfachen  Zwangsbefürchtungen  zu  thun 
haben. 

Die  Thatsache  des  impulsiven  Irreseins  hat  auf  einer  früheren 
Entwicklungsstufe  der  Psychiatrie  als  Grundlage  der  Lehre  von  den 
„Monomanien“  eine  wichtige  Rolle  gespielt.  Jetzt  ist  die  für  unser 
wissenschaftliches  Verständniss  gefahrdrohende  Annahme  umschrie- 
bener krankhafter  Triebe  in  der  klaren  Erkenntniss  untergegangen, 
dass  man  es  hier  überall  mit  einer  angeborenen,  allgemeinen  psy- 
chischen Invalidität  zu  thun  hat,  deren  schwächster  Punkt  gerade  in 
dem  Mangel  einer  Herrschaft  über  die  allerdings  vielfach  in  krank- 
hafter Stärke  und  Richtung  entwickelten  Triebe  gelegen  ist.  Das 
italienische  und  spanische  Strafgesetzbuch  nimmt  auf  das  impulsive 
Irresein  Rücksicht  in  der  Anerkennung  einer  „forza  irresistibile“ 
(unwiderstehlichen  Gewalt),  welche  unter  Umständen  den  Willen 
des  Thäters  vollständig  fortreissen  und  damit  als  Strafausschliessungs- 
grund  gelten  soll.  Möglich,  dass  plötzliche  Antriebe  von  unbezwing- 
licher  Stärke  bei  den  heissblütigen  Völkern  des  Südens  häufiger 
sind,  als  bei  uns;  jedenfalls  vermag  jene  Fassung  vielfachen  „Miss- 
bräuchen“ im  Sinne  der  Rechtspflege  Thür  und  Thor  zu  öffnen.  Wie 
ich  glaube,  sollte  man  das  Bestehen  des  impulsiven  Irreseins  nur 
dort  annehmen,  wo  wirklich  der  triebartige  Ursprung  des  Handelns 
ohne  klares,  vernünftiges  Ziel  deutlich  hervortntt,  und  wo  auch  im 
übrigen  Bereiche  des  Seelenlebens  die  Anzeichen  einer  krankhaften 
Veranlagung  erkennbar  sind. 

Die  Behandlung  des  impulsiven  Irreseins  sieht  sich  naturgemäss 
wesentlich  auf  eine  sorgfältige,  die  körperliche  Entwicklung  nach 
Möglichkeit  berücksichtigende  und  im  übrigen  der  Lage  des  ein- 
zelnen Falles  angepasste  Erziehung  beschränkt.  Sehr  wichtig  er- 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  U.  Band.  36 


562 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


scheint  es  mir,  bei  diesen  Kranken  von  vorn  herein  dauernde,  völlige 
Enthaltsamkeit  vom  Alkohol  zu  erstreben,  der  ihnen  nachweislich 
so  schweren  Schaden  bringt.  Eine  ganze  Reihe  der  Kranken,  nament- 
lich der  hier  zahlreich  vertretenen  Gemeingefährlichen,  wird  noth- 
wendiger  Weise  der  Anstaltspflege  anheimfallen,  unter  deren  Schutze 
sie  meistens  noch  zu  einem  verhältnissmässig  nützlichen  und  für  sie 
selbst  befriedigenden  Leben  erzogen  werden  können. 


D.  Die  conträre  Sexualempfindnng. 

Die  verschiedenartigen  Verirrungen  des  Geschlechtstriebcs, 
denen  wir  auf  dem  Gebiete  des  impulsiven  Irreseins  begegnet  sind, 
bilden  in  mancher  Beziehung  einen  Uebergang  zu  jener  eigenartigen 
Umwandlung  der  geschlechtlichen  Neigungen,  welche  Westphal 
nach  ihrem  wichtigsten  Zeichen  als  „conträre  Sexualempfindung“ 
bezeichnet  hat.  Es  handelt  sich  hier  um  eine  meist  in  früher 
Jugend  bereits  hervortretende  geschlechtliche  Zuneigung 
zu  Personen  desselben  Geschlechts  („Homosexualität“),  während 
das  andere  Geschlecht  dem  Kranken  in  dieser  Hinsicht  gleichgültig 
bleibt  oder  sogar  Abscheu  und  Ekel  einflösst.  Die  Aufmerksamkeit 
der  Irrenärzte  wurde  auf  diese  wahrscheinlich  uralte,  mit  der  Knaben- 
liebe der  Griechen  und  Römer  in  Beziehung  stehende  Verirrung 
hauptsächlich  durch  Casper  gelenkt;  später  haben  namentlich  West- 
phal und  v.  Krafft-Ebing  unser  Wissen  über  diesen  Gegenstand 
gefördert,  der  in  neuester  Zeit  gleich  eine  ganze  Reihe  eingehendster 
Bearbeitungen  erfahren  hat*). 

In  der  Mehrzahl  der  Fälle  scheint  die  Störung  Männer  zu  be- 
treffen, oder  sie  ist  doch  bei  ihnen  den  Aerzten  leichter  und  häufiger 
bekannt  geworden;  fast  immer  ist  angeborene,  häufig  ererbte  psycho- 
pathische Veranlagung  vorhanden.  Der  Geschlechtstrieb  pflegt  sich 
früh  und  kräftig  zu  entwickeln  und  führt  sehr  häufig  zu  einer  leb- 
haft betriebenen  Onanie.  In  manchen  Fällen  bestehen  zunächst  ge- 
sunde, „heterosexuelle“  Neigungen,  die  erst  später  durch  den  stärker 

*)  Westphal,  Archiv  f.  Psychiatrie,  II,  1;  v.  Krafft-Ebing,  Psycho- 
pathia  sexualis.  10.  Auflage.  1897;  Moll,  Die  conträre  Sexualempfindung.  1891; 
v.  Schrenk-Notzing,  Die  Suggestionstherapie  bei  krankhaften  Erscheinungen  des 
Geschlechtssinnes.  1892. 


Conträre  Sexualempfindung. 


563 


anwachsenden  krankhaften  Trieb  überwältigt  werden.  Meist  aber 
beziehen  sich  die  wollüstigen  Begleitbilder  der  geschlechtlichen  Er- 
regung im  Wachen  und  Träumen  von  vorn  herein  auf  das  gleiche 
Geschlecht,  und  alle  Versuche  natürlichen  Geschlechtsverkehrs  miss- 
glücken vollständig  oder  gewähren  doch  wenigstens  keine  Befrie- 
digung. Gerade  diese  Erfahrungen  sind  es,  welche  dem  Kranken, 
der  oft  längere  Zeit  über  sich  selbst  im  Unklaren  ist,  die  Eigenart 
seines  Geschlechtslebens  enthüllen.  Entscheidend  ist  für  die  weitere 
Entwicklung  die  Bekanntschaft  mit  irgend  einer  Person  gleichen  Ge- 
schlechts, die  entweder  einfach  durch  ihre  körperlichen  und  geistigen 
Vorzüge  die  Sinnlichkeit  des  Kranken  mächtig  erregt  oder  geradezu 
die  gleichen  Neigungen  hat  und  ihn  „verführt“  oder  sich  von  ihm 
verführen  lässt.  Es  kommt  zu  einem  leidenschaftlichen  „Freund- 
schaftsbündnisse“ mit  allen  Ueberschwänglichkeiten  eines  Liebes- 
spiels, schwärmerischen  Briefen,  Blumensendungen,  Geschenken, 
Eifersuchtsausbrüchen,  brünstigem  Küssen  und  Händedrücken.  Meist 
schreitet  dasselbe  zu  wollüstigen  Umarmungen,  gegenseitiger  Mastur- 
bation und  allen  möglichen  andern  „beischlafähnlichen  Handlungen“, 
seltener  zu  wirklicher  Paederastie  fort. 

Ganz  wie  bei  den  Beziehungen  verschiedener  Geschlechter  be- 
stehen solche  „Verhältnisse“  bisweilen  längere  Zeit,  selbst  viele  Jahre 
hindurch  fort.  Weit  häufiger  ist  jedoch  ein  Wechsel  der  Neigungen 
oder  sogar  grosse  Unbeständigkeit.  Meist  sind  beide  Theile  homo- 
sexual, doch  giebt  es  manche  Kranke,  die  gerade  nur  mit  gesund 
fühlenden  Personen  geschlechtlich  zu  verkehren  lieben.  Standes- 
unterschiede scheinen,  genau  wie  im  gewöhnlichen  Geschlechtsleben, 
hier  eine  weit  geringere  Rolle  zu  spielen,  als  etwa  beim  rein  gesell- 
schaftlichen Verkehr.  Einzelne  Kranke  der  besseren  Stände  fühlen 
sich  sogar  am  meisten  zu  Fabrikarbeitern,  Kutschern,  Lastträgern 
u.  dergl.  hingezogen.  Einer  besonderen  Beliebtheit  erfreuen  sich 
auch  hier  die  Soldaten.  Aus  allen  diesen  Umständen  erklärt  es  sich, 
dass  in  grösseren  Städten  gewöhnlich  auch  eine  männliche  Prostitution 
mit  allem  Zubehör  zu  bestehen  pflegt,  die  sich  nicht  nur  aus  homo- 
sexualen, sondern  auch  aus  geschlechtlich  normalen  Personen  zu- 
sammensetzt. Andererseits  werden  neben  den  körperlichen  Reizen 
meist  auch  zusagende  Eigenschaften  des  Gemüths  und  des  Verstandes 
gefordert,  mit  denen  aber  die  Einbildungskraft  des  Homosexualen 
den  Gegenstand  seiner  Liebe  ebenso  freigebig  ausstattet  wie  der 

36* 


564 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


gewöhnliche  Licbcsrausch.  Der  Unbefangene  begegnet  in  seinem 
ganzen  Leben  nicht  einer  solchen  Schaar  von  „hochgebildeten“, 
„edeldenkenden“,  „charaktervollen“  Männern,  wie  wir  sie  in  der 
Schilderung  eines  einzigen  Freundeskreises  solcher  Kranker  anzu- 
treffen pflegen. 

Natürlich  bleibt  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Homosexualen 
unvermählt.  Dennoch  gehen  einzelne  Kranke  trotz  ihres  Wider- 
willens gegen  das  andere  Geschlecht  die  Ehe  ein,  theils  in  der 
Hoffnung,  sich  dadurch  von  ihrem  ungesunden  Triebe  zu  heilen, 
theils  in  dem  Wunsche,  Kinder  zu  besitzen.  Nicht  immer  sind  diese 
Ehen  unglücklich,  da  die  Kranken  bisweilen,  abgesehen  vom  ge- 
schlechtlichen Verkehre,  mit  grosser  Pflichttreue  ihre  eigenthümliche 
Stellung  auszufüllen  verstehen.  Ja,  es  gelingt  denselben  sogar,  Nach- 
kommenschaft zu  erzeugen,  allerdings  nur,  wenn  sie  sich  während  des 
Geschlechtsactes  mit  Aufbietung  ihrer  Einbildungskraft  in  die  Arme 
einer  jungen  und  schönen  Person  gleichen  Geschlechtes  zu  versetzen 
vermögen.  Daneben  unterhalten  sie  vielfach  noch  gelegentlichen  oder 
regelmässigen  homosexualen  Yerkehr. 

Gewöhnlich  besteht  ausser  der  conträren  Sexualempfindung  noch 
eine  Reihe  anderweitiger  Züge,  welche  auf  eine  krankhafte  Veran- 
lagung hindeuten.  Dahin  sind  zunächst  alle  jene  vielgestaltigen 
körperlichen  Entartungszeichen  zu  rechnen,  die  wir  früher  kennen 
gelernt  haben.  Der  Verstand  der  Kranken  ist  meist  normal  ent- 
wickelt, doch  macht  sich  häufig  neben  guter  Auffassungsgabe  grosse 
Ermüdbarkeit,  geringe  Ausdauer  bei  geistiger  Arbeit  und  Neigung 
zu  Träumereien  geltend.  Die  Einbildungskraft  pflegt  stark  über  die 
Fähigkeit  zu  rein  verstandesmässiger  Thätigkeit  zu  überwiegen.  Gar 
nicht  selten  beobachtet  man  auch  wirklichen  Schwachsinn.  Am  auf- 
fallendsten ist  gewöhnlich  die  erhöhte  Erregbarkeit  im  Gemüths- 
leben.  Die  Kranken  sind  empfindlich,  von  Stimmungen  und  Ein- 
drücken in  besonderem  Maasse  abhängig,  schöngeistig  und  künstle- 
risch, besonders  musikalisch  veranlagt,  zu  Schwärmerei  und  Ge- 
fühl sausbrüchen  geneigt,  manchmal  auch  auffallend  schüchtern  und 
unsicher.  Meist  haben  sie,  namentlich  bei  sonstiger  geistiger  Be- 
gabung, ein  lebhaftes  Gefühl  für  ihre  eigenartige  Stellung.  Wenn 
sie  auch  nicht  geneigt  sind,  sich  für  eigentlich  krank  zu  halten,  viel- 
mehr an  sich  ihr  Trieb  ihnen  als  etwas  ganz  Natürliches  erscheint, 
so  empfinden  sie  doch  sehr  tief  und  schmerzlich  den  Druck,  mit 


Conträre  Sexualempfindung. 


565 


•welchem  Gesetz  und  Sitte  sie  belastet,  und  sind  unglücklich  darüber, 
keine  Familie  gründen  zu  können.  Ihr  Charakter  ist  meist  weich,  lenk- 
sam, unselbständig,  oft  sogar  schlaff  und  haltlos.  Ihre  Lebensführung 
weist  daher  häufiger  eine  gewisse  Zerfahrenheit  und  Abenteuerlichkeit 
auf.  Unzuverlässigkeit,  Mangel  an  Wahrheitsliebe,  Neigung  zum  Prahlen 
und  kleinliche  Eitelkeit  sind  gewöhnliche  Untugenden.  Die  geschlecht- 
lichen Beziehungen  spielen  vielfach  eine,  namentlich  für  Männer, 
ganz  merkwürdig  wichtige  und  entscheidende  Rolle  in  ihrem  Leben, 
können  sie  längere  Zeit  vollkommen  in  Anspruch  nehmen,  an  jeder 
geregelten  Thätigkeit  hindern,  sie  verbummeln  lassen,  ihre  Schick- 
sale in  durchaus  massgebender  Weise  beeinflussen.  Bisweilen  ge- 
sellen sieb  zu  der  homosexualen  Neigung  die  früher  besprochenen 
Verirrungen  der  Algolagnie  und  des  Fetischismus  ebenso  hinzu  wie 
zum  heterosexualen  Triebe.  Hie  und  da  treten  auch  Andeutungen 
anderer  Perversitäten  auf;  ich  kannte  einen  jungen  Kaufmann,  der 
nicht  nur  Knaben  beim  Harnlassen  zu  beobachten  suchte,  sondern 
auch  den  Schnee  aufsog,  der  mit  ihrem  Urin  getränkt  war. 

Während  der  Entwicklung  der  conträren  Sexualempfindung  lässt 
sich  sehr  häufig  das  gelegentliche  Auftauchen  heterosexualer  Regungen 
feststellen.  Ich  erinnere  mich  eines  von  Hause  aus  krankhaft  ver- 
anlagten jungen  Mannes,  der  zunächst  zweifellose  sinnliche  Be- 
ziehungen zu  Mädchen  besass,  später  aber  sich  ausschliesslich  durch 
Manustupration  von  Knaben  befriedigte.  Nicht  selten  bestehen 
Neigungen  zu  beiden  Geschlechtern  nebeneinander,  bald  als  Ueber- 
gangstadium,  bald  dauernd.  Freilich  pflegt  meist  die  eine  Richtung 
mit  stärkerer  Befriedigung  verknüpft  zu  sein.  Man  spricht  hier  von 
einer  „psychischen  Hermaphrodisie“. 

Bei  ausgeprägter  Homosexualität  zeigt  sich  häufiger  eine  Ver- 
änderung der  ganzen  Lebensführung  im  Sinne  des  entgegengesetzten 
Geschlechtes.  Der  Mann  wird  weibisch  in  seinen  Bewegungen,  seinem 
Gange,  seiner  Haltung,  seiner  Geschmacksrichtung.  Er  zeigt  ein  süss- 
liches,  geziertes  Wesen,  wird  eitel,  gefallsüchtig,  legt  grossen  Werth 
auf  Aeusseres,  kleidet  sich  mit  besonderer  Sorgfalt,  nach  der  Mode, 
trägt  Blumen  im  Knopfloch,  parfümirt,  schminkt  sich,  lässt  sieb 
frisiren,  schreibt  zierliche  Briefe  auf  duftendem  Papier,  schmückt 
seine  Zimmer  nach  Art  der  weiblichen  Boudoirs  aus.  Vielfach  be- 
steht die  Neigung,  sich  mit  weiblichen  Handarbeiten  zu  be- 
schäftigen, weibliche  Kleidung  (Corsett!)  zu  tragen,  Busen  und 


566 


XII.  Dio  puyehopathiscben  Zustände. 


Hüften  auszustopfen,  in  Fistelstimme  zu  sprechen,  kurz  sich  in  allen 
Stücken  auch  äusserlich  möglichst  der  erwünschten  geschlechtlichen 
Stellung  zu  nähern.  Andererseits  sehen  wir  homosexuale  Frauen 
durch  ihre  Neigung  zu  männlichem  Auftreten,  zum  Rauchen  und 
Trinken,  zu  übermüthigen  Streichen,  zu  männlicher  Kleidung  und 
Haartracht,  zu  männlichem  Sport  und  männlichen  Berufsarten  auf- 
fallen. Diese  Veränderungen  bezeichnet  v.  Krafft-Ebing  als 
Effeminatio  und  Viraginität.  Nicht  selten  gehen  die  ersten 
Spuren  derselben  schon  bis  in  die  Kinderjahre  zurück  und  geben 
vielleicht  günstige  Vorbedingungen  für  die  Ausbildung  der  conträren 
Sexualempfindung  ab;  in  anderen  Fällen  vollzieht  sich  die  ganze 
Umwälzung  erst  späterhin,  anscheinend  wesentlich  unter  dem  Einflüsse 
jener  letzteren. 

Es  giebt  endlich  eine  kleine  Gruppe  von  homosexual  ver- 
anlagten Personen,  bei  denen  auch  der  körperliche  Bau  gewisse 
Abweichungen  vom  Geschlechtstypus  in  der  Richtung  des  anderen 
Geschlechts  aufweist.  Dahin  gehören  die  bartlosen  Männer  mit 
weiblicher,  hoher  Stimme,  glatter,  weisser  Haut,  stärkerem  Fett- 
polster, entwickelten  Brustdrüsen,  schlanker  Taille  und  breiten 
Hüften,  die  Frauen  mit  Bartanflug,  grobem  Knochenbau,  tiefer, 
rauher  Stimme,  männlichem  Becken,  erstere  von  v.  Krafft-Ebing 
als  Androgyne,  letztere  als  Gynandrier  bezeichnet.  Wirkliche 
Zwitterbildung  bei  conträrer  Sexualempfindung  ist  bisher  niemals 
beobachtet  worden. 

Der  Verlauf  des  Leidens  ist  stets  ein  äusserst  langsamer. 
Der  vollen  Entwicklung,  die  sich  meist  gegen  Ende  des  zweiten 
oder  im  Anfänge  des  dritten  Lebensjahrzehntes  vollzieht,  können 
lange  Zeiten  des  Kampfes  oder  der  Heterosexualität  voraufgehen, 
wenn  auch  andererseits  bisweilen  eine  einzige  Lebenserfahrung 
plötzlich  bestimmend  sein  kann.  In  einzelnen  Fällen  hat  man  ein 
periodisches  Auftreten  der  homosexualen  Neigungen  beobachtet,  mit 
oder  ohne  Verbindung  mit  allgemeinen  Erregungszuständen.  Zwei- 
mal sah  ich  acut  Verfolgungsideen  bei  den  sonst  ganz  besonnenen 
Kranken  auftreten.  Sie  fürchteten,  entdeckt,  belauscht  zu  werden, 
hörten  über  sich  sprechen,  waren  äusserst  ängstlich  und  nur  theil- 
weise  und  vorübergehend  einsichtig.  Leider  habe  ich  den  weiteren 
Verlauf  nicht  beobachten  können. 

Die  conträre  Sexualempfindung  ist  nach  den  Versicherungen 


Conträre  Sexualempfindung. 


567 


aller  derartiger  Kranker  keineswegs  selten,  obgleich  die  bisher  vor- 
liegende Casuistik  aus  begreiflichen  Gründen  nur  wenige  hundert 
Fälle  umfasst.  Dennoch  ist  die  Angabe  von  Ulrichs,  der  in  einer 
Reihe  von  Schriften  diesen  Zustand  aus  eigener  Erfahrung  behandelt 
hat,  wahrscheinlich  beträchtlich  übertrieben;  er  nimmt  nämlich  auf 
200  Männer  je  einen  „Urning“  an,  wie  er  die  geschilderten  Kranken 
nennt.  Auf  Grund  dieser  Angabe  verlangt  jener  Schriftsteller  sogar 
die  staatliche  Anerkennung  der  conträren  Sexualempfindung  und 
namentlich  die  Gestattung  dauernder,  förmlicher  Ehebündnisse.  In 
gewissen  Ständen,  namentlich  bei  den  mehr  weiblichen  Berufsarten, 
finden  sich  Homosexuale  besonders  häufig,  unter  den  Decorateuren, 
Tapezierern,  Kellnern,  Damenschneidern;  auch  unter  den  Schau- 
spielern scheinen  sie  viel  vertreten  zu  sein.  Moll  behauptet,  dass 
Damenkomiker  regelmässig  homosexual  seien.  Meistens  wird  hier 
wol  überall  die  Berufswahl  schon  durch  die  ursprüngliche,  zum 
Weiblichen  neigende  Veranlagung  beeinflusst  werden;  namentlich 
das  letzte  Beispiel  spricht  dafür. 

Die  Erkennung  der  conträren  Sexualempfindung  ist  in  den 
Fällen  mit  starker  Umwandlung  der  geistigen  oder  gar  körperlichen 
Persönlichkeit  vielfach  sehr  leicht,  obgleich  auch  trotz  jener  Um- 
wandlung völlig  gesunde  geschlechtliche  Neigungen  vorhanden  sein 
können.  Sonst  ist  die  ärztliche  Diagnose  nur  aus  den  eigenen  Mit- 
theilungen des  Kranken  möglich.  Alle  Angaben  der  Urninge  über  die 
Schnelligkeit  und  Unfehlbarkeit  ihres  Erkennens  sind  Prahlereien. 
Neben  der  krankhaften  conträren  Sexualempfindung  giebt  es  auch 
eine  künstlich  gezüchtete.  Beide,  die  übrigens  wieder  von  der  ein- 
fachen Ausübung  homosexualer  Acte  ohne  homosexuales  Fühlen 
wol  zu  unterscheiden  sind,  gehen  in  einander  über  und  können  nur 
nach  den  im  einzelnen  Falle  vorliegenden  Angaben  über  die  Ent- 
stehungsweise auseinandergehalten  werden. 

Es  kann  nicht  dem  geringsten  Zweifel  unterliegen,  dass  die  con- 
träre Sexualempfindung  auf  dem  Boden  einer  krankhaft  ent- 
arteten Persönlichkeit  erwächst.  Dagegen  ist  es  fraglich,  ob  die 
eigentümliche  Verkehrung  des  Geschlechtstriebes  als  solche  schon 
angeboren  ist,  oder  ob  sie  nur  eine  der  vielen  Erscheinungsformen 
krankhafter  Triebe  darstellt,  -welche  bei  geringer  gemiithlicher  Wider- 
standsfähigkeit durch  äussere  Lebenserfahrungen  grossgezogen  werden 
können.  Man  ist  meist  der  gewichtigen  Ansicht  v.  Krafft-Ebing’s 


568 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


zu  Gunsten  der  ersteren  Möglichkeit  gefolgt,  und  die  vielen  Selbst- 
schilderungen von  Urningen  behaupten  fast  ausnahmslos  sehr  be- 
stimmt, dass  die  homosexualen  Neigungen  angeboren  seien.  Auch  die 
Erfahrung  eines  Zusammenhanges  nicht  nur  der  ganzen  Gemüths- 
art,  sondern  auch  gewisser  körperlicher  Eigentümlichkeiten  mit  der 
conträren  Sexualempfindung  schien  kaum  anders,  als  im  Sinne  eines 
angeborenen  Zwiespaltes  zwischen  der  Bildung  der  Geschlechtsorgane 
und  der  geschlechtlichen  Veranlagung  der  eigentlichen  Persönlichkeit 
gedeutet  werden  zu  können.  Ulrichs  hatte  geradezu  von  einer 
„anima  muliebris  in  corpore  virili  inclusa“  gesprochen,  und  man 
durfte  wenigstens  daran  denken,  dass  bei  der  erst  spät  erfolgenden 
Differenzirung  der  beiden  Geschlechter  die  gewöhnliche  Ueberein- 
stimmung  der  körperlichen  und  geistigen  Gesammtrichtung  mit  den 
äusseren  Geschlechtskennzeichen  möglicherweise  einmal  nicht  zu 
Stande  kommen  könne. 

Gegenüber  diesen  Annahmen  ist  v.  Schrenk-Xotzing  mit 
schwerwiegenden  Beweisen  für  eine  häufigere  Entstehung  der  con- 
trären Sexualempfindung  aus  mehr  zufälligen  Anregungen  einge- 
treten. Mit  Recht  hat  er  darauf  hingewiesen,  dass  bei  unseren  ge- 
sellschaftlichen Einrichtungen  die  meist  lange  vor  dem  eigentlichen 
Entwicklungsalter  sich  einstellenden  ersten  geschlechtlichen  Regungen 
fast  mit  Noth wendigkeit  sich  an  Erlebnisse  mit  dem  eigenen  Ge- 
schlechte  anknüpfen  müssen  (nackte  Knaben  beim  Baden,  Ringen, 
Verführung  durch  Mitschüler).  Thatsächlich  sind  ja  lebhaft  sinnlich  be- 
tonte Freundschaften  zwischen  Schulkindern  des  gleichen  Geschlechts, 
die  noch  nichts  von  den  Geschlechtsunterschieden  wissen,  ganz  un- 
gemein  häufig. 

Bei  gesunden  Personen  sind  die  Nebenumstände,  unter  denen 
die  ersten  sinnlichen  Gefühle  auf  tauchen,  für  die  spätere  Richtung 
des  Geschlechtstriebes  gleichgültig.  Dagegen  können  dieselben  bei 
krankhafter  Veranlagung,  bei  der  ohnedies  das  Erwachen  des  Triebes 
früher  und  heftiger  zu  erfolgen  pflegt,  von  grosser  Bedeutung  werden. 
Dafür  sprechen  vor  allem  gewisse  Erfahrungen  bei  Fetischisten,  deren 
geschlechtliche  Neigungen  ihr  ganzes  Leben  hindurch  unter  dem 
Banne  eines  bestimmten  Eindruckes  stehen  bleiben.  Auch  an  die 
dauernde  Herrschaft  einzelner,  von  aussen  her  angeregter  Vor- 
stellungskreise und  Antriebe  bei  der  Schreckneurose  wie  beim 
Zwangsirresein  darf  hier  erinnert  werden.  Wie  der  Fetischist  nur 


Conträre  Sexualempfindung. 


569 


unter  ganz  bestimmten  Umständen  geschlechtlichen  Genuss  findet, 
so  könnte  dieser  letztere  beim  Homosexualen  an  die  Wiederkehr 
jener  Eindrücke  sich  knüpfen,  welche  zum  ersten  Male  oder  in 
besonders  aufregender  Weise  den  Geschlechtstrieb  weckten;  das 
würden  hier  die  Kennzeichen  des  gleichen  Geschlechtes  sein.  Dass 
dieser  ursprüngliche  Zusammenhang  später  häufig  vergessen  wird 
und  nur  das  anscheinend  räthselhafte  Endergebniss  zu  Tage  liegt, 
kann  in  beiden  Fällen  geschehen.  Doch  liegen  für  Fetischisten 
wie  für  Homosexuale  genügend  zahlreiche  Beobachtungen  vor, 
welche  mit  Bestimmtheit  auf  die  hier  angedeutete  Entstehung  hin- 
weisen. 

Gegen  das  Angeborensein  der  Störung  spricht  ferner  die  That- 
sache  der  häufigen  psychischen  Hermaphrodisie.  Yerhältnissmässig 
selten  sind  jene  Personen,  bei  welchen  niemals  eine  Spur  von 
heterosexualen  Regungen  vorhanden  gewesen  ist.  Wie  beim  ge- 
sunden Menschen  die  ursprünglich  vielleicht  am  häufigsten  auf  das 
eigene  Geschlecht  sich  richtenden  sinnlichen  Neigungen  später  ein- 
fach von  mächtigeren  Trieben  unterdrückt  werden,  so  wird  dort  die 
gesunde  Regung  von  dem  homosexuellen  Triebe  überwuchert,  der 
sich  schon  lange  vorher  auf  dem  krankhaft  empfänglichen  Boden 
üppig  entwickelte.  Daher  die  entscheidende  Bedeutuug  der  ersten 
geschlechtlichen  Misserfolge,  daher  aber  auch  die  sonst  einfach  un- 
erklärliche, später  zu  besprechende  Möglichkeit  einer  Heilung  der 
Kranken  auf  psychischem  Wege!  Das  Krankhafte  liegt  also,  wie 
ich  mit  y.  Schrenk-Notzing  glaube  annehmen  zu  müssen,  häufig 
oder  regelmässig  nicht  in  einem  ursprünglich  verkehrt  entwickelten 
Triebe,  sondern  es  liegt  in  der  eigentkiimlicben,  auf  Entartung  be- 
ruhenden Bestimmbarkeit  des  überdies  früh  erwachenden  Trieb- 
lebens. Durch  sie  wird  in  dem  jugendlichen  Gemiithe  die  erste 
Anregung  der  Sinnlichkeit  massgebend  für  die  dauernde  Gesammt- 
richtung  derselben. 

Allerdings  spricht  gegen  diese  Auffassung  der  obenerwähnte 
Zusammenhang  der  geistigen  und  namentlich  der  körperlichen  Eigen- 
schaften mit  der  Geschlechtsumwandlung.  Indessen  der  Werth  dieser 
Thatsachen  ist  unter  dem  Einflüsse  der  Ulrichs ’schen  Anschauung 
überschätzt  worden.  Alle  jene  körperlichen  Eigenthümlichkeiten 
treffen  wir  gelegentlich  bei  beliebigen  Entarteten,  ohne  Andeutung 
yon  conträrer  Sexualempfindung.  Zudem  sind  sie  bei  unseren 


570 


XII.  Die  psychopathischen  Zustände. 


Kranken  selbst  durchaus  nicht  häufig;  im  Gegentheil  besitzt  die  über- 
wiegende Mehrzahl  derselben  vollständig  alle  körperlichen  Eigen- 
schaften ihres  Geschlechtes.  Ebenso  ist  im  allgemeinen  die  auf- 
fallende geistige  Veranlagung  zu  beurtheilen.  Wir  sind  derselben 
schon  bei  manchen  anderen  Formen  der  krankhaften  Entartung,  bei 
der  Hysterie,  bei  gewissen  Schwachsinnsformen  u.  s.  w.  begegnet, 
ohne  alle  Verbindung  mit  Homosexualität.  Umgekehrt  kenne  ich 
Kranke  genug,  die  jene  Züge  durchaus  nicht  besitzen.  Immerhin 
wäre  es  wol  möglich,  dass  bestimmte  Charaktereigenschaften  wegen 
der  gesummten  Stellung,  die  sie  dem  Einzelnen  in  seiner  Umgebung 
anweisen,  von  vornherein  die  Entstehung  homosexualer  Neigungen 
begünstigten.  Endlich  aber  ist  ein  Theil  derselben,  sind  namentlich 
die  Lebensgewohnheiten  einfach  die  Folge  der  einmal  bestehenden 
geschlechtlichen  Richtung.  Es  giebt  übrigens  auch  zahlreiche  sexuell 
völlig  gesund  veranlagte  Männer,  die  ausser  jeder  Beziehung  zu 
ihrem  Berufe  eine  überraschende  Kenntniss  der  weiblichen  Kleidung, 
der  Küche,  ja  sogar  grosse  Fertigkeit  in  weiblichen  Arbeiten  be- 
sitzen, während  andererseits  unsere  „emancipirten“,  rauchenden, 
reitenden,  schriftstellernden.  studirenden  Damen  keineswegs  die 
Männerliebe  zu  verschmähen  pflegen. 

Durch  die  hier  vertretene  Auffassung,  welche  vielleicht  nicht 
für  alle,  doch  aber  für  die  Mehrzahl  der  Fälle  von  conträrer  Sexual- 
empfindung gelten  dürfte,  wird  die  Prognose  dieser  Störung  eine 
weit  günstigere,  als  man  früher  annehmen  konnte.  Die  Erfahrung 
hat  im  Laufe  der  letzten  Jahre  gezeigt,  dass  bei  nicht  wenigen 
Kranken  eine  sehr  weitgehende  Besserung  und  sogar  Heilung  mög- 
lich ist. 

Die  Behandlung  besteht  wesentlich  in  dem  Verfahren  der 
hypnotischen  Suggestion,  die  bei  diesen  Kranken,  wie  bei  so  manchen 
anderen  Gelegenheiten,  Heilerfolge  erzielt,  wo  alle  sonstigen  Behand- 
lungsarten machtlos  sind.  Die  Suggestion  richtet  sich  zuerst  gegen 
die  so  häufig  betriebene  Masturbation  und  die  gesteigerte  geschlecht- 
liche Erregbarkeit  überhaupt.  In  zweiter  Linie  wird  Unempfindlich- 
keit gegen  das  eigene  Geschlecht,  Verblassen  der  betreffenden 
Phantasiebilder,  in  dritter  Anregung  durch  das  andere  Geschlecht, 
Neigung  zum  heterosexualen  Verkehr  vorgeschrieben.  Meist  ist  diese 
hypnotische  Erziehung,  da  es  sich  um  schon  tief  eingewurzelte  Ge- 
wohnheiten handelt,  eine  äusserst  mühsame  und  langwierige;  gelegent- 


Conträre  Sexualempfindung. 


571 


liehe  Rückfälle  sind  nicht  selten.  Den  grössten  Werth  legt  v.  Schrenk- 
Notzing  auf  regelmässigen  natürlichen  Geschlechtsverkehr,  der  zwar 
bei  Männern  verhältnissmässig  leicht  zu  beschaffen  ist,  aber,  wie  seine 
Fälle  zeigen,  auch  manche  Gefahren  mit  sich  bringt.  Ein  Glück, 
dass  für  Mädchen  die  Behandlungsfrage  weniger  brennend  ist!  Vor 
übereilten  Coitusversuchen  muss  gewarnt  werden,  da  ihr  Misslingen 
das  Selbstvertrauen  tief  zu  schädigen  geeignet  ist.  Andererseits 
kann  ein  Erfolg  in  dieser  Richtung  anscheinend  raschen  Umschlag 
der  Stimmung  und  sogar  die  Selbsttäuschung  völliger  und  end- 
gültiger Heilung  bewirken.  Unterstützt  wird  die  Behandlung  durch 
Massnahmen,  welche  sich  gegen  den  allgemeinen  nervösen  Zustand 
des  Kranken  richten,  Brom,  diätetische  Vorschriften,  gymnastische 
Hebungen  und  ähnliches.  Das  Endergebniss  wird  natürlich  auch 
nach  dem  allmählichen  Schwinden  der  homosexualen  Neigungen 
eine  krankhaft  entartete  Persönlichkeit  sein.  Mehrere  der  so  ge- 
heilten Kranken  haben  geheirathet. 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


Wenn  wir  in  den  psychopathischen  Zuständen  die  verschiedenen 
Ergebnisse  einer  krankhaften  Richtung  der  Entwicklung  kennen  ge- 
lernt haben,  so  bleibt  uns  nun  noch  übrig,  auch  diejenigen  Ge- 
staltungen der  psychischen  Persönlichkeit  ins  Auge  zu  fassen,  welche 
durch  eine  unvollkommene  oder  frühzeitig  unterbrochene 
Ausbildung  des  Seelenlebens  zu  Stande  kommen.  Wir  bezeichnen 
sie  im  Gegensätze  zu  den  Erzeugnissen  der  Entartung  als  psychische 
Entwicklungshemmungen.  Es  ist  jedoch  selbstverständlich,  dass  die 
beiden  hier  auseinandergehaltenen  Vorgänge  sich  in  der  Wirklichkeit 
auf  die  mannigfaltigste  Weise  mit  einander  verbinden  müssen.  In 
der  That  sehen  wir  auch  vielfach  klinisch  die  Erscheinungen  des 
Entartungsirreseins  auf  dem  Boden  unzulänglicher  Entwicklung  zum 
Vorschein  kommen;  bald  überwiegt  im  Gesammtbilde  mehr  die 
Verschrobenheit,  bald  die  Schwäche. 

Die  Ursache  der  psychischen  Entwicklungshemmungen  kann  in 
unvollkommener  Ausbildung  der  Hirnrinde  oder,  weit  häufiger,  in 
Krankheitsvorgängen  liegen,  welche  vor  der  Geburt  oder  in  den 
ersten  Lebensjahren  die  Leistungsfähigkeit  der  Träger  unseres 
Seelenlebens  empfindlich  beeinträchtigen.  Vielleicht  würde  die 
Scheidung  der  klinischen  Krankheitsformen  unter  diesem  Gesichts- 
punkte die  meiste  Berechtigung  haben.  Bei  dem  heutigen  Stande 
der  Frage  ist  jedoch  der  Versuch  einer  solchen  Eintheilung  noch 
aussichtslos.  Wir  Averden  uns  vielmehr  damit  begnügen  müssen, 
einfach  die  verschiedenen  Grade  der  vorliegenden  Störung  aus- 
einanderzuhalten. Die  leichteren  Formen  pflegen  wir  als  angeborenen 
SchAvachsinn,  besser  als  Imbecillität,  die  sclnvereren  als  Idiotie 
zu  bezeichnen. 


Imbecillität. 


573 


A.  Die  Imbecillität. 

Das  gemeinsame  Kennzeichen  aller  derjenigen  Zustände,  die 
wir  im  Bereiche  der  Imbecillität  antreffen,  ist  ein  mässiger  Grad 
von  Unzulänglichkeit  der  psychischen  Leistungen.  In  der  Regel  ist 
diese  Unvollkommenheit  auf  den  verschiedenen  Gebieten  des  Seelen- 
lebens in  annähernd  gleichem  Maasse  ausgesprochen;  es  giebt  aber 
auch  gewisse  Formen,  bei  denen  die  gemiithlichen  Regungen  auf- 
fallend viel  stärker  von  der  Entwicklungshemmung  betroffen  sind, 
als  die  Verstandestbätigkeit.  Man  hat  daher  der  Imbecillität  im 
engeren  Sinne  als  besonderes  klinisches  Bild  noch  den  morali- 
schen Schwachsinn  gegenübergestellt. 

Im  Bereiche  der  eigentlichen  Imbecillität  begegnen  uns  haupt- 
sächlich zwei  Gruppen  von  klinischen  Bildern,  welche  sich  durch 
den  Grad  der  geistigen  Regsamkeit  der  Kranken  von  einander 
unterscheiden.  Wir  wollen  sie  als  stumpfe  und  lebhafte  (aner- 
getische  und  erethische  Formen)  bezeichnen.  Den  Grundzug  der 
ersteren  Gruppe  bildet  die  Stumpfheit  und  Unempfänglichkeit.  Den 
Kranken  fehlt  die  Fähigkeit,  eine  grössere  Zahl  von  Eindrücken 
und  Lebenserfahrungen  in  sich  aufzunehmen  und  weiter  zu  ver- 
arbeiten. Ihre  Erkenntniss  der  Aussenwelt  beschränkt  sich  auf  das 
unmittelbar  Gegebene  und  Nächstliegende;  was  darüber  hinausgeht, 
liegt  ausserhalb  des  geistigen  Gesichtskreises  und  bleibt  daher  un- 
bemerkt. Vielleicht  ist  die  wesentliche  Ursache  dieser  „Beschränkt- 
heit“ darin  zu  suchen,  dass  die  Vorstellungen  ihre  sinnlichen  Formen 
behalten,  dass  keine  Verschmelzung  der  Einzelerfahrungen  zu  All- 
gemeinvorstellungen stattfindet.  Bei  unseren  Kranken  geht  nur  das 
Einzelne  und  Kleinliche  in  den  Erfahrungsschatz  ein,  ohne  begriff- 
liche Verarbeitung,  ohne  Auffassung  allgemeinerer  Verhältnisse,  ohne 
Gewinnung  grösserer  Gesichtspunkte.  Das  Wesentliche  trennt  sich 
nicht  ab  von  jdem  Zufälligen;  grundsätzliche  Uebereinstimmungen 
und  Unterschiede  werden  nicht  erkannt,  sondern  durch  gelegent- 
liches Beiwerk  verdeckt.  Neue  Eindrücke  finden  keinen  Widerhall 
in  ähnlichen  Erlebnissen  der  Vergangenheit;  unvermittelt,  ohne  innere 
Beziehungen  zu  gewinnen,  ohne  sich  übersichtlich  zu  ordnen,  reihen 
sich  die  einzelnen  Wahrnehmungen  aneinander.  Es  fehlt  eben  jene 


574 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


psychische  Resonanz,  welche  beim  Gesunden  die  führende  Melodie 
des  Vorstellungsverlaufes  beständig  mit  den  leisen,  immer  wechseln- 
den Anklängen  früherer  Erinnerungen  begleitet. 

So  kommt  es,  dass  der  gesammte  Vorstellungskreis  der  Kranken, 
abgesehen  von  einer  gewissen  Beherrschung  der  alltäglich  aufge- 
nommenen Wahrnehmungen,  ärmlich  bleibt  und  sich  meist  in  den 
gleichen  Bahnen  bewegt.  Der  Gedankengang  ist  unbeholfen  und, 
wie  Buccola  durch  Messungen  nachgewiesen  bat,  verlangsamt.  Das 
Urtheil  der  Kranken  ist  bei  ihrer  Unfähigkeit  zu  selbständiger  Be- 
griffsbildung ein  sehr  beschränktes,  unsicheres,  und  wird  vielfach 
durch  äusserlich  angelernte  Ergebnisse  fremden  Nachdenkens  („Schlag- 
worte“) entscheidend  beeinflusst.  EinUeberblick  über  den  Zusammen- 
hang der  Lebensereignisse,  eine  weitergehende  Voraussicht  der  Folgen 
eigener  und  fremder  Handlungen  wird  nicht  erreicht;  die  Einbildungs- 
kraft, die  Fähigkeit  zu  willkürlicher  Wiedererweckung  und  freier 
V erknüpf ung  gewonnener  V orstellungen,  ist  sehr  unvollkommen  aus- 
gebildet. 

Das  Gedächtniss  der  Kranken  pflegt  nur  in  den  gröbsten 
Zügen  treu  zu  sein.  Manche  ganz  unwichtige  Einzelheiten  werden 
bisweilen  mit  grosser  Zähigkeit  festgehalten,  während  andere,  be- 
deutungsvolle Thatsachen  einfach  vergessen  sind.  Die  Erzählungen 
der  Kranken  sind  daher  häufig  sehr  unzuverlässig,  weil  sie  Manches 
auslassen,  Anderes  verwechseln,  noch  Anderes  hinzufügen.  Die  ver- 
schiedenen Berichte  über  dasselbe  Erlebniss  stimmen  untereinander 
entweder  ganz  wörtlich  überein,  oder  sie  zeigen  mannigfache  sach- 
liche Widersprüche.  In  beiden  Fällen  ist  es  schwierig,  sich  ein  Ur- 
theil darüber  zu  bilden,  nicht  nur  wie  der  Vorfall  sich  wirklich  ab- 
gespielt hat,  sondern  öfters  auch  darüber,  ob  der  Kranke  absichtlich, 
fahrlässig  oder  in  gutem  Glauben  falsch  aussagt.  Meist  sind  die 
Kranken  gedankenlos,  zerstreut,  vergesslich.  Sie  pflegen  sich  daher 
auch  nur  sehr  geringe  Kenntnisse  anzueignen,  die  zudem  nach  der 
Schulzeit  rasch  wieder  verloren  gehen.  Viele  wissen  weder  Monats- 
namen noch  die  Reihenfolge  der  Wochentage,  erkennen  Münzen  nur 
nach  der  Grösse,  können  höchstens  mit  Hülfe  der  Finger  etwas  zu- 
sammenzählen, haben  keine  Ahnung  von  Fürst  oder  Landeshaupt- 
stadt. Um  solche  Dinge  hätten  sie  sich  nie  bekümmert;  das  brauchten 
sie  nicht  zu  wissen. 

Das  Bewusstsein  der  Kranken  ist  dauernd  ungetrübt;  sie 


Imbecillität. 


575 


erkennen  ihre  Umgebung,  fassen  die  an  sie  gerichteten  Fragen  auf 
und  geben  besonnene,  wenn  auch  meist  sehr  unzulängliche  und  müh- 
selige Auskunft.  Häufig  kehren  in  ihren  Aeusserungen  stehende 
Redensarten  und  .Kraftworte,  auch  wol  Bibelsprüche  wieder.  Yon 
einer  Krankheitseinsicht  ist  keine  Rede;  sie  halten  sich  für  ganz 
gesund,  verlangen  hie  und  da  ihre  Freiheit,  um  sich  nunmehr  allein 
fortzubringen,  sind  den  Belehrungen  über  ihre  Lage  nur  in  sehr 
geringem  Maasse  zugänglich. 

Wegen  der  Beschränktheit  des  Gesichtskreises  gewinnen  die  Zu- 
stände und  Angelegenheiten  der  eigenen  Persönlichkeit  eine  ganz 
unverhältnissmässige  Wichtigkeit  für  den  Kranken.  Je  ärmer  die 
Erfahrung,  desto  grösser  ist  die  Rolle,  welche  das  Ich  in  derselben 
spielt.  So  kommt  es,  dass  sich  hier  stets  eine  mehr  oder  weniger 
scharf  ausgeprägte  selbstsüchtige  Richtung  des  Gedankenganges 
und  weiterhin  auch  der  Gefühle  ausbildet.  Das  körperliche  Wohl 
und  Wehe,  das  alltägliche  Thun  und  Treiben,  die  Befriedigung  der 
unmittelbarsten  Wünsche,  Essen  und  Trinken,  der  Besitz  begehrens- 
werth  erscheinender  Dinge  bleiben  dauernd  Mittelpunkt  des  gesammten 
geistigen  Lebens.  Alle  Erfahrungen,  die  nicht  augenfällig  an  diesen 
Mittelpunkt  anknüpfen,  lassen  den  Kranken  gleichgültig,  erregen 
keinerlei  Theilnahme  bei  ihm  und  gehen  daher  spurlos  an  ihm  vor- 
über. Vielfach  fehlen  ihm  sogar  die  natürlichsten  Gefühlsbeziehungen 
zu  seinen  nächsten  Angehörigen.  Ihr  Wohlergehen  erweckt  höchstens 
seinen  Neid,  und  das  oberflächliche  Bedauern  über  den  Verlust  etwa 
der  Eltern  wird  schon  durch  den  Pomp  des  Leichenbegängnisses 
und  die  Freude  über  die  neuen  Trauerkleider  rasch  ausgelöscht.  Noch 
stumpfer  steht  der  Kranke  fremdem  Leide  gegenüber.  Daher  die 
rohe  Gefühllosigkeit  beim  Anblicke  von  Noth  und  Unglück,  daher 
die  naive  Grausamkeit,  welche  unsere  Kranken  so  häufig  bei  ihren 
Thierquälereien  wie  bei  ihren  verbrecherischen  Handlungen  an  den 
Tag  legen.  Einer  meiner  Kranken,  der  zugleich  an  ererbter  Chorea 
litt,  versuchte  am  hellen  Tage  seine  alte,  aufopfernd  für  ihn  sorgende 
Mutter  mit  dem  Holzbeile  zu  erschlagen,  um  in  den  Besitz  ihres 
Sparkassenbuches  zu  gelangen.  Er  wurde  dabei  gestört  und  zu  einer 
langjährigen  Zuchthausstrafe  verurtheilt,  nach  deren  Verbüssung  er 
endlich  in  die  Irrenanstalt  wanderte. 

Die  Stimmung  der  Kranken  ist  gleichmiithig,  theilnahinlos, 
häufig  aber  auch  von  einer  eigenthümlich  leeren,  kindischen  Heiter- 


576 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


keit.  Gelegentlich  indessen  kommt  es  auch  einmal  zu  plötzlichen 
Ausbrüchen  leidenschaftlicher  Heftigkeit,  namentlich  wenn  sie  ge- 
reizt werden  und  sich  benachtheiligt  oder  gekränkt  glauben.  In 
ihrem  Benehmen  sind  sie  meist  harmlos,  lenksam,  guten,  aber  auch 
schlechten  Einflüssen  zugänglich,  launenhaft,  zeitweise  eigensinnig 
und  querköpfig.  Schlechte  Behandlung  macht  sie  widerspenstig 
und  gewaltthätig.  Zu  einer  selbständigen  Thätigkeit  sind  sie  in 
der  Regel  nicht  fähig,  beschäftigen  sich  aber  unter  Anleitung,  frei- 
lich auch  ohne  rechten  Eifer  und  ohne  tieferes  Verständniss.  Nur 
in  einzelnen  Fällen  wird  wol  auch  eine  hervorragende  einseitige 
technische  Fertigkeit,  Anlage  zur  Musik,  zum  Zeichnen  beobachtet, 
allerdings  stets  ohne  die  Fähigkeit  zu  werthvollerer  Arbeit  selbst  auf 
diesen  Gebieten. 

Leichtere  Formen  dieses  Schwachsinns  sind  recht  häufig,  werden 
jedoch  ungemein  leicht  verkannt;  sie  gehen  ohne  scharfe  Grenzen 
in  die  Dummheit  der  Gesundheitsbreite  über.  Die  praktische  Be- 
deutung der  geistigen  Unfähigkeit  wächst  natürlich  mit  den  An- 
forderungen, die  das  Leben  an  den  Einzelnen  stellt.  In  einfachen 
Verhältnissen  vermögen  sich  die  Kranken  trotz  der  Beschränktheit 
ihres  Urtheils  und  Gesichtskreises  doch  vielfach  noch  leidlich  gut 
zurechtzufinden,  ohne  dass  man  sie  gerade  für  krank  hält,  weil  sie 
rein  gedächtnissmässig  eine  gewisse  Summe  von  Erfahrung  zu  be- 
herrschen wissen  und  den  gewohnten  Kreislauf  ihrer  Beschäftigungen 
mit  mechanischer  Sicherheit  regelmässig  durchlaufen.  Freilich  darf 
sich  dann  auch  in  den  äusseren  Bedingungen  nichts  ändern.  Eine 
meiner  EAanken,  die  mit  Mühe  und  Noth  in  einer  Gasthausküche  etwas 
kochen  gelernt  hatte,  schlug  für  3 oder  4 Personen  zum  Pfannkuchen 
ebensoviel  Eier  in  die  Pfanne,  wie  sie  früher  für  die  grosse  Tafelrunde 
hatte  nehmen  müssen.  Sobald  eine  mächtige  Gemiithsbewegungi 
eine  Entscheidung,  eine  Versuchung  an  sie  herantritt,  wo  die  Sach- 
lage Umsicht,  Thatkraft  und  Selbständigkeit  des  Handelns  erfordert, 
tritt  sofort  ihre  ganze  geistige  und  gemütbliche  Unfähigkeit  zu  Tage, 
um  allerdings  dann  meist  nicht  sowol  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
Krankheit,  als  unter  dem  der  sittlichen  Schlechtigkeit  beurtheilt  zu 
werden.  Namentlich  die  gesteigerten  Anforderungen  des  militärischen 
Dienstes  decken  nicht  selten  den  wahren  Umfang  des  Schwachsinns 
auf,  wie  er  sich  in  der  Unfähigkeit,  zu  lernen,  in  der  Halsstarrigkeit 
und  Unbotmässigkeit  kundgiebt.  Schwere  und  hartnäckige  Gehorsams- 


Imbecillität. 


577 


Verweigerung,  Fahnenflucht,  thätliche  Angriffe  auf  Vorgesetzte, 
bisweilen  auch  Selbstmordversuche  sind  nicht  ganz  selten  die  Folge 
einer  falschen  Beurtheilung  und  Behandlung  solcher  Zustände. 

Die  Entwicklung  der  hier  beschriebenen  Störung  kündigt  sich 
meist  schon  frühzeitig  an.  Dem  verspäteten  Auftreten  der  ersten 
geistigen  Regungen,  des  Lächelns,  der  Nachahmung,  der  Sprache, 
folgt  das  Zurückbleiben  in  der  Schule,  wenn  auch  vielleicht  die 
Unfähigkeit  zu  selbständiger  geistiger  Verarbeitung  zunächst  noch 
durch  einfache  Gedächtnissleistungen  eine  Zeit  lang  verdeckt  wird. 
Die  Kinder  sind  träge,  faul,  gedankenarm,  verständnisslos  und  werden 
wegen  ihrer  geringen  Begabung  zum  Spott  ihrer  Mitschüler.  Nur 
nothdiirftig  eignen  sie  sich  einige  Fertigkeit  im  Schreiben,  Lesen, 
weniger  im  Rechnen  an,  lernen  mühselig  eine  Anzahl  von  Sprüchen, 
geographischen  oder  geschichtlichen  Thatsachen  auswendig,  um  sie 
bald  wieder  zu  vergessen,  da  der  todte  Stoff  für  sie  keine  Ver- 
knüpfung mit  den  Erfahrungen  des  wirklichen  Lebens  eingeht.  Viel- 
fach sind  sie  störrisch,  schwer  zu  erziehen,  haben  Neigung  zu 
schlechten  Streichen  (Spielen  mit  Feuer,  kleine  Diebstähle),  zu  ge- 
schlechtlichen Ungehörigkeiten,  müssen  in  Rettungs-  und  Erziehungs- 
häusern untergebracht  werden.  In  den  Entwicklungsjahren  tritt  die 
geistige  Schwäche  gewöhnlich  deutlich  hervor,  sei  es,  dass  diese 
Krüppel  sich  bei  den  gesteigerten  Anforderungen  nunmehr  von  ihren 
gesunden,  fortschreitenden  Kameraden  schärfer  abheben,  sei  es,  dass 
unter  Umständen  hier  wirklich  nicht  nur  ein  Stillstand,  sondern 
sogar  eine  theilweise  Rückbildung  der  geistigen  Entwicklung  ein- 
tritt  Fälle  der  letzteren  Art,  wie  ich  sie  mehrfach  gesehen  zu 
haben  glaube,  würden  vielleicht  als  Uebergang  zu  gewissen  Formen 
der  Dementia  praecox  aufgefasst  werden  dürfen.  Die  weiteren 
Schicksale  unserer  Kranken  pflegen  verschiedenartige,  immer  wieder 
an  der  geistigen  Unfähigkeit  scheiternde  Anläufe  zu  einer  Berufs- 
wahl zu  sein,  endlich  thatenloses  Dahinleben  in  Familienpflege,  noch 
häufiger  vielleicht  der  Uebergang  zum  Gewohnheitsbettel  und  zur 
Landstreicherei.  Eine  Menge  derartiger  Kranker  findet  sich  nament- 
lich in  den  Arbeitshäusern  und  Gefängnissen,  wo  sie  wegen  ihrer 
Unverbesserlichkeit  der  Schrecken  der  Beamten  und  Aufseher  sind, 
bis  sie  endlich  wenigstens  zum  Theil  spät  noch  in  die  Irrenanstalten 
gelangen. 

Zu  diesen  stumpfsinnigen  Schwächezuständen  stehen  die  lebhaften 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aufl.  II.  Band.  37 


578 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


Formen  nach  mancher  Richtung  in  einem  gewissen  Gegensätze.  An 
Stelle  der  Schwerfälligkeit  zeigt  sich  eine  krankhafte  Beweglich- 
keit der  Aufmerksamkeit  und  der  Einbildungskraft  Die 
Kranken  sind  empfänglich  für  neue  Eindrücke,  machen  zahlreiche 
Wahrnehmungen,  werden  durch  jeden  frischen  Reiz  angezogen,  ver- 
mögen aber  nicht,  planmässig  und  ausdauernd  ihre  Aufmerksamkeit 
einem  bestimmten  Gegenstände  zuzuwenden.  Sie  begnügen  sich 
überall  mit  dem  ersten  Anschein,  schweifen  sofort  ab,  sind  mit  der 
Betrachtung  fertig,  bevor  sie  noch  recht  angefangen  haben.  Der 
flüchtig  und  oberflächlich  erfasste  Inhalt  ihrer  Erfahrungen  ist  daher 
in  hohem  Maasse  von  zufälligen  Einflüssen  abhängig  und  bietet 
nur  ein  sehr  lückenhaftes,  stark  verzerrtes  Bild  der  Aussen  weit 
Aus  diesen  Bestandtheilen  setzen  sich  dehnbare,  verschwommene, 
vielfach  verfälschte  Begriffe  zusammen,  welche  die  Grundlage  für 
schiefe  und  halbrichtige  TJrtheile  sowie  für  abenteuerliche  Analogie- 
schlüsse abgeben.  Dem  ganzen  Denken  der  Kranken,  sobald  es  sich 
über  das  unmittelbar  sinnlich  Gegebene  erhebt,  fehlt  die  feste  Grenz- 
linie klar  und  scharf  ausgeprägter  Allgemeinvorstellungen,  wie  sie 
überall  das  Spiel  der  leicht  beweglichen  Einbildungskraft  in  die 
geordneten  Bahnen  des  logischen  Gedankenganges  zwingen.  Die 
Lebens-  und  Weltanschauung  der  Kranken  wird  auf  diese  Weise 
in  auffallendem  Maasse  unabhängig  von  der  Wirklichkeit  Wichtige 
und  massgebende  Thatsachen  haben  für  sie  gar  kein  Gewicht,  üben 
auf  ihre  Ueberlegungen  nicht  den  geringsten  Einfluss,  während  sie 
andererseits  ernsthaft  mit  Verhältnissen  rechnen,  die  nur  in  ihrer 
Einbildung  bestehen.  Ein  derartiger  Kranker  begründete  seine  an- 
gebliche tiefe  Kenntniss  der  hohen  Politik  mit  der  Angabe,  dass  ein 
Verwandter  von  ihm  Aufseher  auf  einem  Gute  Herbert  Bismarcks 
sei;  er  wollte  nach  seiner  Entlassung  aus  der  Anstalt  geheimer 
Polizist  werden,  trotzdem  er  bereits  mehrfach  wegen  aller  möglichen 
Schwindeleien  längere  Freiheitsstrafen  verbüsst  hatte. 

Diese  unbekümmerte  Vernachlässigung  der  Wirklichkeit,  die 
Freiheit  von  dem  unbequemen  Ballaste  der  Bedenken  und  Ueber- 
legungen, giebt  dem  Gedankengange  etwas  eigenthiimlick  Unstetes 
und  Widerspruchsvolles.  Ohne  Zögern  entwickelt  der  Kranke  heute 
diese,  morgen  jene  Anschauungen  und  Pläne,  stützt  sich  im  gleichen 
Satze  auf  Gründe,  die  einander  ausschliessen,  fertigt  Einwände  sieges- 
gewiss mit  ganz  unzutreffenden  Schlagworten  ab.  Auch  hier  ist  in 


Imbecülitiit. 


579 


der  Regel  trotz  aller  anscheinenden  geistigen  Beweglichkeit  die 
häufige  Wiederkehr  bestimmter  hochtrabender  Redensarten  und 
schwülstiger  Gemeinplätze  sehr  deutlich.  Der  innere  Zusammen- 
hang zwischen  allen  diesen,  meist  mit  grosser  Geläufigkeit  vor- 
gebrachten  Ausführungen  ist  stets  ein  lockerer.  Der  Kranke  ver- 
liert rasch  den  Faden,  bringt  die  verschiedensten  Dinge  durch- 
einander, berauscht  sich  förmlich  an  seinen  eigenen  klingenden 
Phrasen  und  schliesst  plötzlich  unvermittelt  mit  einer  rednerischen 
Frage  oder  einer  sonstigen,  besonders  schlagenden  Wendung.  Trotz- 
dem pflegt  die  Zungengewandtheit  der  Kranken  und  der  tönende 
Wortschwall,  mit  dem  sie  den  Zuhörer  überschütten,  häufig  genug 
den  Unerfahrenen  über  die  Inhaltlosigkeit  ihrer  Reden  zu  täuschen, 
so  dass  sie  nicht  als  schwachsinnig,  sondern  sogar  als  besonders 
schlau  angesehen  werden.  „Den  nehmen  wir  mit;  der  ist  gescheidter, 
als  wir,“  sagte  eine  Gemeindeabordnung,  welche  gekommen  war,  um 
sich  selbst  von  dem  Zustande  eines  derartigen,  in  der  Anstalt  fest- 
gehaltenen Kranken  zu  überzeugen.  Freilich  brachten  sie  ihn  schon 
nach  kurzer  Zeit  wieder  zurück. 

Aus  den  bisher  besprochenen  psychischen  Eigenthümlichkeiten 
unserer  Kranken  erklärt  es  sich,  dass  wir  bei  ihnen  häufig  der 
Neigung  begegnen,  ihre  Erinnerungen  mit  frei  erfundenen  Zügen 
auszuschmücken,  die  Darstellung  früherer  Erlebnisse  derartig  zu 
färben  und  zu  verdrehen,  dass  man  die  Grenze  absichtlicher  Schwin- 
delei und  fahrlässigen  Fabulirens  nicht  mehr  zu  erkennen  vermag. 
Ein  10 jähriger  Knabe  ging  eines  Tages  plötzlich  in  eine  Kaserne, 
gab  sich  für  den  Sohn  des  Obersten  aus  und  nahm  als  solcher 
mehrere  Tage  lang  Reitstunde,  anstatt  in  die  Schule  zu  gehen;  ein 
anderes  Mal  erzählte  er  zu  Hause  fälschlicherweise,  dass  er  ein 
werthvolles  Schmuckstück  gefunden  und  auf  die  Polizei  gebracht 
habe.  Bisweilen  bringt  erst  die  actenmässige  Verfolgung  des  Vor- 
lebens Klarheit  in  den  Wust  von  Wahrheit  und  Dichtung;  in 
anderen  Fällen  lässt  uns  die  plumpe  Abenteuerlichkeit  der  Er- 
findung über  den  Ursprung  derselben  nicht  im  Zweifel.  Stets  aber 
pflegen  die  Kranken  trotz  der  schlagendsten  Gegenbeweise  an  der 
Richtigkeit  ihrer  noch  dazu  vielfach  wechselnden,  sich  selbst  wider- 
sprechenden Erzählungen  festzuhalten  und  mit  der  Miene  der  ge- 
kränkten Unschuld  jede  weitere  Erörterung  abzulehnen.  Diese 
Erfahrung  mahnt  zur  Vorsicht  namentlich  gegenüber  den  häufigen 

37* 


580 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


schweren  Beschuldigungen,  die  von  den  Kranken  gegenüber  ihren 
Angehörigen,  den  Mitpatienten  oder  dem  Wartpersonal  vorgebracht 
werden. 

Die  wirklichen  Kenntnisse  sind  bei  diesen  Kranken  meist  etwas 
ausgedehnter,  als  bei  den  stumpfsinnigen  Formen.  Manche  verfügen 
sogar  über  ein  ziemlich  gutes  Gedächtnisswissen,  geographische, 
geschichtliche  Thatsachen,  Citate  aus  Dichtern  und  selbst  Yocabeln 
aus  fremden  Sprachen.  Sie  sind  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
im  Stande,  Neues  zu  lernen,  sich  in  ungewohnte  Verhältnisse  ein- 
zuleben, sich  zurechtzufinden,  werden  rasch  mit  ihrer  Umgebung 
bekannt,  da  sie  sich  um  alles  kümmern,  fragen,  sich  überall  ein- 
mischen. 

Der  oberflächlichen,  sprunghaften  Regsamkeit  des  Verstandes 
entspricht  bei  unseren  Kranken  ein  leicht  bewegliches  Gemüths- 
leben.  Jeder  äussere  Eindruck  ist  von  lebhafter,  aber  rasch  ab- 
klingender Gefühlsbetonung  begleitet.  Die  Stimmungen  schwanken 
vielfach  unvermittelt  hin  und  her  und  gehen  leicht  ins  Maasslose 
und  Ueberschwängliche.  Niedergeschlagenheit  und  Uebermuth,  Ver- 
zweiflung, Schwärmerei  und  Begeisterung  werden  durch  die  gering- 
fügigsten äusseren  Anlässe  ausgelöst.  Häufig  wechseln  die  Gefühls- 
regungen gegenüber  dem  gleichen  Anstosse  in  ganz  regelloser  Weise. 
Was  heute  Zorn  und  Entrüstung  hervorruft,  ist  morgen  willkommen; 
der  „Ehrenmann“  wird  für  sie  bald  zum  niederträchtigen  Schurken, 
dann  wieder  zum  einzigen  Freunde  auf  der  weiten  Welt.  Alle  diese 
Schwankungen  der  Stimmung  erscheinen  trotz  ihrer  augenblick- 
lichen Heftigkeit  doch  meist  oberflächlich,  aufgebauscht,  theaterhaft 
Die  Kranken  gefallen  sich  geradezu  in  stürmischen  Ausdrucks- 
bewegungen, in  gespreizten  und  übertriebenen  Gefühlsausbrüchen, 
sind  aber  auch  rasch  wieder  abzulenken  und  zu  beruhigen.  Im  ganzen 
sind  sie  gutmüthig  und  lenksam,  doch  fehlt  niemals  eine  gewisse 
Reizbarkeit  und  Empfindlichkeit.  Namentlich  Eingriffe  in  die 
persönlichen  Ansprüche  pflegen  mit  lebhaften  Erregungen  beantwortet 
zu  werden. 

Regelmässig  besitzen  die  Kranken  ein  ungemein  gesteigertes 
Selbstgefühl.  Sie  zeigen  keine  Spur  von  Krankheitsbewusstsein, 
halten  sich  vielleicht  sogar  für  geistig  hochbegabt,  ja  genial,  prahlen 
in  aufdringlichster  Weise  mit  ihren  Familienverbindungen,  der  aus- 
gezeichneten Erziehung,  die  sie  genossen  haben,  ihren  glänzenden 


Imbecillität. 


581 


Kenntnissen  und  Aussichten.  Die  Schuld  für  ihre  augenscheinlichen 
Misserfolge  schieben  sie  ohne  weiteres  auf  widrige  Zufälligkeiten, 
mangelhafte  Unterstützung  oder  Feindseligkeit  der  Angehörigen  u.  s.  f. 
Bei  solchen  Erzählungen  lassen  sie  sich  sehr  leicht  zu  ganz  un- 
sinnigen Uebertreibungen  hinreissen,  selbst  dann,  wenn  deren 
Wahrbeitswidrigkeit  sich  auf  der  Stelle  darthun  lässt.  Mehrere 
meiner  Kranken  behaupteten  mit  Nachdruck,  eine  Reihe  von 
Sprachen  in  Wort  und  Schrift  vollkommen  zu  beherrschen,  während 
die  Probe  ergab,  dass  sie  nur  über  einige  wenige  Brocken  derselben 
verfügten. 

In  ihrem  Benehmen  sind  die  Kranken  launenhaft,  anspruchs- 
voll, streitsüchtig.  Sie  sprechen  viel  und  gern,  blicken  auf  ihre  Um- 
gebung herab,  drängen  sich  an  den  Arzt  heran,  suchen  mit  ihren 
Kenntnissen,  ihrer  Bildung  und  ihren  Fähigkeiten  zu  glänzen,  kleiden 
sich  auffallend,  arbeiten  mit  sehr  wechselndem  Eifer.  Auch  in  ihrer 
ganzen  Lebensführung  tritt  ihr  Schwachsinn  deutlich  hervor.  Sie 
gelten  in  ihrer  Jugend  häufig  für  begabt,  aber  flatterhaft,  leichtsinnig 
und  lügnerisch,  fangen  später  alles  Mögliche  an,  halten  nirgends 
lange  aus,  springen  unstät  von  einer  Beschäftigung  zur  andern  über, 
reisen  planlos  herum,  spielen  die  grossen  Herren,  verschwenden, 
geben  sich  unsinnigen  Ausschweifungen  hin,  werden  Spieler,  Trinker, 
Morphinisten,  bauen  Luftschlösser  und  gerathen  durch  ihre  Unüber- 
legtheit, Haltlosigkeit  und  Vielgeschäftigkeit  häufig  in  schwere  Kämpfe 
mit  dem  Leben.  Auffallend  ist  öfters  die  Schnelligkeit,  mit  der 
sie  andere  ähnliche  Naturen  auf  finden  und  sich  an  sie  anschliessen. 
Eine  ganze  Anzahl  von  Prostituiiten  scheint  dieser  Gruppe  anzu- 
gehören. Ferner  findet  man  derartige  Personen  zahlreich  unter  den 
unverbesserlichen  Hochstaplern  und  Schwindlern;  die  noch  niedriger 
stehenden  enden  als  Bummler  und  Landstreicher. 

Man  kann  zweifelhaft  sein,  ob  die  hier  geschilderten  Zustände 
zweckmässig  der  Imbecillität  zugerechnet  werden.  Offenbar 
haben  wir  es  wesentlich  mit  Erscheinungsformen  der  Entartung 
zu  thun.  Immerhin  pflegen  doch  die  Zeichen  der  tiefgreifenden 
geistigen  Unzulänglichkeit  trotz  aller  oberflächlichen  Regsamkeit  so 
deutlich  hervorzutreten,  dass  die  nahe  Verwandtschaft  mit  der 
Stumpfheit  und  Beschränktheit  nicht  wird  bezweifelt  werden  können. 
Gudden  pflegte  daher  auch  solche  Zustände  scherzweise  als 
,, höheren  Blödsinn“  zu  bezeichnen.  Sie  werden  leicht  verkannt,  weil 


582 


XIII.  Dio  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


ihre  Lebhaftigkeit  und  ein  gewisser  Schatz  von  Vorstellungen  die 
Kranken  weit  weniger  schwachsinnig  erscheinen  lassen,  als  sie  wirk- 
lich sind.  Unter  Umständen  können  auch  leichtere  Formen  der 
Dementia  praecox  ein  ganz  ähnliches  Bild  darbieten.  Die  Unter- 
scheidung hat  sich  hauptsächlich  auf  die  Entstehungsgeschichte, 
ferner  auf  das  Bestehen  oder  Fehlen  von  katatonischen  Zeichen, 
Sinnestäuschungen,  ausgeprägteren  Wahnbildungen,  wie  auf  das  Ver- 
hältnis der  früher  erworbenen  Kenntnisse  zu  der  augenblicklichen 
geistigen  Leistungsfähigkeit  zu  stützen.  Sie  ist  deswegen  nicht  ohne 
praktische  Wichtigkeit,  weil  sich  die  hebephrenischen  Schwäche- 
zustände öfters  noch  erheblich  bessern,  während  die  Imbecilütät  im 
wesentlichen  unverändert  bleibt.  Auch  mit  der  Hysterie  bestehen 
sehr  vielfache  Berührungspunkte;  einzelne  Hysterische  bieten  sogar 
neben  den  Zeichen  ihrer  Neurose  geradezu  den  hier  geschilderten 
Schwachsinn  dar.  Andererseits  besteht  dieser  letztere  sehr  häufig 
ohne  alle  hysterischen  Andeutungen;  zudem  ist  sein  Bild  ein  viel 
einförmigeres  und  zeigt  die  geistige  Unfähigkeit  weit  deutlicher,  als 
dasjenige  der  Hysterie.  Nach  der  Gesundheitsbreite  zu  finden  sich 
alle  möglichen  Uebergänge.  Dahin  gehören  jene  schwachen  und 
oberflächlichen,  leichtgläubigen  Naturen,  die  von  Vielem  etwas  und 
nichts  gründlich  lernen,  dio  alles  Neue  mit  Begeisterung  ergreifen, 
ohne  irgend  etwas  zu  Ende  zu  führen.  Ein  geringfügiger  Anstoss, 
eine  auftauchende  Idee,  ein  schlechter  oder  guter  Rath  genügt,  um 
sie,  die  jeder  Verführung  widerstandslos  zugänglich  sind,  zu  leicht- 
sinnigen, unüberlegten,  ja  schlechten  Streichen  und  Ausschreitungen 
aller  Art  hinzureissen.  So  führen  sie,  sich  selbst  überlassen,  ein 
wechselreiches  Dasein  in  steten  Kämpfen  mit  sich  selbst  und  ihrer 
Umgebung,  oft  abenteuerlich  und  romanhaft,  voller  Unbegreiflichkeiten 
und  Widersprüche. 

Auf  der  Grundlage  der  Imbecillität  können  sich  vorübergehend 
oder  dauernd  allerlei  andere  psychische  Krankheitserscheinungen  ent- 
wickeln, namentlich  jene  Zufälle,  die  wir  beim  Entartungsirresein  kennen 
gelernt  haben.  Auch  periodische  Erregungszustände  und  V erstimmungen 
sind  nicht  selten ; dieselben  tragen  öfters  vollkommen  die  Züge  manisch- 
depressiver  Anfälle.  Ferner  werden  vereinzelte  schwachsinnige  Ver- 
folgungs-  oder  Grössenideen  beobachtet,  seltener  vorübergehende 
Sinnestäuschungen.  Vielfach  begegnen  uns  auffallend  frühe  oder 
verspätete  Entwicklung  des  Geschlechtstriebes,  öfters  auch  absonder- 


Imbecillität. 


583 


liehe  geschlechtliche  Neigungen.  Erbliche  Veranlagung  zu  Geistes- 
störungen ist  fast  überall  nachzuweisen;  oft  stammen  die  Kranken 
aus  völlig  entarteten  Familien.  Sehr  häufig  sind  körperliche  Ent- 
artungszeichen vorhanden,  Schädelverbildungen,  steiler  Gaumen, 
missgestaltete  Ohren,  kindliches  Aussehen,  Chorea  u.  s.  f. 

Bei  der  zweiten  Hauptform  des  angeborenen  Schwachsinns, 
dem  moralischen  Irresein  (folie  morale,  moral  insanity)  ist  es 
die  Störung  im  Bereiche  des  Gemüthes,  die  vor  allem  ins  Auge 
fällt.  Es  handelt  sich  hier  um  Mangel  oder  Schwäche  der- 
jenigen Gefühle,  welche  der  rücksichtslosen  Befriedigung 
der  Selbstsucht  entgegen  wirken.  Der  Verstand  dieser 
Kranken  ist  innerhalb  der  Grenzen  des  praktischen  Lebens  leidlich 
entwickelt.  Sie  fassen  gut  auf,  sammeln  eine  gewisse  Summe 
von  Kenntnissen  und  Erfahrungen,  die  sie,  vielfach  mit  schlauer 
Berechnung,  zu  ihrem  Vortheil  zu  verwerthen  wissen,  zeigen 
keine  Gedächtnisslücken  und  keine  groben  Verstösse  in  der  Folge- 
richtigkeit ihres  Denkens.  Dennoch  fehlt  ihnen  meist  die  Fähigkeit, 
allgemeine  Gesichtspunkte  zu  gewinnen,  höhere  Geistesarbeit  zu 
leisten,  sich  eine  zusammenhängende  Lebens-  und  Weltanschauung 
zu  bilden. 

Auf  sittlichem  Gebiete  zeigt  sich  oft  schon  von  früher  Jugend 
an  der  Mangel  des  Mitgefühls  in  grausamen  Thierquälereien,  bos- 
haften Neckereien  und  tückischen  Misshandlungen  der  Spielgefährten, 
in  der  Unzugänglichkeit  gegen  jede  gemüthliche  Beeinflussung. 
Daraus  entwickelt  sich  weiterhin  unverhülltes  Hervortreten  der  aus- 
geprägtesten Selbstsucht  sowie  Fehlen  des  Ehrgefühls  und  jeglicher 
Anhänglichkeit  an  Eltern  und  Geschwister.  Hierher  gehören  jene 
ungeheuerlichen  Kinder,  die  schon  im  zartesten  Alter  ihre  An- 
gehörigen zu  ermorden  trachten,  um  deren  Kleider  zu  besitzen,  und 
dann  mit  stumpfer  Selbstverständlichkeit  über  die  Einzelheiten  ihres 
Planes  berichten,  unter  ausdrücklichem  Bedauern  darüber,  dass  er 
misslungen  sei.  Alle  erziehlichen  Einwirkungen  bleiben  fruchtlos, 
weil  eben  die  werthvollsten  Hiilfsmittel  derselben,  Liebe  und  Ehr- 
geiz, hier  keinen  Anknüpfungspunkt  finden.  Nur  die  einfache  Ver- 
gewaltigung vermag  noch  die  Aeusserungen  einer  wilden  Selbstsucht 
zu  unterdrücken.  Ihr  wird  aber  sehr  bald  durch  Falschheit,  schlaue 
Verschlagenheit,  Hinterlist,  durch  Verstocktheit,  unbändigen  Trotz, 
Neigung  zu  Lug  und  Trug  begegnet.  Dabei  schreitet  die  selbst- 


584 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


süchtige  Ausbildung  der  Persönlichkeit  immer  weiter  fort.  Das 
gehobene  Selbstgefühl  äussert  sich  in  prahlerischer  Eitelkeit,  Gross- 
thuerei,  launenhaftem  Eigensinn,  rohen  Gewaltthaten,  die  Genusssucht 
in  Arbeitsscheu,  Ausschweifungen,  unsinniger  Verschwendung.  In 
der  Eegel  besteht  auch  geringe  Widerstandsfähigkeit  gegen  Ver- 
führungen und  plötzliche  Antriebe,  grosse  gemüthliche  Reizbarkeit, 
Rachsucht,  Planlosigkeit  und  Zerfahrenheit  der  gesammten  Lebens- 
führung, Empfindlichkeit  gegen  Alkohol. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  eine  derartige  Veranlagung  mit 
einer  gewissen  Nothwendigkeit  in  die  Verbrecherlaufbahn  hinein- 
treiben muss.  In  der  That  finden  wir  unter  den  unverbesserlichen 
Gewohnheitsverbrechern  nicht  wenige,  welche  die  Erscheinungen  des 
moralischen  Schwachsinns,  den  vollständigen,  unausfüllbaren  Mangel 
der  sittlichen  Gefühle,  in  ausgeprägter  Form  darbieten.  Freilich 
pflegt  man  derartige  Personen  gewöhnlich  als  sittlich  „verwahrlost“ 
und  nicht  als  krank  zu  betrachten.  Richtig  ist,  dass  eine  mangel- 
hafte oder  schlechte  Erziehung,  uneheliche  Geburt,  Aufwachsen  unter 
ungünstigen  Bediuguugen  die  volle  Ausbildung  der  sittlichen  Ge- 
fühle hindert.  Allein  einerseits  sind  jene  Einflüsse  selbst  nicht 
selten  einfach  der  Ausdruck  familiärer  Entartung,  andererseits  kann, 
wie  schon  früher  dargelegt,  weniger  die  Entstehungsweise,  als  die 
Grösse  des  sittlichen  Mangels  für  die  ärztliche  Beurtheilung  mass- 
gebend sein.  Endlich  aber  lässt  sich  in  wirklich  ausgebildeten 
Fällen  wol  immer  die  angeborene  sittliche  Unfähigkeit  nachweisen. 
Gerade  hier  begegnen  wir  nicht  selten  einer  ausserordentlichen 
Nachhaltigkeit  und  Festigkeit  des  verbrecherischen  Willens,  der 
durch  keinerlei  Lebenserfahrungen  aus  seiner  Bahn  gelenkt  werden 
kann,  hier  aber  auch  jener  merkwürdigen  Einseitigkeit  und  Ein- 
förmigkeit des  Handelns,  -welche  zur  Entwicklung  der  bekannten, 
immer  wiederkehrenden  „Speciali täten“  des  Verbrecherthums  führt. 

Es  ist  das  Verdienst  der  italienischen  Psychiatrie*),  zuerst  die 
Beziehungen  des  moralischen  Schwachsinns,  der  krankhaften  Gemüth- 
losigkeit,  zum  Verbrecherthum,  und  zwar  zu  bestimmten  Formen 
desselben,  nachgewiesen  zu  haben.  Der  „geborene1,1  Verbrecher 


*)  Lombroso,  Der  Verbrecher,  Deutsch  von  Frankel.  1887;  Kurelia,  Natur- 
geschichte des  Verbrechers.  1893;  Bär,  Der  Verbrecher  in  anthropologischer  Be- 
ziehung. 1893;  Bleuler,  Der  geborene  Verbrecher.  1896. 


Imbecillität. 


585 


(delinquente  nato)  kann  wissenschaftlich  nicht  wol  anders,  als  unter 
dem  Gesichtspunkte  einer  unvollkommenen  Veranlagung  aufgefasst 
werden.  Gerade  diese  Betrachtungsweise  hat  zum  mindesten 
die  eine  segensreiche  Folge  gehabt,  dass  sie  auch  den  Verbrecher 
wie  andere  Erscheinungen  der  menschlichen  Gesellschaft  endlich 
einmal  zum  Gegenstände  einer  einfach  naturwissenschaftlichen 
Forschung  gemacht  hat.  Schon  jetzt  ist  die  junge  Wissenschaft  der 
Criminalpsychologie  nicht  ohne  Erfolg  bemüht,  mit  Hülfe  der  Statistik 
die  allgemeinen  Entstehungsbedingungen  des  Verbrechens  aufzuklären 
und  weiterhin  auf  dem  Wege  anthropologischer  Messungen  wo  mög- 
lich auch  bestimmte  körperliche  Begleiterscheinungen  kennen  zu 
lernen,  welche  den  verschiedenen  Formen  des  geborenen  Verbrechers 
eigenthiimlich  sein  und  gewissermassen  die  Einordnung  derselben  in 
einzelne  klinische  Gruppen  ermöglichen  sollen.  Wir  müssen  ab- 
warten,  zu  welchem  Ziele  diese  letzteren  Bestrebungen  einmal  ge- 
langen werden.  Für  jetzt  wird  uns,  wie  ich  glaube,  die  Criminal- 
anthropologie  wesentlich  nur  darüber  belehren  können,  dass  auch 
beim  Verbrecher,  namentlich  beim  „geborenen“,  mit  auffallender 
Häufigkeit  jene  functionellen  und  anatomischen  Merkmale  zu  finden 
sind,  die  wir  mit  mehr  oder  weniger  Recht  als  den  Ausdruck  all- 
gemeiner Entartung  anzusehen  pflegen. 

Jedenfalls  sind  wir  von  der  Möglichkeit  einer  Erkennung  des 
sittlichen  Schwachsinns  aus  körperlichen  Zeichen  noch  recht  weit  ent- 
fernt, und  selbst  bei  genauer  Kenntniss  des  ganzen  klinischen  Krank- 
heitsbildes hat  die  richtige  Auffassung  desselben  häufig  genug  ihre 
Schwierigkeiten.  Auf  der  einen  Seite  führt  der  moralische  Schwach- 
sinn durch  das  Zwischengebiet  der  angeborenen  verbrecherischen 
Veranlagung  allmählich  in  solche  Zustände  hinüber,  die  zweifellos 
der  Gesundheitsbreite  angehören.  Wegen  dieser  Uebergänge  be- 
gegnet insbesondere  der  Richter  der  Feststellung  eines  moralischen 
Schwachsinns  mit  starkem  Misstrauen.  Praktisch  wird  hier  nament- 
lich das  Zurückreichen  der  sittlichen  Unfähigkeit  bis  in  die  frühe 
Jugend  bei  genügender  Verstandesbildung,  ferner  die  völlige  Un- 
zugänglichkeit für  alle  auf  das  Gemüth  wirkenden  Einflüsse  für 
die  Annahme  einer  krankhaften  Persönlichkeit  sprechen.  Anderer- 
seits darf  die  erworbene  Schwächung  des  sittlichen  Willens,  wie 
sie  durch  chronische  Vergiftungen  mit  Alkohol,  Morphium,  Cocain, 
anscheinend  auch  bisweilen  durch  Kopfverletzungen  und  andere 


586 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


schwere  Schädigungen  erzeugt  wird,  nicht  mit  dem  hier  besprochenen 
moralischen  Schwachsinn  verwechselt  werden.  Abgesehen  von  den 
besonderen  Kennzeichen  jener  Krankheitszustände,  wird  hier  der 
Nachweis  einer  Veränderung  der  Persönlichkeit  von  einem  be- 
stimmten Zeitpunkte  ab  die  Unterscheidung  ermöglichen.  Endlich 
soll  noch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  manche  unserer  Kranken 
in  der  Zucht  und  im  Schutze  des  Gefängnisses  oder  der  Anstalt 
kaum  auffallendere  Störungen  darbieten,  sondern  die  ganze  Grösse 
ihrer  sittlichen  Unfähigkeit  erst  dann  deutlich  zeigen,  wenn  sie  sich 
selbst  überlassen  und  den  mannigfachen  Verlockungen  des  Lebens 
haltlos  preisgegeben  sind. 

Die  Behandlung  des  angeborenen  Sclrwachsinns  besteht  der 
Hauptsache  nach  in  einer  zweckmässigen  Erziehung,  welche  unter 
Umständen  durch  möglichste  Entwicklung  der  vorhandenen  Fähig- 
keiten noch  ziemlich  befriedigende  Erfolge  zu  erzielen  vermag.  Die 
Aufgabe  ist  überall,  von  Jugend  auf  die  Kranken  an  eine  geregelte 
Beschäftigung  zu  gewöhnen,  die  ihren  Kräften  und  ihrer  Eigenart 
angemessen  ist.  Die  Wege,  die  zu  diesem  Ziele  führen,  sind  daher 
sehr  mannigfaltige;  immer  aber  wird  grosse  Geduld,  gleichmässige, 
zielbewusste  Festigkeit  und  warmherziges  Verständniss  für  die  ein- 
zelne verkümmerte  Persönlichkeit  die  Hauptarbeit  thun  müssen.  Von 
grosser  Wichtigkeit  ist  es,  die  gefährdeten  Kinder  rechtzeitig  in  die 
Hände  sachverständiger  Erzieher  zu  geben*).  Der  gewöhnliche 
Schulbetrieb  kann  auf  sie  wegen  der  übrigen  Schüler  nicht  ge- 
nügende Rücksicht  nehmen;  zudem  sind  die  schwachsinnigen  Kinder 
nur  allzuleicht  dem  Spotte  und  der  Missachtung  ihrer  Genossen  aus- 
gesetzt. In  einer  ganzen  Reihe  von  Städten  sind  daher  schon  be- 
sondere Klassen  für  Schwachbefähigte  entstanden,  in  denen  die  Aus- 
bildung solcher  geistiger  Halbkrüppel  in  langsamerem  Zeitmaasse 
und  mit  Hülfe  besonderer  Unterrichtsverfahren  weit  besser  erreicht 
wird,  als  in  den  gewöhnlichen  Klassen.  Die  Kinder,  die  auch  so 
noch  nicht  vorwärts  kommen,  finden  am  besten  Unterkunft  in  den 
besonderen  Unterrichtsanstalten  für  zurückgebliebene  und  schwer  zu 
erziehende  Kinder,  die  zugleich  unter  der  Aufsicht  eines  Irrenarztes 
stehen.  Vor  dem  Alkohol  ist  dringend  zu  warnen,  da  er  unberechen- 


*)  Kalischer,  Was  können  wir  für  den  Unterricht  und  die  Erziehung 
unserer  Schwachbegabten  und  schwachsinnigen  Kinder  thun?  1897. 


Idiotie. 


587 


bare  Schädigungen  nach  sich  ziehen  kann.  Bei  den  erwachsenen 
Kranken  wird  vielfach,  wenn  die  häuslichen  Verhältnisse  ungünstig 
sind  oder  gefährliche  Neigungen  hervortreten,  die  dauernde  Unter- 
bringung in  der  Irrenanstalt  nothwendig. 


B.  Die  Idiotie. 

Unter  dem  Namen  der  Idiotie*)  pflegt  man  alle  jene  hoch- 
gradigeren psychischen  Sch wächezustände zusammenzufassen, 
deren  Entstehungszeit  vor  die  Geburt  oder  in  die  ersten 
Lebensjahre  fällt.  Die  psychische  Ausbildung  der  Idioten  lässt  eine 
grosse  Zahl  von  verschiedenen  Formen  erkennen,  deren  Abgrenzung  von 
einander  wegen  des  Ineinan derfliessens  derBilder  erhebliche  Schwierig- 
keiten darbietet.  Als  Eintheilungsgrund  hat  man  zumeist  das  Ver- 
halten der  Sprache  (gänzlicher  Mangel,  Vorhandensein  einzelner 
Worte,  stufenweise  reichere  Entwicklung  derselben)  benutzt,  weil  ja 
in  der  That  die  Entfaltung  der  Verstandesthätigkeit  in  sehr  nahen 
Beziehungen  zur  Lautsprache  steht.  Allein  die  Fähigkeit  des  Sprechens 
deckt  sich  durchaus  nicht  immer  mit  der  weit  wichtigeren  des  Ver- 
stehens. Es  scheint  mir  daher  zweckmässiger,  bei  einer  Betrachtung 
dieser  Zustände  an  das  Verhalten  der  grundlegenden  psychischen 
Leistung,  der  bewussten  Wahrnehmung  der  Aussenwelt,  an- 
zuknüpfen. Freilich  wird  es  auch  dabei  ohne  eine  gewisse  Willkür 
nicht  abgehen,  da  die  Störungen  natürlich  auf  den  verschiedenen 
Gebieten  des  Seelenlebens  in  verschiedenem  Grade  ausgebildet  sein 
können.  Derselbe  Einwand  trifft  auch  den  sonst  sehr  einleuchtenden 
Vorschlag  Wildermuths,  die  einzelnen  Stufen  der  gesunden  kind- 
lichen Entwicklung  zur  vergleichenden  Kennzeichnung  der  idiotischen 
Verkümmerung  heranzuziehen.  Wildermuth  unterscheidet  zwei 
Hauptgruppen,  deren  erste  dem  Zustande  vor  oder  in  den  ersten 
Tagen  nach  der  Geburt  entspricht,  während  die  zweite  jene  Formen 
enthält,  die  auf  den  verschiedenen  Stufen  der  eigentlichen  Kindheit 
stehen  bleiben. 


*)  Emminghaus,  Die  psychischen  Störungen  des  Kindesalters,  S.  243  f.; 
Sollier , Der  Idiot  und  der  Imbecille,  Deutsch  von  Brie.  1891;  J.  Yoisin, 
’idiotie.  1893. 


5S8 


XIII.  Die  pßycbiscben  Entwicklungshemmungen. 


In  den  niedersten  Formen  der  Idiotie  ist  die  Erfassung  eines 
Eindruckes  durch  die  Aufmerksamkeit  gänzlich  unmöglich.  Es  ge- 
lingt nicht,  durch  irgend  einen  Reiz  Theilnahme  zu  erwecken,  so 
dass  es  oft  schwer  ist,  festzustellen,  ob  die  Sinnesorgane  überhaupt 
erregbar  sind.  Die  Kranken  sammeln  keine  Erfahrungen,  lernen 
ihre  Umgebung  nicht  kennen  und  sind  unfähig,  irgend  welche  klare 
Vorstellungen,  Urtheile  oder  Schlüsse  zu  bilden;  ebensowenig  kann 
von  einem  eigentlichen  Selbstbewusstsein  die  Rede  sein.  Das  Ge- 
fühlsleben bleibt  auf  den  Wechsel  dunkler  Gemeingefühle  beschränkt, 
und  die  durch  sie  hervorgerufenen  Handlungen,  die  sich  höchstens 
noch  auf  die  Nahrungsaufnahme  beziehen,  machen  den  Eindruck 
des  Triebartigen.  Die  Kranken  sind  gemüthlich  meist  gänzlich  un- 
erregbar. Sie  lächeln  nicht,  erschrecken  nicht,  äussem  kein  Un- 
behagen bei  Verunreinigungen,  keine  Freude  bei  den  Vorbereitungen 
zur  Mahlzeit  oder  bei  kleinen  Geschenken.  Höchstens  drückt  sich 
das  Wohlbehagen  in  pendelnden  Bewegungen,  Zappeln,  Schnurren, 
Hunger  oder  stärkerer  körperlicher  Schmerz  in  eintönigem,  gellendem 
Schreien,  Herumwälzen  am  Boden,  Gesichterschneiden  aus.  Sie 
treffen  keine  Auswahl  beim  Essen,  verschlingen  vielmehr  oft  gierig 
auch  Steine,  Kalk,  Kleidungsstücke,  Holz,  Metalltheile,  ja  ihre  eigenen 
Ausleerungen,  zeigen  kein  Verlangen,  sich  Gegenstände  anzueignen, 
greifen  nicht  zu,  spielen  nicht  und  schreien  nicht,  wenn  man  ihnen 
ein  Spielzeug  aus  der  Hand  nimmt.  Zu  den  einfachsten  zweck- 
mässigen Handlungen  sind  sie  unfähig,  vermögen  z.  B.  nicht  den 
zufällig  zwischen  die  eigenen  Zähne  gerathenen  Zeigefinger  in  Sicher- 
heit zu  bringen,  Aveichen  nicht  aus,  Avenn  man  sie  immer  wieder  an 
derselben  Stelle  mit  der  Nadel  sticht,  trotzdem  sie  vielleicht  die 
Miene  verziehen  und  schreien.  Der  Gesichtsausdruck  bleibt  meist 
stumpf  und  leer,  kann  aber  bei  erworbener  Idiotie  trotz  tiefsten 
Blödsinns  ein  aufgeweckter  sein. 

Von  einer  SprachentAvicklung  ist  keine  Spur  vorhanden.  Das 
Gehen  und  Stehen  sogar  wird  erst  spät  oder  gar  nicht  erlernt;  alle 
Bewegungen  bleiben  ungeschickt  und  plump.  Bisweilen  zeigen  die 
Kranken  eine  geAvisse  Unruhe,  planloses  Herumrennen  und  Betasten, 
Kreischen,  hartnäckiges  Schmieren  mit  Speichel,  Nägelkauen,  Zupfen 
an  Haaren  und  Kleidern,  triebartiges  Masturbiren.  Häufig  sind  auch 
einförmige,  jahraus,  jahrein  oft  rhythmisch  sich  Aviederholende  Zwangs- 
bewegungen, Händeklatschen,  Blasen  und  Schnauben,  Hin-  und  Her- 


Idiotie. 


589 


wiegen  des  Körpers  im  Sitzen  oder  Stehen.  Manche  Kranke  schlagen 
sich  mehrmals  taktmässig  derb  ins  Gesicht  und  weinen  dabei  vor 
Schmerz,  um  wenige  Minuten  später  das  gleiche  Spiel  zu  wiederholen, 
wenn  man  sie  nicht  daran  verhindert.  Die  gesammte  körperliche 
Entwicklung  dieser  tiefstehenden  Idioten  pflegt  erheblich  zurück- 
zubleiben. Die  Kinder  lernen  nicht  gehen  oder  stehen,  ja  vielleicht 
nicht  einmal  sitzen,  hängen  wie  ein  schlaffes  Bündel  vom  Arme, 
wenn  sie  aufgenommen  werden.  Das  Zahnen  vollzieht  sich  spät 
und  unregelmässig;  Krampfanfälle  sind  häufig.  Sie  gehen  ohne  die 
liebevollste  Pflege,  die  für  ihre  Fütterung,  Reinhaltung  u.  s.  f.  un- 
ermüdliche Sorge  trägt,  rasch  zu  Grunde. 

Ein  etwas  höherer  Stand  des  Seelenlebens  ist  dort  erreicht,  wo 
wenigstens  durch  besonders  auffallende  Eindrücke  die  Aufmerksam- 
keit des  Kranken  für  einige  Zeit  erregt  werden  kann,  wenn  auch 
eine  selbständige  Lenkung  derselben  nach  inneren  Beweggründen 
noch  nicht  stattfindet.  Hier  werden  einzelne  deutliche  Sinneswahr- 
nehmungen dem  Bewusstsein  zugeführt  und  wol  auch  eine  beschränkte 
Anzahl  von  einfachen  Vorstellungen  gebildet,  allein  dieselben  sind 
doch  vielfach  sehr  unvollständig  und  entbehren  des  inneren  Zu- 
sammenhanges. Das  Gedächtniss  zeigt,  namentlich  was  die  Schnelligkeit 
der  Aufnahme  anbelangt,  eine  äusserst  geringe  Leistungsfähigkeit. 
Galton  fand,  dass  selbst  besser  begabte  und  zu  aussergewöhnlichen 
Gedächtnissleistungen  befähigte  Idioten  nur  Reihen  von  höchstens 
3 — 4 langsam  ihnen  vorgesagten  Buchstaben  sofort  richtig  wieder- 
holen konnten,  während  gesunde,  gleichalterige  Kinder  ohne  Schwierig- 
keit sogar  7 — 8 Buchstaben  nachzusprechen  vermochten.  Die  Fähig- 
keit zur  Auffindung  gemeinsamer  Bestandtheile  in  verschiedenen 
Wahrnehmungen,  wie  sie  die  Grundlage  der  Begriffsbildung  aus- 
macht, bleibt  mangelhaft;  es  kommt  nicht  zur  Ausbildung  einer  ge- 
schlossenen psychischen  Persönlichkeit. 

Die  Sprache  wie  das  Verständniss,  und  damit  der  geistige  Ver- 
kehr mit  der  Umgebung,  ist  meist  wenig  entwickelt;  sie  bleibt  iu 
der  Unvollkommenheit  der  Satzbildung,  der  Einmischung  unver- 
standener Flickwörter,  der  Unbeholfenheit  des  Ausdrucks,  der  Aerm- 
lichkeit  des  Wortschatzes  auf  kindlicher  Stufe  stehen.  Der  beim  ge- 
sunden Kinde  so  sehr  in  den  Vordergrund  tretende  Nachahmungs- 
trieb und  die  damit  zusammenhängende  Neigung,  zu  spielen,  sich 
selbst  zu  beschäftigen,  fehlt  ganz  oder  bis  auf  schwache  Andeutungen. 


590 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


Die  Kranken  ermüden  ungemein  leicht,  vermögen  keiner  Anregung 
längere  Zeit  hindurch  zu  folgen.  Sie  denken  nicht  nach,  machen 
keine  Pläne  für  die  Zukunft,  haben  keine  Sorgen,  leben  unbekümmert 
in  den  Tag  hinein.  Selbstsüchtige,  grobsinnliche  Gefühle  beherrschen 
die  Stimmung  und  liefern  die  Antriebe  für  ein  nur  auf  Befriedigung 
augenblicklicher  Gelüste  gerichtetes  Handeln.  Obgleich  die  Bevor- 
zugung oder  der  Besitz  Anderer  ihren  Neid  erregen  kann,  haben  sie 
doch  gar  kein  Gefühl  für  die  eigene  Unzulänglichkeit  und  Unselb- 
ständigkeit. Tiefere  Zuneigung  zu  einzelnen  Personen  kommt  nicht 
zu  Stande,  höchstens  eine  gewisse  hündische  Anhänglichkeit;  die 
Kranken  sind  nicht  dankbar  für  Wohlthaten,  empfinden  kein  Heim- 
weh bei  der  Trennung  von  ihren  Angehörigen,  grämen  sich  nicht 
über  den  Tod  der  Personen,  zu  denen  sie  Zuneigung  gezeigt  hatten. 
Bei  ungeeigneter,  rauher  Behandlung  kann  sich  grosse  Reizbarkeit 
und  ein  verstocktes,  bösartiges,  rachsüchtiges  Wesen  entwickeln.  Ge- 
legentlich kommt  es  zu  plötzlichen,  unbändigen  Wuthausbrüchen,  wo  die 
eigenen  Wünsche  durchkreuzt  werden;  die  Kranken  drohen  mit  Feuer- 
anlegen, suchen  aus  geringfügigem  Anlasse  gefährlichen  Schabernack 
zu  spielen,  heimlich  zu  zerstören,  kleine  Kinder  zu  erdrosseln.  Der 
Geschlechtstrieb  fehlt  ganz,  oder  er  tritt  auch  wol  schon  in  den 
ersten  Lebensjahren  hervor  und  kann  zu  eifrig  betriebener,  rücksichts- 
loser Masturbation  führen.  Nicht  ganz  selten  besteht  auch  die 
Neigung  zu  geschlechtlichen  Angriffen,  besonders  auf  Kinder.  Viel- 
fach sind  die  Kranken  gefrässig,  schmieren  beim  Essen,  verzehren  ihre 
Nahrung  in  einem  Winkel,  greifen  mit  den  Fingern  in  die  Schüssel. 
In  ganz  vereinzelten  Fällen  entwickeln  sich  gewisse  einseitige  Fähig- 
keiten, namentlich  auffallendes  mechanisches  Wort-,  Zahlen-,  Klang- 
gedächtniss  oder  technische  Fertigkeiten  einfacher  Art;  einer  meiner 
Kranken,  der  sonst  sehr  unbeholfen  war,  schnitt  recht  geschickt  mit 
der  Scheere  aus  und  sah  gern  Bilder  von  Bauten  und  Maschinen. 
.Manche  Idioten  lieben  leidenschaftlich  Musik. 

Je  nach  der  Leichtigkeit,  mit  welcher  die  Aufmerksamkeit  an- 
gezogen und  abgelenkt  werden  kann,  lassen  sich  zwei,  allerdings 
nur  in  den  ausgeprägtesten  Fällen  von  einander  abgegrenzte  Formen 
unterscheiden,  die  stumpfe  (anergetische,  apathische)  und  die  er- 
regte (erethische,  versatile).  Die  Kranken  der  ersten  Gruppe  sind 
nur  schwer  aus  ihrem  dumpfen  Hinbrüten  aufzurütteln;  der  Ge- 
dankengang bleibt  langsam  und  schwerfällig;  die  Erinnerung  ist 


Idiotie. 


591 


-wegen  der  Armuth  des  Vorstellungsschatzes  und  bei  dem  Mangel  an 
Anknüpfungspunkten  dürftig  und  bewegt  sieb  meist  in  einzelnen 
gewohnheitsmässigen  Bahnen.  Die  Kranken  zeigen  in  ihrem  Ver- 
halten eine  peinliche  Gründlichkeit,  wiederholen  dieselben  Fragen 
mehrfach,  kommen  nicht  zum  Abschlüsse,  vermögen  öfters  auch  Un- 
verstandenes mit  grosser  Treue  wiederzugeben.  Die  Stimmung  ist 
meist  farblos,  gleichgültig,  zeigt  bisweilen  eine  gewisse  schwerfällige 
Gutmüthigkeit  Bei  den  erregten  Formen  wandert  die  Aufmerksam- 
keit, bald  hier,  bald  dort  angezogen,  planlos  hin  und  her  und  erfüllt 
das  Bewusstsein  mit  buntem,  innerlich  zusammenhangslosem  und 
daher  rasch  vergessenem  Inhalte.  Die  Bildungsfähigkeit  pflegt  hier 
im  allgemeinen  geringer  zu  sein,  als  bei  den  schwerfälligen  Formen. 
Rascher,  oberflächlicher  Wechsel  der  Stimmung,  Unlenksamkeit  und 
eine  äusserliche,  ziellose  Unruhe  und  Beweglichkeit,  die  sich  in 
Händeklatschen,  Zappeln,  Herumspringen,  lebhaften  Geberden,  Lachen 
und  Schreien  kundgiebt,  vervollständigen  das  Bild.  Körperlich  sind 
die  Kranken  oft  wohlgebildet,  aber  von  kindlichem,  schlankem 
Gliederbau. 

Selbstverständlich  giebt  es  nicht  nur  zwischen  den  hier  ge- 
zeichneten Gegensätzen  alle  möglichen  Uebergangsformen,  sondern 
die  einzelnen  Fälle  zeigen  auch  sonst  in  ihren  geistigen  und  ge- 
müthlichen  Eigenthiimlichkeiten  vielfach  persönliche  Züge.  In  den 
schwersten  Formen  der  Idiotie  dagegen  wird  man  bisweilen  durch 
die  weitgehende  Uebereinstimmung  mancher  Kranker  in  ihrem  psychi- 
schen und  körperlichen  Gesammtverhalten  überrascht.  Manchmal 
entwickeln  sich  auf  der  idiotischen  Grundlage  mehr  vorüber- 
gehende Störungen  des  psychischen  Gleichgewichts,  namentlich 
manisch-depressive  Anfälle,  reizbare  oder  seltener  traurige  Ver- 
stimmungen. Nach  Wildermuths  Angaben  scheinthier  eine  ganz 
ähnliche  Periodicität  vorzukommen,  wie  wir  sie  bei  den  Endzuständen 
der  Dementia  praecox  beobachten.  Auch  Zwangsvorstellungen,  Zwangs- 
antriebe, sinnloses  Fortlaufen,  Angstanfälle,  gelegentlich  mit  starker 
Selbstmordneigung,  sind  nicht  selten.  Ich  sah  einen  Knaben,  der 
bei  den  Wörtern  „Affe“  und  „Watte“  in  die  lebhafteste  Angst  gerieth. 
Vor  einem  Wattebäuschchen  lief  er  davon  und  flehte  ganz  beweglich, 
man  möge  es  wieder  fortthun.  Hie  und  da  finden  sich  kindische 
Verfolgungs-  oder  Grössenideen. 

Bei  der  Verschiedenartigkeit  der  Zustände,  welche  wir  unter 


592 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


dem  Sammelnamen  der  Idiotie  zusammenfassen,  kann  es  uns  nicht 
Wunder  nehmen,  wenn  wir  auch  auf  körperlichem  Gebiete 
eine  grosse  Mannigfaltigkeit  der  Krankheitszeichen  antreffen.  Durch- 
schnittlich findet  sich  ein  geringeres  Längenwachsthum,  sogar  bis 
zum  Zwergwuchse;  damit  verknüpft  sich  ein  Zurückbleiben  der  ge- 
sammten  Körperentwicklung,  kindlicher  Habitus,  Ausbleiben  des 
Bartes  und  der  Schamhaare,  geringe  Ausbildung  der  Genitalien, 
Kryptorchismus,  Fehlen  der  Menstruation,  späte,  unregelmässige 
und  mangelhafte  Zahnbildung.  Die  Sinne,  besonders  das  Gehör, 
aber  auch  Geschmack  und  Geruch,  erscheinen  oft  ausserordentlich 
stumpf,  zum  Theil  gewiss  wegen  der  Aufmerksamkeitsträgheit  der 
Kranken. 

Ferner  beobachtet  man  in  grösserer  oder  geringerer  Häufigkeit 
jene  kleinen  Entwicklungsstörungen,  welche  man  als  Entartungs- 
zeichen anzusehen  pflegt,  Missbildungen  an  Augen,  Ohren,  Gaumen. 
Nase  und  an  den  Knochen  des  Gesichtsskeletts,  namentlich  falsche 
Stellung  der  Kiefer  und  Zähne.  Wildermuth  konnte  derartige 
Abweichungen  in  80  °/0  der  Fälle  nachweisen.  Ausserdem  bestanden 
vielfach  noch  Steigerung  oder  Fehlen  der  Sehnenreflexe  sowie 
Coordinationsstörungen  an  den  unteren  Extremitäten,  den  Augen- 
muskeln (Nystagmus),  namentlich  aber  beim  Sprechen:  Abstossen 
der  Endsilben,  stockendes,  stossweises  Sprechen,  Stottern,  mangelhafte 
Articulation  einzelner  oder  der  meisten  Consonanten  mit  Ver- 
stümmelung und  Verunstaltung  der  Wörter*),  ferner  auffallend  oft 
Spiegelschrift,  besonders  bei  Mädchen,  Plumpheit  und  Ungeschicklich- 
keit in  allen  Bewegungen,  unüberwindliche  Mitbewegungen,  Saugen 
an  der  Zunge,  Wiederkäuen,  Speichelfluss,  Bettnässen,  Unreinlichkeit. 
Häufig  sind  auch  Anzeichen,  welche  auf  vorangegangene  Hirn- 
erkrankungen hin  weisen,  halbseitige  Lähmungen  und  Paresen,  Con- 
tracturen,  Spasmen  (in  einzelnen  Fällen  brettartige  Steifigkeit  des 
ganzen  Körpers),  örtliche  Wachsthumshemmungen,  Krämpfe  ver- 
schiedenster Art,  choreatische,  atheto tische  Bewegungen,  gewolmheits- 
mässiges  Zähneknirschen,  Aphasie.  Als  wichtigste  Begleiterin  des 
Krankheitsbildes  der  Idiotie  ist  endlich  die  Epilepsie  zu  nennen, 
die  sich  nach  Wildermuth ’s  Mittheilungen  in  etwa  30  °/0  der  Fälle 
findet.  Nicht  selten,  besonders  bei  Knaben,  treten  epileptische  An- 


) Berkhan,  Ueber  Störungen  der  Sprache  und  der  Schriftsprache.  18S9. 


Idiotie. 


593 


fälle  verschiedener  Art,  von  ausgeprägten  Krämpfen  bis  zu  den 
leichtesten  Erscheinungsformen,  bereits  in  den  ersten  Lebensjahren 
auf  und  müssen  dann  als  prognostisch  sehr  ungünstiges  Zeichen  be- 
trachtet werden.  Entwickelt  sich  die  Epilepsie  erst  in  späterer  Zeit, 
so  ist  ihre  Bedeutung  eine  weit  geringere. 

Unter  den  Ursachen*)  der  Idiotie  scheint,  soweit  es  sich  um 
einfache  Entwicklungshemmungen  handelt,  die  erbliche  krankhafte 
Belastung  eine  gewisse  Rolle  zu  spielen.  Wir  haben  ja  schon  früher 
gesehen,  dass  die  Idiotie,  und  wol  nicht  ohne  Berechtigung,  als  das 
letzte  Glied  iu  der  Kette  der  familiären  Entartung  aufgefasst 
worden  ist.  Wildermuth  fand  in  70  °/0  der  Fälle  erbliche  Be- 
lastung. Eine  wesentliche  Rolle  spielt  die  Trunksucht  der  Eltern, 
wie  auch  durch  Demme’s  früher  mitgetheilte  Erfahrungen  darge- 
than  wird;  Bourneville  fand  unter  1000  Fällen  471  mal  Trunksucht 
des  Vaters,  84  mal  der  Mutter,  65  mal  beider  Eltern.  Weiterhin 
soll  auch  Berauschtheit  der  Eltern  während  des  Zeugungsactes  sowie 
nahe  Verwandtschaft  derselben  das  Entstehen  der  Idiotie  begünstigen. 
Dieser  letztere  Punkt  darf  keineswegs  als  erwiesen  gelten.  Schwere 
Erkrankungen  und  heftige  gemüthliche  Erschütterungen  der  Mutter 
während  der  Schwangerschaft  werden  ebenfalls  unter  den  Ursachen  der 
Idiotie  angegeben.  Piper  hat  auf  die  Häufigkeit  der  Tuberculose 
in  den  Familien  der  Idioten  aufmerksam  gemacht.  Bei  den  nach 
der  Geburt  erworbenen  Formen  der  Idiotie,  deren  Zahl  auf  etwa 
V3 — 2/4  aller  Fälle  zu  veranschlagen  ist,  spielen  ohne  Zweifel  die 
ursächliche  Hauptrolle  Infectionskrankheiten,  Typhus,  Blattern,  Schar- 
lach, seltener  Diphtherie,  Masern  und  Erysipel.  Ausserdem  giebt  es 
sicherlich  noch  eine  Reihe  von  Schädigungen  des  jugendlichen  Hirns, 
welche  Idiotie  erzeugen  können;  wenigstens  sind  die  Erscheinungen 
von  Hirnreizung  bei  kleinen  Kindern  (Delirien,  Krämpfe)  bekannt- 
lich ungemein  häufig.  In  der  Regel  pflegen  sie  freilich  keine 
schwereren  Folgen  zu  hinterlassen.  Ferner  dürfte  hier  die  ererbte 
Syphilis,  auch  wol  die  Rhachitis  in  Betracht  kommen.  Von  grosser 
ursächlicher  Wichtigkeit  ist  der  frühzeitige  Missbrauch  des  Alkohols, 
sodann  länger  dauernde  Asphyxie  während  und  nach  der  Geburt. 
In  ganz  auffallender  Häufigkeit  sind  unter  den  Idioten  die  Erst- 
geborenen vertreten;  4 — 5 °/0  sind  Zwillinge. 

*)  Piper,  Zur  Aetiologie  der  Idiotie.  1803. 

Kraepelin,  Psychiatrie.  6.  Aofl.  n.  Band. 


38 


594 


XIII.  Die  psychißchen  Entwicklungshemmungen. 


Eine  zweite  grosse  Gruppe  von  Ursachen  bilden  die  Kopf- 
verletzungen, Compression  des  Kopfes  durch  ein  enges  Becken 
oder  die  Zange,  vielleicht  auch  Ueberhitzung  des  Kopfes.  Als  mittel- 
bare Ursachen  reihen  sich  ihnen  alle  die  allgemeinen  und  persön- 
lichen Schädigungen  der  Gesundheit  an,  welche  vorzugsweise  die 
niederen  Volksschichten  treffen  und  nach  dieser  oder  jener  Rich- 
tung hin  das  Fortpflanzungsgeschäft  oder  die  Entwicklung  des 
Fötus  in  krankhaftem  Sinne  zu  beeinflussen  vermögen.  Wulff  hat 
darauf  hingewiesen,  dass  bei  Idioten  häufig  ein  Missverhältnis 
zwischen  der  Grösse  des  Herzens  und  derjenigen  des  übrigen 
Körpers  beobachtet  wird.  Die  Deutung  dieser  Thatsache  muss  aller- 
dings einstweilen  wol  noch  unsicher  bleiben.  Dass  männliche  Ge- 
schlecht überwiegt  bei  den  Idioten  erheblich;  vielfach  stammen  sie 
aus  kinderreichen  Familien,  in  denen  dann  gewöhnlich  mehrere  Ge- 
schwister gleichzeitig  schwerere  oder  leichtere  Entwicklungsstörungen 
darbieten;  ich  sah  eine  Mutter  mit  3 idiotischen  und  noch  mehreren 
gesunden  Kindern. 

Eine  ganz  besondere  Bedeutung  hat  man  früher  dem  Einflüsse 
der  Nahtverknöcherung  am  Schädel  auf  die  Ausbildung  des 
Gehirns  zugeschrieben,  indem  man  vorzeitige  Knochen  Verwachsungen 
als  die  Ursache  abnormer  Kleinheit  oder  asymmetrischer  Gestaltung 
desselben  ansah.  Durch  neuere  Untersuchungen  hat  sich  indessen 
herausgestellt,  dass,  in  der  Regel  wenigstens,  die  Entwicklung  des 
Schädels  wesentlich  durch  die  Wachsthumsverhältnisse  des  Gehirns 
bestimmt  wird  und  nicht  umgekehrt.  Die  Gesetze,  welche  diesen 
letzteren  zu  Grunde  liegen,  sind  noch  zum  grössten  Theile  ebenso 
unklar  wie  die  Wachsthumsbedingungen  überhaupt;  es  scheint  je- 
doch, dass  die  Weite  der  Blutgefässe,  die  Menge,  namentlich  aber 
auch  die  Beschaffenheit  der  zugeführten  Ernährungsstoffe  von  einigem 
Einflüsse  sein  kann.  Natürlich  ist  die  Berücksichtigung  der  Schädel- 
form, wenn  man  in  ihr  auch  nicht  die  Ursache  der  Hirnstörungen 
sieht,  dennoch  bisweilen  von  grossem  Werthe,  insofern  sie  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  einen  Rückschluss  auf  die  Art  dieser  letzteren 
gestattet. 

Thatsächlich  finden  sich  Verbildungen  des  Schädels  bei  Idioten, 
wie  Wilder muth  gezeigt  hat,  in  etwa  der  Hälfte  der  Fälle.  Mikro- 
cephalisehe  Formen  überwiegen  bedeutend,  entweder  als  gleich- 
mässige  Verkleinerung  aller  Durchmesser  oder,  seltener,  als  sog. 


Kraepelin.  Psychiatrie,  6.  Anfl.  TAFEL  VIII. 


Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig. 


: 


Idiotie. 


595 


Aztekentypus  mit  fliehender  Stirn  und  abgeflachtem  Hinterhaupte. 
Auf  der  Tafel  VIII,  die  in  der  Idioten austalt  Mosbach  aufgenommen 
wurde,  finden  sich  eine  Reihe  von  Kindern  mit  mehr  oder  weniger 
hochgradiger  Mikrocephalie  vereinigt.  Solche  Bildungen  sind  natür- 
lich nothwendig  mit  krankhafter  Kleinheit  des  Gehirns  verbunden, 
die  durch  gleichzeitigen  Hydrocephalus  noch  beträchtlicher  ausfallen 
kann,  als  der  Augenschein  vermuthen  lässt.  Stets  zeigen  aber  der- 
artige Hirne  ausser  ihrer  Kleinheit  noch  mannigfache  sonstige  Ent- 
wicklungsstörungen. Ferner  findet  äch  regelmässig  gerade  hier  keine 
Verknöcherung  der  Nähte,  sondern  sogar  vielfach  Offenbleiben  solcher 
Nähte,  die  sich  sonst  frühzeitig  schliessen.  Eine  kleinere  Gruppe 
von  Idioten  zeigt  ferner  auffallend  grosse  Köpfe,  entweder  eine 
gleichmässige  Vergrösserung  in  allen  Durchmessern  oder  hydro- 
cephalische  Formen  mit  vorgebauchter  Stirn  und  grosser  Breite 
zwischen  den  Scheitelhöckern.  Hier  finden  sich  öfters  ausserordent- 
liche Schmächtigkeit  der  Glieder,  lange,  dürre  Arme  und  Finger, 
ferner  allerlei  Zwangsbewegungen,  örtliche  Zuckungen,  Herabsetzung 
des  Sehvermögens  bis  zu  völliger  Blindheit. 

Da  die  Schädelnähte  verwachsen,  sobald  der  Gegendruck  des 
Hirns  an  einer  Stelle  nachlässt,  so  lassen  sich  aus  der  Schädelbildung 
gewisse  allgemeine  Schlüsse  auf  die  verhältnissmässige  Entwicklung 
der  einzelnen  Hirntheile  ziehen.  Verkürzung  des  Schädelgrundes 
(Tribasilarsynostose)  geht  mit  einer  Verkümmerung  der  nach  unten 
gelegenen  Hirnpartien  einher;  Verkleinerung  der  Schädelkapsel  nach 
irgend  einer  Richtung  mit  vorzeitiger  Verknöcherung  der  auf  letzterer 
senkrecht  stehenden  Nähte  deutet  auf  eine  geringe  Ausbildung  der 
betroffenen  Rindengegend  hin. 

Allein  es  können  sich  bei  diesen  begrenzten  Störungen  nach 
anderen  Richtungen  hin  ausgleichende  Verschiebungen  sowol 
des  Schädels  wie  des  Gehirns  entwickeln,  die  eine  völlig  genügende 
Entfaltung  aller  einzelnen  Hirntheile  ermöglichen.  In  der  That 
finden  sich  nicht  so  selten  ziemlich  hochgradige  Verbildungen  des 
Schädels  bei  geistig  durchaus  gesunden,  ja  hochstehenden  Menschen, 
so  dass  wir  jene  Befunde  im  allgemeinen  mehr  als  eine  Hindeutung 
auf  die  Möglichkeit  gleichzeitiger  anderer  Veränderungen,  denn  als 
die  nothwendige  Ursache  krankhafter  Functionsstörungen  selbst  an- 
sehen  dürfen.  Jedenfalls  bieten  sie  einstweilen  ein  weit  grösseres 
anthropologisches  und  anatomisches,  als  eigentlich  psychiatrisches 

36* 


596 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


Interesse,  zumal  die  Versuche,  sie  zu  bestimmten  klinischen  Bildern 
in  Beziehung  zu  bringen,  bisher  noch  wenig  erfolgreich  gewesen 
sind.  Nur  scheint  die  Verkümmerung  des  Schädelgrundes  mehr  mit 
den  tieferstehenden,  stumpfen  Formen  der  Idiotie  in  Zusammenhang 
zu  stehen,  während  man  bei  krankhafter  Kleinheit  der  Schädelkapsel 
mit  fliehender  Stirn  meist  die  erregten  Formen  beobachtet,  häufig 
begleitet  von  Epilepsie. 

Die  pathologische  Anatomie  der  Idiotie*)  zeigt  uns  in 
einer  ersten  Reihe  von  Fällen  wirkliche  Entwicklungshemmungen 
und  Missbildungen,  Heterotopien  der  Hirnsubstanz,  Fehlen  des 
Balkens,  des  Kleinhirns,  Ungleichheit  der  beiden  Hemisphären, 
Windungsarmuth  oder  Windungsanomalien,  Mikrogyrie,  Kleinheit 
oder  Wucherung  des  ganzen  Grosshims  u.  s.  f.  Bisweilen  wird 
hier  ein  Stehenbleiben  auf  embryonaler  Entwicklungsstufe  oder 
Rückschlag  zur  Thierähnlichkeit  wahrscheinlich,  oder  aber  es  handelt 
sich  um  einfache  Abnormitäten  unbekannten  Ursprungs.  Auch  dort, 
wo  diese  Verbildungen  nicht  unmittelbar  die  Hirnrinde  betreffen, 
lassen  sie  doch  einen  Rückschluss  auf  die  krankhafte  Natur  der 
Gesammtanlage  zu.  Ungleich  häufiger  aber  scheinen  wirkliche 
Krankheitsvorgänge  zu  sein.  Huer  sind  namentlich  encephalitische, 
meningitische  und  hydrocephalische Erkrankungen,  seltener  auch  einmal 
Tumoren  zu  nennen,  die  theilweise  Zerstörungen  (z.  B.  Porencephalie) 
und  Veränderungen  in  der  Hirnrinde  oder  allgemeine  Atrophie  der- 
selben durch  Steigerung  des  Druckes  im  Schädel  herbeiführen 
können.  Vielleicht  sind  sogar  manche  der  oben  angeführten  Verände- 
rungen, insbesondere  der  Balkenmangel  und  die  Hirnwucherung, 
öfters  nicht  Missbildungen,  sondern  Folgen  derartiger  Krankheits- 
vorgänge. Auch  Gefässveränderungen  scheinen  eine  gewisse  Rolle 
zu  spielen.  Wildermuth  erwähnt  häufige  Endarteriitis;  Thrombosen 
und  Embolie  können  porencephalische  Zerstörungen  bewirken. 
Blutungen  bei  der  Geburt  oder  durch  sonstige  Traumen  führen  hie 
und  da  zum  Druckverschluss  der  Gefässe  mit  nachfolgender  Er- 
weichung; ich  sah  Atrophie  beider  Schläfenlappen  durch  alte,  von 
mächtigen  Schwarten  umgebene  Ohrenabscesse. 

Die  allerdings  erst  in  ihx-en  ersten  Anfängen  stehende  mikrosko- 


*)  Hammarberg,  Studien  und  Klinik  und  Pathologie  der  Idiotie,  Deutsch 
von  W.  Berger.  1895;  Pfleger  und  Pilcz  in  Obersteiners  Arbeiten,  HeftV. 


raepelin,  Psychiatrie.  6. Auf I 


Tafel  IX 


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3.  Jdiofie  durch  Entwicklungshemmung. 


I Rindenveränderung  2 Jdiotie  durch  Krankheitsvorgang 

beim  Altersblddsinn.  fZellausfall.) 


^.Grosse  Spinnenzelle. 


Idiotie. 


597 


pische  Durchforschung  der  Idiotengehirne  hat  das  wichtige  Ergebniss 
geliefert,  dass  wir  zunächst  mindestens  zwei  Hauptgruppen  von  Formen 
auseinanderzuhalten  haben.  In  der  ersten  Gruppe  sehen  wir,  dass  auch 
die  histologische  Ausbildung  der  Hirnrinde  hier  auf  niederer  Stufe 
stehen  geblieben  ist.  In  einigen  von  Hammarberg  untersuchten 
Fällen,  die  im  Leben  tiefsten  Blödsinn  dargeboten  hatten,  entsprach 
der  Zustand  der  Rinde  etwa  demjenigen  im  6.  Fötalmonate.  Die 
Zahl  der  Nervenzellen  war  eine  ungemein  geringe,  ihre  Form  und 
ihr  innerer  Bau  noch  ganz  unentwickelt.  Nicht  immer  ist  die  Ent- 
wicklungshemmung in  allen  l'heilen  des  Gehirns  gleich  ausgesprochen; 
vielmehr  sieht  man  neben  stark  zurückgebliebenen  Gebieten  solche, 
die  weiter  vorgeschritten,  vielleicht  sogar  ziemlich  gut  entwickelt 
sind.  Wir  geben  auf  Tafel  IX  in  Figur  3 einen  Durchschnitt  durch 
die  Rinde  einer  erwachsenen  Idiotin,  welche  den  Stillstand  auf  embryo- 
naler Stufe  vortrefflich  zeigt.  Die  Rinde  ist  kaum  halb  so  breit  wie  eine 
gesunde ; die  Zellen  stehen  in  ganz  dicht  gedrängten,  regelmässigen 
Reihen,  weil  weder  die  Fasern  noch  das  graue  Netz  zwischen  ihnen 
zur  gehörigen  Entwicklung  gelangt  ist.  Dieser  Bau  entspricht  voll- 
kommen demjenigen  nicht  nur  beim  Embryo,  sondern  auch  bei 
niederen  Säugethieren.  Die  verschiedenen  Schichten  lassen  sich, 
ebenfalls  wie  beim  Thiere,  nicht  deutlich  von  einander  abgrenzen 
Die  Unterschiede  in  Bau  und  Grösse  der  Zellen  sind,  was  sich 
allerdings  erst  bei  starker  Yergrösserung  erkennen  lässt,  kaum  an- 
gedeutet; die  einzelnen  Zellen  haben  noch  ihr  blasses,  rundliches, 
embryonales  Aussehen  behalten. 

Ein  ganz  anderes  Bild  bietet  dagegen  die  Figur  2,  die  von 
einem  jugendlichen  Idioten  stammt.  Die  Breite  der  Rinde  und  die 
Anordnung  der  Zellen  entspricht  vollkommen  dem  gesunden  Ver- 
halten. Die  Schichtung  ist  deutlich  ausgesprochen;  die  einzelnen 
Zellen  zeigen  sehr  verschiedene  Grösse  und  gleichen  vollständig  den 
gewöhnlichen  Bildern.  Dagegen  lässt  sich  erkennen,  dass  grosse 
Lücken  in  den  Zellenreihen  vorhanden  sind,  die  auf  den  Unter- 
gang zahlreicher  Rindenbestandtheile  hindeuten.  Während  wir  es 
also  in  der  Figur  3 mit  einem  einfachen  Zurückbleiben  auf 
früher  Entwicklungsstufe  zu  thun  hatten,  scheint  hier  in  das  schon 
einigermassen  ausgebildete  Gehirn  ein  Krankheitsvorgang  eingegriffen 
zu  haben,  der  einen  gewissen  Theil  des  Rindengewebes  nachträglich 
zerstört  hat.  Es  ist  natürlich  auch  denkbar,  dass  sich  unter  Um- 


598 


XIII.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 


ständen  beide  Veränderungen,  Stillstand  und  Untergang,  in  dem- 
selben oder  in  verschiedenen  Hirntheilen  mit  einander  verbinden. 
Vielfach  lassen  sich  Gliawucherungen  als  Spuren  früherer  Zer- 
störungsvorgänge nachweisen,  bald  örtlich  umgrenzt,  bald  ausgedehnt; 
gerade  die  hypertrophische  Sklerose  scheint  regelmässig  auf  unge- 
heurer Gliavermehrung  zu  beruhen,  wie  wir  sie  uns  wol  als  Begleit- 
und  Folgeerscheinung  ausgebreiteten  Unterganges  von  Bindengewebe 
zu  denken  haben.  Welcher  Art  die  Schädigungen  sind,  die  zu  den 
verschiedensten  Zeiten,  bis  in  die  ersten  Lebensjahre  hinein,  die 
Ausbildung  der  Hirnrinde  an  irgend  einem  Punkte  unterbrechen 
können,  lässt  sich  aus  den  bisher  vorliegenden  Erfahrungen  noch 
nicht  erkennen.  Bei  den  krankhaften  Zerstörungen  liegt  es  wol  nahe, 
an  Infectionen  oder  Vergiftungen  zu  denken. 

Die  Prognose  der  Idiotie  ist,  dem  Wesen  der  Krankheit  ent- 
sprechend, im  allgemeinen  eine  durchaus  ungünstige;  der  Idiot  wird 
niemals  im  Stande  sein,  die  geistige  Reife  des  gesund  entwickelten 
Menschen  zu  erreichen.  Gleichwol  ist  es  eine  Frage  von  grosser 
praktischer  Bedeutung,  im  einzelnen  Falle  darüber  klar  zu 
werden,  wie  weit  der  bestehende  Zustand  die  Möglichkeit  einer 
psychischen  Fortentwicklung  zulässt,  wie  weit  der  Kranke  bildungs- 
fähig ist  oder  nicht.  In  der  ersten  Kindheit  lässt  sich  darüber  in 
der  Regel  ein  sicheres  Urtheil  kaum  gewinnen;  wird  doch  oft  von 
den  Angehörigen  das  Bestehen  einer  Störung  im  dritten  oder  vierten 
Lebensjahre  überhaupt  erst  bemerkt.  Auch  späterhin  ist  eine  pro- 
gnostische Aussage  ohne  längere  Beobachtung  häufig  nicht  leicht. 
Die  Möglichkeit  einer  Fesselung  der  Aufmerksamkeit  des  Kindes  für 
einige  Zeit,  das  längere  Haften  einer  Erinnerung  (Wiedererkennen 
von  Gegenständen,  Sträuben  gegen  früher  erfahrene  unangenehme 
Einwirkungen),  der  Nachweis  eines  Verständnisses  für  die  Sprache 
können  als  günstige  Anzeichen  angesehen  werden,  während  das 
frühzeitige  Auftreten  der  Epilepsie  die  Prognose  sehr  trübt.  In 
mindestens  der  Hälfte  solcher  Fälle  kommt  es  nach  Wildermuths 
Angabe  zur  Entwicklung  tiefsten  Blödsinns.  Auch  sonst  aber  stellt 
sich  nicht  selten  im  Entwicklungsalter  ein  deutlicher  Rückgang  der 
bis  dahin  erreichten  geistigen  Leistungsfähigkeit  ein.  In  einzelnen 
Fällen  sehen  wir  auf  der  idiotischen  Grundlage  geradezu  hebephreni- 
sclie  oder  katatonische  Krankheitsbilder  entstehen.  Die  durchschnitt- 
liche Lebensdauer  der  Idioten  ist  eine  verhältnissmässig  kurze.  Während 


Idiotie. 


599 


ein  Theil  derselben  an  den  Folgen  und  gelegentlichen  Nachschüben 
der  Gehirnerkrankungen  zu  Grunde  geht,  erliegen  andere  den  zahl- 
reichen Schädlichkeiten,  denen  sie  wegen  ihrer  geistigen  und  körper- 
lichen Unbehülflichkeit  ausgesetzt  sind,  und  endlich  scheint  ihnen 
auch  noch  im  allgemeinen  eine  geringere  Widerstandsfähigkeit  gegen- 
über zufälligen  Erkrankungen  und  ungünstigen  Lebensverhältnissen 
zuzukommen. 

Die  Erkennung  der  Idiotie  bietet  nur  in  der  frühen  Kindheit 
erheblichere  Schwierigkeiten.  Allerdings  können  auch  jetzt  schon 
einzelne  Anzeichen,  Unempfindlichkeit  gegenüber  äusseren  Einflüssen 
und  Anregungen,  Fehlen  der  gewöhnlichen  Gefühlsäusserungen  bei 
Hunger  und  Nässe,  beim  Anlegen  au  die  Brust,  bei  Annäherung  der 
Mutter,  oder  fortwährende  planlose  Unruhe,  Mangel  der  Aufmerk- 
samkeit, des  Lachens  und  Weinens,  Beibehaltung  der  fötalen  Glieder- 
stellung, weiterhin  aber  die  Erscheinungen  von  Hirnerkrankungen, 
Krämpfe,  Lähmungen  und  dergl.  die  Vermuthung  einer  Idiotie  nahe 
legen.  Sicherheit  wird  aber  erst  der  weitere  Verlauf  der  Ent- 
wicklung, verspätetes  Gehenlernen  und  vor  allem  das  gänzliche 
oder  theilweise  Ausbleiben  der  Sprachbildung  und  des  ^Sprach- 
verständnisses zu  geben  vermögen.  Auf  der  anderen  Seite  wird  die 
Abgrenzung  der  Idiotie  von  den  leichteren  Formen  des  Schwach- 
sinns immer  bis  zu  einem  gewissen  Grade  willkürlich  sein;  man 
pflegt  im  allgemeinen  alle  diejenigen  Kranken  der  ersten  Gruppe 
zuzurechnen,  deren  geistige  Entwicklung  seit  den  frühen  Kinder- 
jahren höchstens  nach  der  Seite  des  Gedächtnisses,  nicht  aber  nach 
derjenigen  des  Urtheils  und  des  Welt  Verständnisses  Fortschritte  ge- 
macht hat. 

Die  Vorbeugung  der  Idiotie  wird  ausser  dem  auch  unter 
diesem  Gesichtspunkte  unabweislichen  Kampfe  gegen  den  Alkohol 
kaum  Angriffspunkte  finden.  Dagegen  bedarf  ein  erheblicher  Theil 
der  etwa  60000  Idioten,  die  es  nach  Kurellas  Schätzung  in  Deutsch- 
land giebt,  besonderer  Fürsorge*).  Diese  Fürsorge  wird  in  der 
Hauptsache  immer  eine  pädagogische  sein  müssen,  selbstverständlich 
unter  steter  Berücksichtigung  der  für  jeden  einzelnen  Fall  in  Be- 


*)  Shuttleworth,  Mentally  deficient  chüdren,  their  treatment  aud  training. 
1893;  Bourneville,  Assistance,  traitement  et  education  des  enfants  idiots  et 
degeneres.  1894. 


600  XIU.  Die  psychischen  Entwicklungshemmungen. 

tracht  kommenden  ärztlichen  Grundsätze.  Sich  selbst  überlassen 
oder  in  ungünstiger,  roher  Umgebung,  pflegen  Idioten  rasch  zu  ver- 
kommen und  zu  verthieren,  auch  bösartig  zu  werden.  Ich  erinnere 
mich  ferner  an  einen  kleinen  harmlosen  Idioten,  den  sein  Vater  in  bester 
Absicht  deswegen  an  eine  Kette  legte,  weil  er  die  Neigung  hatte, 
davonzulaufen,  und  bei  seinen  Irrfahrten  in  allerlei  Gefahren  gerieth, 
namentlich  durch  die  Misshandlungen  und  Scherze  seiner  Nachbarn. 
Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  eine  ganze  Anzahl  jener  ver- 
wilderten Menschen,  die  man  zu  verschiedenen  Zeiten  in  Wäldern 
aufgefunden  und  als  besondere  Abart  des  Menschengeschlechts 
(„homo  sapiens  ferus“)  beschrieben  hat,  verirrte  Idioten  waren. 
So  habe  ich  einen  aus  den  Wäldern  Ungarns  stammenden  zerlumpten 
Landstreicher  gesehen,  dessen  eigentümlicher,  hochgradiger  Blöd- 
sinn sehr  wahrscheinlich  bis  in  die  früheste  Jugend  zurückreichte. 
Auch  die  häusliche  Pflege  tiefstehender  Idioten  bringt  nicht  selten 
schwere  Nachtheile  mit  sich,  namentlich  bei  den  erregten  Formen. 
Die  mühselige  Erziehung  solcher  Kinder  erfordert  einen  derartigen 
Aufwand  von  Liebe,  Geduld  und  namentlich  auch  Sachkenntnis, 
wie  er  in  der  Familie  fast  niemals  erreichbar  ist.  Ausserdem  aber 
können  die  Kranken  durch  schlimme  Beeinflussung  der  Geschwister, 
durch  Gewalttätigkeiten,  unvermutete  Fahrlässigkeiten,  Brand- 
stiftungen, geschlechtliche  Angriffe  gelegentlich  in  nicht  geringem 
Grade  gefährlich  werden. 

Mit  vollem  Rechte  hat  man  daher  mehr  und  mehr  die  Behand- 
lung der  Idioten,  die  zu  einem  besonderen  Berufszweige  ausgebildet 
worden  ist,  in  eigens  für  die  Bedürfnisse  dieser  Kranken  eingerichtete 
Anstalten  verlegt.  Die  tief  Verblödeten  finden  hier  ihre  Pflege, 
während  die  Bildungsfähigen  unter  ihres  Gleichen  in  besonderer 
Weise  erzogen  werden.  Geregelter  Unterricht  in  möglichst  leicht 
fasslicher  Form,  von  den  einfachsten  Kenntnissen  und  Fertigkeiten 
beginnend,  freundliche,  liebevolle  Pflege  der  gemüthlichen  Regungen, 
sorgfältige  Förderung  der  körperlichen  Ausbildung,  alles  unter  ge- 
nauer Beachtung  der  kleinen  persönlichen  Eigentümlichkeiten  des 
Einzelnen,  sind  die  hauptsächlichsten  Hiilfsmittel,  mit  denen  die 
Idiotenerziehung  arbeitet.  Ganz  planmässig  wird  dabei  zuerst  das 
Erlernen  des  Gehens,  des  Gebrauches  der  Hände  in  Angriff  ge- 
nommen; die  Thätigkeit  der  einzelnen  Sinne,  die  Aufmerksamkeit 
wird  geübt.  Dann  geht  es  an  den  eigentlichen  Unterricht  in  An- 


Idiotie. 


601 


schauung,  Unterscheidung,  einfachsten  Urtheilen,  die  Ausbildung  der 
Sprache,  die  Einprägung  von  Kenntnissen,  die  Einübung  von  Fertig- 
keiten, wie  sie  als  Grundlage  für  eine  spätere  Erwerb sthätigkeit 
dienen  können.  Die  Erfolge  dieser  aufopferungsvollen  Arbeit  sind 
zwar  der  Natur  der  Sache  gemäss  keine  glänzenden  und  in  die 
Augen  springenden,  aber  sie  sind  doch  weit  grösser,  als  man  von 
vornherein  denken  sollte.  Eine  ansehnliche  Zahl  geistiger  Krüppel 
verlässt  alljährlich  die  Idiotenanstalten,  wenn  auch  nicht  geheilt,  so 
doch  derart  erzogen,  dass  sie  in  bescheidenem  Kreise  dauernd  eine 
nutzbringende  Thätigkeit  zu  entfalten  im  Stande  sind.  Das  ist  um 
so  erfreulicher,  als  unerzogene  Idioten  in  der  Regel  geistig  und 
körperlich  rasch  zu  verkommen  pflegen.  Freilich  bedürfen  auch 
diese  Entlassenen  noch  dauernd  einer  gewissen  Fürsorge,  da  ihre 
Fähigkeit,  sich  in  der  Welt  zurechtzufinden,  ihre  Kenntnisse  zu 
verwerthen,  regelmässig  in  einem  auffallenden  Missverhältnisse  zu 
ihrem  angelernten  Wissen  steht.  Hier  hätte  der  Schutz  durch 
Vereine,  unter  Umständen  auch  die  Unterbringung  in  Familienpflege 
oder  in  einfachen  Pfründen  einzutreten. 

Dass  die  Idiotenbehandlung  auch  auf  körperlichem  Gebiete  noch 
allerlei  Aufgaben  zu  lösen  hat,  bedarf  nur  kurzer  Erwähnung.  Die 
so  häufigen  allgemeinen  Ernährungsstörungen  werden  zu  beseitigen 
sein;  durch  Besserung  des  Schlafes,  Bekämpfung  der  Masturbation 
(Reinlichkeit,  Beseitigung  örtlicher  Reize),  angemessene  Bewegung 
im  Freien  ist  die  körperliche  Ausbildung  nach  Kräften  zu  fördern. 
Auch  die  möglichste  Beseitigung  epileptischer  Anfälle  durch  Brom- 
kalium, Bromkampher  (Bourneville),  Atropin,  Ueberosmium säure 
(Wildermuth)  wird  man  anstreben,  um  so  wenigstens  das  Fort- 
schreiten des  psychischen  Verfalles  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zu 
hindern.  Der  thörichte  Vorschlag,  bei  Mikrocephalie  auf  chirurgischem 
Wege  den  Schädel  zu  öffnen,  um  dem  vermeintlich  zusammen- 
gepressten Gehirne  Raum  zu  schaffen,  beruht  auf  einer  so  gründlichen 
Verwechselung  zwischen  Ursache  und  Wirkung,  dass  er  hoffentlich 
kein  längeres  Leben  haben  wird,  als  die  Kranken,  die  ihm  bisher 
zum  Opfer  gefallen  sind. 


Register. 


A. 

Anankasmus  538. 

Aberglaube  545. 

Absence  der  Epileptiker  464. 
Abstinenzerscbeinungen  59. 

„ beim  Morphinis- 

mus 112. 

Abwebrneurose  511. 

Aequivalente,  psychisch-epileptische  485. 
„ beim  manisch-depressiven 

Irresein  406. 

Agoraphobie  541. 

Agrammatismus  bei  Hirnerkrankungen 
312. 

Alkoholabstinenz  74. 

Alkoholepilepsie  69.  475. 

Alkoholische  Geistesstörungen  60. 
Alkoholismus,  chronischer  63. 

Alkohol,  Kampf  gegen  denselben  75. 
Alkoholneuritis  69. 

Alkoholparalyse  100. 

Alkoholwahnsinn  93. 

Alkoholwirkung,  psychische  60. 
Altersblödsinn  348. 

Amentia  37. 

Ammonshornveränderungen  bei  Epilepsie 
480. 

Amnesie  der  Epileptiker  471. 

Amok  470. 

Androgyne  566. 

„ bei  Dementia  praecox  145. 
Anfälle,  epileptische  463. 

„ hysterische  514. 

„ paralytische  229. 
Angstmelancholie  327. 

Aortenatherom  bei  Paralyse  283. 
Apoplektisches  Irresein  311. 


Are  de  cercle  515. 

Arithmomanie  540. 

Arteriosklerose  bei  Schreckneurose  523. 
Arteriosklerotische  Hirnentartung  308. 
Astasie-Abasie  502. 

Asthenopie,  neurasthenische  47. 
Atropindelirium  59. 

Attitudes  passioneiles  bei  Hysterie  515. 
Aura  der  Epileptiker  464. 

Aztekentypus  bei  Idiotie  595. 


B. 

Balkenmangel  bei  Idiotie  596. 

Basedow’sche  Krankheit  mit  Geistes- 
störung 58.  125. 

Beeinträchtigungswahn,  praeseniler  342. 

Befehlsautomatie  bei  Dementia  praecox 
145. 

Berauschtheit  während  der  Zeugung  als 
Ursache  der  Idiotie  593. 

Berührungsfurcht  551. 

Beschäftigungsdelirium  der  Alkoholdeli- 
ranten 81. 

Beschäftigungsdrang  der  Manischen  366. 

Beschränktheit  573. 

Besessenheitswabn  193. 

Bewegungsdrang  bei  Dementia  praecox 
168. 

Bewegungsstereotvpen  der  Katatoniker 
168. 

Bewusstsein,  Spaltung  dess.  bei  Hysterie 
510. 

Bielefeld,  Epileptikeranstalt  491. 

Blödsinn  s.  Dementia. 

„ höherer  581. 

Brandstiltungstrieb  557. 

Bromopiumcur  bei  Epilepsie  491. 


Register. 


603 


C. 

Castration  bei  Hysterie  516. 
Charakter,  epileptischer  458. 

„ hysterischer  494. 
Chloroformdelirium  58. 

Chorea  bei  Paralyse  239. 
Chorea  magna  509. 
Choreatisches  Irresein  58. 
Classification  s.  Eintheilung. 
Claustrophilie  542. 
Claustrophobie  542. 
Clownismus  bei  Hysterie  515. 
Cocainismus  117. 
Cocainwahnsinu  119. 
Collapsdelirium  31. 
Cretinismus,  endemischer  131. 

„ sporadischer  135. 
Criminalanthropologie  585. 
Criminalpsychologie  585. 
Cyclothymie  416. 


D. 

Dämmerzustand,  epileptischer  463. 

„ hysterischer  504. 

Decubitus  s.  Druckbrand. 

Delinquente  nato  585. 

Delire  chronique  ä evolution  systematique 
199. 

Delire  du  toucher  551. 

Delirium  acutum  36. 

„ ängstliches,  der  Epileptiker  468. 

* „ bei  Infectionskrankheiten  15. 

„ besonnenes  der  Epileptiker  471. 

„ blandes  13. 

„ febriles  12. 

„ im  üunkelzimmer  354. 

„ mussitirendes  13. 

„ periodisches  382. 

„ seniles  353. 

„ transitorium  486. 

„ tremens  76. 

„ „ der  Morphinisten  112. 

„ der  Paralytiker  263. 

„ „ febrile  85. 

Dementia  s.  Schwachsinn. 

„ acuta  30. 

„ paralytica  s.  Paralyse,  progres- 
sive. 

„ paranoides  182. 

„ praecox  137. 

„ senilis  348. 

„ simplex  137. 


Demenza  primitiv  137. 

Denkhemmung  beim  manisch-depressiven 
Irresein  364. 

Depressionszustände,  periodische  407. 

„ senile  353. 

Dipsomanie  476. 

Doppelbewusstsein  bei  Hysterie  506. 
Doppeldenken  192. 

Druckbrand  bei  Paralyse  241. 

„ Behandlung  desselben  304. 


E. 

Echolalie  145.  167. 

Echopraxie  145.  167. 

Effeminatio  566. 

Eifersuchtswahn  der  Cocaiuisten  120. 

„ „ Trinker  98. 

,.  .,  Paralytiker  251. 

„ praeseniler  342. 

Eintheilung  der  Seelenstörungen  1. 

„ ätiologische  3. 

„ klinische  4. 

,,  pathologisch-anatomische  2. 

„ symptomatische  3. 

Eklampsie  484. 

Embolien,  Irresein  bei  denselben  311. 
Encephalitis  subcorticalis  progressiva 
chronica  309. 

Entartungsirresein  529. 
Entschlussuntähigkeit  beim  manisch-de- 
pressiven Irresein  369. 
Entwicklungshemmungen,  psychische  572. 
Entziehungscur  bei  Alkoholismus  74. 

„ „ Cocainismus  123. 

„ ,.  Morphinismus  113. 

Epilepsia  senilis  479. 

„ tarda  479. 

Epilepsie,  alkoholische  69. 

„ bei  Idiotie  592. 

„ genuine  483. 

„ psychische  463. 

„ symptomatische  483. 

Epileptisches  Irresein  456. 

Erregung,  katatonische  163. 

„ manische  366. 

Erschöpfung,  chronische  nervöse  45. 
Erschöpfungsirresein  30. 

Erythrophobie  544. 

Existenz  minimm  der  Morphinisten  114. 


j Fabuliren  der  Greise  332. 
Faserschwund  beim  Altersblödsinn  356. 


604 


Register. 


Faserschwund  bei  Delirium  tremens  87. 
„ ,,  Paralyse  277. 

„ „ Polyneuritis  29. 

Fieberdelirien  12. 

Folie  du  doute  550. 

„ morale  583. 

„ raisonnante  374. 

Forza  irresistibile  561. 

Fragesucbt,  krankhafte  540. 


G. 

Geburt,  protrahirte,  als  Ursache  der  Idio- 
tie 593. 

Gefässerkrankungen  bei  Paralyse  280. 
Gehirn  s.  Hirn. 

Gehirnerschütterung,  Irresein  in  Folge 
von  314. 

Gehirnerweichung  s.  Paralyse,  progressive. 
Geistesstörung  s.  Irresein. 
Geschlechtstrieb,  Perversitäten  dess.  562. 
Geschwülste  des  Hirns  310. 
Gliaveränderungen  hei  Katatonie  181. 

„ „ Paralyse  278. 

Gliose  der  Hirnrinde  307. 

„ perivasculäre  309. 

Gothenburger  System  75. 

Greisenirresein  348. 

Grössenwahn  bei  Paralyse  253. 

.,  hei  Verrücktheit  434. 
Grübelsucht  541. 

Gynandrier  566. 


H. 

Haematom  der  Dura  hei  Paralyse  273. 
Haesitiren  hei  Paralyse  235. 
Haschischdelirium  58. 

Hebephrenie  149. 

Hemmung,  einfache  beim  manisch-de- 
pressiven Irresein  386. 

.,  psychomotorische  beim 

manisch-depressiven  Irresein 
369. 

Hermaphrodisie,  körperliche  566. 

.,  psychische  565. 

Heterotopien  hei  Idiotie  596. 
Hirnabscesse,  Irresein  in  Folge  ders.  311. 
Hirnatrophie  der  Greise  356. 
Hirnblutung,  Irresein  in  Folge  ders.  311. 
Hirnerkrankungen,  Irresein  hei  dens.  307. 
Hirngeschwülste,  Irresein  hei  dens.  310. 
Hirnsklerose,  diffuse  308. 

Höhenangst  542. 


Homo  sapiens  ferus  600. 

Homosexualität  562. 

Hydrocephalus  bei  Idiotie  596. 
Hyperostose  des  Schädels  bei  Paralyse 
272. 

Hyperpyrexie  bei  Fieberdelirien  13. 
Hypnose  bei  conträrer  Sexualempfindung 
570. 

Hypochondrie  49. 

„ der  Entarteten  545. 

„ der  Hysterischen  495. 

Hypomanie  374. 

Hysterie  bei  Alkoholisten  70. 

,.  bei  Genitalleiden  509. 

„ bei  Kindern  509. 

„ männliche  508. 

„ traumatische  520. 

Hysterisches  Irresein  492. 


I.  J. 

Ideenflucht  hei  Manie  363. 

Idiotenanstalten  600. 

Idiotie  587. 

„ anergetische  590. 

„ apathische  590. 

„ erethische  590. 

„ versatile  590. 

Imbecillität  573. 

„ anergetische  573. 

„ erethische  573. 

„ lebhafte  578. 

„ moralische  583. 

„ stumpfe  573. 

Infectiöses  Irresein  11. 

Infectiöse  Schwächezustände  19. 

Infectionsdelirien  15. 

Initialdelirium  15. 

Intentionszittern  bei  Paralyse  239. 

Intermittenspsychosen  15. 

Intoleranz  der  Epileptiker  gegen  Alkohol 
475. 

Intoxikationen  s.  Vergiftungen. 

Intoxikationsdelirium  57. 

Iodothyrin  bei  Myxödem  130. 

Irresein,  circuläres  359.  402. 

„ degeneratives  529. 

„ epileptisches  456. 

„ hysterisches  492. 

„ impulsives  557. 

„ inrectiöses  11. 

„ manisch-depressives  359. 

„ manisches  374. 

„ menstruelles  418. 

„ moralisches  588. 

„ myxödematöses  125. 


Register. 


605 


Irresein,  periodisches  359.  401. 

„ polyneuritisches  25. 

,,  postepileptisches  464. 

„ praeepileptisches  464. 

.,  thyreogenes  125. 

„ transitorisches  bei  Neurasthenie 

487. 

Jugendirresein  201. 


K. 

Kachexia  strumipriva  129. 

Katalepsie  bei  Katatonie  167. 
Kataraktoperationen,  Irresein  nach  den- 
selben 854. 

Katatonie  159. 

Klangassociationen  bei  Manie  368. 
Kleiderangst  544. 

Kleptomanie  558. 

Knabenliebe  der  Alten  562. 

Koma  13. 

„ vigil  13. 

Kopfverletzungen,  Irresein  nach  314. 
Koprolalie  553. 

Krampf,  epileptischer  463. 

„ hysterischer  505.  514. 

Krisen  beim  Entartungsirresein  554. 
Kropf  hei  Cretinen  132. 

Kropfbrunnen  134. 


L. 

Leichenbefund  bei  Paralyse  272. 

„ beim  Altersblödsinn  356. 

,.  bei  Idiotie  596. 

Lethargie  13. 

Logoklonie  bei  Paralyse  234. 

Lues  hereditaria  tarda,  Schwachsinn  bei 
ders.  308. 

Lyssadelirium  15. 


Masturbation,  gemeinschaftliche  bei  con- 
trärer  Sexualempfindung  563. 
Megalomanie  der  Paralytiker  253. 
Melancholie  317. 

„ active  327. 

„ einfache  327. 

„ periodische  407. 

„ senile  323. 

„ simplex  327. 

Mikrocephalie  der  Idioten  594. 
Mikrogyrie  bei  Idioten  596. 

Mikromanie  der  Paralytiker  247. 

M mderwerthigkeiten,  psychopathische 

Mischzustände  im  manisch-depressiven 
Irresein  394. 

Monomanie  561. 

Moral  insanity  583. 

Mordtrieb  559. 

Morphinismus  101. 

Morphiococainismus  115. 
Morphiumabstinenz  112. 

Mutacismus  der  Katatoniker  163. 
Mysophobie  547. 

Myxödematöses  Irresein  125. 


N. 

Nachtwandeln  466.  505. 
Nathverknöcherung  bei  Idiotie  594. 
Negativismus  der  Katatoniker  144. 
Nervenheilanstalten  537. 

Neurasthenie,  angeborene  530. 

„ erworbene  45. 

Neuritis,  alkoholische  69. 

„ multiple,  Irresein  bei  ders.  25. 

„ bei  Paralyse  283. 

Neuroglia  s.  Glia. 

Neurosen,  allgemeine  455. 

Neurose,  traumatische  520. 

„ „ locale  524. 

Nyktophobie  542. 


M. 


0. 


Mässigkeitsvereine  75. 

Malaria  s.  Intermittens. 

Mania  359. 

„ mitis  374. 

„ mitissima  374. 

„ periodica  402. 

„ simplex  359. 

„ sine  delirio  374. 

Mania  transitoria  486. 
Manieren  der  Katatoniker  175. 
Mastcur  bei  Hysterie  517. 


Ohnmacht,  epileptische  464. 
Onomatomanie  539. 
Opiumrausch  58. 

Othämatom  bei  Paralyse  241. 
Ovarie  502. 


I Paederastie  563. 

| Papierangst  548. 


606 


Register. 


Paralyse,  agitirte  2ßl. 

„ alkoholische  100. 

„ ascendirende  239. 

,,  circulare  260. 

„ classische  253. 

„ demente  264. 

„ depressive  246. 

„ expansive  252. 

„ galoppirende  262. 

,,  hypochondrische  246. 

„ jugendliche  285. 

„ progressive  215. 

„ weibliche  284. 

Paranoia  s.  Verrücktheit. 

„ completa  199. 

„ periodische  402. 

„ senile  354. 

Petit  mal  463. 

Phantasiren  12. 

Phobien  der  Entarteten  541. 

Phosphoricterus,  Delirium  bei  dems.  58. 

Physiognomie,  epileptische  474. 

Platzangst  541. 

Pockendelirium  15. 

Polyneuritische  Geistesstörung  25. 

Porencepbalie  bei  Idiotie  596. 

Praecordialangst  332. 

Praeseniler  Beeinträchtigungswahn  342. 

Processkrämer  445. 

Pseudoparalyse,  alkoholische  101. 

Psychose  s.  Irresein. 

Q. 


Quartalsäufer  478. 

Quecksilberbehandlung  bei  Paralyse  303. 
Querulanteuwahn  445. 


R. 

Randgliose  bei  Epilepsie  480. 

Raptus  melancholicus  327. 

Rausch  60. 

Rauschzustände,  krankhafte  62.  475. 
Rededrang  der  Manischen  368. 
Reflexepilepsie  488. 

Reflexkrampf,  saltatorischer  240. 
Remissionen  bei  Katatonie  179. 

„ bei  Paralyse  269. 

Rente,  Kampf  um  dieselbe  bei  Schreck-  j 
neurose  524. 

Rippenbrüche  bei  Paralyse  241. 
Rückbildungsirresein  317. 
Rückenmarksveränderungen  bei  Paralyse 

283. 


s. 

Sammelwuth,  krankhafte  558. 
Santonindelirium  58. 

Scandiren  der  Paralytiker  235. 
Scbilddrüsenerkrankung  bei  Kretinismus 

135. 

„ „ Myxödem  129. 

Schlaf'anfälle  bei  Epilepsie  464. 

„ „ Hysterie  505. 

Schmiercur  bei  Paralyse  303. 
Schmutzangst  547. 

SchnauzkTampf  der  Katatoniker  166. 
Schreckneurose  520. 

Schriftstörungen  bei  manisch  - depressi- 
vem Irresein  371. 

„ derAlkoholdeliranten84 

„ der  Paralytiker  236. 

Schriftstücke  bei  Dementia  praecox  155. 
171. 

Schulepidemie,  hysterische  509. 
Schwachsinn  s. Dementia  und  Imbecillität- 
„ angeborener  573. 

„ bei  organischen  Himerkran. 

kungen  307. 

„ epileptischer  456. 

„ hebephreniseher  156. 

„ impulsiver  557. 

„ katatonischer  175. 

„ moralischer  583. 

„ vorzeitiger  137. 

Schwindelanfalle,  epileptische  463. 

„ paralytische  229. 

Sehstörung  der  Paralytiker  227. 

Senile  Verwirrtheit  351. 

Senium  praecox  355. 

Sexualempfindung,  conträre  562. 
Silbenstolpern  der  Paralytiker  235. 
Sklerose,  diffuse  308. 

„ multiple  309. 

Somnambulismus  s.  Nachtwandeln. 
Spiegelschrift  bei  Idioten  592. 
Spinnenzellen  bei  Paralyse  279. 

,,  Dementia  praecox  155. 

170. 

Sprachstörung  der  Alkoholdeliranten  77. 
„ ,,  Idioten  592. 

„ Paralytiker  2SS. 

Sprachverwirrtheit  176. 

Stehltrieb  558. 

Stereotypen  der  Katatoniker  144.  168. 
Stickstoffoxyduldelirium  59. 

Stigmata,  hysterische  502. 

Stupor,  epileptischer  467. 

,.  im  manisch-depressiven  Irresein 

388. 


Register. 


607 


Stupor  katatonischer  163. 

„ manischer  396. 

„ paralytischer  250. 

Syphilis  bei  Paralyse  286. 

T. 

Tabes  bei  Paralyse  239. 
Tangentialfasern,  Schwund  ders.  bei  Pa- 
ralyse 277. 

Tangentialfasern,  Schwund  ders.  bei  Po- 
lyneuritis 29. 

Telepathie  191. 

Tetanie,  Irresein  bei  58. 

Thyreogenes  Irresein  125. 

Thyreoidin  bei  Myxödem  130. 

„ .,  Cretinismus  136. 

Tobsutht  879. 

Transformation  des  Wahns  198. 

Tremor,  alkoholischer  69.  84. 

.,  seniler  350. 

Tribasilarsynostose  bei  Idiotie  595. 
Triebhandlungen  der  Katatoniker  168. 
Trinkerasyle  73. 

Typhusdelirium  15. 

u. 

Umständlichkeit  der  Epileptiker  457. 
Unfallspsychosen  520. 

Uraemisches  Delirium  58. 

Urning  567. 

V. 

Yarioladelirium  15. 

Veränderung,  acute  der  Rindenzellen  274. 

„ schwere  der  „ 274. 

Verbigeration  der  Katatoniker  171. 
Verblödungsprocesse  137. 

Verbrecher,  geborener  584. 
Verfolgungswahn  bei  Melancholie  321. 

„ „ Paralyse  248. 

„ „ Verrücktheit  432. 

„ physikalischer  191. 

,,  seniler  354. 

„ praeseniler  342. 

Vergiftungen,  Irresein  bei  dens.  57. 

,.  acute  57. 

„ chronische  59. 

Verrücktheit  426. 

„ acute  427. 

„ confabulirende  444. 

, erotische  435. 


Verrücktheit  originäre  443. 

„ phantastische  188. 

„ primäre  426. 

„ secundäre  426. 

Verstimmung,  constitutioneile  530. 

Verstimmungen  der  Epileptiker  460. 

Versündigungswahn  der  Melancholiker 
318. 

Verwirrtheit,  acute  37. 

„ asthenische  39. 

„ hallucinatorische  39. 

,,  ideenflüchtige  364. 

,,  senile  351. 

Vesania  typica  circularis  416. 

Viraginität  566. 


W. 

Wahn,  nihilistischer  der  Greise  324. 
Wahnsinn,  depressiver  323. 

n hallucinatorischer  der  Trinker 

93. 

„ hallucinatorischer  der  Cocai- 

nisten  119. 

Waschmanie  552. 

Willenssperrung  bei  Dementia  praecox 
144. 

Windungsanomalien  bei  Idiotie  696. 
Windungsarmuth  bei  Idiotie  596. 
Wöchnerinnen,  hallucinatorisches  Irresein 
ders.  38. 


z. 

Zangengeburten  als  Ursache  der  Idiotie 
594. 

Zellerkrankungen  bei  Paralyse  274. 
Zellschwund  275. 

Zellsklerose  275. 

Zornmüthigkeit,  krankhatte  535. 
Zustände,  psychopathische  529. 
Zwangsantriebe  557. 

Zwangsdenken  539. 

Zwangshandlungen  557. 

Zwangsirresein  538. 

Zwangsvorstellungen  638. 

.,  beim  manisch-de- 

pressiven Irresein 
387. 

Zweifelsucht  550. 

Zwitter,  körperliche  566. 

„ psychische  565. 


LIBRARY 


Drude  von  C.  Grnmbach  in  Leipzig. 


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