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THE
CHARLES MYERS
LIBRARY
;ä©pearman
Collection
NATIONAL INSTITUTE
OF
INDUSTRIAL
PSYCHOLOGY
Np
225
00452925
1
Med
K38701
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I *
■ (I.DITU! RBtlSI .
Zweiter Band:
Klinische Psychiatrie.
PSYCHIATRIE.
EIN LEHRBUCH
FÜR
STUDIRENDE UND AERZTE
VON
Dit. EMIL KRAEPELIN,
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG.
SECHSTE, VOLLSTÄNDIG UM GE ARBEITETE AUFLAGE.
II. BAND.
KLINISCHE PSYCHIATRIE.
MIT 6 TAFELN IN AUTOTYPIE, 3 TAFELN IN PHOTOGRAPHIE, 16 CURVEN,
3 DIAGRAMMEN UND 13 SCHRIFTPROBEN.
LEIPZIG,
VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH.
1899.
Uebersetzungsrecht Vorbehalten.
WEL.LCC: ’MSTiTUTE
LIBRARY
Coü.
WeiMömec
Coli.
No.
Inhaltsverzeichniss.
Soita
Die Eintheilung der Seelenstörungen 1
Lehrbücher der Psychiatrie 9
I. Das infeotiöse Irresein II
A. Die Fieberdelirien
Grade der Störung — Grundlage derselben — Prognose
handlung.
Be
B. Die Infectionsdelirien
Initialdelirien — Delirien bei Pocken, Typhus, Lyssa.
C. Die infectiösen Schwächezustände
Verstimmung — Wahnbildungen — Expansive Formen — Poly
neuritische Geistestörung. "hvui-. jA . äuJl \
II. Das Erschöpfungsirresein
A. Das Collapsdelirium
Krankheitsbild — Dauer — Ausgang — Diagnose (Delirium
acutum) — Behandlung.
B. Die acute Verwirrtheit (Amentia)
Meynert’s Amentia — Asthenische Verwirrtheit — Verlauf
— Ursachen — Diagnose — Behandlung.
12
15
19
30
31
37
G. Die chronische nervöse Erschöpfung 45
Erworbene Neurasthenie — Hypochondrie — Ursachen — Ab-
grenzung — Behandlung.
III. Die Vergiftungen 57
1. Die acuten Vergiftungen 57
Stoffwechselerzeuguisse — Chemische und pflanzliche Gifte.
VI
Inbai IsverzeichniBB.
Seite
2. Die chronischen Vergiftungen 59
A. Der Allcoholismus 60
Rausch (psychologische Versuche; Thierbefunde) 60
Chronischer Alkoholismus 63
Psychische Störungen (Stumpfheit, Reizbarkeit, WUlenssch wache)
— Körperliche Störungen (Alkoholepilepsie, Hysterie) — Ur-
sachen — Behandlung, Vorbeugung.
Delirium tremens der Trinker 76
Auffassungsstörungen — Sinnestäuschungen — BeschäftigungB-
delirien — Körperliche Begleiterscheinungen — Pathologische
Anatomie — Ursachen — Behandlung.
Hallucinatorischer Wahnsinn der Trinker 93
Eifersuchtswahn der Trinker 98
Alkoholparalyse 100
B. Der Morphinismus 101
Acute Morphiumwirkung — Chronische Vergiftung — Abstinenz-
erscheinungen — Behandlungsmethoden.
C. Der Cocainismus 117
Cocainrausch — Charakterveränderung — Cocainwahnsinn.
IV. Das thyreogene Irresein 125
A. Das myxödematöse Irresein 125
Krankheitsbild — Ursachen — Kachexia strumipriva — Be-
handlung.
B. Der Cretinismus 131
Krankheitsbild — Ursachen und Wesen — Bekämpfung.
V. Die Dementia praecox 137
Allgemeines Krankheitsbild . 138
Sinnestäuschungen — Aufmerksamkeitsstörungen — Zerfahren-
heit — Wahnbildungen — Gemüthliche Verblödung — Willens-
störungen (Negativismus, Stereotypen, Automatie).
Körperliche Störungen 145
Anfälle.
Klinische Formen 148
Hebephrenische Formen 149
Katatonische Formen 159
Stupor — Erregung — Ausgänge — Remissionen.
Paranoide Formen 182
Dementia paranoides — Phantastische Verrücktheit.
Inhaltsverzeichniss.
VII
Seit»
Ursachen und Wesen 200
Abgrenzung 205
Behandlung 213
VI. Die Dementia paralytica 215
Psychische Krankheitszeichen 215
Gedächtnisstörung — Erinnerungsfillsckungen — Urteilslosig-
keit — Wahnbildungen — Reizbarkeit, Stimmungswechsel —
Haltlosigkeit, Bestimmbarkeit.
Körperliche Krankheitszeichen 227
Analgesie — Anfälle — Pupillenstörungen — Sprache und
Schrift— Rückenmarkserscheinungen — Allgemeine Ernährungs-
störungen.
Klinische Krankheitsbilder 245
Depressive Form (hypochondrische, ängstliche Paralyse, Ver-
folgungswahn) 246
f Expansive Form (classische, circulare Paralyse) 252
Agitirte Form (galoppirende Paralyse, Delirium tremens) . . 261
Demente Form 264
Verlauf der Krankheit 268
Ausgang 271
Pathologische Anatomie 272
Schädel, Hirnhäute — Zellenveränderungen — Faserschwund —
Rindenschrumpfung — Gliawucherung (Spinnenzellen) — Ge-
fassveränderungen — Rückenmarksveränderungen — Neuritis
— Uebrige Organe (Aortenatherom).
Ursachen und Wesen der Paralyse 284
Alter (jugendliche Paralyse) — Geschlecht — Beruf — Syphilis
— Deutung (Metasyphilis, Erschöpfung).
Erkennung 297
Behandlung 303
VIL Das Irresein bei Hirnerkrankungen . 307
Ausgebreitete Erkrankungen 307
Gliose der Hirnrinde — Diffuse Hirnsklerose — Lues hereditaria
tarda — Arteriosklerotische Hirnerkrankung, Perivasculäre
Gliose — Subcorticale Encephalitis — Multiple Sklerose.
Umgrenzte Erkrankungen 310
Geschwülste — Abscesse — Blutungen — Embolien, Throm-
bosen — Kopfverletzungen.
Inhaltsverzeichnis«.
Seite
VIII. Das Irresein des Rücktaildungsalters 317
A. Die Melancholie 317
Krankheitsbild (Einfache, hypochondrische Formen) — De-
pressiver Wahnsinn, nihilistischer Wahn — Angstmelancholie
— Katatonische Zeichen — Verlauf — Abgrenzung — Be-
handlung.
B. Der jyraesenile Beeinträchtigumgswahn ? 342
Krankheitsbild — Abgrenzung.
C. Der Ältersblödsinn 348
Krankheitsbild — Senile Verwirrtheit — Depression«- und Er-
regungszustände — Seniles Delirium — Seniler Verfolgungs-
wahn — Leichenbefund — Abgrenzung — Behandlung.
IX. Das manisch-depressive Irresein 359
Allgemeine Krankheitszeichen 361
Auffassungsstörungen — Bewusstseinsstörungen — Sinnes-
täuschungen, Wahnbildungen — Störungen des Vorstellungs-
verlaufes (Ideenflucht, Denkhemmung) — Stimmungsstörung
(Euphorie, Depression, Reizbarkeit) — Beschäftigungsdrang
(Tobsucht) — Steigerung der Erregbarkeit — Rededrang
— Psychomotorische Hemmung — Schrift.
Manische Zustände 374
Hypomanie — Tobsucht — Deliriöse Formen — Körperliche
Zeichen — Verlauf, Dauer — Ausgang.
Depressive Zustände 386
Einfache Hemmung — Stupor — Wahnbildungen — Körper-
liche Zeichen.
Mischzustände 394
Manie mit Denkhemmung — Manischer Stupor — Nörgelnde
Manie — Uebergangszustände — Ideenflüchtige Depression.
Ursachen 399
Praedisposition — Lebensalter, Geschlecht.
Umgrenzung 401
Einfache und periodische Formen (Manie, Melancholie)' — Circu-
lares Irresein.
Wesen der Krankheit 407
Verlauf der Krankheit 408
Beginn — Dauer der Anfälle — Wiederkehr — Färbung der
Anfälle — Zwischenzeiten — Uebergänge.
Prognose der Krankheit 416
Cyclothymie — Formen mit kurzen Zwischenzeiten.
Inhaltsverzeichnis.
IX
Seite
Erkennung der Krankheit 419
Behandlung • . . . . 422
X. Die Verrücktheit (Paranoia) 426
Begriffsbestimmung 426
Krankheitsbild . 430
Verfolgungswahn — Grössen wahn — Erotische Verrücktheit —
Sinnestäuschungen, Erinnerungsfälschungen — Handeln und
Benehmen.
Verlauf, Wesen (originäre Paranoia), Erkennung, Behandlung . . 442
Der Querulantenwahn 445
XI. Die allgemeinen Neurosen 455
A. Das epileptische Irresein 456
Krankheitsbilder 456
Epileptischer Schwachsinn — Periodische Verstimmungen —
Dämmerzustände (psychische Epilepsie), prae- und postepilep-
tisches Irresein, Nachtwandeln — Epileptischer Stupor —
Aengstliches Delirium — Besonnenes Delirium.
Ursachen 473
Alkoholepilepsie (pathologische Rauschzustände, Dipsomanie).
Wesen der Krankheit 479
Hirnveränderungen — Stoffwechselstörungen.
Prognose 482
Diagnose 483
Psychische Aequivalente, Delirium transitorium.
Behandlung 487
Vorbeugung — Ursächliche Behandlung — Bromsalze.
B. Das hysterische Irresein 492
Krankheitsbilder 492
Hysterische Persönlichkeit (Hypochondrische Störungen, Cha-
rakterveränderung) — Körperliche Begleiterscheinungen —
Dämmerzustände (Schlafanfälle, Nachtwandeln, Delirien) —
Verstimmungen, Aufregungszustände.
Wesen und Ursachen . • 508
Geschlechtsunterschiede — Hysterie der Kinder (Chorea magna)
Genitalleiden — Chemische, psychologische Theorien.
Verlauf, Prognose 512
Diagnose 514
Behandlung 516
Vorbeugung — Castration — Mastkur — Psychische Behandlung.
C. Die Schrecbneurose 520
X
Inhal tsverzeichniss.
Seite
XII. Die psychopathischen Zustände (Entartungsirresein) . . 521*
A. Die constitutionelle Verstimmwng 530
Depression (periodische Schwankungen) — Gereiztheit — Krank-
hafte Zornmüthigkeit
B. Das Zwangsirresein 538
Zwangsvorstellungen (Onomatomanie, Anthmomanie, Fragesucht,
Grübelsucht) — „Phobien“ (Platzangst, Höhenangst, Krankhafte
Befangenheit, Erythrophobie, Kleiderangst, Aberglaube) —
Hypochondrie — Zweifelsucht (Papierangst, Schmutzangst —
Berührungsfurcht (Waschmanie) — Krisen.
C. Das impulsive Irresein . . . , 557
Brandstiftungstrieb — Stehltrieb, Sammeltrieb — Mordtrieb —
Monomanien.
B, Die conträre Sexualempfindung 562
Krankheitsbild — Psychische Hermaphrodisie — Effeminatio,
Viraginität — Häufigkeit — Erkennung — Ursprung und
Wesen des Zustandes — Behandlung.
XHI. Die psychischen Entwicklungshemmungen 572
A. Die Imbeeillität 573
Stumpfe, anergetische Können — Lebhafte, erethische Formen
— Moralischer Schwachsinn (der „geborene“ Verbrecher).
B. Die Idiotie 587
Grade der Störung — Anergetische und erethische Formen —
Körperliche Zeichen (Epilepsie) — Ursachen (Alkohol, Schädel-
verletzungen, Schädelverbildungen) — Pathologische Anatomie
(Entwicklungshemmungen, Krankheitsvorgänge) — Erkennung
— Behandlung.
Register
602
Die Eiutlieilnng der Seelenstüruiigeii*).
Den Ausgangspunkt einer ärztlichen Erkenntniss der Geistes-
störungen bildet naturgemäss die Begriffsbestimmung und Um-
grenzung einzelner Krankheitsformen. Zu einer befriedigenden
Lösung dieser Aufgabe müssten uns einerseits die Veränderungen
im Ablaufe der physiologischen Vorgänge unserer Hirnrinde, anderer-
seits die mit ihnen zusammenhängenden psychischen Eunctions-
störungen genau bekannt sein. Nur dann offenbar wären wir im
Stande, aus den psychischen Erscheinungen auf die krankhaften
körperlichen Grundlagen derselben sowie weiterhin auf die Ur-
sachen des ganzen Krankheitsvorganges zurückzuschliessen und um-
gekehrt. Leider sind wir von einer derartigen tieferen Einsicht in
das Zustandekommen der Geisteskrankheiten heute nur allzuweit
noch entfernt. Wir können uns aber auch nicht verhehlen, dass
gerade die Annäherung an jenes uns zunächst vorschwebende Ziel
uns höchst wahrscheinlich immer eindringender die Unmöglichkeit
einer wirklich durchgreifenden Eintheilung der Seelenstörungen dar-
thun wird.
Ueberall, wo wir den Versuch wagen, Lebensvorgänge ohne
Best und ohne Zwischenstufen in ein Schema einzuordnen, machen
wir die Erfahrung, dass sich die anfangs scharf erscheinenden Grenzen
bei genauerer Erkenntniss des Gegenstandes immer mehr verwischen,
dass von jedem Beobachtungstypus zahllose, unmerklich abweichende
Glieder zu den benachbarten Typen hinüberführen. Der Un-
möglichkeit einer durchgreifenden Scheidung zwischen gesunden und
*) Kahlbaum, Die Gruppirung (1er psychischen Krankheiten. 1863; Volk-
mann’s klinische Vorträge, 126; Oebbecke, Vergleichende Uebersicht der Classi-
ficationen der Psychosen, Diss. 1886.
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Auil. II. Band.
1
2
Eiutheilung der Seelenstürungeu.
krankhaften Zuständen haben wir früher schon gedacht; ebenso
werden wir mit Bestimmtheit erwarten müssen, zwischen ein-
zelnen schulmässigen „Krankheitsformen“ alle möglichen Uebergänge
im Leben anzutreffen. Sehen wir doch auch in der inneren Medicin
selbst die eigenartigsten Krankheitsgruppen, die acuten Infections-
krankheiten, sich durch eine Menge von „nicht ausgesprochenen“,
„abortiven“ u. s. w. Fällen allmählich in anders benannte „Krankheit—
species“ hinein verlieren ! Eine besonders grosse Ausdehnung wird
das Gebiet der Zwischenformen bei den Geistesstörungen durch den
Umstand gewinnen müssen, dass die einzelnen Theile des Gehirns
nicht die gleichen Verrichtungen haben. Kicht nur die Art und
Stärke der krankhaften V eränderungen, sondern auch ihr besonderer
Sitz wird daher vermuthlich eine unübersehbare Folge feinerer Ab-
stufungen in der Gestaltung des psychischen Zustandes zu erzeugen
m Stande sein.
• Wenn wir somit von einer glatten Eintheilung der Seelen-
störungen, etwa im Sinue Linne’s, für alle Zeiten und von einer
Aufstellung wissenschaftlich fest begründeter Typen für jetzt noch
absehen müssen, so fordert doch das praktische Bedürfniss schon
heute wenigstens eine ungefähre Gruppirung des Erfahrungsrohstoffes,
die um so bleibenderen Werth besitzen wird, je weniger sie sich
durch vorgefasste Meinungen in der nüchternen Verarbeitung der
Thatsachen beeinflussen lässt.
Die sicherste Grundlage für eine derartige Eintheilung der
Irreseinsformen scheint, namentlich im Hinblicke auf die Erfahrungen
der inneren Medicin, zunächst die pathologische Anatomie zu
versprechen. Leider indessen liegt die Aussicht auf die Feststellung
verwerthbarer Leichenbefunde für die grosse Mehrzahl der Geistes-
störungen noch in weiter Ferne. Selbst dort aber, wo wir schon
heute gröbere Veränderungen im Gehirne nachzuweisen vermögen,
fohlt uus doch durchaus noch das genauere Verständniss für den
Zusammenhang der anatomischen Thatsachen mit den klinischen Er-
scheinungen, so dass wir es nur in einzelnen Ausnahmefällen (Miss-
oder Hemmungsbildungen, ausgedehnte Zerstörungen, hochgradige
Atrophie) wagen dürften, am Sectionstisclie einigermasseu zuver-
sichtliche Vermuthungen über den psychischen Zustand während des
Lebens auszusprechen. An der Unzulänglichkeit des Beobachtungs-
materials wie an der Schwierigkeit des Rückschlusses auf klinische
Auatomische, ursächliche, klinische Einteilungen.
3
Erscheinungen sind daher auch die bisherigen Versuche einer patho-
logisch-anatomischen Einteilung der Geistesstörungen sämmtlich ge-
scheitert.
Kaum weniger schwerwiegende Einwände lassen sich gegen den
Versuch einer Einteilung der Psychosen nach den Ursachen
Vorbringen, die noch in neuester Zeit mit Nachdruck als die allein
werthvolle hingestellt worden ist. Allerdings kennen wir schon heute
einige Ursachen, deren Einfluss sich in ganz bestimmten klinischen
Merkmalen geltend macht und somit umgekehrt aus diesen er-
schlossen werden kann. Dahin gehören namentlich die verschiedenen
Formen von Vergiftung und einzelne körperliche Erkrankungen,
Kopfverletzungen, ferner wahrscheinlich die Erschöpfung, vielleicht
manche heftige Gern iithserschiitter ungen und endlich die schwereren
Formen der erblichen Entartung, deren Wesen und Wirkungsweise
unserem Verständnisse freilich noch sehr fern liegt. Dem gegen-
über sind die Ursachen des Irreseins in der erdrückenden Mehrzahl
der Fälle für uns vollständig dunkel, wie jede ehrliche Würdigung
der täglichen Erfahrung ohne weiteres wird eingestehen müssen.
Das liegt nicht allein an äusseren Zufälligkeiten, au der Schwierig-
keit, gute Anamnesen zu erhalten, sondern ist wol in der Natur der
Geistesstörungen selbst begründet. Am häufigsten haben wir es hier
mit solchen Erkrankungen zu thun, deren wesentliche Ursachen in
der Veranlagung oder in völlig unbekannten inneren Zuständen des
Organismus gelegen sind. Ausserdem aber spielt die Eigenart des
Einzelnen auch für sein Verhalten gegen äussere Schädlichkeiten
in diesem Gebiete vielfach eine entscheidende Bolle. Gerade die
Erforschung und Zergliederung geistiger und körperlicher Persönlich-
keiten ist indessen leider bisher nicht über die allerersten Anfänge
hinausgekommen. Endlich wird zu berücksichtigen sein, dass die
Ursachen der Geistesstörungen anscheinend vielfach in Verbindung
mit einander wirken, so dass sich auch aus diesem Grunde der innere
Zusammenhang der gegebenen Erscheinungen fast niemals mit jener
Klarheit durchschauen lässt wie etwa bei dem Entstehen einer In-
fectionskrankheit.
Bei weitem am häufigsten ist der Weg einer Eintheilung der
Geistesstörungen nach ihren klinischen Zeichen eingeschlagen
worden, weil die Erscheinungen des Irreseins dem Beobachter am
unmittelbarsten in die Augen fallen. Auch dieses Verfahren stösst
l*
4
Eintheilung der Seelenstörungen.
sehr bald auf Schwierigkeiten, sobald es gilt, das Wesentliche vom
Zufälligen und Nebensächlichen zu unterscheiden. Es führt mit einer
gewissen Nothwendigkeit zur Ueberschätzung des einzelnen Merk-
mals, zu der Neigung, alle Krankheitsfälle zu einer Form zusammen-
zufassen, denen eine bestimmte auffallendere Störung gemeinsam ist
Die Geschichte der Psychiatrie bis auf die Gegenwart herab ist voll
von derartigen Verirrungen. Heute freilich sollte allein das Bei-
spiel der Dementia paralytica lehren, dass es einzelne untrügliche
Kennzeichen auf dem Gebiete des Irreseins schlechterdings nicht
giebt, sondern dass nur das Gesammtbild eines Krankheits-
falles in seiner Entwicklung vom Anfang bis zum Ende die
Berechtigung zur Vereinigung mit anderen gleichartigen Beobach-
tungen gewähren kann. Dieselben Einzelerscheinungen können sich,
wie die Erfahrung zeigt, unter gewissen Umständen in sonst völlig
auseinandergehenden Fällen einstellen, wie etwa Fieber, Husten,
Brustschmerzen u. s. f. bei den verschiedenartigsten Lungenerkran-
kungen. Dazu kommt, dass uns bei der Unvollkommenheit unserer
Forschungsmittel die vielleicht durchaus verschiedene Ehtstehungs-
weise und Bedeutung für wesensgleich gehaltener Erscheinungen
gänzlich verborgen bleiben kann. Man denke mir an die Verwirrung,
welche etwa ein Zusammenwerfen aller körperlichen Erkrankungen
mit Albuminurie zur Folge haben würde!
Besässen wir auf einem der drei Gebiete, der pathologischen
Anatomie, der Aetiologie oder der Symptomatologie des Irreseins
eine durchaus erschöpfende Kenntniss aller Einzelheiten, so würde
sich nicht nur von jedem derselben her eine einheitliche und durch-
greifende Eintheilung der Psychosen auffinden lassen, sondern jede
dieser drei Gruppirungen würde auch — diese Forderung ist
der Grundpfeiler unserer wissenschaftlichen Forschung überhaupt
— mit den beiden anderen wesentlich zusammenfallen.
Die aus den gleichen Ursachen hervorgegangenen Krankheitsfälle
würden stets auch dieselben Erscheinungen und denselben Leichen-
befund darbieten müssen. Aus dieser Grundanschauung ergiebt
sich, dass die klinische Gruppirung der psychischen Störungen sich
auf alle drei Hiilfsmittel der Eintheilung, denen man noch die aus
dem Verlaufe, dem Ausgange, ja der Behandlung gewonnenen Er-
fahrungen hinzufügen muss, gleichzeitig zu stützen haben wird.
Je mehr sich dabei die aus der verschiedenartigen Betrachtung ge-
Praktische Gesichtspunkte.
5
wonnenen Formen mit einander decken, desto grösser ist die Sicher-
heit, dass diese letzteren wirklich eigenartige Krankheitszustände
darstellen.
Gerade dieses Verfahren ist auf der heutigen Entwicklungs-
stufe unserer Wissenschaft das einzige, welches auch die an uns
herantretenden praktischen Forderungen einigermassen zu be-
friedigen vermag. Die erste Aufgabe des Arztes am Krankenbette
ist es, sich ein Urtheil über den voraussichtlichen weiteren Ver-
lauf des Krankheitsfalles zu bilden. Diese Frage wird unter allen
Umständen zunächst an ihn gerichtet. Der Werth jeder Diagnose für
die praktische Thätigkeit des Irrenarztes bemisst sich daher ganz
wesentlich danach, wie weit sie sichere Ausblicke in die
Zukunft eröffnet. Gleiche Krankheitsursachen werden im all-
gemeinen auch einen gleichen Verlauf des Leidens bedingen, und
aus den klinischen Zeichen müssen wir im Stande sein, die weiteren
Schicksale unseres Kranken in grossen Zügen herauszulesen. Zur
Erreichung dieses Zieles ist es nöthig, alle Handhaben zu ergreifen,
welche die Beobachtung uns irgend zu bieten vermag: das ist
der Grundsatz, der uns überall leiten sollte, wo wir es mit der
Abgrenzung und Begriffsbestimmung einzelner Krankheitsformen zu
thun haben.
Wenn wir in diesem Sinne auch heute schon thatsächlich eine
ganze Reihe von Psychosen kennen, die mindestens ebensogut ge-
kennzeichnet sind wie die Mehrzahl der körperlichen Krankheiten“,
so setzen doch grosse Gebiete des Irreseins den Eintheilungs-
bestrebungen derartige Schwierigkeiten entgegen, dass man nicht
selten eine befriedigende Gruppirung der Seelenstörungen als eine
vielleicht überhaupt unlösbare Aufgabe betrachtet hat. Ich kann
diese Anschauung nur insoweit theilen, als sie die oben erwähnten
grundsätzlichen Hindernisse einer Einzwängung von Lebens-
vorgängen in scharf abgegrenzte Formen im Auge hat. Dagegen
scheint mir der soeben angedeutete Weg durchaus gangbar. Jedem
Irrenarzte ist es bekannt, dass uns bisweilen Fälle begegnen, welche
in jeder Beziehung, nach Entstehungsart, allen Einzelheiten der
Krankheitserscheinungen und weiterem Verlaufe eine geradezu ver-
blüffende Uebereinstimmung mit einander darbieten. Derartige Be-
obachtungen werden den natürlichen Ausgangspunkt unserer Ein-
theilungsbestrebungen zu bilden haben. Durch strenge Ausscheidung
6
Eintheilung der Seelenßtörungen.
aller nicht ganz dem ersten Typus entsprechenden Fälle werden
wir zunächst zur Aufstellung zahlreicher kleinerer, wenig von
einander abweichender Gruppen geführt, deren nähere und fernere
Verwandtschaft sich beim Ueberblick über grosse Beobachtungs-
reihen unschwer wird erkennen lassen. Die gewissenhafte Zer-
splitterung der Formen in ihre kleinsten und anscheinend unbe-
deutendsten Abänderungen, wie wir sie etwa heute in der Lehre
von der Muskelatrophie wiederfinden, ist somit die unerlässliche A'or-
stufe für die Gewinnung wirklich einheitlicher, der Natur entsprechen-
der Krankheitsbilder.
Bis zur Erreichung dieses Zieles bedarf es noch lange fort-
gesetzter, sorgfältiger Einzelbeobachtung. Niemand wird daher die
lediglich vorläufige Bedeutung aller heute möglichen Aufstellungen
verkennen wollen, aber man darf dennoch hoffen, dass die weitere
Entwicklung der klinischen, alle Eigentümlichkeiten unseres
Gegenstandes gleichmässig verwertenden Betrachtungsweise uns in
nicht allzu langer Zeit zu einer Gruppirung der Psychosen führen
wird, welche sich den entsprechenden Leistungen im Bereiche der
übrigen Medicin völlig gleichberechtigt an die Seite zu stellen vermag.
Die von mir im folgenden durchgeführte Eintheilung beginnt
mit denjenigen Formen des Irreseins, die durch äussere Ursachen
hervorgerufen werden. Dahin gehören die Geistesstörungen nach
infectiösen Erkrankungen, die Erschöpfungspsychosen, in-
sofern sie ebenfalls in der Regel durch schwere körperliche
Schädigungen erzeugt werden, endlich die 'Vergiftungen. An die
Vergiftungen durch von aussen eindringende Stoffe schliessen sich
die Selbstvergiftungen durch Stoffwechselerzeugnisse an, von
denen wir allerdings auf unserem Gebiete etwas genauer heute nur
die Folgezustände der Schilddrüsenerkrankungen kennen. Es
liegen indessen, wie ich glaube, eine Reihe von Anhaltspunkten für
die Annahme vor, dass auch noch andere Formen des Irreseins, ins-
besondere die Dementia praecox und die Paralyse, auf Selbst-
vergiftungen beruhen, deren Wesen und Entstehung dort freilich
noch gänzlich unbekannt ist, während wir hier als letzte Ursache
in der Regel eine syphilitische Ansteckung zu verzeichnen haben.
Als weitere kleine Untergruppe wurde das Irresein bei
Hirn erkrankungen zusammengefasst. Hier ist meist von äusseren
Ursachen nicht mehr die Rede, wenn wir von den Geistesstörungen
Eigene Einteilung.
7
nach Kopfverletzungen absehen. Höchstens können wir bei manchen
Geschwülsten, bei den Embolien, bei syphilitischen Veränderungen
die Himerkrankung auf allgemeinere oder an anderen Punkten des
Körpers gelegene Leiden zurückführen. Dagegen bestellen gewisse
klinische Beziehungen zu den schweren Vergiftungen und zur Para-
lyse, insofern wir es in allen diesen Fällen mit ausgebreiteten Zer-
störungen des Hirngewebes zu thun haben, die nicht nur in psychi-
schen, sondern auch in körperlichen Krankheitszeichen sich be-
merkbar machen. Aehnliches gilt für die Geistesstörungen der
höheren Lebensalter. Allerdings finden wir hier gröbere Erkrank-
ungen des Hirns in Gestalt von Altersveränderungen nur bei den
eigentlich senilen Formen. Wir sehen indessen das Irresein der
Rückbildungsjahre so unmerklich in den eigentlichen Altersblödsinn
übergehen, dass es unmöglich erscheint, beide Gruppen grundsätzlicli
von einander zu trennen. Vielmehr dürfen wir vielleicht annehmen,
dass schon in der Rückbildungszeit sich die ersten Andeutungen
jener Störungen kundgeben, die späterhin zu schwerem geistigen
Siechthume führen können.
Die Gruppe der Rückbildungspsychosen leitet uns hinüber zu
denjenigen Formen des Irreseins, bei deren Entstehung mehr und
mehr die krankhafte Veranlagung in den Vordergrund tritt.
Zweifellos spielt schon dort ausser den aufreibenden Einflüssen der
Lebensarbeit auch die ursprüngliche Widerstandsfähigkeit eine
wichtige Rolle. In noch höherem Grade aber scheint das bei
jener allmählichen krankhaften Umwandlung der gesammten psychi-
schen Persönlichkeit der Fall zu sein, die wir als Verrücktheit
bezeichnen. Dasselbe gilt ohne jeden Zweifel vom manisch-depres-
siven Irresein. Der einzelne Anfall des Leidens kann dabei aller-
dings recht wrol durch äussere Schädigungen ausgelöst werden. Da-
gegen zeigt uns die häufige Entstehung ohne Anlass und namentlich
die Uebereinstimmung der klinischen Krankheitsbilder unter den
verschiedensten Bedingungen, dass die eigentliche Ursache nicht in
äusseren Anstössen, sondern in der besonderen krankhaften Ver-
anlagung des Einzelnen gelegen ist.
Ist hier die grundlegende krankhafte Eigentümlichkeit während
der Zwischenzeiten zwischen den Anfällen meist gar nicht erkenn-
bar, so macht sie sich in der Regel dauernd recht deutlich bemerk-
bar bei der nun folgenden Gruppe von Erkrankungen, die unter
8
Eintheilung der Seelenstörungen.
dem gebräuchlichen Namen der allgemeinen Neurosen zusammen-
gefasst werden sollen. Hier können mit oder ohne besonderen An-
stoss mannigfaltige, aber klinisch gut gekennzeichnete Psychosen zu
Stande kommen, meist von kürzerer Dauer, nach deren Ablauf der
krankhafte Grundzustand unverändert wieder hervortritt. Was diese
Gruppe vor anderen auszeichnet, ist die Häufigkeit der verschieden-
artigsten functioneilen nervösen Störungen.
Den allgemeinen Neurosen nahe verwandt sind die einfachen
psychopathischen Zustände, die mit geringen Schwankungen das
ganze Leben hindurch wesentlich unverändert andauern. Wir haben
es hier mit krankhaft gearteten Persönlichkeiten zu thun, welche
nach irgend einer Richtung hin aus dem Rahmen des gesunden
Seelenlebens heraustreten. Vorübergehende stärkere Störungen ihres
psychischen Gleichgewichtes, Erregungen, Verstimmungen, kommen
auch hier nicht selten zur Beobachtung, aber es handelt sich dabei
nicht um abgegrenzte Krankheitsbilder, wie bei den allgemeinen
Neurosen, sondern einfach um Verschlimmerungen des mehr oder
weniger deutlich fortbestehenden eigenthümlichen Zustandes.
Den Schluss der langen Reihe bilden diejenigen Zustände,
welche wesentlich seelische Entwicklungshemmungen bedeuten.
Das klinische Bild entspricht hier noch weniger, als in der vorigen
Gruppe, einer eigentlichen Krankheit, sondern nur einer unvoll-
kommenen Ausbildung der psychischen Persönlichkeit. Bisweilen
liegen diesen Defectzuständen geradezu körperliche Entwicklungs-
hemmungen zu Grunde. Häufiger aber sind, wie es scheint. Krank-
heitsvorgänge im unentwickelten Gehirne, die durch theilweise Ver-
nichtung desselben die psychische Ausbildung unmöglich machen.
Streng genommen sollte man die Eälle letzterer Art den Hirnkrank-
heiten zurechnen. Allein wir sind auf der einen Seite heute noch
nicht im Stande, hier im Leben überall sicher zwischen Entwicklungs-
hemmung und Hirnerkrankung zu unterscheiden; andererseits aber
wird das klinische Bild in so hohem Grade durch das gemeinsame
Merkmal der angeborenen psychischen Unfähigkeit beherrscht, dass
sich einstweilen wenigstens die Trennung jener beiden ursächlich
auseinandenveichenden Gruppen nicht empfiehlt. Ja, wir werden
sogar noch einen Schritt weiter gehen und diesen Defectzuständen
auch diejenigen Schwachsinnsformen zurechnen, welche in den ersten
Lebensjahren durch schwere Hirnerkrankungen erzeugt werden. Auch
Eigene Einteilung.
9
bei ihnen wird die Entwicklung einer psychischen Persönlichkeit in
der ersten Anlage vernichtet.
Am Schlüsse dieser Ausführungen darf ich nicht unterlassen,
nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass so manche der im folgenden
abgegrenzten Krankheitsbilder nur Versuche sind, einen gewissen
Theil des Beobachtungsmaterials wenigstens vorläufig in der Form
des klinischen Lehrstoffes darzustellen. Ueber ihre wahre Bedeutung
und über ihr gegenseitiges Verhältniss wird erst die dringend not-
wendige monographische Durcharbeitung des ganzen Gebietes allmäh-
lich Klarheit bringen. Es ist ferner unbestreitbar, dass es uns heute
trotz redlichsten Bemühens noch in einer recht erheblichen Zahl von
Fällen schlechterdings nicht gelingt, sie in den Kähmen einer der
bekannten Formen des „Systems“ einzuordnen. Ja, nach manchen
Richtungen hat die Anzahl derartiger Beobachtungen sogar zuge-
nommen, und an die Stelle zuversichtlichen Wissens ist vielfach Un-
sicherheit und Zweifel getreten. Für den Schüler hat diese That-
sache gewiss etwas Beunruhigendes — dem Forscher bedeutet sie
nichts, als den Bruch mit der herkömmlichen Verschwommenheit
unserer Diagnosen zu Gunsten einer schärferen Begriffsbestimmung
und eines tieferdringenden Verständnisses der klinischen Erfahrungen.
Lehrbücher der Psychiatrie.
W. Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten.
4. Aufl. 1876. Eine 5. Auflage ist 1892 von Levinstein-Sehlegel
herausgegeben worden.
H. Schtile, Klinische Psychiatrie (v. Ziemssen’s Handbuch der Pathologie und
Therapie, XVI). 3. Auflage. 1886.
E. v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie. 6. Auflage. 1897.
J. Salgö (Weiss), Compendium der Psychiatrie. 2. Auflage. 1889.
R. Arndt, Lehrbuch der Psychiatrie. 1888.
H. Neumann, Leidfaden der Psychiatrie für Mediriner und Juristen. 1883.
Th. Meynert, Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns. Erste
Hälfte. 1884.
J. L. A. Koch, Kurzgefasster Leitfaden der Psychiatrie. 2. Auflage. 1889.
Th. Meynert, Klinische Vorlesungen über Psychiatrie. 1890.
Th. Kirchhoff, Lehrbuch der Psychiatrie. 1892.
Fr. Scholz, Lehrbuch der Irrenheilkunde. 1892.
10
0. Dornblüth, Compendiutn der Psychiatrie. 1894.
Th. Ziehen, Psychiatrie. 1894.
C. Wernicke, Grundriss der Psychiatrie, Theil I. 1894; II. 1896.
Aus der neueren französischen Literatur wären hier zu erwähnen die grösseren
Werke von Dagonet (1876, Neue Bearbeitung 1894), Luys (1881), Ball (2. AufL,
1890), dann die kleineren von Bra (1883), Cullerre (1889), Regis (2. Auflage, 1892)^
Max Simon (1891), Sollier (1893). Dazu kommen die gesammelten Abhandlungen
von A. Voisin (1883), Baillarger (1890), Cotard (1890), Falret (1890), Magnan
(1893), Seglas (1895), endlich der Abschnitt über Geisteskrankheiten von Ballet
aus dem grossen Handbuche der Medicin von Bouchard (1895). In England sind
Lehrbücher erschienen von Clouston (4. Auflage, 1896), Savage (1894, deutsch
von Knecht, 1887), Lewis (1890), Blandford (4. Auflage, 1894), Shaw (1892),
Campbell Clarke (1897), Kellogg (1897), sowie das grosse Sammelwerk von
Hack Tuke (1892), in America die Werke von Spitzka (1887) und Hammond
(1883), in Italien das kurze Lehrbuch von Agostini (1897) und die Bearbeitung
des Ballet’schen Werkes mit Blocq’s Darstellung der progressiven Paralyse
von Morselli, weiterhin in Dänemark die Vorlesungen von Pontoppidan (1892
und 1893), endlich in Russland das Buch von Kowalewski (1887) und dasjenige
von Korssakow (1893).
I. Das infectiöse Irresein.
Wir beginnen unsere Darstellung der klinischen Krankheits-
formen mit denjenigen Geistesstörungen, die durch Infectionsgifte
erzeugt werden. Gemeinsam ist ihnen die Verbindung mit den
körperlichen Allgemeinerscheinungen, welche das Eindringen und
Wuchern der verschiedenen Krankheitserzeuger begleiten. Ob die
Rindenveränderungen, die sich hier abspielen, überall auf dieselbe
Weise, durch unmittelbare Giftwirkung bestimmter Toxine, zu Stande
kommen, erscheint noch zweifelhaft; für gewisse Formen liegt die
Annahme nahe, dass wir es mit gütigen Zerfallsstoffen zu thun haben,
die erst mittelbar aus den Störungen des Körperhaushaltes hervor-
gehen. Höchst wahrscheinlich aber haben wir jedem Krankheitsgifte
eigenartige Wirkungen zuzuschreiben, auch wenn wir heute die ein-
zelnen Formen klinisch und anatomisch noch nicht klar auseinander
zu halten vermögen. Ansätze zu einer derartigen Scheidung sind
immerhin schon vorhanden; auch giebt es Infectionskrankheiten,
wie z. B. den Tetanus, die trotz der schwersten nervösen Störungen
das Seelenleben fast unberührt lassen. Die bei anderen Giften
immer deutlicher hervortretende Verschiedenheit in Art und Richtung
der Beeinflussung, zu der unsere electiven Färbe verfahren ein Seiten-
stück liefern, dürfte sich demnach auch für die durch Infectionen
erzeugten Gifte allmählich nachweisen lassen. Vor der Haud frei-
lich werden wir uns hier darauf beschränken müssen, einzelne,
klinisch schon etwas besser gekannte Krankheitsgruppen in groben
Umrissen zu zeichnen. Es sei uns gestattet, dabei die gewöhnlichen
Fieberdelirien, die eigenartigen Infectionsdelirien und die
infectiösen Schwächezustände auseinander zu halten, wie wir
sie als länger dauernde Nachkrankheiten schwerer Infectionen be-
obachten.
12
T. Das infectiöse Irresein.
A. Die Fieberdelirien.
Den Fieberdelirien hat man wegen ihrer kurzen Dauer und
ihrer nur ,, symptomatischen“ Bedeutung häufig die Zugehörigkeit zu
den Geisteskrankheiten überhaupt streitig gemacht: eine fortschreitende
Erfahrung hat uns indessen noch weit kürzer dauernde Psychosen
kennen gelehrt und uns zu einer wesentlich symptomatischen Auf-
fassung jeglichen Irreseins geführt. Das Krankheitsbild, welches die
Fieberdelirien darbieten, ist kein gleichförmiges; vielmehr können
wir mit Liebermeister*) mehrere Grade der Störung unter-
scheiden, welche augenscheinlich der Ausbildung des krankhaften
Vorganges im Gehirn entsprechen und uns von den Erscheinungen
der Beizung allmählich in diejenigen der Lähmung und völligen
Vernichtung des Seelenlebens hinüberführen.
Der erste Grad des Fieberdeliriums kennzeichnet sich durch
allgemeines Unbehagen, Eingenommenheit des Kopfes, Empfindlich-
keit gegen stärkere Sinneseindrücke, Reizbarkeit, Unlust zu geistiger
Arbeit, leichte Unruhe und Störung des Schlafes mit lebhaften,
ängstlichen Träumen. Im zweiten Grade greift die Bewusstseins-
störung tiefer; die Wahrnehmung wird durch illusionäre und
hallucinatorische, rasch sich mehrende Sinnestäuschungen verfälscht.
Die Vorstellungen gewinnen eine grosse Lebendigkeit: der Verlauf
derselbeu entzieht sich in buntem, traumartigem Zusammenhänge
dem bewussten Einflüsse der Kranken. Sie glauben sich von fabel-
haften Gestalten bedroht und ringen in verzweifeltem Kampfe mit
vermeintlichen Gegnern ; sie sehen aus den Mustern der Tapete sich
grinsende Fratzen oder Engelsköpfe bilden , die sich loslösen und
im Zimmer herumfliegen; sie fühlen, wie ihnen der Kopf abgenommen
wird, wie Jemand an ihrer Bettdecke zupft. Federleicht, schwebend
werden sie über bunte, fabelhafte Gegenden, durch prächtig ge-
schmückte Räume getragen: Glockenläuten ertönt und wirres
Schreien, ein feindliches Verdammungsurtheil oder liebliche Musik.
In alle diese zusammenhangslosen Einbildungen hinein mischen sich
dann einzelne wirkliche Wahrnehmungen, die auch wol für Augen-
blicke den Kranken zur Besonnenheit zurückrufen; alsbald aber
*) Liebermeister, Deutsches Archiv für Min. Medicin I, 548.
Fieberdelirien.
18
versinkt er wieder in die Fluth der massenhaft hereindringenden
Täuschungen. Zugleich wächst die Unruhe; lebhafte heitere oder
traurige Stimmungen tauchen auf und entwickeln sich zu Gemüts-
bewegungen, bis dann auf der Höhe des dritten Grades das Krank-
heitsbild einer starken Bewusstseinstrübung mit völliger Unbesinn-
lichkeit, verworrener Ideenjagd, heftigen, oft wechselnden Gefühls-
ausbrüchen und mächtigem, selbst rasendem Bewegungsdrange zur
Ausbildung gelangt ist. Allerdings gesellen sich nun schon häufig
einzelne Lähmungszeichen diesen psychischen Reizungserscheinungen
hinzu (vorübergehende Schlafsucht, Schwäche und Unsicherheit der
Bewegungen) und deuten bereits den Uebergang in den völligen
Verfall des psychischen Lebens an. Im vierten Grade schwächt
sich die Erregung zum Flockenlesen und unsicheren Herumtasten
ab. Der Kranke murmelt einzelne zusammenhangslose AVorte oder
Sätze vor sich hin (blande, mussitirende Delirien) und versinkt
schliesslich in einen Zustand dauernder Betäubung (Koma, Lethargie),
aus dem er gar nicht oder doch nur durch sehr kräftige Reize vor-
übergehend erweckt werden kann (Koma vigil).
Die besondere Art der fieberhaften Erkrankung scheint die Ge-
staltung der Delirien im ganzen wenig zu beeinflussen. Nur die
Schnelligkeit, mit welcher sich das Fieber entwickelt, die Stärke
und Dauer desselben sowie der Zustand der lebenswichtigen Organe
ist massgebend. Immerhin dürften bei Variola, Scharlach, Erysipel,
bisweilen auch beim Gelenkrheumatismus, rasch ausbrechende ver-
wirrte Aufregungszustände überwiegen, während in der Pneumonie
und im Typhus mehr die deliriöse Benommenheit und leichte Be-
täubung beobachtet werden. Eine eigenartige Gruppe der Fieber-
delirien bilden die bisweilen beim Gelenkrheumatismus, seltener
auch bei Scharlach und einigen anderen Erkrankungen beobachteten
Fälle mit plötzlicher Entwicklung hyperpyretischer Temperaturen
( — 44°). Hier pflegen nach leichten Vorboten, Unruhe, Sprechen im
Schlafe, Geschwätzigkeit oder Stumpfheit, rasch ausserordentlich heftige
deliriöse Erregungszustände einzutreten, die bis zum Tode andauern
oder allmählich in schwere Benommenheit übergehen.
Als die krankhafte Grundlage der Fieberdelirien können
einmal das Fieber selbst (Temperatursteigerung, Beschleunigung des
Stoffwechsels, Auftreten besonderer Zerfallsstoffe), sodann Kreislaufs-
störungen (Wallungen, später Stauungen, namentlich bei Beein-
14
I. Das infectiöse Irresein.
trächtigung der Herzthätigkeit), Organerkrankungen und endlich die
Wirkung infectiöser Krankheitsgifte angesehen werden. Möglicher-
weise sind sogar diese letzteren die eigentlich massgebenden Ur-
sachen, so dass wir die Fieberdelirien vielleicht nur als eine be-
sondere Form der Infectionsdelirien anzusehen haben. Nicht selten
kommt jedoch auch dem Alkoholismus eine wesentliche ursächliche
Bedeutung zu, vor allem bei der Pneumonie. Im übrigen spielt die
Veranlagung bei der eingreifenden Natur der Krankheitsursachen
eine verhältnissmässig geringe Bolle, doch ist es eine sehr bekannte
Erfahrung, dass jüngere Lebensalter, Frauen und nervöse Menschen
schon bei niedrigeren Fiebergraden leichter zu Delirien geneigt sind.
Die Prognose dieser Störungen wird durch den Umstand ge-
trübt, dass sie vorzugsweise schwerere Erkrankungsfälle zu begleiten
pflegen; nach meiner Statistik starben 35,6% der Kranken, doch
haben dabei nur sehr ausgeprägte Formen der Delirien Verwerthung
gefunden. Von den hyperpyretischen Fällen scheinen nur etwa %
mit dem Leben davonzukommen. In der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle (70,6%) übersteigt die Dauer des Irreseins eine Woche nicht:
fast regelmässig schwindet die Störung mit dem Abfalle des Fiebers.
Nicht allzu selten indessen bestehen wenigstens einzelne auf der
Höhe der Erkrankung entstandene Einbildungen noch einige Zeit
lang fort. Der im Delirium gesammelte Reichthum, die prächtigen
Kutschen, über welche der Kranke verfügte, das über ihn gesprochene
Todesurtheil, die Unthat, die er begangen hat, beglücken und quälen
ihn noch so lange, bis allmählich die getrübte Besonnenheit sich
vollständig wieder klärt. In einzelnen Fällen gehen die Fieber-
delirien unmittelbar in die später zu schildernden infectiöseu
Schwächezustände über, oder es entwickeln sich nach dem Abfalle
des Fiebers jene Krankheitsbilder, die wir als Erschöpfungspsychoseu
zu betrachten pflegen. Endlich kann natürlich die fieberhafte Krank-
heit unter Umständen auch solche Formen des Irreseins auslösen,
die eigentlich eine ganz andere Entstehungsweise haben. Nament-
lich die einzelnen Anfälle des manisch-depressiven Irreseins kommen
hier in Betracht, ferner bisweilen die Paralyse und die Dementia
praecox; so sah ich z. B. eine Katatonie sich an eine Lungen-
entzündung anschliesscn. Natürlich ist in solchen Fällen das Fieber
nicht die Ursache, sondern nur der äussere Anstoss zum Ausbruche
der anderweitig vorbereiteten Geistesstörung.
Infectiousdelirieu.
15
Die Behandlung der Fieberdelirien ist im allgemeinen die-
jenige des Grundleidens. Ausserdem kann man sich des Eisbeutels
auf den Kopf zur Bekämpfung der Hirnhyperaomie bedienen. Einen
sehr entschiedenen Einfluss auf die Milderung der Fieberdelirien
üben ferner die Anwendung kühler Bäder sowie kalte Einwickelungen
und Abreibungen aus, die man bei gleichzeitiger Herzschwäche
zweckmässig mit der Darreichung von starkem Kaffee verbindet.
Wenig oder gar nichts leisten die eigentlichen Fiebermittel, die ja
zum Theil selbst Delirien zu erzeugen im Stande sind. Ausser den
durch die körperliche Erkrankung selbst erforderten Massnahmen ist
auf sorgfältige Ueberwachung deliriöser Kranker Bedacht zu
nehmen, da dieselben unter allen Umständen sich und Andern ge-
fährlich werden (Gewaltthaten begehen, entfliehen, aus dem Fenster
springen) können. Heftige Aufregungszustände pflegen in Kranken-
häusern mit der Zwangsjacke behandelt zu werden; in der Irren-
anstalt gelingt es unter dem Beistände eines ruhigen und gewandten
Personals regelmässig, ohne jenes bedenkliche Hülfsmittol mit der
einfachen Bettbehandlung oder Dauerbädern, im äussersten Nothfalle
mit Polsterbett oder Polsterzimmer durchzukommen. Die Anwendung
von Schlafmitteln oder Narkoticis dürfte sich meist eher schädlich,
als nützlich erweisen. Nach dem Fieberabfalle ist planmässige
Wiederherstellung des gesunkenen Kräftezustandes die wesentliche
Aufgabe der Behandlung.
B. Die Infectiousdelirieu.
Wenn wir schon bei der Entstehung der Fieberdelirien an die
Mitwirkung infectiöser Gifte denken müssen, so begegnen uns bei
einer Reihe von Infectionskrankheiten weiterhin geistige Störungen,
die mit Sicherheit auf eigenartige Vergiftungen zurückgeführt werden
dürfen.
Dahin gehören namentlich die Delirien der Lyssa, dann die
im ersten Beginne der Erkrankung auftretenden „Initialdelirien“ des
Typhus und der Variola, ferner jene Formen der Intermittens
larvata*), bei denen an Stelle der typischen Fieberanfälle Delirien
') v. Ivrafft-Ebing, Psychiatrische Arbeiten, I, 161.
1(3
I. Das infectiöse Irresein.
treten, bisweilen ganz ohne Fieber. Am besten bekannt sind die
Initialdelirien beim Typhus. Aschaffen bürg*) unterscheidet
zwei Formen. Bei der ersten handelt es sich um ruhige Delirien
mit ausgeprägten Wahnbildungen und Sinnestäuschungen. Die
Kranken glauben sich vergiftet, in mannigfacher Weise verfolgt,
sind verdammt, verworfen, haben eine schadhafte Luftröhre; sie
hören ihre fernen Angehörigen reden, sehen drohende Gestalten,
Feuer u. dergl. Bisweilen erzählen sie ausführlich eingebildete,
abenteuerliche Erlebnisse. Dabei besteht lebhafte ängstliche oder
traurige Verstimmung. Die zweite Form, die sich auch aus der
ersten entwickeln kann, trägt die Züge der manischen Erregung,
die im Beginne bisweilen eine ganz gelinde ist, wie ich auch bei
einem Falle von Flecktyphus beobachtete. Doch steigert sich die
Störung rasch zu völliger deliriöser Verwirrtheit mit Ideenflucbt,
Sinnestäuschungen, zusammenhangslosen Wahnvorstellungen, heftigster
Angst und sinnlosem Bewegungsdrang. Diesen letzteren Zuständen
pflegen die Initialdelirien der Variola und das Irresein bei larvirter
Intermittens zu gleichen. Dagegen erinnern die Delirien bei schwerer
Sepsis mit ihrer Unbesinnlichkeit und ihrem mussitirenden Charakter
häufig mehr an gewisse Fieberdelirien, auch wenn die Temperatur
nahezu oder ganz normal ist. Ob wir es hier mit Giftwirkungen
oder einfach mit den Folgezuständen der Herzschwäche zu thun
haben, mag dahingestellt bleiben ; vielleicht ist nicht die Art, sondern
der Grad der Störung die Ursache, dass hier die Lähmungserschei-
nungen gegenüber den Reizsymptomen in den Vordergrund treten.
Endlich giebt es im Verlaufe der Blatternerkrankung zwischen
dem Eruptions- und dem Eiterungsfieber eigenthümliche Geistes-
störungen, bei denen ebenfalls an eine Entstehungsweise durch Ver-
giftung gedacht werden muss. Es handelt sich um das plötzliche
Auftreten sehr deutlicher Gehörs- und Gesichtstäuschungen bei
Kranken, die nicht verwirrt, sondern völlig besonnen und nur durch
die Trugwahrnehmungen beunruhigt sind. Die Kranken sehen Per-
sonen in das Zimmer treten, Tauben und Blumen in der Luft herum -
fliegen, hören Musik, Beschuldigungen, Drohungen, sollen Rechen-
schaft ablegen, haben gestohlen, werden von der Polizei gesucht.
Diese Zustände erinnern so sehr an die erste Form der Iuitial-
*) Aschaffenburg, AU gern. Zeitschr. f. Psychiatrie, III.
Infectionsdelirien.
17
delirien und an gewisse Fälle von Alkohol- und Cocainwahnsinn,
dass ich im Gegensätze zu einer früher von mir geäussorten An-
schauung geneigt bin, sie auf eine Vergiftung zurückzuführen,
welche durch die Variola erzeugt wird. Emminghaus hat die von
ihm im Harn Pockenkranker gefundenen Fettsäuren mit jenen eigen-
tümlichen, rasch günstig verlaufenden Zuständen in ursächliche Be-
ziehung gebracht.
Zu den psychischen Störungen gesellen sich die körperlichen
Anzeichen der einzelnen Erkrankungen, die Reflexkrämpfe der Lyssa,
die Hinfälligkeit und die Kopfschmerzen des Typhus, das Prodro-
malexanthem der Variola, die Milzschwellung der Iutermittens, end-
lich leicht erhöhte, bisweilen aber auch auffallend niedrige Temperatur,
nicht selten Eiweiss im Harn, sowie fast völliger Mangel des Schlafes
und der Esslust.. Ausserdem treten hie und da die Zeichen schwererer
Hirnveränderungen auf, namentlich epileptiforme Krämpfe, Hemi-
paresen, Sprachstörungen. Der Verlauf ist vielfach ein schwanken-
der. Bei der Lyssa schieben sich nicht selten kürzere Zeiten völliger
Besonnenheit ein, in denen der Kranke seine Umgebung selber vor
sich warnt. Ebenso bieten die Initialdelirien öfters Nachlässe dar,
namentlich am Tage, aber der Kranke befindet sich auch dann in
einem Zustande dumpfer Benommenheit, die ihn keine rechte Klar-
heit über seine Lage gewinnen lässt. Die Dauer der Störung
beträgt in der Regel nur einige Tage, selten mehr als eine Woche.
Beim Wechselfieber pflegen sich die eine Reihe von Stunden
dauernden Anfälle in intermittirendem Typus mehrmals zu wieder-
holen.
Die Prognose gestaltet sich sehr verschieden. Die Delirien
der Lyssa endigen regelmässig im tödtlichen Collaps. Beim Typhus
kann die Störung gerade mit dem stärkeren Ansteigen des Fiebers
gänzlich verschwinden, wie ich zweimal beobachtete, oder aber sie
geht unmittelbar in eigentliche Fieberdelirien über. In jedem Falle
ist hier die Gefahr eines tödtlichen Ausganges der Erkrankung eine
ganz ungewöhnlich grosse: nur 40 — 50 °/0 der Kranken bleiben am
Leben und gelangen zur Genesung. Dem gegenüber ist die Prognose
der Intermittensdelirien, abgesehen von der Selbstmordgefahr, eine
durchaus günstige.
Die Erkennung dieser Psychosen hat, namentlich beim Initial-
delirium, bisweilen Schwierigkeiten. Nicht allzuselten kommt es
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 2
18
I. Das infectiose Irresein.
vor, dass dasselbe für einen epileptischen Dämmerzustand gehalten
wird, mit dem es in der That sehr grosse Aehnlichkeit besitzen kann.
Yor der Verwechselung schützt die Beachtung der Ideenflucht, die
der Epilepsie fremd ist. Ausserdem wird hier der weitere Verlauf
natürlich immer Aufklärung bringen. So habe ich es bisher vier-
mal erlebt, dass mir Kranke mit beginnendem Typhus (einmal
exanthematischem) als geistesgestört zugeführt -wurden. Jedesmal ge-
lang es, aus dem eigenthümlichen Symptomenbilde mit grosser Wahr-
scheinlichkeit die Diagnose eines Initialdeliriuras zu stellen. Im
ersten Beginn können einzelne Kranke für manisch gehalten werden,
doch stellt sich bald eine gewisse Betäubung ein, wie sie der Manie
fehlt. Gegenüber den Erschöpfungspsychosen und der Paralyse
kann die Abgrenzung äusserst schwierig sein. Die Vorgeschichte
muss hier die wichtigsten Anhaltspunkte liefern, das Fehlen er-
schöpfender Ursachen einerseits, der durchaus plötzliche Ausbruch
der Krankheit andererseits. Ausserdem wird wiederum auf die
Schwerbesinnlichkeit und Betäubung der Kranken, gegenüber der
Paralyse auch auf das Lebensalter Gewicht gelegt werden müssen.
Für die Unterscheidung von der Katatonie ist ebenfalls die schwere
Benommenheit gegenüber der guten Auffassung katatonischer
Kranker zu beachten, ferner das Fehlen von Negativismus und
Befehlsautomatie. Die Intermittensdelirien können mit epileptischen
Aequivalenten verwechselt wrerden; die Beachtung der Malaria-
vergiftung, wol auch die typische Wiederkehr der Anfälle kann davor
schützen.
Ein sehr wichtiger Fortschritt in der Lehre von den Initial-
delirien ist dem Umstande zu verdanken, dass Nissl in einem von
mir beobachteten Falle die genauere Untersuchung der Hirnrinde
vornehmen konnte. Es fanden sich starke Füllung aller Blut-
gefässe, Vermehrung der weissen Blutzellen, vor allem aber aus-
gebreitete Zerfallsvorgänge an den Nervenzellen, ähnlich denen, die
durch künstliche Infection erzeugt werden. Der Zellleib war ge-
schwollen, die gefärbte Substanz zerfallen, so dass der feinere Bau
vollständig unkenntlich geworden war. Die Fortsätze waren auf
weite Strecken diffus gefärbt. Auf Tafel IV ist in Figur 2 eine
solche Pyramidenzelle wiodergegeben, deren schwere Veränderung
durch den Vergleich mit der gesunden Zelle Figur 1 ohne weiteres
erkennbar ist. Ausserdem liess sich Karyokinese an den Gliakernen
Infectiöse Schwächezustände.
19
nachweisen. Damit ist nicht nur die infectiöse Natur jenes Falles
gesichert, sondern wir können auf Grund desselben auch mit grösster
Wahrscheinlichkeit annehmen, dass wir es bei derartigen Vergiftungs-
delirien thatsächlich mit mehr oder weniger schweren, greifbaren
Veränderungen in der Hirnrinde zu thun haben. Die vielfachen
früheren, auf ein ähnliches Ergebniss hinauslaufenden anatomischen
Untersuchungen über Typhusdelirien erhalten durch diesen klaren
Befund ihre bestimmte Deutung.
Die Behandlung der Delirien fällt mit derjenigen der zu
Grunde liegenden Erkrankungen zusammen. Vielleicht kann man
im Hinblicke auf die Vergiftung an eine reichliche Durchspülung
des Körpers denken, unter Umständen mit Hülfe von Kochsalz-
infusionen. In einem so behandelten Falle vermochten wir zwar
nicht den tödtlichen Ausgang zu verhindern, erzielten aber jedesmal
eine deutliche, vorübergehende Besserung. Ferner verdient erwähnt
zu werden, dass die Intermittenspsychose dem günstigen Einflüsse
des Chinin sich zugänglich zu erweisen pflegt. Genaue Ueberwachung
ist begreiflicherweise überall dringend geboten.
C. Die infectiösen Schwächezustände.
Da die Veränderungen der Rindenzellen, die durch infectiöse
Gifte erzeugt werden, sich unter Umständen nur allmählich oder
selbst gar nicht vollständig wieder ausgleichen, werden wir es er-
klärlich finden, dass geistige Störungen hier bisweilen auch dann
noch fortdauern können, wenn die Grundkrankheit bereits abgelaufen
ist. Der Beginn derartiger Psychosen fällt meist schon in die fieberhafte
Zeit der Krankheit, doch werden wir auch wol manche noch später
einsetzende Störungen als infectiöse betrachten dürfen, mit demselben
Rechte, mit dem wir die neuritischen Nachkrankheiten des Typhus, der
Pocken, der Diphtherie u. s. f. auf das Krankheitsgift zurückführen.
Bestärkt werden wir in dieser Auffassung durch den Umstand, dass
anscheinend jede Infectionskrankheit gewisse klinische Bilder be-
sonders häufig hervorruft. Allerdings dürfte es heute kaum möglich
sein, hier aus den psychischen Krankheitserscheinungon allein mit
einiger Sicherheit auf die bestimmte Ursache zurückzuschliessen. Wir
werden uns daher mit einer kurzen Schilderung der häufigsten Zu-
2*
20
I. Das infoctiöse Irresein.
standsbilder begnügen müssen. Gemeinsam ist allen ein mehr
oder weniger hoher Grad geistiger und gemüthlicher Schwäche,
zu der sich meist traurige oder ängstliche Verstimmungen, vielfach
auch ausgeprägte Wahnbildungen hinzugesellen. Freilich gehören
durchaus nicht alle länger dauernden Geistesstörungen nach Infections-
krankheiten dieser Gruppe an. Ausser den später zu besprechenden
Erschöpfungszuständen können durch die schwere körperliche Schädi-
gung auch die verschiedenartigsten anderen Formen des Irreseins
ausgelöst werden, deren besondere Gestaltung dann aber natür-
lich gar keine engere Beziehung zu der Grundkrankheit mehr er-
kennen lässt.
Die leichtesten Formen der infectiösen Schwächezustände schliessen
sich unmittelbar der gewöhnlichen geistigen und körperlichen Hin-
fälligkeit der Reconvalescenten nach schweren Infectionskrankheiten
an. Die Kranken fühlen sich nach dem Schwinden des Fiebers
nicht befreit und erleichtert, erholen sich nicht rasch, sondern sind
matt, denkunfähig, ermüden ausserordentlich leicht, bringen ihre
Gedanken nicht mehr zusammen, sind unfähig zu lesen, einen Brief
zu schreiben. Ihre geistige Regsamkeit ist gelähmt; sie sind theil-
nahmlos, gleichgültig, liegen unthätig im Bette, vermögen sich nicht
aufzuraffen, Entschlüsse zu fassen, lassen alles gehen wie es geht.
Die Besonnenheit und Orientirung ist dabei ungestört, ebenso die
Wahrnehmung, doch stellen sich bisweilen beim Augenschluss leb-
hafte Gesichtsbilder ein, unverständliche, flüsternde Geräusche in
den Ohren, eigentümliche Empfindungen im Körper, die als schwere
Krankheitserscheinungen gedeutet werden. Die Stimmung ist trübe,
finster, oft mürrisch, reizbar, launenhaft; nicht selten sind plötzliche
Angstanfälle, besonders des Nachts. Düstere Ahnungen steigen auf,
Todesgedanken, Misstrauen gegen Arzt und Umgebung, Yergiftungs-
furcht, hypochondrische Vorstellungen, wol auch Versündigungsideen.
In Folge dessen kann es zu heftigen Ausbrüchen gegen die Um-
gebung, Selbstmordversuchen, Nahrungsverweigerung kommen. Eine
meiner Kranken machte ihr Testament und berief telegraphisch ihre
Verwandten an ihr vermeintliches Todtenbett. Meist sind die
Kranken sebr zurückhaltend und wortkarg, selbst stuporös, äussern
wenig von ihren Wahnvorstellungen; erst später in der Genesungs-
zeit erfährt man dann die Einzelheiten. Schlaf und Esslust sind
regelmässig sehr gestört; das Körpergewicht ist stark gesunken.
Infectiöse Schwächezustände.
21
Diese leichtesten Formen der infectiösen Schwächezustände be-
obachten wir namentlich nach Influenza und Gelenkrheumatismus,
bisweilen auch bei Kindern nach Keuchhusten. Ihre Dauer beträgt
in der Regel einige Wochen oder Monate; dann pflegt Genesung
einzutreten. Sie erinnern vielfach an das Bild der nervösen Er-
schöpfung, doch sind die Erscheinungen erheblich schwerer und
hartnäckiger als dort, weichen nicht so rasch der Ruhe und Er-
holung; zudem fehlt das klare Krankheitsbewusstsein.
Eine zweite Gruppe von Beobachtungen ist durch das Auftreten
von ausgeprägten Sinnestäuschungen, abenteuerlichen Wahnbildungen
und lebhaften ängstlichen Erregungszuständen gekennzeichnet. Den
Beginn bilden in der Regel schwere Benommenheit und Delirien
während des Fiebers. Die Kranken sind unklar über ihre Lage,
verkennen Ort und Personen, denken und reden zusammenhangslos.
Zugleich bestehen zahlreiche Sinnestäuschungen. Hinter dem Bette
schreien die Todten; auf der andern Seite steht ein Sarg; Wände
und Ofen bewegen sich; Frauenzimmer setzen sich auf das Bett;
der Teufel und die Mutter Gottes erscheinen. Der Kranke weiss
nicht, ob er im Himmel oder in der Hölle ist; man trachtet ihm
nach dem Leben; sein Leib verfault; die Genitalien stinken; der
Kopf ist nicht am Leibe. Alles drückt auf ihn; er ist im Bette an-
genagelt, schon gestorben.
Dieser Zustand von Verworrenheit dauert fort, auch wenn die
Eigenwärme gesunken ist und die übrigen Krankheitserscheinungen
schwinden. Der Kranke wird wol allmählich etwas klarer und ge-
ordneter, findet sich in seiner Umgebung besser zurecht, aber Sinnes-
täuschungen und Wahnideen verlieren sich zunächst nicht. Er hört
drohende, beschimpfende Stimmen; durch das Fenster sehen Fratzen
hinein, die auf ihn spucken ; er wird aus dem Bette gezogen, muss
darin ersticken; es hängt so viel an seinem Kopfe; man bohrt und
dreht an seinem Körper herum, zupft an seinen Kleidern. Das
Essen ist Pferdefleisch; er wird verfolgt und unterdrückt, wider
alles Recht zurückgehalten. Ein Arzt hatte die heimliche Furcht,
dass seine Collegen ihn zu wissenschaftlichen Zwecken lebendig zer-
schneiden würden.
Die Stimmung der Kranken ist niedergeschlagen, ängstlich, ver-
driesslich, missmuthig; zeitweise kommt es zu heftigen Gefühls-
ausbrüchen mit Selbstmordversuchen, Gewalttaten, Angriffen gegen
22
I. Das infectiöse Irresein.
die Umgebung. Die Kranken sind unzufrieden, nörgelnd, störrisch,
■widerstreben, verweigern die Nahrung. Meist sind sie hochgradig
abgemagert, schlafen wenig und unruhig, lassen oft lange Zeit alles
unter sich gehen.
Im weiteren Verlaufe verlieren sich unter Auftreten reger Ess-
lust und grossen Schlafbedürfnisses nach und nach Sinnestäuschungen
und Wahnvorstellungen. Das Körpergewicht hebt sich; die Stimmung
wird freier; der Kranke gewinnt Verständniss für seine Störung, be-
ginnt sich zu beschäftigen und knüpft in seinem Denken und Fühlen
allmählich wieder an die früheren gesunden Zeiten an. Gleichwol
pflegt noch ziemlich lange grosse Ermüdbarkeit, Herabsetzung der
geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit und Gedächtnisschwäche
zurückzubleiben. Bisweilen scheint überhaupt keine völlige Wieder-
herstellung einzutreten, sondern ein Schwächezustand mit un-
vollkommener Berichtigung der Wahnvorstellungen den Ausgang zu
bilden; in einzelnen Fällen erfolgt der Tod durch Erschöpfung oder
complicirende Erkrankungen. Die Dauer der geistigen Störung be-
trägt auch im günstigsten Falle eine Reihe von Monaten, nicht
selten über ein Jahr. Sie entwickelt sich am häufigsten nach Typhus,
ferner nach den Pocken, in leichterer Form nach Gelenkrheumatis-
mus und Cholera. Die Erkennung dieser Form wird an der Hand
der Vorgeschichte keine Schwierigkeiten bieten; höchstens könnte
bei älteren Kranken die Verwechselung mit einer Melancholie in
Frage kommen, die nur durch die acute Krankheit ausgelöst wurde.
Das starke Hervortreten der Sinnestäuschungen, das Ueberwiegen
der Verfolgungsideen über den Versündigungswahn, die eigenthiim-
lich reizbare Stimmung im Gegensätze zu der Angst der Melancho-
lischen könnte hier die Unterscheidung ermöglichen. Gegenüber
der Dementia praecox ist auf den stärkeren Affect und namentlich
auf die anfängliche schwere Störung der Auffassung, Besonnenheit
und Orientirung hinzuweisen, ferner auf das Fehlen von Negativis-
mus und Stereotypie, gegenüber den Depressionszuständen des eircu-
lären Irreseins auf das Fehlen der psychomotorischen Hemmung
und den körperlichen Zustand.
Auch die dritte, schwerste Form der infectiösen Schwäche-
zustände pflegt mit heftigen Delirien zu beginnen, geht aber bald
in stuporöse Zustände über. Die Kranken werden trotz Besserung
der körperlichen Erscheinungen blöde, unfähig, äussere Eindrücke
Infectiöse Schwäckezustände.
23
aufzufassen und zu verarbeiten, gedächtnisschwach, urtheilslos.
Tlire Stimmung ist gleichgültig, bisweilen weinerlich; sie sind still,
stumpf oder kindisch unruhig, liegen unter Umständen regungslos
im Bette, ausser Stande, Nahrung zu sich zu nehmen oder sich rein
zu halten, müssen gefüttert und gepflegt werden wie kleine Kinder.
Die Ernährung ist meist auf das äusserste gesunken, die Muskulatur
geschwunden; hie und da machen sich die Anzeichen einer schweren
Hirnerkrankung bemerkbar, halbseitige Lähmungen, Sprachstörungen,
epileptiforme Krämpfe.
Die Prognose dieser Erkrankungen, die hauptsächlich nach
Typhus, in leichterer Form auch nach Cholera beobachtet werden,
ist eine sehr zweifelhafte. Nur in etwa der Hälfte der Fälle erfolgt,
nach meist sehr langer, über viele Monate sich erstreckender Dauer,
ziemlich rasch völlige Genesung. In den übrigen Fällen kommt es
wol meist zu einer allmählichen Besserung, aber die Kranken bleiben
geistig und gemüthlich unfähig, gedankenarm, vergesslich, urtheilslos,
gleichgültig und willensschwach. Tn zwei derartigen Fällen sah ich
dauernd epileptische Anfälle Zurückbleiben. Die Erkennung dieser
Zustände stützt sich gegenüber dem katatonischen Stupor, abgesehen
von der Entstehungsgeschichte und den etwa vorhandenen Hirn-
erscheinungen, auf das Fehlen des Negativismus, gegenüber dem
circulären auf das Fehlen der Hemmung, sodann auf die Unbesinn-
lichkeit und Gedächtnissschwäche.
Die Behandlung aller dieser Formen besteht wesentlich in einer
sehr sorgfältigen körperlichen Pflege, deren Hauptpunkte Bettruhe,
reichlichste Ernährung, Reinlichkeit und gute Ueberwachung bilden.
In den schwersten Fällen kann späterhin wegen des Muskelschwundes
Massage und allgemeine Faradisation angezeigt sein.
Ein wesentlich anderes Gepräge, als die bisher betrachteten
Störungen, trägt eine grössere Gruppe von Fällen, wie sie ebenfalls
vorzugsweise nach Typhus, bisweilen vielleicht auch nach Cholera
beobachtet werden. Es handelt sich hier um die rasche Entwicklung
lebhafter verwirrter Erregungszustände mit ausgeprägter
Ideenflucht und abenteuerlichen Grössenideen. Nach un-
bedeutenden Vorboten beginnen die Kranken, öfters schon während
der Fieberzeit, sehr unruhig zu werden. Sie verlieren die Orientirung,
fassen mangelhaft auf, sind ungemein ablenkbar, hören Stimmen,
sehen Engel an der Decke, Blumen im Zimmer, Theatergestalten,
24
T. D>>3 ii f.ictlöKe Irresein.
mit denen sie sich unterhalten. Zugleich tritt ein blühender Grössen-
Avahn hervor, der ungemein dem paralytischen ähnelt. Der Kranke
ist Gott, sein Getränk Nektar; er besitzt zahllose Schlösser, empfängt
Besuche von Königen und Kaisern, verkehrt geschlechtlich mit
Prinzessinnen. Dem entsprechend werden Personen und Vorkomm-
nisse gedeutet. Die Mitkranken sind hohe Persönlichkeiten, einige
Papierfetzen werthvolle Banknoten, Acnepusteln die Spuren feind-
licher Kugeln; aus Koth und Sputum werden unschätzbare Kunst-
werke, Brillanten geformt. Der Kranke fabulirt in der unsinnigsten
Weise, lässt sich dabei ungemein leicht lenken. Die Stimmung ist
bald mehr unwillig und reizbar, bald heiter und überschwänglich,
aber wechselnd, leicht in Weinen umschlagend. Jede Spur von
Krankheitsgefühl fehlt; ein äusserst hinfälliger Kranker mit schweren
Muskelcontracturen an beiden Beinen behauptete, das Göthedenkmal
in Frankfurt mit einer Hand heben zu können. Dabei besteht leb-
hafter Rededrang, Ideenflucht, Neigung, sinnlos zu reimen, ver-
worrene Schriftstücke und Zeichnungen zu liefern. Die Kranken
sind unruhig, bleiben nicht im Bette, singen, schmieren, schlafen
wenig und nehmen unregelmässig Nahrung zu sich. Der Ernährungs-
zustand ist ein sehr schlechter.
Das hier gezeichnete Krankheitsbild, das ich selbst bisher in
zwei Fällen beobachten konnte, ist vielleicht nur eine weitere Ent-
wicklung der zweiten oben geschilderten Form des Initialdeliriums.
Ob es gegenüber den Depressionszuständen als besondere Erkrankung
zu betrachten ist, erscheint zweifelhaft, wenn wir bedenken, dass uns
bei der Paralyse ähnlich verschiedene Bilder als Erscheinungsformen
des gleichen Krankheitsvorganges begegnen. Die äusserliche Aehn-
lichkeit gerade dieses Bildes mit demjenigen der expansiven Para-
lyse ist eine sehr auffallende; wir werden dabei unwillkürlich an
die anscheinende Verwandtschaft gewisser Rindenzelleuveränderungen
erinnert, welche im Typhus und in manchen Formen der Paralyse
gefunden Averden. Die klinische Unterscheidung wird übrigens
durch die Vorgeschichte, das Fehlen der Pupillenstarre und Sprach-
störung, unter Umständen auch durch das Alter ermöglicht; meine
beiden Kranken waren ganz junge Leute. Vielleicht Aväre übrigens
dieses Bild besser dem Erschöpfungsirresein anzureihen, da es etwas
der acuten Verwirrtheit ähnelt. Massgebend für die hier vertretene
Auffassung ist der Umstand geAvesen, dass die Störung bisweilen
Infectiöse Schwächezustände.
25
schon in der ersten Zeit des Typhus einsetzt und ferner in ihrer
Eigenart fast nur nach Typhus, nicht aber nach anderen erschöpfen-
den Ursachen beobachtet wird. Zudem ist die Auffassung und Ver-
arbeitung der Eindrücke hier weit weniger gestört, als bei der
acuten Verworrenheit. Gegenüber manischen Erregungszuständen
ist auf die schwere Beeinträchtigung der Orientirung und die üppige
Erzeugung unsinniger Wahnbildungen hinzuweisen.
DerVerlauf der Erkrankung ist in einem Theil der Beobachtungen
ein rascher und günstiger. Meist indessen schwinden Erregung und
Wahnideen erst allmählich im Verlaufe von Monaten. Die Kranken
bleiben dann noch längere Zeit erregbar, leicht ermüdbar, gerathen
bei geistiger Anstrengung ausserordentlich leicht wieder in ihre
Ideenflucht und in das walmhafte Fabuliren hinein, bis sich unter
bedeutendem Ansteigen des Körpergewichtes die endgültige Ge-
nesung vollzieht. In einer nicht ganz geringen Zahl von Fällen
scheint sich aber der Schwächezustand überhaupt nicht völlig aus-
zugleichen, sondern es kommt unter Fortbestehen abenteuerlicher
Wahnvorstellungen zur Entwicklung einer dauernden Verblödung.
Die Behandlung hat auch hier nichts zu thun, als das kranke Hirn
durch Fernhaltung aller Schädigungen (Bettruhe, Dauerbäder) zu
schonen und für die körperliche Erholung möglichst günstige Be-
dingungen herzustellen (reichlichste Ernährung).
Eine eigenartige Stellung unter den infectiösen Schwächezuständen
nimmt die von Korssakow zuerst genauer beschriebene polyneuri-
tische Geistesstörung*) ein. Dieselbe ist namentlich durch das
Auftreten einer schweren Störung der Merkfähigkeit und des Ge-
dächtnisses mit ausgeprägten Erinnerungsfälschungen neben den
körperlichen Zeichen einer polyneuritischen Erkrankung gekenn-
zeichnet. Das Leiden entwickelt sich meist ziemlich rasch, bisweilen
mit einem deliriösen Aufregungszustande. Die Kranken verlieren
die Orientirung und werden verwirrt, unruhig, ängstlich, namentlich
in der Nacht; öfters treten deutliche Sinnestäuschungen, besonders
des Gesichtes auf. Die bei weitem hervorstechendste Erscheinung
aber ist die Unfähigkeit, die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit
*) Korssakow, Archiv f. Psychiatrie, XXI, 669; Allgem. Zeitschr. f. Psy-
chiatrie XI/VI, 475; Tiling, ebenda XL VIII, 549; Derselbe, über alkoholische
Paralyse und infectiöse Neuritis multiplex. 1897; Jolly, Chariteannalen, XXII;
Mönkemöller, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie LIV, 806.
26
I. Das infcctiösc Irresein.
im Gedächtnisse zu behalten. Obgleich die Auffassung selbst keine
erheblicheren Störungen erkennen lässt, schwindet der Inhalt des
Erlebten doch schon nach kurzer Zeit, sogar nach wenigen Minuten-
vollständig aus der Erinnerung. Die Kranken wissen nicht, was sie
gestern, vor einer halben Stunde gethan. ob sie schon zu Mittag ge-
gessen, den Arzt schon einmal gesehen haben; sie sind also gänzlich
unfähig, irgend welche neuen Erfahrungen zu sammeln, lassen sich
ohne Widerspruch immer wieder dieselben oder auch ganz unverein-
bare Dinge erzählen, wiederholen ungezählte Male die gleichen
Fragen und Wünsche. Besonders schwer geschädigt pflegt die
Fähigkeit der zeitlichen Localisation zu sein; die Kranken wissen
nicht anzugeben, ob ein Ereigniss vor einem Jahre oder gestern
stattgefunden hat. Dabei kann das Gedächtniss für lange zurück-
liegende Erfahrungen vollständig ungestört sein, doch scheinen auch
Erinnerungsverluste vorzukommen, die viele Jahre umfassen, so dass
die Kranken alle Schicksale aus ihren letzten Lebensabschnitten
vergessen haben und sich in längst vergangenen Tagen zu befinden
glauben.
Alle diese Lücken werden nun aber durch flottes Fabuliren
ausgefüllt. Wirkliche und frei erfundene Erinnerungen werden von
den Kranken mit voller Seelenruhe und im Tone der Ueberzeugung
vorgebracht, sobald sie über ihre Vergangenheit Auskunft geben sollen.
Sie schildern genau mit allen Einzelheiten die Reisen und Spazier-
gänge, die sie in den letzten Tagen angeblich unternommen haben, sind
von längst verstorbenen Verwandten besucht worden, haben dem
Begräbnisse eines Bruders beigewohnt, deu sie nie besassen, sprechen
von Kindern, die gar nicht vorhanden sind, erzählen denselben Vor-
gang immer wieder mit anderen Einzelheiten, werden gereizt, wenn
man sie auf diese Widersprüche aufmerksam macht. Meist gelingt
es dabei, durch geeignete Fragen den Inhalt der Erinnerungen nach
Belieben zu lenken.
Die Stimmung ist im Beginue ängstlich, später meist gleich-
gültig, stumpf, oder reizbar, unzufrieden, nörgelnd; vorübergehend
kommt es auch einmal zu lebhafterer Erregung. Bisweilen herrscht
mehr eine kindisch-heitere1 Stimmung vor, die jedoch leicht in
Weinerlichkeit umschlägt. Die Reden der Kranken sind öfters leid-
lich verständig, aber abgerissen; bie und da werden Störungen in
der Satzbildung beobachtet. Auch das Benehmen scheint, abgesehen
InfectiÖse Schwärhezuständo.
27
von stärkeren Erregungszuständen, äusserlich geordnet zu sein, wenn
die Kranken auch wegen ihrer Gedächtnissstörung zu irgend einer
selbständigen Beschäftigung nicht fähig sind.
Auf körperlichem Gebiete bestehen die Erscheinungen der Poly-
neuritis, Lähmung oder Schwäche in verschiedenen Nervengebieten,
Druckempfindlichkeit von Nerven und Muskeln, Sensibilitätsstörungen,
Herabsetzung der Reflexe, in schweren Fällen auch Pulsbeschleunigung
und Athemnoth. Die befallenen Muskelgruppen sind atrophisch, zeigen
unter Umständen Entartungsreaction ; auch Contracturen und ört-
liche Krämpfe werden beobachtet. Die allgemeine Ernährung liegt
sehr darnieder; die Nahrungsaufnahme ist mangelhaft, der Schlaf
meist unruhig. Im Beginne der Erkrankung tritt nicht selten hart-
näckiges Erbrechen auf.
Der ersten stürmischeren Entwicklung folgt in der Regel eine
Zeit langsameren Verlaufes, doch kann in einzelnen Fällen mit zu-
nehmender Herz- und Athmungslähmung und dem Eintreten soporöser
Zustände der Tod erfolgen. Meist jedoch pflegt sich nach einigen
Monaten allmählich eine fortschreitende Besserung einzustellen, Rück-
kehr der Orientirung und Nachlassen der Vergesslichkeit. In einer
gewissen Zahl von Fällen schreitet diese Besserung im Verlaufe von
5 — 9 Monaten bis zur völligen Genesung fort, wenn auch noch
längere Zeit grosse Ermüdbarkeit, Gedächtnisschwäche und gemüth-
liche Reizbarkeit zurückbleibt. Vielfach aber, namentlich bei aus-
geprägtem Alkoholismus, ist der Ausgang ein dauernder, unheilbarer
Schwachsinn, der seinen Ursprung noch durch das Fortbestehen der
Erinnerungsfälschungen erkennen lässt.
Die Grundlage der hier geschilderten Störung muss nach der
übereinstimmenden Ansicht der meisten Forscher in einer Vergiftung
gesucht werden, die anscheinend durch eine Reihe der verschieden-
sten Krankheitsvorgänge erzeugt werden kann, durch Magendarm-
katarrhe, Typhus, Zersetzungen in Geschwülsten, todtfaulen Früch-
ten u. s. f. Eine ganz hervorragende ursächliche Rolle spielt aber
ohne Zweifel der Alkohol. Jolly ist geneigt, die Erkrankung gerade-
zu als eine schwerere Erscheinungsform des Delirium tremens
zu betrachten. Dennoch geht es, wie Jolly ebenfalls betont, offen-
bar nicht an, hier einfach von einer alkoholischen Geistesstörung zu
sprechen; vielmehr dürften die schweren Schädigungen des Alkohol-
missbrauches nur die günstigen Bedingungen für das Zustande-
28
I. Das infectiöse Irresein.
kommen dieser Form des Irreseins bieten, wie durch die immerhin
nicht geringe Zahl von Fällen ohne jene Grundlage dargethan wird.
Aber auch die Beziehungen der besonderen Geistesstörung zur
Polyneuritis scheinen keineswegs unverbrüchliche zu sein, da es
nicht nur sehr zahlreiche Fälle von letzterer Krankheit ohne Irre-
sein, sondern auch Beobachtungen giebt, in denen genau das gleiche
psychische Krankheitsbild ohne neuritische Erscheinungen auftritt.
Dabei ist übrigens zu bemerken, dass die verschiedenen Fälle von
Polyneuritis wegen ihrer ganz verschiedenen Ursachen schwerlich
als einheitliche Krankheit anzusehen sind. Wir kommen demnach
zu dem Schlüsse, dass die hier beschriebene Geistesstörung höchst
wahrscheinlich durch Gifte entsteht, die meist, aber nicht immer,
auch Polyneuritis erzeugen, und deren Auftreten durch chronischen
Alkoholismus ganz besonders begünstigt wird. Da die Bedeutung,
die hier gewissen Infectionen vom Darm aus, dem Typhus, der
Tuberculose u. s. f. zukommt, mit einiger Wahrscheinlichkeit auf
Bakteriengifte hinweist, haben wir diese Form zu den infectiösen
Schwächezuständen gestellt, mit deren zuletzt besprochener Gruppe
sie auch eine ungefähre klinische Verwandtschaft aufweisen dürfte.
Einer der dort erwähnten Kranken bot in der That ebenfalls die
Zeichen einer ziemlich schweren Polyneuritis nach Typhus dar.
Die Eigenart des klinischen Bildes, namentlich in Begleitung
der neuritischen Störungen, wird zumeist die Erkennung der Er-
krankung leicht machen. Immerhin können Verwechselungen mit
der Paralyse Vorkommen, um so leichter, als wir auch dort nicht
selten eine ähnliche Gedächtnissschwäche mit Erinnerungsfälschungen,
ja sogar hie und da Andeutungen von neuritischen Störungen be-
obachten. Die Unterscheidung wird einmal durch die ursächlichen
Verhältnisse ermöglicht, durch die meist langsamere Entwicklung der
Paralyse mit den bekannten Vorboten, ferner durch die eigenartige
Sprachstörung sowie die Pupillenstarre der Paralytiker. Sehr aus-
geprägte Neuritis spricht weit mehr für die hier beschriebene Form.
Vielleicht ist auch der Umstand zu verwerthen, dass in der Paralyse
das Urtheil mindestens ebenso stark gestört zu sein pflegt wie das
Gedächtniss, während beim polyneuritischen Irresein die ungemein
starke Beeinträchtigung auf letzterem Gebiete durchaus in den
Vordergrund tritt. Tn der senilen Verwirrtheit kommt ebenfalls ein
ähnliches Bild zu Stande. Abgesehen von der verschiedenen Ent-
Infectiöse Schwächezustände.
29
stehungsweise dürfte hier namentlich die grössere Zerfahrenheit der
Senilen, die läppische Erregung, der Eigensinn und die Stereotypie
dieser Kranken für die Unterscheidung zu verwerthen sein.
Die mikroskopische Untersuchung der Hirnrinde hat bisher nur
„erheblichen Schwund der Tangentialfasern bei mehr oder weniger
ausgesprochener Atrophie der Rinde“ ergeben, hat sich aber auch
nur auf die Fasern erstreckt. Die Behandlung hat die gleichen
Aufgaben wie bei den übrigen infectiösen Schwächezuständen, wenn
wir von den besonderen Anforderungen absehen, welche die neu-
ritische Erkrankung an die Thätigkeit des Arztes stellt.
II. Das Erschöpfungsirresein.
Als Erschöpfungsirresein wollen wir diejenigen Formen geistiger
Störung bezeichnen, als deren Ursache wir einen übermässigen Ver-
brauch oder einen ungenügenden Ersatz von Nervenmaterial in der
Hirnrinde ansehen dürfen. Am meisten Berechtigung hat die An-
nahme einer Erschöpfung zunächst bei denjenigen Psychosen, die
sich unmittelbar an schwere körperliche Umwälzungen, na-
mentlich an acute Krankheiten, grosse Blutverluste, das Wochenbett
anschliessen. Wie die Erfahrung lehrt, kommt es in der That unter
der Einwirkung der genannten und ähnlicher Schädlichkeiten zur
Entwicklung gewisser gleichartiger psychischer Krankheitsbilder,
denen eine tiefe Störung der Auffassung, des Gedankenzusammen-
hanges und der Benkthätigkeit gemeinsam ist. Dazu pflegen sich
Sinnestäuschungen, Ideenflucht und motorische Erregung zu gesellen.
Nach dem mehr oder weniger stürmischen Auftreten und Ablaufe
dieser Erscheinungen empfiehlt es sich, zwei Krankheitsbilder, das
Collapsdelirium uud die Amen tia (acute Verwirrtheit) auseinander-
zuhalten. Dagegen scheint mir die früher ebenfalls zu den Er-
schöpfungskrankheiten gerechnete acute Demenz ausschliesslich den
infectiösen Schwächezuständen anzugehören, soweit sie sich nicht als
der Beginn einer Katatonie oder des manisch-depressiven Irre-
seins herausstellt, wie ich es in den letzten Jahren regelmässig er-
lebt habe.
Eine weitere wichtige Ursache der Erschöpfung ist die geistige
und gemüthliche Ueberanstrengung, ferner dauerndes körper-
liches Siechthum. Die Kraukheitserscheinungen, die uns im
Gefolge dieser Schädigungen entgegen treten, sind weit weniger
stürmische und in die Augen fallende, aber sie sind vielleicht
noch wichtiger, als die acuten Erschöpfungspsychosen, weil sie
Collapsdeliviuin.
0 1
D L
ausserordentlich viel häufiger sind. Es sei uns gestattet, sie unter
dem Namen der chronischen nervösen Erschöpfung hier zu-
sammenzufassen.
A. Das Collapsdelirium.
Das Collapsdelirium ist ein äusserst stürmisch sich entwickeln-
der Zustand hochgradiger Benommenheit und Verwirrtheit
mit traumhaften Sinnestäuschungen, Ideenflucht, Stim-
mungswechsel und lebhafter motorischer Erregung. Die
Krankheit beginnt in der Regel ziemlich plötzlich; bisweilen macht
sich Schlaflosigkeit und leichte Unruhe schon kurze Zeit vorher be-
merkbar. Die Kranken verlieren rasch die Orientirung in ihrer
Umgebung, die ihnen verändert und unheimlich vorkommt. Das
Bewusstsein trübt sich; es stellen sich allerlei abenteuerliche Illusionen,
fast immer auch Hallucinationen ein, oft in grossen Massen. Die
Tapeten schneiden Fratzen; ein Crucifix nickt mit dem Kopfe; Engel
fliegen zum Fenster herein; die Nachbarn rufen draussen; das
Armensünderglöckchen läutet. Die Kranken glauben sich in fabel-
haften Lebenslagen, wohnen dem Weltuntergänge, ihrem eigenen
Begräbnisse bei, erleben eine Fülle merkwürdiger, traumhaft zu-
sammengewürfelter Ereignisse. Ihre Gedanken und Reden verwirren
sich; sie werden ideenflüchtig und beginnen in unsinnigen Allitera-
tionen, Aufzählungen, selbst in Versen und Reimen zu sprechen
oder zu singen. Regelmässig bestehen zusammenhangslose, wechselnde
Wahnideen, bald mehr expansiven, bald mehr depressiven Inhalts.
Sie haben den Welterlöser geboren, tragen die Dornenkrone, sollen
deswegen ans Kreuz genagelt, ertränkt werden, aber eine Heilige
kann nicht untergehen. Der böse Feind stellt ihnen nach, hat sie
vergiftet, in drei Theile zerschnitten; die Mächte der Finsterniss sind
überwunden. Die Umgebung wird vollständig verkannt; das Kranken-
zimmer ist die Hölle, ein Gotteshaus, der Arzt Christus, der Pfarrer
oder irgend ein Bekannter.
Die Stimmung ist vorwiegend heiter, bisweilen etwas erotisch,
doch schieben sich leicht vorübergehend ängstliche oder zornige Ge-
fühlsausbrüche ein. Stets ist lebhafte motorische Erregung vor-
handen. Die Kranken bleiben nicht im Bett, drängen hinaus, auch
32
II. Das Erschöpf Hngsirresein.
zum Fenster, kriechen zu ihren Mitpatienten hinein, entkleiden sich,
zerreissen, schmieren. Sie schwatzen lebhaft, bald laut und hochtrabend,
bald geheimnissvoll flüsternd, gesticuliren, schneiden Fratzen, klatschen
in die Hände. Meist ist es unmöglich, von ihnen eine besonnene
Antwort zu erhalten; nur hie und da geben sie einmal auf eine ein-
fache Frage flüchtige Auskunft oder folgen sie einer Aufforderung.
Vielfach stösst man beim Baden, Entkleiden und sonstigen noth-
wendigen Massregeln auf ein unsinniges, ganz planloses Widerstreben.
Zuweilen scheint ein dumpfes Krankheitsgefühl zu bestehen. Der
Schlaf ist auf der Höhe der Krankheit völlig aufgehoben : höchstens
kommt es einmal zu einem ganz kurzen, rasch durch die Unruhe
wieder unterbrochenen Schlummer. Die Nahrungsaufnahme ist
sehr unregelmässig. Die Kranken stossen zeitweise alles zurück,
spucken aus, während sie kurz nachher das Dargebotene gierig
hinunterschlingen oder es sich wenigstens einlöffeln lassen.
Tn schweren Fällen wird das ganze Krankheitsbild sehr bald
ausschliesslich durch den rücksichtslosesten Bewegungsdrang be-
herrscht. Die psychische Thätigkeit scheint sich völlig in ein Ge-
misch verworrener Antriebe aufzulösen. Die spärlichen Zeichen
einer Auffassung äusserer Reize, die Andeutungen von Sinnes-
täuschungen schwinden; die sprachlichen Aeusserungen zerfallen in
eine Folge einzelner sinnloser Laute. Dabei besteht eine triebartige
Unruhe, die sich in einfachen, zuweilen ganz gleichförmigen Be-
wegungen, in unablässigem Trommeln, Wälzen, Zappeln, Wischen,
Schnauben u. dgl. entladet.
Der Ernährungszustand ist im Collapsdelirium stets ein sein-
schlechter. Die Kranken sind kühl, blass, oft erschreckend abge-
magert und schwach, obgleich sie das in ihrer Unruhe nicht zu
empfinden scheinen. Das Körpergewicht sinkt ungemein schnell.
Der Puls ist klein, häufig sehr verlangsamt. Die Reflexe sind
gesteigert; einige Male sah ich lebhaftes Zittern. Au der Haut
finden sich nicht selten Abschürfungen, blaue Flecke und dergl.
in Folge der Rücksichtslosigkeit, mit der die Kranken ihre Glieder
bewegen.
Die Dauer des Collapsdeliriums beträgt in der Regel nur einige
Tage, bisweilen nur Stunden, selten mehr als ein bis zwei Wochen.
Die Besonnenheit tritt fast immer plötzlich wieder hervor, oft nach
einem längeren Schlafe. Die Täuschungen sind verschwunden; die
Collapsdelirium.
33
Kranken beginnen sich zu orientiren, erkennen die Umgebung, haben
Krankheitseinsicht, nehmen Nahrung zu sich. In einzelnen Fällen
kann vorübergehend Klarheit mit neuerlicher Wiederkehr der Ver-
wirrtheit sich einstellen. Die Erinnerung an die überstandene
Psychose ist meist eine ganz unklare; seltener sind die Kranken
im Stande, einzelne deliriöse Erlebnisse zusammenhängend zu er-
zählen. Die motorischen Reizerscheinungen verlieren sich in der
Regel langsam. Eine leichte Ideenflucht, grosse Wankelmüthigkeit
der meist gehobenen Stimmung, nörgelndes, missvergnügtes Wesen,
Neigung zu vielem Sprechen und eine gewisse Unruhe können noch
wochenlang die Wiederkehr der Besonnenheit überdauern. Meist
tritt übrigens allmählich sehr deutlich das Gefühl der Denkträgheit
und Schwerbesinnlichkeit sowie grosser körperlicher Hinfälligkeit und
Schwäche hervor, welches dem Kranken die Bettruhe
erwünscht erscheinen lässt. Der Appetit wird gewöhn-
lich sehr stark, und das Körpergewicht steigt fast
ebenso schnell, wie es gesunken war, zeitweise täglich
1 — 2 Pfund, im ganzen nicht selten um 20, 30, ja
40 Pfund innerhalb weniger Wochen, wie die neben-
stehende Curve*) zeigt.
Der Ausgang des Collapsdeliriums ist regelmässig
ein günstiger, wenn es gelingt, die Kranken am Leben
zu erhalten. Die Gefahr eines körperlichen Zusammen-
bruches ist allerdings wegen des elenden Zustandes
der Kranken oft eine recht grosse, namentlich wenn
etwa das ursächliche Leiden noch besondere Schädi- ' ""'S""""
. . . . . „ . . . . Gelenkrheumatismus.
gangen nach sich zieht. Bei einigen anscheinend hier-
her gehörigen Fällen sah Alzheimer in der ganzen Rinde ver-
breiteten feinkörnigen Zerfall der gefärbten Substanz mit leichter
Färbung der ungefärbten Bahnen ohne Gliawucherung und meist
auch ohne Erkrankung des Kernes. Andererseits hat man bei dem
schnellen Verlaufe der Psychose selbst in anscheinend ganz ver-
zweifelten Fällen bisweilen die Genugthuung, plötzliche, überraschende
günstige Wendungen zu sehen. So konnte ich vor einigen Jahren
einen jungen Menschen geheilt entlassen, der wenige Wochen früher
*) B<i dieser wie bei allen folgenden Cnrven bedeuten die Abschnitte der
Abscissenacbse je 5 Wochen, diejenigen der Ordinateuachso je 5 Pfund.
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl, 3
34
II. Das Krschopfungeirresein.
während eines Collapsdeliriuras nach Gelenkrheumatismus, Endokar-
ditis und Chorea, mit Eiweiss im Ham, mächtigem Druckbrand, einer
Temperatur von 33,8° und im Zustande schwerster therapeutischer
Morphiumvergiftung fast sterbend in die Klinik aufgenommen wurde.
Bei den genesenen Kranken sieht man übrigens oft noch recht lange
eine mehr oder weniger deutliche Erhöhung der gemüthlichen Er-
regbarkeit fortbesteheu.
Die erste, ausgezeichnete Beschreibung des Collapsdeliriums
hat 1866 Hermann Weber gegeben, der dasselbe im Anschlüsse
an den Temperaturabfall nach acuten Krankheiten beobachtete. Die
weitere klinische Erfahrung hat, wie ich glaube, gelehrt, dass die
gleichen Krankheitserscheinungen überall da zu Stande kommen
können, wo auf irgend eine Weise tief eingreifende äussere Schäd-
lichkeiten eine plötzliche Erschöpfung herbeiführen. Es scheint sich
dabei um eine ganz acute Gleichgewichtsschwankung in unserem
Centralnervensystem zu handeln, welche mit Steigerung der cen-
tralen motorischen Erregbarkeit, Abstumpfung gegen äussere Ein-
drücke und sensorischen Eigenerregungen einhergeht, Erscheinungen,
deren erste Andeutungen sich durch den psychologischen Versuch
schon bei der Erschöpfung im Verlaufe einer durcharbeiteten Nacht
nachweisen lassen. Möglich, ja wahrscheinlich ist es allerdings,
dass neben der Erschöpfung öfters noch andersartige Ursachen wirk-
sam sind, namentlich etwa gewisse Krankheitsgifte und Zerfallstofie.
Ausser den acuten Krankheiten, von denen besonders Pneu-
monie und Influenza, ferner Erysipel, Masern, Scharlach und Cholera
zu nennen sind, kommen als Ursachen vor allem das Wochenbett in
Betracht, Blutverluste, fortgesetzte Nachtwachen, vielleicht auch heftige
gemtithliche Erregungen. Diese letzteren scheinen besonders als
auslösende Ursachen bei einer schon vorbereiteten Herabsetzung
der psychischen Widerstandsfähigkeit von Bedeutung zu sein. Nicht
selten sieht man z. B. gegen Ende der ersten Woche des Kind-
betts oder gar noch später die Störung an einen Schreck, einen
Streit sich anschliessen. Erbliche Veranlagung liess sich etwa in
der Hälfte der von mir aus den letzten Jahren gesammelten Fälle
nachweisen; wichtiger dürften erworbene Schwächungen sein, wie
sie durch chronische Leiden, schlechte Ernährung, Kummer und
widrige Lebensschicksale erzeugt werden. Einmal konnte ich die
Entwicklung des Collapsdeliriums in der Anstalt bei einer bis dahin
Collapsdelirium.
35
nur leicht melancholisch verstimmten Frau von Anfang an verfolgen,
als sie eine schwere Influenza mit nachfolgender Sprach- und Schluck-
lähmung durchmachte; im Verlaufe einer periodischen Manie beob-
achtete ich ein Collapsdelirium während der Genesung von einem
schweren Erysipel. Eine Frau erkrankte nach angestrengten Nacht-
wachen mit dem Eintritte der Menses, eine andere zum ersten
Male in der Lactation, zum zweiten Male 18 Jahre später nach einer
fieberhaften Lungenerkrankung. Frauen sind, schon wegen der Ge-
fahren des Fortpflanzungsgeschäftes, erheblich mehr zum Collaps-
delirium geneigt, als Männer.
Die Erkennung des Collapsdeliriums ist namentlich für die
Behandlung von Wichtigkeit. Sie stützt sich in erster Linie auf die
ursächlichen Verhältnisse, den Ernährungszustand und die plötzliche
Entstehung der Psychose, kann aber auch aus dem psychischen
Verhalten mit grosser Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden. Die
Verwirrtheit und Desorientirtheit der Kranken sowie ihre Sinnes-
täuschungen lassen in erster Linie Verwechselungen mit epileptischen
Dämmerzuständen oder dem Delirium tremens möglich erscheinen.
Von beiden Formen unterscheidet sich das Collapsdelirium deutlich
durch die Ideenflucht und den triebartigen, nicht, wie dort, durch
Vorstellungen oder Angstaffecte ausgelösten Bewegungsdrang. Ferner
können die triebartigen Erregungen der Katatoniker dem Collaps-
delirium äusserlich ungemein ähnlich sehen. Was sie aber deutlich
davon unterscheidet, ist die gute Erhaltung der Besonnenheit sowie
die geringe Störung der Auffassung, des Denkens und der Orientirung,
im Gegensätze zu der traumartigen Benommenheit im Collapsdelirium.
Dagegen begegnen wir in der Dementia paralytica deliriösen Auf-
regungszuständen, die nur unter Berücksichtigung des ganzen bis-
herigen Krankheitsverlaufes oder der freilich oft unsicheren, eigen-
artig paralytischen Zeichen (geistige Schwäche, unsinnige Grössen-
oder Kleinheitsideen, nervöse Störungen) vom Collapsdelirium zu
unterscheiden sind. Der Nachweis länger zurückgehender Vorläufer-
erscheinungen und das Fehlen einer eingreifenden äusseren Schäd-
lichkeit sprechen für Paralyse. Der weitere Verlauf entscheidet
natürlich die Frage früher oder später, wenn nicht der Tod die Be-
obachtung abschneidet.
Es ist daher erklärlich, dass man bisweilen die schwereren
Formen des Collapsdeliriums mit gewissen tödtlich verlaufenden
3*
36
II. Das Erschöpfungßirresein.
Fällen des paralytischen Deliriums und der Katatonie als be-
sondere Krankheit unter dem Namen des ..Delirium acutum“
zusammengefasst hat, dem sogar bestimmte anatomische Verände-
rungen (Hirnhyperaemie, Oedem, Auswanderung von weissen und
seiht rothen Blutkörperchen in die Lymphräume des Hirns) zu Grunde
liegen sollen. Ich habe mich von der selbständigen Berechtigung
dieser Krankheitsform bisher nicht überzeugen können. Von ge-
wissen deliriösen Anfällen des manisch-depressiven Irreseins ist das
Collapsdelirium ohne Kenntniss der Vorgeschichte (Ursachen, frühere
Anfälle) nur sehr schwierig zu unterscheiden. Mir scheint indessen,
dass die Auffassung äusserer Eindrücke im Erschöpfnngsdelirium
weit stärker gestört ist, als bei jenen Kranken; zudem ist der körper-
liche Zustand zu berücksichtigen. Gegenüber der nahe verwandten
Amentia kommt die stürmischere Entwicklung, die grosse Heftigkeit
der gesammten körperlichen und psychischen Krankheitserscheinungen
und der rasche Verlauf des Collapsdeliriums in Betracht.
Die Behandlung dieser Krankheit hat ungemein wichtige und
zugleich dankbare Aufgabeu zu erfüllen; es giebt keine Geistes-
störung, bei welcher das Können des Arztes so entscheidend in das
Schicksal des Kranken einzugreifen vermag. Selbstverständlich ge-
hören derartige Kranke so schnell wie möglich auf die Wach-
abtheilung einer Irrenanstalt. Hier sind hauptsächlich zwei Auf-
gaben zu erfüllen: es gilt, die Kräfte des Kranken zu erhalten und
womöglich zu heben, andererseits ihn vor Verletzungen und Schä-
digungen durch die eigene Unruhe oder durch seine Umgebung zu
schützen. Gerade bei diesen Kranken pflegt sich in ausgezeichneter
Weise das Dauerbad zu bewähren. In demselben tritt meist sehr
bald eine gewisse Beruhigung ein; die Kranken bleiben dann gern
im Bad und fangen häufig an, reichlich Nahrung zu sich zu nehmen.
Man wird daher von Einwicklungen, die wegen der Behinderung der
Athnning unter Umständen nicht unbedenklich sind, vom Festhalten
im Bett und von der Anwendung des Polsterzimmers fast immer
absehen können. Ebenso möchte ich den Gebrauch von narko-
tischen oder Schlafmitteln ganz allgemein widerrathen, da ihre Ge-
fahren hier zu ihrem Nutzen in keinem richtigen Verhältnisse stellen.
Doch ist der Alkohol in kräftigeren Gaben sehr am Platze; er bringt
Ruhe, oft raschen Schlaf und wird ausgezeichnet vertragen. Auch
das Paraldehyd mag man versuchen. Bei sehr grosser (Schwäche
Acute Verwirrtheit.
37
habe ich starken Kaffee, Coffeineinspritzungen und Campher vorüber-
gehend angewendet.
Die Nahrungsaufnahme erfordert sehr sorgfältige Berücksichtigung.
Häufiges Anbieten, Auswahl nahrhafter Speisen, besonders flüssiger
oder breiiger (Milch, Cognac mit Ei und Zucker, Fleischbrühe mit
zerhacktem Fleisch), kann hier viel leisten. Im Nothfalle muss zur
Ernährung durch die Sonde gegriffen werden, bei der man den Alkohol
nicht vergesse. Nicht selten schlafen die Kranken nach einer solchen
Fütterung sofort ein. Wo sie vertragen wird, erweist sich geradezu
eine gewisse Ueberernährung als zweckmässig. Sobald die Sonde
aus irgend einem Grunde (Magenblutung, Erbrechen) nicht anwend-
bar ist oder die hochgradige Erschöpfung sehr rasches Eingreifen
erfordert, zögere man nicht, zur Kochsalzinfusion zu schreiten. Rasche
Aufhellung des Bewusstseins und willige Aufnahme von Nahrung
ist die gewöhnliche, freilich zunächst nur vorübergehende Wirkung,
die nach Bedarf durch Wiederholung der Massregel erneuert werden
kann. Bisweilen genügen auch schon häufige, vorsichtige Kochsalz-
klystiere. Wenn die volle Besonnenheit zurückgekehrt ist, hat die
Behandlung nur die Aufgabe, von dem noch sehr empfindlichen
Reconvalescenten alle äusseren Schädlichkeiten, namentlich gemiith-
liche Erregungen, fernzuhalten, bis das frühere körperliche und
psychische Gleichgewicht vollkommen erreicht ist. Massgebend für
die Beurtheilung der Genesung ist dabei in erster Linie die Wieder-
erlangung des früheren Körpergewichts.
B. Die acute Verwirrtheit (Ameutia) *),
Unter dem Namen der Verwirrtheit (Amentia) hat Meynert
eine Krankheitsform beschrieben, die hauptsächlich durch das Auf-
treten einer leichteren oder tieferen Bewusstseinstrübung mit mannig-
fachen Reizerscheinungen auf sensorischem und motorischem Ge-
biete gekennzeichnet ist. In Folge einer wesentlich symptomatischen
Auffassung des Krankheitsbildes finden sich in demselben eine Reihe
von Zuständen vereinigt, die meiner Ueberzeugung nach durchaus
*) Meynert, Jahrb. f. Psychiatrie, 1881; Klinische Vorlesungen über Psy-
chiatrie, S. 33 ff; Mayser, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XL1I, 1; Wille,
Archiv f. Psychiatrie, XIX, 2; Chaslin, la confusion mentale primitive. 1895;
Poulsen, Studier over primaer idiopathisk amentia. 1896.
IT. Bas Erschöpfiingsirresein.
38
von einander unterschieden werden sollten, ausser dem soeben be-
schriebenen Collapsdelirium z. B. gewisse epileptische und perio-
dische Geistesstörungen. Es scheint mir daher zweckmässiger, die
Bezeichnung der Amentia nur für den eigentlichen Kern der Mey-
nert’schen Beobachtungen festzuhalten, für diejenigen Fälle, bei
welchen sich in Folge einer greifbaren äusseren Schädlich-
keit acut ein Zustand traumhafter Verworrenheit, illu-
sionärer oder hallucinatorischer Verfälschung der Wahr-
nehmung und motorischer Erregung entwickelt, der bei günsti-
gem Verlaufe frühestens nach 2 — 3 Monaten zur Genesung führt.
Vielleicht können wir diese Krankheitsgruppe geradezu als ein ver-
längertes Collapsdelirium bezeichnen. Sie deckt sich zum grossen
Theile mit dem von Fiirstner beschriebenen „hallucinatorischen
Irresein der Wöchnerinnen“.
Den Beginn der Krankheit bilden gewöhnlich Schlaflosigkeit und
innere Unruhe. Die Kranken fühlen sich beängstigt, aufgeregt, ver-
gesslich, haben Todesahnungen, können ihre Gedanken nicht mehr
recht sammeln und klagen über Benommenheit und Verwirrtheit
im Kopfe. Im Laufe weniger Tage steigert sich die Störung rasch
bis zu völliger Unfähigkeit, sich in der Umgebung und in den Er-
eignissen zurechtzufinden. Alles erscheint verändert; die Personen
werden verkannt; vereinzelte oder zahlreichere Hallucinationen
stellen sich auf verschiedenen Sinnesgebieten ein, um ebenso wie die
verfälschten wirklichen Eindrücke zu traumhaft verworrenen, wider-
spruchsvollen Wahnideen verarbeitet zu werden. Die Kranken sehen
Gesichter in der Luft, den ewigen Juden, den Teufel im Ofen,
fliegende Vögel, wilde Thiere unter dem Bett, zwei Gehängte am
Fenster; sie werden verspottet, hören Vorwürfe, Drohungen, Ver-
heissungen. Man ruft sie; es wird ein Lied gesungen, „als ob es
keinen Gott mehr gäbe“. Alles ist. todt zu Hause; eine Schlacht ist
geschlagen durch ihre Schuld; das Gottesgericht wird abgehalten;
sie müssen den Doppelkampf in Gethsemane durchmachen. Es
giebt Anfechtungen in der Luft mit Spiegeln und Magnetismus,
Verschwörungen, Schlangen und Geister; der Teufel kommt in
dreierlei Gestalt, Sie fürchten, vergiftet, todtgescliossen, gesotten und
gebraten, im Keller hingerichtet zu werden, da sie „der schrecklichste
aller Drachen“ sind; sie sind schon gestorben; der Todtenwagen
fährt schon draussen.
Acute Verwirrtheit.
39
In einzelnen Fällen überwiegen Grössenideen: die Kranken sind
hohe Personen, sind im Himmel gewesen, haben den Heiland ge-
sehen, reisen nach Amerika. Nicht selten gerathen die Kranken
dabei in ein eigentümlich deliriöses Fabuliren. Die Auffassung der
wirklichen Umgebung ist stets eine sehr unvollkommene. Die
Kranken sind zerstreut, schwer zu fixiren, wissen nicht, wo sie sich
befinden, verkennen die Personen, meist ohne jede Rücksicht auf die
Aehnlichkeit, halten aber an den einmal gemachten falschen Be-
zeichnungen oft längere Zeit hindurch fest.
Dabei ist die Aufmerksamkeit der Kranken auf die Um-
gebung gerichtet; sie bemühen sich, aufzufassen und zu- begreifen,
was um sie herum vorgeht. Fast immer gelingt es, durch vorge-
haltene Gegenstände, Geberden, zugerufene Worte den Gedanken-
gang in bestimmte Richtung zu lenken. Um so auffallender ist
aber regelmässig die Unfähigkeit, auch nur die einfachsten Vorgänge
richtig zu verstehen. Manchen derartigen Kranken erscheint alles
falsch, verwechselt, verdreht. Sie werden mit falschen Thermometern
gemessen; es sind „falsche Zeitungen“, die man ihnen giebt; es ist
„immer alles anders“; sie sind an einen „ganz verkehrten Ort“ ge-
rathen, „gehören gar nicht hierher“, „sind gar nicht der Richtige“
und wissen nicht, „was das alles bedeuten soll“. Die alltäglichsten
Dinge gewinnen auf diese Weise für den Kranken den Anschein
des Rätselhaften, Unverständlichen und Unheimlichen; er fühlt sich
ihnen gegenüber rathlos, was sich meist in seinem ganzen Verhalten
sehr deutlich ausdrückt. Es werden immer so die Thiiren auf- und
zugemacht; da wird ein Packet auf den Tisch gelegt, und dann
nickt Einer mit dem Kopfe; bald heisst es so, bald heisst es so; da
sind mit einem Mal so viele Frauen — warum stellen die sich Alle
so? Dabei äussert sich gewöhnlich ein deutliches Gefühl dieser
Unfähigkeit, zu verstehen; der Kranke klagt, dass er nicht recht
denken könne, dass man ihn „ganz irre“ mache, wünscht sich leb-
haft fort, damit er endlich aus dieser Verwirrung herauskomme.
Diese letzteren Fälle, in denen die eigentlichen Sinnestäuschungen
gänzlich hinter der Auffassungsstörung zurücktreten, sind es, die ich
früher als „asthenische Verwirrtheit“ der hallucinatorischen Form
gegenübergestellt habe. Die weitere Erfahrung hat mir indessen
gezeigt, dass die beiden Krankheitsbilder zweckmässiger unter ge-
meinsamer Bezeichnung zusammengefasst werden.
40
II. Das Ei'scliöpfungßirresein.
Offenbar haben wir es mit einer schweren Denkstörung zu
thun. Dieselbetritt sehr deutlich auch in der Verworrenheit des
Gedankengangcs hervor, die der Psychose den Namen gegeben
hat. Die Kranken sind unfähig, eineErzählung zu Ende zu
führen, weil sich immer wieder andere Vorstellungen dazwischen
schieben. Zufällig aufgefasste AVorte oder Geräusche flechten sie
sofort in ihre Reden ein. Bisweilen lösen sich die Aeusserungen
der Kranken in einzelne abgerissene und zusammenhangslose AVorte
auf. Vielfach treten dabei AVortanklänge und Reime in den Vorder-
grund. Ein Beispiel giebt die folgende Nachschrift:
„Sie brauchen keine goldene Brille, Silber, Edelsteine — und hat so oft in das
Meer der Ewigkeit gesenkt — und Alle wollen verurtbeilt werden — und ich soll mich
meiner ersten Eltern nicht schämen — und ich habe doch einen Lorbeerkranz ver-
dient, aber ich habe ihn noch nicht Angesichts des Herrn erhalten, und diese
Fahnenweihe (sieht draussen die Fahnen von Kaisers Geburtstag) war es doch
nicht, wo ich vor meinen Schulkindern — ich will aber doch den Sieg erlangen
und richtige Fahnenweih mitfeiern und für ganz Deutschland eine Fahne weihen,
nicht eher, bis ich meine Fahne sehe, die mir gehört in Richtigkeit. — Diese richtige
Fahne habe ich weder Blutvergiessen noch Unschuld, wohin Alle noch zu gelangen
wünschten, nicht eher bis sie die richtige Fahne sehen; sie ist nicht gold, nicht
rotb, nicht schwarz, nicht gelb wie die Falschheit — zu viel Falschheit treiben
die Kindermädchen und schütten Einem Gift ins Essen, damit die Todten wieder
lebendig werden.“
Neben den Zeichen von Ideenflucht und Ablenkbarkeit macht
sieb das Kleben an einzelnen Abstellungen geltend, ferner völlige
Zusammenhangslosigkeit, unklare Abfolgungsideen und das Ge-
fühl, dass es „nicht richtig“ ist.. Das Bewusstsein ist traum-
haft getrübt, die Ordnung der Eindrücke und Abstellungen unge-
mein erschwert. Am auffallendsten treten diese Erscheinungen in
den Zeiten hervor, in denen die Kranken ruhig sind. Die tiefe Ab-
wirrtheit bei völlig ruhiger, gleichmüthiger Stimmung bietet ein sehr
eigenartiges Bild.
Die Stimmung ist in der Amentia eine sehr verschiedene. Bis-
weilen überwiegt dauernd die freudige Gehobenheit, häufiger eine
gewisse Depression. Fast immer findet sich ein deutlicher AVechsel
des Zustandes: kurze Zeiten unvermittelter Heiterkeit mit geschlecht-
licher Erregung, Lachen und Singen oder Ausbrüche zorniger Ge-
reiztheit entwickeln sich auf einer Grundlage leichten ängstlichen
Unbehagens und Misstrauens. Zeitweise treten auch Anzeichen von
Acute Verwirrtheit.
41
Stumpfheit oder von inneren Spannungszuständen mit heftiger Auf-
regung, Schreien, Weinen, Schimpfen hervor.
Im Benehmen der Kranken macht sich ein mehr oder weniger
ausgeprägter Bewegungsdrang geltend. Sic sind unruhig, bleiben nicht
im Bette, machen Fluchtversuche, entkleiden sich, zerreissen, knoten
die Betttücher zusammen, trommeln, klappen, klettern, greifen nach
glänzenden Gegenständen, klammern sich an. Sie singen, schwatzen,
predigen, verdrehen in kindischer Weise die Worte; zeitweise werden
sie ärgerlich, schlagen, stossen und spucken, werfen das Essen ins
Zimmer, bringen verwirrte Schimpfereien vor. Ihre Handlungen
werden nicht sehr schnell, ohne grossen Nachdruck, planlos, zu-
sammenhangslos ausgeführt; die Erregung tritt mehr anfallsweise
auf, während dazwischen vollkommene Beruhigung vorhanden sein
kann. Der Gesichtsausdruck ist abwesend, verständnislos.
Der Schlaf der Kranken ist stets sehr gestört; nicht selten
pflegt sich gerade in der Nacht grössere Unruhe einzustellen. Die
Nahrungsaufnahme ist von Anfang an gering; zeitweise kommt
es wegen der verwirrten Unruhe und wegen des ängstlichen Miss-
trauens der Kranken zu völliger Nahrungsverweigerung. Das Körper-
gewicht sinkt daher beträchtlich; gleichwol bleibt der Ernährungs-
zustand meist ein bessere]', als im Collapsdelirium. Die Reflexe sind
häufig erhöht, der Puls verlangsamt, die Temperatur niedrig normal;
vielfach besteht Unreinlichkeit.
Die volle Höhe der Erkrankung wird gewöhnlich schon inner-
halb der ersten zwei Wochen erreicht. Der weitere Verlauf ist
regelmässig ein eigenthümlich schwankender. Die stürmischen Er-
scheinungen lassen im ganzen allmählich nach; die Kranken werden
etwas zusammenhängender in Gedanken und Reden, um vorüber-
gehend doch wieder völlig desorientirt und sehr unruhig zu sein.
Nicht selten kommt es schon im Beginne der Krankheit zu kurzen,
ganz tiefen Nachlässen, in denen für Stunden und selbst Tage
vollständige Klarheit, Einsicht und Schwinden der Täuschungen be-
obachtet wird. Treten solche Besserungen plötzlich und unver-
mittelt ein, so sind sie nicht von Bestaud. Vielmehr pflegt sich die
wirkliche Genesung fast immer unter ganz langsamer Abnahme
aller Krankheitserscheinungen zu entwickeln. Regelmässig sind die
Kranken schon längere Zeit ruhig, während sie noch immer nicht
recht ihre Gedanken zu sammeln, die Vorgänge in ihrer Um-
4 2 II. Das Erschüjifungsirresein.
gebung zu verstehen, sich in ihrer Lage zurechtzufinden ver-
mögen.
Bei Längerem Sprechen, in Briefen gerathen die Kranken in
Folge ihrer grossen Ermüdbarkeit noch ungemein leicht in die frühere
Verworrenheit hinein, auch wenn sie anfangs völlig klar und zusammen-
hängend gewesen sind. In den leichtesten, häufigeren Fällen wird
ausserdem der Eintritt völliger Besonnenheit vielfach noch kürzere Zeit,
einige Wochen etwa, überdauert von einer einfachen, leicht manischen
oder depressiven Verstimmung, die sich je nachdem in Geschäftig-
keit, vielem Sprechen, gehobenem Selbstgefühl oder in Misstrauen.
Kleinmüthigkeit, Aengstlichkeit, Todesgedanken, vielleicht auch in
grosser Reizbarkeit äussert. Die Gesammtdauer der Krankheit pflegt
hier 3 — 4 Monate nicht zu überschreiten.
Bei schwererer Störung werden die Kranken zwar auch nach
einigen Monaten klar, aber einzelne Sinnestäuschungen dauern noch
längere Zeit hindurch fort, ohne indessen Irgendwie wahnhaft ver-
arbeitet zu werden. Die Kranken hören Zurufe, vernehmen im
Zwitschern der Vögel, in entferntem Pfeifen gelegentlich eine Auf-
forderung oder Drohung. Ganz vorübergehend taucht auch wol ein-
mal eine unsinnige Grössen- oder Verfolgungsidee auf, um sehr bald
wieder vergessen zu werden. Dabei besteht ein eigentümlich nör-
gelndes, reizbares, unzufriedenes, auch wol hochfahrendes und ge-
spreiztes Wesen. Die Anstalt ist ein Gefängniss, in dem sich die
Kranken widerrechtlich zurückgehalten glauben. Sie sind gar nicht
krank, auch nicht krank gewesen, nur etwas aufgeregt über dio
schlechte Behandlung und das miserable Essen. Alles ist nicht gut
genug für sie; man soll sie nur nach Hause lassen; sie seien lange
genug da. Namentlich zur Zeit der Menses können sich noch
stärkere Erregungen einstellen. Ganz allmählich verlieren sich auch
diese Krankheitserscheinungen. Die Täuschungen und Wahnideen
verschwinden ganz; die Kranken werden freundlicher, zugänglicher
und etwas einsichtiger, aber in ihrer geringen gemütlichen Wider-
standsfähigkeit und einem gewissen Mangel an klarem Verständnisse
ihrer Krankheit erkennt man deutlich, dass eine dauernde psychische
Schwäche zurückgeblieben ist. Bis zur Ausbildung eines einigermassen
feststehenden Zustandes können hier viele Monate, selbst Jahr und
Tag vergehen; auch schwere Rückfälle nach gemütlichen Erregungen
oder körperlichen Schädigungen werden beobachtet.
Acute Verwirrtheit.
43
Der Abschluss des Krankheitsvorganges wird durch das An-
steigen des Körpergewichtes angezeigt, welches in leichteren Fällen
sehr rasch, bei dem letzterwähnten Ausgange dagegen langsam und
mit vielen Schwankungen zu erfolgen pflegt. Die beigefügte Curve TT
zeigt einen über 10 ’/a Monate sich erstreckenden Krankheitsverlauf
mit mehrfachen Verschlechterungen und endlicher Genesung.
Der Ausgang in Tod ist bei der Amentia nicht gerade häufig;
doch kann bei sehr hochgradiger Erregung im Beginne oder bei
besonders ungünstigem Körperzustande (Herzfehler, Phthise, Sepsis)
ein Collaps erfolgen ; ausserdem bleibt natürlich die Selbstmordgefahr
immerhin zu beachten.
Ursachen der Amentia sind erschöpfende Einflüsse, nament-
lich das Wochenbett, ferner acute Krankheiten (Rheumatismus, Ery-
sipel, Typhus), Blutverluste, vielleicht auch schwere körperliche Ueber-
anstrengung, Nachtwachen. Tm ganzen bat es den Anschein, als ob
hier gegenüber dem Collapsdelirium die langsamer einwirkenden,
den Boden erst allmählich vorbe-
120
reitenden Krankheitsursachen iiber-
wiegen. Dem entsprechend spielt auch
die erbliche Veranlagung hier an- 110
scheinend eine etwas grössere Rolle,
als dort. Die letzte Gelegenheits- m
Ursache zum Ausbruche der Stö-
rung giebt nicht selten eine heftige
Gemütsbewegung (König Lear).
Das weibliche Geschlecht ist aus
80
nahe liegenden Gründen weit
stärker vertreten als das männ-
liche.
Die Diagnose der Amentia wird unter Berücksichtigung dei
ursächlichen Verhältnisse, des acuten Beginnes und der eigenartigen
Krankheitszeichen — Erschwerung der Auffassung trotz vorhandener
Aufmerksamkeit, illusionäre oder hall ucinatori sehe Täuschungen, Ab-
lenkbarkeit, tiefe Denkstörung bis zur Verworrenheit, Ideenflucht,
wechselnde Stimmung, motorische Erregung — meist sehr bald mög-
lich sein. Schwierigkeiten, und zwar erhebliche, entstehen nur
gegenüber der Katatonie und gewissen manischen Erregungszuständen.
Vor allem wird man hier auf den Anschluss der Krankheit an eine
Curve II.
Amontia iin Wochenbett.
44
II. Das Erschöpfungsirresein.
erschöpfende Ursache Worth legen müssen. Das klinische Bild
selbst lässt sich von der Manie abgrenzen durch das entschiedene
Missverhältniss zwischen der schweren Störung der Auflassung und
des Verstandes einerseits, der psychischen Erregung andererseits,
wie es bei der Amentia noch bis weit in die Genesungszeit hinein
fortzudauern pflegt. Die Kranken sind noch verworren und geistig
unfähig, wenn die Erregung längst geschwunden ist, während manische
Kranke auch bei grosser Unruhe ziemlich gut aufzufassen und ihre
Umgebung zu verstehen pflegen. Zudem spielt sich die Erregung
in der Amentia weit langsamer, planloser ab, als der Bewegungs-
drang der Manie; die Kranken sprechen und handeln langsamer,
weniger überstürzt, und sind dazwischen oft ganz ruhig, aber trotz-
dem unklar, rathlos, verworren. Gegenüber der Katatonie ist nament-
lich auf die schwere Störung der Auffassung und Orientirung bei
erhaltener Aufmerksamkeit hinzuweisen. Katatoniker pflegen auch in
der stärksten Erregung durch ihr genaues Verständniss der Um-
gebung, ihre richtige Zeitrechnung, ihre Personenkenntniss, ihr gutes
Gedächtniss für die Vorgänge der letzten Zeit zu überraschen. Da-
gegen vermögen die Kranken mit Amentia sich selbst in der Ruhe,
wenn wir von den Nachlässen im Anfänge absehen, weder zeitlich
noch örtlich zu orientiren, haben keine Ahnung von den Personen
in der Umgebung, vergessen rasch wieder, was sich zuträgt Dazu
kommt das Fehlen ausgeprägt katatonischer Krankheitszeichen. Zwar
kann Katalepsie und in Andeutungen wol auch diese oder jene
andere Form der Befehl sau tomatie vorhanden sein, aber echter Ne-
gativismus, Verbigeration, Mutacismus, Stellungsstereotypen. Manieren
und Schrullen dürften unter allen Umständen gegen Amentia sprechen.
Di der hier gegebenen Umgrenzung ist die Amentia eine ziem-
lich seltene Krankheit. Unter etwa 1500 Kranken der letzten Jahre
möchte ich mit Bestimmtheit nur 6, also noch nicht '/« °/o; m dieser
Krankheitsform rechnen. Die übergrosse Mehrzahl der Fälle, die
mit dem Namen der hallucinatorischcn Verwirrtheit belegt zu werden
pflegen, gehört nach meiner Ueberzeugung in Wirklichkeit dem
manisch-depressiven oder katatonischen Irresein an.
Schon aus diesem Grunde kann ich mich nicht zu einer Be-
handlung der Amentia mit Bakteriengiften entsehliessen, wie sie
neuerdings von Binswangcr*) vorgeschlagen wurde. Vielmehr
*) Bi us wanger, Berliner klinische Wochenschrift, 1897, 23.
Chronische nervöse Erschöpfung.
45
glaube ich, dass wir einfach diejenigen Anzeigen zu erfüllen haben,
die sich aus der bestehenden Erschöpfung unmittelbar ergehen.
Beruhigung wird durch Bettlagerung oder Dauerbäder erreicht;
auch der Alkohol thut oft sehr gute Dienste. Gelegentliche Gaben
von Hypnoticis (Brom, Trional, Paraldehyd) sind hier bei grosser,
unbesiegbarer Unruhe eher einmal gestattet. Die Ernährung er-
fordert sorgfältige Berücksichtigung. Bei drohender Erschöpfung
zögere man nicht, zur Sonde zu greifen, um eine reichliche Nahrungs-
zufuhr zu erreichen. Wenn der Magen gut ist, empfiehlt es sich
auch hier, Ueberernährung anzustreben, die nicht selten Beruhigung
bringt. Bei drohendem Collapse sind Kochsalzklystiere oder In-
fusionen am Platze. Wegen der grossen Neigung zu Rückfällen
muss man hier den Kranken in der Genesungszeit besonders vor-
sichtig vor Schädigungen, namentlich zu frühzeitiger Entlassung
hüten. Jedenfalls ist ausser völliger, dauernder Rückkehr der
Ruhe, Klarheit und Einsicht immer auch die Wiedererreichung
des gesunden Köpergewichts abzuwarten, bei dem Drängen der
Kranken bisweilen eine unangenehme, aber durchaus nothwendige
Geduldsprobe.
C. Die chronische nervöse Erschöpfung.
Die chronische nervöse Erschöpfung, wie sie im folgenden be-
schrieben werden soll, deckt sich mit denjenigen Zuständen, die man
gewöhnlich mit dem Namen der erworbenen Neurasthenie zu
bezeichnen pflegt. Ohne Zweifel bestehen zwischen dieser Erkrankung
und den psychopathischen Zuständen der angeborenen Neurasthenie
fliessende Uebergänge je nach dem Verhältnisse, in welchem äussere
Ursachen einerseits, krankhafte Veranlagung andererseits an der
Entwicklung des Leidens betheiligt sind. Dennoch habe wol ich
nicht allein die Unklarheit empfunden, welche durch das Zusammen-
werfen so weit auseinanderweichender Krankheitsbilder in die
klinischen Darstellungen der Neurasthenie hineingetragen wird. Ich
habe daher den Versuch gemacht, hier zunächst diejenigen Krankheits-
erscheinungen auszuscheiden, welche auch bei gesunder Veranlagung
durch dauernd einwirkende erschöpfende Ursachen erzeugt werden.
Die gesunde Erfahrung lehrt uns die ersten Anfänge der Er-
4ß
II. Das Erschöpfungsirresein.
Schöpfung in der Reizbarkeitssteigerung kennen, die sich bei
fortgesetzter Arbeit nach Ueberwindung des Müdigkeitsgefühls ein-
stellt. Wir sind bekanntlich im Stande, jenes Warnungszeichen
durch eine Willensanstrengung zu unterdrücken; unter dem Einflüsse
gemüthlicher Erregung bleibt es von selbst aus. In beiden Fällen
jedoch gestaltet sich das Verhältniss zwischen Verbrauch und Ersatz
rasch immer ungünstiger; die Bedingungen für den Eintritt der Er-
schöpfung bilden sich heraus. Leider fehlt es uns noch an Ver-
suchen über die Wirkung dauernder Ueberanstrengung auf das
Seelenleben. Wir wissen jedoch aus vielfacher Erfahrung, dass bei
fortgesetzt ungenügendem Ausgleiche der Ermüdungswirkungen zur
nächst die Fähigkeit zu gleichmässiger Anspannung der Aufmerksam-
keit abnimmt. Der Kranke vermag nicht mehr, klar und scharf zu
denken, längere Zeit hindurch bei demselben Gegenstände zu ver-
weilen, sondern er wird leicht durch irgend welche zufälligen Ein-
flüsse nach dieser oder jener Richtung hin abgezogen; er wird un-
aufmerksam, zerstreut, vergesslich, namentlich in Bezug auf Namen
und Zahlen. Seine Ermüdbarkeit steigert sich; nach immer
kürzerer Arbeitszeit stellt sich eine rasch stärker anwachsende Er-
schwerung der geistigen Thätigkeit, ein Gefühl der Ermattung
ein, das zu baldigem Aufhören zwingt. Zugleich verliert der Krauke
die Freude an der gewohnten Beschäftigung. Nur noch mit ganz
unverhältnissmässiger Anstrengung vermag er die Aufgaben zu lösen,
die ihm bis dahin nicht die geringste Schwierigkeit verursachten;
er muss sich mit Gewalt zwingen zu der Arbeit, die er sonst mit
Lust und Befriedigung verrichtete.
Unter dem Drucke dieser Veränderungen, des immer deutlicher
hervortretenden Gefühls der mangelnden Leistungsfähigkeit, pflegt
sehr bald die Stimmung in erheblichem Maasse zu leiden. Der
Kranke wird aufgeregt, missmuthig, verdriesslich, reizbar, heftig und
ungerecht; er fühlt sich unbehaglich und unbefriedigt von seinem
Berufe und seinen Lebensverhältnissen. Lächerlich kleine Anlässe,
eine Unart seiner Kinder, kleine geschäftliche Unannehmlichkeiten,
die ihn in gesunden Tagen unberührt gelassen hätten, vermögen
ihm für Stunden und Tage die Laune zu verderben und ihn zu
lieftigkeitsausbriichen hinzureissen, die er später selber bedauert.
ln anderen Fällen dagegen bemächtigt sich des Kranken das Gefühl
einer unüberwindlichen Schlaffheit und Müdigkeit; er verliert die
Chronische nervöse Erschöpfung. 47
Freude an seinen liebsten Vergnügungen und vermag sich zu
keinem Entschlüsse mehr aufzuraffen, da ihm alles gleichgültig ge-
worden ist.
Hand in Hand mit diesen psychischen Veränderungen gehen
stets auch eine Reihe von körperlichen Krankheitszeichen.
Zunächst und am stärksten wird der Kopf in Mitleidenschaft ge-
zogen. Am häufigsten ist es das Gefühl eines dumpfen, allgemeinen
Druckes, welches dem Kranken die Arbeitsfreudigkeit raubt und in
der Regel bei irgend einer Anstrengung sich rasch bis zum Uner-
träglichen steigert. Die Localisation dieser Empfindung ist eine ver-
schiedene. Am meisten scheint dabei die Stirngegend betheiligt zu
sein, ferner die Scheitelhöhe, seltener der Hinterkopf; bisweilen haben
die Kranken das Gefühl eines festen Reifens, der sich rings um den
Kopf spannt, oder des Zusammenpressens von beiden Seiten her,
In anderen Fällen sind es wirkliche Schmerzen, über welche die
Kranken zu klagen haben, bisweilen halbseitiger (Migräne), häufiger
doppelseitiger Natur. Namentlich die Augengegend und das Hinter-
haupt sind der Lieblingssitz solcher schmerzhaften Empfindungen;
häufig erweisen sich dann die Austrittsstellen der Trigeminusäste
und des Occipitalis major als auf Druck empfindlich. Nicht selten
wird von den Kranken auch das Auftreten leichter, rasch vorüber-
gehender Schwindelanfälle oder Beängstigungen berichtet. In den
Augen stellen sich bei geringen Anstrengungen lebhafte Schmerzen.
Verschwimmen der Eindrücke und mouches volantes ein (neurasthe-
nische Asthenopie).
Sehr häufig ist das Gefühl allgemeiner körperlicher Schwäche
und Hinfälligkeit. Der Kranke fühlt sich ermüdet und angestrengt,
wenn er einen kurzen Spaziergang gemacht, ein Schwimmbad ge-
nommen hat oder einige Treppen gestiegen ist. Eine wirkliche
Abnahme der Muskelkraft lässt sich jedoch dabei gewöhnlich nicht
nachweisen; vielmehr scheint es wesentlich der Mangel an Thatkraft
zu sein, welcher den Kranken schon bei geringen Leistungen zu sehr
bedeutenden Anstrengungen zwingt und ihn daher verhältnissmässig
leicht ermüden lässt. Bisweilen werden leichte Zuckungen in ein-
zelnen Muskeln, besonders des Gesichts, von dem Kranken wahr-
genommen, die ihn sehr beunruhigen; auch über erschwertes
Sprechen, leichtes Stottern wird geklagt, namentlich in grösserer
Gesellschaft oder bei besonderer Gelegenheit. Bei der Untersuchung
48
II. Das ErfichöpfungsirreBoin.
pflegt der Bewegungsapparat keinerlei wesentliche Störungen aufzu-
weisen; nur lebhaftes Zittern der Lider bei kräftigem Augenschluss
sowie starke fibrilläre Zuckungen in der Zunge sieht man sehr häufig.
Weiterhin können sich allerlei schmerzhafte und unangenehme Em-
pfindungen mannigfachsten Inhalts und Sitzes einstellen. Längs der
Wirbelsäule werden rieselnde, schauernde, ziehende Paraesthesien
wahrgenommen; in den Beinen, den Hoden, den Armen stellen sich
ausstrahlende oder zuckende Schmerzen, das Gefühl von Unruhe,
Brennen, Jucken, Ameisenkriechen, Pelzigwerden, Yertauben ein.
Objectiv sind Empfindungsstörungen nicht nachzuweisen; die Pieflexe
erscheinen oft erhöht.
Seitens der Kreislaufsorgane sind es namentlich das Herz-
klopfen, bisweilen auch noch andersartige, nagende oder brennende
Empfindungen am Herzen, welche den Kranken ängstigen. Nicht
selten macht sich ihm auch das Gefühl des Klopfens und Pulsirens
im Kopfe und in anderen Theilen des Körpers, fliegende Hitze,
leichtes Erröthen, abnorme Trockenheit der Haut oder übermässige
Schweissabsonderung unangenehm bemerkbar. Die Zahl der Pulse
zeigt grosse Schwankungen, auch wol leichte Unregelmässigkeiten,
wird durch Arbeit und Gemüthsbewegungen stark beeinflusst
Auf dem Gebiete der Geschlechtsfunctionen wird erhöhte Erregbar-
keit, Neigung zu häufigen Pollutionen oder psychisch bedingte Im-
potenz beobachtet. Der Appetit ist meist gering, der Leib aufge-
trieben, die Zunge belegt, der Stuhlgang träge und nur durch Nach-
hülfe zu erreichen; seltener besteht Neigung zu plötzlichen Durch-
fällen. Bei leerem Magen stellen sich peinliche, nagende Empfindungen
ein, die durch Essen sich rasch beseitigen lassen (Heisshunger). Der
Schlaf ist fast immer schlecht; die Kranken liegen sehr lange wach,
bevor sie einschlafen, oder wachen unter plötzlichem Zusammen-
schrecken bald wieder auf. Sie träumen viel und lebhaft und sind
am Morgen nicht erquickt, sondern unsäglich müde und abgespannt.
Erst im Laufe des Tages pflegt sich dann wenigstens ein Theil ihrer
früheren Regsamkeit wiederherzustellen. In anderen Fällen besteht
dauernd eine unüberwindliche Schläfrigkeit, die den Kranken bei
der geringsten Anstrengung, selbst in grosser Gesellschaft, im Theater
zum Einschlafen bringt.
Regelmässig stellt sich im Anschlüsse an die geschilderten,
mehr oder weniger entwickelten Störungen ein ausgeprägtes Krank-
Chronische nervöse Erschöpfung.
49
heitsgefühl ein. Der Kranke empfindet die Veränderung, welche
sich mit ihm vollzogen hat, und Avenn er auch, namentlich in Augen-
blicken missmuthiger Erregung, alle möglichen äusseren Umstände
dafür verantwortlich macht, so ist er doch darüber vollständig klar,
dass sein Zustand als ein ungesunder betrachtet werden müsse.
Leicht bemächtigt sich seiner die bange Befürchtung, dass er im
Beginne eines schweren, verhängnissvollen Leidens stehe, und dem
befangenen Blicke bieten sich auch Anhaltspunkte genug zur Be-
gründung dieser Anschauung dar. Auf diese Weise entwickelt sich
sehr häufig jene Störung, die man früher als leichteste Form psy-
chischer Erkrankung mit dem Namen der Hypochondrie be-
zeichnete, Aväkrend man sie jetzt als eine Theilerscheinung des
neurasthenischen Irreseins kennen gelernt hat. Je nach dem
Bildungsgänge und den Anschauungen des Kranken gestalten sich
natürlich die hypochondrischen Vorstellungen verschieden. Meist
ist es dasjenige Leiden, welches dem Kranken am geläufigsten ist
und am schrecklichsten vorschwebt, dessen Zeichen er an sich zu
entdecken glaubt. Ein chronischer Rackenkatarrh mit starkem
Auswurf erscheint ihm als die beginnende Sclnvindsuckt; einzelne
Akneknötchen lassen ihn den Ausbruch der Syphilis befürchten, der
Bodensatz im Nachtgeschirr eine schAvere Nierenerkrankung, das
Herzklopfen beim Treppensteigen und das Pulsiren einen Herzfehler.
Die Vergesslichkeit bedeutet dem Mediciner das Heran nahen der
Paralyse, der Kopfdruck den Hirntumor, die Paraesthesien in den
Beinen die Tabes.
In der Regel Averden diese Befürchtungen, anfangs wenigstens,
von dem Kranken als unsinnig zurückgewiesen, aber gerade hier,
wo es sich um das eigene Wohl und Wehe handelt, geht am
leichtesten der kritische Widerstand gegenüber der Krankheit ver-
loren. Die hypochondrischen Vorstellungen können daher unter
Umständen den Kranken in eine so hoffnungslose, verzweiflungsvolle
Stimmung versetzen, dass er sein Testament macht, sein Lebensglück
für unwiederbringlich verloren hält, vielleicht sogar sich mit Selbst-
mordgedanken trägt.
Die EntAvicklung der nervösen Erschöpfung ist in der Regel
eine allmähliche, doch scheint es auch vorzukommen, dass im An-
schlüsse an rasch eintretende und heftig wirkende Schädlichkeiten
(Gemüthsbewegungen, acute Krankheiten, besonders Influenza) die
Kraopelin, Psychiatrie. G. Aull. II. Baiul. 4
50
II. Das Erschöpf ungfiirreseni.
ganzen Erscheinungen sich ziemlich plötzlich einstellen. Dabei ist
allerdings die Frage offen, ob wir derartige Zustände mit der hier
besprochenen Erkrankung zusammenwerfen dürfen. Für die nach
Schreck beobachteten Fälle glaube ich die Frage ohne weiteres ver-
neinen zu müssen. Aber auch die bekannte nervöse Schwäche in
der Genesung nach schweren Krankheiten ist wol nur zum Theile
auf einfache Erschöpfung zurückzuführen. Im Wochenbette, nach
Blutungen, Operationen kann man sich damit zufrieden geben; bei
allen Infectionskrankheiten dagegen werden wir immer mit der Mög-
lichkeit von Giftwirkungen und -nachwirkungen zu rechnen haben.
Die „Neurasthenie“ im Gefolge chronischer Vergiftungen hat mit der
nervösen Erschöpfung nur eine ganz äusserliche Aehnlichkeit.
Der Verlauf der Krankheit vollzieht sich fast immer in viel-
fachen Schwankungen. Abgesehen von den häufigen Besserungen
gegen Abend, können sich die Kranken bei besonderem äusserem An-
lasse gewöhnlich soweit „zusammennehmen“, dass die Erscheinungen
vorübergehend in den Hintergrund treten, um allerdings mit dem
Nachlasse der Anspannung gewöhnlich in um so grösserer Heftig-
keit zurückzukehren. Wir sehen in diesen Erfahrungen nur Er-
weiterungen der Thatsachen, die uns der psychologische Versuch
über die Wirkung der Anregung und gemiithlicher Schwankungen
auf die Beseitigung der Müdigkeit liefert.
Die leichtesten Formen der nervösen Erschöpfung sind überaus
häufige Erkrankungen. Trotzdem wurde eine eingehendere Kennt-
niss des ganzen Krankheitsbildes erst durch Beard*) im Jahre 1S80
vermittelt, welcher in dem rastlosen Treiben des amerikanischen
Lebens ganz besonders häufig Gelegenheit hatte, die Krankheit zu
beobachten. Ohne Zweifel liegen wesentliche Entstehungsbedingungen
des Leidens in einer Ueberanstrengung des Gehirns. Namentlich
scheint es die mit lebhafter gemüthlicher Erregung, mit grosser Ver-
*) Die Nervenschwäche, ihro Symptome, Natur, Folgezustände und Behand-
lung, deutsch von Neisser, 2. Aufl. 1883; v. Ziemssen, Klinische Vorträge IV, 2.
1888; Bouveret, Die Neurasthenie, deutsch von Dornhlüth 1893; F. C.Müller,
Handbuch der Neurasthenie. 1893; Löwenfeld, Pathologie und Therapie der
Neurasthenie und Hysterie. 1893; Möbius, Neurologische Beiträge, LI, 8. 62. 1864;
Levillain, Essais de neurologie clinique, Neurasthenie de Beard et etats neur-
astheniformcs. 1896. Vergl. auch den späteren Abschnitt über das Entartungs-
Chronische nervöse Erschöpfung.
51
antwortung verbundene Tbätigkeit zu sein, welche das Zustande-
kommen der chronischen Erschöpfung in besonderem Maasse be-
günstigt. Der stille Gelehrte ist ihr in weit geringerem Grade aus-
gesetzt, als der Kaufmann, der Offizier im Kriege, der Politiker, der
beschäftigte Arzt. Es liegt daher in der Natur der Sache, dass vor-
zugsweise die begabteren, lebhafteren und gebildeteren Menschen den
Gefahren der Neurasthenie zugänglich sind. Vielleicht ist dabei der
Umstand nicht ohne Bedeutung, dass anscheinend grosse Uebungs-
fähigkeit sich häufig mit grosser Ermüdbarkeit verbindet. Frauen
mit ihrer grösseren gemüthlichen Erregbarkeit und geringeren Wider-
standsfähigkeit sind etwas stärker gefährdet, als das männliche Ge-
schlecht, namentlich überlastete Mütter, Lehrerinnen, Kranken-
pflegerinnen. Andererseits können unzweifelhaft auch regelmässige
körperliche Ueberanstrengungen, wie sie im Kriege, in Manövern,
aber auch bei übertriebenen Leibesübungen (Bergsteigen, Rudern,
Radfahren) Vorkommen, das Bild der nervösen Erschöpfung erzeugen.
Weiterhin ist natürlich die allgemeine Lebensweise und die Er-
nährung von grosser Bedeutung. Ein überlastetes, unregelmässiges
und ausschweifendes Leben ohne die ausreichende Erholung durch
Ruhe und Schlaf führt auch bei weit geringeren Leistlingen viel
rascher zur Neurasthenie, als der geregeltere Tageslauf etwa des Be-
amten und Lehrers.
Auf der anderen Seite ist es unzweifelhaft, dass die Erschöpfung
natürlich um so leichter eintritt, je geringer die ursprüngliche
Widerstandsfähigkeit des Einzelnen ist. Von jenen beneidenswerthen
Naturen, deren Nervensystem mit staunenswerther Geschwindigkeit
und Spannkraft alle Schädigungen sofort wieder ausgleicht, die ihm
durch die unermüdliche Lebensarbeit zugefügt werden, führt eine
stetige Reihe von Uebergängen hinüber zu solchen, die sich den
Anforderungen des Lebens schon nach sehr kurzer Zeit nicht
mehr gewachsen fühlen, deren Arbeitskraft schon bei mässigen
Leistungen sich rasch und vollständig erschöpft, und denen daher
jede ernstere Anstrengung von vornherein durch neurasthenische
Nachwehen verbittert wird. Je entscheidender indessen bei dem
Zustandekommen der Erschöpfung die persönliche Anlage mitgewirkt
hat, desto mehr mischen sich in das Krankheitsbild die Züge des
Entartungsirreseins, dessen wir späterhin eingehender zu gedenken
haben werden.
4*
52
II. Das Erschöpfungsirresein,
Dass die eigentliche Grundlage der hier besprochenen Erkrankung
eine Erschöpfung bildet, ist wol am folgerichtigsten von Möbius
ausgeführt worden. Er denkt geradezu an eine Art chronischer
Vergiftung durch Ermüdungsstoffe, entsprechend etwa der sich
häufenden Wirkung regelmässigen Alkoholmissbrauches. Demgemäss
sucht er auch die einzelnen Krankheitszeichen in der gesunden Er-
müdung wiederzufinden. Ich halte diese Auffassung für recht frucht-
bar, da sie uns den Weg weist, der aus der jetzigen Unklarheit in
der Lehre von der Neurasthenie herausführt. Gerade darum aber
erscheint mir eine Abtrennung derjenigen Krankheitsbilder, die sich
aus der einfachen Häufung von Ermüdungswirkungen begreifen
lassen, von jenen angezeigt, bei denen die krankhafte Veranlagung,
die angeborene Herabsetzung der nervösen Widerstandsfähigkeit
die wesentlichste Rolle spielt. Das hier abgegrenzte Bild der er-
worbenen Neurasthenie enthält, wie ich glaube, in der That nur
Störungen, welche sich durch den Versuch überall würden wieder
erzeugen lassen; freilich bin ich heute nicht im Stande, den genauen
Beweis dafür zu erbringen. Auch für die hypochondrischen Vor-
stellungen, die Möbius ausnimmt, halte ich einstweilen an der
Entstehung aus der Erschöpfung fest. Sie wachsen, wie mir scheint,
aus der Verstimmung hervor, die sich auch des kräftig veranlagten
Mannes bemächtigt, wenn er abgearbeitet und gehetzt die Abnahme
der Leistungsfähigkeit in der wachsenden Erschwerung seiner Arbeit
empfindet.
Die Prognose der einfachen nervösen Erschöpfung ist als
günstig zu bezeichnen, sofern es gelingt, die Ursachen derselben zu
beseitigen. Die Genesung wird eine um so vollkommenere sein, je
widerstandsfähiger der Kranke vorher war, und je mein- es gelingt,
etwa in seiner Lebensführung liegende Schädlichkeiten zu beseitigen.
Vor allem sind natürlich beide Gesichtspunkte massgebend für die
grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit des Rückfalls; die im
Augenblicke vorhandenen Störungen wird man bei ausreichender
Zeit und sonst günstigen Verhältnissen regelmässig zu beseitigen im
Stande sein.
Die Abgrenzung der nervösen Erschöpfung von manchen
anderen Krankheitsformen ist in prognostischer und therapeutischer
Beziehung von hervorragender Wichtigkeit. Zunächst kommt man
häufig in die Lage, sich darüber Gewissheit verschaffen zu müssen,
Chronische nervöse Erschöpfung.
53
dass die hypochondrischen Befürchtungen des Kranken nicht wirk-
lich begründet sind. Namentlich kann es ernste Schwierigkeiten
bereiten, hinsichtlich der Gefahr einer beginnenden Paralyse ein
endgültiges Urtheil zu gewinnen. "Die grössere Besonnenheit der
Kranken, die klare Auffassung aller Krankheitszeichen, der Mangel
einer greifbaren Gedächtnisstörung trotz ihrer Klagen darüber, das
Fehlen nachweisbarer nervöser Störungen (Pupillenstarre, Sprach-
störung, Analgesie, Anfälle) wird den Arzt über die neurasthenische
Natur des vielleicht sehr verdächtigen Krankheitsbildes aufklären.
Yor allem aber wird er das Lebensalter des Kranken und die Ent-
stehungsgeschichte des Leidens zu beachten haben. Erscheinungen
von „Nervosität“, die ohne bestimmt greifbaren Anlass bei einem
nicht krankhaft veranlagten Manne erstmals in mittleren Jahren auf-
treten, sind fast immer die Einleitung der Paralyse.
Sehr häufig wird auch das depressive Vorstadium anderer
Psychosen mit neurasthenischen Zuständen verwechselt. Indessen
der Erschöpfte ist verstimmt und reizbar, weil er merkt, dass seine
geistige Leistungsfähigkeit gestört ist; seine Stimmung wird freier
und leichter, sobald eine äussere Anregung, eine fröhliche Gesell-
schaft ihn vorübergehend seine Beschwerde vergessen macht, oder
sobald er, von allen Sorgen und Pflichten seines Berufes entlastet,
rückhaltlos Ruhe und Erholung geniessen kann. Dort aber entsteht
das Gefühl der Beängstigimg der Schwere ohne irgend welche klare
Begründung, und es wird durch Zerstreuungs- und Ablenkungs-
versuche nicht nur nicht gemildert, sondern im Gegentheil oft genug
bis zum Unerträglichen gesteigert. Die Yerstandesabnahme und
Verstimmung im Beginne der Dementia praecox ist gegenüber der
nervösen Erschöpfung namentlich durch die gemiithliche Stumpfheit
der Kranken, ihre Gleichgültigkeit im Hinblicke auf die Zukunft,
zuweilen auch durch die Unsinnigkeit der hypochondrischen Klagen
und die Unbelehrbarkeit gekennzeichnet.
Die Behandlung der nervösen Erschöpfung bietet der Thätig-
keit des Arztes ein sehr ausgedehntes und ergiebiges Arbeitsfeld.
Zunächst vermag gerade hier die Vorbeugung ausserordentlich
viel zu leisten. Man hat, nicht ganz mit Unrecht, die Nervosität
als die Krankheit unserer Zeit bezeichnet. In der That liegen in
der raschen Steigerung der Anforderungen, die der hastige Fort-
schritt unserer Culturentwicklung an die geistige, sittliche und körper-
54
II. Das Ersc]K»|ifungsirresein.
liehe Leistungsfähigkeit des Einzelnen stellt, wichtige Ursachen ner-
vöser Ueberreizung. Da wir diese allgemeinen Ursachen nicht be-
seitigen können, so wird es unsere Aufgabe sein müssen, das
kommende Geschlecht widerstandsfähig und tüchtig zu machen und
für den Kampf ums Dasein gehörig auszurüsten. Alle jene früher
geschilderten Bestrebungen, welche darauf hinausgehen, die geistige
Ueberbiirdung der heranwaclisenden Jugend mit todtem Gedächtniss-
krarn zu bekämpfen und der Sorge für die gelehrte Erziehung die-
jenige für die körperliche Ausbildung zur Seite zu setzen, dienen
diesem Zwecke in hervorragendem Maasse. Weiterhin ist auf Fern-
haltung der Jugend von anstrengenden und aufregenden Vergnügungen,
vom Alkoholgenusse, auf Vermeidung von Ausschweifungen, Ein-
haltung einfacher Lebensgewohnheiten ohne Verwöhnung und ohne
Verzärtelung zu achten.
Ganz besondere Aufmerksamkeit aber erfordert die ausreichende
Befriedigung des Schlafbediu-fnisses. Es kann nicht oft genug
wiederholt werden, dass in diesem Punkte sehr bedeutende und
tief begründete Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Menschen
bestehen, die nicht ohne schweren Schaden vernachlässigt werden
dürfen. Gerade in dieser Beziehung wirken so manche unserer so-
genannten Erholungen schädlich, indem sie spätes Aufbleiben und
abendliche geistige Anregung mit sich bringen. Für angestrengt
arbeitende oder sehr erregbare Menschen sind späte Theater- und
Musikaufführungen, Geselligkeit mit Magenüberladung und reich-
lichem Alkoholgenusse recht sichere Mittel, den so nothwendigen
Schlaf empfindlich zu stören. Müdigkeit und Abgespanntheit am
Morgen ist ein Zeichen ungenügenden Schlafes; sie soll daher nicht
durch GewaJtinassregeln, sondern durch frühes Schlafengehen und
durch sorgfältige Beseitigung aller Ursachen bekämpft werden,
welche die Schlaftiefe verringern. Weiterhin aber wird der Haus-
arzt Gelegenheit genug haben, durch eine gesimdheitsgemässe
Regelung der Lebensweise den Gefahren der Uebcranstrengung vor-
zubeugen und namentlich bei den ersten Anzeichen eintretender
Erschöpfung sofort einzugreifen, weil dann in der Regel leicht ein
Erfolg zu erreichen ist, der später nur mit bedeutenden Opfern au
Zeit und Geld erkauft werden kann. Die erste Aufgabe, welche
hier erfüllt werden müsste und doch nur allzuselton in ausreichen-
dem Maasse erfüllt worden kann, ist die Beseitigung aller jener
Chronische nervöse Erschöpfung. 55
schädigenden Einflüsse, welche die Krankheit erzeugten. Regelung
der Lebensweise nach den verschiedensten Richtungen hin, sodann
Entfernung aus der Berufsarbeit, womöglich auch aus den gewohnten
Verhältnissen, Versetzung in eine andere, ruhige und anziehendo
Umgebung wird die wichtigste Vorbedingung einer jeden Behand-
lung bilden müssen. Für leichtere Formen genügt oft schon eine
einfache Sommerfrische, ein Landaufenthalt oder eine behagliche,
keinesfalls ermüdende Reise ins Gebirge oder an die See, um
ein Ausruhen des überreizten Nervensystems und damit das rasche
Schwinden aller der vielfachen körperlichen und psychischen Be-
schwerden herbeizuführen.
Bei längerer Dauer und stärkerer Ausbildung der Störungen
pflegt die Durchführung einer vorzugsweise diätetischen Cur unter
ärztlicher Aufsicht vorzügliche Dienste zu leisten. Allen den zahl-
reichen Nerven- und Wasserheilanstalten strömen immerwährend
in Schaaren derartige Kranke zu. Ausser der Befreiung von den
Geschäften und Plackereien des täglichen Berufes muss hier vor
allem eine einfache, sorgfältig geregelte und gesundheitsgemässe
Lebensweise mit angemessener Vertheilung von Thätigkeit, Ruhe
und Schlaf durchgeführt werden. Die Kranken sollen kräftig und
reichlich, aber ohne Schlemmerei ernährt werden; der gewohnheits-
mässige Genuss von Alkohol, starkem Kaffee oder Thee fällt fort.
Störungen des Appetits, der Verdauung, des Schlafes werden mit den
gebräuchlichen Mitteln, namentlich aber durch regelmässige, nicht
bis zur Ermüdung ausgedehnte Spaziergänge sowie durch ärztlich
überwachte Leibesübungen verschiedener Art bekämpft. Ferner sucht
man durch Wasserbehandlung, durch Gymnastik, Massage und all-
gemeine Earadisation den Kreislauf und den Stoffumsatz soviel wie
möglich zu fördern. Unter dem Einflüsse aller dieser Massregeln
pflegt sich die öfters stark gesunkene Ernährung stetig und beträcht-
lich zu heben. Gleichzeitig bessert sich der Schlaf, die Stimmung
und die Beschäftigungsfähigkeit. Als Arzneimittel zur Bekämpfung
der nervösen Unruhe und zur Erzielung von Schlaf sind mit gutem
Rechte die Bromsalze (3 mal täglich 1 — 2 gr oder eine abendliche
Gabe von 2 — 5 gr) in Gebrauch; nur im Nothfalle wird man vor-
übergehend seine Zuflucht zu den eigentlichen Schlafmitteln nehmen.
Man hüte sich vor dem Morphium!
Eine recht wesentliche Bedeutung hat bei neurasthenischen Zu-
56
II. Das ErHchftpfnngsirresein.
ständen fast immer dio psychische Behandlung. Vielfach kannein
vorsichtiges Suggestiv verfahren den Eintritt gemiithlicher Be-
ruhigung, die Wiederkehr des Schlafes und die Beseitigung mancher
quälender Beschwerden überraschend schnell herbeiführen. Ausser-
dem aber trägt eine aufmerksame, geduldige, aber feste ärztliche
Führung sehr viel dazu bei, dass der Kranke nach und nach sein
stark erschüttertes Selbstvertrauen und die Herrschaft über seinen
Willen wiedergewinnt. Hach dem Verschwinden der eigentlichen
Krankheitszeichen bleibt häufig noch eine Herabsetzung der psychi-
schen Widerstandsfähigkeit bei dem Kranken zurück, welche leicht
zu Rückfällen führt, wenn nicht die Berufsverhältnisse und die
Lebensweise dauernd derart geregelt werden, dass sie sich der
persönlichen Eigenart in geeigneter Weise anpassen. Wer die
Folgen der täglichen Arbeit in einer fortschreitenden Abstumpfung
seiner Leistungsfähigkeit empfindet, sollte daher unbedingt wenigstens
einmal im Jahre für einige Wochen aus dem Joche der gewohnten
Verhältnisse sich herausreissen; nur dann ist er einigermassen
sicher, im Kampfe mit dem Leben nicht immer und immer wieder
zu erliegen.
III. Die Vergiftungen.
Obgleich wir in gewissem Sinne auch die Infeotionen und viel-
leicht sogar die Erschöpfung als Vergiftungen ansehen können, möchte
ich denselben doch als Vergiftungen im engeren Sinne diejenigen
Schädigungen gegenüberstellen, die durch die Einführung be-
stimmter wirksamer Stoffe in unseren Körper zustande kommen.
Sie verhalten sich nach den verschiedensten Richtungen hin wesent-
lich anders, als jene Geistesstörungen, deren giftige Ursache erst im
Körper selbst durch krankhafte Zersetzungen oder die Lebensvorgängo
von Krankheitserregern erzeugt wird. Es wird sich ferner empfehlen,
acute und chronische Vergiftungen auseinanderzuhalten, je nach-
dem die Einfuhr des Giftes nur vorübergehend oder längere Zeit
hindurch erfolgt; freilich werden wir dabei aus praktischen Gründen
die acuten Wirkungen derjenigen Gifte, die häufig gewohnheits-
mässig eingeführt werden, gemeinsam mit den durch sie erzeugten
chronischen Veränderungen besprechen.
1. Die acuten Vergiftungen.
Die acuten Vergiftungen haben im allgemeinen wegen ihres
raschen Ablaufes nur eine geringe psychiatrische Bedeutung;
zudem sind die meisten derselben verhältnissmässig recht selten.
Dagegen ist die wissenschaftliche Tragweite dieser Störungen eine
sehr grosse, weil bei ihnen die ursächliche Abhängigkeit ganz be-
stimmter psychischer Veränderungen von eindeutigen chemischen
Einwirkungen auf die Hirnrinde klar vor Augen liegt. Dazu kommt,
dass wir diesen Zusammenhang durch den Thierversuch einerseits,
durch die feinere psychologische Untersuchung beim Menschen
andererseits genauer verfolgen können, als auf irgend einem anderen
58
III. Die Vergiftungen.
Gebiete psychischer Erkrankungen. Wir dürfen daher erwarten, dass
gerade die acuten Vergiftungen uns einmal so manche Anhalts-
punkte für ein tiefer dringendes Verständniss des Vorganges der
geistigen Störung zu liefern im Stande sein werden.
Für jetzt wissen wir allerdings über die grosse Mehrzahl der
acuten psychischen Giftwirkungen kaum mehr, als dass es sich hier
in der Regel um deliriöse Zustände handelt. Im allgemeinen pflegen
ausgeprägtere Trugwahrnehmungen auf den verschiedensten Sinnes-
gebieten, traumhafte, buut wechselnde Einbildungen, vielfach mit leb-
haften Lustgefühlen und Verzückungszuständen, meist ohne stärkere
motorische Erregung, die Grundzüge der Krankheitsbilder zu liefern.
Eine genauere Durchforschung derselben ist bisher fast nur für die
gewohnheitsmässig gebrauchten Mittel, Alkohol, Morphium und Cocain,
begonnen worden. Die einfache Beobachtung und Selbstbeobachtung
hat sich aber gegenüber diesen Zuständen als so trügerisch erwiesen,
dass wir von ihr irgend zuverlässige Aufschlüsse über die feineren
Unterschiede der einzelnen Vergiftungsdelirien schlechterdings nicht
erwarten können.
Wir werden uns daher darauf beschränken müssen, in wenigen
Worten hier der hauptsächlichsten Formen zu gedenken. Zunächst wären
die Delirien bei Vergiftung durch gewisse krankhafte Stoffwechsel-
erzeugnisse zu erwähnen, deren bereits im allgemeinen Theile
kurz gedacht worden ist. Dahin gehören die mit Sinnestäuschungen
verbundenen Erregungszustände bei Tetanie, Morbus Basedowii, bei
Chorea*), die schwere Unbesinnlichkeit bei Urämie, vielleicht auch
die Delirien beim Phosphorikterus und so manche andere, noch un-
aufgeklärte Störung.
Unter den übrigen Giften erzeugt das Chloroform nament-
lich eine eigenthümliche Unbesinnlichkeit mit einzelnen Gehörs-
täuschungen, das Santonin Gesichtshallucinationen und das „Gelb-
sehen“. Das Haschischdelirium**) dagegen scheint ganz besonders
gewisse Störungen des Muskel- und Tastsinnes herbeizuführen, wie sie
sich in den illusionären Veränderungen der äusseren und der Ab-
messungen des eigenen Körpers psychologisch widerspiegeln. Ausser-
dem entrückt der Opium- und der Haschischrausch den Kranken
*) Möbius, Neurologische Beiträge, IT, 123. 1894.
**) 'Wamock, Journal of mental scienee, XL1I, 790.
Chronische Vergiftungen.
59
einer wirklichen Umgebung, gaukelt ihm angenehme, traumartige
Bilder und Erlebnisse vor und vorsetzt ihn in heitere, selbstzufriedene
Stimmung. Die Stickstoffoxydulnarkose scheint demselben, ab-
gesehen von der viel kürzeren Dauer, hinsichtlich der Färbung des
Deliriums ähnlich zu sein; sie hat eine gewisse praktische Wichtig-
keit erlangt wegen der bei ihr beobachteten Häufigkeit und Deut-
lichkeit geschlechtlicher Hallucinationen, welche schon mehrfach zu
falscher Anschuldigung der narkotisirenden Zahnärzte geführt hat.
Die Atropin Vergiftung scheint neben einer sehr schweren Auf-
fassungsstörung mit vereinzelten Sinnestäuschungen auch eine tief-
greifende Beeinträchtigung des Denkens (Verwirrtheit), heitere Ver-
stimmung und lebhafte motorische Unruhe zu erzeugen; nach kurzer
Dauer erfolgt der Tod oder rasche Aufhellung des Bewusstseins ohne
Erinnerung an das Vorgefallene. Auf eine eingehendere Schilderung
aller dieser und so vieler ähnlicher deliriöser Zustände sowie ihrer
körperlichen Begleiterscheinungen kann hier natürlich nicht ein-
gegangen werden.
Die Dauer solcher Vergiftungsdelirien ist regelmässig eine kurze,
selten einige Stunden oder höchstens Tage überschreitende; die
Prognose richtet sich ganz nach der Schwere der Vergiftung über-
haupt. Die Diagnose wird zumeist aus den begleitenden Umständen
wie aus den körperlichen Zeichen gestellt werden müssen; die Be-
handlung ist eine einfach ursächliche nach den von der Toxikologie
vorgeschriebenen Grundsätzen.
2. Die chronischen Vergiftungen.
Die Zahl derjenigen Gifte, welche bei dauernder Einwirkung
auf den Körper Störungen des Nervensystems und ins-
besondere auch dos Seelenlebens herbeizuführen vermögen, ist
eine sehr grosse. Hervorragende praktische Bedeutung haben in-
dessen nur diejenigen unter ihnen erlangt, welche als Genussmittel,
zur Erzeugung von Wohlbehagen, in Anwendung gezogen werden,
da nur bei ihnon in der Wirkung des Mittels selbst die Anreizung
zu häufiger Herbeiführung derselben gelegen ist. Vor allem aber
sind es jene Gifte, deren Aussetzen unangenehme Störungen im
Organismus, sog. „Abstinenzerscheinungon“, hervorruft, welche eine
GO
III. Die Vergiftungen.
mit jeder Wiederholung sich steigernde und schliesslich zur un-
bezwinglichen Leidenschaft werdende Neigung erzeugen, immer von
neuem den verderblichen Reiz einwirken zu lassen, der für den
behaglichen Ablauf der Lebensvorgänge bereits unentbehrlich ge-
worden ist. Wie die anthropologische Forschung lehrt, giebt es
kaum ein einziges Yolk, welches nicht durch irgend ein derartiges,
gewohnheitsmässig angewandtes Genussmittel sich über die kleinen
Sorgen und Mühen des Daseins hinwegzutäuschen verstände, und
die Mannigfaltigkeit dieser giftigen Quellen des Wohlbehagens ist
daher eine merkwürdig reiche. Für die psychiatrische Erfahrung in
unserer Heimath kommen indessen naturgemäss nur einige wenige
derartige Mittel in Betracht, von denen sich als die bei weitem
wichtigsten der Alkohol, das Morphium und das Cocain heraus-
lieben lassen.
A. Der Alkoliolismns*).
Die Einwirkung, welche die acute Alkoholvergiftung, der Rausch,
auf unser Seelenleben ausübt, besteht, soweit bis jetzt bekannt ist,
wesentlich in einer dauernden Erschwerung der Auffassung und
Verarbeitung äusserer Eindrücke sowie in einer centralen Er-
leichterung der Auslösung von Willensantrieben. Die Wahrnehmung
und Erkennung von Sinnesreizen ist verlangsamt und erschwert,
ihre Zuverlässigkeit herabgesetzt; die fortlaufende Lösung einfacher
Rechenaufgaben lässt ein deutliches Sinken der Leistimgsfähigkeit
erkennen. Auf sprachlichem Gebiete kommt es zu den ersten An-
deutungen der Ideeuflucht, zu einem sehr auffallenden Ueberwiegen
derjenigen Vorstellungsverbindungen, welche durch die motorischen
Bestandtheile unserer Sprach Vorstellungen vermittelt werden, der
Wortzusammensetzungen, sprachlichen Reminiscenzen und Reime.
Die Auslösung von Bewegungsantrieben ist dauernd erheblich er-
leichtert; so geht das rein mechanische Auswendiglernen besser von
statten. Die Wahl zwischen zwei Bewegungen wird überstürzt,
*) Magnus Huss, Chronische Alkoholkrankheit oder Alkoholismns chronicus,
deutsch von v. d. Busch. 1852; Maguan, do Falcoholisme. IS74; v. Speyr, Die
alkoholischen Geisteskrankheiten, Dias. 1882.
Alkoholismus.
01
häufig falsch und zuweilen bereits ausgeführt, bevor noch das mass-
gebende Zeichen die Richtung der Bewegung bestimmen konnte.
Im weiteren Verlaufe und bei stärkeren Gaben des Giftes ergreift
die Lähmung allmählich auch die psychomotorischen Leistungen.
Je grösser die Alkoholgabe und je grösser die persönliche Empfind-
lichkeit gegen das Gift, desto rascher und stärker macht sich die
lähmende Wirkung geltend, bis sie schliesslich schon von Anfang
an, wenige Minuten nach dem Genüsse des Alkohols, deutlich in
den Vordergrund tritt. Die Muskelkraft wird durch den Alkohol
nur ganz kurze Zeit und in sehr unbedeutendem Maasse gesteigert,
darauf aber andauernd und erheblich herabgesetzt.
Alle diese zunächst durch den Versuch gefundenen und ge-
nauer zergliederten Einzelheiten finden wir ohne weiteres in dem
aus der täglichen Erfahrung bekannten Bilde des Rausches wieder.
Schon sehr kleine Mengen Alkohol beeinträchtigen, wie alle guten
Beobachter übereinstimmend angeben, deutlich die Fähigkeit zu
höherer geistiger Arbeit. Wir vermögen unsere Gedanken nicht mehr
so gut zu sammeln, längeren, verwickelteren Auseinandersetzungen
nur ungenügend zu folgen. Bei stärkerer Vergiftung fällt die Er-
schwerung der Auffassung und der Verstandesthätigkeit immer mehr
ins Auge. Der Betrunkene versteht nicht mehr recht, was man ihm
sagt und was um ihn herum vorgeht, vermag nicht zuzuhören, auf-
zupassen, irgend einen Gedankengang festzuhalten. Er verliert jedes
Urtheil über seine eigenen und fremde Verstandesleistungen, jeden
Ueberblick über die Bedeutung und Tragweite seiner Handlungen.
Gleichzeitig stellen sich gewisse inhaltliche Störungen im Ablaufe
der Vorstellungsverbindungen ein. Einerseits fällt die Neigung zur
Wiederholung derselben Wendungen, gewohnheitsmässiger Redens-
arten auf, andererseits die Freude an öden Reimereien, die an den
Haaren herbeigezogenen Wortwitze, das Sprechen im Jargon, das
Radebrechen in fremden Sprachen. Zum Schlüsse geht die Fähig-
keit zur Auffassung und geistigen Verarbeitung immer mehr ver-
loren; der Berauschte wird unempfindlich und unbesinnlich bis zur
vollständigen Bewusstlosigkeit. Die Erinnerung pflegt nach dem
Verfliegen des Rausches auch für diejenigen Zeitabschnitte nur sehr
mangelhaft zu sein, in denen der psychische Zusammenhang im
Sprechen und Handeln noch bis zu einem gewissen Grade er-
halten war.
(52
III. Die Vergiftungen.
Mit den Störungen der Verstandesleistungen hält die Entwick-
lung der psychomotorischen Reizerscheinungen gleichen
Schritt. Sie beginnt mit jener leichten „Angeregtheit“, wie wir sie
schon bei kleinen Alkoholgaben empfinden, mit dem Wegfall der
feinen Hemmungen, die im täglichen Leben unser Handeln und
Benehmen jederzeit auf das genaueste regeln. Wir werden unbe-
kümmerter, lebhafter, muthiger, fühlen uns sorgloser, ungebundener,
sprechen und handeln freimüthiger, aber auch rücksichtsloser. Wegen
der Erleichterung der motorischen Auslösung erscheint uns unsere
Kraft und Leistungsfähigkeit erhöht, im Gegensätze zu deren mess-
barer Herabsetzung. Daher die leider weit verbreitete, vollkommen
unrichtige Anschauung, dass der Alkohol „stärke“. Bei fortschreiten-
der Berauschung nimmt die motorische Erregbarkeit zunächst noch
zu. Die Ausdrucksbewegungen werden massloser; der Betrunkene
fängt an, sich auffallend zu benehmen, überlaut zu sprechen, Reden
zu halten, zu grölen, zu lärmen, auf den Tisch zu schlagen. Ein
Wort, ein Einfall genügt, um irgend eine unsinnige Reaction hervor-
zurufen, und es kommt auf diese Weise zu allerlei triebartigen,
unüberlegten, ja verbrecherischen Handlungen, über deren Ent-
stehungsweise der Thäter sich selbst nachträglich kaum oder gar
nicht Rechenschaft zu geben vermag. Das Ende bilden schwere Be-
wegungsstörungen, lallende Sprache, schwankender Gang, vollständige
Lähmung.
Auf gemüthlichem Gebiete entspricht dem ersten Abschnitte
des Rausches ein entschiedenes Wohlbehagen, heitere, rosige
Stimmung, Zurücktreten der Sorgen und Verdriesslichkeiten des
Alltagslebens. Wir werden leichtlebiger, zugänglicher, liebens-
würdiger. Sehr bald indessen steigert sich die Reizbarkeit. Es
kommt nun leicht zu stärkeren Affeetschwankungen, zu tactloser
Ueberschwänglichkeit oder zu Zornausbrüchen und leidenschaftlichen
Aufwallungen mit heftigen Ausschreitungen. Die höheren sittlichen
Gefühle treten zurück; der Betrunkene wird roh, gemein, schamlos
die wachsende geschlechtliche Erregbarkeit führt ihn zu wüsten Aus-
schweifungen.
Der allgemeine Verlauf des Rausches wird in sehr verschiedener
Weise beeinflusst durch die persönliche Eigenart. Bei grosser
Ermüdbarkeit stellt sich die Lähmung auch auf motorischem Gebiete
verhältnissmässig früh und ohne ausgeprägtere Reizerscheinungen ein.
Alkohol ismus.
63
Andererseits können bei Personen mit stärkerer gemüthlicker Er-
regbarkeit gerade jene letzteren in den Vordergrund treten. Während
dort rasch Schläfrigkeit und Stumpfheit die Oberhand gewinnen,
kommt es liier sofort zu unbändiger Streitsucht, grobem Unfug und
selbst blutigen Gewalttaten. Lebhafte Gemüthserschütterungen
können im ersteren Falle, bei Vorwiegen der Lähmungserscheinungen,
zu plötzlicher Ernüchterung führen. Im letzteren Falle dagegen wird
durch sie die Erregung noch gesteigert, so dass unter dem Einflüsse
einer verhältnissmässig sehr geringfügigen Alkoholmenge ganz un-
vermittelt die unsinnigsten und gefährlichsten Handlungen begangen
werden.
Ueber die anatomischen Grundlagen der acuten Alkoholvergiftung
hat uns der Thierversuch einige Aufschlüsse geliefert. Nissl konnte
nackweisen, dass bei Kaninchen, die eine Reihe von Tagen hindurch
möglichst grosse Alkoholmengen bekommen hatten, eine beträchtliche
Zahl von Rindenzellen zu Grunde gegangen war. Es kommt zu-
nächst zu einer Abblassung und unregelmässigen Einschmelzung der
färbbaren Substanz. Dann wird der Kem kleiner, verliert seine
rundliche Form, sein Kernkörperchen und schliesslich auch die Mem-
bran, um allmählich ganz zu verschwinden. Aehnliche Vorgänge
beobachtete Dehio an den Purkin je’schen Zellen.
Die schwersten Störungen des Rausches pflegen sich verhält-
nissmässig rasch wieder zu verlieren, doch lässt sich, wie früher er-
wähnt, der Nachweis führen, dass eine gewisse Nachwirkung selbst
bei mässiger Vergiftung noch 24 — 36 Stunden lang deutlich fort-
besteht. Bei längerer Fortsetzung der Alkoholeinfuhr wird diese
Nachwirkung eine dauernde. Es kommt zu einer allmählichen Um-
wandlung im psychischen Verhalten des Menschen, welche mehr
und mehr in das Krankheitsbild des chronischen Alkoholismus
hinüberführt.
Auch klinisch finden wir im chronischen Alkoholismus eine
Reihe jener Züge wieder, die uns aus dem Rausche bekannt sind.
Verhältnissmässig am wenigsten pflegt zunächst die Beeinträchtigung
der geistigen Leistungsfähigkeit in die Augen zu fallen. Indessen
beginnt sich regelmässig beim Trinker eine merkliche Herabsetzung
seiner Arbeitskraft herauszubilden. Eine wesentliche Rolle scheint
dabei die Steigerung der Ermüdbarkeit zu spielen. Es wird ihm
schwer, seine Aufmerksamkeit längere Zeit anzuspannen, neue, un-
64
III. Die Vergiftungen.
gewohnte Eindrücke zu verarbeiten, sich in verwickelter« geistige
Aufgaben hineinzufinden. Er liebt es daher, sich in bekanntem Ge-
leise zu bewegen, hat weder Neigung noch Fälligkeit zu schöpfe-
rischer Gedankenarbeit. In Folge dessen verengt sicli sein Gesichts-
kreis; seine geistige Ausbildung steht zunächst still, macht aber
dmrn Rückschritte und führt zu Verarmung seines Vorstellungs-
schatzes und Abnahme seiner Urtheilsfähigkeit. Dieser Vorgang
wird ganz besonders begünstigt durch die niemals fehlenden Stö-
rungen des Gedächtnisses. Schon der Versuch hat gezeigt, dass
die Festigkeit, mit welcher der Lernstoff haftet, unter dem Einflüsse
einer einmaligen Alkoholgabe erheblich abnimmt. In noch höherem
Maasse ist das beim Gewohnheitstrinker zu bemerken. Er nimmt nicht
nur die Eindrücke nur unklar und flüchtig in sich auf, sondern er
vermag sich dieselben auch nur in den allgemeinsten Umrissen wieder
zu vergegenwärtigen. So kommt es, dass er Neues nicht mehr lernt,
dass er wichtige Dinge vergisst und von seinen Erlebnissen viel-
fach ein ganz verzerrtes, verschwommenes Bild auf bewahrt Die
Schwäche des Urtheils und des Erinnerungsvermögens giebt den
günstigen Boden ab für die recht häufigen, mehr oder weniger aus-
geprägten Wahnbildungen. Dieselben halten sich bald nur in dem
Rahmen einer auffallenden Einsichtslosigkeit gegenüber dem eigenen
Zustande, bald erheben sie sich zu eigenartigen Beeinträchtigungs-
ideen. In manchen Fällen werden sie unterstützt durch das Auf-
treten einzelner wirklicher Sinnestäuschungen, häufiger durch halb-
richtige, wahnhaft gedeutete Trugwahrnehmungen. In schweren
Fällen kommt es schliesslich zur Entwicklung eines ausgeprägten
Schwachsinns.
Bei weitem die wichtigste und folgenschwerste Erscheinung im
Bilde des chronischen Alkoholismus ist die sittliche Entartung
des Trinkers, das allmähliche Schwinden jener tieferen Beweggründe
des Handelns, welche die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des
Charakters bedingen. Der Trinker verliert mehr und mehr die Fähig-
keit, nach feststehenden Grundsätzen zu handeln, und wird auf diese
Weise zum willenlosen Spielball zufälliger äusserer Verlockungen,
namentlich aber der immer unbezwinglicher werdenden Neigung
zum Alkoh ol. In sehr naiver Weise pflegt er diese Willensschwäche
einzugestehen, indem er als vollständig genügende Entschuldigung
für seine Unmässigkeit die Thatsache anführt, dass man ihn zum
Alkoholismus.
65
Trinken aufgefordert, ihm etwas bezahlt habe, dass Wein „auf dem
Tische stand“. Er begreift gar nicht recht, wie man ihm aus dem
Trinken einen Vorwurf machen kann. „Ich hab’ doch für mein
Geld getrunken,“ entschuldigte sich ein solcher Kranker. Fast alle
Trinker fassen zeitweise den festen Entschluss, dem Alkohol, den sie
mehr oder weniger klar als die Quelle ihres körperlichen, sittlichen,
gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Unterganges erkennen, end-
gültig und für immer zu entsagen. „Ich kann’s auch lassen,“ „ich
trink’ Milch und Selters,“ erklären sie siegesgewiss, bekräftigen viel-
leicht unaufgefordert ihre guten Vorsätze mit den heiligsten Ver-
sprechungen und Schwüren und fühlen sich beleidigt, sobald man
leise Zweifel an der Aufrichtigkeit derselben äussert. Dennoch
aber pflegt nahezu ausnahmslos bereits die erste beste Gelegenheit
den schwachen Willen zu überwältigen und alle die auf Sand ge-
bauten Vorsätze ohne weiteres über den Haufen zu werfen. Eine
halbe Stunde später kann man sie nicht selten bereits wieder im
Wirthshause sitzen sehen, und wenige Tage genügen, um auch die
letzte Spur von Scham oder Reue über den schmählichen Wortbruch
hinwegzuwischen. Ist es doch gerade der Alkoholdusel, der dem
Trinker die Fähigkeit zu ruhiger Würdigung seiner Lage raubt
und alle besseren Regungen in der rohesten Selbstsucht unter-
gehen lässt. Das Ende ist die nur zu wohlbekannte Gestalt des
Schnapslumpen.
Unter immer wiederholtem Siege der wachsenden Leidenschaft
über das sich abstumpfende Pflichtgefühl nimmt die sittliche Ent-
artung des Trinkers mit Riesenschritten zu. Die mächtigen Beweg-
gründe der Ehrliebe, der Gatten- und Kinderliebe, der Scham ver-
lieren ihre Wirkung über ihn. Er kümmert sich nicht mehr um
das Wohl und Wehe seiner Angehörigen, giebt sie einfach dem
Elend Preis, wird gleichgültig gegen ihre Bitten und Vorwürfe, sieht
hülflos der wirklichen Untreue seiner Frau, der sittlichen Verwahr-
losung seiner Kinder zu, lässt stumpf die gesellschaftlichen Mass-
regelungen und die Verachtung seiner Standesgenossen über sich
ergehen. Ohne Rücksicht auf seine Bildung, seine Stellung betrinkt
er sich öffentlich, schliesst wahllos Duzbrüderschaften, verhandelt
seine zartesten Familienangelegenheiten mit wildfremden Menschen.
Meist entwickelt sich dabei ein gewisses erhöhtes Selbstgefühl,
welches in handgreiflichen Prahlereien einen um so stärkeren Aus-
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 5
66
III. Die Vergiftungen.
druck findet, je weniger der Kranke seine zwingendsten Pflichten
zu erfüllen im Stande ist. Ausserdem ist es der in seinen ersten
Andeutungen schon dem einfachen Kausche angehörige Trinker-
humor, der in hohem Maasse die Gemüthslage dieser Kranken
kennzeichnet. Ihnen ist die Fähigkeit verloren gegangen, ernste
Dinge ernst aufzufassen; sie schwanken im dunklen Gefühle ihrer
Willensschwäche zwischen unmännlicher Weinerlichkeit und würde-
losem Galgenhumor, der auch in der eigenen Erniedrigung nur
die komische Seite empfindet. Wer wird hier nicht an die ge-
räuschvolle Fröhlichkeit erinnert, mit welcher eine angeheiterte Tafel-
runde auch die gewagtesten Verletzungen der eigenen Würde zu
begleiten pflegt!
Es giebt wol kaum einen einzigen ausgebildeten Trinker, welcher
sich selber irgend welche Verschuldung au seiner Trunksucht
beizumessen geneigt wäre. Viele stellen überhaupt trotz der be-
wegendsten Anzeichen das Trinken schlankweg in Abrede und
suchen die allenfalls gelegentlich genossenen Alkoholmengen als
äusserst harmlos und in bedeutend verkleinertem Massstabe hinzu-
stellen; sie haben nur soviel getrunken, „wie sich’s gehört“, weisen
namentlich darauf hin, dass sie niemals oder doch nur selten wirk-
lich „betrunken“ gewesen seien, eine Beweisführung, welche selbst
bei Voraussetzung völliger Glaubwürdigkeit angesichts des sehr
persönlichen Massstabes und der sehr verschiedenen Empfindlichkeit
gegen den Alkohol selbstverständlich nur geringen Werth hat. Andere
geben zwar mit einigen Umschweifen ihre Unmässigkeit zu, stellen
dieselbe jedoch als durchaus nothwendig, durch ihre besonderen
Lebensverhältnisse bedingt dar. „Wie kann man ohne Wein und
Bier schwer arbeiten!“ sagte mir ein Lastträger; die Andern würden
ihn ja auslachen, wenn er nicht tränke. Es ist interessant, zu sehen,
wie kein einziger Beruf sich völlig unfruchtbar an zwingenden Be-
weggründen für den Alkoholgenuss erweist. Während den Schmied,
den Schlosser, den Glasarbeiter die Hitze des Feuers zur Schnaps-
flasche treibt, thut beim Droschkenkutscher, beim Nachtwächter die
nächtliche Kälte denselben Dienst; die Metzger „trinken Alle“; die
Kaufleute müssen „wegen der Kundschaft“ trinken. Die Ziegelarbeiter
finden beim Kneten in der Nässe, die Müller und Maurer beim Ein-
athmen des trockenen Staubes ihre Rettung im Trinken, ja ein An-
gestellter einer Dampfschifffahrtsgesellschaft gab mir an, dass man
Alkoholismus.
67
„in einem so grossen Geschäft“ ohne den Alkohol nicht auskommen
könne. Die Ueberzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit des
Alkoholgenusses sitzt in der Regel so fest, dass die Trinker allen
Einwendungen das äusserste Misstrauen entgegen bringen. „Ach,
gehen Sie, Herr Doctor, der Herr Professor trinkt auch seinen
Schoppen,“ sagte ein Trinker, als er vom Arzte auf mein Beispiel
völliger Enthaltsamkeit hingewiesen wurde.
Fast noch häufiger, als durch die Beschäftigung, wird die
Trunksucht durch wirthschaftliche und häusliche Verhältnisse be-
gründet. Bald ist es der Kummer über den Rückgang des Ver-
dienstes, das Aufkommen eines „Concurrenten“, über den Verlust
einer Stellung, den Tod eines Angehörigen, bald ist es die
schlechte Wohnung oder die ungenügende Ernährung, vor allem
aber das unglückliche eheliche Leben, welches den Trinker nach
seiner Angabe zum Schnapsmissbrauche getrieben hat. „Die Frau
hätte sollen zart und liebevoll sein, wenn ich getrunken hatte,“
meinte ein solcher Gatte. Regelmässig ergiebt sich hier bei ge-
nauer Nachforschung, dass der Zusammenhang ein umgekehrter ge-
wesen ist, dass die angeblichen Ursachen der Trunksucht in Wirklich-
keit als mittelbare oder unmittelbare Folgen derselben angesehen
werden müssen.
Hand in Hand mit der sittlichen Verblödung geht eine Er-
höhung der gemüthlichen Reizbarkeit, namentlich während der
Alkoholwirkung. Aus ihr entwickelt sich dann die berüchtigte Streit-
sucht der Trinker, ihre Neigung zu unfläthigem Schimpfen, raschen
Gewaltthaten und Rohheiten, Misshandlungen der Angehörigen, zweck-
losen Zerstörungen. In bemerkenswerthem Gegensätze zu der Rück-
sichtslosigkeit und Heftigkeit des Trinkers in seinen häuslichen
Verhältnissen steht die Gefügigkeit und Lenksamkeit desselben bei
längerer Enthaltsamkeit unter dem Drucke äusseren Zwanges in der
Irrenanstalt, im Gefängnisse u. s. w. Dem Unerfahrenen erscheipt
es oft vollkommen unbegreiflich, wie es denn möglich war, dass der
anscheinend ganz ruhige und gutmiithige Mensch in der Freiheit so
rohe und unsinnige Gewaltthaten begehen konnte. Sehr eigenartig
ist dabei vielfach der reumüthige, ja süssliche Ton der Briefe, welche
von Betheuerungen, guten Vorsätzen und frommen, erbaulichen Redens-
arten strotzen, während ein Entlassungsversuch binnen kürzester Frist
die ganze Haltlosigkeit des Trinkers aufs deutlichste vor Augen führt.
5»
68
III. Die Vergiftungen.
Regelmässig entwickelt sich endlich beim Trinker im Laufe der
Zeit eine gewisse Unruhe und Unstetigkeit. Er kann nicht lange
stillsitzen, treibt sich gern ziellos herum, in den Kneipen oder auf der
Landstrasse. Seine Arbeitsfähigkeit zeigt daher eine sehr bedeutende
Abnahme, nicht nur, weil häufige Räusche die Stetigkeit der Be-
schäftigung durchbrechen, sondern namentlich auch, weil er zu jeder
nachhaltigen und länger dauernden Anstrengung seiner körperlichen
und geistigen Kräfte unfähig geworden ist. In Folge dessen pflegt
es mit seinen wirtschaftlichen Verhältnissen rasch bergab zu gehen.
Er verdient wenig oder garnichts mehr, verbraucht aber verhältniss-
mässig viel und greift nun zu allerlei Auskunftsmitteln, um sich
das Geld zum Trinken zu verschaffen. Zunächst hört er auf, für
seine Familie zu sorgen, sucht im Gegenteil noch von ihr so viel
wie möglich zu erpressen. Mehr und mehr bevorzugt er die Ge-
tränke, die ihn am raschesten und billigsten in den Rauschzustand
versetzen, treibt sich in den schmutzigsten Winkelkneipen und in der
verkommensten Gesellschaft herum. Sobald der Credit bei Kneip-
wirten und Saufkameraden erschöpft ist, geht es ans Versetzen und
Verkaufen des persönlichen, dann aber auch des Eigentums der
Angehörigen, und häufig genug schliesst die weitere Laufbahn mit
Bettel und Landstreicherei, mit Zechprellereien, Schwindeleien, Be-
trügereien, mit Hehlerei und Diebstahl ab.
Von den allgemeinen Störungen, welche der chronische Alkoholis-
mus in den verschiedensten Organen des Körpers regelmässig er-
zeugt, sollen hier die vielfachen alkoholischen Organerkrankungen
nur kurz erwähnt werden, die Herzverfettung, der Magenkatarrh,
die Lebercirrhose, die Nierenschrumpfung, endlich die tiefgreifenden
Veränderungen in der Zusammensetzung des Blutes. Im Gehirne
finden sich Gefässerkrankungen mit dauernden Kreislaufstörungen
und deren Folgezuständen, Blutaustritte, Trübungen und Verdickungen
der Hirnhäute, insbesondere Pachymeningitis, endlich höchst wahr-
scheinlich mehr oder weniger schwere Veränderungen an den Nerven-
zellen. Nissl fand bei chronisch mit Alkohol vergifteten Kaninchen
leichte Verdickung der Pia, besonders an der Basis, und Vermehrung
der Glia. In der Rinde waren zahlreiche Zellen zerstört; daneben
zeigten sich ausgebreitete, eigenartige Veränderungen, deren Deutung
allerdings zur Zeit noch nicht ganz feststeht An den peripheren
Nerven entwickeln sich bekanntlich recht häufig neuritische Er-
Alkoholismns.
69
kr an kungen. Den klinischen Ausdruck aller dieser Veränderungen
im Bereiche des Nervensystems bilden zunächst Schwindel und
Kopfschmerzen, ein sehr feinschlägiges Zittern an Zunge und ge-
spreizten Fingern, die bekannten neuritischen Störungen, Schwäche
der Arme und Beine, Unsicherheit beim Stehen und Gehen, Muskel-
atrophie, schmerzhafte Druckpunkte, Anaesthesien, Hyperaesthesien,
Paraesthesien. Die Reflexe sind vielfach gesteigert, seltener erloschen.
Ami Opticus hat man ebenfalls eine alkoholische Neuritis (Abblassung
der temporalen Papillenhälfte) kennen gelernt; bisweilen bestehen
Augenmuskellähmungen.
Bei einer grösseren Anzahl von Trinkern werden epileptische
Anfälle beobachtet, sowol im Anschlüsse an schwere Räusche wie
im einfachen Verlaufe des chronischen Alkoholismus, selbst nach
längerer Enthaltsamkeit. Am häufigsten aber ist das Eintreten
solcher Anfälle vor oder während eines Delirium tremens. In Berlin,
wo die Alkoholepilepsie besonders oft aufzutreten scheint, fanden
sich nach den Zusammenstellungen von Fürstner, Möli, Siemer-
ling epileptische Anfälle bei Trinkern in etwa 30 — 35 °/0, bei den
chronischen alkoholischen Geistesstörungen nur in 10% der Fälle.
Gegenüber diesen Erfahrungen hat Wildermuth angegeben, dass
er nur in 1,4% bei den von ihm beobachteten Epileptikern die
Krankheit ausschliesslich auf Alkoholmissbrauch zurückführen konnte;
in allen übrigen Fällen bestanden entweder von Jugend auf schon
die Zeichen einer epileptischen Veranlagung, oder es wirkten noch
andere Ursachen ein, die erfahrungsgemäss Epilepsie zu erzeugen
im Stande sind. Er kommt daher zu dem Schlüsse, dass der Alkohol
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Epilepsie nur auslöse,
nicht aber hervorbringe. Aehnliche Anschauungen hat schon Magnan
vertreten, der für die epileptischen Anfälle der Trinker auf Grund seiner
Thierversuche überhaupt nicht den Alkohol, sondern das Absinthöl ver-
antwortlich machte, eine Ansicht, die indessen in Deutschland schon
deswegen keinen Anklang gefunden hat, weil bei uns die Alkohol-
epilepsie trotz fast gänzlichen Fehlens von Absinthmissbrauch überaus
häufig ist. Dagegen scheint allerdings besonders das Schnapstrinken
die Entstehung epileptischer Krämpfe zu begünstigen. Möli fand
dieselben in 40% bei Schnapstrinkem, aber nur bei 5% derjenigen
Personen, die neben Bier und Wein fast keinen Schnaps zu sich
nahmen.
70
III. Die Vergiftungen.
Um nun den grossen Widerspruch zu lösen, der zwischen
der Häufigkeit von Krampfanfällen bei Trinkern und der Seltenheit
wirklich durch Alkohol verursachter Epilepsie besteht, vertritt
Wildermuth die ebenfalls schon von Magnan ausgesprochene
Ansicht, dass die Krampfanfälle der Trinker wie die urämischen
oder paralytischen Anfälle nicht als echte Epilepsie aufzufassen seien.
Zu dem gleichen Ergebnisse gelangte Wartmann*), der bei einer
grösseren Anzahl von Epileptikern die Entstehungsgeschichte der
Krankheit prüfte. Eine wichtige Stütze erhält dieser Statz gerade
durch die häufige Verbindung der Anfälle mit dem Delirium tremens,
das wir Ursache haben, auf das Eintreten einer eigenartigen Ver-
giftung zurückzuführen. Allerdings wird man in dieser Frage so
lange zweifelhaft bleiben müssen, wie uns die Ursachen der echten
Epilepsie noch unbekannt sind. Dass übrigens der Alkoholismus
der Eltern eine der wichtigsten Ursachen der Epilepsie bei den
Kindern bildet, Avird von allen Seiten bestätigt und späterhin näher
ausgeführt werden. Auf die Beziehungen des Alkoholismus zur
Hysterie ist in neuerer Zeit bei uns besonders von Lührmann
hingewiesen worden. Er fand unter 60 männlichen Hysterischen 16.
bei denen die Erscheinungen wesentlich durch Alkoholismus aus-
gelöst wurden. Es handelte sich meist um Dämmerzustände mit
den Stigmata der Hysterie, Hemianaesthesien, Sehstörungen, Krampf-
anfällen. Die eigentliche Ursache des Leidens lag hier wol immer
in der krankhaften Veranlagung, die durch die Schädigung des
Alkoholismus zu weiterer Entwicklung gebracht wurde.
Unter den Ursachen des chronischen Alkoholismus spielt eine
nicht geringe Bolle die angeborene oder ererbte Veranlagung. Die
Neigung zum Trinken wird in hohem Maasse auf die Nachkommen-
schaft übertragen, wahrscheinlich in Form einer verringerten sitt-
lichen Widerstandsfähigkeit überhaupt. Unter den von mir in
den letzten Jahren beobachteten Trinkern waren s/4 in irgend
einer Weise erblich belastet; in der Hälfte dieser letzteren
Fälle war der Vater Trinker gewesen. Männer sind unver-
gleichlich mehr gefährdet als Frauen ; unter den von mir zu-
sammengestellten Fällen befanden sich kaum 6°/0 Frauen. Die Ver-
*) Archiv f. Psychiatrie, XXIX, 933; Wildermuth, Zeitschr. f. d. Behandlung
Schwachsinniger u. Epileptischer, 1897, Mai, 49; Neumann, Ueber die Beziehungen
zwischen Alkoholismus und Epilepsie. 1897. (Literatur.)
Alkoholismus.
71
führung zum Alkoholismus wird insbesondere durch staatliche Ein-
richtungen und gesellige Gewohnheiten in mehr als ausreichender
Weise besorgt. Namentlich die Zeiten „flotten“ Lebensgenusses
fordern unter den haltlos veranlagten Personen ihre sicheren Opfer.
Andererseits ist es die Noth, das Elend, namentlich aber die
verhängnissvolle Gedankenlosigkeit und Unwissenheit der
Massen, welche sie wehrlos dem für unentbehrlich gehaltenen
Missbrauche in die Arme treiben. Tagtäglich trinken Tausende und
Abertausende gerade deswegen Wein, 'Bier oder Schnaps, weil sie
davon überzeugt sind, dass der Alkohol die körperliche Leistungs-
fähigkeit erhöhe, eine „Stärkung“ des Organismus bewirke. Wenn
diese Anschauung schon für die acute Alkoholwirkung durch die
Messung im wesentlichen widerlegt wird, so ist sie für den dauernden
Gebrauch geistiger Getränke zweifellos grundfalsch. Gegen diesen
gefährlichen Unfug, an dem wir Aerzte zum guten Theil mit Schuld
tragen, kann nicht thatkräftig genug zu Felde gezogen werden.
Gar nicht selten knüpft sich die Entwicklung des chronischen Alko-
holismus geradezu an das zum Frühstück verordnete Gläschen Port-
wein oder Sherry an. So beobachtete ich kurz hintereinander
zwei Frauen, welche dadurch schwerer Trunksucht verfallen waren,
dass ihnen vom Arzte „zur Stärkung“ nach hartnäckigen Meno-
rhagien der regelmässige Genuss alkoholreichen Weines empfohlen
wurde.
Die Mengen alkoholischer Getränke, welche der Einzelne zu
sich nimmt, sind sehr verschieden. Manche Personen vertragen von
vorn herein sehr wenig, und umgekehrt scheint sich auch bei alten
Trinkern bisweilen wieder eine verminderte Widerstandsfähigkeit
gegen den Schnaps einzustellen. Andererseits berichtet Siemerling*)
von einem Arbeiter, der in 24 Stunden 3 Liter Nordhäuser mit
Bittern, von einem andern, der 2 Liter Spiritus mit Kümmel trank,
sowie von einer Reihe ähnlicher Leistungen. Der Schnaps ist überall
bevorzugt.
Die Prognose des ausgeprägten chronischen Alkoholismus ist
gewöhnlich eine sehr trübe. Allerdings vermag man durch recht-
zeitiges, zielbewusstes Eingreifen in einer Anzahl von Fällen die
dauernde Entwöhnung vom Schnaps durchzusetzen und damit die
durch ihn erzeugten Störungen zum Verschwinden zu bringen. Die
*) Charit«- Annalen, XVI, S. 373 ff. 1891.
72
III. Die Vergiftungen.
freilich noch nicht sehr ausgedehnten Erfahrungen der Trinkerasyle
scheinen zu zeigen, dass immerhin 1/i — 1/3 derjenigen Kranken,
welche sich einer längeren, planmässigen Behandlung unterwerfen,
dauernd und vollständig geheilt werden, während ein gleicher Brueh-
theil wenigstens eine sehr wesentliche, anhaltende Besserung erfährt.
In der Trinkerheilanstalt Ellikon ist die Zahl der dauernd enthaltsam
gebliebenen Kranken von 26,8 °/0 1889 sogar auf 52,9 % im Jahre
1894 gestiegen*). Leider hat die Behandlung der Alkoholisten heute
noch mit sehr grossen praktischen Schwierigkeiten zu kämpfen,
zu deren Beseitigung bis jetzt nicht mehr als die ersten Schritte
haben gethan werden können. In der überwiegenden Mehrzahl,
der Fälle sinkt daher der Gewohnheitstrinker nach jeder Richtung
hin allmählich tiefer und immer tiefer, bis zum völligen körper-
lichen und geistigen Yerfall, wenn nicht irgend eine der zahl-
reichen, seine geschwächte Constitution vor allem bedrohenden
Krankheiten (Pneumonie, Apoplexie, Nephritis) das Ende schon
früher herbeiführt.
Die Erkennung des Trinkers ist in den vorgeschritteneren
Stadien sehr leicht. Abgesehen von dem vernachlässigten, herunter-
gekommenen Aeusseren, welches in lebhaftem Widerspruche mit
seiner gesellschaftlichen Stellung zu stehen pflegt, deuten die
schwimmenden Augen, das gedunsene, häufig durch kleine erweiterte
Venen geröthete Gesicht, die stark belegte, oft zitternde Zunge, ein
feines Zittern der gespreizten Finger und der fuselige Geruch des
Athems unverkennbar auf die chronische Vergiftung hiu. Vielfach
fällt frühzeitiges Altem auf. Die genauere Prüfung lässt ausserdem
fast immer leichtere oder schwerere neuritische Anzeichen entdecken,
besonders an den Beinen. Seltener gelingt auch der Nachweis einer
der sonstigen, dem chronischen Alkoholismus eigenthüinlichen Organ-
erkrankungen.
Die einzige Aufgabe, welche die Behandlung des chronischen
Alkoholismus zu lösen hat, ist die Herbeiführung einer dauernden,
völligen Enthaltsamkeit vom Alkohol in jeder Form. Alle
Versuche, den ausgeprägten Trinker etwa zu einem massigen Ge-
nüsse geistiger Getränke zurückzuführen, scheitern erfahrungsgemäss
an dem Umstande, dass eben gerade der Alkohol die Selbstbeherrschung
*) Oberdieck, Archiv f. Psychiatrie, 1897,2.
Alkoholismus.
73
vernichtet, die Ausführung unüberlegter Handlungen begünstigt und
zu Ausschreitungen verführt. Wer einmal, sei es aus Anlage oder
durch äussere Verhältnisse, zum Trinker geworden ist, kann nur
durch bedingungslose Enthaltsamkeit den Gefahren eines Rückfalles
entgehen, aus dem einfachen Grunde, weil jene letztere unvergleichlich
leichter durchzuführen ist, ausserordentlich viel geringere Anforde-
rungen an die Willenskraft stellt, als das Einhalten irgendwie vorge-
schriebener Mässigkeitsgrenzen. Wenn mir demnach auch die grund-
sätzliche Verdammung jedes Alkoholgenusses für den gesunden
Menschen wesentlich den Werth eines sittlichen Beispiels zu haben
scheint, so muss für den Trinker die unverbrüchliche Bewahrung
voller Enthaltsamkeit als die nothwendige Vorbedingung seiner
Wiederherstellung betrachtet werden.
In einer grossen Anzahl von Fällen empfinden die Kranken ihre
hiilflose Ohnmacht gegenüber dem Genussmittel stark genug, um
selbst den hier angedeuteten, einzig möglichen Ausweg aus ihrem
Zustande einzuschlagen. Bei kurzem Bestände des Leidens und
grosser ursprünglicher Willenskraft kann die Entziehung sogar ohne
■weiteres äusseres Hülfsmittel von dem Kranken durchgeführt und
die Enthaltsamkeit dauernd, je länger, um so leichter, festgehalten
werden. Sehr häufig indessen sind die Trinker von vorn herein
oder in Folge ihres Alkoholismus so willensschwach, dass sie den
in ihren häuslichen Verhältnissen, ihrem Berufe, ihrem Verkehr
liegenden Verführungen nicht aus eigener Kraft zu -widerstehen ver-
mögen. In solchen Fällen passt die Verbringung in ein „Trinker-
asyl“, wie sie heute, allerdings in noch gänzlich ungenügender Zahl,
bereits in den meisten Ländern bestehen *). Leider wird die Durch-
führung dieser Massregel durch die Gleichgültigkeit und Verblendung
der Umgebung vielfach verhindert. Namentlich die Aerzte, die
doch in erster Linie berufen wären, hier belehrend und aufklärend
zu wirken, stehen in der .Alkoholfrage nichts weniger, als auf
der Höhe ihrer Aufgabe. Kommt es doch alle Tage vor, dass
selbst in Anstalten für Nerven- oder Geisteskranke den Trinkern
ganz harmlos nach wie vor der regelmässige Genuss geistiger Ge-
tränke gestattet wird. Ich kenne solche Beispiele am grünen Holze
in Menge.
*) Tilkowski, Jahrbücher f. Psychiatrie, 1893, XII; Serieux, Bull, de la
societe de med. mentale Belgique, März, Juni 1895.
74
III. Die Vergiftungen.
Endlich aber giebt es auch Trinker genug, denen die Einsicht
in ihr eigenes Elend sowie das Streben, sich aus demselben zu be-
freien, völlig fehlt, oder welche aus anderen Gründen (Wahnideen)
jedem Versuche einer Freiheitsbeschränkung heftigen Widerstand
entgegensetzen. Die zwangsweise Durchführung der Entziehung
bei solchen Menschen kann heute nur in der Weise geschehen, dass
sie als geisteskrank in eine Irrenanstalt verbracht werden. Da in-
dessen der Alkoholismus als psychische Störung gesetzlich bisher
keineswegs anerkannt wird, so besteht thatsächlich in einer er-
schreckend grossen Zahl von Fällen die rechtliche Unmöglichkeit
den verblendeten Trinker von der Vernichtung seiner eigenen wie
der Existenz seiner Familie auch gegen seinen Willen zurück-
zuhalten. Dass hier die Nothwendigkeit staatlichen Eingreifens zum
mindesten ebenso dringend ist, wie etwa bei der zwangsweisen Be-
handlung syphilitischer Prostituirter, von dem Verfahren gegenüber
gemeingefährlichen Geisteskranken garnicht zu reden, bedarf keiner
weiteren Ausführung. Vielleicht wird die durch das neue Bürger-
liche Gesetzbuch geschaffene Möglichkeit einer Entmündigung wegen
Trunksucht wenigstens einen kleinen Fortschritt bringen.
Die Entziehung des Alkohols kann in der Regel eine ganz
plötzliche sein. Ich habe bisher erst in einem einzigen Falle durch
den unvermittelten Wegfall des gewohnten Alkohols schwerere
Störungen eintreten sehen. Es handelte sich um einen jungen Mann
mit einem Herzfehler, welchem in der Heilanstalt, die er wegen
seiner Trunksucht aufgesucht hatte, ärztlicherseits täglich eine Flasche
Cognac verordnet worden war. Hier fühlte ich mich wegen der
Neigung zum Collaps veranlasst, neben andern Mitteln noch einige
Tage lang kleine Alkoholmengen zu geben. Meist jedoch pflegen
sich die geringen anfänglichen Störungen, Schlaflosigkeit, einzelne
Sinnestäuschungen, Appetitlosigkeit ganz überraschend schnell erheb-
lich zu bessern oder völlig zu verlieren. Die weitere Erholung
schreitet dann ohne Zwischenfall vorwärts. Die Kranken fühlen
sich ungemein wohl, kräftig und leistungsfähig; dabei stellt sich
gewöhnlich ein sehr starker Appetit ein, unter dessen Einfluss sich
das anfänglich sinkende Körpergewicht meist bedeutend hebt. Gleich-
wol sollte die Dauer der Anstaltsbeaufsichtigung in einigermassen
schweren Fällen nicht unter 8/4 — 1 Jahr, nach Rückfällen noch
längere Zeit betragen, da namentlich die psychische Widerstands-
Alkoholismus.
75
fäliigkeit immer noch erheblich geschwächt bleibt, auch wenn der
Kranke in allen übrigen Beziehungen, selbst hinsichtlich seiner
Krankheitseinsicht, schon vollständig genesen erscheint. Hie und da
sieht man übrigens erst nach vielmonatlichem, zunächst wider-
willigem Anstaltsaufenthalte doch allmählich ein besseres Verständ-
nis für die Sachlage und damit Zugänglichkeit für die Bemühungen
des Arztes zu Stande kommen. Alle diese Umstände spielen, ebenso
wie die Persönlichkeit des Kranken überhaupt und seine äusseren
Verhältnisse, eine wichtige Rolle für die Abmessung der Be-
handlungsdauer. Jedenfalls soll die Wiedereinführung in die Frei-
heit nach anfänglich strengster Ueberwachung nicht plötzlich, son-
dern ganz allmählich geschehen, um das Selbstvertrauen des Kranken
zu kräftigen und seine Widerstandsfähigkeit zu erproben. Brannt-
weinbrennern, Weinreisenden, Schankwirthen u. s. f. ist eine Aende-
rung ihres Berufes dringend anzurathen. Zur Erleichterung und
Befestigung der Alkoholentwöhnung ist in neuerer Zeit mehrfach mit
Erfolg auch die hypnotische Suggestion mit herangezogen worden
(Forel).
Ungleich grössere Aussicht auf Erfolg, als die Behandlung des
ausgebildeten Alkoholismus, gewährt die vorbeugende Bekämpfung
desselben. Die verschiedenartigsten Hülfskräfte sind berufen, in
dieser Richtung zusammenzuwirken. In der Herabsetzung der
Schnapserzeugung, der Monopolisiruug und Einschränkung des Einzel-
verkaufs (Gothenburger System), in der öffentlichen Belehrung
über die schweren Gefahren des Alkoholismus, namentlich durch die
Aerzte, in der Einbürgerung harmloserer Anregungsmittel (Kaffee,
Thee), der Beseitigung des Trinkzwanges in jeder Form, der Ein-
dämmung des Kneipenwesens, der Errichtung von Volkslesehallen
und nicht zum letzten durch das zielbewusste Beispiel der Gebildeten
sind uns, wie die Erfahrung lehrt, die Mittel an die Hand gegeben,
welche es uns ermöglichen, den furchtbaren Begleiter und Feind
zugleich unserer Gesittung nicht nur an seiner weiteren Ausbreitung
zu verhindern, sondern ihm allmählich auch das schon gewonnene,
übergrosse Gebiet in hartem Kampfe nach und nach wieder abzu-
ringen. Wie es scheint, sind nach dieser letzteren Richtung hin
durch die Kräftigung des Enthaltsamkeitsentschlusses die in Eng-
land, Amerika, Skandinavien, Finnland, der Schweiz sich rasch ent-
wickelnden „Mässigkeitsvereine“ eine beträchtliche sittliche Ein-
76
III. Die Vergiftungen.
Wirkung, auszuüben im Stande gewesen. Gerade für den Trinker mit
seiner Willensschwäche bildet der Rückhalt, den die Vereinigung
bietet, ein sehr wichtiges Hülfsmittel im Kampfe mit der Verführung.
Der sich durch das Vereinsleben, durch den Gedankenaustausch, die
eigenartige Literatur entwickelnde Fanatismus ist ein wohlthätiges,
vielleicht sogar nothwendiges Werkzeug zur Rettung jener ungezählten
Schaaren, welche vereinzelt, auf sich selbst gestellt, unfehlbar zu
Grunde gehen würden. Die wichtigsten in Betracht kommenden
Vereinigungen sind der Alkoholgegnerbund (Internationaler Verein
zur Bekämpfung des Alkoholgenusses), der Verein des blauen Kreuzes
und der Orden der Guttempler, in Deutschland neuerdings ncch die
Vereine abstinenter Aerzte und Lehrer. Diesen auf dem Stand-
punkte völliger Enthaltsamkeit stehenden Vereinen gesellt sich noch
der Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke hinzu, der nur
Mässigkeit anstrebt. Eine Reihe von Zeitschriften, von denen hier nur
die Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten, die
Mässigkeitsblätter und die Freiheit genannt werden sollen, suchen den
Zwecken dieser Vereine zu dienen. Freilich steht diesen Gesell-
schaften die Unzahl der Stammtische sowie jener „gemüthlichen"
Vereinigungen gegenüber, welche unter irgend einem Aushängeschilde
nichts anderes sind, als fruchtbare Brutofen des „feuchtfröhlichen-1
deutschen Kneipalkoholismus.
Auf der durch den chronischen Alkoholismus gebildeten Grund-
lage können sich eine Anzahl eigenartiger psychischer Störungen
entwickeln, welche zum Theil wenigstens in ihrem klinischen Auf-
treten selber schon den Rückschluss auf die Grundursache gestatten,
aus welcher sie hervorgegangen sind. Die bei weitem häufigste dieser
Störungen ist das Delirium tremens*).
Das erste Anzeichen der herannahenden Krankheit bildet eine
erhöhte psychische (unruhiger Schlaf, Verstimmtheit, Schreckhaftig-
heit) und sensorielle (Hyperaesthesie, subjective Geräusche, Blitze,
feurige Sterne) Erregbarkeit Nach diesen Vorboten, welche bis-
weilen einige Tage, meist jedoch nur wenige Stunden andauern, ent-
wickelt sich in rascher Steigerung das volle Krankheitsbild, welches
vor allem durch lebhafte und zahlreiche phantastische
Sinnestäuschungen der verschiedensten Gebiete, durch mässige
*) Rose, Delirium tremens und Delirium traumaticum. 18S4.
Alkoholismus.
77
Benommenheit bei völliger Desorientiruug, durch Unruhe und Zittern
gekennzeichnet wird.
Der Wahrnehmungsvorgang an sich scheint nach Bonhöffers*)
Untersuchungen keine sehr auffallenden Störungen darzubieten.
Der genannte Forscher erhielt normale Werthe für die Berührungs-
Temperatur- und Schmerzempfindlichkeit der Haut, ebenso für die
Seh- und Hörschärfe und das Augenmaass. Das Gesichtsfeld
fand sich hie und da etwas eingeschränkt; die Farbenerkennung
war unsicher, die Raumschwelle an Fingerkuppe und Stirn erhöht.
Sehr bemerkenswerth sind bisweilen die Störungen des Gleich-
gewichtssinnes. Bonhöf fer hat darauf aufmerksam gemacht, dass
manche Kranke ausser Stande sind, sich aufzusetzen, zu stehen und
zu gehen, vielmehr ängstlich die Rückenlage einhalten. Er ist der
Ansicht, dass hier die körperliche Orientirung im Raume gestört sei.
Vielfach trifft man auch auf die Angabe, dass der Boden schwanke,
die Wände einzustürzen drohen; es mag dahin gestellt bleiben, ob
dabei Störungen der Augenmuskelbewegungen oder des Labyrinth-
sinnes die Hauptrolle spielen.
Bei allen genaueren Prüfungen stellen sich, in Uebereinstimmung
mit der allgemeinen klinischen Erfahrung, Störungen der Auffassung
nach zwei Richtungen heraus. Zunächst mischen sich in die Wahr-
nehmungen der Kranken überall reichliche Eigenerregungen der
betreffenden Sinnesgebiete, so dass es zu fortwährenden Verfälschungen
der Wahrnehmung kommt. Die Kranken verhören sich, verkennen
vorgezeigte Bilder, sehen Zusätze, Bewegungen auf denselben, mühen
sich vergeblich ab, scharfe und klare Eindrücke zu bekommen. Noch
deutlicher wird die Störung beim Lesen. Statt der gegebenen Sätze
wird eine ganz sinnlose Reihe von Wörtern und Lautverbindungen
vorgebracht, besonders dann, wenn die Kleinheit der Schrift die
Erkennung erschwert oder selbst unmöglich macht, was die Kranken
bisweilen gar nicht bemerken. Oft fehlt jede erkennbare Beziehung
zwischen Vorlage und Wiedergabe, eine Erscheinung, die ich, freilich
in sehr abgeschwächter Form, auch bei einem Alkoholisten ohne
Delirium nachweisen konnte. Dort hatte ich Ursache, als Grund-
lage der Lesestörung nicht nur eine Verschlechterung der Auf-
fassung und Beeinflussung derselben durch Wortvorstellungen, son-
*) Der Geisteszustand der Alkoholdeliranten. 1897.
78
III. Die Vergiftungen.
dem auch das Auftreten von sprachlichen Fehlreactionen anzunehmen,
das planlose Aussprechen irgend welcher, auf der Zunge liegender
Lautverbindungen an Stelle der fehlerhaft und ungenau erfassten
Eindrücke, ohne innere Beziehung zur Vorlage. Auch Bonhöffer
spricht, vielleicht in ähnlichem Sinne, bei seinen Beliranten von
„paraphasischem“ Lesen.
Besondere Schwierigkeiten macht es ferner, die Aufmerksam-
keit der Kranken zu fesseln. Während sie in einem Augenblicke
tadellos auffassen, ist es im nächsten oft kaum möglich, sich ihnen
verständlich zu machen. Derselbe Kranke, der auf eindringliches
Anreden geordnete Auskunft giebt, geräth vielleicht sofort wieder
in seine Delirien hinein, sobald man ihn sich selbst überlässt. Diese
grossen Schwankungen der Aufmerksamkeit lassen die Störungen
der Auffassung viel stärker .erscheinen, als sie wirklich sind. Die
Kranken bemerken nur das, was sich ihnen besonders aufdrängt
Daraus erklärt es sich vielleicht, dass sie bisweilen über schwere
Verletzungen gar nicht klagen, gebrochene Glieder mit der grössten
Rücksichtslosigkeit bewegen. Das Bewusstsein zeigt regelmässig
eine leichte Trübung. Das Verständniss für die Vorgänge in der
Umgebung ist ein ziemlich unklares; die auftauchenden Vorstellungen
sind verschwommen und widerspruchsvoll. Gleichwol vermögen die
Kranken in der Regel über fernliegende Verhältnisse leidliche Aus-
kunft zu geben. Nur in sehr schweren Fällen imd namentlich im
Anschlüsse an epileptische Anfälle tritt stärkere Unbesinnlichkeit
und Benommenheit hervor.
In auffallendem Gegensätze zu der geringen Beeinträchtigung
der Besonnenheit steht regelmässig die schwere Störung der
Orientirung. Wenn wir von den allerleichtesten Fällen absehen.
wird die Umgebung von den Kranken immer verkannt. Sie be-
grüssen Arzt und Mitkranke auf Befragen mit den Namen alter
Bekannter, halten die Räume für irgend Avelche Oertlichkeiten in
der Heimath, am häufigsten für Wirthshäuser, Brauereien u. dergl.
Alle diese Bezeichnungen können binnen kurzem wechseln, wenn
die Kranken ihren Aufenthaltsort geändert zu haben glauben,
während sie andererseits wirkliche Reisen gewöhnlich gar nicht
verarbeiten. Auch die Schätzung der durchlebten Zeiträume ist
eine ganz unsichere. Meist erscheint den Kranken die Dauer
des Deliriums ungemein lang. Sie berichten daher über ihre
Alkoholismus.
79
krankhaften Erlebnisse, als wenn Wochen oder Monate darüber
hingegangen wären.
Unter den illusionären und hallucinatorischen Trug wahr-
nehm ungen, die anfangs vielleicht nur des Nachts, dann aber
auch bei Tage hervortreten und den Kranken lebhaft beschäftigen,
pflegen diejenigen des Gesichtes zu überwiegen. Die Täuschungen
sind von grosser sinnlicher Deutlichkeit, vielfach schreckhaften und
unangenehmen Inhalts. Meist sehen die Kranken massenhafte kleinere
und grössere Gegenstände, Staub, Flocken, Münzen, Schnapsgläschen,
Flaschen, Stangen. Fast immer zeigen die Gesichtsbilder mehr oder
weniger lebhafte Bewegung, wol im Zusammenhänge mit Augen-
muskelbewegungen; auch Doppeltsehen wird beobachtet. Thiere
drängen sich zwischen die Beine, schwirren in der Luft herum, be-
decken das Essen; alles wimmelt von Spinnen „mit goldenen
Flügeln“, Käfern, Wanzen, Schlangen, Gewürm mit langen Stacheln,
Ratten, Hunden, Raubthieren. Grosse Menschenmengen dringen auf
die Kranken ein (feindliche Reiter, sogar „auf Stelzen“, Gensdarmen)
oder marschiren in langen, abenteuerlich gruppirten Zügen an ihnen
vorbei; eiuzelne gefahrdrohende Spukgestalten, Missgeburten, kleine
Männer, Teufel, „Feuerrüpel“, Gespenster stecken den Kopf in die
Thüre, huschen unter den Möbeln herum, steigen auf Leitern in die
Höhe. Seltener sind geputzte, lachende Mädchen oder lascive Scenen,
Fastnachtsscherze, Theateraufführungen. Ein Kranker sah seine
Frau mit ihrem Liebhaber auf offenem Markte in Gegenwart sämmt-
licher Fürsten und Würdenträger des Deutschen Reiches geschlecht-
lich verkehren. Dazu gesellt sich die Wahrnehmung von brausen-
den Geräuschen, Klingen und Sausen, unbestimmtem Lärm, lautem,
wirrem Geschrei, feiner, schöner Musik, Yogelgesang, von Glocken-
geläute, Kanonenschüssen und Salven, bisweilen auch von deutlichen
Stimmen, Jammern der Angehörigen, Scheltworten, Drohungen und
Anklagen. Dem Kranken sollen Hände und Fiisse abgehackt werden;
man will ihn erschiessen, seine Kinder in einer Kiste verschicken.
Durch verschiedenartige absonderliche Empfindungen auf der Haut
entsteht bei dem Kranken die Idee, dass Ameisen, Kröten, Spinnen
auf derselben entlang kriechen; die Genitalien werden ihm ab-
gefressen; die Därme fallen aus dem Leibe; er fühlt sich von
feinen Fäden eingesponnen, mit Wasser angespritzt, gebissen, ge-
stochen, geschossen. Er sammelt Geld, das er massenhaft herum-
80
III. Die Vergiftungen.
liegen sieht und deutlich in der Hand fühlt, aber es zerrinnt wie
Quecksilber. Was er anfasst, schwindet, kriecht zusammen oder
wächst ins Ungeheure, um wieder zu zerfallen, fortzurollen, weg-
zufliessen. Der unter dem Strohsack versteckte Nebenbuhler ent-
schlüpft immer in dem Augenblicke, wo der Kranke ihn sicher zu
fassen glaubt.
Auf der Höhe des Deliriums kann man dem Kranken fast
immer gewisse Täuschungen durch lebhaftes Einreden suggeriren.
Er sucht auf unsere Aufforderung das Ungeziefer am Rocke zu ent-
fernen, bemüht sich, das angeblich heruntergefallene Geldstück vom
Boden aufzuheben, legt behutsam die Nadel auf den Tisch, die wir
ihm vermeintlich in die Hand gedrückt haben. Wie von Liep-
rnann*) und Anderen gezeigt wurde, fangen die Kranken sehr
häufig an, über Gesichtstäuschungen zu berichten, sobald man einen
leichten Druck auf ihren Augapfel ausübt, öfters auch noch in
der Genesungszeit. Sie sehen dann Farben, Blumen, Thiere.
Wörter und Buchstaben, nicht selten alles, was man ihnen gerade
vorredet.
Gerade bei derartigen "Versuchen sieht man deutlich, dass viele
dieser Trugwahrnehmungen mein- als Hlusionen aufzufassen sind,
insofern die wirkliche Wahrnehmung die erste Anregung zu den-
selben liefert. Die kleinen Knoten und Unregelmässigkeiten des
Gewebes erscheinen wie Flöhe auf dem Bettzeug, die Schrammen
der Tischplatte als Nadeln, Flecke am Boden als Münzen; in den
Wänden öffnen sich geheime Thüren. Wie indessen Bonhöffer
betont hat, ist der eigentliche Ursprung der Täuschungen offenbar
in centralen Vorgängen zu suchen. Dafür spricht auch die von mir
gemachte Erfahrung, dass sich die Gesichtstäuschungen beim Sehen
durch farbige Gläser nicht mitfärben. Die Trugwahrnehmungen treten
auf, sobald die Aufmerksamkeit des Kranken sich auf irgend ein
Sinnesgebiet richtet. Schon Liepmann war es gelungen, Gesichts-
täuschungen durch Verhängen der Augen mit einem schwarzen
Tuche oder Verdunkelung des Zimmers zu erzeugen; nach Bon-
höffers Angaben genügtes, den Kranken einfach zu fragen, was er
sehe, höre, fühle, um sofort eine ganze Reihe von entsprechenden Trug-
wahrnehmungen hervorzurufen. Wir können daher nicht zweifeln,
*) Archiv f. Psychiatrie, XXV, 1.
Alkoholismus.
81
dass wir es mit massenhaften Eigenerregungen in den centralen
Sinnesflächen zu thun haben. Die Gestaltung derselben kann durch
Wahrnehmungen und Vorstellungen bis zu einem gewissen Grade
beeinflusst werden; dafür spricht nicht nur die Zugänglichkeit für
das Einreden, sondern namentlich auch der Zusammenschluss ver-
schiedenartiger Täuschungen zu einheitlichen deliriösen Vorgängen.
Allerdings sind manche Trugwahrnehmungen für den Kranken
nichts als einfache Schaustücke, denen er ohne innere Betheiligung
beiwohnt. So sah ein Kranker eine Anzahl Personen auf Motor-
wagen in seine Stube fahren und dort viele Stunden lang un-
unterbrochen schmausen, ohne ein Wort zu sprechen. Nachher
reinigten sie den Boden und fuhren wieder davon. Meist aber
kommt es zur Aneinanderreihung mehr oder weniger zusammen-
hängender Erlebnisse voll abenteuerlicher Einzelheiten. Der
Kranke durchlebt mit offenen Augen in bunter Folge die merk-
würdigsten und widerspruchsvollsten Ereignisse und vermischt
dabei oft unentwirrbar wix-kliche Eindrücke mit deliriösen Wahr-
nehmungen. Einer meiner Kranken sah sich vor ein geheimes Ge-
richt gestellt, bei welchem Trinker und Temperenzler um ihn kämpften.
Andere werden zum Tode verurtheilt, mit scheusslichem Gewürm
eingesperrt, zum Abgesandten Gottes gemacht, ins Bad geführt, vom
Arzt untersucht, von Studenten mit Champagner überschwemmt,
machen Festtafeln und weite Spaziergänge mit, finden sich dann
plötzlich wieder eingesperrt und ihrer Kleider beraubt, alle Ausgänge
mit Marmorsäulen verstellt, an die sie unversehens anstossen.
Meist spielt in den deliriösen Erlebnissen die gewohnte
Thätigkeit eine hervorragende Rolle („Beschäftigungsdelirium“).
Die Kranken glauben im Wii’thshause zu sein, bestellen Schnaps
oder eine Portion Kalbsbi'aten, sehen Getränke vor sich, greifen
nach denselben und trinken sie aus, hören Aufträge, ser viren den
„Gästen“, suchen nach dem „verlegten“ Kellerschlüssel, oder sie
wähnen sich mit irgend einer Arbeit beschäftigt, packen Kirschen in
Körbe, nähen mit imaginären Fäden, klopfen mit einem eingebildeten
Hammer, zügeln ihre ungeberdigen Pferde u. dergl. Alle diese
Hantirungen werden mit grosser Ausführlichkeit vorgenommen, genau
wie im wirklichen Leben. Auf Grund dieser Delirien bildet sich
für den Kranken eine völlige wahnhafte Verfälschung seiner Lage
und der sich abspielenden Ereignisse heraus. Dennoch gewinnen diese
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Anfl. U. Band. 6
82
III. Die Vergiftungen.
Wahnvorstellungen eine auffallend geringe Macht über sein Denken
und Handeln. Er pflegt sie nicht weiter zu verarbeiten, vergisst sie
rasch wieder, lässt sich davon abbringen, macht nicht viel Aufhebens
davon. Niemals kommt es, wie Bonhöf fer richtig bemerkt, zu
einer wahnhaften Veränderung des Persönlichkeitsbewusstseins. Die
Kranken wissen immer genau, w7er und was sie sind, lassen sich
auch in dieser Hinsicht nichts einreden.
Der Gedankengang der Kranken ist meist leidlich zusammen-
hängend; sie pflegen nicht eigentlich verwirrt zu sein Doch besteht
immer eine ausserordentliche Ablenkbarkeit. Die Zielvorstellungen
sind flüchtig und von geringer Stärke. Zwischenfragen, zufällige
Eindrücke, wol auch Sinnestäuschungen oder auftauchende Vor-
stellungen genügen, um den Gedankengang zu hemmen und in
andere Bahnen zu leiten. Die Kranken sind unfähig, ihre Gedanken
zu sammeln, sich rasch zu besinnen, schwierigere geistige Aufgaben
zu lösen, Widersprüche zu erkennen, ihre Lage zu beurtheilen.
Doch tritt öfters ein gewisses unklares Krankheitsbewusstsein hervor.
Alle diese Eigenthümlichkeiten erinnern uns in hohem Grade an
das Verhalten des Traumes; sie deuten darauf hin, dass die Vor-
stellungen nur unvollkommen und einseitig beleuchtet sind und nicht
in ihrem ganzen Umfange überblickt werden. Auch die Lebhaftig-
keit der deliriösen Bilder sowie den Verlust der zeitlichen, räum-
lichen und sachlichen Orientirung ohne Beeinträchtigung des Per-
sönlichkeitsbewusstseins finden wir ähnlich im Traume wieder.
Die Merkfähigkeit für vorgesagte Wörter und Zahlen ist bei
den Kranken nach Bonhöffers Untersuchungen bedeutend herair-
gesetzt; besser werden Bilder wieder erkannt, weil sie mehr An-
knüpfungen darbieten. Das Gedächtniss für frühere Ereignisse
und Kenntnisse ist in der Regel ungestört. Die Kranken sind im
Stande, über ihr Vorleben, ihr Geschäft eingehende, richtige Angaben
zu machen; nur in schweren Fällen laufen auch hier Ungeuauig-
keiten und Fehler mit unter. Die Erlebnisse der jüngsten Vergangen-
heit dagegen werden rasch vergessen, verändert, verwechselt; jeden-
falls geht ihre zeitliche Ordnung völlig verloren. Vielfach treten dabei
Erinnerungsfälschungen auf, die anscheinend im Augenblicke
frei entstehen. Die Kranken erzählen, dass sie gerade verreist ge-
wesen seien, Besuch erhalten, eine Arbeit fertig gestellt hätten, lassen
sich in ihren Angaben durch Einwände und Zureden bestimmen;
Alkoholismus.
83
diese Erscheinung erinnert uns an das ebenfalls vielfach auf alkoho-
lischem Boden erwachsende polyneuritische Irresein.
Die Stimmung der Kranken steht im allgemeinen mit dem
Inhalte der Delirien in nahem Zusammenhänge. Sie ist daher bald
ängstlich, schreckhaft, bald eigen thümlich humoristisch. Bei dem
raschen Wechsel der deliriösen Erlebnisse ändert sich auch der
Stimmungshintergrund häufig ganz unvermittelt. Der Kranke, dem
der Angstschweiss auf der Stirn steht, macht sich über seine eigene
Lage lustig, bringt witzige Bemerkungen vor, schildert in spasshafter
Weise seine Täuschungen ; Lachen und Todesfurcht folgen kurz auf-
einander. Meist bildet sich auf diese Weise ein ungemein bezeichnen-
des Gemisch von geheimer Angst und Humor heraus. Der Kranke
wird durch die Schreckbilder und die Unklarheit seiner Lage be-
unruhigt, empfindet aber doch gleichzeitig mehr oder weniger deut-
lich die lächerlichen Unmöglichkeiten und Widersprüche in seinen
deliriösen Erlebnissen.
Im Benehmen und Handeln des Kranken fällt regelmässig
eine ausgeprägte Unruhe, vielfach auch grosse Schwatzhaftigkeit
auf. Seine Antworten erfolgen, wenn überhaupt, rasch und ohne
langes Besinnen. Er ist völlig ausser Stande, sich wirklich geordnet
zu beschäftigen, wird vielmehr durch die Täuschungen vollkommen
in Anspruch genommen. Selten lässt er dieselben einfach an sich
vorüberziehen; meist veranlassen sie ihn zu lebhaften Aeusserungen.
Er antwortet laut auf die rufenden Stimmen, vertheidigt sich gegen
die Vorwürfe, bleibt nicht im Bett, drängt zur Thür hinaus, weil es
bereits die höchste Zeit zu seiner Hinrichtung sei, Alle schon auf
ihn warten. Ueber die wunderlichen Thiere belustigt er sich,
schreckt vor den schwirrenden Vögeln zurück, sucht das Gewürm
wegzuwischen, die Käfer zu zertreten, greift mit gespreizten Eingern
nach den Flöhen, sammelt das überall herumliegende Geld auf, sucht
die ihn umspinnenden Fäden zu zerreissen, hüpft mit peinlicher
Anstrengung über die an der Erde gezogenen Drähte hinweg. Dazu
gesellen sich die mannigfachsten Handlungen, welche aus dem oben
erwähnten Beschäftigungsdelirium hervorgehen. Verhältnissmässig
selten kommt es auch wol einmal zu plumpen Angriffen auf die
für feindselig gehaltene Umgebung oder zu ernsthafteren Selbst-
mordversuchen. Häufiger verunglücken die Kranken in ihren
deliriösen Unternehmungen. Einer meiner Kranken stürzte sich in
6*
84
III. Die Vergiftungen.
der Haft aus Angst vor dem eintretenden Diener zwei Treppen hoch
aus dem Fenster und brach den Radius; ein Student zwängte sich
durch das Fenster seines Zimmers, um auf einen hallucinirten
Bahnsteig zu gelangen, fiel auf das Geländer des einen Stock tiefer
gelegenen Balkons und blieb dort im weichen Schnee liegen, ohne
sich verletzt zu haben.
Auf sensiblem Gebiete können Paraesthesien, Hyperaestbesien,
Anaesthesien und Analgesien bestehen, wie sie den chronischen
Alkoholismus überhaupt zu begleiten pflegen. Die Bewegungen sind
plump, ungeschickt, fahrig; oft besteht grosse Hinfälligkeit und
Muskelschwäche. Der Gang ist meist unsicher imd taumelnd. Die
Sprache zeigt öfters ataktische und paraphasische Störungen, Ver-
sprechen, Verwechseln von Buchstaben und Wörtern; sie kann in
schweren Fällen lallend und ganz unverständlich werden. Das auf-
fallendste Zeichen aber, welches der Krankheit den Namen gegeben
hat, ist das starke, an Zunge und gespreizten Fingern regelmässig
sehr deutlich hervortretende Zittern, welches sich auch noch weiter
über Gesicht und Extremitäten ausbreiten kann. Sehr schön prägt
Schriftprobe I. Alkoholisches Zittern.
Alkoholismus.
85
sich dieses Zittern in der beiliegenden Schriftprobe*) aus, die auf
den ersten Blick den Eindruck einer paralytischen macht. Die
Regelmässigkeit der Wellenlinien, wie sie besonders in den langen
Zügen hervortritt, weist indessen auf die alkoholische Entstehung
hin. In einzelnen, besonders schweren Fällen treten auch stärkere
Muskelstösse und selbst tonische Spannungen auf, wahrscheinlich
als Theilerscheinungen der Alkoholepilepsie. Bisweilen beobachtet
man Zähneknirschen. Die Gesichtszüge sind schlaff; häufig machen
sich einzelne unwillkürliche Zuckungen und Mitbewegungen bemerk-
bar. Recht häufig sind schwere epileptiforme Krämpfe, die in
etwa 10 °/0 der Fälle 1 — 2 Tage vor Ausbruch der Erkrankung,
seltener während derselben auftreten. Die Reflexerregbarkeit
ist meist gesteigert, besonders hochgradig kurz vor epileptischen An-
fällen. In vereinzelten, mit derartigen Krämpfen sehr heftig ein-
setzenden Fällen scheinen nach Bonhöf fers Schilderung gröbere
Herderscheinungen, Facialislähmung und Hemiparesen vorzukommen,
die ungemein rasch wieder verschwinden.
Der Schlaf ist im Delirium tremens nahezu gänzlich aufge-
hoben; die Unruhe pflegt sich gegen Abend zu steigern und dauert
ohne jede oder doch nur mit sehr geringen Unterbrechungen fort,
wenn nicht der Eintritt soporöser Zustände eine ungünstige Wendung
des Krankheitsverlaufes ankündigt. Die Ernährung ist durch die
ängstliche Erregung der Kranken, durch den regelmässig bestehen-
den Katarrh des Mundes und Magens sowie durch gelegentliche Ver-
giftungsideen mit Nahrungsverweigerung empfindlich beeinträchtigt;
das Körpergewicht pflegt erheblich zu sinken. Die Eigenwärme soll
nach den Angaben von Friis und Jacobson auch in 80 — 90 °/0
derjenigen Fälle erhöht sein, die nicht mit anderweitigen körperlichen
Erkrankungen einhergehen. Ihr Höhepunkt wird am 1. oder 2. Tage
erreicht; dann erfolgt langsames oder plötzliches Sinken. Bisweilen
schiebt sich ein fieberloser Tag in den sonst fieberhaften Verlauf ein.
In einzelnen Fällen erreicht die Temperatursteigerung eine gefähr-
liche Hartnäckigkeit und Höhe (bis zu 43 °) mit tödtlichem Ausgange
(Delirium tremens febrile von Magnan); es dürfte sich hier
wol immer um Infectionen handeln, für deren Zustandekommen bei
der Unempfindlichkeit und geringen Widerstandsfähigkeit der Kranken
') Dieselbe ist, wie alle folgenden, auf 2,3 verkleinert.
86
III. Die Vergiftungen.
sehr günstige Bedingungen gegeben sind. Die Pulsgeschwindigkeit
ist beschleunigt, weniger diejenige der Athraung; häufig treten starke
Schweisse auf. Im Harn fand Liepmann*) auf der Höhe der
Krankheit in 76% der Fälle Eiweiss, in 26% sogar grössere Mengen.
Meist verschwand das Eiweiss mit dem Aufhören des Deliriums sehr
rasch; in 24% der Fälle Hess es sich auch später noch nachweisen,
stand also wahrscheinlich mit den allgemeinen Veränderungen des
chronischen Alkoholismus in Zusammenhang. Albumosen fanden
sich verhältnissmässig selten, ungemein häufig dagegen Nucleoalbumin.
Von -erheblicher Bedeutung für das Verständniss des DeUrium tremens
sind endlich vielleicht noch die von Eisholz**) erhobenen Blut-
befunde. Er konnte nachweisen, dass die Zahl der weissen Blut-
körperchen auf der Höhe der Krankheit nicht selten vermehrt ist
Ganz besonders nahmen die polynucleären Formen zu, während die
eosinophilen Formen verschwanden.
Der Verlauf des Delirium tremens ist meist ein rascher und
günstiger. Die Genesung vollzieht sich unter dem Eintritte
von Schlaf, gewöhnHch mit einem Male, oder aber unter aümäh-
lichem Zurücktreten der Sinnestäuschungen, die noch in beschränktem
Grade fortbestehen können, wenn der Kranke schon im Stande ist,
sie zu berichtigen. Mit dem Schlafe hört die Unruhe und das starke
Zittern auf, während der feinschlägige Tremor des chronischen Alkoho-
listen zurückbleibt. Die Eigenwärme sinkt; der Puls fällt plötzUch;
das Eiweiss im Harn verschwindet, und die oben erwähnten Blut-
veränderungen bilden sich zurück, verkehren sich sogar zunächst nicht
selten in ihr Gegentheil, um dann allmählich dem gewöhnlichen Ver-
halten zu weichen. So erweisen sich die eosinophilen Formen bis-
weilen längere Zeit hindurch sehr stark vermehrt, während die Zahl
der polynucleären Leukocythen bedeutend zurücktritt. Xach Jacob-
sons***) Uebersicht stellt sich der Schlaf in 80% der Fälle ohne
sonstige Erkrankung nach drei Tagen ein ; die kürzeste von ihm be-
obachtete Dauer des DeHriams war 1% — 2, die längste 5 Tage. Die
Erinnerung an die wahnhaften Erlebnisse ist im Gegensätze zu den
Krankheitszuständen mit sehr tiefer Bewusstseinstrübung oft, wenn
*) Archiv f. Psychiatrie, XXVIII, 570.
**) Jahrbücher f. Psychiatrie, XV, 2. u. 3.
***) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 221.
Alkoholisnius.
87
auch nicht immer, bis in die Einzelheiten klar. Spätere Wieder-
erkrankungen sind aus nahe liegenden Gründen ungemein häufig.
In ungünstig verlaufenden Fällen treten früher oder später die
psychischen Lähmungserscheinungen stärker hervor. Die Kranken
werden unbesinnlich, deliriren ganz zusammenhangslos; die Be-
wegungen werden schwächer und schlaffer; der Puls wird klein,
frequent, unzählbar, und unter rascher Zunahme der Benommenheit
oder in plötzlichem Zusammenbruche tritt der Tod ein. Dieser Aus-
gang ist bei sorgsamer Anstaltsbehandlung in etwa 3 — 5°/0, nach
Jacobsons Angaben sogar in 19°/0 der Fälle zu erwarten.. Die
wichtigste Todesursache bilden die Pneumonie, welche die Sterblich-
keit auf 40.5 °/0 steigert, ferner Herzschwäche, Blutvergiftung in
Folge von Verletzungen, endlich Selbstmord und Unglücksfälle.
Die Leichenöffnung pflegt sehr hochgradige venöse Stauungen
und Oedeme des Schädelinhaltes zu ergeben. Bonhöffer*) fand
namentlich in den Radiärfasern der Centralwindung, im Mark-
lager des Kleinhirnwurms, aber auch in den Vorder- und Seiten-
strängen des Rückenmarkes erheblichen Faserschwund; Schläfen-
lappen und Broca’sche Windung erwiesen sich als wenig oder
gar nicht verändert. An den grossen Pyramiden und den motori-
schen Zellen der vorderen Centralwindung war die Zeichnung
der ungefärbten Substanz mehr oder weniger verloreu gegangen;
die Fortsätze waren auffallend weit gefärbt. Hie und da liessen
sich Kernveränderungen erkennen. Eine Anzahl von Zellen er-
schien in Auflösung begriffen. Entsprechende Umwandlungen er-
gaben sich an den Purkin j e’schen Zellen. Nissl konnte ebenfalls
eine theilweise Vernichtung der Rindenzellen nachweisen. Ferner
fand sich eine Veränderung, die an andere acute Zellerkrankungen
erinnerte, Färbung der ungefärbten Substanz, insbesondere des Axen-
cylinderfortsatzes, Lockerung der Zellsubstanz und leichte Schwellung.
Daneben bestanden chronische Zellveränderungen und Gliawucherung.
EinTheil dieser Veränderungen dürfte auf den chronischen Alkoholis-
mus zu beziehen sein. Dahin gehören auch die miliaren Blutunge n,
die sich hie und da, besonders in der Gegend der Augenmuskel-
keme, finden, ferner die Gefässerkrank ungen. Ebenso sind wol die
so häufige Verfettung und Entartung des Herzens, die Cirrhose
*) Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie, I, 229.
88
III. Die Vergiftungen.
und Verfettung der Leber, die Nierenveränderungen aufzufassen.
Dagegen glaubt Jacobson für das Delirium tremens die Erfahrung
verwertben zu können, dass in 45 von 72 Todesfällen acute Hyper-
plasie, in weiteren 9 Fällen Hyperämie der Milz gefunden wurde.
In einer kleinen Zahl von Fällen gelangt das Delirirm tremens
mit dem Eintritte von Schlaf noch nicht zum Abschlüsse. Zunächst
kommt es vor, dass sich nach wenigen Tagen ein zweiter Anfall
des Deliriums entwickelt, der dann in Genesung übergeht. Weiter-
hin aber kann sich mit dem Schwinden des deliriösen Zustandes das
Krankheitsbild vollständig ändern. So weist Bonböffer darauf hin,
dass anscheinend einfache Delirien nicht selten in polyneuritische
Geistesstörungen übergehen. Ich selbst habe Gelegenheit gehabt, in
einer Reihe von Fällen andersartige psychische Erkrankungen nach
dem Ablaufe des Delirium tremens zu beobachten. Einmal sah ich
einen nach zwei Monaten günstig verlaufenden Zustand auftreten,
der mit seinen eigentümlichen Gehörstäuschungen und Wahn-
bildungen einigermassen an den später zu schildernden Alkohol-
wahnsinn erinnerte. Andererseits ist mir in den letzten Jahren mehr-
fach der Ausgang des Delirium tremens in einen eigenartigen
Schwachsinn begegnet, der noch keine genauere Beachtung gefunden
zu haben scheint.
Mit dem Schwinden der Sinnestäuschungen, der Desorientirung,
der Unruhe werden die Kranken nicht frei und einsichtig. Sie sind
zwar besonnen, geordnet, klar, erkennen auch wol an. dass sie krank
gewesen sind, delirirt haben, bleiben aber zurückhaltend und miss-
trauisch; bisweilen lässt sich das Fortbestehen einzelner Täuschungen
naclnveisen, namentlich im Bereiche des Gehörs. Allmählich treten
Verfolgungsideen hervor, deren Richtung vielfach zu wechseln pflegt.
Sie glauben beschimpft zu werden; man reizt sie. zeigt ihnen die
Zunge, greift ihnen an die Geschlechtstheile, treibt ihnen Nachts
den Samen ab, elektrisirt sie. Ein Kranker hielt Jahr und Tag
hartnäckig an der Vorstellung fest, dass man seinen Leichnam an
die Anatomie verkaufen wolle, bat allen Ernstes, man möge ihn
nicht hinterrücks überfallen, sondern sanft einschläfern. Irgend eine
Weiterentwicklung der Wahnideen findet nicht statt; sie bleiben
vielmehr ganz einförmig, werden fast mit denselben Wendungen
immer wieder vorgebracht. Hie und da gesellen sich vorübergehend
einmal Grössenideen hinzu, die in scherzhafter Form geäussert und
Alkoliolismus.
89
nicht festgehalten werden. Das Urtheil über die Umgebung ist in
der Regel ein ganz treffendes; dennoch lässt sich ein erheblicher
Grad von geistiger Schwäche und Stumpfheit trotz guten Gedächt-
nisses nicht verkennen.
Die Stimmung ist halb ängstlich oder ärgerlich, halb humoristisch;
die Kranken machen gern Witze und scherzhafte Bemerkungen über
sich und Andere, können aber auch in heftige Erregung gerathen.
Im allgemeinen pflegen sie gutmüthig, leicht lenksam und willens-
schwach zu sein. Die bemerkenswertheste Eigenthümlichkeit dieser
Zustände sind die deutlichen Schwankungen, die sie darbieten.
Zu Zeiten erscheinen die Kranken leidlich einsichtig, meinen selbst,
dass sie krank seien, wissen nicht, wie sie zu den dummen Ideen
kommen, beschäftigen sich, verkehren freundlich mit ihren angeb-
lichen Peinigern. Zu andern Zeiten werden sie ohne erkennbaren
Anlass gereizt, bringen die alten Klagen vor, halluciniren, schimpfen,
drohen, werden auch wol gewaltthätig, sind aber meist durch Zu-
spruch leicht zu beruhigen. Bisweilen ist ein solcher Anfall schon
nach wenigen Tagen vorüber, so dass man an epileptische Erregungs-
zustände erinnert wird; in anderen Fällen besteht dauernd ein ge-
wisses Misstrauen, das sich nur gelegentlich in heftigeren Aus-
brüchen entladet. Soviel ich bisher feststellen konnte, scheinen diese
Schwächezustände sich nicht mehr auszugleichen.
Unter den Deliranten überwiegt aus nahe liegenden Gründen
das männliche Geschlecht ganz bedeutend. Jacobson sah unter 300
derartigen Kranken nur 19 Weiber; 74 °/0 der Kranken standen
zwischen dem 30. und 50. Lebensjahre.
Die eigentlichen Ursachen des Delirium tremens sind noch
dunkel. Man nimmt gewöhnlich an, dass sich dasselbe ganz be-
sonders gern an irgend eine schwächende Einwirkung anschliesst,
namentlich an Verletzungen, fieberhafte Erkrankungen, starke ge-
müthliche Erregungen (Verhaftung). Jacobson hat indessen darauf
hingewiesen, dass immerhin die weit überwiegende Zahl von Delirien
ohne erkennbare äussere Ursache ausbricht. Er fand unter 280 Fällen
nur 14, in denen eine einigermassen erhebliche Verletzung voraus-
gegangen war, und auch hier war meist ein ursächlicher Zusammen-
hang unwahrscheinlich, oder die Verletzung erschien geradezu als
die Folge der beginnenden deliriösen Benommenheit, namentlich ein-
leitender Krampfanfälle. Verhältnissmässig häufig bricht das Delirium
90
III. Die Vergiftungen.
am 3. oder 4. Tage einer Pneumonie aus. Auch gehäuftes Trinken
dürfte nicht ohne Bedeutung sein. Endlich aber ist. wie ich glaube,
auf die schwere chronische Schädigung der allgemeinen
Ernährung Gewicht zu legen. Von den meisten Deliranten erfährt
man, dass sie in Folge ihres Magenkatarrhs seit Wochen oder Mo-
naten sehr wenig Nahrung zu sich genommen haben. Gar keine be-
sondere Wirkung dagegen möchte ich der plötzlichen Entziehung des
Alkohols zuschreiben, die von manchen Seiten als die wichtigste Ursache
des Deliriums angesehen wird. Die Störung bricht vielfach trotz fort-
gesetzten Alkoholgenusses und ebenso noch längere Zeit nach völliger
Entziehung desselben aus. Einen Epileptiker sah ich nach 14tägiger
Haft im Anschlüsse an einen epileptischen Dämmerzustand ein un-
zweifelhaftes Delirium tremens durchmachen.
Jedenfalls bestehen unverbrüchliche Beziehungen zwischen
Delirium tremens und chronischem Alkoholismus. Namentlich der
Schnaps spielt in dieser Beziehung die Hauptrolle, aber auch der
Wein, weniger das Bier. Gleichwol trägt das Delirium tremens
durchaus andere Züge, als die uns so wohlbekannte Alkoholvergiftung.
Ihm fehlt vor allem die Ideenflucht, während es auf der anderen
Seite in den ungemein lebhaften Sinnestäuschungen ganz neue,
eigenartige Krankheitszeichen aufweist. Dazu kommt, dass die Krank-
heit innerhalb weniger Tage schwindet, selbst wenn Alkohol fort-
gegeben wird, dass sie nach längerer Enthaltsamkeit doch noch auf-
treten kann, und dass sie durchaus nicht jeden Trinker befällt,
auch wenn derselbe sonst die Zeichen des chronischen Alkoholismus
deutlich darbietet. Aus diesen Erwägungen scheint mir hervor-
zugehen, dass bei der Entstehung des Deliriums ausser dem Alkohol-
missbrauche noch irgend ein besonderer Umstand mitwirken muss,
den wir bisher nicht kennen. Ich bin geneigt, anzunehmen, dass
hier die mannigfaltigen und schweren Organ Veränderungen eine
Rolle mitspielen, welche der chronische Alkoholismus erzeugt Wahr-
scheinlich kommt es, wie ja auch die Blutarmuth und der Fettreich-
thum der Trinker zeigen, zu tiefgreifenden Stoffwechselstörungen, in
deren Verlaufe irgend ein ungünstiges Ereigniss jene Gleichgewichts-
schwankung hervorrufen kann, die sich uns klinisch als Delirium
tremens darstellt.
Zu ähnlichen Ansichten sind eine Reihe von anderen Forschern
gekommen. Jacobson weist besonders noch auf die Möglichkeit
Alkoholismus.
91
einer Aufnahme von Zersetzungsstoffen aus dem Darme hin, und
auch Eisholz tritt im Hinblicke auf die von ihm nachgewiesenen
Blutveränderungen für die Annahme einer eigenartigen Selbstver-
giftung ein. Er meint, dass der Alkohol gewissermassen als Gegen-
gift gegen das im Körper gebildete Gift wirke, und führt darauf
den Drang des Trinkers zum Alkohol wie die bessernde Wirkung
des letzteren auf die Ataxie und das morgendliche Erbrechen zu-
rück. Ich möchte dagegen glauben, dass zur Erklärung der an-
geführten Erfahrungen die narkotisirenden, die euphorischen, psycho-
motorisch anregenden und weiterhin den Willen lähmenden Wirkungen
des Alkohols völlig ausreichen. Immerhin deuten die Befunde im
Blute wie im Harn, die beide weder durch unmittelbare Alkoholwirkung
noch durch Fieber zu Stande kommen, ferner die häufigen Steige-
rungen der Eigenwärme und endlich das ganz eigenartige psychische
Krankheitsbild mit grösster Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass wir
es im Delirium tremens nicht mit einer einfachen Steigerung der
chronischen Alkoholvergiftung, sondern mit einer wesentlich anders-
artigen Vergiftung zu thun haben, die durch den Alkoholmissbrauch
nur vorbereitet wird. Wir beobachten übrigens bei sicher nicht
trinkenden Paralytikern bisweilen rasch verlaufende Erregungs-
zustände, die dem Delirium tremens ganz ausserordentlich ähn-
lich sind.
Eine gewisse Bestätigung der hier entwickelten Anschauung
scheinen mir auch die nicht seltenen Fälle von abgekürzten und nur
angedeuteten Formen des Delirium tremens zu liefern. Hier kommt es
vorübergehend zu einzelnen schlaflosen Nächten, zu leichter Aengst-
lichkeit und Benommenheit mit einzelnen Sinnestäuschungen und
rasch berichtigten Wahnbildungen. Auch nächtliche Sinnestäuschungen
ohne weitere psychische Störung bei voller Krankheitseinsicht kommen
bisweilen vor. Sehr viele meiner Kranken hatten vor dem ausge-
prägten Delirium solche leichtere Anfälle durchlebt, ein Zeichen
dafür, dass die Störung öfters schon längere Zeit vorbereitet ist,
bevor der endgültige Ausbruch erfolgt. Eine Frau begab sich
schon ein Vierteljahr vorher immer mit einer Gabel bewaffnet
zu Bett, weil sie die unbestimmte Furcht hatte, abgeholt und fort-
geschleppt zu -werden. Ein anderer Kranker suchte sich mehr-
fach durch Schiessen gegen die ihn bedrohenden Gestalten zu ver-
teidigen.
92
III. Die Vergiftungen.
Die Erkennung des Delirium tremens bietet bei genauer
Beachtung des Krankheitsbildes gewöhnlich keinerlei Schwierigkeiten.
Den oben erwähnten paralytischen Kranken fehlt der Humor der
Trinker; auch pflegen sie weniger mittheilsam und benommener zu
sein. Die schweren Dämmerzustände mit Herderscheinungen, wie
sie bisweilen im Anschlüsse an einen Krampfanfall die Einleitung
des Deliriums bilden, können mit Meningitis verwechselt werden
bis die rasche Besserung und das Hervortreten der bekannten
Krankheitszeichen die Sachlage klärt. Man wird dabei das Fehlen
der Nackenstarre zu beachten haben. Recht häufig sind Mischungen
von Eieberdelirien oder epileptischen Dämmerzuständen mit Delirium
tremens. Meist findet man hier eine stärkere Bewusstseinstrübung,
bei der Epilepsie auch verworrene Wahnvorstellungen, besonders
religiösen Inhalts, während der alkoholische Einfluss sich in der
Unruhe, den lebhaften Sinnestäuschungen, dem Beschäftigungsdelirium
und dem Zittern bemerkbar macht. Aehnliches gilt von der Mischung
paralytischer und alkoholischer Delirien, denen die Verfälschung des
Persönlichkeitsbewusstseins ihre eigenthümliche Färbung giebt. Die
seltenen schwachsinnigen Endzustände nach Delirium tremens werden
vielfach als Paranoia aufgefasst. Was sie davon unterscheidet, ist
das Fehlen jeder Systematisirung und Fortentwicklung der Wahn-
vorstellungen, ihr geringer Einfluss auf das Handeln, endlich das
deutliche Schwanken zwischen halber Einsicht und wahnhafter Be-
fangenheit im Zusammenhänge mit Stimmungsänderungen.
Die Behandlung des Delirium tremens hat sich vor allem
jedes schwächenden Eingriffes zu enthalten und für die möglichste
Erhaltung der Kräfte durch gute Ernährung (Milch) Sorge zu
tragen. Schon von vorn herein ist bei körperlich erkrankten Trinkern
stets die Möglichkeit eines eintretenden Delirium tremens ins Auge
zu fassen und daher nach den angedeuteten Gesichtspunkten zu ver-
fahren. In einer grossen Zahl von Fällen wird man mit dem rein
zuwartenden Verfahren vollständig auskommen. Bisweilen jedoch
erscheint es nothwendig, die Unruhe und Schlaflosigkeit entschieden
zu bekämpfen. Zu diesem Zwecke wird man sich des Paraldehyd,
des Sulfonal oder Trioual bedieneu; das Chloralhydrat ist nicht un-
gefährlich. Freilich versagen oft alle Schlafmittel, v. Krafft-Ebing
hat dringend die bis zum Eintreten des Schlafes alle 2 — 3 Stunden
wiederholte subcutane Anwendung des Methylal (je 0,1 gr) ange-
Alkoholismus.
93
rathen, welche den grossen Vorzug haben soll, die Dauer des
Deliriums abzukürzen. Wo die Zeichen vorgeschrittener Alkohol-
entartung vorliegen, bei schwereren Complicationen und bei Fieber
wird 'auch das Opium (subcutan 0,05 gr Extr. Opii aquosi alle
3 — 4 Stunden, bis Schlaf eintritt) warm empfohlen. Dabei ist die
Herzthätigkeit sorgfältig zu überwachen. Rasches Abbrechen der
Opiumbehandlung muss vermieden werden. Den Alkohol wird man
in der Regel vollkommen entbehren können, zumal seine Unschäd-
lichkeit nicht ganz zweifellos ist; ich sah sehr schwere Fälle ohne
denselben überraschend günstig verlaufen. Dagegen ist bei Herz-
schwäche ein anregendes Verfahren ohne Narkotica am Platze (Aether,
Campher, starker Kaffee, kühle Uebergiessungen).
Von grösster Wichtigkeit ist endlich bei der bekannten Ge-
fährlichkeit dieser Kranken für sich und Andere eine sorgfältige,
unausgesetzte Ueberwachung. Ausgezeichnet bewährt sich auch
hier das Dauerbad. Ebenso sind Polsterbetten sehr empfehlens-
werth, aber nur dann, wenn sich beständig Pflegepersonal in
unmittelbarer Nähe befindet; im anderen Falle kann das Hinaus-
klettern des ungeschickten Kranken über die hohe Seitenwand
zu schweren Verletzungen Veranlassung geben. Die Genesung
ist durch die Sorge für Beseitigung der Verdauungsstörungen
und gute Ernährung sowie durch Regelung des Schlafes zu unter-
stützen.
Eine weitere Form des alkoholischen Irreseins stellt der hallu-
cinatorische Wahnsinn der Trinker dar. Es handelt sich dabei um
die acute Entwicklung eines zusammenhängenden Verfolgungs-
wahns, vorzugsweise auf Grund von Gehörstäuschungen, bei nahezu
völliger Klarheit des Bewusstseins. Der Beginn der Erkrankung
ist in der Regel ein plötzlicher; seltener geht derselben ein kurzes
Vorläuferstadium voran, mit grundloser Verstimmung, Reizbarkeit,
Erschwerung des Denkens, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit. Der
Kranke hört, häufig zuerst des Nachts, allerlei unbestimmte Ge-
räusche, Rauschen, Bienensummen, Glockenläuten, Schiessen, dann
einzelne Aeusserungen oder auch ganze Gespräche, die sich mit
seiner Person beschäftigen. Von der Strasse her, vom Gang draussen,
aus dem Nebenzimmer tönen die Stimmen, bisweilen flüsternd, bis-
weilen mit vollkommener Deutlichkeit. Hie und da werden sie nur
mit einem Ohre wahrgenommen. Meist sind es die Stimmen von
94
III. Die Vergiftungen.
Bekannten, oder sie werden doch bestimmten Personen, Polizisten,
dem Staatsanwalt, den Socialdemokraten zugeschrieben.
Der Inhalt dieser Täuschungen ist für den Kranken meist wenig
angenehm. Er hört Yorwürfe und Drohungen; er sei ein Lump,
ein Taugenichts, habe über Kaiser und Krone geschimpft, Gottes-
lästerungen begangen, eine goldene Uhr gestohlen, wichtige Papiere
zerrissen; es ist ein Preis auf ihn gesetzt; man wird ihn durch-
prügeln, mit Steinen werfen, lynchen, erschiessen, abstechen wie ein
Schwein. Weit seltener sind Mittheilungen, dass ein Vorgesetzter
sich sehr anerkennend geäussert habe, dass der Kranke zur Be-
förderung vorgeschlagen werde u. dergl. Vielfach beziehen sich die
Stimmen auf alle möglichen Erlebnisse aus der Vergangenheit,
hecheln in Spottliedern und Knittelversen sein früheres Leben durch
oder begleiten mit höhnischen, neckenden Bemerkungen die Hand-
lungen und Bewegungen des Kranken, machen sich über seine
Kleidung lustig, lachen über seine Angst, erzählen, dass die Erau
gestorben, den Kindern der Hals abgeschnitten worden sei. Bis-
weilen folgen sie auch seinen Gedanken, sprechen sie laut aus,
machen Einwendungen, verspotten sie. Zunächst sind es gewöhn-
lich nur einzelne abgerissene Bemerkungen, die „telephonirt“ werden,
oft in rhythmischem Tonfalle, so dass man ihre Anknüpfung an die
Gefässgeräusche gut verfolgen kann. Später aber kommt es vielfach
zu langen, eingehenden Unterhaltungen, Berathungen über die zweck-
mässigste Art, dem Kranken zu Leibe zu gehen, zu Wechselreden
zwischen Verfolgern und Vertheidigern, ganzen Gerichtsverhandlungen.
Ein Kranker hörte im Nebenzimmer den Staatsanwalt eine lauge
Anklageschrift verlesen, dass er neunfacher Mörder und zum Tode
verurtheilt sei. Ein anderer hörte im Gasthause den Wirth mit
Frau und Tochter streiten, ob mau ihn erschiessen solle oder nicht;
unterdessen begehrten Verwandte unten Einlass, und auf der Strasse
schrie Jemand: „Das ist ja ein Bordell!“ In diesen Fällen spielt
sich alles so natürlich ab, dass der Kranke auch keinen Augenblick
an der Wirklichkeit des von ihm vermeintlich durchlebten Aben-
teuers zweifelt. East immer wenden sich die Stimmen nicht geradezu
an ihn, sondern er ist gewissermassen nur unfreiwilliger Zuhörer;
seltener werden ihm einzelne Schimpfworte unmittelbar zugerufen
oder Befehle ertheilt.
Ausser den Gehörstäuschungen bestehen in manchen Fällen
Alkoholismus.
95
vorübergehend solche des Gesichts, namentlich des Nachts, meist
ziemlich unbestimmten Inhalts. Der Kranke sieht alles blau, Funken
vor den Augen, Feuerschein, Tupfen an der Wand, nimmt drohende
Gestalten, Schatten wahr, die auf ihn zukommen, ihn berühren. Fliegen
schwirren in der Luft; Ungeziefer kriecht auf dem Bett; grosse
Hunde laufen durchs Zimmer; die Gegenstände erscheinen doppelt.
Das Essen hat einen eigen thümlicheu Geschmack, wirkt aufregend.
In Verbindung mit den Hallucinationen entwickelt sich regel-
mässig bei dem Kranken die Ueberzeugung, dass er Gegenstand
der allgemeinen Aufmerksamkeit ist, dass alle Welt über ihn spricht,
ihn beobachtet und bedroht. Offenbar hat man seinen ganzen Lebens-
schicksalen nachgespürt, ihm Geheimpolizisten nachgeschickt, Mittel
und Wege gefunden, ihn auf das genaueste zu überwachen, jede
seiner Bewegungen, ja jeden Gedanken sofort zu bemerken. Es
müssen besondere Vorrichtungen bestehen, die das ermöglichen, ge-
heime Löcher in den Wänden, elektrische Signalapparate, Telephone,
Spiegel u. dergl. Die Feinde stehen draussen und lauern ihm auf,
versammeln sich in einem nahe gelegenen Hause, schiessen zum
Fenster herein; das Blutgerüst wird aufgerichtet. In Folge dessen
wird er misstrauisch gegen seine Umgebung, die alle seine Wahr-
nehmungen einfach in Abrede stellt, hinter seinem Rücken« aber, wie
er durch die Stimmen erfährt, gegen ihn arbeitet. Gelegentlich
werden nun auch wirkliche Eindrücke im Sinne der Verfolgungs-
ideen gedeutet. Ein harmloser Mitreisender in der Eisenbahn führt
Böses im Schilde, so dass der Kranke auf der nächsten Station den
Zug verlässt und in entgegengesetzter Richtung weiterfährt; ein
Mann, der sich mit einem grossen Messer am Nebentische die Cigarre
abschneidet, erscheint in höchstem Maasse verdächtig. In den Zei-
tungen finden sich feindselige Anspielungen; die harmlose Aeusserung,
dass das Fleisch nicht reiche, macht dem Kranken klar, dass man
ihn abschlachten wolle.
Das Bewusstsein ist dabei kaum getrübt. Es besteht nur
eine ganz geringe, erst bei genauerer Beobachtung auffallende Be-
nommenheit und Verstörtheit.. Der Kranke ist besonnen, über seine
Umgebung orientirt, denkt im ganzen folgerichtig und vermag über
seine Krankheitserscheinungen zusammenhängende Auskunft zu geben,
ist freilich meist sehr zurückhaltend. Eine klare Krankheitseinsicht
ist nicht vorhanden; bisweilen betrachtet er die Zumuthung einer
96
III. Die Vergiftungen.
Geistesstörung geradezu als einen besonders heimtückischen Schach-
zug seiner Verfolger, die ihn nunmehr auch noch „närrisch“ machen
wollen. Gleichwol hat der Kranke oft ein deutliches Gefühl für die
Veränderung, die sich mit ihm vollzogen hat. Er sucht daher bis-
weilen selbst ein Krankenhaus auf oder giebt auf die plötzliche
Frage, wie lange er schon krank sei, zunächst unbefangen die richtige
Antwort, auch wenn er sich vorher für völlig gesund erklärt hat.
Andere Kranke sprechen geradezu von ihrer „temporären Verrückt-
heit“, ihrer „Nerven schwäche“, ihrem „angeblichen Verfolgungswahn“,
ohne doch die Krankheitserscheinungen im einzelnen berichtigen zu
können.
Die Stimmung der Kranken lässt meist jene eigenthümliche
Mischung von Angst und Humor erkennen, wie wir ihr schon
beim Delirium tremens begegnet sind. Die Kranken erzählen ihre
schrecklichen Erlebnisse mit merkwürdigem Gleichmuthe, lachen
dabei vielleicht selbst darüber, dass man ihnen so viel Aufmerksam-
keit schenke, sie für Raubmörder halte. Namentlich im Beginne
kommt es jedoch nicht selten auch zu heftigeren Augstanfällen. Ein
Kranker stürzte sich ins Wasser, weil er gehört hatte, dass ihn vier
Männer zum Frühstück verzehren wollten; ein anderer suchte sich
die Pulsadern mit einem Beil aufzuhacken. Wieder ein anderer
kletterte nach einem missglückten Selbstmordversuche vor Angst in
den Kamin einer Polizeiwache, in dem er ohne Nahrung drei Tage
lang verborgen blieb, um endlich von selbst weder hervorzukriechen.
In den Zwischenzeiten jedoch sind die Kranken ruhig, mit sich
selbst beschäftigt, kümmern sich wenig um die Vorgänge in ihrer
Umgebung, geben einsilbige, zutreffende, aber oft etwas zusammen-
hangslose Antworten, erzählen nicht viel aus eigenem Antriebe.
Ihr Benehmen ist im allgemeinen geordnet, so dass sie bisweilen
noch wochenlang ihren Geschäften nachzugehen, selbst Reisen zu
machen im Stande sind. Oefters begehen sie dabei allerdings ganz
absonderliche Handlungen, die sich später aus ihren Wahnideen er-
klären. Ein derartiger Kranker sprang stundenlang im Zimmer
umher, um seinen Feinden kein sicheres Ziel zu bieten, und brachte
dabei mit seinem Taschenmesser ein knackendes Geräusch hervor,
damit man glauben solle, er besitze einen Revolver. Andere ver-
kriechen sich unter die Betten, bauen Barrikaden vor ihrer Thüre,
legen sich an der Fensterwand auf den Boden, um nicht getroffen
Alkoholiamus.
97
zu werden,, oder verschaffen sich Waffen, um im Nothfall ihr Leben
so tkeuer wie möglich zu verkaufen. Seltener schreiten sie in der
Verzweiflung geradezu zum Angriffe auf ihre vermeintlichen Ver-
folger. Der Schlaf der Kranken ist regelmässig erheblich gestört,
weniger der Appetit, der nur bisweilen durch Vergiftungsideen be-
einträchtigt wird. An den Händen und an der Zunge besteht öfters,
aber nicht immer, alkoholisches Zittern. Das Körpergewicht
pflegt zu sinken.
Nach ihrem Verlaufe lassen sich im allgemeinen acute und
sub acute Formen der Psychose auseinanderhalten, die mir jedoch
ohne scharfe Grenzen in einander überzugehen scheinen. Die ersteren
haben häufig nur eine Dauer von wenigen Tagen bis zu 2 oder 3
Wochen. Die Genesung tritt plötzlich ein; meist nach einem tiefen
Schlafe fällt es dem Kranken wie Schuppen von den Augen, dass
er das Opfer von Sinnestäuschungen geworden ist. In den subacuten
Fällen kann sich die Krankheit über eine längere Reihe von Wochen
und selbst Monaten hinziehen, meist mit vielfachen Nachlässen und
Verschlimmerungen. Die Täuschungen verlieren sich hier ganz all-
mählich. treten oft vorübergehend noch wieder auf, auch wenn vor-
her schon volle Krankheitseinsicht bestand. Nach Ilbergs Unter-
suchungen ist ein schleppender Verlauf namentlich in den Fällen zu
erwarten, in denen ausser den Gehörshallucinationen noch Täusch-
ungen auf anderen Sinnesgebieten Vorkommen; auch das gelegent-
liche Auftreten vereinzelter Grössenideen neben dem Verfolgungswahn
deutet auf eine längere Krankheitsdauer hin. Die Erinnerung an
die Krankheitszeit ist regelmässig eine durchaus klare und erstreckt
sich auf alle Einzelheiten.
Die Prognose der Krankheit muss im ganzen als eine sehr
günstige bezeichnet werden. In der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle erfolgt vollständige Genesung. Freilich ist die Gefahr des
Rückfalles eine recht grosse. Ich kannte einen Kranken, der im
dritten Rückfalle durch Selbstmord endigte. In einzelnen Fällen
scheinen sich trotz der Anstaltsbehandlung mit vollständiger Enthalt-
samkeit dauernde Schwächezustände herausbilden zu können, sehr
ähnlich denjenigen, die ich oben bei der Besprechung des Delirium
tremens kurz geschildert habe.
Der Alkoholwahnsinn ist keine sehr häufige Krankheit; unter
den in den letzten Jahren von mir beobachteten Trinkern litten
7
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Anfl. II. Band.
98
III. Die Vergiftungen.
17°/0 an demselben. Warum in einem Falle ein Delirium tremens,
in einem anderen ein Alkoholwahnsinn entsteht, ist noch gänzlich
unbekannt. Man hat diesen letzteren bald auf krankhafte Veran-
lagung, bald auf gehäuften Alkoholmissbrauch zurückführen wollen,
doch scheint mir keine der bisher vorliegenden Erklärungen ge-
nügend gegründet.
Die Erkennung der Störung stützt sich auf die alkoholische
Vorgeschichte, die acute Entwicklung, den günstigen Verlauf, die
Besonnenheit der Kranken und das eigenthümliche Verhalten der
Stimmen, welche sich meist nicht geradezu an den Kranken wenden,
sondern von ihm nur in der Rolle eines unfreiwilligen Zuhörers
aufgefasst werden. Es ist indessen zu beachten, dass ganz ähnliche
Krankheitsbilder sowol in der Paralyse wie bei der Dementia praecox
Vorkommen können. Meist wird man hier allerdings länger zurück-
reichende Einleitungserscheinungen feststellen können. Aus dem
klinischen Bilde selbst ist für die Diagnose namentlich die eigen-
artige, humoristisch-ängstliche Stimmung zu verwerthen, bisweilen
auch die Gesichtstäuschungen und das Zittern. Andererseits sind
natürlich alle Zeichen zu beachten, welche den Verdacht auf eine
jener erstgenannten Krankheiten nahe legen, starke geistige Schwäche
und Zerfahrenheit, Verfälschungen des Persönlichkeitsbewusstseins,
katatonische Erscheinungen, nervöse Störungen. Die Behandlung
ist eine wesentlich abwartende, doch kann der Gebrauch eines Schlaf-
mittels vielleicht zur rascheren Genesung mit beitragen.
Weit langsamer, als die bisher geschilderten Störungen, verläuft
eine weitere, dem Alkoholismus eigenthümliche Form des Irreseins,
der sog. Eifersuchtswahn der Trinker. Diese Störung entwickelt
sich unmittelbar aus gewissen Grundzügen, welche wir schon früher
im alkoholischen Schwachsinn vorgefunden haben. Die aus der
Trunksucht als nothwendige Folge hervorgehenden ehelichen Zer-
würfnisse und die dadurch bedingte Entfremdung der Ehegatten, die
Abneigung der Frau und vielleicht auch die allmählich sich ein-
stellende Impotenz bringen den Trinker, der ohnedies nur zu sehr
geneigt ist, die Schuld für das von ihm heraufgeführte Unheil in
seiner Umgebung zu suchen, allmählich auf die Idee, dass eine
sträfliche Neigung seiner Frau zu anderen Männern der wahre
Grund der veränderten Stellung sei, welche dieselbe zu ihm ein-
nimmt. Für die Richtigkeit dieser Voraussetzung liefert ihm die
Alkoholismus.
99
vorurtheilsvolle Beobachtung allerlei Beweise, welche seinem ge-
schwächten Urtheil als vollkommen sicher und unumstösslich er-
scheinen. Die Einmischung des Nachbarn in einen ehelichen Streit,
ein freundlicher Blick, eine versteckte Anspielung, die er auffängt,
ein anscheinend geheimnissvoller Brief, der ihm in die Hände fällt,
die verdächtige Aehnlichkeit eines Kindes mit dem vermeintlichen
Nebenbuhler, ein im Dunkeln an ihm vorbeihuschendes Paar, welches
er zu erkennen glaubt, lassen ihn an dem Thatbestande des Ehe-
bruchs keinen Augenblick mehr zweifeln. Ein Kranker verleugnete
sein Kind, weil er ungefähr zur Zeit der Empfängniss wenige Tage
auswärts gewesen war und die Frau damals einen Nachbar beim
Kalben einer Kuh ohne Noth, wie er meinte, zu Hülfe gerufen hatte.
Hie und da gesellen sich zur Vervollständigung solcher An-
zeichen auch wirkliche Sinnestäuschungen hinzu, eine Gestalt, die der
Kranke nächtlicher Weile ins Schlafzimmer treten sieht, ein „Schutz-
mann in Uniform“, der bei seiner Heimkehr aus dem Fenster springt,
eine höhnische Bemerkung, die ihm aus dem Nebenzimmer oder von
der Strasse herauf zugerufen wird und ähnliches. Oder aber er
merkt aus dem ganzen feindseligen Verhalten seiner Frau, aus der
Schnur, die er als Aufforderung zum Erhängen in seinem Bette, auf
dem Tische findet, oder aus ihrem Unwillen über sein schroffes Vor-
gehen gegen den beargwöhnten Nachbar oder Geschäftsführer, dass
es mit seinem Verdachte volle Richtigkeit hat.
Eine weitere Ausbildung über den Rahmen der ungerecht-
fertigten Eifersucht hinaus gewinnt der Wahn in der Regel nicht,
doch bleibt er innerhalb dieser Grenzen durchaus fest und einer
jeden besseren Einsicht völlig unzugänglich. Natürlich entwickelt
sich aus ihm eine immer wachsende Erbitterung gegen die Frau,
gegen den vermeintlichen Nebenbuhler, ein trotz der sonstigen
Schwäche des Trinkers oft sehr tiefgehender und leidenschaftlicher
Hass, der ausnahmslos zu rohen Auftritten und häufig genug zu
verhängnisvollen Angriffen auf Leben und Gesundheit führt. Ich
kenne aus eigener Erfahrung zwei Fälle, in denen derartige Trinker
in blinder Eifersucht und unter dem Einflüsse des Alkohols ihre
Frauen erschossen; ein anderer brachte dem beargwöhnten Nachbar
eine lebensgefährliche Verletzung bei. Die Wurzeln des Wahnes
wird man unschwer bei sehr vielen Trinkern auffinden; leider aber
wird die grosse Gefährlichkeit der ausgebildeten Störung nur allzu
7*
100
III. Die Vergiftungen.
leicht verkannt, da die Verstandestkätigkeit der Kranken für die
oberflächliche Betrachtung oft nahezu gesund zu sein scheint, und
da ihre Wahnideen fast keine unsinnigen Bestandteile enthalten,
sondern sich soweit im Bereiche des Möglichen, ja des Wahrschein-
lichen bewegen, dass zuweilen nur eine genaue Kenntniss der wirk-
lichen Verhältnisse die krankhafte Natur ihrer ganzen Auffassungs-
weise zu enthüllen vermag. Auf der anderen Seite ist es natürlich
auch oft schwierig, die tatsächliche Berechtigung der von den
Trinkern vorgebrachten Eifersuchtsideen auszuschliessen. Das Thun
und Treiben des Trinkers führt vielfach zu einer wirklichen, ernsten
und dauernden Entfremdung der Ehegatten, welche dem Ehebrüche
die Wege ebnen muss. So übereinstimmend daher die Klagen der
Trinker über eheliche Untreue sind, so notwendig ist doch gerade
hier der klare Nachweis ihrer Grundlosigkeit, bevor wir berechtigt
sind, sie als krankhaft zu betrachten.
In manchen Fällen wird unser Urteil dadurch unterstützt,
dass die anfangs schroff und leidenschaftlich vorgebrachten Eifer-
suchtsideen nach längerer Entziehung des Alkohols allmählich von
selbst zurücktreten und bisweilen sogar geradezu als krankhaft an-
erkannt werden. Durch diese, leider nicht sehr häufigen Besserungen,
ja Heilungen des Wahnes unterscheidet sich die krankhafte Eifer-
sucht der Trinker trotz der äusserlicken Uebereinstimmung sehr
wesentlich von der eigentlichen, constitutionellen und grundsätzlich
unheilbaren Verrücktheit.
Wir haben endlich an dieser Stelle noch kurz des Krankheits-
bildes der alkoholischen Paralyse zu gedenken, einer Psychose,
die sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle als eine einfache
Verbindung der Zeichen des chronischen Alkoholismus mit denjenigen
der progressiven Paralyse darstellt. Zu der Gedäcktnisssckwäcke,
dem Grössenwahn, der gemütklicken Stumpfheit auf der einen ge-
sellen sich Sinnestäuschungen, Eifersuchtsideen auf der anderen
Seite; die Sprachstörung des Paralytikers wird begleitet von dem
Tremor und den neuritischen Erscheinungen des Alkokolisten. Ausser-
dem scheinen epileptische Anfälle besonders häufig zu sein. In der
Regel ging der Alkoholismus hier der Entwicklung der Paralyse
schon lange Zeit voraus; bisweilen aber auch liefert erst diese
letztere den Anstoss zu dem unmässigen Trinken, aus welchem die
alkoholistischen Krankheitszeichen entspringen.
Morphinismus.
101
Auf der anderen Seite giebt es vereinzelte Fälle von Alkoholis-
mus, in denen neben leichten motorischen Störungen (Tremor, Sprach-
störung, Ataxie, Anfälle) ein blühender Grössen wahn mit heiterer
Stimmung ganz von der Art des paralytischen acut zur Ausbildung
kommt, um nach einigen Monaten bis auf die Grundzüge eines
mässigen Schwachsinns wieder zu verschwinden. Die Erkrankung
ist hier damit endgültig abgeschlossen, während sie bei der erst-
erwähnten Form regelmässig den traurigen Ausgang der Dementia
paralytica nimmt. Anscheinend handelt es sich um besonders schwere
und eigenartig verlaufende Fälle von chronischem Alkoholismus
(alkoholische Pseudoparalyse*). Wie weit sich dieselben mit den bei
Polyneuritis beschriebenen Störungen decken, entzieht sich zur Zeit
noch meiner Beurtheilung.
B. Der Morphinismus**).
Gegenüber dem Missbrauche alkoholischer Getränke, der auf ein
fast ehrwürdiges Alter zurückblicken kann, reicht die Geschichte
des Morphinismus wenig weiter, als zwei Jahrzehnte zurück, wenn
derselbe auch einen gewissen Zusammenhang mit der altasiatischen
Sitte des Opiummissbrauches aufzuweisen hat. Die Eidindung der
Pravaz’schen Spritze und die durch sie herbeigeführte Verbesserung
der Anwendungsart hatte einen ausserordentlichen Aufschwung im
Gebrauche des Morphiums zur Folge, welches sich nur zu bald als
ein sicheres und angenehmes Mittel zur Bekämpfung von Schmerzen
und Unbehagen aller Art bewährte. Der wirksamste Hebel für die
Ausbildung und Verbreitung des Morphiums lag in dem Umstande,
dass der Arzt, unbekannt mit den drohenden Gefahren, aus Rück-
sichten der Bequemlichkeit dem Kranken die Spritze selbst in die
Hand gab, damit er sich je nach Bedarf und nach eigenem Ermessen
das ersehnte Wohlgefühl verschaffen könne.
Allein es stellte sich bald heraus, dass unter diesen Verhält-
*) Klewe, Allgem. Zeitschrift f. Psychiatrie, LH, 595.
**) Fiedler, Deutsche Zeitschr. f. prakt. Medicin 1874, 27, 28; Levinstein,
Die Morphiumsucht. 3. Auflage, 1883; Erlenmeyer, Die Morphiumsucht und
ihre Behandlung. 3. Auflage, 1887: Dizard, etude sur le morpbinmme et soti
traitement, 1893; Rodet, Morphinoinanie et morphinisme. 1897.
102
III. Die Vergiftungen.
nissen das Mittel aus dem Wohlthäter zu einem furchtbaren und
fast unbezwinglichen Feinde wurde. Die meisten Menschen, welche
gewohnheitsmässig kleinere Mengen von Alkohol zu sich nehmen,
vermögen demselben, wo es sich als nothwendig erweist, leichten
Herzens auf kürzere oder längere Zeit zu entsagen. Dagegen
zwingt die wahrhaft teuflische Macht des Morphiums denjenigen,
der sich einmal an seinen Gebrauch gewöhnt hat, unerbittlich zur
Fortsetzung desselben, da jeder Versuch, sich von der Sklaverei
des Mittels zu befreien, sofort zu derartig unangenehmen Er-
scheinungen führt, dass die menschliche Widerstandskraft dadurch
gebrochen wird.
Die psychischen Wirkungen des Morphiums, soweit sie bis jetzt
bekannt sind, bestehen, wesentlich verschieden von denjenigen des
Alkohols, in einer Erleichterung und Anregung der Verstandes-
leistungen und in einer Erschwerung der psychomotorischen Vor-
gänge. Dieses Verhalten, welches sich durch Untersuchungen bei
Morphinisten hat bestätigen lassen, macht es verständlich, dass uns
der Morphiumrausch in eine Art angenehmer Träumerei versinken
lässt, in welcher bunte, wechselnde Phantasiebilder an uns vorüber-
ziehen, während sich gleichzeitig eine sanfte Erschlaffung auf unsere
Glieder legt. Wir begreifen es auch, dass Morphinisten gerade unter
dem Einflüsse des Mittels sich noch zu geistiger Arbeit angeregt
fühlen, welche sie in dem Zustande ihrer gewöhnlichen, dauernden
Willenlosigkeit nicht mehr zu leisten vermögen. Das gefährlichste
Glied der Morphiumwirkung aber ist gerade das eigenthümliche,
ruhige Lustgefühl, welches sich von demjenigen des Alkoholrausches
sehr deutlich durch das vollständige Fehlen der psychomotorischen
Reizerscheinungen, des bekannten Thatendranges, unterscheidet Wie
beim Alkohol, ist übrigens auch hier die Gestaltung des Vergiftungs-
bildes im einzelnen recht wesentlich von der persönlichen Anlage
abhängig. Ebenso fallen die körperlichen Begleiterscheinungen der
Narkose je nach der Eigenart des Menschen, natürlich aber auch
nach der Gabe des Mittels verschieden aus. Ein rasch auftretender
metallischer oder bitterer Geschmack, Kollern im Leibe, Myosis und
Erbrechen sind häufig. Als Nachwehen der Vergiftung werden
Eingenommenheit des Kopfes, Schwindelgefühl, Migräne, reichliche
Schweisse, grosse Hinfälligkeit und Harnverhaltung beobachtet. Bei
Versuchen mit subacuter maximaler Vergiftung fand Nissl die
Morphinismus.
103
Rindenzellen des Kaninchens verkleinert und verschmälert, aber
nicht zerstört. Die gefärbte Substanz war rareficirt und schwächer
gefärbt, die ungefärbte Substanz dagegen auf längere Strecken deut-
lich sichtbar.
Die Entwicklung des Morphinismus nimmt praktisch bei weitem
am häufigsten ihren Ausgang von der ausgezeichneten schmerz-
stillenden Wirkung des Mittels. Irgend ein leichteres oder
schwereres schmerzhaftes Leiden, Neuralgie, Ischias, Tabes, Magen-
geschwür, Gelenkrheumatismus, Zahnschmerzen, Schlaflosigkeit, eine
traurige Verstimmung giebt den Anlass zur ersten Einspritzung. Ein
von mir behandelter Trinker erhielt das Morphium von seinem mit ihm
zechenden Hausarzte zur Milderung seiner alkoholischen Beschwerden.
Die durch das Mittel erzielte Wirkung ist zumeist die Beseitigung aller
quälenden körperlichen und psychischen Reize und die Erzeugung
einer überaus behaglichen, befriedigten Stimmung. Dieser günstige
Erfolg ist es, der immer von neuem zu einer Wiederholung der Ein-
spritzung treibt, namentlich, wenn das quälende Leiden noch fort-
besteht. Ganz unmerklich aber wird der Gebrauch des Mittels zum
Selbstzwecke, zum Lebensbedürfnisse, auch wenn der ursprüngliche
Anlass längst beseitigt ist. In ähnlicher Weise, wie bekanntlich die
Gründe zum Trinken nach Bedarf jederzeit bei der Hand sind, fehlt
es bald auch nicht an mehr oder weniger verschämten Vorwänden
für die Morphiumeinspritzung. Das tritt um so sicherer ein, als
anscheinend das Morphium bei längerer Einwirkung wirklich die
sittliche Widerstandsfähigkeit gegenüber allen möglichen kleinen
Unannehmlichkeiten und Schmerzen beträchtlich herabsetzt. In
Folge dessen wird das Verlangen des Kranken nach dem beruhigen-
den Mittel immer häufiger und dringender. Der entscheidende
Schritt ist die Ausführung der Einspritzung durch den
Kranken selbst, mit oder ohne Vorwissen des Arztes. Von diesem
Augenblicke an ist sein Schicksal besiegelt; er ist dem Morphinis-
mus verfallen.
Meist sucht er sich nunmehr von dem Arzte möglichst un-
abhängig zu machen. Er kauft sich eine Spritze, oft auch Wage
und Gewichte, bezieht sein Morphium direct oder durch Vermittelung
von Leidensgefährten aus der Droguenhandlung, die ihm das Mittel
in unverdächtiger Packung zusendet. Die Lösung bereitet der Kranke
sich selbst, schliesslich oft nach Gutdünken. Andere ziehen es vor,
104
III. Die Vergiftungen.
Recepte zu fälschen; ich besitze ein solches Beispiel. Auch ein
College bediente sich falscher Namen, um nicht in den Verdacht
des Morphinismus zu kommen. Vielfach findet man bei den Kranken
ausser verrosteten und stumpfen Nadeln ganz trübe, halbverschimmelte
Flüssigkeiten, die sie sich trotzdem einspritzen, sogar durch die
Kleider hindurch. Die Folge sind häufige Abscesse. Vereinzelte
Kranke greifen, wenn ihnen die Beschaffung der Spritzen zu schwierig
wird, zur innerlichen Anwendung des Morphiums, auch zur Opium-
tinctur, indem sie sich die nöthige Gabe jeweils unter dem Vorwände
von Leibschmerzen allmählich in verschiedenen Apotheken zusammen-
schwindeln.
Beim dauernden Gebrauche des Morphiums treten in Folge der
sich ausbildenden Gewöhnung die unangenehmen Nebenerscheinungen
der Vergiftung mehr und mehr in den Hintergrund, oder sie werden
doch durch eine neue Gabe des Mittels rasch wieder beseitigt. So
kommt es, dass der Morphinist oft lange Zeit hindurch nur die an-
regende und zugleich beruhigende Wirkung empfindet, die ihn
über alle kleinen und grossen Unannehmlichkeiten hinwegsetzt wie
sie aus seinem Gesundheitszustände, aus seinem Berufe, aus seinen
gesellschaftlichen und häuslichen Verhältnissen entspringen. Dieselbe
Gewöhnung aber ist es, welche ihn sein- bald von der ursprüng-
lichen Gabe des Mittels die erhoffte Befriedigung nicht mehr in
vollem Maasse finden lässt und ihn daher zu einer Steigerung der-
selben antreibt. Zunächst ist der Erfolg ein vollkommener, aber
nach einiger Zeit versagt auch die neue Menge, und so schraubt sich
das Bedürfniss allmählich immer höher und höher, bis am letzten
Ende auch die grössten Gaben des Mittels (erfahrungsgeinäss bis zu 2,
3 gr und mehr in 24 Stunden) den sehnlichst gewünschten Erfolg
nur ganz vorübergehend noch erzielen.
Alle die schon früher gelegentlich hervorgetretenen Beschwerden
des Morphinismus erreichen nach und nach ihren Höhepunkt. Das
Gedächtniss -wird vielfach unsicher; die geistige Leistungsfähigkeit,
namentlich die schöpferische Arbeitskraft, nimmt ab und kann nur
unter dem unmittelbaren Einflüsse des Morphiums noch auf einer
gewissen Höhe erhalten werden. Auf diese Weise kommt es zu einem
beständigen Wechsel zwischen Stunden verhältnissmässigen Wohl-
befindens und solchen stumpfer Erschlaffung oder nervöser Unruhe,
ein Zustand, der natürlich eine geregelte, planmässige Thätigkeit
Morphinismus.
105
völlig unmöglich macht. Die Stimmung ist ebenfalls vielfachen
Schwankungen unterworfen, bald niedergeschlagen, muthlos, hypo-
chondrisch, bald zuversichtlich und iibermüthig; nicht selten stellen
sich vorübergehende heftige Angstanfälle ein, namentlich Nachts.
In ganz besonderem Maasse aber wird der Charakter der
Kranken in Mitleidenschaft gezogen. Sie verlieren nicht nur voll-
kommen die Fähigkeit, sich selber endgültig und thatkräftig von
dem verderblichen Mittel loszusagen, sondern sie greifen zu allen
möglichen, erlaubten und unerlaubten Kunstgriffen, um sich Morphium
zu verschaffen. Um diesen Preis belügen und betrügen sie unbe-
denklich Aerzte und Angehörige; sie öffnen mit Nachschlüsseln den
Arzneischrank, entwenden heimlich Geld, unterschlagen anvertraute
Summen, versetzen und verkaufen, was ihnen zugänglich ist, wenn
sie auf andere Weise das Mittel nicht erhalten können. In
eigenthümlicheru Zwiespalte mit sich selbst machen sie auch dann
schon von vornherein den Versuch, die Entziehungscur zu vereiteln,
wenn sie aus freien Stücken in dieselbe eingewilligt haben. Kaum
ein Morphinist geht in die Anstalt, ohne sich nicht irgendwie heim-
lich mit einer gehörigen Menge des Mittels versehen zu haben;
keiner, auch nicht der heiligsten Versicherung eines Morphinisten
über diesen Punkt ist jemals blindlings zu trauen. Selbst Aerzte
sind darin ganz unzuverlässig. Ein College brachte das Morphium
unter dem Holzbelag einer grossen Haarbürste versteckt mit sich
und erzwang durch einen äusserst rohen Auftritt seine sofortige
Entlassung, als ihm die Benutzung der Bürste unmöglich gemacht
wurde.
Der Schlaf erleidet meist hochgradige Störungen. Beim
Einschlafen treten zeitweise Hailucinationen auf, besonders des Ge-
sichtes; die Kranken liegen viele Stunden lang wach, mit zwangs-
mässigen, phantastischen Ideen beschäftigt; dafür stellt sich am
Tage plötzlich eine unbezwingbare Müdigkeit ein, die sie mitten in der
Gesellschaft, in der Unterhaltung trotz aller Gegenanstrengungen über-
wältigt. Auf dem Gebiete der Sensibilität machen sich verschieden-
artige Paraesthesien und Hyperaesthesien bemerkbar, namentlich am
Herzen sowie in der Magen- und Blasengegend. Die Reflex-
erregbarkeit nimmt zu, doch fehlt der Patellarreflex nicht selten;
die Bewegungen werden unsicher, bisweilen zitternd, ataktisch.
Hie und da werden Erschwerung der Sprache, Paresen in der
106
III. Die Vergiftungen.
Musculatur des Auges beobachtet (Doppeltsehen, Accomraodations-
schwäche). Die allgemeine Ernährung leidet immer erheblich ; das
Körpergewicht nimmt ab; die Haut wird welk, schlaff und fahl:
das Fettpolster schwindet. Die Absonderung des Magensaftes stockt:
der Appetit, namentlich für Fleischspeisen, vermindert sich; es
stellt sich zeitweiliger Heisshunger oder bei grosser Trockenheit des
Mundes unstillbarer Durst ein; die meist bestehende Verstopfung
wechselt mit vorübergehenden Durchfällen. Von Seiten der Kreis-
laufsorgane wird hie und da quälendes Herzklopfen beobachtet;
der Puls ist etwas beschleunigt, bisweilen unregelmässig. Das Ohren-
sausen, die Benommenheit, die Schwindel- und selbst Ohnmachts-
anfälle sowie die reichlichen kalten Schweisse und das Frösteln der
Morphinisten sind wol ebenfalls auf vasomotorische Störungen zurück-
zuführen; ferner gehören auch Athmungsbehinderungen. be-
sonders asthmatische Beschwerden, nicht selten zu dem hier ge-
zeichneten Krankheitsbilde. Die libido sexualis und die Potenz
nimmt ab; die Menses hören auf; bei bestehender Schwangerschaft
bleibt die Entwicklung der Frucht zurück. Levinstein be-
trachtet endlich noch Eiweissgehalt des Harns sowie eigenthüm-
liche tertiane Fieberanfälle als gelegentliche Zeichen des Morphinis-
mus, doch haben andere Beobachter seine Angaben nicht bestätigen
können.
Die Schnelligkeit, mit welcher sich die ganze Reihe dieser
Störungen entwickelt, ist eine sehr verschiedene; sie hängt natur-
gemäss einmal von der Menge des gebrauchten Morphiums und
weiterhin von der Widerstandsfähigkeit des gesammten Menschen ab.
Bisweilen machen sich die ersten Erscheinungen der chronischen
Vergiftung schon nach einigen Monaten des Morphi umgebrauches
geltend; in anderen Fällen können Jahre, selbst viele Jahre ver-
gehen, bevor ernstere Störungen zum Ausbruche kommen. Letzteres
ist besonders dann die Regel, wenn der Kranke Selbstbeherrschung
genug besass, von Zeit zu Zeit mit der Gabe des Mittels wieder
etwas zurückzugehen. Der sonst gleichmässig fortschreitende Ver-
lauf des Morphinismus lässt unter diesen Umständen mehr oder
weniger ausgiebige Besserungen des Allgemeinzustandes erkennen.
Die Dauer des Morphinismus ist in gewissem Sinne eine fast un-
begrenzte; schon jetzt sind Fälle bekannt, in denen das Morphium
ohne Unterbrechung 20 Jahre hindurch und länger fortgenommen
Morphinismus.
107
wurde. Wie der Thierversuch gelehrt hat (Nissl), scheinen sich
bei längerem Gebrauche des Mittels ausgebreitete, vielfach zum
Schwunde der Zellen führende Veränderungen an den Rinden-
zellen einzustellen, die von einer Vermehrung des Gliagewebes be-
gleitet sind.
Der Morphinismus ist fast ausschliesslich eine Krankheit der
besseren Stände, schon aus dem einfachen Grunde, weil er sehr viel
Geld kostet. Die grössere Leichtigkeit, sich das Mittel zu verschaffen,
lässt das männliche Geschlecht und hier vor allem die mit dem
ärztlichen Berufe in Beziehung stehenden Personen besonders stark
gefährdet erscheinen. Man kann rechnen, dass 75 °/0 der Morphi-
nisten Männer und von diesen wieder mindestens die Hälfte Aerzte
sind. Rodet fand unter 1000 Morphinisten 287 Aerzte. Dazu
kommen noch in grosser Zahl deren Angehörige, namentlich die
Krauen. Sehr angestrengte, aufreibende Thätigkeit, die zu Schlaf-
losigkeit führt und nur ungenügende Erholung zulässt, bereitet dem
Morphium den Weg. Etwa 60 °/0 der Morphinisten erkranken daher
im rüstigsten Alter, zwischen dem 25. und 40. Lebensjahre. Weiter-
hin ist natürlich die Gefahr, dem dauernden Missbrauche des Morphiums
zu verfallen, um so grösser, je angenehmer sich die ganze Wirkung
des Mittels im einzelnen Falle gestaltet; es giebt Menschen, bei denen
bereits die erste Einspritzung in diesem Sinne über das ganze
fernere Leben entscheidet. Endlich ist offenbar die Neigung zum
Morphinismus auch wesentlich von der psychischen Veranlagung
abhängig. Ich habe immer den Eindruck gehabt, dass eine grosse
Zahl von Morphinisten, ebenso wie viele Trinker, schon vor der
chronischen Vergiftung einen bedeutenden Grad von Willensschwäche
dargeboten haben; Hysterische und constitutionell Nervöse sind unter
ihnen zahlreich vertreten. Daraus erklärt sich die bisweilen Staunens -
werthe Geringfügigkeit der Beweggründe (Neugierde, Verführung),
welche zum Missbrauche des Mittels geführt haben, sowie der un-
glaubliche Leichtsinn, mit welchem Morphinisten das Uebel verbreiten,
ihren Leidensgefährten Morphium verschaffen und in einer Art „esprit
de corps“ die wirksame Verfolgung ihrer Helfershelfer zu verhindern
suchen. Ein junger Morphinist erzählte mir, dass in dem russischen
Regiment, in welchem er diente, fast alle Offiziere „zu ihrem Ver-
gnügen gespritzt“ hätten; ein morphinistischer Arzt veranlasste seine
Braut ohne jeden Grund, ebenfalls Morphium zu gebrauchen, und
108 III. Die Vergiftungen.
diese verführte wiederum ihre nächste Freundin, sich diesen Genuss
zu verschaffen.
Es muss indessen an dieser Stelle mit aller Schärfe die schwere
Anklage gegen den ärztlichen Stand erhoben werden, dass er
es ist, den wir für das Dasein und die erschreckende Verbreitung
des Morphinismus in allererster Linie verantwortlich zu machen
haben. Gäbe es keine Aerzte, so gäbe es auch keinen Morphinis-
mus. Die Unwissenheit und der Leichtsinn der Aerzte sind es,
welche den Kranken tagtäglich bei den geringfügigsten Anlässen mit
dem höchst gefährlichen Mittel bekannt machen, das so leicht seine
ganze Zukunft vernichten kaun. Mir ist es vor nicht langer Zeit
vorgekommen, dass ein Arzt einem Kranken, dem ich mit grösster
Mühe Alkohol und Morphium entzogen hatte, ohne irgend erfind-
baren Grund zunächst Codein, späterhin aber ruhig wieder Morphium
verordnete. Namentlich sind es allerdings die morphinistischen Aerzte,
die mit merkwürdiger Regelmässigkeit zu wahren Infectionsherden
werden, wie sie überhaupt die gefährliche Neigung haben, mit
grossen Gaben stark wirkender Arzneimittel zu wirthschaften. Ich
kannte einen derartigen Collegen, — und solche Beispiele sind
leider nicht selten — der bei seinen zahlreichen Kranken jede be-
liebige Klage durch eine Morphiumeinspritzung zu beseitigen pflegte
und so gewissermassen das Haupt einer ganzen Morphinisten gemeinde
wurde. Dieser Mann handelte freilich unverantwortlich, aber wenigstens
uneigennützig. Viel schlimmer ist es, dass sich in unserem Stande
Subjecte finden, welche die Noth der Morphinisten planmässig aus-
nützen, um ihnen für schweres Geld die ihnen unentbehrlichen
Recepte zu schreiben! Ich besass das Recept eines Arztes, der
einem Morphinisten nicht weniger als 1 gr Morphium in einmaliger
Gabe zu beliebiger Verwendung aufgeschrieben hatte; ein anderer
Kranker trat in die Cur mit einer ganzen Batterie von Flaschen mit
Morphiumlösung, welche ihm sein Hausarzt vorsorglich noch auf-
geschrieben hatte.
Die Prognose des Morphinismus ist in jedem Falle eine sehr
ernste. Hie und da kommen plötzliche Todesfälle vor. Die Kranken
greifen, namentlich nach Entziehungscuren, die Gabe einmal viel zu
hoch, oder es entwickeln sich unter dem Einflüsse der Ersatzmittel
des Morphiums chronische Herzleiden, welche zu unvorhergesehenen
Collapsen führen. Andererseits ist der Ausgang in schweres, mit
Morphinismus.
109
dein Tode endendes Siechthum bei reinem Morphinismus nicht ge-
rade allzu häufig, und die Entziehung des Mittels gelingt unter den
nöthigen Vorsichtsmassregeln fast immer ohne besondere Schwierig-
keiten. Allein die Gefahr immer und immer wiederholter Rückfälle,
welche nothwendig zu einer vollständigen Vernichtung des Lebens-
glückes führen, ist eine ausserordentlich grosse; nur eine sehr ge-
ringe Zahl von Morphinisten vermag ihr auf die Dauer zu entgehen.
Mit voller Sicherheit kann ich von den Dutzenden von Morphinisten,
die ich in den letzten Jahren behandelt habe, nur einige wenige für
dauernd geheilt halten. Ganz besonders gefährdet sind auch in
dieser Beziehung alle diejenigen Personen, denen entweder ihr Be-
ruf die Erlangung des Morphiums besonders leicht macht, oder denen
irgend ein chronisches, mit Schmerzen und Beschwerden verbundenes
Leiden die Verführung, nach dem erlösenden Mittel zu greifen, immer
von neuem mit unwiderstehlicher Macht aufdrängt.
Eine weitere, ernste Gefahr droht dem Morphinisten aus der
Verbindung des Morphiums mit anderen Nervenmitteln. Namentlich
der Alkohol (Wein, Champagner) ist es, der mit oder ohne ärztlichen
Rath zur Milderung der Entziehungserscheinungen herangezogen
wird und den Kranken nur zu häufig dem Alkoholismus in die
Arme treibt. In ähnlicher Weise kommt das Chloralhydrat, der
Aether, das Chloroform und in neuerer Zeit vor allem das Cocain
in Anwendung. Niemals gelingt es den Kranken, auf diese Weise
das Morphium aus eigener Kraft los zu werden oder auch nur
durch ein anderes Mittel zu ersetzen; in der Regel kommt zu dem
alten Uebel einfach ein neues, kaum weniger schlimmes oder noch
schlimmeres hinzu.
Die Erkennung des Morphinismus stützt sich neben der Be-
achtung der körperlichen Vergiftungserscheinungen (Myosis, Appetit-
losigkeit, Ernährungsstörung) sowie der oft sehr ins Auge fallenden
Einspritzungsspuren (glänzende, ovale Narben, schwielige Verhärtungen
oder selbst atonische Geschwüre, meist an den Armen, aber auch
an Bauch und Oberschenkeln) namentlich auf den eigenthümlichen
Wechsel der Zustände, welchen der Morphinist darzubieten pflegt.
Die geistige Frische und Leistungsfähigkeit, die gehobene Stimmung
nach der Einspritzung muss ja nur allzubald einer hochgradigen
Ermüdung, Schlaffheit, Willenlosigkeit und Niedergeschlagenheit
weichen, so dass dem aufmerksamen Beobachter der Gegensatz
110
III. Die Vergiftungen.
zwischen diesem verschiedenartigen Verhalten kaum verborgen
bleiben kann. Für die Erkenntniss der besonderen Ursache finden
sich dann bei näherem Nachforschen bald weitere anamnestische und
thatsächliche Anhaltspunkte. Die Kranken haben die Neigung, sich,
wenn sie abgespannt sind, unter irgend welchem Vorwände für
einige Augenblicke zurückzuziehen und kehren dann nach erledigter
Einspritzung merkwürdig angeregt und munter zurück. Leider lässt
sich das Morphium in den Ausscheidungen der Kranken nur sehr
schwierig nachweisen, da es zum grössten Theile in den Koth über-
geht. Die volle Sicherheit über das Bestehen des Morphinismus kann
man sich durch eine zuverlässige Abschliessung des Kranken ver-
schaffen. Hat man diesem Letzteren wirklich jede Möglichkeit einer
heimlichen Morphiumzufuhr abgeschnitten, so darf der Eintritt oder
das Ausbleiben der Entziehungserscheinungen als ein untrügliches
Erkennungsmittel gelten.
Die wichtigste Aufgabe bei der Bekämpfung des Morphinis-
mus ist ohne Zweifel die Vorbeugung, die leider noch sehr im Argen
liegt. Einen Theil dieser Aufgabe hat die Gesetzgebung zu lösen
gesucht, indem sie den V erkauf des Morphiums ohne besondere ärzt-
liche Vorschrift in jedem einzelnen Falle verbietet. Es ist öffent-
liches Geheimniss, dass die Morphinisten diese Bestimmungen ohne
erhebliche Schwierigkeit zu durchbrechen oder zu umgehen wissen.
Die besten Helfershelfer sind ihnen dabei gewisse, namentlich mor-
phinistische Aerzte. Nach meinen Erfahrungen kann ich daher nur
aus voller Ueberzeugung der von Lewin*) aufgestellten Forderung
zustimmen, dass jedem an Morphinismus leidenden Arzte bis zum
Nachweise seiner dauernden und vollständigen Heilung das Recht
der Praxis entzogen werden sollte. Freilich stehen der Durchführung
einer solchen Massregel sehr grosse Schwierigkeiten im Wege. Aber
auch in anderer Richtung können wir Aerzte zur Bekämpfung des
Morphiummissbrauches ausserordentlich viel thun. "Wir sollten es
uns zum festen Grundsätze machen, bei allen chronischen Er-
krankungen nur dann zum Morphium zu greifen, wenn die-
selben durchaus unheilbar sind und zum Tode führen.
Aber auch hier, ebenso bei acuten Leiden, soll das Morphium nur
dann und nur so lange gegeben werden, als es unumgänglich.
*) Berliner klinische Wochenschrift, 1891, 51.
Morphinismus.
111
nothwendig ist. Einfache neurasthenische und hysterische Beschwerden
mit Morphium zu behandeln, muss unbedingt als ärztlicher Kunst-
fehle r gelten. Gewissenlos ist es endlich, unter welchem Yorwande
es auch sei, irgend einem Kranken Spritze oder Lösung zum eigenen
Gebrauche in die Hand zu geben und überhaupt grössere
Mengen des Mittels zu verschreiben, deren Verwendung nicht genau
überwacht werden kann.
Die Behandlung des entwickelten Morphinismus besteht in
der Entziehung des Mittels unter ärztlicher Aufsicht. Da sie mit
gewissen Gefahren verknüpft ist, wird man sie möglichst nur bei
gutem Kräftezustande einleiten; Schwangerschaft, acute Krankheiten,
schweres Sieclithum sind als Gegeuanzeigen zu betrachten. Völlige
und dauernde Abgewöhnung des Morphiums aus eigener Kraft
kommt erfahrungsgemäss niemals oder doch nur überaus selten
vor. Aus diesem Grunde kann die Entziehung mit Aussicht auf
Erfolg nur in der Weise durchgeführt werden, dass sich der Kranke
für einige Zeit bedingungslos in die Hände des Arztes und in Ver-
hältnisse begiebt, die eine völlige Ausschliessung des Morphiums
mit Sicherheit gestatten. Allerdings ist es, namentlich im Hinblicke
auf die sittliche Unzuverlässigkeit der Morphinisten, nicht immer
leicht, sich nach dieser Richtung hin ausreichende Gewähr zu ver-
schaffen. Die Erfahrung zahlloser schlauer Betrügereien seitens
der Kranken, ihrer Angehörigen und Freunde, der Mitkranken, des
Wartpersonals predigt eindringlich die Nothwendigkeit des äusser-
sten, unermüdlichsten Misstrauens. Ein kranker College bewog einen
Wärter durch Schenken eines Anzugs und das Versprechen, ihn als
Diener anzustellen, zur heimlichen Besorgung eines Morphiumreceptes.
Es muss daher zum mindesten als eine gefährliche Selbst-
täuschung betrachtet werden, wenn manche Aerzte glauben, bei der
Behandlung des Morphinismus das Sicherungsmittel der genauesten
Ueberwachung und einen gewissen äusseren Zwang entbehren zu
können. Ich besitze den Bericht eines bekannten Arztes, der im Hin-
blick auf die Milde der von ihm geübten Entziehungscur seine Kranken
frei schalten und walten liess und ihnen nur mittheilte, dass sie
selbst die Verantwortung trügen, wenn sie sich ohne sein Wissen
Morphium verschafften. Die Folge davon war, dass die Kranken
unter seiner Behandlung, freilich ohne sein Wissen, noch mehr
spritzten, als vorher.
112
III. Die Vergiftungen.
Sobald dem Kranken das gewohnte Reizmittel entzogen wird,
treten nach einigen (5 — 6) Stunden die sog. Abstinenzerschei-
nungen hervor, die von Marino auf die Giftwirkungen des Oxvdi-
morphins zurückgeführt worden sind. Wir haben diese Störungen
zum Theil schon in dem Bilde des Morphinismus als die Ursachen
kennen gelernt, welche den gequälten Kranken immer von neuem
zur Spritze greifen lassen. Was aber dort nur angedeutet war und
stets durch die neue Vergiftung rasch beseitigt wurde, das tritt hier
oft mit grosser Gewalt in den Vordergrund. Quälende Unruhe,
häufiges Gähnen, Niesen, Angst, Beklemmungsgefühle, Paraesthesien
in den verschiedensten Gegenden des Körpers stürmen mächtig auf
den Kranken ein und lassen ihn sehr rasch alle die guten Vorsätze
vergessen, mit denen er sich in die Behandlung des Arztes begeben
hat. Dabei besteht, wenigstens in der ersten Zeit, völlige Schlaf-
losigkeit, gegenüber der die gebräuchlichen Schlafmittel meistens
versagen. Das Chloralhydrat pflegt sogar die psychische Erregung
bedeutend zu steigern und Zustände von hallucinatorischer, traum-
artiger Verworrenheit herbeizuführen. Aber auch abgesehen davon
kaun sich bisweilen, namentlich bei Herzschwäche, unter lebhafter
Zunahme der Aufregung ein Krankheitsbild entwickeln, welches die
grösste Aehnlichkeit mit dem Delirium tremens der Trinker darbietet.
zumal auch die Unsicherheit der Bewegungen und das Zittern der
Hände in gleicher Weise sich einzustellen pflegt. Allerdings dauert
dieser Zustand gewöhnlich nur eine Reihe von Stunden oder doch
nicht mehr als einige Tage; nur einmal sah ich ihn sich über
mehrere Wochen erstrecken. Hier hatte vorher zum Zwecke der
Entziehung ein bedeutender Alkoholmissbrauch stattgefunden: wahr-
scheinlich ist in solchen Umständen auch sonst die eigentliche Ur-
sache des Delirium tremens der Morphinisten zu suchen. Weiterhin
kommen hie und da hysterische Dämmerzustände mit Sinnes-
täuschungen und Krämpfen in der Entziehungszeit zur Beob-
achtung.
Auch im Bereiche des übrigen Nervensystems macht sich
die gewaltige Umwälzung geltend, welche durch die Entziehung des
gewohnten Reizmittels herbeigeführt wird. Es treten unwillkürliche
Bewegungen und Zuckungen in den Beinen, asthmatische Zufälle,
Zwerchfellkrämpfe, Krampfhusten, Accommodationsparesen, Tenesmen,
Blasenkrämpfe und -Lähmungen, Erbrechen, Herzklopfen, namentlich
Morphinismus.
113
aber Ohnmächten und gefährliche Collapse mit plötzlichem, raschem
Sinken der Herzthätigkeit auf, die sich unter Umständen mehrmals
wiederholen und sogar ohne weiteres in den Tod hinüberführen
können. Die secretorisch en Verrichtungen, welche unter dem
Einflüsse des Morphiums darniederlagen, zeigen eine rasch vorüber-
gehende beträchtliche Steigerung, welche sich in reichlicher Speichel-
und Schweissabsonderung sowie in andauernden starken Durchfällen
kundgiebt; bisweilen tritt Eiweiss im Harn auf. Die Schwere der
Entziehungserscheinungen ist eine ausserordentlich verschiedene. Sie
hängt von der Grösse der Gabe, der Länge der Gewöhnung, dem
Allgemeinzustande der Kranken und der persönlichen Veranlagung
ab. Bisweilen beschränken sich die Störungen auf einige Durch-
fälle, Schwitzen, lebhaftes Unbehagen und Schlaflosigkeit, während
bei anderen Kranken die allerschwersten, das Leben bedrohenden
Zufälle auftreten. Eine Entziehung ganz ohne Beschwerden giebt
es indessen nach meinen Erfahrungen nicht. Wo die Erscheinungen
auffallend gering sind oder gar völliges Wohlbefinden besteht, wird
sicher heimlich Morphium zugeführt. Noch vor einiger Zeit wurde
ich auf einen derartigen Betrug dadurch aufmerksam, dass ich den
betreffenden Kranken, einen Collegen, bei der Visite behaglich
schlafend antraf.
Alle Entziehungserscheinungen lassen sich nämlich durch das
Morphium selbst wieder beseitigen oder doch erheblich mildern.
Diese Thatsache ist es, die zur Aufstellung zweier verschiedener
Hauptmethoden der Morphiumentziehung geführt hat, zu der plötz-
lichen und zu der allmählichen Entziehungscur. Bei der ersteren
lässt man von der gewohnten Gabe aus die Morphiumeinspritzungen
mit einem Schlage vollständig wegfallen, während man im anderen
Falle zuerst langsam mit der Gabe heruntergeht oder die Zwischen-
zeiten vergrössert, bevor man endlich mit den Einspritzungen voll-
ständig abbricht. Beide Verfahren haben ihre eifrigen Vertheidiger
gefunden. Während bei der plötzlichen Entziehung (Levinstein)
die Abstinenzerscheinungen meist ausserordentlich schroff hervortreten,
von vorübergehenden Delirien und namentlich der Gefahr schwerer
Collapse begleitet sind, dafür aber binnen wenigen Tagen ablaufen,
gestalten sich jene Störungen bei der allmählichen Entziehung
(Burkart) weniger stürmisch, erstrecken sich aber über eine viel
längere Zeit. Gerade dieser Umstand erschwert natürlich den
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aull. II. Band. 8
114
III. Die Vergiftungen.
völligen Ausschluss jeder unberufenen Morphiumzufuhr ungemein,
namentlich wenn man den besonnenen Kranken, was bei einer Cur-
dauer von 3, 4 und mehr Wochen schwer zu umgehen ist, etwas
freiere Bewegung gestattet; die Möglichkeit eines Betruges liegt daher
ausserordentlich nahe. Um dieser Gefahr einerseits, den oben ge-
schilderten lebenbedrohenden Zufällen andererseits auszuweichen,
hat Erlenmeyer mit seinem „schnellen“ Entziehungsverfahren,
welches sich über 1 — 2 Wochen erstreckt, einen Mittelweg ein-
geschlagen, der in der That für die überwiegende Mehrzahl der
Fälle am angemessensten erscheint. Da jeder Morphinist weit mehr
Morphium zu nehmen pflegt, als für sein Wohlbefinden nothwendig
ist (Existenzminimum), wird zunächst sofort auf die Hälfte oder
selbst ein Drittel der gewohnten Menge heruntergegangen und dann
allmählich planmässig die Gabe weiter vermindert; die Abendein-
spritzung fällt zuletzt fort.
Die Behandlung der Morphiumentziehung bedarf überall der
vollen und andauernden Aufmerksamkeit des Arztes. Vor
allem muss der Puls unter genauer Ueberwachung gehalten werden,
so dass bei dem Herannahen der Collapsgefahr ein anregendes Ver-
fahren (kühle Uebergiessungen, kräftige Hautreize durch den fara-
dischen Pinsel und Senfteige, Aether- oder Kamphereinspritzungen,
starker Kaffee, Punsch, Champagner) eingeleitet werden kann: im
Nothfalle wird man nicht zögern, durch eine Morphiumgabe die
schweren Erscheinungen zu beseitigen. Gegen die hartnäckige Un-
ruhe und Schlaflosigkeit wird man bisweilen durch Eisanwendung
auf den Kopf, durch laue Bäder oder durch ein Schlafmittel, wenn
es der Kranke verträgt, etwas erreichen können. Die mannigfachen
Schmerzen lindert ebenfalls oft die örtliche Anwendung der Kälte;
gegen Stuhldrang und Durchfälle helfen laue Eingiessungen und
Stuhlzäpfchen mit Belladonna. Das Erbrechen wird durch Eispillen
und Kataplasmen bekämpft. Da das Morphium auch bei Einspritzung
unter die Haut sehr rasch in den Magen gelangt, hat Hitzig Magen-
ausspülungen angewendet, welche nicht nur die genannte Erscheinung,
sondern auch das Gesammtbild der Entziehung in sehr günstiger
Weise beeinflussen sollen. Erlen rnej^er hält es für zweckmässig,
die unter dem Morphiumeinflusse stockende, in der Entziehung
überreichlich erfolgende Säureabsonderung im Magen durch
Zufuhr alkalischer Wässer (Fachinger, Vichy) abzustumpfen;
Morphinismus. 115
während des Morphiumgebrauches empfiehlt er die Darreichung
von Salzsäure.
Zur Erleichterung der Entziehung schlägt Burkart vor, zunächst
die innerliche Anwendung des Morphiums an Stelle der Einspritzung
zu setzen und endlich auch fernerhin durch Opiumgaben den Ausfall
des gewohnten Genussmittels weniger fühlbar zu machen. Da in-
dessen erfahrungsgemäss und aus naheliegenden Gründen der Opium-
missbrauch nicht selten denjenigen des Morphiums einfach ersetzt,
so ist der Nutzen dieses Verfahrens nicht recht verständlich. Das
anfänglich so begeistert angepriesene Cocain muss nach den jetzt
vorliegenden Erfahrungen einfach als ein minderwerthiger und zu-
gleich sehr gefährlicher Ersatz für das Morphium angesehen werden •
es lindert viele Beschwerden der Morphiumentziehung, wirkt aber
immer nur für kurze Zeit und führt in jedem Falle die äusserst
bedenkliche Wahrscheinlichkeit eines späteren Morphio-Cocainismus
herauf. Vor seiner Anwendung kann daher nicht eindringlich
genug gewarnt werden. Ueber den Werth des ebenfalls als Er-
leichterungsmittel bei der Morphiumentziehung empfohlenen Nitro-
glycerin, Spartein, Napellin werden erst weitere Erfahrungen zu ent-
scheiden haben. Ebenso vermag ich ein eigenes Urtheil über die
Erfolge der Hypnose in diesen Zuständen zur Zeit nicht abzugeben*).
Dagegen ist es ohne Zweifel von besonderer Wichtigkeit, in der
Entziehungscur gleich von Anfang an auf eine zweckmässige und
reichliche Ernährung der Kranken bedacht zu sein, da dieselben
wegen ihrer Appetitlosigkeit und Aufregung sonst rasch von Kräf t en
kommen. Die Einführung von flüssiger Nahrung, namentlich stark
gekühlter Milch mit Sodawasser, pflegt trotz der Neigung zum Er-
brechen meist zu gelingen.
Die auffallenderen Abstinenzerscheinungen treten bei der plötz-
lichen Entziehung oft schon nach wenigen Tagen, bei der schnellen
etwas langsamer und bei der allmählichen nach einigen Wochen
oder selbst erst Monaten vollständig in den Hintergrund. Der
Appetit bessert sich; das Körpergewicht steigt rasch ; der Schlaf stellt
sich, anfangs mit Hülfe von Schlafmitteln, Wasserbehandlung, dann
aber auch von selber wieder ein, und es tritt bei den Kranken
mehr und mehr das Gefühl der Gesundheit und der geistigen
') Wetterstrand, Zeitschr. f. Hypnotismus, LV, 1.
8
116
III. Die Vergiftungen.
Frische hervor. Allein die Gefahren des Morphinismus sind damit
durchaus noch nicht überwunden. Koch viele Monate, ja selbst
Jahr und Tag nach der völligen Entwöhnung vom Morphium kann
mit einem Male, häufig im Anschlüsse an einen äusseren Anlass, ein
körperliches Unwohlsein, die Ausführung einer Morphiumeinspritzung,
oder bei Rückkehr in die alte Umgebung, in eine aufreibende
Thätigkeit die Keigung zu dem Mittel mit fast unwiderstehlicher
Gewalt wieder hervortreten. Kamentlich 6 — 8 Monate nach Wieder-
aufnahme der Arbeit pflegt sich ein Zustand von Nervosität einzu-
stellen, welcher dem genesenen Morphinisten ausserordentlich gefähr-
lich ist und eine Ausspannung und Erholung dringend nothwendig
macht. Auch späterhin kehren noch öfters in schwächerer Andeutung
ähnliche Mahnungen zum Ausruhen wieder.
Unter diesen Umständen müssen wir dem entlassenen Morphi-
nisten ernstlich rathen, jede Schwankung seiner nervösen und
psychischen Widerstandsfähigkeit genau zu beachten und sich
mindestens ein Jahr lang nach beendeter Cur in irgend einer Form
unter eine gewisse Ueberwachung zu stellen, welche jede Neigung
zum Rückfalle im Keime erstickt, sei es in der Familie, sei es in
der Gesellschaft eines zuverlässigen, eingeweihten Freundes. Dem
genesenden Arzte ist es ans Herz zu legen, dass er niemals wieder
eine Einspritzung selber ausführt, weil gerade dabei die Gefahr des
Rückfalles am drohendsten hervorzutreten pflegt. Forel empfiehlt
ferner jedem Morphinisten, wie mir scheint, mit gutem Recht, gleich-
zeitig die volle Enthaltsamkeit von geistigen Getränken durchzuführen.
Nicht selten ist es der Leichtsinn der Berauschtheit oder der Miss-
muth des Katzenjammers, welche die mühsam bewahrte Selbst-
beherrschung über den Haufen werfen und zum Rückfall führen.
Endlich habe ich es in mehreren Fällen erreicht, dass die Genesenen
sich dazu entschlossen, einige Jahre lang 1 — 2 mal jährlich eine
strenge Ueberwachung von 2 — 3 tägiger Dauer in einer geschlossenen
Anstalt durchzumachen. Auf diese Weise wird dem Kranken selbst
ein gewisser sittlicher Halt gegeben; seine Angehörigen werden be-
ruhigt, und ein etwaiger Rückfall kann nicht allzulange unentdeckt
bleiben. Freilich pflegen nur diejenigen wiederzukommen, welche
gesund geblieben sind; von den Rückfälligen hört man meist erst
auf Umwegen oder gar nicht.
Die vollständige und dauernde Entziehung des Morphiums er-
Cocainismus.
117
weist sich selbst beim besten Willen des Arztes und des Kranken
in einer Reihe von Fällen als undurchführbar. Abgesehen von
jenen Kranken, denen das Leben wegen irgend eines unheilbaren,
schmerzhaften Leidens nur durch das Morphium erträglich wird,
sieht man bei älteren Personen jenseits der 50 er Jahre sowie bei
sehr lange (Jahrzehnte) bestehendem Morphinismus nicht selten
die Entziehung des Morphiums zu einem langsam fortschreitenden
Siechthum führen, welches die Lebensfähigkeit in höherem Grade
beeinträchtigt, als der Morphinismus selbst. Hier muss man sich
damit begnügen, die Gabe des Mittels nach Möglichkeit niedrig zu
halten und den Kranken dauernd unter ärztliche Aufsicht zu stellen.
C. Der Cocainismns.
Der Cocainismus*) ist die modernste der chronischen Ver-
giftungen. Die angenehmen Wirkungen des Cocains in der Morphium-
entziehung sind es gewesen, welche diesem Mittel sehr rasch eine
unerfreuliche Verbreitung verschafft haben. In der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle ist daher der Cocainmissbrauch mit dem Morphi-
nismus verbunden, und Beobachtungen von reinem Cocainismus sind
bei uns ziemlich selten, während allerdings in der Heimath der Coca,
in Peru, die Folgen dieser chronischen Vergiftung ebenso wohl-
bekannt sind, wie diejenigen des Opiumrauchens in China.
Die nächste Wirkung des Cocains ist eine unter Steigerung der
Pulszahl und Sinken des Blutdruckes eintretende rauschartige
Erregung mit behaglichem Wärmegefühle und ausgesprochenem
Wohlbefinden. Leider bietet der psychologische Versuch mit diesem
Mittel zu grosse Gefahren, so dass wir bisher nur sehr wenig über
seine genaue psychische Wirkung wissen. Allem Anscheine
nach erzeugt dasselbe eine sehr bedeutende, aber kurzdauernde
Steigerung der centralen motorischen Erregbarkeit, welcher dann
eine Lähmung zu folgen scheint. Nach dieser Richtung hin besteht
also eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Alkohol, doch sind die Er-
*) Erlenmeyer, a. a. 0. S. 154 ff., Tliomsen, Chariteannalen XII, 1887,
S. 405; Heymann, Berliner Klin. Wochenschr. XXIV, 1887, S. 278; Obersteiner,
Wiener Klin. Wochenschr. 1888, 19; Saury, Annales medico-psychologiques,
1889, 439.
118
III. Die Vergiftungen.
scheinungen weit stürmischere. Dem entspricht auch die einfache
Beobachtung des Cocainrausches. Unter der Wirkung des Mittels
wird der Mensch lebhaft, geschwätzig, schreiblustig, fühlt sich leistungs-
fähiger und kräftiger, doch folgt ziemlich bald die Erschlaffung.
Grössere Gaben erzeugen deliriöse Erregungszustände mit Neigung
zu plötzlichen Collapsen. Auffallender Weise sind die bis jetzt
durch den Yergiftungs versuch nachweisbaren Rindenzellen Verände-
rungen nach Cocain verhältnissmässig geringfügig, ein Beweis dafür,
dass dieselben kein zuverlässiger Ausdruck für die Schwere der
Functionsstörung sind. Nissl fand bei Kaninchen, die eine Reihe
von Tagen möglichst stark vergiftet worden waren, nur eine geringe
Mitfärbung der ungefärbten Substanz, beginnende Einschmelzung der
Zellkerne und eine leichte Yermehrung der weissen Blutkörperchen
in der Pia und den Gelassen.
Bei längerer Fortsetzung der Einspritzungen, zu der man durch
ein starkes Unbehagen beim Aussetzen des Mittels (Beklemmungs-
gefühl, Herzklopfen, Ohnmacht) gedrängt wird, stellt sich eine
dauernde nervöse Erregung mit leichter Ideenflucht und völliger
Unfähigkeit zu geistiger Beschäftigung, Willenlosigkeit und Abnahme
des Gedächtnisses ein. Der Kranke entwickelt eine planlose Yiel-
geschäftigkeit, ist ungemein redselig und weitschweifig im münd-
lichen Verkehre, schreibt langathmige, ideenflüchtige Briefe ohne
ersichtlichen Zweck und verabsäumt dabei seine wichtigsten Obliegen-
heiten. Er wird unzuverlässig und vergesslich, unordentlich und
kopflos in seiner ganzen Lebensführung, vernachlässigt sein Aeusseres
und geräth mit seiner Berufsthätigkeit, mit seinen gesellschaftlichen
und wirthschaftlichen Verhältnissen in raschen und unaufhaltsamen
Verfall. Die Stimmung schwankt zwischen überschwänglichem
Wohlbefinden, grosser Reizbarkeit und geheimer, misstrauischer Angst
bei gleichzeitiger gemüthlicher Abstumpfung, die sich in der auf-
fallenden Unempfindlichkeit des Kranken gegen die nächstliegenden
Forderungen der Sittlichkeit kundgiebt.
Diese tiefgreifende psychische Veränderung wird regelmässig von
den Anzeichen schweren körperlichen Siechthums begleitet.
Die allgemeine Ernährung liegt trotz reichlicher Nahrungszufuhr
darnieder; das Körpergewicht sinkt ungemein rasch. Das Aussehen
wird greisenhaft, die Hautfarbe fahl, die Gesichtszüge schlaff, aus-
druckslos, müde, der Gang unsicher; es besteht grosse körperliche
Cocainismus.
119
Schwäche und Hinfälligkeit. Die Reflexe sind gesteigert; häufig
beobachtet man lebhafte Muskelunruhe und selbst krampfartige
Zuckungen. Die Pupillen sind stark erweitert; die Zunge zittert.
Der Puls ist beschleunigt; dazu kommt Herzklopfen. Athemnoth,
Neigung zu Ohnmächten. Die Schweissabsonderung ist vermehrt;
die Potenz schwindet trotz gleichzeitiger geschlechtlicher Aufregung.
Der Schlaf ist stets sehr gestört, zeitweise völlig aufgehoben, so dass
die Kranken zn Schlafmitteln, namentlich zum Morphium greifen.
Bei einem 14jährigen Knaben meiner Beobachtung, der sich seit
sieben Wochen täglich 2 — 3 gr Cocain einspritzte und in Folge dessen
bereits eine Beugecontractur der beiden, von zahlreichen Abscessen
durchsetzten Arme davon getragen hatte, traten ausserdem Unrein-
lichkeit sowie häufige Schwindelanfälle mit deliriöser Verwirrtheit
und zeitweisen Hallucinationen auf.
Auf der allgemeinen Grundlage der cocainistischen Entartung
entwickelt sich überaus häufig das eigenartige Krankheitsbild des
Cocainwahnsinns, der in vielen Stückendem früher geschilderten
Alkohol Wahnsinn ähnelt. Der Beginn der Erkrankung ist meist ein
rascher. Nachdem eine reizbare, misstrauische, ängstliche Stimmung
mit grosser Ruhelosigkeit und Unstetigkeit kurze Zeit vorhergegangen
ist, treten plötzlich Hallucinationen auf verschiedenen Sinnesgebieten
hervor. Der Kranke hört Schimpfworte, Anspielungen, Drohungen,
Gespräche, die sich auf sein gegenwärtiges Thun und Treiben, auf
frühere Erlebnisse, ja auf seine geheimsten Gedanken beziehen.
Seine Umgebung erscheint ihm unheimlich, verändert. Er sieht
Bilder, die ihm wie mit einer Zauberlaterne vorgespiegelt werden,
namentlich aber zahllose winzige Gegenstände, die von ihm als
Flöhe, Bakterien, Krätzmilben, Kry stalle aufgefasst und bisweilen
auch unter dem Mikroskope wiedergefunden werden. So kam ein
Arzt zu mir, um mir als Entdeckung von grösster Tragweite den
Nachweis von Milben an allen möglichen Dingen, vor allem in den
Oberhautschuppen seiner Finger zu zeigen. Er verlangte Nach-
prüfung der von ihm mit dem Federmesser sofort losgelösten Schüpp-
chen, in denen er schon mit freiem Auge seine Milben erkannte;
Dauerpräparate seien ihm leider noch nicht gelungen. Zugleich
bat er um Aufnahme wegen Morphio-Cocainismus. Besonders stark
ausgebildet pflegen die Gefühlstäuschungen zu sein. Der Kranke
empfindet ein lebhaftes Hautjucken, das er auf elektrische oder
120
III. Die Vergiftungen.
magnetische Beeinflussung zurückführt. Er glaubt mit Nadeln
gespickt, ausgesogen, mit Fäden umsponnen, von Ungeziefer auf-
gezehrt zu werden; es befinden sich Kügelchen, feiner Staub, Cocain-
krystalle unter der Haut.
Diese letzten Erfahrungen zeigen uns deutlich den grossen Ein-
fluss, den hier die wahnhafte Deutung auf die Verfälschung der
Wahrnehmung hat. Ziehen in den Gliedern wird von dem Kranken
als Zeichen einer feindseligen Vergiftung betrachtet; starkes Herz-
klopfen führt zu der Befürchtung einer bevorstehenden Herz-
zerreissung. In Folge der Gehörstäuschungen glaubt sich der Kranke
überall bedroht und beobachtet. Man liest seine Gedanken mit
Hülfe geheimnissvoller Vorrichtungen; in den Wänden und Thüren
sind versteckte Oeöhungen, durch die man ihn überwacht; man
verfolgt ihn durch Radfahrer; seine Papiere werden durchstöbert
und gelesen; in verleumderischen Briefen werden Niederträchtig-
keiten und Verdächtigungen über ihn ausgestreut. Von allen Seiten
drohen Gefahren, denen sich der Kranke durch Beschwerden bei
der Polizei, durch Wohnungswechsel, überstürzte Reisen, durch
Drohungen und schliesslich sogar durch feindliche Angriffe zu ent-
ziehen sucht. Sehr häufig greift er zum Revolver und schiesst auf
seine vermeintlichen Widersacher, um sein Leben so theuer als mög-
lich zu verkaufen, oder er macht seiner verzweifelten Lage durch
Selbstmord ein Ende. Einer meiner Kranken, dem das Blut in
Strömen aus der Brust hervorzuquellen schien, und der daher seinen
Tod herannahen glaubte, beschwor seine gleichfalls unter dem Ein-
flüsse des Cocains stehende Frau, mit ihm zu sterben, worauf sie
sich sofort mit 1 gr (!) Hyoscin vergiftete, das er unmittelbar vor-
her mit zitternder Hand aus der Apotheke verschrieben hatte.
Eine sehr eigenthümliche, aber anscheinend typische Störung in
diesenZuständen ist der unsinnige Eifersuchtswahn der Cocainisten.
Wenn schon der sonstige Inhalt der Täuschungen vielfach ein ge-
schlechtlich obscöner ist, so bemächtigt sich des Kranken ferner die
Idee, dass seine Frau ihm von jeher untreu gewesen sei. Er hört
und glaubt, dass sie von allen Seiten Liebesbriefe empfangen, mit
zahllosen Männern geschlechtlich verkehrt habe. Sie ist blass ge-
worden, als sie plötzlich von ihrem Manuo überrascht wurde, hat
schnell ein Papier versteckt, ist schon auf der Hochzeitsreise mit
einem fremden Herrn im Abtritt verschwunden, in der Tanzstunde
Cocainismus.
121
von Lieutenants mit aufs Zimmer genommen worden. Ein College
erzählte mir mit dem Ausdrucke tiefsten Bedauerns, seine Frau sei
leider krank, nymphomanisch gewesen; sie habe ihm selber ge-
standen, dass sie sich mit jedem Dienstmann und Droschkenkutscher
vergangen habe ; er meine fast, sie sei schon unkeusch auf die Welt
gekommen. Auch dieser Wahn kann gelegentlich zu gefährlichen
Angriffen auf die vermeintlich Schuldigen führen.
Das Bewusstsein der Kranken ist trotz der zahlreichen, nicht
berichtigten Sinnestäuschungen und Wahnideen andauernd so klar,
dass sie nicht nur über ihre Umgebung orientirt, sondern auch im
Stande sind, zusammenhängend und ziemlich geordnet über ihre
Vorstellungen und Zustände Auskunft zu geben. Kur vorübergehend
kommt es unter lebhafteren Affectschwankungen einmal zu stärkerer
Bewusstseinstrübung und Verworrenheit. Niemals besteht jedoch
klare Krankheitseinsicht; auch bei anscheinend vollkommener Be-
sonnenheit werden die unsinnigen Wahnideen festgehalten und folge-
richtig gegen alle Einwände vertheidigt. Die Kranken weisen den
Verdacht der Geistesstörung bestimmt zurück, suchen vielleicht gar
den Nachweis zu führen, dass diese oder jene Person ihrer Um-
gebung plötzlich verrückt geworden sei. Die Stimmung ist erregt,
reizbar, zeitweise zornig und erbittert, am häufigsten misstrauisch
und niedergeschlagen. Vielfach sind die Kranken sehr zurückhaltend
in der Mittheilung ihrer krankhaften Ideen, weichen den Fragen
aus, stellen alles in Abrede. Im Benehmen tritt namentlich eine
ausgeprägte Unruhe und Unstetigkeit hervor; sonst kann dasselbe,
abgesehen von den Zeiten deliriöser Benommenheit, annähernd nor-
mal erscheinen, wenn nicht einzelne, geradezu durch Wahnideen
hervorgerufene Handlungen die schwere geistige Störung verrathen.
Die körperlichen Begleiterscheinungen sind diejenigen der chronischen
Cocain Vergiftung.
Die ganze Entwicklung des Cocainwahnsinns pflegt sich ziem-
lich schnell, oft binnen wenigen Wochen zu vollziehen. Dabei
schliessen sich deutliche Verschlimmerungen mit Zunahme der
Täuschungen und der Erregung an die einzelnen Cocaingaben an.
Die Mengen des verwendeten Giftes pflegen rasch zu wachsen, bis
auf einige Gramm in 24 Stunden. Daneben werden zur Bekämpfung
der Schlaflosigkeit regelmässig andere Mittel, am häufigsten Morphium,
aber auch Chloralhydrat, Sulfonal, Hyoscin u. s. f. genommen. So-
122
III. Die Vergiftungen.
bald das Cocain ausgesetzt wird, pflegen die stürmischen deliriösen
Zustände sehr rasch, innerhalb weniger Tage, zu verschwinden,
während die Wahnideen erst nach Wochen oder selbst Monaten und
die Erscheinungen der psychischen Zerrüttung noch weit langsamer
sich verlieren.
Die Entstehung des Cocainismus schliesst sich, wie früher be-
merkt, fast immer an einen anfänglichen Morphinismus an. Bei dem
Versuche, sich von demselben zu befreien, greift der Kranke mit
oder ohne Zureden des Arztes zum Cocain, welches ihm zunächst
und ganz vorübergehend Erleichterung verschafft, ihn dann aber
wegen der wachsenden Unruhe und Schlaflosigkeit zwingt, zum Mor-
phium zurückzukehren. Einer meiner Kranken spritzte anfangs nur
Morphium ein, pinselte sich aber dann wegen Zahnschmerzen die
Mundschleimhaut mit Cocain. Wenn wir es demnach praktisch fast
immer mit einer Verbindung beider Mittel zu thun haben, so dürften
doch die hier geschilderten Krankheitserscheinungen wesentlich oder
ausschliesslich auf die Cocainwirkung zu beziehen sein. In dem zu-
letzt erwähnten Falle traten die ersten Gehörstäuschungen: „Der wird
verhaftet!“ bald nach der Anwendung des Cocains auf, und wir
wurden erst durch sie dazu veranlasst, nach etwaigem Gebrauche
dieses Mittels zu forschen, von dem der Kranke bis dahin nichts an-
gegeben hatte. Auch sonst ist die Entwicklung stürmischer psychischer
Störungen bei reinem Morphinismus so überaus selten, bei der Ver-
bindung mit Cocainismus dagegen so regelmässig, dass die ursäch-
liche Bedeutung gerade des Cocains für den eigenartigen psychischen
Verfall und den hallucinatorischen Wahnsinn der Morphio-Cocainisten
nicht wol bezweifelt werden kann.
Der chronische Cocainismus besitzt eine grosse, unverkennbare
Aehnlichkeit mit dem Alkoholismus, die sich bis in gewisse Einzel-
heiten hinein erstreckt. Die Sinnestäuschungen der Cocainisten er-
innern durchaus an diejenigen der Alkoholdeliranten, die Eifersuchts-
ideen an den bekannten Wahn der Trinker. Gleichwol bestehen
bestimmte Unterschiede. Die Cocainzerrüttung bricht weit ge-
waltiger und unwiderstehlicher über den Menschen herein, als der
Alkoholismus; die schwersten Störungen werden sehr viel rascher
erreicht. Der Cocainwahnsinn stellt symptomatisch etwa in der Mitte
zwischen dem Delirium tremens und dem alkoholischen Wahnsinn ;
er nähert sicli jenem durch die Mannigfaltigkeit der Täuschungen,
Cocainismuä.
123
diesem durch die grössere Besonnenheit. Der Eifersuchtswahn tritt
hier acut und frühzeitig, beim Trinker erst spät und als chronische
Störung auf. Besonders kennzeichnend für die Cocainvergiftung
scheinen die miskroskopischen Gesichts- und Gefühlstäuschungen
zu sein. Endlich zeigt sich überall ein unmittelbar verschlimmern-
der Einfluss jeder einzelnen Cocaingabe auf die psychischen Er-
scheinungen, während der Verlauf der alkoholischen Psychosen
durch den Fortgebrauch des Giftes gar nicht oder nur unerheblich
verändert wird.
Die Prognose des Cocainismus ist eine ausserordentlich trübe.
Der Cocainwahnsinn freilich scheint regelmässig zu heilen, sobald
die Zuführung des Giftes dauernd verhindert wird. Dagegen ist
die Zerstörung der sittlichen Widerstandsfähigkeit hier eine weit
tiefergreifende und nachhaltigere, als bei Alkohol und Morphium.
Die Kranken werden daher fast ausnahmslos rückfällig, oft nach sehr
kurzer Zeit.
Eine einigermassen wirksame Bekämpfung des Cocainismus
kann nur von der Vorbeugung desselben ausgehen. Jede nicht rein
örtliche Anwendung des Mittels muss als unzulässig angesehen, sein
Gebrauch bei der Morphiumentziehung geradezu als Gewissenlosig-
keit gebrandmarkt, noch besser als Kunstfehler bestraft werden.
Wir Alle haben als Aerzte die Pflicht, das Publicum auf das ein-
dringlichste vor dem gefährlichen Gifte zu warnen und unnachsicht-
lich die niederträchtige Ausbeutung der Kranken durch Händler und
Aerzte zur Anzeige zu bringen. Dass die Entziehung der Praxis
bei cocainistischen Aerzten noch dringender geboten ist, als bei
morphinistischen, bedarf nach den Schilderungen der Cocainwirkung
und nach meinen eigenen, geradezu schrecklichen Erfahrungen
keiner weiteren Ausführung.
Die Entziehung des Cocains allein pflegt nur von geringfügigen
Störungen begleitet zu sein, die theilweise auch wol noch als Ver-
giftungserscheinungen zu betrachten sind. Dazu gehören Unruhe,
Schlaflosigkeit, Herzklopfen, Athemnoth, endlich plötzüche, collaps-
artige Ohnmächten. Im allgemeinen wird daher das Mittel in
wenigen Abstufungen oder sogar mit einem Schlage entzogen werden
können. Natürlich ist dabei sorgfältige Ueberwachung und unter
Umständen ein anregendes Verfahren mit Alkohol, Kaffee, Kampfer,
Herzmitteln, kühlen Uebergiessungen u. s. f. am Platze. Die Schlaf-
124
III. Die Vergiftungen.
losigkeit wird durch laue Bäder, Sulfonal, Trional bekämpft, gleich-
zeitig auf möglichst kräftige Ernährung Bedacht genommen. Bei
der regelmässigen Verbindung mit Morphinismus wird man am
zweckmässigsten zunächst das Cocain entziehen und dann erst mit
dem Morphium heruntergehen. Selbstverständlich kann jede der-
artige Cur nur in einer Anstalt und unter sicherem Ausschlüsse
jedes unberufenen Verkehrs nach aussen geschehen. Lst doch die
sittliche Unzuverlässigkeit dieser Kranken weit grösser, als selbst
diejenige der reinen Morphinisten. Für die weitere Behandlung der
Kranken nach vollendeter Entziehung aller Mittel gelten die früher
ausführlich besprochenen Grundsätze. Km- empfiehlt es sich, hier
überall noch vorsichtiger und misstrauischer zu verfahren, als dort.
IY. Das thyreogene Irresein.
Wenn wir bei den Geistesstörungen nach Vergiftungen und
Infectionen die krankmachende Schädlichkeit von aussen her in den
Körper eindringen sahen, so haben wrir nunmehr eine Gruppe von
Psychosen zu betrachten, als deren Ursache krankhafte Vorgänge in
einem Organe des Körpers selbst, in der Schilddrüse, angesehen
werden dürfen. Freilich kennen wir die einzelnen Glieder dieses
Zusammenhanges noch nicht, aber wir wissen doch bestimmt, dass
es sich um Selbstvergiftungen handelt, die durch den Ausfall der
Schilddrüsenthätigkeit zu Stande kommen. Geht die Schilddrüse
schon in früher Kindheit zu Grunde, so entsteht das Krankheitsbild
des Kretinismus, während ihre Vernichtung in späterem Alter
zum myxödematösen Irresein führt. Auch der Geistesstörungen
bei Basedow’scher Krankheit würden wir in diesem Abschnitte zu
gedenken haben, da sie ebenfalls zu Erkrankungen der Schilddrüse in
Beziehung stehen. Nur die verhältnissmässig geringe praktische Be-
deutung derselben für den Irrenarzt hat uns hier auf die Schilderung
jener Zustände verzichten lassen.
A. Das inyxödematöse Irresein3-).
Die myxödematöse Geistesstörung ist gekennzeichnet durch eine
fortschreitende Verlangsamung und Erschwerung aller
psychischen Verrichtungen unter gleichzeitigem Auftreten
eigenthümlicher Hautveränderungen und gewisser nervöser
*) Ewald, Die Erkrankungen der Schilddrüse, Myxödem n. Cretinismus. 1896;
Buschan, Ueber Myxödem und verwandte Zustände. 1896.
126
IV. Das thyreogene Irresein.
Störungen. Das Leiden beginnt in der Regel ganz allmählich. Es
entwickelt sich nach und nach eine auffallende Schwerfälligkeit
und Unbelnilflichkeit in der Auffassung und Verarbeitung äusserer
Eindrücke. Die Kranken vermögen nur mit Mühe, einem Gespräche
zu folgen, überhören und missverstehen Vieles; beim Lesen eines
Buches müssen sie die einzelnen Sätze mehrmals wiederholen, bis
sie den Siun einigermassen erfasst haben. Dabei ermüden sie un-
gemein leicht. Schon die einfachsten geistigen Leistungen kosten
ihnen eine unverhältnissmässige Anstrengung, so dass sie nach
kurzer Anspannung ihre Gedanken nicht mehr recht zu sammeln
vermögen. Die psychischen Zeiten, die ich in einem Falle messen
konnte, sind dementsprechend bedeutend verlängert. Das Gedächt-
nis nimmt sehr erheblich ab. Namentlich die Ereignisse aus letzter
Zeit verblassen schnell. Die Erinnerung wird unklar und zusammen-
hangslos; Vieles geht auch spurlos wieder verloren. Die Kranken
vergessen daher Verabredungen, Aufträge, Vorhaben, müssen sich
alles aufschreiben, was irgendwie für sie Wichtigkeit hat. Das Be-
wusstsein, die allgemeine Orientirung pflegt dabei dauernd klar zu
bleiben, wrenn auch regelmässig eine leichte Unbesinnlichkeit deutlich
erkennbar ist.
Natürlich entwickelt sich aus diesen Störungen eine schwere
Beeinträchtigung der gesammten Lebensführung. Die Kranken ge-
winnen kein rechtes Verständniss für die Vorgänge in ihrer Um-
gebung; sie brauchen zu den einfachsten Verrichtungen, zum
Schreiben eines Briefes, zum Ankleiden, unglaublich lange Zeit,
müssen sich auf alle Einzelheiten erst mühselig besinnen und oft
von vorn anfangen, weil sie irgend etwas Wichtiges vergessen
haben. Diese Schwierigkeiten wachsen allmählich so sehr, dass die
Kranken kaum das Allernothwendigste fertig bringen und schliess-
lich auf jede eigentliche Thätigkeit verzichten. In den höchsten
Graden der Störung werden sie ganz hülflos, da sie zu jeder körper-
lichen oder geistigen Beschäftigung vollkommen unfähig sind. Die
tiefgreifende Veränderung, welche sich auf diese Weise mit den
Kranken vollzieht, wird mindestens in der ersten Zeit von ihnen
deutlich auf das peinlichste empfunden. Sie merken, wie sie „ver-
simpeln“; es ist ihnen, als ob sich ein Schleier über ihr Denken
lege. Späterhin freilich tritt immer mehr eine gewisse Stumpfheit
und Gleichgültigkeit hervor. Die Kranken machen sich keine sonder-
Myxöclematöses Irresein.
127
liehen Sorgen über ihren Zustand, nehmen keinen Antheil an
dem Wohl und Wehe ihrer nächsten Angehörigen, äussem weder
Freude noch Schmerz und gerathen in eine Art gemüthlicher Er-
starrung, in der sie sich willenlos, ohne eigene Wünsche und ohne
Pläne für die Zukunft von irgend welchen zufälligen Einflüssen be-
stimmen lassen.
In einer nicht geringen Anzahl von Fällen wird das Bild einer
einfachen Verblödung von einer Reihe auffallenderer psychischer
Störungen begleitet. Namentlich sind es gemiithliche Erregungen,
die sich vielfach einstellen. Die Kranken werden ängstlich, klein-
müthig, machen sich Sorgen, äussern Selbstvorwürfe, Befürchtungen,
Selbstmordgedanken. Bisweilen entwickelt sich nun Schlaflosigkeit,
starke Unruhe und Aufregung, Jammern, sinnloses Widerstreben,
Nahrungsverweigerung; seltener scheinen auch Zustände von Ver-
wirrtheit, allerlei Sinnestäuschungen und ausgeprägtere Verfolgungs-
ideen vorzukommen.
Die körperlichen Begleiterscheinungen dieses Verblödungsvor-
ganges sind so bekannt, dass wir ihrer hier nur kurz zu gedenken
haben. Am meisten in die Augen fallen die Veränderungen an der
Haut. Dieselbe wird dick, trocken, rauh und legt sich in starre
Falten, so dass sie sich nur in Wülsten von ihrer Unterlage abheben
lässt. In den Wangen, am Kinn, an der Stirn, besonders aber am
Nacken, an den Oberarmen, oft auch in der Bauchhaut und am
Oberschenkel fühlt man plattenartige Einlagerungen im Unterhaut-
zellgewebe. Nicht selten finden sich hier deutliche Striae. Der
elektrische Leitungswiderstand ist beträchtlich erhöht. Finger und
Zehen werden dick und unförmlich. Das Gesicht wird breit, die
Züge grob und plump; der Ausdruck erhält durch den Verlust des
feineren Mienenspiels etwas Starres, Maskenartiges. Die Haare fallen
aus; die Nägel werden brüchig. Auch auf die Schleimhäute erstreckt
sich die Hautverdickung. Die Zunge vergrössert sich, wird schwer
beweglich; das Zahnfleisch wulstet sich; die Zähne beginnen oft zu
kränkeln und auszufallen. Die Nasenschleimhaut zeigt eine trockene
Schwellung mit geringfügiger, aber dauernder schleimig-seröser Ab-
sonderung. Der Magen wird empfindlich, der Appetit gering, der
Darm träge. Die Stimme wird rauh, klanglos, eintönig, die Sprache
langsam und schwerfällig. Das Gehör pflegt zu leiden, doch besteht
öfters gleichzeitig Empfindlichkeit gegen laute Geräusche. Alle Haut-
128
IV. Das thyreogene Irresein.
yerdickungen können sich übrigens im Laufe der Krankheit wieder
verlieren, so dass dann die Haut an den früher infiltrirten Stellen
in Form von weiten, schlaffen Säcken herabhängt.
Dazu kommt eine ganze Reihe von nervösen Störungen. Schon
im Beginne bestehen häufig Kopfschmerzen, dumpfer Druck, Schwindel-
gefühl; bisweilen kommt es zu Ohnmächten und selbst Krampf-
anfällen, die entweder den epileptischen gleichen oder die Kenn-
zeichen der Tetanie darbieten; auch Stimmritzenkrämpfe habe ich
beobachtet. Sehr häufig sind an der Zunge und namentlich an
Armen und Händen feine Zitterbewegungen, von einzelnen gröberen
Stössen unterbrochen. Die Bewegungen werden plump, ungeschickt,
der Gang langsam, schwerfällig. Die mechanische Erregbarkeit der
Muskeln und Nerven pflegt erhöht zu sein; die Kniesehnenreflexe
sind meist gesteigert.
Endlich haben wir noch eine Anzahl von Krankheitszeichen
zu erwähnen, die unmittelbar auf Stoffwechselveränderungen hin-
deuten. Die Schleimhäute sind blass, blutleer; die Menses bleiben
aus; die Körperwärme ist sehr niedrig; es besteht grosse Empfind-
lichkeit gegen Kälte, wie denn auch die Krankheit in der kalten
Jahreszeit sich gern verschlimmert. Wahrscheinlich sind auch tief-
greifende Veränderungen des Blutes vorhanden. In einigen von
mir beobachteten Fällen erschienen die rothen Blutkörperchen ver-
grössert, und es fanden sich auch sonst noch allerlei, einstweilen
nicht näher erklärbare Abweichungen in ihrem chemischen Ver-
halten. Oefters scheint auch eine Abnahme der rothen Blut-
körperchen vorzukommen. Die Absorptionsfähigkeit für Sauer-
stoff ist nach Alexander Schmidt’s Erfahrungen herabgesetzt,
ebenso die Gerinnungsfähigkeit. Mit dieser letzteren Veränderung
steht offenbar die Thatsache im Zusammenhang, dass Blutungen
bei unseren Kranken häufig und in grosser Ausdehnung beobachtet
werden.
Der Verlauf der myxödematösen Geistesstörung ist, wie es
scheint, in der Regel ein fortschreitender, wenn keine geeignete Be-
handlung eintritt. Die Kranken verblödeu immer mehr; zugleich
stellen sich die Zeichen eines zunehmenden körperlichen Verfalles
ein, äusserste Abmagerung, Schwäche, schwere Verdauungs- und
Ernährungsstörungen, Collapse. Vielfach erfolgt dann der Tod durch
eine hinzutretende Krankheit, welcher der geschwächte Körper keinen
Ifyxödematöses Irresein.
129
Widerstand mehr entgegenzusetzen vermag. Nachlässe der Störungen
kommen indessen häufiger vor. Ausserdem muss ich nach meinen
Erfahrungen annehmen, dass die Fälle nicht ganz selten sind , in
denen sich schwächer ausgeprägte myxödematöse Störungen auch
ohne Behandlung allmählich wieder zurückbilden.
Die Ursache der mxyödematösen Verblödung liegt ohne jeden
Zweifel in dem Ausfälle der Schilddrüsenthätigkeit. Das wird am
klarsten dargethan durch das Auftreten der ganzen Erscheinungs-
reihe nach der chirurgischen Entfernung der Schilddrüse, durch die
sogenannte „Kachexia strumipriva“. Beim Menschen wie bei fleisch -
fressenden Thieren sehen wir nach vollständiger Beseitigung jenes
Organs sehr bald gesteigerte Erregbarkeit der Muskeln und Nerven,
erhöhte Reflexe, Tetanie, Zittern, epileptiforme Krämpfe auf treten,
Störungen, die uns beim Myxödem in gleicher Weise begegnet sind.
Während Hunde und Katzen meist unter schweren Collapsen rasch
zu Grunde gehen, pflegen sich beim Menschen die stürmischen Er-
scheinungen allmählich zu bessern. Allein es kann sich nunmehr
ein fortschreitendes Siech thum entwickeln, welches in allen Einzel-
heiten durchaus demjenigen des Myxödems gleicht. Wir werden
daher zu der Annahme gezwuugen, dass die Schilddrüse ein unent-
behrliches Glied im Haushalte unseres Körpers vorstellt. Am wahr-
scheinlichsten ist es heute wol, dass ihre Thätigkeit gewisse giftige
Stoffwechselproducte zerstört. Wo trotz ihrer Entfernung das Siech-
thum nicht auftritt oder sich wieder verliert, haben wir an die
Deckung des Ausfalles durch Nebenschilddrüsen oder vielleicht auch
■durch andere Organe zu denken. So sah man die Hypophysis nach
Ausschneiden der Schilddrüse sich vergrössern.
Beim eigentlichen Myxödem entwickelt sich das Krankheitsbild
natürlich weit langsamer, als bei der Kachexia strumipriva. Immer
aber findet man auch hier eine Vernichtung des Schilddrüsengewebes,
die meist mit einem Schwund des Organs, seltener mit einer krank-
haften Vergrösserung desselben einhergeht. Am Lebenden ist es bei
der ungünstigen Lage der Drüse nicht immer leicht, sich über solche
Veränderungen Klarheit zu verschaffen. Am häufigsten scheint binde-
gewebige Entartung der Drüse zu sein; seltener wird das Myxödem
durch colloide Veränderungen erzeugt, da bei diesen in der Regel
noch gesunde Inseln des Drüsengewebes erhalten bleiben. In ver-
einzelten Fällen kann auch Syphilis, Tuberculose, Aktinomykose die
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 9
130
IV. Das thyreogene Irresein.
Zerstörung der Schilddrüse herbeiführen. Endlich hat man das
Myxödem bisweilen als Ausgang der Basedo w’schen Krankheit
beobachtet, gewissermassen als Verödung der vorher übermässig
thätigen Drüse.
Ganz besonders interessant, wenn auch leider noch sehr dunkel,
sind die Beziehungen des Myxödems zum Geschlecht. Mehr als 8/4
der bisher bekannten Fälle betreffen Frauen, namentlich im mittleren
und im Rückbildungsalter. Hie und da ist ein Zurücktreten des
Myxödems während der Schwangerschaft beobachtet worden. Diese
Thatsachen bieten eine gute Uebereinstimmung mit der allgemeinen
Erfahrung, dass die Thätigkeit der Schilddrüse mit den geschlecht-
lichen Vorgängen beim Weibe in nahem Zusammenhänge steht.
Wir wissen, dass Vergrösserungen der Schilddrüse bei Frauen un-
gleich häufiger sind, als bei Männern, dass jenes Organ während
der Menses nicht selten merklich anschwillt. W ährend der Schwanger-
schaft und beim Säugegeschäfte entwickeln sich vielfach Tetanie
und Basedow’sche Krankheit. Diese letztere, die sich zudem gern
in den Entwicklungsjahren einstellt, ist ebenso wie das Myxödem
häufig von Menstruationsstörungen begleitet. Allerdings sind wir
heute noch nicht in der Lage, uns über das Wesen dieses an den
verschiedensten Punkten hervortretenden Zusammenhanges irgendwie
klare Vorstellungen zu machen; wir werden jedoch ähnlichen An-
deutungen späterhin auch bei der Besprechung der Dementia praecox
begegnen.
Die Behandlung des Myxödems ist, Dank den Entdeckungen
der letzten Jahre, eine ungemein einfache und sichere geworden.
Es genügt vollständig, das fehlende Drüsengewebe dem Körper wieder
zuzuführen, sei es roh, in Gestalt des getrockneten Pulvers, in Ta-
bletten oder in flüssigem Auszuge. Die Wirkung dieser Behandlung
übertrifft an verblüffenden Erfolgen alles, was wir sonst von eigent-
lichen Arzneiwirkungen kennen, offenbar deswegen, weil es sich hier
gar nicht um eine Arznei handelt, sondern um ein natürliches Er-
zeugnis des Körpers. Meist bedient man sich der getrockneten
Hammelschilddrüse, von der etwa 0,1 gr 1 — 3 Mal täglich gegeben
werden. Man hüte sich vor verdorbenen und daher unwirksamen
Präparaten. Zweckmässiger ist vielleicht noch die Anwendung des
von Bau mann aus der Drüse dargestellten Jodothyrins, wenn auch
die Angaben über dessen Wirkung noch etwas auseinandergehen.
Cretinismus.
131
Es ist nothwendig, die Gabe des Mittels nur sehr vorsichtig zu
steigern, weil sonst leicht Vergiftungserscheinungen, Kopfschmerz,
Schwindel, Pulsbeschleunigung, bedrohliche Herzschwäche und selbst
tödtliche Collapse eintreten können. Die Wirkung beginnt mit dem
3. oder 4. Tage, um von nun an mit erstaunlicher Schnelligkeit
fortzuschreiten. Es stellen sich massenhafte Ausscheidungen durch
den Darm und die Nieren ein; Haut und Schleimhäute schwellen
ab; das Körpergewicht sinkt rasch. Die Nase wird durchgängig, die
Zunge beweglicher; die Magenbeschwerden schwinden; die Haut
wird weich und feucht, sondert reichlichen Schweiss ab. Zugleich
löst sich auch die Erstarrung von dem geistigen Leben. Die Kranken
fühlen sich freier, leistungsfähiger, wie erlöst von schwerem Druck,
nehmen wieder Antheil, werden munter, frisch und lebhaft. In dem
obenerwähnten Falle sank die Dauer der psychischen Zeiten binnen
14 Tagen auf die Hälfte. Auf diese Weise kann in verhältnissmässig
kurzer Zeit das ganze schwere Krankheitsbild verschwinden; nur
eine gewisse Ermüdbarkeit pflegt noch längere Zeit zurückzubleiben.
Freilich muss das Mittel, wie das in dem Wesen der Krankheit
liegt, in kleinen Gaben dauernd fortgenommen werden; die Menge
bestimmt sich nach dem Auftreten der ersten leichten Erscheinungen
des Rückfalles.
Ob in allen, auch in den sehr weit vorgeschrittenen Fällen, noch
eine vollständige Genesung möglich ist, muss erst die weitere Er-
fahrung lehren; jedenfalls scheinen die Störungen recht lange einer
gänzlichen Rückbildung zugänglich zu sein.
B. Der Cretinismus.
Der Cretinismus* *) ist ausgezeichnet durch die Verbindung einer
früh erworbenen, mehr oder weniger hochgradigen psychischen
Entwicklungshemmung mit den körperlichen Begleiterschei-
nungen einer Verkümmerung oder Entartung der Schild-
drüse. Der cretinistische Zustand ist bei der Geburt in der Regel
•
*) Baillarger et Krishaber, cretin, cretinisme et goitre endemique,
dictionnaire encyelopedique des Sciences medicales. 1879 (Literatur); Bi r eher,
Volkmanns Klinische Vorträge, Nr. 357; Cristiani, annali di freniatria,
1897, 349.
9*
132
IV. Das thyreogene Irresein.
noch nicht vorhanden; in seltenen Ausnahmefällen sind indessen
Kinder bereits mit Kröpfen geboren worden. Am häufigsten zeigen
sich die ersten Andeutungen des Leidens gegen Ende des ersten
Lebensjahres. Die Kinder bleiben in ihrer gesammten körperlichen
Entwicklung zurück, zeigen ein blasses, gedunsenes Aussehen. Sie
lernen sehr spät oder gar nicht gehen, sind träge und unbeholfen in
ihren Bewegungen. Psychisch sind sie stumpf, theilnahmlos, sprechen
nicht, schlafen viel, essen ohne Auswahl, vermögen sich nicht rein-
lich zu halten und bedürfen lange, bisweilen ihr ganzes Leben hin-
durch, einer sorgfältigen Pflege.
Um das 5. oder 6. Lebensjahr macht sieb meist deutlich die
Yergrösserung der Schilddrüse bemerkbar, die, bis zum 12. oder
15. Jahre fortschreitend, ganz ausserordentliche Grade erreichen kann.
In anderen, weniger häufigen Fällen (etwa ^3) verschwindet da-
gegen für die äussere Untersuchung jede Spur der Schilddrüse. Das
geringe Längenwachsthum des Knochenskeletts führt zum Zwerg-
wuchs. Dabei pflegen die einzelnen Skeletttheile massig, öfters sogar
unförmlich entwickelt zu sein; auch der Kopf ist meist auffallend
gross, aber flach, das Gesicht niedrig, der Hals kurz und dick. Die
Schädelbasis ist verkümmert, stark gekrümmt; dagegen findet eine
Ausweitung der Schädelkapsel nach den Seiten, bisweilen auch nach
oben statt. Die Nase ist breit; die Augenhöhlen stehen weit aus-
einander. Die gesammte Haut ist wulstig, hypertrophisch, hängt an
einzelnen Stellen, am Nacken, an den Oberarmen, in Form dicker,
nur im Ganzen verschieblicher Platten über der gewöhnlich recht
schwächlichen Muskulatur. Namentlich die breiten Gesichter mit
den schwammigen Backen und Augenlidern, den dicken Lippen, der
aufgestülpten, an der Wurzel tief eingedrückten Nase bieten einen
sehr merkwürdigen Anblick dar. Die beigegebene Tafel I zeigt alle
diese Veränderungen sehr deutlich. Bei schlechterem Ernährungs-
zustände wird die Haut eigenthümlich faltig, schlaff und runzlig.
Der Haarwuchs ist regelmässig spärlich. Die Zähne sind schlecht,
cariös, gerippt, stehen schief, nach vorwärts gerichtet. Die beiden
Zahnreihen passen vielfach nicht aufeinander, weil der Unterkiefer
gegenüber dem oberen zurücktritt oder vorspringt. Die Zunge ist
dick, unbeholfen in ihren Bewegungen, die Sprache daher auch dort,
wo sie sich über unarticulirtes Grunzen erhebt, vielfach lallend,
stammelnd, ungelenk. Die Stimme klingt rauh, heiser, bisweilen
Erwachsene Cretinen. Cretinistische Kinder.
Cretinismus.
133
fistulös. Die Hautempfindlichkeit ist erheblich herabgesetzt. Alle
Bewegungen sind plump, schwerfällig, der Gang langsam und
schleppend. Hie und da werden Krampfanfälle beobachtet, ferner
Facialisphänomen , in einzelnen Fällen Tetanie. Die Geschlechts-
entwicklung tritt spät oder bei den höchsten Graden des Leidens gar
nicht ein. Hier unterbleibt bisweilen auch der Zahnwechsel. Die
Widerstandskraft der Cretinen gegen Krankheiten und andere Schäd-
lichkeiten pflegt eine sehr geringe zu sein; sie erreichen daher meist
kein hohes Lebensalter, nur recht selten das 50. Jahr.
In psychischer Beziehung können die Cretinen alle mög-
lichen Grade der Erkrankung vom tiefsten Blödsinn bis zum leichten
Schwachsinn darbieten, ja es giebt einzelne Personen, welche trotz
gewisser körperlicher Anzeichen des Cretinismus (namentlich Kropf)
dennoch in ihrem geistigen Verhalten von der Gesundheitsbreite
nicht erkennbar abweichen. Bei der überwiegenden Mehrzahl der
Kranken jedoch findet sich eine ausgeprägte Stumpfheit und Un-
empfänglichkeit, welche sie mehr oder weniger unfähig macht, Ein-
drücke in sich aufzunehmen, Erfahrungen zu sammeln, Vorstellungen
und Begriffe zu bilden. Sie bleiben daher sehr häufig auf der Stufe
des 4 — 5jährigen Kindes stehen, öfters auch noch tiefer. Auch die
gemiithliche Erregbarkeit der Cretinen ist regelmässig eine sehr
geringe; sie sind gleichgültig, phlegmatisch, vielfach kindisch zu-
thuulich, gutmüthig und lenksam. Zu geregelter Arbeit sind sie
meist nicht fähig, theils wegen ihrer Trägheit und Schlaffheit, theils
wegen ihrer geringen Kräfte und der grossen Ermüdbarkeit. Ge-
wöhnlich besteht dieser Zustand durch das ganze Leben gleichmässig
fort. Xur in einzelnen Fällen gesellen sich, gerade wie bei Idioten,
mehr vorübergehende geistige Störungen hinzu, Erregungen, De-
pressionen oder dürftige Wahnbildungen. Ferner können sich natür-
lich auf dem Boden der cretinistischen Veranlagung auch ver-
schiedenartige sonstige Formen des Irreseins entwickeln; mehrfach
sah ich manisch-depressives Irresein, einmal auch Paralyse.
Die pathologische Anatomie des Cretinismus liegt leider
noch völlig im Argen. Wir wissen über den Hirnbefund eigent-
lich nur, dass theilweiser Schwund, Asymmetrien, Erweiterung
der Hirnhöhlen Vorkommen. Hier wäre ein Angriffspunkt für
die Forschung mit Hülfe der neueren Methoden. Der Schädel
ist häufig verdickt, Jochbogen und Unterkiefer schwach ent-
134
IV. Das thyreogene Irresein.
wickelt; auch sonst finden sicli eine grosse Zahl verschiedenartiger
Abweichungen *).
Der Cretinismus tritt bei weitem am häufigsten endemisch
auf, namentlich in den grossen Gebirgsstöcken aller Erdtheile, in
Europa besonders in den Alpen und Pyrenäen. Am meisten scheinen
die mittleren Abschnitte sehr heisser und feuchter Gebirgsthäler
gefährdet zu sein; auch dem Kalkboden wird eine gewisse Bedeutung
zugeschrieben. Die letzten Ursachen dieser endemischen Yertbeilung
sind bisher noch unbekannt; man hat die verschiedenartigsten Um-
stände, grosse Feuchtigkeit, Stagnation der Luft, schlechtes Trink-
wasser, Gehalt der Luft und des Bodens an gewissen Bestandteilen
geologische Formation, ungünstige hygienische Verhältnisse, dafür
verantwortlich gemacht, ohne doch bisher eine sichere Erklärung
auffinden zu können. Immerhin weisen zahlreiche Beobachtungs-
thatsachen vor allem auf eine sehr wichtige Rolle des Trinkwassers
hin. In der Schweiz hat die Bevölkerung vielfach solche Quellen
als „Kropfbrunnen“ bezeichnet, auf deren Benutzung die Entstehung
des Cretinismus zurückgeführt wurde. Hie und da hat sich die Be-
schränkung des Leidens auf einen bestimmten Brunnenbezirk, das
Aufhören oder das Auftreten des Cretinismus mit der Schliessung
oder Eröffnung einer bestimmten Wasserquelle nach weisen lassen.
Auch das Kochen, ja schon das Filtriren des verdächtigen Wassers
soll seine verhängnisvolle Wirkung beseitigen können.
Meistens pflegt die Ursache des Cretinismus eine weitere Ver-
breitung zu besitzen und den Typus der Gesammtbevölkerung einer
Gegend mehr oder weniger stark zu beeinflussen, so dass eben dadurch
jene zahlreichen Abstufungen bis in die Gesundheitsbreite hinein ent-
stehen, denen wir regelmässig neben den schwersten Formen begegnen.
Ja, auch die Thiere, Schweine, Hunde, Pferde, Rindvieh, Katzen, be-
sonders aber Maulthiere, können die Zeichen des endemischen Creti-
nismus darbieten. Erwachsene Fremde, welche sich in den gefährdeten
Gegenden niederlassen, erkranken nicht oder höchstens mit ganz
leichten Kropfbildungen, während die dort von ihnen erzeugten
Kinder gar nicht selten cretinistisch entarten. Andererseits ist der
Cretinismus einer erblichen Uebertragung fähig, auch nach der Aus-
wanderung aus der befallenen Gegend; er pflegt sich unter solchen
*) Jentsch, Allgem. Zeitsckr. f. Psychiatrie, LIV, 776.
Cretinismus.
135
Umständen erst nach wiederholter Kreuzung mit gesundem Blute
zu verlieren.
Alle diese eigentümlichen Thatsachen scheinen darauf hinzu-
weisen, dass wir als die Ursache des Cretinismus eine Schädlichkeit
anzusehen haben, welcher eine gewisse Selbständigkeit der Ent-
wicklung neben der Entstehung unter bestimmten allgemeinen
hygienischen Bedingungen zukommt, ein Verhalten, das mit grösster
Wahrscheinlichkeit auf einen organisirten Ansteckungsstoff
hinweist. Namentlich der jugendliche, bezw. fötale Organismus
scheint diesem, offenbar wenig flüchtigen und vielleicht auf die Nach-
kommenschaft übertragbaren endemischen Contagium besonders leicht
zugänglich zu sein. Nach Allem, was wir über das Myxödem sowie
über das Siechthum nach Ausschneidung der Schilddrüse wissen,
kann kein Zweifel mehr sein, dass auch beim Cretinismus die
Erkrankung der Schilddrüse das erste Glied des Leidens dar-
stellt, während die Hautveränderungen, die Wachsthumshemmung,
der Blödsinn als die Folgen des Ausfalls der Schilddrüsenthätigkeit
anzusehen sind. Ist es doch gelungen, bei Thieren die cretinistische
Entartung mit allen ihren Eigenthiimlichkeiten durch die Entfernung
jenes Organes künstlich herbeizuführen! Auf diese Weise erklärt
es sich einmal, dass es Cretinen mit und ohne Kropf giebt , da die
Erkrankung der Schilddrüse natürlich zur Vergrösserung und Ent-
artung, aber auch zur Schrumpfung des Organs führen kann. So
erklären sich ferner die verschiedenen Grade des Cretinismus durch
die verschiedene Ausbreitung der örtlichen Veränderungen wie
durch die wechselnde Ausbildung stellvertretender Drüsen. Endlich
aber begreift man leicht, dass es neben dem endemischen hie und
da auch einmal einen Fall von „sporadischem“ Cretinismus geben
kann, wenn nämlich die Schilddrüse nicht durch den gewöhnlichen,
auf bestimmte Gegenden beschränkten Krankheitserreger, sondern
durch irgend ein anderes Leiden bereits in der Jugend leistungs-
unfähig wird. Die Aehnlichkeit der cretinistischen mit der Malaria-
entartung scheint mir eine sehr grosse zu sein; in beiden Fällen
handelt es sich um die Erkrankung einer für den Blutstoffwechsel
nothwendigen Drüse, in beiden wahrscheinlich um einen organisirten
Krankheitserreger, welcher im Grundwasser gewisser Oertlichkeiten
von gleicher Bodenbeschaffenheit seine günstigen Entwicklungs-
bedingungen findet und die ganze Bevölkerung heimsucht, den
136
IV. Daß thyreogene Irresein.
Einen stärker, den Andern weniger. Ob sich unter den verschiedenen,
von italienischen Forschern im Trinkwasser der Cretinengegenden
aufgefundenen Mikroorganismen bereits der wirkliche Erzeuger der
Schilddrüsenerkrankung befindet, bleibt abzuwarten.
Aus der Erkenntniss der Entstehungsweise des Cretinismus
leiten sich leicht die Hassregeln für seine Bekämpfung ab. Die
Erfahrung hat gezeigt, dass Entsumpfung des Bodens und Ver-
sorgung der Bevölkerung mit gutem Trinkwasser überall mit über-
raschender Sicherheit eine Abnahme der Endemie herbeigeführt
hat. Auch die allgemeine Verbesserung der hygienischen Verhält-
nisse scheint vielfach günstig gewirkt zu haben, vielleicht weil auf
diese Weise die Widerstandsfähigkeit gegen den Krankheitsträger ge-
steigert wurde. Es wäre wenigstens denkbar, dass der vielfach be-
stätigte Einfluss der Erblichkeit wesentlich mit auf der Vererbung
einer geschwächten, wenig widerstandsfähigen körperlichen Anlage
beruht. Jedenfalls ist daher reichliche Kreuzung mit gesundem
Blute zu empfehlen. Für die einzelne Person kann die Vorbeugung
wirksam dadurch eingreifen, dass die kleinen Kinder möglichst früh-
zeitig aus der befallenen Gegend fortgeschickt werden, bis sie das
gefährdete Alter überschritten haben, am besten auf die Höhe des Ge-
birges. Erfahrene Beobachter theilen mit, dass diese Massregel selbst dann
noch völlige Genesung erzielen könne, wenn bereits die ersten Zeichen
der beginnenden Erkrankung erkennbar seien; auch fortgesetzte kleine
Jodkaliumgaben sollen in diesem Stadium von guter Wirkung sein.
Endlich kann man daran denken, die Entwicklung des Leidens
durch regelmässige Verabreichung von getrockneter Schilddrüse zu
verhindern. Die bis jetzt über dieses Verfahren vorliegenden Be-
obachtungen*) sprechen durchaus dafür, dass es bei rechtzeitigem
Eingreifen gelingen kann, sogar die deutlichen Zeichen der cretinisti-
schen Entartung noch zum Schwinden zu bringen. Bei sehr langer
Dauer der Krankheit ist es nach meinen Erfahrungen zwar auch
möglich, durch Thyreoidin die Hautschwellungen erheblich zu ver-
ringern ; auch die ausgebliebenen Menses sah ich wiederkehren. Allein
der psychische Zustand wird nicht mehr merklich beeinflusst, offen-
bar deswegen, weil sich nun bereits unausgleichbare Veränderungen
in der Hirnrinde vollzogen haben.
*) Bourneville, Progres medical, 1897, 10 u. 11.
Y. Die Dementia praecox.
Unter dem Namen der Dementia praecox sei es uns gestattet, vor-
läufig eine Reihe von Krankkeitsbildern zusammenzufassen, deren ge-
meinsame Eigentkümlickkeit der Ausgang in eigenartige Sckwäche-
zustände bildet. Es sckeint zwar, dass dieser ungünstige Ausgang
nickt ausnahmslos eintreten muss, aber er ist dock so ungemein
häufig, dass Avir einstweilen noch an der gebräuchlichen Bezeichnung
festkalten möchten. Vielleicht wären andere Bezeichnungen, Avie die
„demenza primitiva“ der Italiener oder der von Rieger bevorzugte
Ausdruck „Dementia simplex“ noch zutreffender. Ich kann nach
den bisher bekannten klinischen und anatomischen Thatsachen
nicht zweifeln, dass wir es hier mit schweren und in der
Regel höchstens theilweise rückbildungsfähigen Schädigungen der
Hirnrinde zu thun haben. Ob allerdings der Krankheitsvorgang
überall der gleiche ist, muss zur Zeit noch als völlig unsicher be-
zeichnet werden.
Vom klinischen Standpunkte empfiehlt es sich vielleicht, der
Uebersichtlichkeit halber drei Hauptgruppen der Dementia praecox
auseinander zu halten, die jedoch ohne Zweifel durch fliessende
Uebergänge mit einander verbunden sind. Wir wollen diese Formen
als hebephrenische, katatonische und paranoide bezeichnen.
Die erste derselben deckt sich mit der früher von mir beschriebenen
Dementia praecox, die zweite mit der Katatonie, Aväkrend die dritte
die Dementia paranoides und ausserdem diejenigen sonst der Paranoia
zugerechneten Fälle umfasst, die rasch zu einem erheblichen Grade
geistiger Schwäche führen. Das ganze Gebiet der Dementia praecox
entspricht im wesentlichen den früher als „Verblödungsprocosse“ be-
zeichnten Krankheitsbildern; ich möchte diese Verschiebung der
Benennungen vorschlagen, weil auch die Paralyse und der Alters-
138
Y. Die Dementia praecox.
blödsinn sowie eine Reihe weiterer Krankheitsvorgänge allenfalls
mit unter dem Namen der Vorblöd ungsprocesse verstanden werden
könnten.
Die Mannigfaltigkeit der Zustandsbilder, die wir im Verlaufe
der Dementia praecox beobachten, ist eine sehr grosse, so dass für
die oberflächliche Betrachtung oft die innere Zusammengehörigkeit
nur schwer erkennbar ist. Dennoch begegnen uns gewisse Grund-
störungen in mehr oder weniger ausgeprägter Form überall wieder,
am reinsten allerdings in den Endzuständen, in denen die mehr zu-
fälligen und vorübergehenden Begleiterscheinungen des Krankheits-
vorganges hinter den dauernden und kennzeichnenden Veränderungen
des Seelenlebens zurückgetreten sind.
Die einfache Auffassung äusserer Eindrücke pflegt in der
Dementia praecox keine stärkeren Beeinträchtigungen zu erleiden.
Die Kranken nehmen im allgemeinen ganz gut wahr, was um sie
her vorgeht, oft weit besser, als man nach ihrem Verhalten erwarten
sollte. Man ist überrascht, dass anscheinend völlig stumpfe Kranke
alle möglichen Einzelheiten in ihrer Umgebung richtig aufgefasst
haben, plötzlich die Namen ihrer Leidensgefährten kennen, Aende-
rungen in der Kleidung des Arztes bemerken. In Folge dessen ist
auch die Orientirung der Kranken meist ungestört. Sie wissen
in der Regel, wo sie sich befinden, erkennen die Personen, sind
klar über die Zeitrechnung. Nur im Stupor und in heftigen Angst-
zuständen kann die Orientirung zeitweise stärker getrübt sein, doch
ist es geradezu kennzeichnend für die Kranken, dass sie oft trotz
stärkster Erregung vollkommen besonnen bleiben. Andererseits
wird jedoch die Orientirung nicht selten durch Wahnbildungen be-
einträchtigt. Die Kranken bezeichnen Aufenthaltsort und Personen
falsch, geben ein verkehrtes Datum an, nicht wegen der Unfähigkeit,
richtig aufzufassen und zu überlegen, sondern weil ihre Wahnvor-
stellungen mächtiger sind, als die von der Wahrnehmung gelieferten
Anhaltspunkte. Freilich ist es nicht immer möglich, über diese
Verhältnisse Klarheit zu gewönnen, weil die Kranken vielfach gar
keine oder absichtlich falsche Auskunft geben.
Schwere Störungen erleidet die Sinneserfahrung bei unseren
Kranken sehr häufig durch das Auftreten von Trugwahrnehmungen.
Namentlich bei acuter oder subacuter Entwicklung der Krankheit
pflegen dieselben fast niemals zu fehlen. Hie und da begleiten sie den
Allgemeine Krankheitszeicben.
139
ganzen Krankheits verlauf; häufiger schwinden sie späterhin allmäh-
lich, um dann in den Endzuständen nur noch zeitweise stärker
hervorzutreten. Am häufigsten sind Gehörstäuschungen, nächstdem
Gesichtstäuschungen und Gefühlstäuschungen, die Empfindung von
Durchströmungen, Berührungen, Beeinflussungen. Im Beginne der
Krankheit pflegen die Täuschungen unangenehmen Inhalts zu sein
und den Kranken lebhaft zu beunruhigen. Später werden sie meist
gleichen üthiger hingenommen, wenn wir von vorübergehenden Er-
regungszuständen absehen. Manche Kranke betrachten die Täusch-
ungen als künstliche Erzeugnisse, als eine Art Theater, das ihnen
vorgeführt wird, belustigen sich auch wol darüber; noch audere
kümmern sich gar nicht darum und machen überhaupt erst auf
eindringliches Befragen einige spärliche Angaben über den Inhalt
ihrer Täuschungen. Oefters ist derselbe ein ganz unsinniger und
zusammenhangsloser. So hörte ein sonst völlig besonnener und ge-
ordneter Kranker dauernd Sätze wie die folgenden, die deutlich die
Erscheinung des Hafteus der Vorstellungen zeigen:
„Denn wir selber können immer hoffen, dass wir uns andere Gedanken zahlen
lassen sollen. Denn wir selbst wollen’s wissen wollen, wer mit uns den Saukopf
närrisch hin zu Tode quälen lassen sollte. Nein, wir selber sind nicht mehr so
dumm, und kümmern uns nicht immer drum, wenn wir uns Saufen sparen lassen
sollen. Weil wir eben närrisch machen und uns selber saudumm anschmieren
lassen sollen.“
Das Bewusstsein der Kranken ist in vielen Fällen dauernd
völlig klar. Nur in den Erregungs- und Stuporzuständen kommt
es zeitweise zu Trübungen, wenn sie auch meist weniger hochgradig
sind, als es auf den ersten Blick scheint. Schwere Störungen pflegt
dagegen regelmässig die Aufmerk samkeit zu zeigen. Wenn man
auch oft die Kranken vorübergehend zum Aufpassen bringen kann, so
besteht doch dabei nicht selten grosse Ablenkbarkeit, die ein längeres
Festhalten bei demselben Gegenstände unmöglich macht. Vor allem
aber fehlt den Kranken durchweg das Interesse, die Neigung, aus
eigenem inneren Antriebe ihre Aufmerksamkeit auf die Vorgänge in
ihrer Umgebung zu richten. Obgleich sie recht wol wahrnehmen, was
um sie her vorgeht, beachten sie es doch nicht, suchen es nicht zu er-
fassen und zu verstehen. In sehr tiefem Stupor oder bei vor-
geschrittenem Blödsinn kann es auch ganz unmöglich werden, über-
haupt noch irgendwie die Aufmerksamkeit der Kranken zu erregen.
Umgekehrt sieht man bisweilen beim Schwinden des Stupors eine
140
V. Die Dementia praecox.
gewisse Neugierde bei den Kranken auftreten; sie beobachten ver-
stohlen, was sich im Zimmer abspielt, folgen dem Arzte von weitem,
sehen in alle offenstehenden Thüren hinein, wenden sich aber ab,
wenn man sie anruft, blicken fort, sobald man ihnen etxvas zeigen
will. Anscheinend wird hier die wieder erwachende Aufmerksam-
keit durch den Negativismus in Schranken gehalten.
Das Gedächtniss der Kranken ist verhältnissmässig wenig ge-
stört. Sie vermögen, wenn sie wollen, über ihre Vergangenheit ein-
gehende, richtige Angaben zu machen, wissen oft auf Tage genau,
wie lange sie in der Anstalt sind. Ihre in der Schule erworbenen
Kenntnisse haften bisweilen mit erstaunlicher Zähigkeit bis in die
Zeit tiefster Verblödung hinein. Ich erinnere mich an einen ganz
stumpfsinnigen Bauernburschen, der vor der Landkarte jede beliebige
Stadt ohne Zögern aufzeigen konnte; ein anderer verblüffte durch
seine geschichtlichen Kenntnisse; noch andere lösen mit Leichtigkeit
schwierige Rechenaufgaben. Auch die Merkfähigkeit ist oft recht
gut erhalten. Allerdings stellt sich nach schwerem Stupor nicht
selten heraus, dass die Kranken von den Vorgängen während
längerer Zeiträume gar keine oder doch nur sehr unklare Erinnerung
besitzen; auf der anderen Seite aber gelingt es meist leicht, selbst
ganz theilnahmlosen Kranken Zahlen oder Namen einzuprägen, die
sie dann nach Tagen und Wochen richtig wieder Vorbringen. Frei-
lich erhält man dabei öfters zunächst wegen des Negativismus un-
zutreffende Antworten, bis dann bei eindringlicherem Befragen
klar wird, dass die Kranken sich die Aufgabe ganz gut gemerkt
hatten.
Der Gedankengang der Kranken pflegt früher oder später
stets empfindlich zu leiden. Auch wenn wir absehen von der Ver-
wirrtheit in den Erregungszuständen und vom Stupor, bei dem wir
die inneren Vorgänge nicht verfolgen können, bildet sich in der
Regel mehr und mehr eine gewisse Zerfahrenheit des Denkens
heraus, wie wir sie früher eingehend geschildert haben. In leichteren
Fällen zeigt sich dieselbe vielleicht nur in erhöhter Ablenkbarkeit
und Sprunghaftigkeit, in unvermitteltem Uebergehen von einem
Gegenstände zum anderen, dem Einflechten überflüssiger Redens-
arten und Nebengedanken; bei schwererer Störung dagegen ent-
wickelt sich nicht selten die Sprachverwirrtheit mit ihrem völligen
Verluste jeden Zusammenhanges und ihren Wortneubildungen. Frei-
Allgemeine Krankheitszeicheu.
14L
lieh muss zugegeben werden, dass dabei der eigentliche Gedanken-
gang möglicherweise viel weniger gestört ist, als es den Anschein
hat, weil die Kranken unter Umständen nicht nur gut auffassen,
sondern auch das Aufgefasste weiter verarbeiten und sich annähernd
geordnet benehmen können. Fast immer begegnen uns übrigens im
Gedankengange der Kranken die Anzeichen der Stereotypie, des
Haftens einzelner Vorstellungen , welches zeitweise sogar das ganze
Denken der Kranken derart beherrschen kann, dass Wochen und
Monate lang immer dieselben dürftigen Wendungen wiederkehren.
Häufig beobachten wir auch die Neigung zum Reimen, zu sinnlosen
Klangwiederholungen, zu gewaltsamen Wortspielereien.
Sclvwer geschädigt wird ferner ausnahmslos die Urtheilsfähig-
keit der Kranken. So sicher sie sich bisweilen noch in eingelernten
Bahnen bewegen, so pflegen sie doch zu versagen, sobald es sich
darum handelt, neue Erfahrungen geistig zu verarbeiten. Sie ver-
stehen nicht mehr recht, was um sie herum vorgeht, überblicken die
Sachlage nicht, denken nicht nach, verfallen nicht auf die nächst-
liegenden Schlüsse und machen sich keine Einwände. In Folge
dessen haben sie von ihrer Lage, ihrem Zustande meist eine ganz
falsche Vorstellung. Wenn auch nicht selten ein gewisses Bewusst-
sein der krankhaften Veränderung vorhanden ist, die sich mit
ihnen vollzogen hat, fehlt ihnen doch regelmässig das tiefere Ver-
ständniss für die Schwere der Störung und die weitreichenden
Folgen, welche dieselbe für die ganze Zukunft nach sich zieht.
Ungemein häufig entwickeln sich auf diesem Boden vorüber-
gehend oder dauernd Wahnvorstellungen. In der ersten Zeit
der Krankheit pflegen sie vorzugsweise traurigen Inhalts zu sein,
hypochondrische, Versündigungs-, Verfolgungsideen. Späterhin gesellen
sich oft Grössenideen hinzu oder treten auch wol ganz in den
Vordergrund. Alle diese Wahnvorstellungen zeigen in der Regel
sehr bald ein unsinniges, abenteuerliches Gepräge, anscheinend wegen
der sich rasch entwickelnden geistigen Schwäche. Sie sind ferner
nicht unveränderlich , sondern wechseln ihren Inhalt mehr oder
weniger schnell durch Ausfallen früherer, Hinzutreten neuer Bestand-
theile. Bisweilen bringen die Kranken trotz gewisser dauernder
Grundzüge fast jeden Tag neue wahnhafte Einzelheiten vor, lassen
sich auch wol durch Zureden zur Erfindung beliebiger Wahn-
bildungen anregen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle hört
142
V. Die Dementia praecox.
die anfangs oft sehr üppige Wahnbildung allmählich ganz auf.
Höchstens werden noch einzelne Wahnvorstellungen einige Zeit hin-
durch festgehalten, ohne weiter verarbeitet zu werden, oder sie
tauchen von Zeit zu Zeit noch einmal hervor, oder endlich sie ge-
rathen dauernd und vollständig in Vergessenheit. Nur in jener
Gruppe von Beobachtungen, die wir als paranoide Formen zu-
sammenfassen wollen, erhalten sich die Wahnvorstellungen länger,
aber auch hier werden sie immer zerfahrener und zusammen-
hangsloser.
Sehr auffallende und tiefgreifende Störungen spielen sich regel-
mässig im Gemüthsleben unserer Kranken ab. Den Beginn der
Krankheit bilden ausserordentlich häufig traurige oder ängstliche
Verstimmungen, bisweilen mit lebhafter Erregung. Etwas seltener
sind Zustände ausgelassener Lustigkeit mit fortwährendem unbändigem
Lachen. Weit wichtiger aber, als diese vorübergehenden Zustands-
bilder ist die ausnahmslos eintretende, mehr oder weniger hoch-
gradige gemüthliche Verblödung, die einen der Grundzüge des
ganzen Krankheitsvorganges darstellt. Schon der oben erwähnte
Mangel an Interesse für die Umgebung dürfte als eine Theil-
erscheinung dieser allgemeinen Störung aufzufassen sein, insofern
die inneren Beweggründe zur Anspannung der Aufmerksamkeit
eben wesentlich durch Gefühle geliefert werden. Die eigenthüm-
liche Gleichgültigkeit der Kranken gegenüber ihren sonstigen ge-
müthlichen Beziehungen, das Erlöschen der Zuneigung zu Angehörigen
und Freunden, der Befriedigung an Thätigkeit und Beruf, an Er-
holung und Vergnügungen ist nicht selten das erste und auffallendste
Zeichen des hereinbrechenden Leidens. Die Kranken empfinden,
auch wenn etwa die Ausdrucksbewegungen noch lebhaft sind, inner-
lich keine rechte Freude und keine Trauer mehr, hegen weder
Wünsche noch Befürchtungen, sondern leben theilnahmlos in den
Tag hinein, bald stumpf vor sich hinbrütend, bald in gegenstands-
loser Heiterkeit. Auch gegen körperliches Unbehagen scheinen sie
oft unempfindlicher geworden zu sein, ertragen unbequeme Stellungen,
Nadelstiche, Verletzungen, ohne sich viel daraus zu machen. Oefters
behält jedoch das Essen sehr lange eine besondere Anziehungskraft.
Man sieht die Kranken ohne Gruss oder sonstiges Zeichen gemüth-
licher Anregung die Besuche ihrer Angehörigen empfangen, aber
eiligst deren Taschen und Körbe nach Esswaren durchstöbern, die
Allgemeine Krankheitszeichen. 143
sie sich sofort, mit vollen Backen kauend, bis auf den letzten Rest
einzuverleiben pflegen. Auch in den Endzuständen der Krankheit
ist die vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber allen Vorgängen in
der Umgebung ein Hauptzug des klinischen Bildes. Damit kann
sich unter Umständen recht wol eine gewisse Reizbarkeit verbinden,
die allerdings meist nur zu Zeiten bervortritt, seltener dauernd
fortbesteht.
Hand in Hand mit dieser tiefen Störung des Gemiithslebens
gehen die ausgebreiteten und mannigfaltigen Krankheitserscheinungen
auf dem Gebiete des Benehmens und Handelns, die dem ganzen
Bilde am meisten sein eigenartiges Gepräge geben. Die allgemeine
Grundlage scheint eine Herabsetzung der Willensantriebe überhaupt
zu sein, wie sie sich namentlich in der Willenlosigkeit der End-
zustände zeigt, oft aber auch schon von Anfang an deutlich hervor-
tritt. Die Kranken haben jeden eigenen Antrieb zum Handeln und
zur Thätigkeit verloren, sitzen miissig herum, vernachlässigen ihre
Obliegenheiten, obschon sie vielleicht noch im Stande sind, sich
auf äussere Anregung hin in geordneter Weise zu beschäftigen.
Neben dieser Unfähigkeit zu selbständiger Thätigkeit kann sich
dauernd oder vorübergehend ein mehr oder weniger lebhafter Be-
wegungsdrang entwickeln, der sich unter Umständen bis zu stürmisch-
ster Tobsucht steigert. Aber auch bei ihm haben wir es, wie schon
früher ausgeführt, nicht mit einer Steigerung der Willensantriebe,
sondern nur mit einer motorischen Erregung zu thun ; die Be-
wegungen erstreben nicht die Verwirklichung bestimmter Ziele,
sondern sind die planlosen Entäusserungen innerer Spannung.
Allerdings verbindet sich mit dieser Erregung in der Regel
auch eine erleichterte Umsetzung von Bewegungsantrieben in Handeln.
Wir sehen unsere Kranken auf plötzliche Einfälle hin Scheiben zer-
schlagen, die Beine durch das Fenstergitter stecken, Tische und
Stühle umwerfen, sich selbst verletzen, schwere Selbstmordversuche
machen. Alle derartigen unsinnigen Handlungen pflegen plötzlich,
mit grosser Gewalt und blitzschnell ausgeführt zu werden, sobald
der Antrieb dazu auftaucht. Den Kranken fehlen dabei bestimmte
verstandesmässige Beweggründe; sie handeln triebartig, ohne sich
über den Zweck ihres Thuns Rechenschaft zu geben, auch wenn sie
dasselbe mitunter nachträglich noch durch Ueberlegungen zu be-
gründen suchen.
144
V. Die Dementia praecox.
Diese Unfähigkeit, auftauchende Antriebe zu unterdrücken, findet
sich aber nicht nur in der Erregung, sondern vielfach auch im
Stupor der Dementia praecox. Dieser letztere wird im allgemeinen
von der Erscheinung der Willenssperrung beherrscht; jeder An-
trieb wird zunächst durch einen noch stärkeren von entgegengesetzter
Richtung ausgelöscht. Auf diese Weise entsteht das Krankheits-
zeichen des Negativismus, dem wir hierin den verschiedenartigsten
Gestaltungen unendlich häufig begegnen. Dahin gehören der starre
Widerstand gegen jede Lageveränderung, gegen Nahrungsaufnahme
und Kleidung, das Schliessen der Augen, das Wegwenden des Kopfes
und Entschlüpfen bei Anreden, das Zurückhalten von Koth, Urin
und Speichel, das Verkriechen unter die Bettdecke, das Verschmähen
des Bettes, die Stummheit, die gesucht unsinnigen Antworten, die
plötzliche Unterbrechung angefangener Bewegungen und Hand-
lungen, die Unzugänglichkeit gegenüber allen Aufforderungen und
Eingriffen. Auch dieser Negativismus, dessen Ausprägung und
Stärke zwar vielfach wechselt, der aber von aussen her nur^selten
zu beeinflussen ist, kann durch innere Antriebe ganz unvermittelt
jäh durchbrochen werden, so dass die bis dahin regungslosen Kranken
plötzlich mit grösster Kraft und Schnelligkeit irgend eine sinnlose
Handlung begehen, um vielleicht ebenso plötzlich in den früheren
Zustand zurück zu versinken.
Vielfach indessen schwinden die einmal aufgetauchten Antriebe
nicht sofort wieder, sondern wiederholen sich durch kürzere oder
längere Zeit hindurch immer von neuem. Auf diese Weise entstehen
alle jene mannigfachen Bewegungs- und Haltungsstereotypen,
die namentlich das Bild der Katatonie so seltsam gestalten, ferner
die Verbigeration und endlich auch die Manieren, die wenigstens
der Mehrzahl nach nichts anderes sind, als erstarrte krankhafte Ab-
änderungen geläufiger Handlungen. Das Athmen, Sprechen, Schreiben,
das Stehen und Gehen, das An- und Auskleiden, das Handgeben
und Essen, die Geberden laufen nicht in der gewöhnlichen unge-
zwungenen Weise ab, sondern sie werden bestimmt, begleitet, durch-
kreuzt von allerlei Nebenantrieben, die trotz mannigfaltigster persön-
licher Verschiedenheiten doch gewisse immer wiederkehrende Formen
aufweisen, namentlich aber bei demselben Kranken oft jahre- und
jahrzehntelang mit grosser Zähigkeit haften. Wir werden sie später-
hin im einzelnen zu schildern haben.
Allgemeine Kranklieitszeicben.
145
Mit der schweren Schädigung des Willens, dem Untergehen
der eigenen Antriebe und Hemmungen dürfte endlich auch das bei
der Dementia praecox sehr häufige Krankheitszeichen der Befehls-
automatie in nahen Beziehungen stehen. Die Kranken sind,
namentlich bei vorgeschrittener V erblödung, nicht nur im allgemeinen
lenksam, so dass sie den unentbehrlichen Stamm jener Massen
bilden, die sich willig dem einförmigen Tageslaufe der grossen An-
stalten fügen, sondern sie zeigen auch im einzelnen vielfach die
Zeichen erhöhter Beeinflussbarkeit. Bei einer grossen Zahl be-
obachten wir zeitweise oder bis an das Lebensende Katalepsie, sehr
oft auch Echolalie und Echopraxie. Allerdings wechselt das Auf-
treten dieser Störungen vielfach, aber es dürfte wenige Kranke mit
Dementia praecox geben, die nicht das eine oder das andere dieser
Zeichen zu irgend einer Zeit des Ivrankheits Verlaufes dargeboten
haben.
Die Arbeitsfähigkeit der Kranken leidet ausnahmslos sehr
empfindlich. Sie müssen überall angetrieben werden, stocken vor
jeder kleinen Schwierigkeit, vermögen sich veränderten Bedingungen
nicht anzupassen. Einer meiner Kranken, der unter Aufsicht rasch
und flott abschrieb, so lange man wollte, war durchaus unfähig, den
Einschaltungszeichen zu folgen, gab vielmehr trotz eingehendster
vorheriger Belehrung doch immer alles gedankenlos genau so wieder,
wie es ihm vor die Feder kam. Andere sind im Stande, früher
eingeübte Arbeiten mit grosser Sauberkeit zu wiederholen, versagen
aber sofort, wenn ihnen neue Aufgaben gestellt werden. Hier kommt
es dann oft zu eigenthümlich verschrobenen Leistungen, Handarbeiten,
Zeichnungen, in denen sich neben den Spuren technischer Fertigkeit
der Verlust des Schönheitssinnes und die Neigung zum Absonder-
lichen kundgiebt. Ebenso pflegt sich bei den musikalischen Leistungen
der Untergang des künstlerischen Feingefühls in ihren bald aus-
druckslosen, bald verzerrten und willkürlichen Darbietungen be-
merkbar zu machen.
Ausser den psychischen Störungen sind auch auf körper-
lichem Gebiete eine Keihe von Krankheitserscheinungen zu
verzeichnen, deren genauere Beziehungen zu dem Grundleiden
allerdings noch nicht in allen Punkten feststehen. Vor allem
sind hier die Anfälle zu erwähnen, die schon von Kahl bäum
und Jensen sehr gut beschrieben wurden. Es handelt sich meist
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Auil. II. Band. 10
146
V. Die Dementia praecox.
um Ohnmächten oder um epileptiforme Krämpfe, die bald ver-
einzelt, bald häufiger bei unseren Kranken auftreten. Seltener
sind Krämpfe in einzelnen Muskelgebieten (Gesicht, Arm), Tetanie
oder gar apoplektiforme Anfälle mit länger dauernder Lähmung;
doch wurde auch von solchen einige Male aus der Vorgeschichte
berichtet. Ich selbst sah einmal einen schweren Collaps mit Krämpfen
in der linken Körperhälfte und im rechten Facialis. Nicht ganz
selten bildet ein solcher Anfall das erste Zeichen der beginnenden
Krankbeit. So sah ich unter anderen einen von Jugend auf be-
sonders begabten älteren Studenten, der plötzlich von einem tiefen
Koma befallen wurde, aus dem er nur ganz allmählich wieder er-
wachte. Es war ausser einer leichten Pupillendifferenz, Facialis-
phaenomen und starker Steigerung der Reflexe keine Spur von
Hirnerscheinungeu vorhanden, doch bot der Kranke, als ich ihn
wenige Wochen später untersuchte, das ausgeprägte Bild des vor-
zeitigen Schwachsinns dar, das noch heute fortbesteht. Alle diese
Anfälle sind nahezu doppelt so häufig beim weiblichen wie beim
männlichen Geschlechte. Nach meiner Zusammenstellung fanden
sie sich in etwa 18°/0 aller Fälle. Ausserdem aber waren bei einer
ganzen Reihe von Kranken schon in der Jugend Krämpfe oder
Ohnmächten vorausgegangen, von denen es zweifelhaft bleiben muss,
ob ihnen irgend ein Zusammenhang mit der Geistesstörung zu-
geschrieben werden darf. Endlich wurden öfters hysteriforme
Krämpfe und Lähmungen beobachtet, Aphonie, Singultus, plötzliches
Steifwerden, örtliche Contracturen u. ähnl. Mehrfach bestanden
dauernd eigenthtimliche choreaartige Bewegungen, die ich am besten
mit dem Ausdrucke „athetoide Ataxie“ kennzeichnen zu können
glaube. In zwei Fällen gelang es, während eines Zustandes dumpfer
Benommenheit deutliche aphasische Störungen nachzuweisen. Die
Kranken waren ausser Stande, die ihnen vorgelegten Gegenstände
zu erkennen und zu benennen, obgleich sie sprechen konnten und
sich offenbar die grösste Mühe gaben, die geforderte Auskunft zu
geben. Wiederholt kamen nach langem Besinnen falsche Bezeich-
nungen zu Tage. Die Störung war nach wenigen Stunden wieder
verschwunden.
Die Sehnenreflexe sind regelmässig gesteigert, oft sogar sehr
bedeutend; vielfach findet sich auch erhöhte mechanische Erregbar-
keit der Muskeln und Nerven. Die Pupillen sind häufig auffallend
Allgemeine Krankheitszeichen.
147
weit, namentlich in den Aufregungszuständen ; hie und da beobachtet
man deutliche, aber wechselnde Pupillendifferenz, auch Bulbusunruhe.
Verbreitet sind ferner vasomotorische Störungen, Cyanose, um-
schriebene Oedeme, Dermatographie in allen Abstufungen; in ein-
zelnen Fällen besteht starkes Schwitzen. Die Speichelabsonderung
scheint vielfach vermehrt zu sein; so konnte ich bei einem Kranken
in 6 Stunden 375 ccm Speichel sammeln. Die Herzthätigkeit ist
grossen Schwankungen unterworfen, bald verlangsamt, häufiger
etwas beschleunigt, oft auch schwach und unregelmässig. Die
Körperwärme ist meist niedrig; einmal sah ich sie bis auf 33,8
heruntergehen. Die Menses pflegen auszubleiben oder unregelmässig
zu werden.
Sehr oft beobachtete ich diffuse Vergrösserungen der Schilddrüse,
einige Male das Schwinden solcher Vergrösserungen unmittelbar vor
dem ersten Auftreten der Krankheitserscheinungen, auch wiederholten
raschen Wechsel im ürnfang der Drüse während der Entwicklung des
Leidens. In einzelnen Fällen waren Exophthalmus und Zittern vor-
handen. Endlich fielen uns wie den Angehörigen der Kranken nicht
selten myxödematöse Verdickungen der Haut ins Auge, namentlich
im Gesichte. Leider sind diese Befunde bei der Häufigkeit creti-
nistiscber Andeutungen bei uns zunächst nicht weiter zu verwertheu.
Sehr häufig schienen anaemische Zustände zu bestehen. Im Harne
fand sich einmal Zucker; einmal bestand Polyurie.
Der Schlaf der Kranken ist während der ganzen Entwicklung
des Leidens vielfach gestört, auch wenn sie ruhig daliegen.
Die Nahrungsaufnahme schwankt von völliger Verweigerung bis
zu stärkster Fressgier. Das Körpergewicht pflegt zunächst zu
sinken, oft sehr beträchtlich, bis zur äussersten Abmagerung,
auch trotz reichlichster Nahrungszufuhr. Späterhin sehen wir
im Gegentheil das Gewicht meist rasch ganz ausserordentlich
ansteigen, so dass die Kranken in kurzer Zeit ein ungemein
wohlgenährtes, gedunsenes Aussehen gewinnen. Von den hier
wiedergegebenen Curven zeigt die erste den Gang des Körper-
gewichtes bei dem gewöhnlichen Verlaufe eines katatonischen
Stupors mit Ausgang in Blödsinn mittleren Grades. Trotzdem
nach dem Erwachen aus dem Stupor eine leichte Erregung
einsetzte, nahm das Gewicht doch sehr stark zu. Die Curve IV
wurde bei einer Kranken gewonnen, welche trotz sorgfältigster
10*
148
V. Die Dementia praecox.
Pflege und reichlicher Nahrungsaufnahme ohne irgend eine Organ-
erkrankung in hochgradigstem Marasmus zu Grunde ging. Die
Curve V endlich bietet bei einer beginnenden Katatonie eine Reihe
von ziemlich regelmässigen Schwankungen dar, die jeweils mit
einem Wechsel zwischen Stupor und grösserer Klarheit einhergingen.
Später verwischte sich diese Regelmässigkeit, und es kam zu dauern-
der Yerblödung.
Curve IV.
Katatonie mit sehr starker Erregung. Tod in
äusserstem Marasmus ohne Organerkrankung.
Subnormale Temperaturen; reichliche
Nahrungsaufnahme.
I'/J -
m -
130-
|W
Curve III.
Curve V.
Katatonie. Stnpor, daun Verblödung
mit leichter Erregung.
Katatonie. Wechsel zwischen Stupor
und Klarheit.
Die klinische Einzeldarstellung des grossen Gebietes der De-
mentia praecox stösst auf erhebliche Schwierigkeiten, weil eine Ab-
grenzung der verschiedenen Kranklieitsbilder nur künstlich durch-
führbar ist. Es giebt wol eine ganze Reihe häufiger wiederkehrender
Gestaltungen, aber zwischen ihnen liegen so zahlreiche Uebergänge,
dass es trotz aller Bemühungen heute unmöglich erscheint, jeden
Fall einwandsfrei einer bestimmten Form zuzuweisen. Die im
folgenden versuchte Gruppirung hat daher keinen anderen Werth, als
den der Uebersichtlichkeit. Möglich ist es ja, dass eine genauere
Hebephrenische Formen.
149
Kenntniss des Wesens der Dementia praecox uns einmal Gesichts-
punkte für die klinische Eintheilung des Gebietes an die Hand giebt,
die uns heute noch völlig unbekannt sind.
Hebephrenische Formen. Die erste genauere und in ihrer Art
geradezu mustergültige Schilderung gewisser Formen der Dementia
praecox verdanken wir Hecker*), der 1871 im Anschlüsse an
Kahlbaums Aufstellungen unter dem Namen der Hebephrenie
solche Fälle beschrieb, bei denen sich nach einem melancholischen
Eingangsstadium ein solches der Manie entwickelt, um rasch in einen
ganz eigenartigen Schwachsinnszustand auszugehen. Als Hebephrenie
in diesem Sinne würde somit nur ein kleiner Theil der hier in der
Dementia praecox vereinigten Beobachtungen zu bezeichnen sein.
Daraszkiewicz**) hat daher den Begriff der Hebephrenie dahin
erweitert, dass er auch die „schweren Formen“ umschliesst, welche
zu tiefem Blödsinn führen. Da diese Ausdehnung der Bezeich-
nung sich einzubürgern scheint, wollen auch wir hier als Hebe-
phreuie ganz allgemein diejenigen Formen der Dementia praecox
zusammenfassen, bei denen sich allmählich oder unter den
Erscheinungen einer subacuten, seltener acuten Geistes-
störung ein einfacher, mehr oder weniger hochgradiger
geistiger Schwächezustand herausbildet.
Die Entwicklung dieses Krankheits Vorganges kann sich in sehr
verschiedenartiger Weise abspielen. In mehr als der Hälfte der
Fälle vollzieht sich die Umwälzung so unmerklich und unter so un-
bestimmten Anzeichen, dass der eigentliche Beginn derselben sich
nachträglich gar nicht mehr feststellen lässt. Viele dieser Fälle
kommen überhaupt nicht in die Behandlung dos Irrenarztes, da die
Veränderung von der Umgebung nicht als eine eigentlich krankhafte
sondern nur als das Ergebniss einer unglücklichen Entwicklung,
vielleicht sogar auch einer Verschuldung durch Charakterfehler be-
trachtet wird.
Die ersten Zeichen des herannahenden Leidens bilden in der
Regel Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Schwindelgefühl und eine all-
mähliche Veränderung im Wesen des Kranken. Er wird still, in
sich gekehrt, verstört, scheu, verschlossen, wortkarg, zeitweise auch
*) Virchows Archiv L1I, S. 394.
**) Ueber Hebephrenie, insbesondere deren schwere Form. Diss. Dorpat, 1892.
150
Y. Die Dementia praecox.
wol reizbar und grob, störrisch, rechthaberisch oder grundlos heiter
und ausgelassen. Die Arbeit geht ihm nicht mehr von der Hand; in
seinen Obliegenheiten ist er nachlässig, gedankenlos, zerstreut, ver-
gesslich, kümmert sich nicht darum, ob etwas fertig -wird oder nicht,
sondern sitzt unthätig und brütend in den Ecken herum, starrt
theilnahmlos vor sich hin, legt sich einige Tage ins Bett. Andere
Kranke zeigen eine gewisse innere Unruhe und Unstetigkeit, halten
es nirgends lange aus, treiben sich planlos herum, laufen ohne be-
stimmtes Ziel davon, auch in der Nacht, reisen aufs gerathewohl
und ohne Geld in die Welt hinein. Bisweilen lässt der Zustand im
Beginne deutliche Schwankungen erkennen, Wechsel zwischen besseren
und schlechteren Zeiten; bei Frauen werden mitunter längere Zeit
vor der Entwicklung der Krankheit leichte Erregungszustände während
der Menses beobachtet.
Etwas seltener kennzeichnet sich der Beginn der Krankheit
durch eine ausgeprägte traurige Verstimmung. Die Kranken
werden niedergeschlagen, muthlos, ängstlich, misstrauisch, haben
Heimweh, ziehen sich zurück, tragen sich mit Todesgedanken, machen
öfters plötzlich einen Selbstmordversuch. In der Regel stellen
sich alsbald Sinnestäuschungen ein. In der Nacht erscheint Gott
und Christus, eine feurige Gestalt, ein Kreuz an der Wand; Engel
schweben durch das Zimmer; Mäuse, Ameisen, Teufelchen huschen
auf dem Bette herum. Die Augen werden mit Spiegeln geblendet;
in den Sternbildern erscheint das Deutsche Reichswappen ; schwarze
Todtenvögel fliegen vorbei. Vor den Ohren ertönen Zwitschern,
Klingen, Brausen und Surren, Gepolter, Musik, „Murmelei und natur-
gemässe Geisterstimmen“, flüsternde Stimmen von der ganzen Mensch-
heit. Der Edison -Phonograph spricht; Beschuldigungen und Dro-
hungen werden ausgestossen („die isst und arbeitet nichts“; „die Haut
wird abgezogen“; „die kommt in die Irrenanstalt“) ; die eigenen Ge-
danken werden laut und für Alle vernehmbar, von der Umgebung
besprochen und durchgehechelt. Es riecht nach Schwefel; abscheu-
liche Dünste werden in das Zimmer gelassen; die Speisen schmecken
nach Gift und Unrath; das Bett schwebt. In den Genitalien spricht
es; im Rückenmark zieht es; der Körper erscheint verdoppelt.
Auch Wahnvorstellungen tauchen auf, die zuweilen sogar sehr
in den Vordergrund des Krankheitsbildes treten. Zunächst pflegen
dieselben mehr traurigen Inhalts zu sein. Der Kranke ist an allem
Hebephrenisclie Formen.
151
Schuld, ein grosser Sünder, Mörder und Yaterlandsverräther, hat
vor Gericht falsch ausgesagt, Selbstbefleckung getrieben, kommt
nicht in den Himmel; er ist verloren, verdammt, dem Bösen ver-
fallen, wird gerichtet für Zeit und Ewigkeit, verdient den Feuertod;
ihm ist, „als ob der Teufel nach ihm langen wollte“. Er wird fixirt,
beobachtet, verschwatzt, verhext, soll umgebracht, zum Spion erklärt,
erschossen, „englisirt“ werden. Man giebt ihm Gift ins Essen,
Moschuswasser, „Schuhnägelsaft und Pottasche“, nimmt ihm sein
Blut, bringt ihm Dreck unter die Haare, verschändet sein Gesicht,
macht ihm seine Gedanken, beeinflusst künstlich seine Handlungen,
giebt ihm die Worte ein. Der Samen wird ihm abgetrieben, die
Natur ins Gesicht geworfen. Frauen sehen sich von Herren verfolgt,
werden in der Nacht chloroformirt und entehrt, „naturlos gemacht“.
Der Leib zerschmilzt; die Gelenke krachen; die Füsse zerbrechen;
das Blut circulirt nicht; inwendig ist alles verbrannt und verfault;
alles trocknet ein. Der Kranke hat keinen Magen und keine Ge-
därme mehr, einen Glasdiamant, ein Wespennest, einen Kirchthurm
in der Brust.
Späterhin gewinnen vielfach Grössenideen die Oberhand, in
einzelnen Fällen schon von Anfang an. Der Kranke hat eine
grosse Erbschaft gemacht, viel Geld zu fordern, eine ganze Stube
voll Gold, stammt vom deutschen Kaiser ab, ist der grösste in
Deutschland, König von Ungarn, Sohn Gottes, Adam, von Fürsten
und Kaisern umgeben. Er ist von Gott gesandt, spricht mit ihm,
hat einen höheren Beruf, soll die Menschheit erlösen, will zur
grossen Armee, Pfarrer, Schauspieler werden, hat 22 Frauen, ver-
kehrt Nachts mit der Jungfrau Maria, besitzt die Schlüssel zur
Hölle. Weibliche Kranke sind mit hohen Personen verlobt, Tochter
des Kaisers, Engel, Himmelskönigin, wollen Prinzessin werden, be-
kommen goldgestickte Kleider; allnächtlich finden „göttlich-geistliche
Begattungen“ statt.
Vielfach werden hier geradezu die Erlebnisse des Traumes
zu Wahnbildungen verwerthet, oder es kommt zu einem ganz
abenteuerlichen Fabuliren. Der Kranke ist im Himmel gewesen,
von einer Hexe entführt worden, seit Erschaffung der Welt
da, stammt aus dem Lande Hiob, war schon früher auf dem
Kaiserthron, vor Jahrhunderten Militärarzt in Amerika, meint,
er sei „ein Nordlicht“ oder „der Berg Horeb“, gehört „zum
152
V. Die Dementia praecox.
Komet“, spricht vom „Papstneuner“, vom „Dolchmesser mit Hoch-
zeitszettel“, vom „socialdemokratischcn Jagdstock“ u. s. f. In der
ganzen Welt ist Krieg; Deutschland ist abgebrannt; es ist in dem
Jahr nicht Ostern gewesen; der Blitzstrahl kommt. Regelmässig
aber treten diese anfangs vielleicht in grosser Ueppigkeit erzeugten
Faseleien nach einiger Zeit wieder in den Hintergrund. Sie wech-
seln, werden immer dürftiger und schwinden schliesslich ganz oder
bis auf einzelne kümmerliche, zusammenhangslose Reste, die nur
selten, auf ausdrückliches Befragen oder in der Erregung noch ein-
mal vorgebracht werden.
Vielfach tritt ein deutliches, wrenn auch oft krankhaft ver-
fälschtes Krankheitsbewusstsein hervor. Im Kopfe ist es
curios, leer; der Verstand ist verloren gegangen; Vernunft
und Verstand und Sinn sind zum Hirn hinausgefahren; die Ge-
danken sind fortgeflossen. „Der Dummkopf ist verwirrt“, kann
nicht mehr denken, leidet an Gehirnerweichung; das Gedächt-
niss hat abgenommen. Der Kranke ist verrückt, nicht mehr wie
er gewesen ist; sein Leben ist nichts werth; ihm kann Niemand
helfen.
Die Besonnenheit, Orientirung und Ordnung der Ge-
danken pflegt bei den sich allmählich entwickelnden Formen dauernd
annähernd erhalten zu bleiben, während in den acuten Krankheits-
zuständen zeitweise Unklarheit und Verwirrtheit eintreten kann.
Alles erscheint dem Kranken wie umgewandelt; seine Gedanken
verwirren sich; er verkennt die Personen, fühlt sich „von Heim-
tiickerevolution umgeben“, ist „wie geistesabwesend“, weiss nicht, wo
er sich befindet. Zugleich spricht er unverständlich und zusammen-
hangslos, schreibt sinnlose Briefe und zeigt mehr oder weniger
deutliche Sprachverwirrtheit. Das Gedächtniss ist in der Regel
verhältnissmässig wenig gestört. Die Erinnerung an Erlebnisse, die
zeitliche Ordnung derselben, die Schulkenntnisse haften leidlich gut;
erst im weiteren Verlaufe der Krankheit kommt es allmählich zu
einer fortschreitenden Verödung des Vorstellungsschatzes. Die Merk-
fähigkeit ist erhalten, aber der Kranke macht keinen Gebrauch
davon, weil er gar kein Bedürfniss dazu hat, sich irgend etwas
einzuprägen. Dieser Untergang der geistigen Regsamkeit, des eigenen
Antriebes zum Denken und Beobachten ist vielleicht die wichtigste
Ursache dafür, dass nicht nur keine neuen Erfahrungen mehr ge-
Hebephrenische Formen.
153
sammelt werden, sondern auch die alten mehr und mehr versinken,
weil sie niemals aufgefrischt und ins Gedächtniss zurückgerufen
werden. So kommt es, dass ein zufälliger Anlass bei dem Kranken
bisweilen noch eine ganze Menge von Vorstellungen wachrufen
kann, die längst verloren schienen und jedenfalls von ihm nicht
mehr beherrscht wurden.
Weit rascher und tiefgreifender, als die Schädigung des Ge-
dächtnisses durch die Krankheit, ist diejenige des Verstandes.
Soweit sich das Denken in eingelernten Bahnen bewegt, fällt diese
Störung vielleicht nicht so sehr in die Augen, aber sie wird deutlich
in den unsinnigen und zerfahrenen Wahnbildungen und Gedanken-
gängen, die in aller Ruhe von den besonnenen Kranken geäussert
werden, in der Unfähigkeit, geistige Arbeit zu leisten, zu überlegen,
Widersprüche zu erkennen, sich in neuen Lebenslagen zurechtzu-
finden, endlich in der Unvernünftigkeit und Kopflosigkeit ihres
Handelns. So sehen wir öfters die Kranken wol noch über den
Büchern sitzen, aber sie begreifen nichts mehr, begehen die gröbsten
Schnitzer, sind gänzlich ausser Stande, Aufgaben fortzuführen, die
ihnen früher gar keine Schwierigkeiten boten.
Den Grundton der Stimmung bildet im allgemeinen die ge-
müthliche Stumpfheit und Gleichgültigkeit. Gleichwol stellen sich
namentlich in der ersten Zeit vielfach lebhaftere Schwankungen des
gemüthlichen Gleichgewichtes ein. Am häufigsten sind Nieder-
geschlagenheit, Angst, Verzagtheit, Verdriesslichkeit, Reizbarkeit, die
bisweilen mit gehobenem Selbstgefühl und ausgelassener Heiterkeit
ohne erkennbaren Anlass wechseln. Sehr gewöhnlich machen sich
bei den Kranken auch geschlechtliche Gefühle stark bemerkbar; sie
sehnen sich nach Liebe, möchten die ganze Welt umarmen, mastur-
biren, fordern zum Coitus auf. Auch lebhafte religiöse Gefühle
tauchen auf; die Kranken beten, lesen viel in frommen Büchern,
beichten, nehmen das Abendmahl, reden in Bibelsprüchen, wollen
ins Kloster gehen, sich der Krankenpflege widmen. Späterhin treten
die Gefühlsbetonungen immer mehr zurück; selbst die ungeheuer-
lichsten Grössen- und Kleinheitsvorstellungen werden gleichmüthig
und ohne innere Bewegung vorgebracht. Der Kranke macht sich
keine Gedanken über seinen Zustand, über seine Lage, nimmt alles
ruhig hin, fügt sich ohne Schwierigkeit in die getroffenen An-
ordnungen; die Besuche der nächsten Angehörigen, die Erinnerungen
154
V. Die Dementia praecox.
an die frühere Thätigkeit wirken nicht mehr auf ihn ein. Ohne
Sorgen für die Zukunft, ohne Langeweile, ohne klaren Wunsch und
ohne bestimmten Plan lebt er unbekümmert in den Tag hinein, bald
mehr theilnahmlos und gleichgültig, bald in unbestimmter hoffnungs-
froher Erwartung irgend eines zukünftigen Glückes.
Im Handeln der Kranken macht sich entweder eine grosse
Trägheit und Schwerfälligkeit oder ein eigenthümlich kindischer,
läppischer Zug bemerkbar. Ihr Wollen ist haltlos, unselbständig, in
einem Augenblicke unsinnig hartköpfig, im nächsten ohne weiteres
lenksam und bestimmbar. Sie vernachlässigen ihr Aeusseres, leben
unregelmässig, hören auf, zu essen, oder beschränken sich auf be-
stimmte Speisen, verlegen wichtige Gegenstände, vergessen ihre
Pflichten und werden gänzlich unfähig zu andauernder und selbst-
ständiger Thätigkeit. In Folge dessen wechseln sie vielfach ihre
Stellung oder ihren Beruf, werden überall fortgeschickt, gemassregelt,
gerathen in schlechte Gesellschaft, trinken, verthun ihr Geld, ver-
bummeln, sinken zu Landstreichern und Bettlern herab, kehren ab-
gerissen und verwahrlost nach Hause zurück, bis endlich die
Krankhaftigkeit ihres Zustandes erkannt wird.
Vielfach begehen sie allerlei thörichte, unbegreifliche Hand-
lungen, legen Feuer an, suchen Leichen auszugraben, predigen,
läuten die Glocken, verkriechen sich, baden in den Kleidern, küssen
den Fussboden, entkleiden sich auf der Strasse, legen sich in Kreuzes-
form an die Erde, schreiben wildfremden Personen Liebesbriefe.
Ein Kranker ging in vornehme Häuser und machte den Damen
geschlechtliche Anträge, weil er durch Stimmen davon in Kenntniss
gesetzt worden war, dass er als „Beschäler“ dienen solle. Ein
anderer, der es mit vieler Mühe zum Volksschullehrer gebracht
hatte, zeigte sich bei seiner Anstellung plötzlich ganz unfähig,
Schule zu halten, spielte statt des Unterrichts mit den Schulkindern
Fangens, legte sich im Viehstall „aus Muthwillen“ in eiue Krippe,
steckte den Kopf in den Brunnen, weil er wegen seiner grossen
Sünden recht gut noch eine Taufe brauchen könne. Ein Briefträger,
der bis dahin noch mit Unterbrechungen Dienst gethan hatte, unter-
schrieb eines Tages ein amtliches Schriftstück als „Generalfeld-
marschall“, verlangte Helm und Generalsuniform, bezeichnete sich
als den Sohn Kaiser Wilhelms und erkannte an den Fingernägeln
seines Vorgesetzten, dass derselbe sein Bruder sei. Wieder ein
Hebeplireniscbe Formen.
155
anderer Kranker machte plötzlich ohne irgend einen Grund den
Versuch, seine eigene Schwester zu erstechen, weil ihm „der Ge-
danke dazu kam“. Bei Soldaten kommt es zu Verstössen gegen die
Mannszucht, unverbesserlichem Lachen im Gliede, Fahnenflucht.
Weibliche Kranke geben sich dem ersten Besten geschlechtlich
preis, lassen sich von ganz jungen Burschen an der Landstrasse
missbrauchen. Vielfach werden Andeutungen katatonischer Eigen-
tümlichkeiten beobachtet, Gesichterschneiden, Manieren beim Essen
und Handgeben, Wegnehmen fremden Essens. Verkriechen in fremde
Betten, Speicheln, Grunzen, rhythmisches Wischen und Wiegen,
Katalepsie, Echolalie und Echopraxie, ferner hysteriforme AnLälle,
plötzliche „Gliedererstarrung“, einförmiges Schreien, Ohnmächten
mit Verdrehen der Augen, Athem- und Lachkrämpfe.
Gerade das häufige gegenstandslose Lachen, welches sich bei
jeder Unterredung ohne den geringsten Anlass ungezählte Male
wiederholen kann, ist eine der auffallendsten Begleiterscheinungen
der Dementia praecox. Demselben liegt keineswegs eine heitere
Stimmung zu Grunde; im Gegenteile erfährt man bisweilen von
den Kranken, dass es zwangsmässig über sie kommt, selbst gegen
ihren Willen. Oft führen die Kranken flüsternde und laute Selbst-
gespräche oder müssen „unverständiges mit sich selber reden“, wie
mir ein Kranker sagte, schimpfen sich selbst in den stärksten Aus-
drücken; dabei sind sie meist unzugänglich für Ausfragen, geben
wenig oder gar keine Auskunft über ihren Zustand. Im übrigen
begegnen uns auf dem Gebiete der sprachlichen Aeusserungen
gezierte Redeweise, gekünsteltes Aufsagen, häufige Anwendung von
Verkleinerungssilben, Todtreiten bestimmter Moderedensarten, alt-
backener Witze, Reimereien, absichtliche Verdrehung der Wörter,
gesuchtes Lispeln, Einmischung ungewöhnlicher, mundartlicher oder
fremdsprachiger Ausdrücke und Sätze, Andeutungen von Sprach-
verwirrtheit. Manche dieser Eigenthiimlichkeiten pflegen noch deut-
licher in den Schriftstücken der Kranken hervorzutreten. Dazu
kommt eine gewisse nachlässige Zusammenhangslosigkeit im Ge-
dankengange, mehrfacher Wechsel der Construction in lang aus-
gesponnenen Satzbildungen, Vermengung verschiedenartiger Bilder,
unvermitteltes Einstreuen plötzlicher Einfälle, gereimter Ergüsse, oft
auch eine liederliche äussere Form, ungleichmässige Handschrift,
Verschnörkelungen einzelner Buchstaben, Unterstreichungen, Mangel
156 V. Die Dementia praecox.
oder Ueberfluss an Ausdruckszeichen, einförmiger, oft wörtlich sich
wiederholender Inhalt.
Die Nahrungsaufnahme der Kranken ist häufig unregel-
mässig, namentlich in den Zeiten der Verstimmung oder Erregung;
sie essen nicht, weil sie nicht dürfen oder weil Gott es so haben
will. Später stellt sich öfters grosse Gefrässigkeit ein. Auch der
Schlaf ist vielfach gestört. Das Körpergewicht pflegt im An-
fänge zu sinken, steigt aber später mit dem Fortschreiten der Ver-
blödung bisweilen sehr stark, so dass die Kranken unter Entwicklung
bedeutender Esslust ein ungemein blühendes Aussehen gewinnen.
Der hie und da beobachteten Abweichungen an den Pupillen, der
häufigen Steigerung der Sehnenreflexe und der nervösen Erregbar-
keit, endlich der vasomotorischen und Herzinnervationsstörungen,
die wir hier wie bei den katatonischen Formen antreffen, wurde
bereits früher gedacht.
Nicht selten kommt es im Verlaufe der Krankheit zu Er-
regungszuständen. Dieselben können sich im Kähmen heiterer
Ausgelassenheit mit Gesprächigkeit, hanswurstartiger Unruhe, un-
bändigem Lachen und Kichern, Neigung zu Ausschreitungen, ge-
schlechtlichen Unarten, läppischen Streichen und planlosem Herum-
treiben halten. In anderen Fällen dagegen tritt tiefe Verworrenheit
mit triebartiger motorischer Erregung auf, anhaltendes Schreien und
Toben, Tanzen und Singen bis zur Erschöpfung, Schmieren, Zer-
stören, Gewalttätigkeit. Meist sind solche Zustände nicht von sehr
langer Dauer, können sich aber öfters ganz plötzlich, ohne erkenn-
baren Anlass wiederholen.
Den Ausgang der Krankheit bildet regelmässig ein Schwachsinn,
der sich rascher oder langsamer entwickeln, namentlich aber sehr ver-
schiedene Grade darbieten kann. Von den Fällen, die in die Irren-
anstalten gelangen, scheinen etwa 7 5 °/0 die höheren Stufen der Ver-
blödung zu erreichen. Die Kranken versinken allmählich mehr und mehr,
werden stumpf, theilnahmlos und verlieren jedes Verständniss für ihre
Umgebung. Vielfach sind sie unsauber beim Essen, schlingen gierig,
verschütten, schmieren mit den Speisen herum; sie verunreinigen
sich, halten Koth und Urin zurück, lassen den Speichel über ihre
Kleider fliessen. Jede eigene Willensregung kann schliesslich er-
löschen; sie bleiben stehen oder sitzen, wo sie sich gerade befinden,
stumm und träge, höchstens zeitweise blöde vor sich hinlächelnd
Hebephrenische Formen.
157
oder auch wol einmal leise einige unsinnige Worte oder Sätze mur-
melnd; sie müssen dann au- und ausgekleidet, gefüttert, geschoben
■werden.
Aeusseren Einwirkungen gegenüber verhalten sie sich bald ganz
passiv, kataleptisch, bald widerstrebend. Die spärlichen Antworten,
die man von ihnen erhält, sind meist völlig beziehungslos, verrathen
nur hin und wieder ein gewisses Verständniss der Frage; eindring-
liche einfache Aufforderungen werden bisweilen noch richtig befolgt,
einzelne von früher bekannte Personen zutreffend benannt. Hie und
da gelingt es auch wol, Reste von Schulkenntnissen, richtiges Lesen
oder Schreiben, Lösung einer Rechnung, das Haften einer geschicht-
lichen, geographischen, sprachlichen Erinnerung nachzuweisen, die
dafür zeugen, dass es nicht ein unbestellter oder unfruchtbarer,
sondern ein verwüsteter Acker ist, mit dem wir es zu thun haben.
Im Laufe der Zeit pflegen allerdings nach und nach auch diese
Ueberbleibsel früherer geistiger Arbeit immer mehr zu schwinden.
Immerhin lassen sich auch diese Kranken vielfach überraschend gut
zu mechanischer, allerdings nicht selbständiger Arbeit erziehen und
dadurch vor dem völligen Versinken bewahren. In anderen Fällen
bleibt noch eine gewisse oberflächliche geistige Regsamkeit erhalten,
aber die Kranken sind zerfahren, faselig, zeigen auch wol Reste von
Wahnbildungen und Sinnestäuschungen. Manchmal erhalten sich
deutliche Spuren der früheren Erregung, verwirrtes, unverständliches
Schwatzen, läppisches Lachen, gezierte Bewegungen und Ausdrücke,
stürmisches Auf- und Abreunen. Häufig zeigen die Kranken wenig-
stens vorübergehend Zeiten reizbarer Stimmung, drängen plötzlich
zur Thüre hinaus, fangen an, zu schimpfen, oder begehen unver-
mittelt eine Gewalthandlung, zerschlagen eine Fensterscheibe, werfen
eine Schüssel zu Boden, zerreissen ein Kleidungsstück, versetzen
einem Schlafkameraden unversehens einen Hieb. Auch Zupfen und
Nesteln an den Kleidern, abenteuerliche Drapirungen derselben,
Ausreissen der Kopf- oder Barthaare, beharrliches Zerkratzen ein-
zelner Körperstellen, rücksichtsloses Masturbiren wird vielfach be-
obachtet. In der Regel vollzieht sich dieser Vorgang im Laufe einiger
Jahre, bei den acut einsetzenden Formen vielfach schon innerhalb
des ersten Jahres, wenn auch meist eine bestimmtere zeitliche Um-
grenzung nicht möglich ist.
Es muss indessen nicht immer so weit kommen. Soweit ich es
158
V. Die Dementia praecox.
überblicken kann, bleibt in etwa 17 °/0 der Fälle der Schwachsinn ein
massiger. Die Kranken bewahren nach dem Schwinden der stür-
mischeren Krankheitserscheinungen ihre äussere Haltung, bleiben über
ihre Umgebung wie über ihre Lage ziemlich orientirt, zeigen eine ge-
wisse Einsicht in die überstandene Krankheit, vermögen sich aber
nur in den allereinfachsten Lebensereignissen zurechtzufinden. An
den Vorgängen um sie herum nehmen sie kaum Antheil, kümmern
sich nicht um Zeitrechnung und Lebensunterhalt, können sich jedoch
unter genauer Anleitung oft noch einigermassen nützlich machen.
Reizbarkeit, Empfindlichkeit gegen Alkohol, gelegentliche Erregungs-
zustände, verschrobene Ausdrucksweise, absonderliche Gewohnheiten
sind neben der Verstandesschwäche häufigere Ueberbleibsel der
überstandenen Krankheit. Hier können sich unter Umständen selbst
nach Jahren noch Verschlimmerungen, namentlich Erregungszustände
einstelJen. Wahrscheinlich gehören hierher auch einzelne Fälle, in
denen die Wahnbildungen und Sinnestäuschungen der erregten Zeit
zwar allmählich mehr in den Hintergrund treten, aber doch ge-
legentlich vorübergehend einmal wieder auftauchen. Bisweilen be-
stehen andauernd Sinnestäuschungen, durch welche sich aber die
Kranken meist nicht weiter beeinflussen lassen, und über die sie
wenig Auskunft zu geben pflegen. Hie und da aber, namentlich
während der Menses, werden sie unvermittelt gereizt, halluciniren
lebhafter, äussern Verfolgung^- oder Grössenideen, zerstören trieb-
artig irgend einen Gegenstand, um kurz nachher anscheinend völlig
ruhig und einsichtig ihren Zustand zu beurtheilen. Von dauernden,
festen Wahnbildungen ist hier gar keine Bede; vielmehr lässt sich
stets eine erhebliche Zerfahrenheit erkennen. Die Erziehungs-
fähigkeit nach Ablauf des eigentlichen Krankheitsvorganges pflegt
eine sehr geringe zu sein; es gelingt meist nur, den Bestand
einigermassen zu erhalten. Verhältnissmässig selten wird der
Kranke im Stande sein, nach Ablauf der Störung sich von neuem
zu einer bescheidenen geistigen Selbständigkeit hindurchzuarbeiten.
In 8% meiner länger verfolgten Beobachtungen verloren sich
die Zeichen der hebephrenischen Erkrankung so vollständig wieder,
dass man vielleicht von Genesung zu sprechen berechtigt ist Dabei
wird allerdings vorausgesetzt, dass die eingetretenen Besserungen
auch als dauernde zu betrachten waren, ein Satz, der im Hinblicke
auf die hie und da vorkommenden späteren Wiedererkrankungen
Katatonische Formen.
159
nicht ohne weiteres sicher erscheint. Zugleich ist zu bemerken, dass
leichtere Einbussen des Seelenlebens gewiss nicht selten unbemerkt
bleiben, um so mehr, als die Störung wesentlich auf gemüthlichem
Gebiete zu liegen pflegt und somit die bürgerliche Arbeitsfähigkeit
verhältnissmässig wenig herabzusetzen braucht. Wir dürfen, wie ich
glaube, annehmen, dass es eine ganze Menge von Menschen giebt,
deren geistiger Schiffbruch durch die Dementia praecox vollständig
verkannt wird, weil sie aus demselben noch so viel Leistungsfähig-
keit haben retten können, dass sie in bescheidenem Wirkungskreise
den Kampf ums Dasein zu bestehen vermögen. So manche jener
fleissigen und vielleicht sogar nach gewissen Richtungen begabten
Schüler dürften hierher gehören, die anfangs zu höheren Hoffnungen
berechtigten, später jedoch trotz aller Strebsamkeit und Gewissen-
haftigkeit zur Enttäuschung ihrer Erzieher nur mit der grössten Mühe
zu Stande bringen, was die anscheinend weit schwächer veranlagten
Kameraden spielend erreichten. Hier kann natürlich nur eine genaue
Kenntniss und Verfolgung des einzelnen Falles den Nachweis der
krankhaften Veränderung erbringen. Bei anderen wird die Störung
deutlicher. Sie beschäftigen sich vielleicht noch mit unpassendem
und für sie unverdaulichem Lesestoffe, mit entlegenen und schwie-
rigen Fragen, aber sie bringen nichts zu Stande, machen in ihrem
Berufe keine Fortschritte mehr, bestehen keine Prüfung, fangen
alles am verkehrten Ende, in ganz unzweckmässiger Weise an. Der
I Gesichtskreis verengert sich; die gemiithlichen Beziehungen zur
Aussenwelt schrumpfen ein. Allmählich verlieren sie gewöhnlich
auch das Interesse an geistiger Beschäftigung und Anregung über-
haupt, bewegen sich nur noch in altgewohnten, stereotypen Ge-
dankenkreisen und wenden sich vielleicht schliesslich ganz irgend
einer mechanischen Thätigkeit zu, dem Holzsägen, Abschreiben, der
Gärtnerei, oft in schroffem Gegensätze zu früheren hochfliegenden
Plänen und Hoffnungen.
Katatonische Formen. Unter dem Namen der Katatonie*)
hat Kahl bäum ein Krankheitsbild beschrieben, welches der Reihe
*) Kahlbaum, Die Katatonie oder das Spannungsirresein, 1874; Brosius,
Allgem. Zeitsehr.f. Psychiatrie, XXXIII, 770; Neisser, lieber die Katatonie. 1887.
Behr, Die Frage der Katatonie oder des Irreseins mit Spannung. Diss. Dorpat,
1881; Schiile, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 515; Aschaffenburg^
ebenda, S. 1004.
160
V. Die Dementia praecox.
nach die Zeichen der Melancholie, der Manie, des Stupors, bei
ungünstigem Verlaufe auch der Verwirrtheit und des Blödsinns
darbietet und ausserdem durch das Auftreten gewisser motorischer
Krampf- und Hemmungserscheinungen, eben der ..kata-
tonischen“ Störungen, gekennzeichnet wird. Die von ihm gegebene,
in vieler Beziehung meisterhafte Darstellung sollte zeigen, dass alle
bis dahin als Melancholia attonita, Stupor, acute Demenz u. s. w.
bezeichneten Zustände in Wirklichkeit nur Erscheinungsformen
einer einzigen Psychose seien, welche, ähnlich der Dementia para-
lytica, trotz äusserlicher Verschiedenheiten des Verlaufes doch eine
Anzahl durchaus eigenartiger körperlicher und psychischer Krank-
heitszeichen aufweise. Wenn ich nun auch die Zusammengehörig-
keit sämmtlicher von Kahl bäum vereinigter Krankheitsbilder
einstweilen bezweifeln muss, so sehe ich mich doch durch vielfache
Erfahrungen veranlasst, die grosse Mehrzahl jener Fälle als Beispiele
einer eigenartigen Krankheitsform anzuerkenuen. Es handelt sich
dabei im wesentlichen um das Auftreten eigenthümlicher, meist
in Schwachsinn ausgehender Zustände von Stupor oder
Erregung mit den Erscheinungen des Negativismus, der
Stereotypie und der Suggestibilität in Ausdrucksbewe-
gungen und Handlungen.
Die Psychose beginnt in der Regel subacut mit den Anzeichen
einer leichteren oder schwereren psychischen Depression. Oft
gehen schon lange Zeit Erscheinungen von „Nervenschwäche“ vor-
aus. Die Kranken werden still, gedrückt, theilnahmlos, ängstlich,
dabei reizbar und widerspenstig, klagen über Kopfschmerzen, Ziehen
im Genick und im Kreuz, Erschwerung des Denkens, Mattigkeit,
verlieren Schlaf und Esslust, ziehen sich von ihrer Umgebung zurück,
wollen ins Kloster gehen, hören auf, zu arbeiten, bleiben viel im
Bett liegen. Dieser Zustand der unbestimmten Vorboten kann
kürzere oder längere Zeit andauern, selbst Jahr und Tag, so dass
sich dann der eigentliche Beginn des Leidens gar nicht mehr recht
feststellen lässt. Bisweilen leitet sich die Krankheit mit mehreren,
anfallsweise auftreteuden traurigen Verstimmungen ein, die durch
bessere Zwischenzeiten von einander getrennt sind.
Regelmässig stellen sich nunmehr Sinnestäuschungen und
Wahnvorstellungen ein. Am Himmel erscheint ein weisser Stern,
Heiligenbilder, Christus am Kreuz, die wilde Jagd; an der Wand
Katatonische Formen.
161
werden farbige Bilder vorgeführt; Engel, Teufel, Gespenster, wilde
Thiere, Schlangen, der Höllenhund zeigen sich im Zimmer; Flammen
zucken hervor; im Essen sind Menschenköpfe, Würmer in der Suppe.
Draussen krähen die Hähne, rasseln Ketten, ertönt Musik, jammern
die Kinder. Gott spricht zum Kranken; der Teufel ruft seinen
Namen; sein ganzer Lebenslauf wird ihm vorerzählt. Die Leute
wissen seine Gedanken, reden über ihn, sprechen von „Mörder und
so Geschichten“; „der muss mit“. Es sind Offenbarungen, geistige
Stimmen, „Stirn mein greif ungen“, Bauchredner; wenn der Kranke
etwas denkt, hört er es gleich weiter erzählen. Im Zimmer ist
Dunst, mephitische Luft, Todtengeruch, im Essen Menschenfleisch
und Unrath. Elektrische Ströme kreisen im Körper; fremdes Blut
wird in den Kopf gepumpt, das Glied steif gemacht; das Bett macht
Bewegungen; „durch Nase und Ohr krabbeln breite Frösche in
den Mund“.
Der Kranke fühlt sich als grosser Sünder; alles geschieht
um seinetwillen; er ist der Urheber von allem. Er hat nicht recht
gehandelt, ist verloren, verworfen, moralisch tief gesunken, bringt
alle ins Unglück, kommt nicht in den Himmel, muss mit Tod und
Teufel kämpfen, Anfechtungen erleiden, für die Sünden der Welt
sterben. Der Satan sitzt in ihm, holt ihn ins Höllenfeuer; er muss
seinen Glauben abschwören, ist von der Familie zum Opferlamm
erkoren, hat die Religion zerstört. Das jüngste Gericht, der Welt-
untergang ist da; es ist Krieg; alles ist todt, der Himmel herunter-
gefallen, das Haus voll Leichen; die Pfalz geht in Flammen auf;
Soldaten, die Franzosen kommen; alle werden abgemurkst; die
Menschen haben kein Blut mehr. Der Kranke wird hingeschlachtet,
kommt aufs Schaffot, wird gebannt, verhext, muss das Blut seiner
Verwandten trinken; ein Rabe ist am Fenster, um sein Fleisch zu
fressen. Die Frau ist untreu, von einem Anderen angesteckt.
Wüste Gedanken steigen auf; der Kranke wird gezwungen, mit
seiner Schwester den Beischlaf auszuüben, durch Sympathie beein-
flusst, muss thun, was die Medien wollen; man lässt ihm die Natur
abgehen. Weiblichen Kranken wird die Ehre geraubt; sie gebären
todte Kinder. Die Gedanken werden verschwächt, der Verstand
wie ein Lappen vom Hirn gezogen, das Gehirn zerrissen, der Kopf
mitten durchgesägt, ein Gashahn in den Schädel geschraubt; der
Kopf ist ein Wolfskopf. Der Kranke ist kein Mensch mehr, ganz
Kraepelin, Psychiatrie. C. Aufl. IX. Band. 11
162
V. Die Dementia praecox.
zu; er kann nickt leben und nickt sterben, nie wieder gesund
werden, hat keine Gedanken mehr, hat sein Kleinhirn ausgehustet;
der Magen läuft auf und ab; die Lungen fallen herunter; die Ein-
geweide sind los; er ist schon gestorben.
Bisweilen schon jetzt, meist aber erst später, gesellen sich
Grössenideen hinzu, die nicht selten die traurigen Yorstell ungen
ganz in den Hintergrund drängen. Der Kranke ist unaussprechlich
glücklich, sehr reich, besitzt 10 Millionen, prächtige Schlösser, be-
kommt von Gott 60 000 Mark, einen Orden vom Prinzregenten von
Schweden, muss zum Kaiser. Er ist ein berühmter Mann, Ge-
dankenleser und Hellseher, untergeschobenes Kind, Paulus, Engel,
Jesus, das Christkindchen in der Krippe, Welterlöser, Thronfolger
von Bulgarien, zum Heile der ganzen Menschheit, zum Kampfe für
Gott geboren, befindet sich „im Jordanhimmele“, hat übernatürliche
Gaben erhalten, wichtige Erfindungen gemacht, spricht 4 Sprachen,
lebt von Gottes Wort, braucht nichts mehr zu essen und zu trinken.
Weibliche Kranke sind Gräfin, Welterlöserin, Mutter Gottes,
sind mit feinen Herren verlobt, verkehren geschlechtlich mit Kaisern
und Königen, erkennen ihren Mann nicht mehr an, haben „hoffent-
ich einen Mann, der vornehm imd von ihrem Range ist“. Eine
meiner Kranken lief zum Ortsvorsteher, um ein grosses Vermögen
abzuholen, das sie dort für sich hinterlegt glaubte; eine andere
traf Vorbereitungen zur Hochzeit mit einem ihr ganz fremden
Herrn, der ihr angeblich durch Zeichen seine Liebe erklärt hatte.
Ein Schuhmacher versuchte sich reichen jungen Damen zu nähern,
die ihm nach seiner Meinung ihre Geneigtheit kundgegeben hatten,
mit ihm die Ehe einzugehen.
Das Bewusstsein der Kranken ist in diesen Zuständen meist
etwas getrübt. Sie fassen unvollkommen auf, vermögen sich nicht
klar zu orientiren. Alles kommt ihnen verwechselt, wie Komödie
vor; die Personen sind verwandelt, nicht die richtigen; sie befinden
sich in einem Zauberhaus, klagen über Yerwirrnisse und Verwick-
lungen. Der Ge danken gang ist zerfahren, zusammenhangslos, die
Ueberlegung meist schwer beeinträchtigt, wie sich aus den un-
sinnigen und widerspruchsvollen Reden der Kranken ergiebt. Die
Erinnerung an die Vergangenheit ist gut erhalten, auch die Merk-
fähigkeit öfters überraschend gut. Personen der neuen Umgebung
werden in der Regel wiedererkannt, wenn auch falsch aufgefasst
Katatonische Formen.
163
und benannt, als Christus, Judas Ischarioth. Hie und da aber kommt
es zu Erinnerungsfälschungen. Der Yater hat den Kranken
durchstochen und das Blut aufgefangen ; er ist von einer Zigeunerin
geraubt, im Garten erschossen worden.
Die Stimmung der Kranken ist im Beginne des Leidens meist
eine traurige, ängstliche; sie sind verstört, seufzen, jammern, flehen
um Gnade, fürchten sich „vor dem Ungewissen“. Bisweilen werden
sie reizbar, misstrauisch, finster, drohend; auch beobachtet man
Zornausbrüche von ungemeiner Heftigkeit. Dazwischen hinein aber
kann sich ganz unvermittelt kindische Heiterkeit oder verzückte
Glückseligkeit einschieben, meist begleitet von lebhafter geschlecht-
licher Erregung, Masturbation, obscönen Reden und Angriffen.
Sehr auffallend pflegen auch die Störungen im Benehmen und
Handeln zu sein. Die Kranken hören auf, zu arbeiten, stehen und
liegen thatenlos herum, laufen davon, stieren vor sich hin, lachen
ohne Grund, fangen an, Ausschweifungen zu begehen, sich zu ver-
nachlässigen, ihre Umgebung zu bedrohen. Andere beten, laufen
viel in die Kirche, knieen den ganzen Tag, gehen ins Kloster, läuten
plötzlich die Glocken, wollen die Gräber öffnen, in der Kirche die
Geräthe vom Altar nehmen. Noch andere wollen heirathen, ziehen
ihre besten Kleider an, nehmen überall Abschied. Mehrere meiner
Kranken machten Selbstmordversuche oder gefährliche Angriffe auf
ihre Angehörigen ohne jeden äusseren Anlass; einer suchte sich in
der Scheuer auf einem Heuhaufen zu verbrennen, weil die Fran-
zosen kämen.
An diesen ersten Abschnitt der Krankheit, der in allen Haupt-
zügen demjenigen gewisser hebephrenischer Formen ähnelt, schliessen
sich in mehr oder weniger deutlicher Ausprägung diejenigen Zu-
stände an, die der Katatonie insbesondere eigentümlich sind, der
katatonische Stupor und die katatonische Erregung. In
etwa V3 der Fälle allerdings entwickeln sich diese Zustände, und
zwar beide gleich häufig, ganz ohne bemerkbare Yorboten aus an-
scheinend voller Gesundheit heraus.
Der katatonische Stupor ist hauptsächlich beherrscht durch die
Erscheinungen des Negativismus und der Befehlsautomatie.
Die Kranken werden einsilbig, wortkarg, brechen mitten im Wort
oder Satz ab, hören allmählich vollständig auf, zu sprechen (Muta-
cismus), oder fispeln doch nur hier und da leise einige unverständ-
11*
164
Y. Die Dementia praecox.
liehe Worte, führen auch wol flüsternde Selbstgespräche, lachen vor
sich hin. Manchmal setzen sie zum Sprechen an, sobald man Miene
macht, sich zu entfernen, verstummen aber sofort, wenn man sich
wieder zu ihnen wendet. Auch zum Schreiben sind sie meist nicht
mehr zu bringen, brechen nach einigen Buchstaben ab, fahren spie-
lend über das Papier oder bringen nur sinnlose Kritzeleien hervor.
Sie blicken nicht mehr auf, wenn man mit ihnen spricht, drehen
den Kopf nicht her, wenden sich vielleicht geradezu ab. In ein-
zelnen Fällen erhält man jedoch zeitweise noch schriftliche Ant-
worten, oder die sonst stummen Kranken singen auf Befehl einmal
mit feiner Stimme ein bekanntes Lied. Im übrigen sind sie gänzlich
unzugänglich gegen jede äussere Einwirkung, reagiren nicht auf An-
reden, Berührungen und selbst Nadelstiche; nur selten führt ein
sehr lebhafter Reiz Ausweichbewegungen noch seltener einmal
einen unvermuthet gewandten und kräftigen Angriff herbei. Auch
ein gelegentliches leises Blinzeln, stärkere Röthung oder Schwitzen
des Gesichtes, Zucken um die Mundwinkel bei solchen Versuchen,
Auflachen bei scherzhaften Anlässen deuten darauf hin, dass weniger
die Auffassung der Eindrücke, als die Auslösung einer Willens-
handlung auf dieselben gestört ist.
Jeder Versuch eines Eingreifens in Haltung oder Bewegung
der Kranken begegnet zeitweise hartnäckigem und unüberwind-
lichem Widerstande. Man fühlt, wie sich sofort jeder Muskel
auf das äusserste anspannt, sobald man irgend eine Lagever-
änderung mit dem Kranken vornehmen will. Drückt man gegen
die Stirn, so schnellt der Kopf beim Loslassen federnd nach
vorn; berührt man das Hinterhaupt, so strebt er dem Fingerdruck
entgegen nach hinten. Den psychischen Ursprung dieses ent-
schiedenen Widerstrebens erkennt man am besten in den nicht
seltenen Fällen, in welchen die Kranken auch auf sprachliche Beein-
flussungen in der gleichen Weise antworten. Es ist dann nicht nur
möglich, den Kranken dadurch zum Vorwärtsgehen zu veranlassen,
dass man ihn scheinbar zurückdrängt und umgekehrt, soudem er setzt
sich auf den Nachtstuhl, wenn man es ihm mit Bestimmtheit ver-
bietet, steht still, sobald man ihn gehen heisst und ähnliches. Auch
in einer Reihe von anderen Zügen lässt sich deutlich der grund-
sätzliche Widerstand gegen die natürlichen Willensantriebe er-
kennen. Manche Kranke dulden keine Kleider, keine Schuhe, ja
Katatonische Formen.
165
kein Hemd, gehen nicht ins Bett, legen sich Nachts an den Boden,
unter das Bett, ziehen Kleidungsstücke verkehrt an, kehren die Bett-
stücke um, liegen auf der Decke, um sich mit der Matratze zuzu-
decken, drängen zu einer bestimmten Thüre hinaus. Sie kriechen
in fremde Betten, ziehen fremde Kleider an, verbinden sich die
Augen, verhüllen sich, halten krampfhaft fest, was sie einmal ge-
fasst haben.
Als eine negativistische Erscheinung ist ferner wol die bei
unseren Kranken häufige Nahrungsverweigerung aufzufassen. Sie
hören bisweilen ganz plötzlich auf, zu essen, und sind nun auf keine
Weise zur Fortsetzung der Mahlzeit zu bewegen, beissen krampfhaft
die Zähne aufeinander, pressen die Lippen zusammen, sobald man
sich mit dem Löffel nähert. Andere essen nicht, so lange man ihnen
zusieht, lassen alles stundenlang stehen oder nehmen nur heimlich
etwas zu sich. Ebenso plötzlich, wie sie begann, pflegt die Nah-
rungsverweigerung auch zu enden, um nun nicht selten einer
gierigen Gefrässigkeit Platz zu machen. Bisweilen fangen die Kranken
an, zu essen, wenn sie in ein anderes Zimmer, in eine neue Um-
gebung kommen. Einzelne Kranke verschmähen mit unüberwind-
licher Hartnäckigkeit bestimmte Speisen, Fleisch oder das für sie
bereit gestellte Essen, wissen sich aber mit List oder Gewalt die
Speisen ihrer Nachbarn zu verschaffen und verzehren dieselben in
grösster Hast.
Endlich dürfte auf den Negativismus der Kranken auch viel-
fach ihre Unreinlichkeit zurückzuführen sein. Sie halten Urin
und Koth oft lange Zeit zurück und lassen ihn dann einfach unter
sich gehen, nehmen nicht die geringste Lageveränderung vor, um
sich den unangenehmen Folgen zu entziehen. Auf dem Abtritt sind
sie häufig nicht zur Entleerung zu bewegen, um gleich darauf den
Fussboden oder das Bett in ausgiebigster Weise zu verunreinigen.
Der Speichel wird oft bis zum äussersten im Munde angesammelt,
um dann plötzlich springbrunnenartig hervorzuquellen, oder er läuft
immerfort am Kinn über die Kleider herab, zum Theil wol, weil
die Absonderung vermehrt ist, aber auch weil die psychomotorisch
erstarrten Kranken keine Schluckbewegungen ausführen. In anderen
Fällen sieht man indessen die Kranken ihre Umgebung auf das
rücksichtsloseste durch immerwährendes Spucken verunreinigen.
Mit dem Negativismus verbindet sich sehr gewöhnlich eine
166
V. Die Dementia praecox.
ausserordentliche Einförmigkeit der Körperhaltung und Muskel-
spannung. In Folge dessen sehen wir die Kranken Tage, Wochen,
ja viele Monate hindurch genau dieselbe Stellung einnehmen. In
eigenthiimlicber Haltung, bildsäulenartig, oft starr in sich zusammen-
gekrümmt, hocken, knieen oder liegen sie regungslos da, den Kopf
frei vom Kissen abgehoben oder über den Bettrand herabhängend,
das Leintuch zwischen den Zähnen. Sie lassen sich nach Belieben
herumrollen oder auch an irgend einem Körpertheil wie ein Packet
in die Höhe heben, ohne die Lage ihrer Glieder irgendwie zu ver-
ändern. Eine meiner Kranken faltete so lange Zeit die Hände
krampfhaft, dass an den Berührungsstellen Druckbrand entstand;
ein anderer kniete Jahre lang auf derselben Stelle, bis wegen der
entstehenden Gelenkentzündung unter heftigstem Sträuben gewalt-
sames Festhalten im Bette nöthig wurde. Die Augen sind dabei
entweder geschlossen, werden bei jeder äusseren Annäherung unter
starker Aufwärtsrollung der Bulbi fest zusammengekniffen, oder
sie sind weit offen, starren mit erweiterten Pupillen in die Feme,
fixiren niemals; der Lidschlag findet äusserst selten statt Der Ge-
sichtsausdruck ist unbeweglich, maskenartig, verwundert, erinnert
bisweilen an das starre Lächeln der Aegineten. Die Lippen sind
öfters rüsselartig vorgeschoben („Schnauzkrampf1), zeigen hier und
da leichte, rhythmisch -zuckende Bewegungen. Häufig ist Grinsen
und Gesichterschneiden.
Auch im Gange der Kranken pflegen sich ähnliche Eigenthüm-
lichkeiten bemerkbar zu machen. Oefters ist es freilich ganz un-
möglich, Gehversuche zu erzielen. Die Kranken lassen sich einfach
steif hinfallen, sobald man sie auf die Flisse stellen will. In anderen
Fällen marschiren sie mit gestreckten Knieen, auf den Zehenspitzen,
auf dem äusseren Fussrande, mit gespreizten Beinen, stark zurück-
gebeugtem Oberkörper, mit krampfhaft emporgerafftem Hemde,
rutschend, tänzelnd, kurz in irgend einer ganz ungewöhnlichen, aber
mit Aufbietung aller Kräfte entgegen jeder äusseren Einwirkung
festgehaltenen Stellung. Die einzelnen Bewegungen sind steif, lang-
sam, gezwungen, als ob ein gewisser Widerstand zu überwinden
wäre, oder ruckweise und dann oft blitzschnell.
Einen eigenthümlichen Gegensatz zu diesen Erscheinungen, in
denen sich das allgemeine Widerstreben gegen jede Veränderung
des augenblicklichen Zustandes ausdrückt, bilden die vielfach her-
Kraepelin. Psychiatrie, G. Aufl. TAFEL II.
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig.
Katatonische Formen.
167
vertretenden Anzeichen gerade einer erhöhten Beeinflussbar-
keit von aussen her. Dahin gehört vor allem die ausnahmslos
kürzere oder längere Zeiten hindurch bestehende Katalepsie, die
in solchen Zuständen ihre höchste Ausbildung zu erreichen pflegt.
Seltener und meist nur vorübergehend begegnet man auch der
Echolalie oder gar der Echopraxie. Die Kranken wiederholen dann
einfach ganz mechanisch die an sie gerichteten Reden oder auch
irgendwelche zufällig aufgefasste Aeusserungen, stimmen in ein Lied
ihrer Nachbarn ein und wiederholen es; sie ahmen lebhaftere Ge-
berden nach, die man ihnen in eindringlicher Weise Vormacht
(Hochheben der Arme, Händeklatschen), setzen eine von aussen an-
geregte Bewegung (Taktschlagen, Rollen der Hände um einander)
längere Zeit hindurch fort. Bisweilen sieht man sie sogar stunden-
lang alles mitthun, was irgend eine bestimmte Person ihrer Um-
gebung thut, ihr alles nachsprechen, in gleichem Schritt hinter ihr
hergehen, sich mit ihr an- und auskleiden und ähnliches.
Das auffallende Bild, welches durch die Katalepsie erzeugt
wird, ist auf der Tafel II an mehreren Beispielen wiedergegeben.
Die Kranken wurden ohne Mühe in die absonderlichen Stellungen
gebracht und behielten dieselben bei, als sie in einer Gruppe photo-
graphirt wurden, einzelne mit verschmitztem Lächeln, andere mit
starrem Ernste. Von diesen Kranken war nur E bereits ziemlich blöd-
sinnig, während namentlich A, B und C noch im Beginne der Krank-
heit standen. Mit Ausnahme von D haben alle diese Kranken Re-
missionen gehabt. Bei B dauert dieselbe heute noch fort; auch E
hat sich nochmals gebessert.
Die beiden nur anscheinend entgegengesetzten Zustände des
ausgeprägtesten Widerstrebens und der vollständigen Hingabe an
äussere Einflüsse gehen bei den Kranken regellos und ganz un-
vermittelt in einander über. Zwar kann unter Umständen Wochen
und Monate lang nur das eine Verhalten bemerkbar sein, aber es
finden sich immer Zeiten, in denen sich eine plötzliche Wandlung fest-
stellen lässt, ja es gelingt nicht so selten, durch geeignete suggestive
Beeinflussung unmittelbar die Starre in Katalepsie überzuführen und
umgekehrt. Die Nahrungsverweigerung wechselt unvermittelt mit Ge-
hässigkeit; der vielleicht wochenlang regungslos stumme Kranke fängt
plötzlich an, überlaut einige ganz unverständliche Schreie auszu-
stossen, Kikeriki, Hurrah zu rufen, wie ein Hund zu bellen, mit
168
V. Die Dementia praecox.
verschmitzter Miene einen zeitgemässen Gassenhauer zu grölen.
Oder er springt mit langen Sätzen durch das Zimmer, hebt irgendwo
blitzschnell ein Fenster aus und stürzt sich mit gewaltigem Schwünge
in ein fremdes Bett, wo er wieder unzugänglich liegen bleibt Andere
Kranke erheben sich eines Tages und sprechen, wie wenn nichts
geschehen wäre, verlangen ihre Entlassung, beklagen sich über die
Zurückhaltung in der Anstalt; wenige Stunden später findet man
sie vielleicht schon wieder in starrem Stupor. Gerade dieser über-
raschende Wechsel verschiedenartiger Zustände ist in hohem Maasse
kennzeichnend für die Katatonie.
Offenbar spielt hier vielfach jenes zweite katatonische Zustands-
bild in den Stupor hinein, welches wir als katatonische Erregung
bezeichnet haben. Die Eigenthümlichkeit dieser Erregung liegt in
dem Auftreten zahlreicher Triebhandlungen und Bewegungs-
stereotypen. Der Ausbruch derselben ist in der Regel ein ganz
plötzlicher, meist nach den früher geschilderten Yorboten einer trau-
rigen Verstimmung. Die Kranken werden, bisweilen mitten in der
Nacht, unruhig, verwirrt, schwatzen, singen, tanzen ungestüm, mit
glänzenden Augen im Zimmer herum, reissen sich die Kleider vom
Leibe, werfen Tische, Betten, den Ofen um, spucken um sich, sind
plötzlich sinnlos gewaltthätig. Zugleich beginnen die eigenthüm-
lichen katatonischen Bewegungen, die öfters das erste erschreckende
Krankheitszeichen bilden.
Die Kranken werden plötzlich am ganzen Körper starr, sinken
zu Boden, bleiben in der Stellung eines Gekreuzigten liegen, ver-
drehen die Augen, athmen stossweise, pusten und blasen, rollen sich
um ihre Längsachse, machen Schlangenmensch bewegungen; sie
drehen sich auf den Zehenspitzen herum, rotiren Rumpf und Kopf
schaukeln und wiegen sich hin und her, proniren die Arme bis-
zum Aeussersten, wdrbeln die Fäuste mit grosser Geschwindigkeit
um einander. Diese Erscheinungen erinnern vielfach lebhaft an
hysterische Störungen, denen sie bisweilen zum Verwechseln gleichen.
Weiterhin äussert sich der Bewegungsdrang der Kranken in
grosser Unruhe. Sie schnellen sich im Bett auf und nieder, machen
mit den Armen unaufhörlich beschwörende oder tactmässige, kreisende
Bewegungen, schreiben Buchstaben in die Luft, ringen die Hände,
klatschen, trommeln an die Wand, tupfen stundenlang auf den Tisch,
tänzeln und hüpfen, wischen und stampfen. Alle diese Bewegungen
Katatonische Formen.
169
geschehen eckig, steif, plump oder geziert, feierlich; sie sind ganz
zwecklos, haben keinerlei Beziehung zur Umgebung und werden oft
stundenlang in ganz einförmiger Weise fortgesetzt. Meist lassen sie
sich nur mit Aufwendung starker Gewalt unterdrücken, um sofort
wieder zu beginnen, wenn man den Kranken freigiebt.
In diese einförmigen Bewegungen mischen sich die merk-
würdigsten Antriebe hinein. Die Kranken beissen plötzlich in die
Uhrkette des Arztes, bemächtigen sich mit blinder Gewalt irgend
eines bestimmten Gegenstandes, schlagen die verwegensten Purzel-
bäume, trippeln und tanzen in abenteuerlicher Haltung und
Ausschmückung herum, machen einige Luftsprünge, um sich
dann mit gewaltigem Anlauf über die hohe Lehne köpflings ins
Bett zu stürzen. Sie erklettern hastig einen Stuhl, einen Tisch, um
dort zu defäciren, balanciren in den gewagtesten Stellungen, werfen
alle Bettstücke durcheinander, schleppen ihre Matratze stundenlang
im Kreise herum und klopfen bei einer bestimmten Stelle jedesmal
an die Wand, stellen sich mit ausgebreiteten Armen nackt auf den
Nachtstuhl. Andere „ahmen die Wachtparade nach“, „exerciren,
wie wenn sie strengsten Befehl vom Oberst hätten“, springen bis
zur Ermattung ums Haus, kriechen am Boden herum, galoppiren in
Fechterstellung mit grossen Bocksprüngen, tanzen mit der aus-
gehobenen Stubenthüre herum, schleudern jedes Hinderniss hastig
bei Seite, heben unvermuthet einen harmlosen Nachbarn in die
Höhe oder versetzen ihm eine schallende Ohrfeige. Vielfach sieht
man sie mit unermüdlicher Beharrlichkeit die gleichen Wege zurück-
legen, namentlich im Kreise herumwandern, so dass sich ihre Spur
allmählich ausprägt wie diejenige eines Thieres im Käfig. Häufig
sind auch blindes, sinnloses Hinausdrängen, unermüdliches Klopfen
an den Tiiüren, zwangsmässige, fast ununterbrochen wiederholte
Selbstmordversuche. Manche Kranke zerkratzen sich, reissen sich
die Haare aus, brennen sie an, beissen sich in den Arm; einer
sprang singend in den Neckar.
Alle die geschilderten, sehr verschiedenartigen Handlungen werden
mit der grössten Kraft und Rücksichtslosigkeit durchgeführt, so dass
es meist gänzlich immöglich ist, den äusserst gewandt und schnell
sich bewegenden Kranken an seinem Vorhaben zu hindern. In Folge
dessen kommt es bisweilen zu massenhaften Hautabschürfungen,
kleinen und grösseren Verletzungen, da der Kranke seine Glieder nicht
170
Y. Die Dementia praecox.
im geringsten schont, die offenen Stellen immer wieder anschlägt
und die ihm hinderlichen Verbände ohne weiteres berunterreisst.
In der Regel sind die Kranken sehr unsauber. Sie lassen
unter sich gehen, packen ihren Koth zusammen, verzehren ihn,
lecken den Urin vom Boden, uriniren in den Pantoffel, in den
Spucknapf, stecken Brot in den After, spucken in die Suppe, auf
ihr Butterbrod, in ihr eigenes Bett, schlürfen das Badewasser ein,
waschen sich mit Urin. Die geschlechtliche Erregung kommt in
rücksichtslosem Masturbiren, Coitusbewegungen, obscönen Reden
zum Ausdruck, in der Neigung, zu küssen, Anderen an die Geni-
talien zu greifen.
Ganz besonders kennzeichnend für die katatonischen Zustände sind
auch die eigentümlichen Ausdrucksbewegungen der Kranken.
Dahin gehören die gespreizten Geberden, das Gesicbterschneiden,
das sinnlose Kopfschütteln und Nicken, das einförmige Heulen,
Brüllen, Krähen, Johlen, Singen, das Quieken, Schreien in Fistel-
stimme, Kreischen und Brummen, das andauernde unbändige Lachen.
Die Sprache ist bald scandirend, rhythmisch, mit ganz verschrobener
Betonung, bald singend oder commandirend, bald überstürzt, stoss-
weise, bald abgerissen. Bisweilen löst sie sich in eine Folge un-
sinniger, tactmässig wiederholter Silben auf, mit Reimen und An-
klängen, oder die Worte werden verstümmelt, die Endsilben
weggelassen, willkürlich bestimmte Buchstaben eingefügt. Ein
Kranker sprach immer von „Soktor“, „Notessor“, „neistesnank“. In
der Regel haben diese Aeusserungen gar keine Beziehung zu den
an die Kranken gerichteten Fragen oder zu der ganzen Sachlage
überhaupt. Eine Probe derartiger zerfahrener Reden geben die
folgenden Sätze:
„Benollen und betollen kann icli mich doch nicht lassen. Wissen Sie, ich
war ganz irrsinnig und vielleicht bin ich es noch. Ob es ein Herr Grossherzog
ist oder König und Kaiser — ob es die Stimme des Gerichts ist oder wer es ist.
Der liebe Gott vom Himmel kommt auch und wenn es nur ein Hund oder ein
Miick ist — oder ein Stückchen Brot. Ich weiss nicht, ob ich einen Fisch in der
Hand habe oder eine Schlange oder was klappert oder was geht und steht ; lieber
mag ich Alle auf Erden. Von unten und oben kann Niemand betollt werden.“
„Meine Nase gehört jetzt in Jesus Christus hineingestopft und mir alles herum-
gedreht. Die thun Alle klappern und Gott veraftern. Und wenn da drüben der
liebe Erzgrossherzog ist, dann thun die hüben und drüben veraftern und verfatzen
und Schlichte hinein.“
Katatonische Formen.
171
Man beachte die Wortneubildungen, die Wiederkehr einzelner
Ausdrücke, betollen, klappern, yeraftern, die sinnlosen Anklänge, den
Mangel jeden Gedankenzusammenhanges bei erhaltener Satzbildung,
endlich die Andeutungen von Grössenideen und von Krankheits-
gefühl. Die Aussprache geschieht dabei vielfach geziert, lispelnd,
grunzend oder in Fistelstimme. Tn einzelnen Fällen wird Agram-
matismus beobachtet, insofern die Kranken unfähig scheinen, Sätze
zu bilden, und in Infinitiven sprechen.
Sehr gewöhnlich ist endlich hier wie im Stupor das früher be-
reits besprochene Symptom der Yerbigeration, in welchem sich,
wie in so vielen ihrer sonstigen motorischen Aeusserungen , die
Neigung der Kranken zur Stereotypie, zur Wiederholung der gleichen
Antriebe, auf das deutlichste kundgiebt. Irgend ein kürzerer oder
längerer, häufig durchaus sinnloser Satz (z. B. „Gekreuzigter Krex
in e Umkrexhaus“), auch wol einzelne Buchstaben werden stunden-
und tagelang in derselben, oft rhythmischen Betonung ununter-
brochen wiederholt, bald schreiend, bald flüsternd, bald sogar in
bestimmter Melodie. Bisweilen versprechen sich die Kranken ein-
mal, oder es drängt sich ein in der Umgebung gehörtes Wort hinein;
so kann der Spruch allmählich Wandlungen erfahren, deren Er-
gebnis man dann nach einigen Stunden vorfindet. Auch in den
schriftlichen Aeusserungen der Kranken lässt sich die Yerbigeration
wiederfinden, in dem endlosen Wiederholen der gleichen Schnörkel,
Zahlen, Buchstaben, Worte oder Sätze. Damit pflegt sich ver-
schrobene Rechtschreibung und Interpunction zu verbinden. Plötz-
liche, unberechenbare Einfälle bewirken die Einfügung ganz sinnloser
oder das Auslassen für den Sinn nothwendiger Zeichen und Wörter.
Die Ausführung der Schrift selbst geschieht bald langsam, zögernd,
mitten im Buchstaben abbrechend, bald rasch und flüchtig oder in
gewöhnlichem Zeitmaasse. Der Druck wechselt ebenfalls vielfach un-
vermittelt. Manche Kranke schreiben Spiegelschrift. Beispiele kata-
tonischer Schriftstücke geben die umstehend beigefügten Proben, von
denen die erste in Form und Inhalt die zwangsmässige Stereotypie
mit geringen allmählichen Abwandlungen erkennen lässt, während
in der zweiten neben Andeutungen von Stereotypie ganz besonders
die Zerfahrenheit hervortritt.
Der katatonische Stupor und die Erregung sind anscheinend
trotz ihrer äusserlichen Verschiedenheit nahe verwandte Zustände.
172
Y. Die Dementia praecox.
Wir sehen dieselben im Krankheitsbilde vielfach unmittelbar auf-
einander folgen; dabei scheint die Erregung etwas häufiger voran
zu gehen, als der Stupor. Aber auch in den weit zahlreicheren
Fällen, in denen nur der eine oder der andere Zustand den Krank-
heitsverlauf beherrscht, können sich doch ungemein häufig An-
deutungen des entgegengesetzten Bildes einschieben. Der stuporöse
Kranke geräth plötzlich für einige Minuten oder Stunden in die
Schriftprobe II.
sinnloseste Erregung, um dann in seine frühere Regungslosigkeit
zurückzusinken; umgekehrt sehen wir die Erregung vorübergehend
nicht selten einem leichter oder sclnverer stuporösen Zustande mit
Katalepsie und Negativismus Platz machen. Die gradweise Aus-
prägung der Erscheinungen ist in den einzelnen Fällen sehr ver-
schieden. Der Stupor kann bisweilen nur durch ein wortkarges,
abweisendes, schläfriges Wesen an gedeutet werden, während die Er-
regung von leichter läppischer Ausgelassenheit bis zum rücksichts-
losesten, geradezu das Leben gefährdenden Rasen schwanken kann.
Katatonische Formen.
173
Während der Entwicklung dieses vielgestaltigen Krankheitsbildes
ist das Bewusstsein ohne Zweifel dauernd etwas getrübt. Die
Kranken fassen zwar einzelne Eindrücke fast immer ziemlich gut
auf, auch wenn man es zunächst nicht nachweisen kann, aber sie
pflegen doch nur eine ziemlich unklare Vorstellung von ihrer Lage
und den Vorgängen in ihrer Umgebung zu haben, allerdings zum
Theil deswegen, weil sie sich gar nicht darum bekümmern und nicht
das Bedürfniss haben, ihre Wahrnehmungen weiter zu verarbeiten.
Sie verkennen daher vielfach die Personen, wissen nicht, wo sie
sich befinden, überraschen aber nicht selten dadurch, dass sie die
Namen der Wärterinnen oder der anderen Kranken wissen, eine
scherzhafte Bemerkung machen, sich über irgend ein Vorkommniss
beklagen, geordnete Auskunft über ihre Verhältnisse geben, einen
174
V. Die Dementia praecox.
zusammenhängenden Brief mit zutreffender Schilderung ihres Auf-
enthaltes, der Bitte um Abholung verfassen.
Selbst eine gewisse Krankheitseinsicht ist vielfach vorhanden.
.Die Kranken bezeichnen ihr absonderliches Treiben als Dumm-
heiten, meinen, sie seien eben närrisch, seien „stumpfsinnig und ver-
nebelt“, „sehr dumm geworden in letzter Zeit“, der Kopf sei hohl,
durcheinander. Eine Kranke, welche die katatonischen Bewegungs-
stereotypen in höchster Ausbildung darbot, sagte mir: „ich muss
aber immer so dumme Bewegungen machen; das ist doch zu ein-
fältig“; eine andere beklagte sich, dass sie immer Gesichter schneiden
müsse; man solle ihr doch das Lachen vertreiben. Freilich erfährt
man über die Gründe des ganzen zwangsmässigen Benehmens von
den Kranken nie etwas anderes, als dass sie nicht hätten sprechen
oder essen dürfen oder können, die Worte nicht gefunden hätten,
dass eine Kraft, ein „Drang“ über sie gekommen sei und sie ge-
zwungen habe, alles nachzumachen, dass sie hätten thun müssen,
was man ihnen sagte, dass man es ja so gewollt habe. Sie hätten
nicht eher ruhen können, bis sie es so gemacht hätten; es habe
ihnen Spass gemacht, alles so oft zu wiederholen; sie hätten es eben
gewollt. Weit seltener sind andere Begründungen. Ein Kranker
hatte nach seiner Aussage gemeint, er falle von Gott ab, wenn er
esse; ein anderer erzählte, er sei zu seinen stürmischen Bewegungen
„wie mit einem Seil“ gezogen worden, habe keinen Hunger gehabt
Trotz dieser klaren Angaben über die Eigenart ihrer Zustände,
die meist auch im allgemeinen als krankhafte betrachtet werden,
fehlt den Kranken doch, zunächst wenigstens, durchaus ein wirk-
liches Yerständniss für die Schwere der Störung. Sie wundem sich
nicht besonders über ihr merkwürdiges Gebahren in der Krankheit,
betrachten sich sofort als vollkommen gesund, sobald sie einiger-
massen klar geworden sind, drängen ohne weiteres und blind gegen
besseren Rath nach Hause. Sehr häufig bestehen übrigens während
des Stupors wie in der Erregung und selbst nach deren Schwinden
allerlei Wahnbildungen und Sinnestäuschungen fort, wie wir sie
früher eingehend geschildert haben.
Die Stimmung der Kranken zeigt nach den anfänglichen
stärkeren Gefühlsschwankungen keine sehr auffallenden Störungen.
Meist sind die Kranken im Zusammenhalte mit ihrem sonderbaren
Benehmen und ihren Wahnvorstellungen merkwürdig gleichgültig.
Katatonische Formen.
175
Bedrohungen machen auf sie gar keinen Eindruck; sie strecken
unter Umständen auf Wunsch ruhig die Zunge heraus, wenn man
ihnen das Abschneiden derselben ankündigt und sich nun mit
Messer oder Scheere nähert. Doch beobachtet man vielfach in un-
regelmässigem Wechsel kindische Weinerlichkeit, Gereiztheit, läppische
Ausgelassenheit oder Verzückung. Weit seltener und dann meist
der ersten Zeit der Krankheit angehörend sind Angstzustände, die
jedoch in einzelnen Fällen eine ausserordentliche Heftigkeit er-
reichen können.
Den Ausgang der Katatonie bildete in 59 °/0 meiner Fälle ein
eigenartiger, erheblicher Blödsinn. Die Erregung legt sich; die
starre Spannung des Stupors schwindet; die Wahnvorstellungen und
Sinnestäuschungen treten in den Hintergrund, aber der Kranke
wird nicht frei, sondern zeigt nunmehr die deutlichen Züge der
psychischen Schwäche. Er ist stumpf und gleichgültig ge-
worden, hat seine geistige Regsamkeit verloren, kümmert sich nicht
um seine Umgebung, um seine Angehörigen, um seine Zukunft,
sondern dämmert wunschlos und willenlos dahin. Obgleich er ge-
wöhnlich noch leidlich im Stande ist, aufzufassen und einfache
Dinge zu verstehen, auch hie und da noch Proben früherer Kennt-
nisse und Fertigkeiten liefert, etwa gut Schach spielt, auf der
Landkarte Bescheid weiss, beim Bäumeroden besonders brauchbar
ist, lernt er nichts mehr hinzu, hat gar kein Gedächtniss, „viel zu
kurzen Sinn“, „keinen Sinn und Begriff für nichts“. Er „arbeitet
ohne Ausdauer und Verständniss“; „der Wille ist gut, das Voll-
bringen schwach“; zu selbständiger Thätigkeit ist er nicht fähig,
kennt Ordnung und Reinlichkeit nicht mehr, spielt mit Bildern wie
ein Kind. Manche Kranke sind eigenwillig, abweisend, ziehen sich
zurück, bleiben dauernd im Bett, sprechen nichts oder murmeln nur
unverständlich vor sich hin, halten sich unrein. Andere bleiben
lebhafter, aber faselig, zerfahren, reizbar, unruhig, äussern zusammen-
hangslose Reste von Wahnbildungen.
Besonders bei diesen letzteren Formen kommt es zur Bildung
jener stehenden Manieren, deren Anfänge wir in den früher be-
schriebenen Stereotypen vor uns haben. Dahin gehören u. a. die eigen-
tümlichen Stellungen und automatenartigen Bewegungen, das Gehen
auf einem Strich, das krampfhafte Andrücken der gespreizten Finger
an einzelne Körperteile, Festhalten eines Ohrläppchens, Auszupfen der
176
V. Die Dementia praecox.
Haare, das zwangsmässige Kopfschütteln und Nicken, die Zungen-
und Lippenbewegungen, das Zähneknirschen, Augenrollen, Gesichter-
schneiden, Lachen, die hanswurstartigen Geberden. Ferner sind
die ausserordentlichen Frisuren zu erwähnen, die schrullenhafte
Anordnung und Auswahl der Kleidungsstücke, das Zurück-
weisen gewisser Speisen, die Bevorzugung bestimmter Thüren und
Betten, das häufige Aufsuchen des Aborts, das Räuspern, Schnauben,
Hüsteln, Grunzen, Blasen, Röcheln und namentlich gewisse Sonderbar-
keiten beim Essen. Fast niemals nehmen die Kranken ihre Mahlzeiten
in natürlicher Weise zu sich. Häufig greifen sie einfach mit den
Händen in den Teller hinein, fahren auf die grosse gemeinsame Schüssel
los, stopfen hastig den Mund so voll wie möglich und schlingen her-
unter, fast ohne zu kauen. Der Löffel wird nur ganz leicht mit den
Fingerspitzen erfasst, oft am äussersten Ende, der Stiel zum Essen be-
nutzt; es wird mit der Gabel regelmässig vor jedem Bissen 2 — 3 Mal
im Essen herumgestochert, das Gemüse iu eine Reihe gleicher Häufchen
getheilt, die Hand vorher mit der Jacke umwickelt, die Nase mit in
die Suppe gesteckt, oder es muss zwischen je zwei Bissen ein
Schluck getrunken, bis 12 gezählt werden u. ähnl. Andere schlecken
die Suppe wie ein Hund oder giessen sie unter reichlichem Ver-
schütten ohne weiteres in den Mund, pressen den Gemüseteller glatt
auf ihr Gesicht und lecken ihn so allmählich aus. Eine meiner
Kranken fasste zwar den Löffel ganz richtig mit der rechten Hand,
führte ihn aber hinter ihrem Kopfe herum von der linken Seite
zum Munde; eine andere verkroch sich beim Essen unter die Bett-
decke. Nicht selten verschlingen die Kranken ganz unglaubliche
Mengen der verschiedensten Nahrungsmittel, aber auch ganz unver-
dauliche Dinge, hie und da sogar ihre eigenen Ausleerungen.
Endlich pflegen sich vielfach auch die oben geschilderten Eigen-
thümlichkeiten des Sprechens und Schreibens zu erhalten. Besonders
auffallend gestaltet sich oft das Bild der Sprachverwirrtheit, die
in ausgeprägtester Form Zurückbleiben kann, auch wenn der Kranke
in seinem Benehmen leidlich geordnet erscheint. Namentlich in der
Erregung können solche Kranke leicht wieder den blühendsten
Wortsalat zu Tage fördern, während sie sich bei ruhigem Sprechen
vielleicht ganz verständlich auszudrücken vermögen. Bisweilen
kann übrigens die Sprachverwirrtheit sich selbst nach langjährigem
Bestehen noch wesentlich bessern und fast ganz verliereu. Das
Katatonische Formen.
177
war z. B. bei dem Kranken der Fall, der den nachfolgenden Brief
geschrieben hat:
„Der sentimentale Beruf der Welschneureuther Bürger erheischt nach dem
erhabenen Geburtstagsfest Sr. Majestät des erlauchten Königs Wilhelm Karl vor
allem seine gesammten geistigen Kräfte zu sammeln, um ihrer seelsorglichen Für-
bitte in dem Herrn gerecht zu werden. So haben es sich 40 angesehene Sturm-
patrioten in Anbetracht der Aufhebung der Statuten der Universität Erlangen
zum heutigen angelegen sein lassen, als erste rückwirkende Negative in analogisch-
patriotischem Sinne zu bekräftigen. Die Art. 1 der Welschneureuther Verfassung,
bestehend in brennbar verlügbarem Kriegsmaterial Sr. Majestät zur allergnädigsten
Disposition zu stellen, ferner die ruchbarsten Handlungen wie Umgang mit Vieh,
Schafen und welschen Hahnen gehorsamst einzustellen. Damit nun die erlauchte
Königsgesellschaft bei transportabler aller zur Nachsicht empfehlender Gemüther
keiner Concurrenz von Seiten der nachbarlichen Staaten unterworfen werden kann,
so schwören wir bei Geniessung von Steig Waaren nur Jedem allein zu dienen,
eine Folgerung der periodisch mechanisch zu ziehenden Bilanz des 19. Jahrhunderts
nur dann abzubrechen, wenn wir in unseren Meinungen unserem erhabenen Herr-
scher gegenüber erwartungsvoll getäuscht und als nützliche Rathgeber eines ge-
sunden Alterthumsmuseums betrachtet werden können u. s. w.“
Im ganzen ist hier das Satzgefüge noch einigermassen gewahrt, so
dass dieses Gefasel bei unaufmerksamem Lesen oder unvollkommenem
Sprachverständnisse allenfalls den Eindruck eines innerlichen Zu-
sammenhanges machen könnte. Bei genauerem Zusehen ist davon
freilich keine Rede mehr. Nicht ohne Bedeutung ist die bei solchen
Kranken stets hervortretende Neigung zu tönenden Redensarten,
geschraubten Wendungen, Fremdwörtern und Wortneubildungen.
Bei der überwiegenden Mehrzahl der verblödeten Katatoniker
werden zeitweise Erregungen beobachtet, bald alle paar Wochen,
bald in längeren Zwischenräumen. Die Kranken, die so lange ruhig
und fügsam waren, sind einige Tage reizbar, missmuthig, drohend, ver-
weigern die Nahrung oder brechen plötzlich in verwirrtes Schimpfen
aus, äussern Verfolgungsideen, zerstören einige Fensterscheiben,
werfen das Essen auf den Boden, machen einen sinnlosen Angriff
oder einen Selbstmordversuch. Nach kurzer Zeit pflegt alles vor-
über zu sein, und die Kranken selbst vermögen dann über die
Beweggründe ihres Handelns keine Rechenschaft mehr zu geben.
In etwa 27 °/0 meiner Fälle wurden die schwersten Grade der
Verblödung nicht erreicht, doch ist natürlich eine strengere Ab-
scheidung unter diesem Gesichtspunkte nicht möglich. Es handelt
sich um solche Kranke, bei denen die auf der Höhe der Krankheit
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 12
178
V. Die Dementia praecox.
gebildeten Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen und ebenso
die auffallenderen katatonischen Erscheinungen vollkommen ver-
schwinden, unter Umständen erst nach Jahren. Sie werden ruhig,
geordnet, arbeitsfähig und können wieder in ihre häuslichen Ver-
hältnisse zurückkehren, vielleicht auch wieder auswärts arbeiten.
Allein es ist eine tiefgreifende Veränderung mit ihnen vor sich ge-
gangen. Ihre geistige Frische ist geschwunden; sie sind vergess-
licher, urth eilsschwächer, stumpfer geworden, unselbständig, ohne
rechte Thatkraft und ohne Ausdauer. Sie haben keinen Ueberblick
mehr, können kein Geschäft, keinen grossen Haushalt leiten, wissen
mit Geld nicht umzugehen, geben aus, was sie in die Hand be-
kommen. Viele dieser Kranken sind still, unfrei, gedrückt, miss-
trauisch, abweisend, andere vielmehr selbstbewusst, kindisch heiter,
prahlerisch oder zappelig, reizbar. Vorübergehende leichte Er-
regungszustände sind auch hier ungemein häufig; Spuren von Kata-
lepsie, Gesichterschneiden, grundloses Lachen, plumpe, übertriebene
Höflichkeit, Manieren beim Handgeben, beim Essen, bei der Arbeit
lassen sich vielfach nachweisen. Oefters besteht grosse Ermüdbar-
keit und ein ungemein starkes Schlafbedürfniss, so dass die Kranken,
ganz entgegen ihren früheren Lebensgewohnheiten, gar nicht zu er-
wecken sind und selbst noch die halben Tage im Bette zubringen.
Die leichtesten Grade der hier geschilderten Zustände gehen
ohne scharfe Grenze in diejenige Gruppe von Fällen über, die wir
als geheilt zu betrachten pflegen. Unter meinen Beobachtungen
möchte ich etwa 13% dahin rechnen. Hier verschwinden alle
krankhaften Störungen so vollständig, dass die Genesenen ihre
frühere Stellung im Leben ganz wie früher wieder ausfüllen. Ich
darf indessen nicht verschweigen, dass sich auch bei einigen der
hierhin gerechneten Fälle noch ganz leichte Reste der überstandenen
Krankheit bemerkbar machten, etwas verschrobene Beurtheilung der
krankhaften Erlebnisse, Zucken im Gesicht, stilleres Wesen, ge-
zwungene Bewegungen. Noch schwerer fällt vielleicht der Um-
stand ins Gewicht, dass die Dauer der Genesung bisher meist nur
einige Jahre hindurch sicher gestellt worden ist. Wir wissen aber,
dass bei der Katatonie nach selbst 8 — 10 Jabren noch schwere
und zu tiefem Blödsinn führende Rückfälle eintreten können. Ich
habe schon eine ganze Reihe meiner anscheinend geheilten Kata-
toniker wieder erkranken sehen und muss es daher einstweilen offen
Katatonische Formen.
179
lassen, wie viele der angeführten Genesungen wirklich im strengsten
Sinne und dauernd als solche anzusehen sind.
Gerade durch diese Erfahrung wird die Vorhersage bei der
Katatonie ausserordentlich erschwert. Wir beobachten in einer
grossen Zahl von Fällen mehr oder weniger plötzliche Nachlässe
aller Krankheitserscheinungen. Die Kranken werden besonnen,
klar und einsichtig, meist freilich nur auf kurze Zeit, für Stunden
oder Tage. Der Eindruck dieser unvermutheten, weitgehenden
Besserungen ist ein überraschender. Wir treffen den Kranken, der
bis dahin in seinem unsinnigen Treiben oder seiner Versunkenheit
ganz verwirrt zu sein schien, mit einem Male ruhig und vollständig
geordnet an. Er kennt Zeit und Ort, die Personen seiner Um-
gebung, erinnert sich an alle Ereignisse, auch an seine eigenen un-
sinnigen Handlungen, giebt zu, dass er krank ist, schreibt einen
zusammenhängenden, vernünftigen Brief an seine Angehörigen.
Freilich wird man bei genauer Prüfung niemals eine gewisse Ge-
bundenheit des Wesens, eigenthümlich gehobene oder verlegene
Stimmung wie den Mangel eines wirklich klaren Verständnisses
für die gesammten Krankheitserscheinungen an ihm vermissen.
Ebenso unvermittelt, wie sie gekommen, pflegen diese Nachlässe der
Krankheit auch wieder zu verschwinden. Sie sind am häufigsten
in den Erregungszuständen, weit seltener und unvollkommener beim
Versinken in den Stupor.
In einer ziemlich grossen Zahl von Fällen, nach meiner Zu-
sammenstellung bei etwa 20 °/0 der Kranken, können die Nachlässe
der Krankheit aber auch lange Zeit hindurch andauern, so dass sie
der Genesung gleichen. Fast immer freilich bleiben auch während
der Zwischenzeiten gewisse Eigenthiimlichkeiten im Wesen der
Kranken zurück, welche darauf hindeuten, dass es sich nicht um
wirkliche Heilungen gehandelt hat. Dahin gehört namentlich un-
freies, gezwungenes, geziertes oder auffallend stilles, zurückgezogenes
Benehmen, Reizbarkeit, unvollkommene Krankheitseinsicht. Eine
meiner Kranken, die bis dahin ein anständiges Mädchen gewesen
war, gebar in einer solchen Remission 3 uneheliche Kinder, deren
letztes sie aus Unachtsamkeit erstickte; in der Untersuchungshaft
trat dann ein neuer, sehr heftiger Anfall katatonischer Erregung auf,
der zu endgültiger Verblödung führte. Die Wiedererkrankung er-
folgt meist innerhalb der ersten 5 Jahre, kann aber in einzelnen
12*
180
V.. Die Dementia praecox.
Fällen auch noch nach 7, 10, und selbst noch mehr Jahren ein-
treten.
Leider ist es mir bisher noch nicht möglich gewesen, bestimmte
Anhaltspunkte aufzufinden, aus denen man Schlüsse auf den muth-
masslichen Ausgang des einzelnen Falles ziehen könnte. Wenn wir
die Heilungen gewissermassen als dauernde Remissionen betrachten,
so würde die Frage zu beantworten sein, welche Fälle Aussicht auf
den Eintritt von weitgehenden Remissionen gewähren, und wie lange
man berechtigt ist, noch auf den Eintritt einer solchen zu hoffen.
Ohne Zweifel führen im allgemeinen mehr die rasch entstandenen,
als die schleichend sich entwickelnden Störungen zur Remission,
ganz ähnlich wie bei der Paralyse. Ha ein acuter Beginn mit leb-
hafter Erregung bei der Katatonie ungleich häufiger ist, als bei den
hebephrenischen Formen, dürfen wir darauf auch wol die günstigere
Prognose jener ersteren zurückführen. Die Wahrscheinlichkeit einer
erheblichen Besserung dürfte ferner um so geringer werden, je
mehr sich diejenigen Eigen thümlichk eiten ausbilden, die wir bei der
grossen Zahl endgültig ungeheilter Fälle im Vordergründe stehen
sehen. Dahin gehören einmal der Verlust der gemüthlichen Regsam-
keit bei erhaltener Auffassungsfähigkeit, ferner die feststehenden
Manieren und Stereotypen, endlich die periodischen unvermittelten
Verstimmungen und Erregungen. Es ist natürlich vor der Hand
nur eine Vermuthung, dass die Entwicklung dieser und vielleicht
noch mancher anderer Zeichen die Ausbildung eines unheilbaren
Endzustandes bedeutet, doch scheinen mir viele Erfahrungen dafür
zu sprechen; eine sehr grosse Anzahl unter diesem Gesichtspunkte
planmässig fortgesetzter Beobachtungen wird uns allmählich darüber
Klarheit bringen.
Freilich ist es nicht immer leicht, sich über das Bestehen jener
Zeichen selbst volle Sicherheit zu verschaffen. Gleichgültigkeit
gegenüber den Vorgängen in der Umgebung kann auch durch
Negativismus oder durch Benommenheit vorgetäuscht werden. Erst
dann, wenn die Kranken trotz völliger Besonnenheit und ohue
Zeichen des Negativismus gar keine Theilnahme mehr für ihre Mit-
kranken, ihre Angehörigen und ihren Beruf zeigen, dürfen wir auf
eine wirkliche Vernichtung der gemüthlichen Regsamkeit schliessen.
Ebenso werden nur die wirklich lange Zeit festgehaltenen und
völlig erstarrten Stereotypen und endlich nur diejenigen Verstim-
Katatonische Formen.
181
mungen und Erregungen für die Beurtheilung der Heilungsaussichten
zu verwerthen sein, die in einigermassen regelmässigen Zwischen-
zeiten plötzlich auftauchen und nach ganz kurzer Dauer ebenso
wieder verschwinden. Auf der anderen Seite dürfte das Fort-
bestehen eines ausgesprochenen Negativismus mit Stupor selbst nach
sehr langer Zeit die Möglichkeit einer weitgehenden Besserung zu-
lassen. Bei sicher ungeheilten Fällen pflegt der Negativismus all-
mählich nachzulassen; dagegen kennen wir Fälle, in denen aus dem
negativistischen Stupor heraus noch nach 3, 5, ja 8 Jahren eine
überraschende Heilung mit Defect erfolgte. Ob wir freilich in
solchen Fällen mit Wahrscheinlichkeiten und nicht blos mit ent-
fernten Möglichkeiten rechnen dürfen, bedarf noch der weiteren
Erforschung.
Eine letzte Verlaufsmöglichkeit führt die Kranken zum Tode. In
einzelnen Fällen kommt es vor, dass dieselben unter den Erscheinungen
heftigster Erregung anscheinend an Erschöpfung, auch wol in Folge von
Verletzungen oder anderer Zufälle, zu Grunde gehen. Weit häufiger
jedoch ist die Entwicklung der Tuberculose bei den regungslos da-
liegenden, nur sehr oberflächlich athmenden und schwer zu pflegen-
den Kranken. Die Sterblichkeit wird auf diese Weise gerade für die
verblödeten Endzustände der Katatonie eine verhältnissmässig grosse.
In einigen Fällen, die unter dem Bilde des Delirium acutum
zu Grunde gingen und von ihm der Katatonie zugerechnet werden,
hat Alzheimer schwere Veränderungen an den Rindenzellen, be-
sonders der tiefen Schichten, beschrieben. Die Kerne erschienen
hochgradig aufgebläht, die Kernmembran stark gefaltet, der Zellleib
bedeutend geschrumpft mit Neigung zum Zerfall. In der Glia liess
sich krankhafte Neubildung von Fasern feststellen, welche die Zellen
in eigenthümlicher Weise „umklammerten“. Nach längerem Krank-
heitsverlaufe sah Nissl ausgedehnte Veränderungen an den Zellen,
die er als „körnigen Zerfall“ kennzeichnet. Anscheinend war auch
eine nicht geringe Zahl von Zellen bereits zu Grunde gegangen,
doch zeigte sich keinerlei Schrumpfung der Rinde. In den tieferen
Schichten fanden sich zahlreiche, in Rückbildung begriffene, mächtige
Gliazellen, wie sie unter normalen Verhältnissen nur im Rinden-
saume Vorkommen. Ausserdem war die Rinde durchsetzt von eigen-
tümlich blass gefärbten, sehr grossen Gliakernen, die vielfach an
die erkrankten Zellen dicht angelagert, ja in dieselben hineingedrängt
182
V. Die Dementia praecox.
erschienen, nicht nur an der Basis, wie die gewöhnlichen Trabant-
kerne, sondern an den verschiedensten Stellen. Die Figur 3 der
Tafel IV zeigt einen derartigen Kern an einer zerfallenden Zelle
und daneben eine Zelle mit gewöhnlichem Trabantkern, um den
Unterschied beider Bilder deutlich zu machen. Der Befund würde
sich recht gut mit dem von Alzheimer am Gliabilde gewonnenen
Eindrücke der „Umklammerung“ decken. —
Paranoide Formen. Sowol bei der Hebephrenie wie bei der
Katatonie sind ausgeprägte Wahnbild ungen überaus häufig. Während
sie aber dort in der Regel nach verhältnissmässig kurzer Zeit wieder
zu verblassen pflegen, haben wir nunmehr eine Gruppe von
Krankheitsbildern ins Auge zu fassen, bei denen neben den Er-
scheinungen einer rasch sich entwickelnden geistigen
Schwäche unter vollkommener Erhaltung der Besonnen-
heit Wahnvorstellungen und meist auch Sinnestäuschungen
viele Jahre hindurch die hervorstechendste Störung bil-
den. Man rechnet diese Formen daher meist zur Verrücktheit; sie
scheinen mir jedoch wegen der schnellen Verblödung mehr dem
Gebiete der Dementia praecox nahe zu stehen. Dazu kommt, dass
sie nicht selten acut beginnen und vielfach einzelne katatonische
Zeichen darbieten, stuporöse Zustände, Erregung, Manieren, Wort-
spielereien, Wortneubildungen, Sprachverwirrtheit.
Eine erste Gruppe hierher gehöriger Fälle habe ich als De-
mentia paranoides beschrieben. Es handelt sich dabei um das
dauernde Bestehen massenhafter, zusammenhangsloser, immerfort
wechselnder Verfolgungs- und Grössenideen mit leichter Erregung.
Das Leiden pflegt, wie die übrigen Formen der Dementia praecox,
mit den allgemeinen Erscheinungen einer leichten Verstimmung,
Kopfschmerzen, Mattigkeit, Schlaflosigkeit, Unlust zur Arbeit, Reiz-
barkeit, innerer Unruhe zu beginnen. Alsdann werden die Kranken
ziemlich plötzlich erregt, ängstlich, verstört, beten viel, führen eigen-
tümliche Reden und entwickeln unversehens eine Menge von Wahn-
ideen. Der Kranke meint, dass man ihn überall scharf beobachte,
sonderbare Fragen an ihn richte, gegen ihn intriguire, ihn ver-
giften wolle, alle seine Gedanken offenkundig mache. Ungemein
rasch gewinnen diese Vorstellungen einen durchaus abenteuerlichen
Inhalt. Ein junger Offizier erzählte schon wenige Monate, nachdem
die ersten Veränderungen bei ihm wahrgenommen waren, sein Arzt
Paranoide Formen.
183
habe ihm den Kopf abgeschnitten, den Leib geöffnet, die Gedärme
herausgenommen; er habe einen Pferdefuss bekommen. Nachts
werden mephitische Dämpfe ins Zimmer gelassen, Schröpfköpfe an-
gesetzt, Einspritzungen vorgenommen, die Muttergefühle heraus-
gedreht, die Nerven ausgerissen; der Leib wird bis in den Hals
hinein durchsucht, am After gezupft, das Blut ausgedörrt, das Eleisch
vom Körper abgemacht, die Gedanken gelesen, das Gesicht verzerrt
und heimlich photographirt; es wird Magie und Sympathie ange-
wandt. Der Kranke wird in den Kamin eingemauert, von der Fabrik,
von der Kirche mit einem Rad lebendig herausgeschmissen, von
boshaften Menschen abgemartert. Das Yieh frisst nicht mehr wie
früher, ist verhext; der Mann ist verändert, hat keinen rechten Glauben
mehr; in den Speisen ist Gift. Alles ist umgewendet und Blend-
werk; das „Bleichbuch“ ist aufgemacht; das Weitende steht vor der
Thür; der Pfarrer ist todtgeschlagen und eingegraben worden.
Zugleich treten meistens Gehörstäuschungen auf. Alle
schwätzen aus der Wand; durch das Telephon wird das ganze Land
aufgemacht; es sind Männer im Hause; es ist eine Listigkeit und
Heimlichkeit hinter dem Kranken; er ist in ganz Deutschland als
Spion bekannt gemacht. Seltener sind Gesichtstäuschungen, das
Sehen von Gespenstern, blutigen Männerköpfen, baumelnden Leichen.
Gewöhnlich bemächtigt sich des Kranken nunmehr eine gewisse
Erregung. Er wird ängstlich, aufbrausend, streitsüchtig, lacht, weint
und singt durcheinander. Dabei pflegt die Orientirung nicht ver-
loren zu gehen. Dennoch kommt es oft genug zu den unnatürlichsten
und folgenschwersten Handlungen, zu Selbstmord, gefährlichen An-
griffen und Brandstiftung. Eine meiner Kranken brachte ihren
Kindern schwere Verletzungen bei, um ihnen durch den Tod das
nach ihrer Meinung gefährdete Seelenheil zu verschaffen. Eine andere
erschlug fast ihren ruhig schlummernden Mann, um ihn von seinen
Leiden zu erlösen, da ihr der Gedanke kam, er liege im Sterben;
später griff sie Nachts die Wärterinnen an, weil sie ihr mit der
Wachuhr die Eingeweide aus dem Leibe rissen.
In der Regel dauert diese einleitende traurige oder ängstliche
Verstimmung nicht sehr lange. Vielmehr tritt meist sehr bald eine
expansive Färbung der Stimmung wie der Wahnideen immer
stärker hervor. Die Kranken werden heiter, überschwänglich, ge-
schwätzig, bezeichnen sich als Freifrau, Kaiserin, Stellvertreterin der
184
V. Die Dementia praecox.
Jungfrau Maria, sind mit dem Weltkaiser schwanger, verlangen,
Majestät angeredet zu werden.
In einer Anzahl von Fällen beginnt nun die unaufhaltsame Ent-
wicklung des blühendsten und unsinnigsten Grössenwahnes ohne
Maass und Ziel. Der Kranke ist vertauschtes Kind, Graf Eberstein,
Monarch, Maria Theresia, nach der Weltordnung Kaiserin von Frank-
furt, Ideal der Frauenwelt, allerheiligste Göttin, Präsident von
Amerika aus Hamburg, Pius IX. und Leo XIII. in einer Person,
ist Jesasus Christasusaesus Heilandasus, „Sinngott“, Arzt. Dichter,
Entdecker, Universalgenie, Perle und Inbegriff des Weltalls: er weiss
alles, kann alles, gebietet über alles. Er stammt vom Herzog von
Brabant, von den Propheten ab, dem ersten Abglanz der Sonne,
ist gar nicht auf natürliche Weise zur Welt gekommen, wurde im
Amazonenstrom aufgefischt, aus Blut und Speichel zusammengerieben,
hat schon viele Male gelebt, die fabelhaftesten Dinge durchgemacht,
alle historischen Begebenheiten geleitet, alle Kriege geführt, ist durch
Himmel und Hölle geflogen; er war selber Alexander und Cäsar,
Muhamed und Luther, Goethe und Humboldt. Zehnmal wurde er
geboren, ist 50 mal gestorben, immer durch Aufsetzen eines frischen
Schädels wieder neu belebt, durch Gypsverbände klein gezogen
worden; er hat die schönsten Weiber, unzählige Kinder, be-
sitzt die Afrikanermethode des Lebens; da kann man gar nicht
sterben.
Das Beich Gottes ist auf ihn herniedergekommen, sein Gedächt-
niss bis in die Wolken ausgebildet worden; durch ihn werden die
Jahrhunderte belohnt und Deutschland befreit. Der liebe Gott hat
ihm alles gezeigt; er kann Yulkane essen, trägt sein Gehirn auf
der Schulter, hat sich unserm Herrgott als Wildsau zur Verfügung
gestellt. Er besitzt die prachtvollsten Schlösser in fremden Welt-
theilen mit selbsterfundenen wunderbaren Namen, wo er von Geistern
bedient wird, grossartige Ländereien auf der Sonne, auf den Sternen,
ein unermessliches Vermögen; er wird die Prinzessin heirathen, den
Glaubenskampf durchkämpfen, die Welt erlösen auf Krieg, als oberste
Herrin eingesetzt werden, ist Braut des Kaisers Augustus, als fran-
zösischer Fahnenträger aufgestellt, weiss, was die Fahnen bedeuten,
die von der Gedächtnisskrönung auf ihn Bezug haben; es ist ein
Wunder, wie es nicht mehr in dem Jahrhundert vorkommt.
Entsprechend diesem ungeheuerlichen, vielfach wechselnden und
Paranoide Formen.
185
an die Dementia paralytica erinnernden Grössenwahn gestalten sich
auch die nebenher laufenden Verfolgungsideen, die jetzt meist mit
lachendem, strahlendem Gesichte vorgebracht werden. Entsetzliche
Kämpfe hat der Kranke schon mit feindlichen Mächten zu bestehen
gehabt von Anbeginn der Welt; 2000 mal ist er vergiftet, mit
Höllenmaschinen in die Luft gesprengt, auf den Geist getödtet worden ;
unzählige Geschosse haben seinen Leib durchbohrt. Seine Glieder
sind ihm abgehauen, der Kopf vom Rumpfe getrennt worden; der
ganze Leib wurde eingeschmolzen, die Genitalien verstümmelt, aber
wie der Phönix aus der Asche hat sich der Kranke aus allen diesen
Unfällen triumphirend wieder erhoben, seinen Körper selbst neu aus
unzerstörbarem Stoffe Aviederhergestellt und seine Widersacher zer-
schmettert. In der Regel lassen sich diese Wahnvorstellungen durch
Zureden in beliebiger Weise beeinflussen und durch Einwendungen
zu immer uugeheuerlicheren Gestaltungen steigern. Vielfach giebt
der Lesestoff den Anstoss zu neuen Erfindungen.
Auch der Inhalt der Sinnestäuschungen nimmt an der Wand-
lung des Krankheitsbildes Theil. Engel steigen vom Himmel herab;
der liebe Gott, Kaiser Wilhelm in Galauniform erscheint den Kranken,
von Fahnen und Sternen umgeben. Sie sprechen alle Tage mit dem
lieben Gott, werden nach Befehl vom Telegraphen zum Jesus Christus
von Oesterreich ernannt; die Herzensstimme spricht von Macht und
Reichthum; die Ohrenstimme sagt Gönnersprüche. In der Nacht, im
Traume unternehmen sie wunderbare Reisen über die ganze Erde,
auf herrlichen Schiffen, in die schönsten Marmorsäle, ja durch das
Weltall, zum Erdtheil hinter dem Monde, haben nächtlichen Umgang
mit Prinzessinnen. „Ich bin weit draussen, wenn ich gleich in der
Irrenanstalt bin,1' sagte mir ein Kranker, „und habe nicht nöthig,
Selbstbefriedigung zu treiben.“
All dieser sinnlose Gallimathias wird von dem Kranken in ge-
läufiger Rede vorgebracht, oft auch in bogenlangen, nur in grossen
Zügen verständlichen Aufzeichnungen niedergeschrieben. Meist ist
es schwierig, dem einmal entfesselten Redeströme Einhalt zu thun.
Gleichwol besteht kein eigentlicher Rededrang und keine Ideenflucht;
der Kranke schweift nicht planlos ab, hält an seinem bestimmten
Gedankengange fest, spricht auch meist nicht ohne Anlass und ohne
Zuhörer. Bei längerer Bekanntschaft mit ihm bemerkt man, dass
gewisse Wendungen und Vorstellungen häufig wiederkehren, nament-
186
V. Die Dementia praecox.
lieh wenn die anfängliche Fruchtbarkeit der Erfindung allmählich
nachlässt.
Jeder Hinweis auf die völlige Ungereimtheit und Zusammen-
hangslosigkeit der von ihm geäusserten Ideen prallt an dem Kranken
machtlos ab, vermag ihn höchstens in gereizte, ärgerliche Stimmung
zu versetzen. Trotzdem laufen häufig Aeusserungen mit unter, die
auf ein gewisses Krankheitsgefühl hinzudeuten scheinen. „Es kann
schon sein, dass ich geisteskrank bin,“ sagte mir ein Kranker: „ich
weiss eben so gar nichts mehr von mir.“ Ein anderer erzählte, wie
er im Beginne der Krankheit „einen Ruck im Gedächtniss“ verspürt
habe. „Die Uebernahme ist durch die Kopfkrankheit und das an-
gespannte Gedächtuiss erfolgt“; „Sie haben ja gar keine Ahnung,
wie viel in meinem Kopf vorgeht; ich meine oft, er müsste mir
zerspringen.“
Das Bewusstsein der Kranken ist in einzelnen Fällen ziemlich
klar, meist aber etwas getrübt, namentlich nach längerer Dauer des
Leidens. Sie wissen zwar, wo sie sich befinden, fassen einfache
Anreden auf und geben über ihre persönlichen Verhältnisse auf
eindringliche Fragen richtige, wenn auch mit unsinnigen Zusätzen
verbrämte Antworten. Ihre nächsten Angehörigen erkennen sie
regelmässig, bisweilen auch einzelne Personen ihrer späteren Um-
gebung. Fast überall jedoch besteht die Neigung, Fremde mit
irgend welchen historischen oder selbsterfundeuen Namen zu be-
legen oder sie mit früheren Bekannten zu identificiren. Die Aerzte
sind verkappte hohe Staatsbeamte, die Mitkranken der Kronprinz,
Makart, Richard Wagner; ein neu eintretender Kranker wird als
hoher Potentat begrüsst. Die Auffassung der wirklichen Personen
ist in manchen Fällen eine ganz unklare und verschwommene; eine
meiner Kranken fragte noch nach jahrelangem Anstaltsaufenthalte
den ein tretenden Arzt regelmässig: „War der Herr schon ein-
mal da?“
Bisweilen erscheint dem Kranken jede neue Person als alter
Bekannter, nicht weil er sie einfach verkennt, sondern weil sich an
den neuen Eindruck eine Menge von Erinnerungsfälschungen
anschliessen. Ihm fällt sofort ein, dass er mit dem betreffenden
Herrn früher schon Jahre lang zusammen gelebt, mit ihm auf dem
Monde gejagt hat, von ihm geköpft worden ist. Diese Art der
Personenverkennung ist offenbar nur eine Theilerscheinung der hier
Paranoide Formen.
187
bestehenden Neigung zu traumhaft üppiger, zügellos freier Er-
findung.
Der Verstand der Kranken leidet stets rasch und sehr be-
trächtlich. Zwar haften im Anfänge manche der früher erworbenen
Kenntnisse noch leidlich gut, aber sehr bald geht die Fähigkeit zu
geordneten und ausdauernden geistigen Leistungen mehr und mehr
verloren. Die Kranken vermögen längeren Auseinandersetzungen
nicht mehr zu folgen und mischen in ihre mündlichen und
schriftlichen Aeusserungen sogleich ihre verworrenen, wahnhaften
Abschweifungen.
Die Stimmung ist regelmässig eine gehobene. Die Kranken
sind sehr selbstbewusst, hochfahrend, anspruchsvoll, betrachten sich
als die Hauptpersonen, verlangen besondere Berücksichtigung, haben
Eigenheiten in der Auswahl der Speisen. Manche Kranke zeigen
dauernd eine gewisse Unruhe und grosse gemiithliche Reizbarkeit.
Sie gehen hastig auf und ab, poltern des Nachts mit ihren Möbeln,
kleiden sich unanständig, zerkratzen sich, schwatzen viel, haben
Neigung zum Schimpfen und zu gewaltthätigen Handlungen bei
geringfügigem Anlass. Zeitweise kann es zu blinden Wuthausbrüchen
von ausserordentlicher Heftigkeit kommen, namentlich im Zusammen-
hänge mit den Menses. Lebhafte geschlechtliche Erregbarkeit ist
sehr häufig.
In anderen Fällen ist das Benehmen der Kranken geordneter,
so dass sie sogar zu allerlei mechanischen Beschäftigungen heran-
zuziehen sind, doch pflegen sie dabei sehr launisch und wetter-
wendisch zu sein. Ihre Sprache wird nach und nach dunkel und
schwer verständlich, namentlich durch das Einmischen selbsterfundener
Ausdrücke und Wendungen, die sich allmählich zu befestigen und
häufig zu wiederholen pflegen. Ein solcher Kranker gab als seine
Adresse an: „Aewa owa Ouwou Aewouwio sanco to totosaak saakiou
sahaia siri tou toutou. Hoch Waiowauoxyowiiiowäüoxyoohoeho hächi
hihi11. Es war der Name seines Schlosses. Bisweilen kommt es zu
einer absonderlichen Häufung von Superlativen, indem die Kranken
mit Aufgebot aller sprachlichen Hülfsmittel ihre allerherrlichsten
geistigen Vorzüge wie die allergrässlichsten Martertode zu schildern
suchen, die sie täglich und stündlich zu erleiden haben. Auch die
Schriftzüge werden verschnörkelt, gross, anspruchsvoll, so dass
schliesslich unter Umständen wenige Buchstaben oder Worte die
188
V. Die Dementia praecox.
Bogenseite füllen. Auf diese Weise entstehen dann gewaltige Bündel
von Eingaben, Aufrufen, Erlassen, in denen der Kranke unter zahl-
losen Wiederholungen seine verworrenen Grössen- und Verfolgungs-
ideen niederlegt.
Auffallendere körperliche Störungen sind gewöhnlich bei den
Kranken nicht zu bemerken; nur konnte ich einige Male eine sehr
bedeutende Erhöhung der vasomotorischen Erregbarkeit beobachten,
heftigstes Erröthen oder Erblassen bei den leisesten Gemüths-
schwankungen, schon beim einfachen Sprechen. Der Appetit kann
wol während der ersten Zeit in Folge von Yergiftungsideen leiden,
ist aber später meist vortrefflich. Der Schlaf wird zeitweise durch
nächtliche Unruhe gestört. Das Körpergewicht zeigt nur unregel-
mässige Schwankungen; meist gewinnen die Kranken sehr bald ein
blühendes Aussehen.
Der Ausgang der Dementia paranoides ist die schwachsinnige
Verwirrtheit. Die Kranken bleiben dauernd besonnen und orientirt,
aber ihre weitschweifigen Beden werden allmählich zu völlig zu-
sammenhangslosem Gefasel, in welchem für den Kundigen die Reste
der früheren Verfolgungs- und Grössenideen noch erkennbar sind.
Die Stimmung zeigt selbstbewusste Heiterkeit mit zeitweiser Reizbar-
keit; das ganze Thun und Treiben wird zerfahren und planlos.
Die Schnelligkeit, mit welcher diese Verblödung zu Stande kommt,
ist nicht immer die gleiche, ln manchen Fällen wird man schon
nach wenigen Monaten von den deutlichen Zeichen der geistigen
Schwäche überrascht, während bei anderen Kranken selbst 1 bis
2 Jahre vergehen können, bevor die Gleichgültigkeit, mit welcher
die ungeheuerlichsten Wahnvorstellungen vorgebracht und fest-
gehalten werden, den endgültigen Zusammenbruch der Urtheils-
fähigkeit klarstellt. Nicht selten beobachten wir einen Verlauf in
einzelnen Schüben. Rasch vorübergehende Depressionszustände oder
Erregungen mit Grössenideen können dem eigentlichen Ausbruche
der Krankheit schon mehrere oder selbst viele Jahre voraufgehen.
Auch späterhin kommen Zeiten vor, in denen die Kranken ihre
Wahnvorstellungen verleugnen und als „Dummheiten“ bezeichnen,
freilich ohne klares Krankheitsverständniss.
Die zweite Gruppe von Krankheitsbildern, die ich geneigt bin,
vorläufig an dieser Stelle einzufügen, ist dadurch gekennzeichnet,
dass abenteuerliche Wahnvorstellungen, meist von zahlreichen
Paranoide Formen.
189
Sinnestäuschungen begleitet, sich in mehr zusammenhängender
Weise entwickeln und eine Reihe von Jahren festgehalten
werden, um dann entweder wieder zu verschwinden oder
völlig verworren zu werden. Bisher habe ich diese Formen
als phantastische Verrücktheit der Paranoia zugerechnet, wie das
allgemein zu geschehen pflegt. Allmählich jedoch ist es mir immer
deutlicher geworden, dass sie der Dementia praecox jedenfalls näher
verwandt sind, als der Paranoia. Ob es sich dabei wirklich nur um
eine klinische Spielart jener ersteren Krankheit oder um ein eigen-
artiges Leiden handelt, wird die Zukunft zu entscheiden haben.
Die Krankheit beginnt auch hier zumeist mit mehr oder weniger
ausgeprägter trauriger Verstimmung und allmählich sich einstellenden
depressiven Wahnvorstellungen. Der Kranke fühlt sich- unglücklich,
vereinsamt, macht sich allerlei Vorwürfe, dass er durch Selbst-
befleckung Körper und Geist für immer ruinirt, fremdes Eigenthum
unrechtmässig für sich behalten habe, hängt viel religiösen Grübe-
leien nach, betet fleissig, singt Kirchenlieder und trägt sich mit
Todesgedanken, um grosses Unglück zu verhüten. Er wird äusserst
argwöhnisch und misstrauisch, merkt, dass seine Umgebung ihm
feindlich gesinnt ist, macht überall seine „stillen Beobachtungen“.
Man hustet auffällig hinter seinem Rücken, streckt ihm die Zunge
heraus, ist ihm aufsässig, thut ihm alles zum Spott, stellt verfäng-
liche Fragen an ihn. In den Zeitungen wird er „herumgeschmiert“,
in Flugschriften blosgestellt; Theaterstücke enthalten Verhöhnungen
seiner Person; die Reden Vorübergehender sind auf ihn gemünzt.
Die Kinder auf der Strasse pfeifen und singen ihm zum Schabernack;
die Nachbarn foppen ihn mit Geberden und Anspielungen. Irgend
ein Mensch trägt seine grosse Nase, sein rothes Gesicht nur zur
Schau, um ihn zu ärgern; ein zufällig Vorübergehender scheint einen
lebensgefährlichen Angriff zu planen. Die Frau ist dem Kranken un-
treu, empfängt ihn anders als früher, schrickt bei seiner Heimkehr
zusammen, plaudert im Schlafe ihr Vergehen aus; er fühlt es in
seinem Herzen, dass sie es mit anderen Männern hält. Massenhafte
„vermuthende Gedanken“, Ahnungen, Eingebungen steigen auf. Der
Kranke muss sein ganzes früheres Leben durchdenken, „in vier
Stunden 19 Jahre durch sein Gehirn durchschlagen“; er müsste ein
Buch schreiben, wenn er alles aufzeichnen wollte, was ihm in den
Kopf kommt.
190
V. Die Dementia praecox.
In der Regel stellen sich nunmehr auch wirkliche Gehörs-
täuschungen ein, mit denen die Krankheit bisweilen überhaupt
ziemlich plötzlich einsetzt, Telephonstimmen, Signale aus der Luft
durch den Sprachschalter. Alle schmähen und bedrohen ihn: „Der
hat gestohlen, seinen Meister verschwätzt, muss per Schub heim,
wird hingerichtet; die Haussuchung wird’s erweisen; da wird die
Frau schön gucken; Dir wird’s gemacht, Du bist ein Lausbub“. Er
soll zum Scharfrichter geführt werden, den Tod durch eine Loko-
motive finden; das Gift ist schon im Glas; er hat’s schon; „wenn
er wüsste, dass ich da wäre“, ruft eine fremde Mannesstimme. Bei
weiblichen Kranken ist es namentlich die Geschlechtsehre, gegen
welche sich die „Verfolgung“ richtet; „die hat vier Kinder, ist ein
Mensch, eine Hure, schwanger, angesteckt, radical caput gemacht,
hat ihr Kind umgebracht“.
Bisweilen sind diese Täuschungen so deutlich, laute Zurufe,
dass der Kranke sie wörtlich wiedergeben kann und sie als gewöhn-
liche Sinneswahrnehmungen betrachtet, sogar genau die Stimmen zu
erkennen vermag. Die Verfolger sitzen dann im Keller, in den
Wänden, im Nebenzimmer, auf dem Dachboden („Deckenläufer1,
„Hinterwändner“), martern seine Angehörigen, so dass ihr Jammern
zu ihm herüberschallt. In anderen Fällen handelt es sich um leises
Lispeln und Wispern, um „Einflüsterungen“, deren Inhalt nur ganz
im allgemeinen aufgefasst wird. Auch aus dem Schreien der Thiere,
dem Pfeifen der Eisenbahn hört er bestimmte Schimpfworte heraus;
er weiss es „aus dem Glockenton“, dass man ihm nachstellt.
In der Nacht werden ihm Bilder vorgemacht, um ihn zu ärgern;
das Essen zeigt bisweilen einen sonderbaren Geschmack oder Geruch,
„nach todten Menschen“; im Kaffee ist Urin oder Phosphor, Ricinusöl
in der Bouillon. Er spürt nach der Mahlzeit Bauchweh, Aufge-
triebensein, Jucken am ganzen Körper. Nachts ist ein schwefel-
artiger Dampf im Zimmer; die Bettstelle erscheint heiss, wie wenn
elektrisirt würde; er empfindet Geräusche im Kopf, wie von einem
Uhrwerk, einem Mühlrad. Schmerzen bei der Menstruation deuten
auf Entjungferung in Chloroformnarkose hin. Einzelne Sachen ver-
schwinden auf geheimnissvolle Weise oder finden sich verschoben,
an andere Stellen gelegt; die Kleider weisen unerklärliche Löcher,
Flecken, Abnutzungszeichen auf; das Gesicht erscheint im Spiegel
# verzerrt, gedunsen, die Personen oder Gegenstände der Umgebung
Paranoide Formen.
191
zeitweise ganz auffallend verändert; sie werden vertauscht, um ihn
zu verwirren; die eingehenden Briefe sind gefälscht; man bringt
immer neue Menschen herbei. Auch die Träume haben vielfach eine
geheime Bedeutung; es wird Sympathie angewendet; alles ist wie
umgewechselt; es ist ein „nächtlich -religiöser, geheimer, meuchel-
mörderischer Staatsbürgerkrieg“.
Im einzelnen kann sich nun die weitere Ausbildung der Wahn-
ideen sehr mannigfaltig gestalten. Ganz besonders häufig pflegen
die Vorstellungen einer körperlichen Beeinflussung zu sein,
die oft in überaus abenteuerlicher Weise ausgemalt werden („physi-
kalischer Verfolgungswahn“). Zunächst deuten vielleicht Schmerzen
im Rücken und in den Beinen, Schwere im Körper, Reissen und
Ziehen im Leibe dem Kranken darauf hin, dass die Gesundheit durch
künstlich angewandte Mittel geschädigt ist; im natürlichen Körper
geht so etwas nicht vor. Schwindelanfälle treten auf, Durchzuckung
im Körper, Schlaffheit der Glieder; die Kranken fühlen, wie sie in
Betäubung versetzt, auf den Boden gelegt und begattet werden;
nackte Weiber legen sich auf sie und ziehen ihnen „die Natur“ ab.
Ein gelegentliches Bauchgrimmen oder eine vorübergehende Ein-
genommenheit des Kopfes macht es klar, dass man ihnen Gift in die
Speisen gegeben hat, um ihnen auf diese Weise die Eingeweide zu
ruiniren und das Gedächtniss zu schwächen; das Hirn dreht sich
wie in Wickeln. Man regt ihnen die Natur auf, verführt sie zur
Onanie, zieht ihnen die Gedanken aus dem Kopf, sucht sie von Tag
zu Tag dümmer zu machen. Bisweilen suchen sich die Kranken
auch von den Hülfsmitteln, mit denen solche Fernwirkungen (Tele-
pathie) erzeugt werden, genauere Rechenschaft zu geben. Nament-
lich sind es magnetische und elektrische Batterien, mit welchen die
Verfolger arbeiten, Lichtmaschinen, grosse Hohlspiegel u. dergl., von
denen einzelne Kranke nach längerer Bekanntschaft mit ihren
Feinden ausführliche Zeichnungen entwerfen.*) Oder aber es handelt
sich um Zaubersprüche, Sympathie, Hypnotismus, Röntgenstrahlen,
je nach dem Bildungsgrade des Kranken. Einer meiner Kranken
fühlte sich „in öffentlicher hypnotischer Haft“, trotz anscheinender
Freiheit im erweiterten Käfig, da die „Hypnotisten“ ihn durch die
hypnotische Augenkraft vollständig in ihrer Gewalt hatten.
*) Haslam, Erklärungen der Tollheit, übersetzt von Wollny. 1889.
192
V. Die Dementia praecox.
So verschiedenartig die Werkzeuge, so verschiedenartig sind
auch die Empfindungen, über welche die Kranken sich zu beklagen
haben. Die Haut wird ihnen mit zahllosen Kugeln, Nähnadeln be-
schossen, mit feinem Giftregen besprüht; an den verschiedensten
Stellen des Körpers werden brennende, stechende, bohrende Schmerzen
erzeugt. Im Ohr sitzt ein Magnet; die einzelnen Glieder werden
gegen den Willen des Kranken in Bewegung gesetzt; namentlich
die Zunge wird gezogen, um Dinge zu reden, die ihm verhasst sind;
es wird ihm ein Bäderwerk in die Brust gesetzt, mittels dessen er
von den Verfolgern wie eine Gliederpuppe gelenkt wird. Seine Ein-
geweide werden ihm zerstört und durcheinandergeworfen, Schmutz
in sein Essen, in sein Blut hineingeschüttet, „Schweinemord“ auf ihn
verübt, der Darm „aufgewickelt und in Platten abgelagert“, „Seich-
zauber getrieben“, der Stuhlgang verhindert, der Athem versetzt, der
Koth ins Hirn gepumpt, das Geschlecht „wagerecht herausgezogen
und senkrecht wieder hineingesteckt“, der Samen abgetrieben, die
Zähne ausgeschlagen. Meist werden diese verschiedenartigen Em-
pfindungen mit eigenen Namen belegt und ganz genau beschrieben,
das Fingerzucken, Fleischschwellen, Blutstillen und Blutfliessenlassen.
Ereignissmachen, Bombenbersten, Hummerknacken u. s. f.
Ein besonders hinterlistiges Verfahren der ebenfalls oft absonder-
lich benannten Verfolger besteht in dem „Abziehen“ der Gedanken.
Die Kranken merken, dass ihre Gedanken durch feindliche Einwir-
kungen beliebig gelenkt (suggerirt) werden können („Gedanken-
sammeln“). Beim Versuche, zu arbeiten, werden sie plötzlich „des-
animirt“ und müssen dann aufhören, oder es kommen ihnen gute
Gedanken, die aber offenbar nicht ihre eigenen, sondern eingegeben
sind. Beim unwillkürlichen Verschreiben eines Wortes „waltet die
Wahrscheinlichkeit der Inspirirung ob“; es kommt „zu criminellen
Pressionen und Inquisitionen“; ihnen wird die Unterstellung ge-
macht, als ob sie sich einbildeten, König zu sein.
Sie wissen schliesslich gar nicht mehr, ob sie aus sich heraus
denken oder „suggestirt“ werden. Bisweilen werden die Gedanken
aogar laut (Doppeldenken), besonders beim Lesen. Die Stimmen
klappen dabei nach, oder sie eilen auch wol voraus: „ich kann
schneller lesen als Du!“ Die Kranken merken, dass ihre Seele offen,
der ganzen Welt zugänglich ist; Jedermann kann nach Belieben in
derselben lesen. Andere haben die Gabe, den Kranken so zu durch-
Paranoide Formen.
193
schauen, während er selbst nur als , .echtes Medium“ dienen muss.
Dieses Gefühl einer erzwungenen, ohnmächtigen Abhängigkeit von
fremden Einflüssen verstrickt den Kranken in ein unentwirrbares,
wahnhaftes Netz der quälendsten Vorstellungen. Einen Einblick in
derartige Gedankengänge gewährt folgendes Bruchstück eines Briefes :
„Ich bin in entsetzlicher Angst; es ist die grösste Gefahr, dass mein Leben
mit Schrecken ein Ende nimmt, weil die ganze Anstalt wie ein Uhrwerk ein-
gerichtet ist, das aber nicht von Vernunft, sondern von verrückten Köpfen in den
Zellen, die wie Zahnräder regulirt werden, geleitet ist, und nicht allein die Zellen
sind so eingerichtet, dass man sich in Haranguationen wie auf einem telegraphi-
schen Nervenspinngewebe hin- und herbewegen muss, auch auf den Gängen ist
jeder Quadratmeter eine Eintheilung, die irgend woher einen Henkelmann zu Tage
fördert, sei es zur Ansicht oder einen Gewaltthätigen. Dabei werden Dünste,
Gluthwellen in den Abtheilungen entwickelt, die einen schauderhaften Grad von
Befangenheit einerseits, brutale, fascinirende Gewalt und Schnelligkeit andererseits
erzeugen; dazu besteht ein fortwährender Klang von Medienklängen, Vermittlungs-
stimmen, die in grausamer Weise das Gemüth mit Widersprüchen perhorresciren .
Es ist ganz unbeschreiblich, mit welcher bösen Raffinirtheit diese Wechselgespräche
geführt werden, die unter Zuhülfenahme von Influenzen in zersetzender Weise
meuchlerisch von Körper zu Körper übertragen werden und Zeugniss davon geben,
dass sogenannte verrückte Stationäre in Verbindung mit allerhand Treibern und
Haranguirem im Leben die grausamsten Verbrecher sind, die es giebt, die nur
noch übertroffen werden von einer anderen Classe, die unter Umständen einen er-
fasst, ihn mit giftigen Fingern in imbedenklicher Weise wie eine gefüllte leblose
Masse in einen andern Zustand quetscht. . . .“
In manchen Fällen werden die Beeinflussungen nicht unmittel-
bar wahrgenommen, sondern nur die durch sie herbeigeführten Wir-
kungen. Die Feinde kommen hier in der Nacht, während der Kranke
schläft, entführen ihn und treiben nun die scheusslichsten Dinge
mit ihm, üben Hirnbeeinflussungen aus, päderastiren ihn, stecken
ihm Sperma und Koth in den Mund, vertauschen seine Knochen.
Leider erwacht er dabei nicht, sondern merkt erst am andern Morgen,
dass man ihn mit ekelhaften Dingen angefüllt, ihm das Gehirn aus-
geräumt, den Hirnschaum abgeschöpft, die Glieder verrenkt und
verdorrt hat. Weibliche Kranke merken, dass sie geschwängert,
entbunden wurden. Die Mannigfaltigkeit und die Ungeheuerlichkeit
dieser Klagen ist eine ausserordentliche.
Eine ganz eigenartige Ausbildung gewinnt der physikalische Ver-
folgungswahn in jenem sittengeschichtlich bedeutsamen Krankheits-
bilde, welches man als „Besessenheitswahn“ bezeichnet. Hier
werden die Feinde, welche den Kranken quälen, geradezu in den
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Anfl. II. Band. 13
194
V. Die Dementia praecox.
eigenen Körper hineinverlegt. Der oder die Verfolger sitzen nun
in den Ohren und betäuben den Kranken durch ihr gräuliches
Schreien und Fluchen, häufiger aber im Unterleib, steigen bis in
den Kopf hinauf, schnüren dem Kranken die Kehle zu, verdicken
ihm sein Blut, klappen ihm seinen Schädel auf, zwingen ihn zu den
sonderbarsten Handlungen und reden ihm aus dem Bauche herauf
gotteslästerliche Dinge vor. Hier kann es Vorkommen, dass sich
dem Feinde im eigenen Leibe eine andere, freundlich gesinnte
Macht hinzugesellt, welche jenen in eine Körperhälfte hineindrängt
und lange, erbitterte Kämpfe und Zwiegespräche mit ihm führt
Während die Verfolger bei den früher geschilderten Formen zumeist
als eine geheimnissvolle Hotte von Nihilisten, Freimaurern, Social-
demokraten gedacht wurden, so pflegen in diesen letzteren Fällen
mehr religiöse Vorstellungen zur Erklärung herbeigezogen zu werden.
Es ist eine abgeschiedene Seele, der Teufel, ein böser Geist, der
von dem Leibe des Kranken Besitz genommen hat, und dem unter
Umständen der liebe Gott oder einer der Erzengel siegreich ent-
gegentritt. Diese eigen thümliche Verdoppelung der Persönlichkeit
erinnert uns an jene Träume, in denen wir ausgedehnte Unterhal-
tungen führen und oft über die schlagenden Beweisgründe unseres
Gegners im höchsten Grade überrascht sind.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gesellen sich zu den
Beeinträchtigungsideen mehr oder weniger ausgeprägte Grössen-
ideen. Der Kranke hat „bewunderungswürdig gelitten“, wird noch
Grosses vollbringen, ist zu Höherem berufen, hat ein zukünftiges
besseres Loos zu erwarten. Manchmal sind es lebhafte Träume, die
ihn erheben und für alles Ungemach entschädigen. In diesen „nächt-
lichen geistigen Verschleuderungen“ führt ihn die Gewalt Gottes in
fremde Länder, bringt ihn in Verkehr, auch geschlechtlichen, mit
hohen Personen und giebt ihm durch mannigfache Darstellungen
aussichtsreiche Verheissungen für die Zukunft. Häufiger noch kommt
es zu einzelnen, mit klarem Bewusstsein aufgefassten visionären Er-
lebnissen. Der Kranke erwacht in der Nacht mit unbeschreiblichen
Wonnegefühlen, fühlt sich durchströmt und durchleuchtet vom
heiligen Geiste. Seine Augen werden von dem Lichte geblendet,
welches sein Schlafzimmer erfüllt; ein wunderbarer Duft strömt
herein. Er sieht Gott in Gestalt eines Sterns, eine bedeutungsvolle
Figur aus Lichtpunkten, eine herrliche Gestalt in köstlichem Ge-
Paranoide Formen.
195
■wände, die Mutter Gottes, Engel mit goldenen Flügeln, welche eine
Königskrone tragen, das Christkind, welches ihn an der Hand führt,
ihm die Weltkugel überreicht, den Kaiser mit einer strahlenden
Sonne. Dabei hört er eine Stimme, die in mehr oder weniger
klaren Ausdrücken ihm seine hohe Sendung verkündet: „Das ist
mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“, „Dir sind Deine
Sünden vergeben“ und dergl. Bisweilen wiederholen sich solche
Erlebnisse mehrmals in längeren Zwischenräumen. Auch die Sinnes-
täuschungen gewinnen vielfach einen angenehmen Inhalt. Gott selbst
spricht zum Kranken, ernennt ihn zum Kaiser ßothbart, schenkt
ihm riesige Summen, verheirathet ihn mit einer Prinzessin.
Dazu gesellen sich sehr häufig eigen thümliche Wahrnehmungen
nicht sinnlicher Natur, die als „Gewissensstimmen“, als „innere
Stimmen, die nicht mit Worten sprechen“, bezeichnet werden. Durch
sie erfährt er, dass er besonders begnadet, Christus oder Braut
Christi, ein gewaltiger Menschengeist ist, von den höchsten Persön-
lichkeiten geliebt, alle Kämpfe siegreich überstehen, die Bürgerkrone
für das Land erringen werde. Gerade diese Offenbarungen pflegen
für ihn eine besonders grosse überzeugende Kraft zu haben. „Ich
habe unzählig viele und gar keine Beweise,“ sagte mir eine der-
artige Kranke. Ausserdem werden indessen auch wirkliche Wahr-
nehmungen einfach von dem Kranken im Sinne seiner Ideen ver-
arbeitet. Zunächst weiss er freilich vielfach noch nicht, was alles
bedeuten soll, ist aber sicher, dass es ihm später klar werden
wird. Ein Besuch aus der Hauptstadt hängt mit seiner Berufung
auf den Thron zusammen; der Geistliche auf der Kanzel legt seine
Sachen aus; in den Büchern weist alles auf ihn hin. Wenn er
betet, so strömt fruchtbarer Regen herab, oder der umwölkte Himmel
klärt sich plötzlich auf, sobald er auf die Strasse tritt. Erinnerungs-
fälschungen erwecken in dem Kranken die Vorstellung, dass ihm
von Gott alles im voraus verkündet werde, was sich ereignet.
Während der Entwicklung dieser Wahnbildungen, die sich in
einigen Monaten oder Jahren zu vollziehen pflegt, bleiben die Kranken
besonnen, orientirt und im ganzen geordnet. Sie sind, namentlich im
Anfänge, recht wol im Stande, ihre Ideen zusammenhängend darzu-
legen, zu begründen, Einwände zu bekämpfen; es ist „Methode“ im
Wahnsinn. So verlangte ein Kranker als Entschädigung für seine
Gefangenhaltung einfach die Civilliste des Königs, indem er aus-
13*
196
V. Die Dementia praecox.
führte, dass die Verneinung des Rechtes auch nur einem einzigen
Unterthanen gegenüber die thatsächliche Absetzung des Königs als
des Hortes der Gerechtigkeit bedeute; er, der Geschädigte, habe
demnach zu fordern, was der König durch Zulassen des Unrechts
freiwillig aufgebe. Späterhin aber treten immer deutlicher die
Zeichen der geistigen Schwäche hervor. Die Wahnvorstellungen
werden unsinniger, zusammenhangslos, widerspruchsvoll, bald ein-
förmig, bald vielfach wechselnd. Der Gedankengang wird ver-
schroben, unklar, verworren und schliesslich nicht selten ganz un-
verständlich. Oefters besteht wenigstens zeitweise ein gewisses
Krankheitsgefühl; die Kranken klagen, dass sie verändert, arbeits-
unfähig, aufgeregt seien. Niemals aber besitzen sie das geringste
wirkliche Verständniss für die Krankhaftigkeit ihrer Wahnbildungen,
auch wenn sie einmal auf starkes Drängen zugeben, dass möglicher-
weise Krankheit, „Nervosität“, mitspielen könne. „Mich mit dem
Irrenhause in einem Wort zu nennen, ist geradezu eine quadratische
Verkehrtheit“, schrieb ein Kranker. Vielmehr werden auch jene
selbstempfundenen Krankheitszeichen nur als die Folgen feindlicher
Einwirkungen betrachtet. Jeder Versuch, den Kranken von der
Irrthümlichkeit seiner Ideen zu überzeugen, indem man ihn dorthin
führt, wo er seine Verfolger vermuthet, bleibt gänzlich erfolglos, da
er den Stimmen entnimmt, dass man für seinen Besuch zeitweilig
alles Verdächtige bei Seite geräumt habe.
Die Stimmung der Kranken ist im Beginne der Krankheit
meist eine niedergeschlagene, ängstliche oder feindselig -gereizte.
Späterhin pflegen mehr gehobene Gefühle hervorzutreten, bald im
Sinne eines selbstgefälligen Hochmuthes, bald in demjenigen einer
verzückten Schwärmerei ; auch süsslich- erotische Stimmungen sind
nicht selten. Vorübergehend werden lebhafte Angstzustände sowie
Ausbrüche von Ausgelassenheit oder Reizbarkeit beobachtet. In
einzelnen Fällen sah ich auch länger dauernden Stupor mit Anfällen
zorniger Erregung auftreten.
Das Handeln der Kranken wird, wie es scheint, vielfach durch
die Wahnvorstellungen bestimmt. Es kommt zu Fluchtversuchen,
planlosen Reisen, unvermittelten gefährlichen Angriffen auf die ver-
meintlichen Feinde, auf Angehörige, Nachbarn oder selbst wild-
fremde Personen, zu Nahrungsverweigerung aus Vergiftungsfurcht
und vielfach auch zu Selbstmordversuchen. Andere Kranke wenden
Paranoide Pormen.
197
sich an die Behörden und schliesslich an die Oeffentlichkeit, machen
ihrer Erbitterung in Zeitungsanzeigen, Maueranschlägen, offenen
Briefen, Flugschriften*) Luft, in denen sie das schändliche Treiben
ihrer Feinde in gebührender Weise brandmarken. Oder aber sie
unternehmen irgend eine recht auffallende That, um die allgemeine
Aufmerksamkeit auf ihre verzweifelte Lage zu lenken.
Viele Kranke verfallen auf allerlei Massregeln der Selbsthülfe,
die ihnen einigermassen Ruhe vor den Verfolgern schaffen. Nament-
lich sind es eigenthümliche Geberden, Abwehrbewegungen, bestimmte,
oft sehr verzwickte Stellungen, die längere Zeit hindurch eingehalten
werden müssen, ferner das „innere Sprechen“, die unablässige Wieder-
holung gewisser Worte, mit Hülfe deren sie sich vor den feind-
seligen Beeinflussungen schützen. Mitunter werden auch Misshand-
lungen, ja Verstümmelungen des eigenen Körpers zum gleichen
Zwecke unternommen. Andere Kranke fühlen sich genöthigt, den
Stimmen laut und nachdrücklich zu antworten, und führen daher
in ihrer geordneten Thätigkeit, auch des Nachts, schimpfende Selbst-
gespräche. Oder sie verstopfen sich die Ohren, umwickeln den Kopf
mit Tüchern, halten die feindlichen Giftpfeile und Lichtblitze durch
grosse Schirme oder Masken von sich ab. Gegen die elektrischen
und telepathischen Beeinflussungen helfen Drähte, die um die Bett-
stelle gezogen sind, ferner selbstgeschnitzte, phallusartige Amulette.
M e r c k 1 i n hat einen vielleicht hierher gehörigen Kranken be-
schrieben, der zu diesem Zwecke eine aus altem Blechgeschirr ge-
fertigte Rüstung im Gewichte von 12 Kilogramm trug, auf dem
Kopfe eine Kasserolle; ein anderer hatte sich die Bewegung der
Arme selbst durch einen Ledergürtel mit Schlingen beschränkt, um
dem von seinen Feinden erzeugten Antriebe zum Zerkratzen des
Gesichtes widerstehen zu können.
Die Grössenideen können den Kranken dazu führen, dass er seine
Arbeit aufgiebt, weil sie seiner nicht mehr würdig ist, sich hoch-
trabende Titel beilegt, sich in auffallender Kleidung zeigt, die ersten
Schritte zur Erfüllung seiner göttlichen Sendung unternimmt. Er
predigt öffentlich, unterbricht den Geistlichen in der Kirche, greift
*) Wollny, Ueber Telepathie, 1888; Sammlung von Actenstücken, 1888;
Teffer,. Ueber die Thatsache des psycho -sexualen Contactes oder die actio in
Distans, 1891.
198
V. Die Dementia praecox.
ihn an, lässt sich durch Eingebungen und göttliche Stimmen leiten.
Die Zunge wird ihm gezogen, dass er sprechen muss, was ihm der
Geist eingiebt; ohne oder sogar gegen seinen Willen muss er gräss-
liche Schreie ausstossen; sein Arm wird ihm geführt, wenn er schreibt
oder den Kampf in heiliger Sache aufnimmt. Weibliche Kranke
suchen nach ihrem Seelenbräutigam, den sie in allerlei Verkleidungen
immer wiederfinden, und kommen so zu geschlechtlichen Aus-
schweifungen.
Das Benehmen der Kranken kann im Anfänge ein ganz ge-
ordnetes sein. Im Verlaufe der Krankheit jedoch pflegen mehr und
mehr Wunderlichkeiten und Verschrobenheiten hervorzutreten. Ge-
sichterschneiden, merkwürdige Geberden und Gewohnheiten, gespreizte
Bewegungen, Manieren beim Handgeben, Essen, Gehen, Sprechen.
Andeutungen von Negativismus. Die Kranken sprechen hochdeutsch,
in geschraubten Wendungen, mit selbsterfundenen Wörtern, heben
Wortspielereien und Reimereien; es kann sogar zu völliger Sprach-
verwirrtheit kommen. Aehnlich verhalten sich die bisweilen sehr
zahlreichen und stereotypen Schriftstücke mit ihren absonderlich
verschnörkelten Schriftzügen und ihrer oft kaum verständlichen
Rechtschreibung. Ein Schuhmacher suchte aus der Zeitung alle
möglichen fremdsprachigen Ausdrücke heraus und verflocht sie mit
selbsterfundener Bedeutung in seine Erlasse als „himmlischer Arzt":
so fügte er seiner Unterschrift immer die Worte bei: „Semper fidelis
Syp-hilis“, mit dem Sinne: „Also soll es geschehen“. Zu selbst-
ständiger, geordneter Thätigkeit pflegt auf der Höhe der Krankheit
weder Neigung noch Fähigkeit vorhanden zu sein.
Der Verlauf der Krankheit nimmt in der Regel einige Jahre
in Anspruch. Wenn man will, kann man dabei verschiedene Ab-
schnitte auseinanderhalten, denjenigen der einleitenden Verstimmung,
die Ausgestaltung der Verfolgungsideen, ferner die sogenannte
„Transformation“ des Wahnes, das Auftreten von Grössenvorstellungen,
welches die beginnende psychische Schwäche auzukündigen scheint,
und endlich das Schwinden oder den Zerfall der Wahnbildungen.
Bisweilen scheinen sich auch hier vorübergehende Nachlässe der
Krankheitserscheinungen einzustellen, die den Remissionen der Kata-
toniker vergleichbar sind.
Mag n an*) hat an diesen Entwicklungsgang die Aufstellung
*) Psychiatrische Vorlesungen, deutsch von Möhius, Heft 1, 1891.
Paranoide Formen.
199
einer eigenen psychischen Krankheitsform geknüpft, des „dölire
chronique ä Evolution systömatique“ (Paranoia completa,
Möbius). Unter dieser Bezeichnung fasst er alle diejenigen Fälle
chronischer Wahnbildung zusammen, bei welchen auf die Vorbe-
reitung unter dem Eintritte von Sinnestäuschungen verschiedener
Art eine Zeit der Verfolgung, dann eine solche der Grössen-
vorstellungen und endlich der Schwachsinn folgt. Die Dauer der
einzelnen Abschnitte und die Schnelligkeit, mit der sie einander
ablösen, kann dabei eine sehr verschiedene sein. Gerade die hier
beschriebenen Formen würden etwa der Schilderung Magnan’s
entsprechen. Die später zu beschreibende Paranoia wäre voll-
ständig davon abzutrennen; sie gehört nach seiner Ansicht zu
einer wesentlich anderen Gruppe von Psychosen, zum „Irresein
der Entarteten“. Wenn ich auch selbst diese Abgrenzung hier
versucht habe, möchte ich doch darauf hinweisen, dass sich die
Eintheilung in bestimmte Abschnitte bei unseren Kranken viel-
fach nur sehr künstlich durchführen lässt, dass es ferner hier
Fälle ohne Grössenwahn giebt, und dass bei der Paranoia die-
selbe Verbindung von Kleinheitsideen mit Grössenvorstellungen
stattzufinden pflegt wie hier. Endlich aber muss mit Entschieden-
heit darauf hingewiesen werden, dass sich unter denjenigen
Kranken, auf welche Magnan’s Beschreibung passt, namentlich
unter denen mit physikalischem Verfolgungswahn, zum mindesten
ebenso viele deutlich „Degenerirte“ finden, wie unter den Queru-
lanten und Verrückten, deren Psychose er dem Irresein der Ent-
arteten zurechnet.
Den Ausgang des Leidens bildet regelmässig die psychische
Schwäche. In einer kleineren Anzahl von Fällen treten nach einer
Reihe von Jahren die Wahnvorstellungen allmählich vollständig
zurück; es kann sogar zu einer gewissen Einsicht in die Krank-
haftigkeit derselben kommen. Dagegen bleibt immer eine erhebliche
Einbusse an geistiger Leistungsfähigkeit zurück, Schwäche des Ge-
dächtnisses und des Urtheils, gemüthliche Stumpfheit, Verlust der
Thatkraft und der Regsamkeit. Oder aber die Kranken halten noch
an ihren Wahnvorstellungen fest, werden aber gleichgültig dagegen
und erzeugen keine neuen mehr. Hier pflegen dio krankhaften
Vorstellungen mehr und mehr zu verblassen und nur vereinzelt
und gelegentlich noch emporzutauchen. Die Kranken sprechen von
200
V. Die Dementia praecox.
ihnen wie von anderen, fernliegenden Dingen und ziehen keine
Folgerungen mehr daraus. Der „rex totius mundi“ beschäftigt sich
mit Gartenarbeit, der „Herrgott“ mit Holztragen, die „Braut Christi“
mit Nähen und Flicken. Am häufigsten jedoch scheint die Krank-
heit zu wahnhafter Verworrenheit zu führen. Die krankhaften Vor-
stellungen werden zusammenhangsloser und unverständlicher, zer-
fahrener; Absonderlichkeiten im Handeln und Benehmen treten
immer zahlreicher hervor, so dass schliesslich die Ordnung der Ge-
35
<ffr.hne
danken wie die äussere Haltung vollständig verloren geht. Er-
regungszustände und Neigung zu Gewaltthätigkeit sind hier nicht
selten. Späterhin kann mit dem Fortschreiten der Verblödung ein
ruhiger, faseliger Schwachsinn zu Stande kommen, bei dem von den
ursprünglichen Wahnbildungen höchstens noch kümmerliche Reste
aufzufinden sind. —
Die Dementia praecox ist im allgemeinen eine Erkrankung der
jugendlicheren Lebensalter. Die obenstehende Zeichnung stellt die
procentische Vertheilung von 296 Fällen auf die einzelnen Leben»-
Ursachen.
201
jahrfünfte dar. Mehr als 60 °/0 der Fälle beginnen demnach vor dem
25. Lebensjahre. Dazu ist indessen zu bemerken, dass sich die
einzelnen Gruppen des ganzen Gebietes etwas verschieden verhalten.
Von den einfach hebephrenischen Formen fallen 72, von den kata-
tonischen 68 und von den paranoiden nicht ganz 40 °/0 vor das
25. Lebensjahr. Der Krankheitsvorgang scheint sich demnach in
jugendlichem Alter am häufigsten in Form einer einfachen, meist
allmählich auftretenden Verblödung abzuspielen, während etwas
später mehr die acuten und subacuten Formen mit katatonischen
Erscheinungen und noch später die ausgeprägteren Wahnbildungen
in den Vordergrund treten. Irgend eine brauchbare Erklärung für
diese Unterschiede aufzufinden, ist mir bisher trotz aller Bemühungen
nicht gelungen.
Auf die nahen Beziehungen der Hebephrenie zu den Entwick-
lungsjahren, wie sie durch den Namen des „Jugendirreseins“ ange-
deutet wird, hat schon Hecker seinerzeit hingewiesen. Er war
sogar geneigt, die Ausgänge seiner Hebephrenie geradezu als ein
Stehenbleiben desgesammten psychischen Lebens auf der Entwicklungs-
stufe der Pubertätsjahre zu betrachten. Wenn gegen diese Auffassung
auch die Häufigkeit tiefer Verblödung spricht, welche eben einen
Rückschritt, nicht einen einfachen Stillstand der geistigen Aus-
bildung darthut, so finden wir doch in dem vorzeitigen Schwach-
sinn viele Züge wieder, die uns aus den gesunden Entwicklungs-
jahren wohlbekannt sind. Dahin gehört die Neigung zu unpassender
Lectüre, die naive Beschäftigung mit den „höchsten Problemen“, die
unreife „Schnellfertigkeit“ des Urtheils, die Freude an Schlagwörtem
und klingenden Redensarten. Schon bei einer früheren Gelegenheit
wurde ferner darauf hingewiesen, dass sich im Entwicklungsalter gewisse
psychische Wandlungen vollziehen, die wir vielleicht als das gesunde
Vorbild leichter manischer Erregungen betrachten dürfen. Der unver-
mittelte Stimmungswechsel, die Niedergeschlagenheit und Ausgelassen-
heit, die gelegentliche Reizbarkeit und Triebartigkeit der Entwick-
lungsjahre begegnen uns beim vorzeitigen Schwachsinn in schärferer
Ausprägung, die vielfach geradezu an manische Zustände erinnert.
Auch die Abgerissenheit der Gedankengänge, das bald gespreizte,
trrosssprecherische, bald verlegene, scheue Wesen, das alberne
Lachen, die läppischen Scherze, die gezierte Sprechweise, die gesuchte
Derbheit und die gewaltsamen Witze sind Erscheinungen, welche
202
V. Die Dementia praecox.
beim Gesunden wie beim Kranken auf jene leichte innere Erregung
hindeuten, mit welcher die Umwälzungen der Geschlechtsentwicklung
einherzugehen pflegen.
Die beiden Geschlechter sind an der Dementia praecox in
gleichem Maasse betheiligt. Dagegen überwiegen bei den hebe-
phrenischen Formen die Männer mit 64 °/0, bei den katatonischen
und paranoiden Formen dagegen die Frauen mit 58 und 59 °/0.
Diese Erfahrung wird durch den Umstand noch näher beleuchtet,
dass anscheinend gewisse ursächliche Beziehungen zwischen dem
Fortpflanzungsgeschäfte beim Weibe und namentlich der Katatonie
bestehen. Nicht nur fanden sich bei etwa 18°/0 der erkrankten
Frauen Menstruationsstörungen, sondern in 24% der Fälle ent-
wickelte sich die Katatonie geradezu während der Schwangerschaft
oder, häufiger, im Anschlüsse an das Wochenbett. Einmal knüpften
sich die vier Schübe, in denen die Krankheit verlief, je an eine
Geburt an, bis der letzte die endgültige Verblödung brachte. In
einem anderen Falle begann die Krankheit ebenfalls im Wochen-
bette, um nach einer längeren Remission mit dem Eintritte neuer
Schwangerschaft in schwerem Rückfalle zu enden. Bei den hebe-
phrenischen Erkrankungen waren derartige Erfahrungen ungleich
seltener; ich konnte sie nur in etwa 9% verzeichnen.
Von sonstigen Ursachen der Dementia praecox ist wenig zu
berichten. Bei etwa 10 — ll°/0 meiner Kranken waren dem Leiden
schwere acute Krankheiten voraufgegangen , am häufigsten Typhus
oder Scharlach. In der Regel waren allerdings bis zum Auftreten
der psychischen Störung viele Jahre vergangen, so dass von einem
unmittelbaren Zusammenhänge keine Rede sein konnte. Hie und
da jedoch wurde angegeben, dass seit der körperlichen Erkrankung
schon eine gewisse Veränderung an dem Kranken bemerkt worden
sei, grössere Reizbarkeit, Herabsetzung der geistigen Leistungsfähig-
keit, auffallende Ermüdbarkeit. In einzelnen Fällen wurde über
Hirnentzündungen in der Jugend berichtet, nicht ganz selten auch
über Kopfverletzungen; dieselben sind jedoch überhaupt so häufig,
dass sie für ursächliche Feststellungen nur ganz ausnahmsweise zu
verwerthen sind. Der Alkoholmissbrauch scheint für die Entstehung
der Dementia praecox keine Bedeutung zu haben, wol aber viel-
leicht die Gefangenschaft. Mehr als 3°/0 meiner Kranken oder 6 °/0
der Männer erkrankten im Gefängnisse, nicht immer in Einzelhaft.
Ursachen.
203
Hier und im Wochenbette handelte es sich vorzugsweise um acute
und subacute Formen; die Gefangenschaft begünstigte das Auftreten
paranoider, das Wochenbett dasjenige katatonischer Krankheitsbilder.
Erbliche Veranlagung zu Geistesstörungen fand sich in etwa
70°/o derjenigen Fälle, in denen über diesen Punkt verwerthbare
Angaben Vorlagen. Von den einzelnen Gruppen schienen die hebe-
phrenischen Formen etwas weniger, die paranoiden dagegen noch
stärker durch erbliche Veranlagung beeinflusst zu werden. Einmal
sah ich zwei Geschwister unabhängig von einander mit ganz den-
selben unsinnigen Wahnbildungen erkranken. In etwa 20 °/0 der
Fälle waren von Jugend auf allerlei Eigenthiimlichkeiten des Wesens
bemerkt worden, Verschlossenheit, Aengstlichkeit, Schrullenhaftigkeit
Reizbarkeit, .Neigung zu übertriebener Frömmelei oder zum Ver-
brechen. Auch körperliche Entartungszeichen fanden sich öfters,
Kleinheit oder Verbildungen des Schädels, kindlicher Habitus,
mangelhafte Zähne, verbildete Ohren, Strabismus, überzählige Brust-
warzen, allgemeine Schwächlichkeit, ferner die Andeutungen eines
leicht erreglichen Gehirns, Delirien bei geringem Fieber, Zahn-
krämpfe in der Jugend, geringe Widerstandsfähigkeit gegen Alkohol,
sehr früh sich regender, mangelnder oder widernatürlicher Geschlechts-
trieb. Die ursprüngliche geistige Begabung war in 60°/o der Fälle
eine gute; 17 °/0 der Kranken wurden sogar als vorzüglich veranlagt
geschildert. Ein Drittel der Kranken war leidlich oder mässig be-
gabt, nur 7°/0 geradezu schlecht oder von Jugend auf schwachsinnig.
Das eigentliche Wesen der Dementia praecox ist gänzlich dunkel.
Am verbreitetsten ist wol zur Zeit die Ansicht, dass wir es hier
mit dem allmählichen Versagen einer unzulänglichen Anlage zu thun
haben. Wie ein Baum, dessen Wurzeln im vorhandenen Erdreiche
keine Nahrung mehr finden, so sollen die geistigen Kräfte schwinden,
sobald die ungenügende Mitgift eine weitere Entfaltung nicht mehr
gestattet. Allein gegen diese Auffassung erheben sich sehr gewichtige
Bedenken. Es ist nicht zu verstehen, warum ein Organismus, der
sich bis dahin meist in gesunder, öfters sogar in kräftiger Weise
entwickelt hat, ohne besondere Ursache mit einem Male nicht nur
in seiner Fortbildung Halt machen, sondern vielfach geradezu dem
Siechthume verfallen soll. Selbst die schwerste krankhafte Veran-
lagung durch Geisteskrankheit bei Vater oder Mutter, wie sie bei
der Dementia praecox in 18 — 19°/0 vorkommt, würde einen der-
204
V. Die Dementia praecox.
artigen Vorgang nicht zu erklären vermögen. Im Gegentheil sehen
wir bei den anerkannt auf dem Boden der erblichen Entartung
erwachsenden Geistesstörungen regelmässig nicht den raschen
geistigen Verfall wie hier, sondern vielmehr dauernde krank-
hafte Zustände von sehr langsamer Entwicklung oder periodische
Erkrankungen.
Wir werden durch diese Ueberlegungen unmittelbar zu der
Annahme gedrängt, dass es sich hier um einen greifbaren Krank-
heitsvorgang im Gehirn handeln muss. Thatsächlich haben sich
auch in den verhältnissmässig wenigen Fällen, die mit zuverlässigen
Hülfsmitteln genauer untersucht wurden, Veränderungen nachweisen
lassen, die kaum eine andere Erklärung zulassen. Erst dadurch
wird der oft so ungemein rasche geistige Verfall überhaupt ver-
ständlich. Wir kommen somit zu dem Schlüsse, dass in der Dementia
praecox höchst wahrscheinlich eine theilweise Schädigung oder Ver-
nichtung von Hirnrindenzellen stattfindet, die sich in einzelnen
Fällen wieder ausgleichen kann, meist aber eine eigenartige, dauernde
Beeinträchtigung des Seelenlebens nach sich zieht. Durch welchen
Krankheitsvorgang diese Störungen herbeigeführt werden, wissen wir
zur Zeit ebenso wenig wie bei der Idiotie oder Epilepsie. Immer-
hin sprechen die bisherigen Rindenbefunde wol am meisten für die
Annahme einer chemischen Schädlichkeit. Bei der nahen Beziehung
der Krankheit zum Entwicklungsalter, zu Menstruationsstörungen,
zum Fortpflanzungsgeschäfte, bei dem Fehlen jeder erkennbaren
äusseren Ursache liegt es wol am nächsten, an eine Selbstver-
giftung zu denken, die möglicherweise in irgend einem näheren
oder entfernteren Zusammenhänge mit Vorgängen in den Geschlechts-
organen stehen könnte. Gerade in dieser Beziehung ist die Er-
fahrung lehrreich, dass auch manche Idioten und Epileptiker zur
Zeit der Geschlechtsentwicklung einen entschiedenen Rückgang ihrer
geistigen Kräfte darbieten. Manche Fälle von hebephrenischen Er-
krankungen bei Imbecillen entsprechen ganz derartigen Erfahrungen.
Unter dieser Voraussetzung würde die Häufigkeit der erblichen
Veranlagung zu Geistesstörungen und deren körperlicher und psy-
chischer Anzeichen nur eine verminderte "Widerstandsfähigkeit gegen
die eigentliche Krankheitsursache bedeuten. Aehnlich wäre etwa die
vorbereitende Wirkung acuter Krankheiten und der Gefangenschaft
aufzufassen.
Abgrenzung und Erkennung.
205
Ob die Dementia praecox in dem hier umschriebenen Umfange
eine einheitliche Krankheit darstellt, muss vor der Hand zweifelhaft
bleiben. Sie würde etwa 14 — 15 °/0 aller Aufnahmen in die Irren-
anstalt umfassen, wenn wir je 5 — 6 °/0 auf die hebephrenischen und
katatonischen, den Rest auf die paranoiden Formen rechnen. Es
ist sehr möglich, dass wir es hier mit einer Reihe von ähnlichen
Krankheitsvorgängen zu thun haben, deren gemeinsame Wirkung in
der Schädigung oder Zerstörung bestimmter Rindengebiete liegt.
Heute sind wir indessen ausser Stande, in dieser Fülle verschieden-
artiger Krankheitsbilder irgend welche scharfen Grenzen zu ziehen;
überall finden sich Uebergangsformen zwischen den einzelnen
klinischen Gruppen. Wir wollen daher an dieser Stelle ganz darauf
verzichten, genauer auf die Abtrennung der hebephrenischen, kata-
tonischen und paranoiden Formen untereinander einzugehen. Da-
gegen wird es von hervorragender wissenschaftlicher wie praktischer
Wichtigkeit sein, im einzelnen Falle die Dementia praecox von
anderen Erkrankungen mit wesentlich abweichender Prognose unter-
scheiden zu können.
Bei den hebephrenischen Formen mit langsamer Entwicklung
kann zunächst die Abgrenzung von neurasthenischen Zuständen
in Betracht kommen. Massgebend sind hier vor allem die Zeichen
der psychischen Schwäche, die Unsinnigkeit der hypochondrischen
Klagen , die Urtheilslosigkeit, die Unzugänglichkeit gegenüber den
beruhigenden Versicherungen des Arztes, die gemüthliche Stumpf-
heit, das Ausbleiben der Besserung beim Ausspannen, ferner die
mehr oder weniger deutlichen Erscheinungen der Befehlsautomatie
oder des Negativismus. Auch Sinnestäuschungen und Triebhandlungen
sprechen durchaus für Dementia praecox.
Ungemein schwierig kann in den mittleren Lebensjahren öfters die
Abgrenzung der Dementia praecox von der Paralyse werden, wenn keine
entscheidenden körperlichen Zeichen vorhanden sind. Die psychischen
Bilder können einander in hohem Grade gleichen, um so mehr, da auch
in der Paralyse bisweilen allerlei katatonische Zeichen auftreten, Kata-
lepsie, Mutacismus, Verbigeration, Stereotypen. Allerdings pflegen diese
Erscheinungen hier nicht so mannigfaltig und so eigenartig ausgeprägt
zu sein wie in der Katatonie; auch tritt die einfache Unfähigkeit
und Willensschwäche bei der Paralyse mehr in den Vordergrund
gegenüber der Schrullenhaftigkeit und Unlenksamkeit des Katatonikers ;
206
V. Die Dementia praecox.
der geistige Verfall nimmt beim Paralytiker meist rascher schwere
Formen an. Endlich aber ergeift die Störung hier am stärksten
das Gebiet der Auffassung und Orientirung, namentlich aber des
Gedächtnisses und der Merkfähigkeit, während bei den Kranken mit
Dementia praecox gerade diese geistigen Leistungen im Verhältnisse
zu der ausgeprägten gemüthlichen Stumpfheit und der Urtheils-
schwäche lange Zeit überraschend gut erhalten bleiben. Die Aus-
bildung von stehenden Manieren macht die Dementia praecox recht
wahrscheinlich, während das Auftreten von Sprachstörung, Pupillen-
starre, Coordinationsstörungen natürlich die Paralyse sichert
Die Zustände von Benommenheit und Verwirrtheit im Beginne
der Erkrankung pflegen allgemein als Amentia aufgefasst zu werden.
Will man jedoch, wie es hier geschehen ist, die nach Ursache, Er-
scheinungsform und Verlauf durchaus eigenartigen Erschöpfungs-
psychosen von der wesentlich verschiedenen Dementia praecox ab-
trennen, so ist besonders auf den Negativismus und die Stereotypie
Gewicht zu legen. Auch die Befehlsautomatie in ihren verschiedenen
Gestaltungen pflegt bei der eigentlichen Amentia, wenn auch nicht
ganz zu fehlen, so doch weit schwächer ausgebildet zu sein. Die
Kranken benehmen sich natürlicher, ungezwungener, nicht läppisch
und schrullenhaft. Die Verarbeitung der Wahrnehmungen und
namentlich die Orientirung und Merkfähigkeit sind in der Amentia
weit stärker gestört, als in der Dementia praecox. Jene Kranken
sind trotz besten Willens unfähig, längere zusammenhängende geistige
Aufgaben zu lösen, sich auf einfache Bruchstücke ihres Wissens
schnell zu besinnen, verlieren fortwährend den Faden, ergehen sich
in beziehungslosen Erinnerungen, geben aber auf die einzelne Frage
rasche und zutreffende Antwort. Dagegen liefern die Kranken mit
Dementia praecox zwar oftmals ganz imsinnige oder überhaupt
keine Antworten, können aber plötzlich durch eine geordnete Er-
zählung, eine treffende, von Nachdenken zeugende Bemerkung über-
raschen, bringen vielleicht selbst schwierigere geistige Leistungen zu
Stande, beherrschen geschichtliche und geographische Thatsachen.
Zudem besteht in der Amentia eine ausgeprägte, wenn auch häufig
unvermittelt wechselnde Färbung der Stimmung; die Kranken weinen
und jammern plötzlich lebhaft, sind im nächsten Augenblicke gereizt
und heftig, um dann wieder freundlich zu lachen oder zu singen.
In der Dementia praecox dagegen fällt uns auch während lebhafter
Erkennung.
207
Erregungen meist sehr deutlich der Mangel an tieferer gemiithlicher
Ergriffenheit ins Auge, die Stumpfheit und innere Gleichgültigkeit.
Daher sehen wir auch die Kranken mit Amentia zwar ohne genaues
Verständnis, aber mit lebhafter Aufmerksamkeit den Vorgängen in
der Umgebung folgen, während in der Dementia praecox die Kranken
merkwürdig wenig Theilnahme für dasjenige zeigen, was sie recht
gut aufgefasst und begriffen haben. Dass der Amentia immer, der
Dementia praecox nur hie und da einmal eine erschöpfende Ursache
vorausgeht, soll nur noch kurz erwähnt werden.
Wiederholt ist es mir begegnet, dass ich beginnende Katatonien
für epileptische Dämmerzustände gehalten habe. Die Verwechselung
liegt besonders nahe, wenn etwa ein Krampfanfall voraufgegangen
ist. Einen Anhalt für die Unterscheidung wird der Negativismus
des Katatonikers gegenüber dem ängstlichen Widerstreben des Epi-
leptikers geben können. Auffassung und Orientirung dürften im
epileptischen Dämmerzustände meist schwerer gestört sein, als beim
Katatoniker. Sinnlose Antworten auf einfache Fragen, rasche,
richtige Ausführung von Aufforderungen sprechen mehr für Kata-
tonie. Bei der Epilepsie pflegt sich deutlich die ängstliche oder
verzückte Stimmung kund zu geben; das Handeln ist nicht sowol
triebartig wie durch bestimmte wahnhafte Vorstellungen und Ge-
fühle beheiTScht, die auch in den Reden zu Tage treten. Daher
sehen wir den Epileptiker häufiger Angriffe, Fluchtversuche machen,
Gewaltthaten begehen, während die Handlungen des Katatonikers
die Kennzeichen des Sinnlosen, Absonderlichen, häufig auch des
Stereotypen tragen. Natürlich wirddieVorgeschichte meist, der weitere
Verlauf immer die Sachlage rasch klären.
Erhebliche Schwierigkeiten pflegt die Unterscheidung zwischen
einer beginnenden Dementia praecox und dem ersten, depressiven
Anfalle eines manisch-depressiven Irreseins zu bieten. Frühzeitiges
Auftreten zahlreicher Sinnestäuschungen und unsinniger Wahnvor-
stellungen muss immer den Verdacht auf Katatonie erwecken. Die
Stimmung des Katatonikers ist im Zusammenhalt mit dem Inhalte
seiner Wahnvorstellungen auffallend gleichgültig; er nimmt an den
Vorgängen in der Umgebung keinerlei Antheil, begrüsst seine An-
gehörigen nicht, wenn sie ihn besuchen, spricht dabei kein Wort,
verzehrt aber vielleicht mit Gier alles, was sie ihm mitgebracht
haben. In der circulären' Depression wird man dagegen niemals
208
V. Die Dementia praecox.
innere Angst oder tiefe Traurigkeit vermissen. Besuche können
hier zu plötzlichen Leidenschaftsausbrüchen von ausserordentlicher
Heftigkeit führen und pflegen fast immer einen erheblichen Einfluss
auf den Zustand auszuüben, meist in ungünstigem Sinne.
Yon grosser Wichtigkeit ist es endlich, den Negativismus des
Katatonikers nicht mit dem ängstlichen Widerstreben und der
Hemmung im manisch-depressiven Irresein zu verwechseln. Dort
begegnen wir dem* starren Widerstande bei jedem Versuche der
Lageänderung, aber erst bei wirklichem Eingreifen; dagegen werden
einfache oder auch schmerzhafte Berührungen imd selbst gefährliche
Bedrohungen (Nadel am Auge) meist ohne stärkere Abwehr ertragen,
und endlich kann der Widerstand von selbst oder unter dem Ein-
flüsse vorsichtigen Zwanges ohne weiteres in Befehlsautomatie über-
gehen. Hier dagegen beginnt das Widerstreben mit der drohenden
Gefahr, gleichviel, ob eine Lageänderung stattfindet oder nicht:
auch nehmen die aus ihrer Stellung gebrachten Glieder nicht mit
unverbrüchlicher Zähigkeit wieder genau die frühere Haltung an.
Zugleich führt jede drohende Annäherung zu lebhaften Gefühls-
äusserungen, zu Aufschreien, Ausweichen, ängstlicher Abwehr. Der
stuporöse Katatoniker bewegt sich meist wenig oder gar nicht be-
sonders nicht auf Aufforderung. Wenn er aber doch handelt, so
geschieht das ohne erkennbare Verlangsamung, oft sogar ungemein
schnell, während beim Gehemmten jede einzelne Bewegung langsam
und zögernd zu Stande kommt, wie sich nicht selten schon beim
einfachen Erheben der Arme oder beim Zählen darthun lässt. Auch
hier bleibt freilich manche geforderte Bewegung ganz aus, weil
Angst oder zu starke Hemmung sie unterdrückt ; im letzteren Falle
sieht man häufig wenigstens die Ansätze zu der verlangten Hand-
lung (leise Lippenbewegungen, Zucken in den Fingern), namentlich
wenn die Hemmung allmählich durch kräftiges Zureden überwunden
wird. Umgekehrt kann man beim Katatoniker beobachten, wie der
etwa anfangs auftretende Antrieb unmittelbar darauf unterbrochen,
rückgängig gemacht, vielleicht bei weiterem Zureden sogar in sein
Gegentheil verkehrt wird. In den manisch-depressiven Mischzuständen
kann zwar, wie es scheint, das wichtige Kennzeichen der psycho-
motorischen Hemmung fehlen, so dass die äusserliche Aehnlichkeit
mit dem katatonischen Stupor noch grösser wird. Immerhin dürfte
hier die eigenthümlich lustige Stimmung, die lebhafte Aufmerksamkeit
Erkennung.
209
bei verhältnissmässig starker Denkstörung, endlich das gelegentliche i
zweckvolle, übermüthige Handeln der Manischen gegenüber der
läppischen Heiterkeit, der Gleichgültigkeit, den sinnlosen Bewegungs-
antrieben der Katatoniker meist die Unterscheidung nicht allzu
schwer machen.
Die Stuporzustände der Paralytiker lassen sich in erster Linie
durch den Nachweis körperlicher Störungen abgrenzen. Ausserdem
aber pflegt die Bewusstseinstrübung und die Auffassungsstörung
tiefer zu sein; Gedächtniss und Merkfähigkeit sind regelmässig
weit schwerer geschädigt. Die kennzeichnenden katatonischen Er-
scheinungen sind meist nur schwach ausgeprägt. Der Negativismus
zeigt geringe Hartnäckigkeit und beschränkt sich gewöhnlich auf
Mutacismus, Nichtbefolgung von Aufforderungen oder Nahrungs-
verweigerung; Triebhandlungen kommen wesentlich als einzelne Be-
wegungsstereotypen vor, und die schrullenhaften Manieren, die be-
ziehungslosen Antworten, die Sprachverwirrtheit dürften höchstens
andeutungsweise bei der Paralyse beobachtet werden.
Von grosser Wichtigkeit ist es, die Erregungszustände der
Dementia praecox, insbesondere der Katatonie, von manischen An-
fällen zu unterscheiden. Die Besonnenheit ist in der Manie stärker
gestört, als in der Katatonie. Während hier die Kranken auch in der
wildesten Tobsucht meist über ihre Umgebung noch ganz klar sind,
werden wir in den schwersten manischen Erregungen stets einer
erheblichen Störung der Auffassung, des Denkens und der Orien-
tirung begegnen. Andererseits sind die Reden Katatonischer häufig
völlig unsinnig trotz sehr geringer Erregung, während wir das
wenigstens ungefähre Verständniss für die manischen Gedanken-
gänge auch bei heftigster Tobsucht selten ganz verlieren. Da-
zu kommt in der Katatonie das Kleben an einzelnen Ausdrücken
bis zur ausgeprägten Verbigeration, während der manische Gedanken-
gang trotz aller Zusammenhangslosigkeit doch fast immer das Fort-
schreiten von einem Vorstellungskreise zum anderen erkennen lässt.
Auch sinnloses, einförmiges Silbengeklingel spricht entschieden für
Katatonie. Die Aufmerksamkeit des Katatonikers beschäftigt sich
kaum mit der Umgebung, obgleich dieselbe recht gut aufgefasst
wird; der Manische nimmt ungenau und flüchtig wahr, wendet sich
aber jeder neuen Erscheinung zu, die in seinen Gesichtskreis ein-
tritt. Von ihm wird der Arzt sofort angeredet, mit einem Schivall
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 14
210
V. Die Dementia praecox.
von Worten überschüttet, während der katatonisch Erregte sich gar
nicht um ihn kümmert, in seinem Bewegungsdrange einfach fort-
fährt und nur durch besondere Bemühungen zu einer sinngemässen
Antwort gebracht werden kann. Die Stimmung ist in der Manie
meist lustig gehoben oder gereizt, in der Katatonie läppisch, kindisch
ausgelassen oder gleichgültig.
Zu beachten ist ferner namentlich die Zwecklosigkeit der katatoni-
schen Bewegungen gegenüber demBeschäftigungsdrange desManischen,
der regelmässig Beziehungen zur Umgebung sucht. Dort sind die
Bewegungen einförmig, wiederholen sich ungezählte Male in gleicher
Weise, während sie hier, von wechselnden Eindrücken, Vorstellungen
und Gefühlen abhängig, immer neue Formen anzunehmen pflegen.
Daher spielt sich der Bewegungsdrang des Katatonischen oft auf
kleinstem Raume, etwa in einem Theile des Bettes ab; der Manische
sucht dagegen überall nach Gelegenheit zur Betätigung, läuft herum,
beschäftigt sich mit anderen Kranken, folgt dem Arzte, treibt den
verschiedenartigstenUnfug. Dazu kommen die Zwangsmässigkeit und
Gespreiztheit der Bewegungen, die Manieren und unsinnigen An-
triebe bei der Katatonie, im Gegensätze zu dem natürlichen und
dem Gesunden viel verständlicheren Benehmen des Manischen. Mit
anderen Worten: In der Manie sind Auffassung, Denken, Orien-
tirung verhältnissmässig stärker gestört, als in der Katatonie, während
hier durch die Krankheit namentlich die gemüthlichen Beziehungen,
das Handeln und der sprachliche Ausdruck in eigenartiger Weise
geschädigt werden.
Schwere paralytische Erregungen können den katatonischen ausser-
ordentlich ähnlich sein. Abgesehen von der Vorgeschichte, dem Lebens-
alter und den körperlichen Zeichen der Paralyse wird hier nament-
lich auf die tiefe Benommenheit der Paralytiker in solchen Zuständen
Gewicht zu legen sein. Auffassung, Merkfähigkeit, Denken und
Orientirung sind dabei, im Gegensätze zu dem Verhalten der Kata-
toniker, immer erheblich gestört.
Manche Erregungsanfälle der Katatoniker ähneln in hohem
Grade hysterischen Zuständen, namentlich, wenn sie mit allerlei
Krampferscheinungen verbunden sind. Für die Unterscheidung ist
in erster Linie die psychische Schwäche der Katatoniker zu ver-
werten, die Zerfahrenheit des Gedankenganges, die Urteilslosigkeit,
die unsinnigen Einfälle und Ideen Verbindungen, ihre gemütliche
Erkennung.
211
Stumpfheit, die Einförmigkeit und Ziellosigkeit ihres Handelns.
Allen diesen Zügen steht die Findigkeit und Ueberlegtheit, die
Launenhaftigkeit und Empfindlichkeit, die berechnende Schlauheit
und planmässige Hartnäckigkeit der Hysterischen gegenüber. Auch
die ungeheuerlichen Wahnbildungen und Sinnestäuschungen der
Katatonischen werden die Entscheidung erleichtern, ebenso natürlich
der weitere Verlauf.
Die vielfachen Wahnbildungen im Verlaufe der Dementia
praecox geben überaus häufig zu der Diagnose der Paranoia
Veranlassung. Die grosse Mehrzahl der von anderen Irrenärzten
mit diesem Namen belegten Fälle gehört nach meiner Ueber-
zeugung dem hier gezeichneten Krankheitsbilde an, vor allem
natürlich den paranoiden Formen. Ich stütze diese Auffassung auf
die Erfahrung, dass diese Zustände entweder nach verhältnissmässig
kurzer Zeit regelmässig in einfachen Schwachsinn ohne nennens-
werthe Wahnvorstellungen oder in Verworrenheit übergehen, bei
der von irgend einem „System“ meist ebenso wenig die Rede sein
kann wie von dauerndem Festhalten der gleichen Ideen. In diesen
Sätzen liegen schon die wesentlichsten Anhaltspunkte für eine Ab-
trennung der Paranoia von der Dementia praecox. Bei der eigent-
lichen Paranoia entwickeln sich die Wahnvorstellungen immer ganz
allmählich, im Laufe von Jahren, hier sehr häufig innerhalb einiger
Monate, unter ausgesprochener trauriger oder ängstlicher Verstimmung,
öfters auch ganz plötzlich mit dem Auftreten zahlreicher Sinnes-
täuschungen. Ueberhaupt spielen diese letzteren bei der Dementia
praecox eine sehr grosse Rolle, während sie bei der Paranoia gegen-
über der wahnhaften Vermuthung und Deutung meist ganz im
Hintergründe stehen. Die rasch hereinbrechende geistige Schwäche
macht sich hier in der Unsinnigkeit der Wahnbildungen bemerkbar,
die bald über jede Möglichkeit hinausgehen. Die Kranken empfinden
keine Widersprüche mehr, haben gar nicht das Bedürfniss, den Wahn
mit ihrer bisherigen Weltanschauung in Einklang zu bringen; ihre
Gedankengänge werden verworren, zusammenhangslos. In der
Paranoia dagegen ist der Wahn wesentlich eine krankhafte Deutung
und Auslegung wirklicher Ereignisse. Die Widersprüche mit der
sonstigen Erfahrung werden empfunden und ebenso wie nahe liegende
Einwände durch besondere Gedankenarbeit ausgeglichen. Der innere
Zusammenhang des gesunden wie des wahnhaften Denkens bleibt
14*
212
V. Die Dementia praecox.
bis an das Ende des Kranken erhalten. In der Dementia praecox
verschwinden die Wahnbildungen vielfach oder -werden durch andere
abgelöst. Beim Paranoiker bleibt der Kern des Wahnes immer
derselbe; nur können sich an denselben im Laufe der Zeit all-
mählich weitere, in derselben Richtung liegende Vorstellungen an-
schliessen, jedoch ohne Widerspruch und ohne Verlust früherer
wahnhafter Erkenntnisse.
Die äussere Haltung und die geistige Leistungsfähigkeit
pflegt in der Dementia praecox schon nach kurzer Zeit em-
pfindlich zu leiden ; vielfach stellen sich Stereotypen und
Manieren ein, schliesslich bisweilen selbst völlige Sprachverwirrtheit
mit Wortneubildungen. Dem gegenüber bewahrt der Paranoiker
äusserlich stets die Haltung des Gesunden, bleibt nicht selten auf
einzelnen Gebieten noch recht leistungsfähig, wenn auch ein all-
mählicher Rückgang der geistigen Fähigkeiten nicht zu verkennen
ist; er bietet niemals katatonische Zeichen dar und bleibt in Reden
und Handeln andauernd vollkommen geordnet. In der Dementia
praecox endlich begegnen wir unvermitteltem Wechsel des Zustandes,
ängstlichen oder heiteren Erregungen, Stuporzuständen, Remissionen
aller Krankheitszeichen. Dagegen verläuft die Paranoia ganz gleich-
mässig oder doch mit nur sehr geringfügigen Schwankungen, die
nach Inhalt und Dauer in engster Beziehung zu den Wahnvor-
stellungen stehen; Nachlässe kommen wol durch allmähliches
Verblassen der leidenschaftlichen Gefühlsbetonungen, nicht aber durch
Schwinden der Wahnvorstellungen zu Stande.
Die Endzustände der Dementia praecox können unter Um-
ständen als Imbecillität aufgefasst werden. Wo die deutlichen
Zeichen früherer Krankheitsvorgänge noch erkennbar sind, Sinnes-
täuschungen, Wahnbildungen, katatonische Erscheinungen, wird
freilich die Entscheidung leicht sein. Schwierig dagegen kann sie
ohne Kenntniss der Vorgeschichte werden, wenn entweder ein ganz
einfacher Schwachsinn zurückgeblieben ist, oder wenn schon von
Jugend auf ein gewisser Grad geistiger Schwäche bestauden hat,
der durch die hebephrenische Erkrankung nur eine Steigerung er-
fuhr. Im allgemeinen wird uns das Verhältniss der vorhandenen
Kenntnisse zu der augenblicklichen geistigen Leistungsfähigkeit zum
richtigen Verständnisse des einzelnen Falles führen. Wo sich heraus-
stellt, dass der Kranke sich früher Wissen und Fertigkeiten erworben
Behandlung.
213
hat, zu deren Aneignung er zur Zeit gänzlich unfähig erscheint,
muss eben ein Krankheitsvorgang zerstörend in das geistige Leben
eingegriffen haben. Oft gelingt es dann auch nachträglich, durch
Schulzeugnisse, Aufsätze, Briefe aus früherer Zeit den bestimmten
Nachweis eines mehr oder weniger deutlichen Rückganges der
geistigen Leistungsfähigkeit zu führen. —
Da wir die eigentlichen Ursachen der Dementia praecox nicht
kennen, wird die Behandlung derselben nur die Bekämpfung der
einzelnen Krankheitserscheinungen zur Aufgabe haben. Im Beginne
ist bei den acut und subacut entstehenden Fällen zur Verhütung
von Unglücksfällen und Selbstmorden meist die Verbringung in die
Anstalt geboten. Bettruhe, Ueberwachung, Sorge für Schlaf und
Nahrungsaufnahme sind hier die wichtigsten Erfordernisse. Bei den
Erregungszuständen sind Dauerbäder am Platze, während bei aus-
geprägter katatonischer Tobsucht unter Umständen durch die plan-
mässige Anwendung feuchter Wicklungen raschere und nachhaltigere
Beruhigung erzielt wird. Schlafmittel und Narkotica nützen hier in
der Regel wenig; höchstens kann man Hyoscin oder Sulfonal wurf-
weise versuchen. In einzelnen Fällen wird übrigens schon durch
einfaches Zureden wenigstens vorübergehend Beruhigung herbei-
geführt. Während der Stuporzustände tritt die Sorge für Rein-
haltung und Ernährung der Kranken in den Vordergrund. Gar
nicht selten zwingt die anhaltende Nahrungsverweigerung zur Sonden-
fütterung; regelmässige, häufige Wägungen sind dabei unerlässlich.
Der Gefahr vielfacher absichtlicher und unabsichtlicher Selbstver-
letzungen lässt sich durch die Anwendung von Polsterbett oder
Polsterzimmer einigermassen begegnen; trotzdem aber entstehen
immer noch oft genug Hautabschürfungen, Quetschungen, Furunkel
u. s. f., die dann eine sehr sorgfältige und meist ungemein schwierige
Behandlung erfordern, da die Kranken widerstreben, die Verbände
abreissen, sich immer aufs neue misshandeln.
Sobald die acuten Störungen zurücktreten, gilt es, nach Möglich-
keit zu erhalten, was die Krankheit nicht zerstört hat. Vielfach wird
nun die Rückkehr in die Familie möglich und sogar zweckmässig
sein, wenn die Verhältnisse einigermassen günstig und wenn nicht
Erregungszustände, Unreinlichkeit, Nahrungsverweigerung und ähn-
liche schwerere Erscheinungen zurückgeblieben sind. Selbst manche
der schwierigeren Kranken halten sich übrigens zu Hause über-
214
V. Die Dementia praecox.
raschend gut, so dass man mit Entlassungsversuchen nicht allzu
ängstlich zu sein braucht; bei weiblichen Kranken ist allerdings
immer die Gefahr einer Schwängerung bei mangelhafter Aufsicht
zu beachten. Die grosso Mehrzahl der geistigen Krüppel und Halb-
krüppel nach Dementia praecox sammelt sich allmählich in den
grossen Irren- und Pflegeanstalten an, ja diese Kranken bilden, da
sie nicht rasch absterben und oft ihr ganzes Leben in der Anstalt
zubringen, geradezu die Hauptmasse der versorgungsbe-
dürftigen Irren. Was ihnen noth thut, ist die Beschäftigung,
die allein im Stande ist, sie vor völligem Versinken in Stumpfsinn
zu bewahren. Eür sie sind daher vielleicht noch mehr, als für andere
Krankheitsformen, die Irrencolonien mit ihrer mannigfaltigen Be-
schäftigung und der freien, die Selbständigkeit möglichst erhalten-
den Behandlungsart ein kaum genug zu schätzender Segen. Viel-
fach sieht man hier selbst recht verblödete Kranke doch auf
beschränktem Gebiete, in Feld und Garten, in Viehstall oder Werk-
statt, beim Abschreiben, Zeichnen, Lesen, beim Kochen, Waschen oder
im Bügelzimmer, bei der Hausarbeit oder in der Kähstube noch
j freudig und nützlich den Rest von Fähigkeiten verwerthen, den
ihnen die Krankheit gelassen hat. Bei den ungemein häufig auf-
tretenden Erregungszuständen genügt meist die vorübergehende Ver-
setzung in die Wachabtheilung und Bettruhe.
YI. Die Dementia paralytica.
Aus der Reihe von Geisteskrankheiten, die mit gröberen ner-
vösen Störungen einhergehen und auf eine tiefer greifende, anatomisch
erkennbare Veränderung des Gehirnes hiudeuten, hat sich seit den
Schilderungen Bayles (1822) und Calmeils (1826), namentlich
aber im Laufe der letzten Jahrzehnte ein bestimmtes Krankheitsbild
herausgehoben, dessen Studium wegen der hervorragenden Be-
theiligung des Seelenlebens nicht der Hirnpathologie, sondern vor-
zugsweise der Psychiatrie anheimgefallen ist. In der That hat jene
ausgebreitete und fortschreitende Zerstörung der verschiedensten
Theile des Nervensystems, welche der Dementia paralytica zu Grunde
liegt, so erhebliche und mannigfaltige Veränderungen der psychischen
Leistungen zur Folge, dass sie vielfach die wichtigsten Erscheinungen
im Krankheitsbilde darstellen, während man die begleitenden ner-
vösen Störungen sogar lange Zeit hindurch als blosse „Complicationen“
aufzufassen geneigt war.
Das allgemeine klinische Bild der Dementia paralytica*) oder
progressiven Paralyse der Irren („Gehirnerweichung“) ist dasjenige
eines fortschreitenden Blödsinns mit sehr mannigfaltigen nervösen
Reizungs- und Lähmungserscheinungen. Die psychischen wie die
körperlichen Störungen erreichen regelmässig die denkbar höchsten
Grade, wenn nicht vorher ein Zwischenfall dem Leben ein Ende
macht; sie führen zur vollständigen Vernichtung der geistigen und
physischen Persönlichkeit. Vielfach wird dieser Vorgang auch auf
*) Voisin, traite de la paralysie generale des alienes. 1879; Mendel, Die
progressive Paralyse der Irren. 1880, Mickle, general paralysis of the insane,
2. ed. 1886; v. Krafft-Ebing, Nothnagels specielle Pathologie u. Therapie,
Bd. IX, 2. 1894; Ilberg, Volkmanns klinisch! Vorträge, 161.
216
VI. Die Dementia paralytica.
seelischem Gebiete von mehr oder weniger ausgeprägten Reiz-
erscheinungen begleitet, von Aufregungen, Verstimmungen, Wahn-
bildungen verschiedensten Inhaltes. Wasaberallen diesen Störungen den
gemeinsamen Stempel aufdrückt, das ist eine eigenartige psychische
Schwäche, welche dem Kundigen sofort die verhängnisvolle Grund-
lage des ganzen Krankheitsvorganges verräth.
Auf dem Gebiete der Verstandesthätigkeit zeigt sich vom
Herannahen der Krankheit an vielfach eine auffallende Erschwerung
der Auffassung und des Verständnisses äusserer Eindrücke, die sich
durch Messungen schon in ihren ersten Anfängen nachweisen lässt
Der Kranke wird zerstreut, unaufmerksam, nimmt die Vorgänge in
seiner Umgebung nicht mit der früheren Klarheit und Schärfe
wahr, achtet nicht mehr auf Einzelheiten, verwechselt und verkennt
Personen und Gegenstände, übersieht wichtige Umstände oder Ver-
änderungen, die ihm früher nicht entgangen wären, verirrt sich in
ihm sonst bekannten Gegenden. Ich entsinne mich eines Zimmer-
manns, der eines Tages plötzlich den Arbeitsplatz nicht mehr- auffand,
auf dem er bis dahin regelmässig beschäftigt gewesen war.
Auch wenn die Störung auf den ersten Blick noch nicht
stärker hervortritt, pflegt sie sich doch in der Unfähigkeit zu
dauernder Anspannung der Aufmerksamkeit geltend zu machen.
Das Verständniss für längere, verwickeltere Gedankengänge, für
feinere Anspielungen und Witze geht dem Kranken verloren-, er
vermag Erzählungen nicht mehr in ihrem Zusammenhänge zu
begreifen, überhört Theile derselben, bleibt nicht bei der Sache,
verliert den Ueberblick und vermag sich schliesslich selbst im Kreise
seiner gewohnten Verhältnisse und Obliegenheiten nur mit grosser
Mühe oder gar nicht mehr zurecht zu finden.
Auf diese Weise entwickelt sich eine mehr oder weniger aus-
gesprochene Bewusstseinstrübung, und der Kranke lebt nun wie
im Traume oder wie in einem leichten Rausche. Einer meiner Kranken
wurde daher vom Untersuchungsrichter geradezu für betrunken ge-
halten. Oft liefert schon im Beginne des Leidens diese eigentüm-
liche Benommenheit, welche den Kranken bis zu einem gewissen
Grade der Wirklichkeit entrückt, ein bedeutsames diagnostisches Merk-
mal. Späterhin kann die Desorientirtheit trotz anscheinender Besonnen-
heit in einzelnen Fällen bei oberflächlicher Betrachtung sogar den
Eindruck eines epileptischen Dämmerzustandes machen. Der Kranke
Allgemeine Krankbeitszeichen.
217
versteht wol die an ihn gerichteten Fragen, erzählt ziemlich geordnet,
hat aber keine Ahnung, wo er ist, mit wem er spricht, in welcher
Lage er sich befindet, beachtet die Vorgänge in seiner Umgebung
nicht, sondern lebt in einer ganz anderen Welt. In den letzten
Stadien der Krankheit sinkt dann die Helligkeit des Bewusstseins
dauernd und endgültig auf jene niedrigst möglichen Grade herab,
welche eine Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke völlig
ausschliessen.
Hit zu den ersten Zeichen der Krankheit gehört häufig eine Steige-
ning der Erm iidbarkei t. Dem Kranken fällt die langgewohnte Arbeit
auffallend schwer; er muss häufige, neue Anläufe nehmen, sich aus-
ruhen, fühlt sich nach kurzer Thätigkeit bereits abgespannt und unfähig.
Bei jeder kleinen Schwierigkeit stockt er, verliert leicht den Faden, muss
öfters von vorn anfangen. Nicht selten begegnet es ihm, dass er mitten
in der Arbeit von der Müdigkeit übermannt wird und einschläft.
Eine verhältnissmässig geringe Rolle pflegen in der Paralyse
Sinnestäuschungen zu spielen, so gering, dass man früher bis-
weilen ihr Vorkommen hier überhaupt geleugnet hat. Ohne Zweifel
verläuft wol die Mehrzahl der Fälle ohne solche Störungen; ebenso
imzweifelhaft ist es aber, dass ausgeprägte Trugwahrnehmungen
aller Sinne gelegentlich beobachtet werden. In vereinzelten Fällen
treten Gehörstäuschungen so sehr in den Vordergrund, dass die Er-
krankung zunächst in hohem Grade dem Wahnsinn der Trinker
oder Cocainisten gleichen kann. Bisweilen hört man die Kranken
mit verstellter Stimme auf ihre eigenen Aeusserungen antworten,
so dass eine Art Zwiegespräch mit einer eingebildeten Person zu
Stande kommt, ohne dass es sich jedoch um wirkliche Gehörs-
täuschungen handelt. Vielmehr werden hier Rede wie Gegenrede
von den Kranken laut vorgebracht, während es bei den Unter-
haltungen mit ,, Stimmen“ entweder ganz stumm hergeht oder doch
nur die Erwiderungen der Kranken auf ihre hallucinatorischen
Wahrnehmungen dem Hörer zugänglich sind. Gefühlstäuschungen
mit dem Wahne geheimnissvoller Beeinflussung kommen gar nicht
selten zur Beobachtung. Ueberaus lebhafte Gesichtstäuschungen
pflegen bei den Kranken mit Sehnervenatropbie vorzukommen, so
lebhaft, dass die Kranken ihre Blindheit gar nicht bemerken,
sondern sich in einer Welt von bunten, farbenreichen Gesichtsein-
drücken zu bewegen glauben. „Ich kann im Dunkeln sehen,“
218
VI. Die Dementia paralytica.
antwortete mir ein solcher Kranker entrüstet auf meine Frage,
ob er etwas wahrnehme; dabei war längst jede Spur von Seh-
vermögen erloschen.
Sehr tiefgreifend ist ausnahmslos die Beeinträchtigung, welche
Merkfähigkeit und Gedächtniss erleiden, so dass die Störungen
auf diesem Gebiete als ganz besonders kennzeichnend für die Para-
lyse angesehen werden dürfen. Im Anfänge ist es vielleicht die
unsichere und traumhaft verschwommene Auffassung äusserer Ein-
drücke, welche dieselben nur kurze Zeit in der Erinnerung haften
lässt. Der Kranke vergisst daher, im Gegensätze zu dem gewöhn-
lichen Verhalten des Gedächtnisses, namentlich die Ereignisse der
jüngsten Vergangenheit. Er weiss nicht mehr, was ihm vor
8 Tagen begegnet ist, mit wem er vorgestern spazieren ging, welche
Briefe, welche Arbeiten er zu erledigen hatte, ja er kann sich
schliesslich nicht mehr entsinnen, was er vor einer Viertelstunde
gethan, ob er den ihn täglich begriissenden Arzt schon einmal ge-
sehen hat. Das Gefühl dieser Unsicherheit und Vergesslichkeit
führt die Kranken bisweilen dazu, sich über jedes kleine Erlebniss.
jeden Einfall, den sie haben, sofort Aufzeichnungen zu machen, in
denen sie sich freilich später selbst nicht mehr zurechtfinden. Dem
gegenüber können weiter zurück liegende Erinnerungen noch längere
Zeit hindurch fest und lückenlos haften, während der frische Er-
werb sich rasch und spurlos -wieder verwischt. Es ist das dieselbe
Erscheinung, der wir auch beim Altersschwachsinn begegnen. Oefter?
fiel es mir auf, dass paralytische Frauen auf Befragen ohne weiteres
ihren Mädchennamen nannten und nur mühsam oder gar nicht auf
ihren Ehenamen zu bringen waren.
Besonders rasch geht dem Paralytiker regelmässig die Möglich-
keit einer zeitlichen Ordnung ihrer Erinnerungen verloren.
Da sich dem Kranken die Wahrnehmungen nicht zu jener fest-
gegliederten Kette von Erinnerungsbildern zusammenschliessen, welche
uns rückschauend den Abstand der einzelnen Ereignisse von der
Gegenwart abzuschätzen gestattet, so vermag er namentlich die seit
der Erkrankung gemachten Erfahrungen nicht mehr in einen be-
stimmten Zeitabschnitt der Vergangenheit einzuordnen. Es gelingt
ihm nicht, sich die Aufeinanderfolge seiner Erlebnisse und deren
Zusammenhang untereinander ins Gedächtniss zurückzurufen. Die
Zeitgrenzen verschwimmen in einander und verwischen sich; es
Allgemeine Krankheitszeichen.
219
wird ihm unklar, ob seit einem bestimmten Ereignisse, seit seinem
Eintritte in die Anstalt Monate, Wochen oder Tage verflossen sind.
Schliesslich weiss er weder Wochentag noch Datum, ja oft nicht
einmal die Jahreszahl, „weil er keinen Kalender hat“, oder er lässt
sich doch in seinen Angaben ausserordentlich leicht irre machen.
Nicht selten schreibt er z. B. als heutiges Datum Jahr und Tag
seiner Geburt, kann ohne weiteres zu ganz unmöglichen Zusammen-
stellungen („30. Februar“) verleitet werden. Auch die gewöhnlichen
Hülfsmittel des gesunden Menschen, ein Blick auf die Landschaft,
den Stand der Sonne, die Helligkeit, die Temperatur u. s. f., nützen
ihm nichts, da er sie nicht zu verwerthen versteht. Trotz des ge-
heizten Ofens glaubt er der Versicherung, dass es Sommer sei, und
die frischen Kirschen auf dem Tische erregen ihm keinen Zweifel
darüber, ob wir uns wirklich im December befinden. Einer meiner
Kranken fragte mich nach mehrmonatlichem Anstaltsaufenthalte
wochenlang tagtäglich von neuem, wo er sich denn eigentlich befinde;
er müsse geschlafen haben, sei vor kurzem aufgewacht und sehe
sich nun in einer ganz fremden Umgebung. Schon nach einer
halben Stunde hatte er die ihm gegebene Auskunft vergessen und
war immer wieder höchlichst erstaunt über die Veränderung, die
sich mit ihm „während des Schlafes“ vollzogen haben müsse. Andere
leben so sehr im Augenblicke, dass sie nicht einmal die Tageszeit
mehr auffassen, nicht wissen, ob seit dem Aufstehen kürzere oder
längere Zeit verflossen ist, ob sie schon zu Mittag gegessen haben;
sie kleiden sich Vormittags aus, weil es Zeit zum Zubettgehen sei,
sind gegen Abend entrüstet, dass man ihnen den Kaffee noch nicht
gebracht habe. So hochgradig sind die Störungen freilich nur bei
sehr weit vorgeschrittener Krankheit, aber sie sind doch oft auch
schon im ersten Beginn auffallend genug, um mit grosser Wahr-
scheinlichkeit die Erkennung der Paralyse zu ermöglichen.
Ausser den jüngsten Eindrücken wird nach und nach aber aus-
nahmslos auch der Erwerb der ferneren Vergangenheit mit in
die Gedächtnissstörung hineingezogen. Am leichtesten gehen dem
Kranken Eigennamen verloren, besonders aber Zahlen und Daten.
Während er frühere Erlebnisse inhaltüch noch leidlich gut Vorbringen
kann, verwirrt er sich in der zeitlichen Ordnung, verwechselt die
Namen seiner Kinder und wird unsicher im Rechnen, eine Störung,
die namentlich bei Kaufleuten und Beamten oft sehr auffallend
220
VI. Die Dementia paralytica.
und natürlich auch folgenschwer hervortritt. Bisweilen enthüllen
schon die beiden einfachen Fragen nach Alter und Geburtsjahr diese
Schwäche, indem die Kranken zwei widersprechende Angaben
machen, ohne deren Unvereinbarkeit zu bemerken; der Geburtstag
.pflegt fester zu haften, als das Jahr, und wird daher oft zunächst allein
vorgebracht. Auch der hülfesuchende Blick, mit welchem sie sich bei
solcher Gelegenheit nach ihrer Umgebung umsehen, das zögemdeNach-
denken oder die ausweichende Antwort, das sei aufgeschrieben, stehe
im Taufschein, der Herr Doctor wisse es, genügen, um dem kundigen
Arzte sofort die Sachlage klar zu legen.
Unaufhaltsam vollzieht sich nunmehr eine fortschreitende Ver-
arm ungdesVor stell uugs sc hatzes, welche schliesslich zur völligen
Vernichtung des gesammten geistigen Besitzstandes führt. Natürlich
ist die Schnelligkeit, mit welcher sich dieser Vorgang abspielt, eine
sehr verschiedene. Sie wird wol in erster Linie durch die Art und
Stärke des Krankheitsprocesses bestimmt, dann aber auch durch den
Umfang der persönlichen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit. Die
Reihenfolge, in welcher allmählich der geistige Erwerb verloren geht,
dürfte wesentlich von der Festigkeit abhängen, mit welcher die ein-
zelnen Bestandtheile haften. Stark eingeübte Gedankenverbindungen
widerstehen am längsten; der Kaufmann pflegt später die Herrschaft
über das Einmaleins zu verlieren, als der Bauer; ein junger Hausirer
rechnete kleine Geldsummen noch geläufig zusammen, als er sonst schon
tief verblödet war. Bisweilen haften einzelne ganz nebensächliche Vor-
stellungen, die durch ein zufälliges Ereigniss in den Vordergrund
gedrängt wurden, auffallend fest. Ein bereits sehr blödsinniger
Kranker wiederholte Jahre lang bei jeder Unterredung die Zimmer-
nummer der Wasserheilanstalt, in der er sich bis zur Aufnahme in
die Klinik befunden hatte. Schliesslich weiss der Kranke nicht
mehr, ob er verheirathet ist, ob er Kinder hat, womit er sich früher
beschäftigte, ja er hat vielleicht sogar sein Alter, seinen Wohnort
und selbst seinen Namen vergessen, obgleich er sich noch halbwegs
geordnet in seiner Umgebung zu bewegen vermag. Auch dann aber
kann man bisweilen vorübergehend noch überraschend richtige Aus-
kunft erhalten, ein Zeichen dafür, dass zunächst die Vorstellungen
nicht selbst untergegangen waren, sondern der Kranke nur unfähig
geworden ist, sie wachzurufen. Eine äussere Anregung kann ihm
dabei zu Hülfe kommen. Späterhin schwinden sie freilich voll-
Allgemeine Krankheitszeichen.
221
ständig; der Kranke vermag dann nickt mehr seine nächsten An-
gehörigen zu erkennen.
In einzelnen Fällen lassen sich neben der allgemeinen Ab-
sckwäckung des Gedächtnisses auch Lücken desselben feststellen,
bald von grösserem, bald von geringerem Umfange. Dieselben
scheinen sich besonders gern im Anschlüsse an die sogenannten para-
lytischen Anfälle zu zeigen. Eine meiner Kranken hatte, als sie
nach einem kurz dauernden verwirrten Aufregungszustande wieder
zur Besinnung kam, die Erinnerung an die letzten 5 Monate vor
dem Eintritte vollständig verloren, obgleich sie sich in jener Zeit
verlobt und verkeirathet hatte. Während sie im übrigen vollkommen
klar geworden war, zeigte sie sich höchst erstaunt, als nun ihr
Mann sich ihr vorstellte. Nach einem späteren ähnlichen Anfalle
vermochte sie sich auch ihres nur kurze Zeit zurückliegenden ersten,
sechswöchentlichen Anstaltsaufenthaltes nicht zu entsinnen und er-
kannte trotz ihrer sonstigen Besonnenheit die Aerzte und Wärterinnen
durchaus nicht wieder.
Sehr häufig wird der Ausfall der Erinnerung ausgefüllt durch
die Einbildungskraft. Gerade weil die wirklichen Reminiscenzen
verblassen und verschwinden, hat die freie Erfindung einen weiten
Spielraum. Nicht nur Träume, Gehörtes und Gelesenes werden nun
als Erlebnisse in die eigene Vergangenheit zurückverlegt, sondern
auch eine Reihe rein erfundener Vorstellungen, wie sie gerade der
Augenblick hervorbringt. Der Kranke hat fabelhafte Abenteuer er-
lebt, grosse Schlachten geschlagen, mit zahlreichen Berühmtheiten auf
vertrautem Fusse gestanden, seit unvordenklichen Zeiten alle histo-
rischen Ereignisse gelenkt und mitgemacht. Er hat England zer-
stört, die Perser vernichtet, Tausende der schönsten Frauen geraubt,
das Zahlensystem, die elektrische Umwandlung von Holz in Gold
erfunden, die Gedichte des Hafis verfasst, mit den Wikingern Amerika
entdeckt. Auf diese Weise geräth der Kranke bisweilen in ein
ganz eigentümliches, bunt wechselndes Spiel der abenteuerlichsten
Vorstellungen hinein, welches in hohem Grade an unser Traumleben
erinnert und in merkwürdigem Gegensätze zu seinem sonstigen,
eidlich geordneten Benehmen steht. Am ausgeprägtesten scheinen
sich solche traumhafte Dämmerzustände mit reichlichem Fabuliren
bei den Kranken mit Opticusatrophie einzustellen; sie können
Monate und Jahre dauern. Andererseits beobachten wir nicht
222
VI. Die Dementia paralytica.
selten gelegentlich, dass gerade die Erinnerung an die jüngste
Zeit durch einzelne frei erfundene Reminiscenzen verfälscht wird.
Der Kranke erzählt in gutem Glauben, dass er vor einer halben
Stunde eine Mittheilung, einen Brief empfangen, Besuch gehabt,
gestern beim Kaiser gespeist, sich am Morgen mit einer Prinzessin
verlobt, eine Reise gemacht habe. In der Regel kann man solche
Erzählungen durch Suggestivfragen hervorrufen und beeinflussen.
Dabei merkt man dann meist, dass die Kranken sich bei den aus
ihnen herausgelockten Aeusserungen anfangs unsicher fühlen, sich
aber allmählich in die Ueberzeugung hineinreden, dass alles wirklich
so gewesen ist.
Eine weitere, folgenschwere und schon früh deutlich hervor-
tretende Störung auf dem Gebiete des Verstandes ist die Urtheils-
losigkeit der Paralytiker. Durch dieses Krankheitszeichen offenbart
sich dem Kundigen oft schon dann die ganze Grösse und Schwere des
Leidens, wenn sonst noch gar kein Grund zur Besorgniss vorzu-
liegen scheint. Die Gemiithsruke, mit welcher der Kranke irgend
einen unsinnigen Plan vorbringt, die Vernachlässigung der nächst-
liegenden Einwände, der geringe Widerstand gegen auftauchende
Wahnbildungen, die Unfähigkeit zu folgerichtigem Denken, die Un-
überlegtheit der Entschliessungen fallen meist schon früh in die
Augen, obgleich die feststehenden, eingelernten Denkgewohnheiten
den ganzen Umfang der Unfähigkeit in den höchsten geistigen
Leistungen lange Zeit bis zu einem gewissen Grade verdecken
können. Allmählich gehen dem Kranken die durch Erfahrung er-
worbenen, feststehenden Grundbegriffe, nach welchen wir die Welt
beurtheilen, die Fähigkeit, durch Beobachtung des Thatsächlichen die
Gebilde unserer Einbildungskraft zu berichtigen, mehr und mehr
verloren, und er geräth dadurch in eine Traumwelt, in welcher
alles der eigenen Vorstellung, dem eigenen Wunsche, der eigenen
Befürchtung entspricht. Auf diese Weise kommt es zur Entwicklung
von Wahnvorstellungen; seine ganze Umgebung, seine gesummten Ver-
hältnisse werden in seinem Sinne verändert, weil er sie mit besonderen
Augen ansieht und nicht fähig ist, den schneidenden Widerspruch
seiner gefärbten Auffassung mit der Wirklichkeit wahrzunehmen.
Was diesem Vorgänge bei der Paralyse von Anfang an ein
ganz eigenartiges Gepräge verleiht, das ist die zu Grunde liegende
geistige Schwäche. Verhältnissmässig selten beobachten wir für
Allgemeine Krankkeitszeichen.
223
kürzere oder längere Zeit geschlossene, einheitliche Wahnbildungen,
ähnlich denjenigen der Verrückten, die sich zudem durch eine gewisse
Verschwommenheit und Bestimmbarkeit auszuzeichnen pflegen. Meist
schiessen dafür bunt durcheinander die verschiedenartigsten Ideen
empor, um ohne die mindeste Rücksicht auf die handgreiflichsten
Widersprüche hingenommen, aber ebenso schnell wieder vergessen
zu werden. Daher die ausserordentliche Unsinnigkeit und Aben-
teuerlichkeit der paralytischen Wahnvorstellungen, die sofort
über das Wahrscheinliche oder auch nur Mögliche mit verblüffender
Unbefangenheit weit hinauszuschweifen pflegen. Wo die Regsamkeit
der Einbildungskraft die Vernichtung der Kritik überdauert, kann
die Massenhaftigkeit und Ueppigkeit der Wahnbildungen zeitweise
eine sehr grosse sein, ähnlich wie bei den paranoiden Formen
der Dementia praecox.
Mit der geistigen Schwäche des Paralytikers hängt auch der
Umstand zusammen, dass der Wahn hier nichts weniger als fest-
stehend zu sein pflegt, sondern sich häufig durch innere Anstösse
wie durch äussere Einflüsse fortwährend verändert. Während der
Verrückte sein System wol bereichert, aber dasselbe in allen wesent-
lichen Punkten dauernd gleichlautend wieder vorbringt, pflegt jede
Darstellung des paralytischen Wahnes so zahlreiche und bedeutende
Abweichungen von den früheren Lesarten darzubieten, wie sie selbst
bei der Dementia praecox ungewöhnlich sind. Der Graf von gestern
ist heute vielleicht Kaiser und morgen der jüngste Lieutenant, ja
es gelingt sehr häufig durch verfängliche Fragen, Einreden und
lebhafte Anregung des Kranken, ihn binnen wenigen Minuten zu
einer raschen Selbststeigerung seiner Ideen bis ins Ungeheuerlichste
hinein zu treiben. Andererseits sehen wir die ausgedehntesten
Wahnbildungen hier nicht selten ganz unvermittelt wieder schwinden.
Sie gerathen bei dem Kranken ; auch ohne dass sie durch neue
Vorstellungen ersetzt werden, einfach in Vergessenheit; seltener
kommt es zu wirklicher Berichtigung mit klarer Anerkennung ihrer
Wahnhaftigkeit.
Im allgemeinen freilich machen es die Zerfahrenheit und Zu-
sammenhangslosigkeit des Gedankenganges, die Unfähigkeit zu ver-
ständiger Selbstprüfung erklärlich, dass eine wirkhche Krankheits-
einsicht in der Paralyse zumeist nicht zu Stande kommen kann.
Im Gegentheil fühlen sich die Kranken häufig gesünder als jemals,
224 VI. Die Dementia paralytica.
oder sie bemerken doch wenigstens nicht, dass ihre ganze geistige
Kraft gebrochen ist, eben weil ihnen die Fähigkeit verloren gegangen
ist, ihren jetzigen Zustand mit demjenigen in längst vergessenen
gesunden Tagen zu vergleichen. Nur im Beginne der Krankheit
ist bisweilen ein richtiges Verständniss für die Natur des Leidens
und das bevorstehende Schicksal vorhanden. Ich besitze den Brief
eines Obersten, in welchem derselbe den Entschluss ankündigt, sich
das Leben zu nehmen, weil er an Gehirnerweichung leide und ein
blöder Tölpel werden müsse. Der weitere Verlauf der Krankheit
rechtfertigte seine Ahnung nur zu vollkommen. Dass die Kranken
wenigstens das Herannahen eines schweren, unheilbaren Leidens
deutlich empfinden, ist nicht gerade selten. Vielfach lassen allerlei
nervöse oder auch rein hypochondrische Beschwerden wol den
Patienten sich selbst für krank halten, ohne dass er doch die
wahren Zeichen seines Leidens als solche auffasst und anerkennt.
Von einer wirklichen Kraukheitseinsicht ist dabei natürlich nicht
die Rede.
Kaum geringere Störungen, als die Verstaudesthätigkeit, bietet
die Stimmung der Kranken dar. In der ersten Zeit der Paralyse
ist es namentlich die erhöhte Reizbarkeit, welche der Umgebung
aufzufallen pflegt. Der Kranke ist launenhaft, leicht verstimmt und
verdriesslich, geräth bei geringfügigen Anlässen in rasch vorüber-
gehende, grundlos heftige Aufregung, in der er die Herrschaft
über sich selbst vollständig verliert und sich wol gar gelegentlich
zu Thätlichkeiten hinreissen lässt. Auf der andern Seite ist schon
jetzt nicht selten eine gewisse Stumpfheit gegenüber weiterreichen-
den gemüthlichen Anforderungen bemerkbar, die auf ein Zurücktreten
der höheren und feineren Gefühle hindeutet. Die Freude an geistiger
Arbeit, an künstlerischen Genüssen, an den gemüthlichen Beziehungen
zur Umgebung, zur eigenen Familie weicht einer trägen Gleichgültig-
keit, die zu der sonstigen Reizbarkeit des Kranken in auffallendem
Widerspruche steht.
Die gleichen Eigenthümlichkeiten , leichte Erregbarkeit auf der
einen, Mangel an tieferen, nachhaltigeren Gefühlen auf der anderen
Seite, erhalten sich meist auch während des weiteren Verlaufes der
Krankheit. Dabei zeigt die Färbung der Stimmung meist Ueber-
einstimmung mit dem Inhalte der Wahnideen, vielleicht weil dieser
letztere wesentlich durch jene beeinflusst wird. Grössenideen
Allgemeine Krankheitszeichen.
225
werden von befriedigter, oft überaus glückseliger Stimmung begleitet,
während wir auf der anderen Seite tiefe Niedergeschlagenheit oder
heftige Angstzustände in Verbindung mit quälenden Wahnvor-
stellungen beobachten. Bisweilen allerdings werden auch trübe
Vorstellungen mit strahlender Miene vorgebracht. Regelmässig aber
ist es nicht eine und dieselbe Färbung des Stimmungshintergrundes,
welche den ganzen Kranbheitsverlauf begleitet. Vielmehr ist ein
unvermittelter Wechsel der Gefühlsregungen in so hohem Maasse
der Paralyse eigen thümlich, dass sich auf ihn bisweilen geradezu die
Erkennung der Krankheit stützt. Mitten hinein in das Uebermaass
der Fröhlichkeit bricht plötzlich ein Thränonstrom, oder das hypo-
chondrische Elend wird durch die kindische Freude über irgend einen
ausserordentlichen Vorzug abgelöst. Ganz besonders bemerkenswert!!
ist es, dass es häufig gelingt, diese raschen Wandlungen durch die
Anregung geeigneter Vorstellungen, ja schon durch den Tonfall der
Stimme, den Gesichtsausdruck gewissermassen künstlich herbeizuführen
und ebenso wieder zu beseitigen. Auch ohne Zusammenhang mit
Wahnbildungen kann übrigens eine Art blöder Zufriedenheit oder
reizbarer Missvergnügtheit das Fortschreiten der gemiithlichen
Stumpfheit bis zu ihren höchsten Graden noch längere Zeit begleiten.
Natürlich wird durch diese Störungen der Charakter des
Kranken vollkommen umgewandelt. An Stelle der früheren Festig-
keit und Selbständigkeit tritt eine fortschreitende Willensschwäche
und Haltlosigkeit, die sich in auffallender Weichheit und Em-
pfindsamkeit, zuweilen auch in einer Art blödsinnigen, triebartigen
Eigensinns kundgiebt. Während die eigene innere Regsamkeit, die
„Initiative“, mehr und mehr schwindet, lässt sich der Kranke bei
geschicktem Angreifen fast immer leicht nach jeder beliebigen
Richtung hin lenken. Namentlich die von den Angehörigen meist
sehr gefürchtete Verbringung in die Anstalt geht zu deren grösster
Ueberraschung oft ohne jede Schwierigkeit von Statten. Die sorg-
lose Selbstverständlichkeit, mit welcher Paralytiker sich trotz völligem
Mangel des Krankheitsgefühls ohne weiteres in der Anstalt einzu-
leben pflegen, das schöne Zimmer, die gute Verpflegung, die Be-
handlung rühmen und gern „noch eine Zeitlang dableiben“, zeigt
ihre Willensschwäche vielleicht am deutlichsten. Ein paar freund-
liche Worte, ein Scherz, eine ausweichende Antwort genügen dann,
den Kranken immer wieder zu beruhigen, auch wenn er täglich
Kraepelin, Psychiatrie. 6. And. II. Band. 15
226
VI. Die Dementia paralytica.
seine Abreise auf „morgen“ anberaumt, seine Unentbehrlichkeit zu
Hause betont und seine dringenden Zukunftspläne auseinandersetzt.
Auf diese Weise wird er alsbald unfähig zu irgendwelcher geord-
neten Arbeitsleistung, da er seine Obliegenheiten zum Theil einfach
vergisst oder vernachlässigt, zum Theil aber lückenhaft, unordentlich
und fehlerhaft erledigt. Ein sehr fein gebildeter, vollständig be-
sonnener Herr bat sich am Tage seines Eintritts in die Klinik ein
Conversationslexikon zur Lecttire aus und wünschte am nächsten
Tage einen neuen Band, da er den ersten ausgelesen habe.
Andererseits pflegt der Kranke auch widerstandslos den in ihm
auftauchenden Antrieben und Einfällen zu folgen. Seine Handlungen
tragen daher den Stempel des Unüberlegten und Planlosen. Einer
meiner Kranken sprang aus dem Fenster des zweiten Stockwerks,
um einen unten bemerkten Cigarrenstumpf aufzusuchen, und zog
sich dabei einen Fibulabruch zu; ein anderer wollte sich an einem
ganz dünnen Faden von oben herunterlassen und stürzte dabei in
die Tiefe. Selbst Verbrechen können auf diese Weise begangen
werden, ohne dass der Kranke im Stande wäre, die Tragweite und
Bedeutung derselben irgendwie zu übersehen. Häufig gesellt sich
dazu eine überstürzte Vielgeschäftigkeit. In rascher Folge und ohne
Besinnen sucht der Kranke seine wahnhaften Pläne auszuführen,
nicht in der zähen, folgerichtigen, von langer Hand vorbereitenden
Art des Verrückten, sondern er thut bereits die einleitenden Schritte,
sobald ihm nur der Gedanke aufgestiegen ist, um ihn im nächsten
Augenblicke wieder über etwas Anderem, Grösserem zu vergessen
und fallen zu lassen.
Im Benehmen des Kranken macht sich die Paralyse als eine
Abstumpfung gegen die Anforderungen des Anstandes und der
Sitte geltend, die ihn, wie den Angetrunkenen, leicht Tactlosig-
keiten, Ungenirtheiten und selbst grobe Verstösse begehen lässt,
ohne dass er das mindeste Verständniss dafür besässe. Jene an-
erzogenen feinen Hemmungen und Antriebe, welche auch die äussere
Form unseres Thuns und Lassens jederzeit uach der Bücksicht
auf unsere Umgebung regeln, gehen dem Paralytiker sogar schon
sehr früh verloren, am leichtesten und vollständigsten natürlich
dort, wo nicht eine lange Gewohnheit oder natürliche Anlage
dieselben sehr tief dem Wesen des Menschen eingeprägt hat
Im letzteren Falle kann man auch recht blödsinnige Kranke
Allgemeine Krankheitszeiclien. 227
noch die Schablone der Verk ehrsformen leidlich gut sich bewahren
sehen.
Bei grösserer Benommenheit oder fortgeschrittener geistiger
Schwäche stellen sich endlich in der Paralyse nicht selten ein-
zelne jener Krankheitserscheinungen ein, die wir früher als
katatonische näher kennen gelernt haben. Nicht nur Katalepsie ist
wenigstens vorübergehend häufig genug, sondern auch Echolalie,
Echopraxie und Yerbigeration. Andeutungen von Negativismus
werden vielfach beobachtet, Stummheit, Nahrungsverweigerung,
Widerstreben gegen Aufforderungen und Eingriffe, Zurückhalten
von Koth und Urin, eigensinniges Festhalten derselben Stellung.
Zumeist indessen ist der Widerstand der Kranken viel wechseln-
der und unbeständiger, als in der Katatonie, lässt sich auch öfters
durch Zureden überwinden, so dass es zweifelhaft bleiben muss, ob
die äusserlich ähnlichen Krankheitserscheinungen auch wirklich den-
selben Ursprung haben. Seltener sind ausgeprägtere Bewegungs-
stereotypen, unablässiges Wischen und Zupfen, Abwehrbewegungen,
Pendeln, eintöniges, lange fortgesetztes thierisches Brüllen oder
Schreien. Zudem scheinen sie nicht, wie bei der Katatonie, rein
triebartig zu sein, sondern meist erstarrte Reste ursprünglich
sinnvoller Handlungen darzustellen. Yon der Berechtigung, solche
vereinzelten Fälle zu einer besonderen, katatonischen Form der
Paralyse zusammenzufassen, habe ich mich bisher nicht überzeugen
können.
Was der Paralyse vor allem ihr eigenartiges klinisches Gepräge
verleiht, sind die nervösen Störungen, welche den ganzen Ver-
lauf derselben begleiten. Als sehr regelmässige Erscheinung im
Beginne der Erkrankung beobachtet man starke Kopfschmerzen,
die meist als ein dumpfer, aber äusserst heftiger Druck geschildert
werden, als ob das Gehirn mit grosser Gewalt zusammengepresst
würde. Am stärksten pflegt derselbe in der Stirngegend zu sein.
Dazu gesellen sich oft die Anzeichen von Blutwallungen (Ohren-
sausen, Funkensehen, Schwindel gef iihl). Yon Seiten der Sinnes-
organe lässt sich anfangs oft gesteigerte Erregbarkeit, später nicht
selten eine leichtere oder schwerere Abstumpfung der Empfindlich-
keit feststellen, die aber zweifellos in der Regel vorzugsweise auf den
psychischen Zustand, insbesondere die mangelnde Aufmerksamkeit
zurückzuführen ist. Eine eigenthümliche Sehstörung, die häufig nach
15*
228
VI. Die Dementia paralytica.
paralytischen Anfällen hervortritt und sich bei negativem Augen-
spiegelbefunde durch Erschwerung des Erkennens und der Locali-
sation von Gegenständen auszeichnet, ist von Fürstner beschrieben
und auf Herderkrankungen in der Hinterhauptsrinde zurückgeführt
worden. Auch hier dürften verwickeltere psychische Störungen,
namentlich Asymbolie, eine wichtige, wenn nicht die Hauptrolle
spielen. Hemianopische Störungen lassen sich hie und da nach-
weisen, besonders nach paralytischen Anfällen. Auf der anderen
Seite jedoch sind auch greifbare krankhafte Befunde am peripheren
Sinnesorgane, am Auge, zu verzeichnen. Atrophie der Sehnerven
verschiedenen Grades wird in 4 — 5, nach Möli’s Angaben sogar in
12°/0 der Fälle beobachtet; bisweilen bildet sie das erste Anzeichen
des herannahenden Leidens. Ausserdem hat man bisweilen über
eine keineswegs eigenartige „Retinitis paralytica“ und eine ganze
Reihe anderer, mehr gelegentlicher, recht verschiedener Veränderungen
am Auge berichtet.
Sehr auffallend sind die Störungen auf dem Gebiete des Haut-
sinnes. Im Beginne des Leidens stellen sich öfters allerlei unbestimmte,
„rheumatoide“ Schmerzen oder unangenehme Empfindungen ein, die
bisweilen längere Zeit das einzige hervortretende Zeichen der Eirank-
heit bilden. Ich sah einen derartigen Kranken, der über reissende
Schmerzen unter dem linken Schulterblatte klagte und schon seit
Monaten vergeblich deswegen behandelt worden war, ohne dass
man die Paralyse erkannt hätte; ein anderer litt zunächst an einer
Neuralgie des Penis und eines Testikels. Viele gelten lange Zeit
als Neurastheniker oder Unfallsnervenkranke. Im weiteren Ver-
laufe entwickelt sich ausnahmlos früher oder später eine bedeutende
Herabsetzung aller Qualitäten der Hautempfindlichkeit, vor allem
aber eine sehr hochgradige Analgesie. Namentlich wenn man
die Aufmerksamkeit des Kranken durch Fragen ablenkt, gelingt es
zur grössten nachträglichen Verwunderung desselben sehr häufig
schon in verhältnissmässig frühen Stadien, eine Nadel quer durch
eine Hautfalte hindurch zu stechen, ohne dass er dessen recht
gewahr wird. Gerade diese Unempfindlichkeit gegen Schmerz be-
günstigt das Zustandekommen von allerlei Verletzungen, besonders
ausgedehnten Verbrennungen, weil der Kranke die Gefahr nicht be-
merkt und sich ihr daher auch nicht entzieht Die Kranken zupfen
sich die Finger wund, kauen die Fingernägel bis auf das frei-
Allgemeine Krankheitszeichen.
229
liegende Nagelbett ab, stochern im Munde herum, ja ich kannte
einen Hauptmann, der sich in einer Nacht die Hand mit den Zähnen
zerfleischte, weil ihm dieselbe als etwas Fremdes, gar nicht zu ihm
Gehöriges erschien.
Ganz besonders in den Vordergrund treten bei der Paralyse
die motorischen Störungen, als deren wichtigste wir wol die
„paralytischen Anfälle“ zu bezeichnen haben. Die leichtesten Formen
derselben bestehen in rasch vorübergehenden Schwindelanwandlungen,
häufig von kurz dauernder Unfähigkeit, zu sprechen, oder Anstossen
der Zunge, seltener von leichten Hemiparesen begleitet. Hie und
da beobachtet man mehrtägige, sich ziemlich plötzlich zurückbildende
völlige Aphasie ohne Lähmung. Erheblich ernster sind die epilepti-
formen Anfälle, die entweder den gewöhnlichen epileptischen Krämpfen
gleichen oder, häufiger, die Kennzeichen der Rindenepilepsie tragen.
Ihnen gehen meist allerlei einleitende Störungen, Unbesinnlichkeit,
grössere Stumpfheit, Schwerfälligkeit der Bewegungen, Herüber-
hängen nach einer Seite voraus, bis dann der Kranke plötzlich zu
Boden sinkt und die Krämpfe beginnen. Häufig kann man nun das
schrittweise Uebergreifen der Reizung auf die einzelnen Abschnitte
des motorischen Rindengebietes verfolgen. So stellt sich zuerst
etwa ein leises Zucken in den Gesichtsmuskeln mit Verdrehen der
Augen und nystaktischen Bewegungen derselben ein; dann schreitet
die Erregung auf den Hals, den Arm, die Athmungsmuskeln, den
Bauch, das Bein derselben Seite fort, um endlich auch auf die
entgegengesetzte Seite hinüberzugreifen, während sie vielleicht auf
der zuerst befallenen schon wieder nachlässt. Kemmler hat darauf
hingewiesen, dass die krampfhaften Zuckungen öfters eine deutliche
Gleichzeitigkeit mit dem Pulsschlage darbieten und somit durch
Reizwirkung der Blutwelle ausgelöst zu werden scheinen. Dieser
Zusammenhang, der bis zur Dikrotie und Arhythmie ein peinlich
getreuer sein kann, verwischt sich erst mit dem Eintreten von
Herzschwäche oder durch das Ueberwiegen anderer, stärkerer Muskel-
bewegungen.
Die Ausbreitung der Krämpfe ist eine sehr verschiedene. Bis-
weilen sind nur einzelne umschriebene Gebiete dauernd oder mit ge-
ringer Abwechslung befallen; in anderen Fällen wandern die Krämpfe
wiederholt über eine ganze Reihe von Muskelgruppen hin. Solche
Anfälle können sich mit kürzeren oder längeren Zwischenpausen, in
230
VI. Die Dementia paralytica.
denen der Kranke schwer benommen oder unbesinnlich Arme und
Beine bewegend daliegt, sehr häufig hintereinander, bisweilen 20-,
30-, ja 80- und 100 mal innerhalb 24 Stunden wiederholen. In der
Regel allerdings pflegt der Anfall schon nach einer oder einigen
Stunden vorüber zu sein, doch wird nicht zu selten eine Dauer von
mehreren, selbst bis zu 14 Tagen beobachtet. Ich sah bei einem
Kranken unter wachsender Benommenheit Zuckungen im rechten
Facialis, dann der ganzen rechten Seite mit spastischer Parese,
Hemianopsie und Hemianaesthesie auftreten; allmählich griffen die
Störungen auf die linke Seite über; es kam zu wechselnden Krämpfen
in den verschiedensten Muskelgebieten, zu völliger Aphasie und Wort-
taubheit, und erst am 15. Tage erfolgte der Tod. Die Körperwärme
ist meist erhöht, bisweilen beträchtlich; der Ham enthält öftere
Eiweiss. Blase und Mastdarm sind häufig gelähmt, so dass es
zu Harnverhaltung und Kothstauung mit deren Folgezuständen,
Pyelitis, Nephritis, Periproktitis, kommen kann, wenn nicht für
rechtzeitige Entleerung beider Organe gesorgt wird. Die selbständige
Nahrungsaufnahme ist wegen Lähmung der Schlingmuskulatur un-
möglich. Da ausserdem die Kehlkopf reflexe oft gänzlich aufgehoben
sind, so entspringt eine ernste Gefahr für den Kranken aus der
Aspiration von Speichel von der mit reichlichen Zersetzungsstoffen
erfüllten Mundhöhle her (gelegentliche Parotitis); in der That finden wir
bei der Mehrzahl der im Anfalle zu Grunde gehenden Paralytiker
Schluckpneumonien (sog. „hypostatische Pneumonien“) als Todes-
ursache. Endlich fordert bei ungenügender Pflege auch der hier
überaus leicht entstehende Decubitus immer noch zahlreiche Opfer.
Das Erwachen aus dem Anfall geschieht immer allmählich, oft
durch ein Stadium grosser Verwirrtheit und Benommenheit hindurch.
Aber auch weiterhin bemerkt man fast regelmässig eine erhebliche
Zunahme der psychischen Schwäche, in einzelnen Fällen plötzlichen
liefen Blödsinn nach einem bis dahin nahezu normalen Verhalten.
Gleichzeitig bleiben gern allerlei Herderscheiuungeu zurück, um-
schriebene oder halbseitige Lähmung, Zwangsbewegungen, Spasmen,
Sprachstörungen, Aphasie, Hemianopsie, Empfindungslähmimgeu, die
sich meist bald Avieder verlieren, zuweilen aber auch dauernd be-
stehen bleiben.
Eine Aveitere, im ganzen seltene Gestaltung der paralytischen
Anfälle sind die apoplektiformen Anfälle, Avelche ganz in der Art
Allgemeine Krankheitszeichen.
231
des gewöhnlichen Schlaganfalls mit plötzlicher Bewusstlosigkeit, Zu-
sammenbrechen, stertorösem Athmen, tonischer Spannung oder
schlaffer Lähmung eintreten und bald mit nachfolgender Hemiplegie,
Contractureu, aphasischen Störungen, bald ohne jede Folgeerscheinung
verlaufen, häufig genug aber auch ganz unvermuthet dem Leben ein
Ende machen. So manche der in mittleren Lebensjahren plötzlich tödt-
lich verlaufenden „Schlaganfälle“ sind wahrscheinlich auf beginnende
paralytische Erkrankung zurückzuführen, wie sich in einzelnen Fällen
aus dem Hirnbefunde darthun lässt. Ausser diesen mit schweren
Bewusstseinstrübungen einhergehenden Anfällen kennt man bei
Paralytikern noch eine Reihe anderer, mehr oder weniger plötzlich
einsetzender Störungen, die man vielleicht unter dem gleichen Ge-
sichtspunkte zu betrachten berechtigt ist. Am einleuchtendsten ist
diese Auffassung für die bisweilen bei völlig klarem Bewusstsein
sich einstellenden und ebenso rasch wieder verschwindenden Läh-
mungen. Einer meiner Kranken erlitt im Beginne seines Leidens
auf diese Weise eine Lähmung der rechten Seite mit articulatorischer
Sprachstörung, Behinderung des Schluckens und Facialisparese; die
Störungen verschwanden wieder, doch blieb ein deutlicher Schwach-
sinn zurück. Anfallsweises Zucken einzelner Muskeln, Muskelgruppen
oder Glieder, Schüttelkrämpfe der Beine u. dergl. sind nicht gerade
selten. Auch auf sensorischem Gebiete giebt es derartige Anfälle,
vorübergehende Parästhesien, Empfindungslähmungen , Gesichtsfeld-
defecte. Neisser denkt an die Möglichkeit einer verschiedenen
Localisation der Störung nach der Art des Anfalles und spricht
geradezu von bulbären, spinalen, cerebellaren Anfällen. An diese
schliessen sich ferner an die plötzlich auftretenden Zustände von
deliriöser Verwirrtheit mit Unbesinnlichkeit, Erregung, Röthung des
Kopfes, erschwerter Sprache, Erbrechen, Temperatursteigerung, die
man zuweilen bei Krankeu beobachtet, welche sonst typische paraly-
tische Anfälle darbieteu.
Die klinische Uebereinstimmung solcher Erfahrungen mit den
früher beschriebenen Anfällen ist namentlich auch im Hinblicke auf
unsere Erfahrungen bei der Epilepsie eine so grosse, dass wir hier
wol ein Recht haben, von unausgebildeten, rudimentären Anfällen
zu sprechen. Alle diese verschiedenen Formen können in jedem Ab-
schnitte der Krankheit auftreten, doch beobachtet man im allgemeinen
die leichteren Anfälle mehr im Beginne, die schwereren häufiger in
232
VI. Die Demeutia paralytica.
der späteren Zeit. Nicht so selten bildet ein paralytischer Anfall
das erste greifbare Zeichen der herannahenden Krankheit.
Die Häufigkeit der Anfälle hat Heilbronner*) nach den Er-
fahrungen in München auf etwa 60°/o bei seinen Kranken an-
gegeben; bei den von mir in den letzten 7 Jahren beobachteten
Kranken fanden sich Anfälle nur in etwa 36%. Bei den Ver-
storbenen allein steigt diese Zahl allerdings auf 46 %, weil sich
gerade in der letzten Krankheitszeit vielfach noch Anfälle einstellen.
Der Grund für diese immerhin niedrigeren Zahlen liegt wahrschein-
lich in dem Umstande, dass in der Klinik die Bettbehandlung in
weit grösserem Umfange durchgeführt werden konnte, als in der
grossen Anstalt. Auch Ke mm ler hat darauf hingewiesen, dass in
Breslau die Zahl der beobachteten Anfälle mit Ausdehnung der Bett-
behandlung wesentlich abgenommen hat. Von den verschiedenen
klinischen Gestaltungen der Paralyse zeichnen sich nach meinen Er-
fahrungen besonders die einfach verblödenden Formen durch zahl-
reichere Anfälle aus; sie erreichen nach meiner Zusammenstellung
hier eine Häufigkeit von 45,4, bei den schon Verstorbenen von
55,3 °/0, während sie bei der expansiven Form auf 33 °/0 sinken.
Als Gelegenheitsursachen der Anfälle werden Gemüthsbewegungen.
Excesse, Magenüberfiillung, Kothstauung (Darminfectionen) nam-
haft gemacht; meist ist jedoch ein bestimmter Anlass gar nicht er-
kennbar.
Regelmässige Störungen bietet der motorische Apparat des
Auges dar. Paresen einzelner Augenmuskeln, namentlich vorüber-
gehende, sind nicht gerade selten, während vollständige Ophthalmo-
plegie nur ganz ausnahmsweise beobachtet wird. Dagegen findet
sich nach den ausgedehnten Erfahrungen in Berlin Differenz der
Pupillen in 57,5 °/0 , Starre derselben in 34%, sehr träge Reaction
in 35,5 % der Fälle; hier sind die Pupillen oft gleichzeitig eng.
Siemerling giebt neuerdings die Häufigkeit der reflectorischen
Pupillenstarre auf 68 % an. Ferner beobachtet man häufig einseitige
oder doppelseitige Ptosis, Bulbusuuruhe, seltener Mydriasis oder raschen
Wechsel der Pupillenweite. Die Gesichtszüge sind schlaff (Ver-
streichen der Nasolabialfalten), ausdruckslos; bisweilen bemerkt man
auch Ungleichheit der Gesichtshälften. Ungemein häufig sind fibrilläre
*) Allgeni. Zeitschr. f. Psychiatrie, LI, 22.
Kraepelin, Psychiatrie, 6. Aufl. TAFEL III.
Verlag-von Johann Ambrosius Barth in Leipzig.
Allgemeine Krankheitszeichen.
233
Zuckungen und ausgiebige Mitbewegungen, wenn man den sehr
leicht in Verwirrung gerathenden Kranken auffordert, abwechselnd
verschiedene coordinirte Bewegungen auszuführen, die Augen zu
schliessen, den Mund zu öffnen, die Zunge vorzustrecken u. s. f.
Man sieht es wie eine Art „Wetterleuchten“ durch die ganze Ge-
sichtsmuskulatur hindurchzittern, während der Kranke angestrengt
die einzelnen, ihm gestellten Aufgaben zu lösen sucht. Die ganze
Körperhaltung ist schlaff, ohne Spannkraft. Man erkennt diese
Störung wie die Stumpfheit und Verblödung im Gesichtsausdrucke
deutlich auf dem beigegebenen Gruppenbilde. Der Kranke in der
Mitte zeigt seine gehobene Stimmung durch den angesteckten Strauss;
sein Nachbar zur Linken hat eine linksseitige Facialisschwäche.
Die Stimme wird eintönig, verliert ihre Ausdrucksfähigkeit und
öfters auch ihren gewohnten Klang (Stimmbandparese), hie und da
das erste auffallende Zeichen der Paralyse, namentlich bei Sängern.
Die Zunge weicht nicht selten ab, zeigt starke fibrilläre Zuckungen,
wird ungeschickt, stossweise und unter zahlreichen Mitbewegungen,
Aufreissen der Augen, Stirnrunzeln, ja selbst unter Zuhülfenahme
der Finger hervorgestreckt. Um die Muskelstösse zu verhindern,
klemmt der Kranke die Zunge beim Vorzeigen bisweilen unwillkür-
lich zwischen den Zähnen fest. Das Schlucken ist namentlich in
den letzten Stadien der Krankheit sehr erschwert; der Kranke ver-
schluckt sich leicht, ohne aber wegen der Unempfindlichkeit des
Kehlkopfeinganges immer in genügend kräftiger Weise darauf zu
reagiren. Ein weiteres Zeichen bulbärer Erkrankung bildet das
bisweilen beobachtete zwangsmässige Lachen. „Mir ist’s gar nicht
um’s Lachen,“ sagte mir eine solche Kranke. Bei einer anderen
fand sich in der That neben den allgemeinen paralytischen Ver-
änderungen ein grosses Gumma im Pons. Häufig beobachtet man
ferner bei vorgeschrittenem Blödsinn lange fortgesetztes, rhyth-
misches Zähneknirschen, welches fast als kennzeichnend für die
Paralyse angesehen werden darf. In einem Falle sah ich die
Krankheit mit äusserst heftigen und hartnäckigen Accessoriuskrämpfen
beginnen.
Zu den allerwichtigsten Zeichen der Paralyse gehören die Ver-
änderungen, welche die Sprache*) erleidet. Wir haben dabei zu
*) Trömner, Archiv f. Psychiatrie, XX VIII, 190.
234
VI. Die Dementia paralytica.
unterscheiden zwischen aphasischen und articulatorischen Störungen.
Zustände vorübergehender, selten länger dauernder Aphasie schliessen
sich ungemein häufig an paralytische Anfälle an. Einer meiner
Kranken konnte wochenlang den Namen keines einzigen Gegenstandes
finden, den man ihm zeigte, obgleich er die Dinge selbst erkannte.
Weit hartnäckiger pflegt die Paraphasie zu sein, die viele Monate
unverändert fortbestehen kann. Hier werden entweder einzelne
Dinge mit unrichtigen Namen belegt, oder es kehren gewisse
stereotype Bezeichnungen fälschlicherweise bei den verschiedensten
Gelegenheiten wieder. Viel seltener ist Worttaubheit, die sich zudem
wegen des Schwachsinns der Kranken meist schwierig erkennen lässt.
Namentlich nach paralytischen Anfällen indessen sieht man öfters,
dass die Kranken selbst die einfachsten Anreden durchaus nicht ver-
stehen, mimischen Aufforderungen aber sofort nachkommen. Diesen
Störungen nahe verwandt ist der bei Paralytikern öfters beobachtete
Verlust ihrer musikalischen Begabung, der Fähigkeit, Melodien auf-
zufassen, besonders aber richtig und rein zu singen und nach-
zusingen.
Ebenfalls den centralen Sprachstörungen gehört der hie und da
beobachtete Agrammatismus an, die Unfähigkeit, richtige Sätze zu
formen. Die Kranken sprechen nach Art der Kinder ohne Ver-
bindungswort oder in Infinitiven. Weit häufiger ist die Zusammen-
setzung der Wörter aus Silben gestört. Nach Trömne'rs Aus-
führungen können wir hier die Auslassung („Elektrität“), die Zu-
sammenziehung („Exität“) und die Verdoppelung der Silben (..Elek-
tricicität“) auseinanderhalten. Diese letztere Störung, der sich die un-
willkürliche Anhängung tonloser Silben anreiht, findet sich namentlich
am Ende der Wörter. Die Endsilbe wird hier bisweilen trotz sicht-
lichen Widerstrebens vom Kranken drei-, viermal und öfter rasch
wiederholt, bis seine Sprachwerkzeuge zur Ruhe kommen („Anton-
ton— ton — ton“). Ich möchte für diese sehr auffallende Störung,
welcher ähnliche Erscheinungen auf anderen Muskel gebieten ent-
sprechen, den Namen „Logoklonie“ vorschlagen. In Folge aller
dieser Störungen, die sich vielfach mit der Aphasie verbinden, kann
die Sprache vollständig in einem Gemisch unsinniger, häufig -wieder-
holter Silbenverbindungen untergehen. Ich kannte einen sehr ge-
bildeten Kranken, bei dem das erste auffallende Anzeichen der Para-
lyse ein leichter Schlaganfall war, nach welchem er einige Stunden
Allgemeine Krankheitszeichen.
235
hindurch die 5 oder 6 Sprachen, die er beherrschte, in ganz unver-
ständlicher Weise durcheinander warf.
Noch häufiger, als die centralen Sprachstörungen, sind Articu-
lationsbehinderungen, die sich zunächst vielleicht nur im Gefolge der
paralytischen Anfälle oder in der Erregung, später aber dauernd
geltend machen. Dieselben lassen sich in zwei verschiedene Gruppen
zerlegen, welche sich im einzelnen Falle freilich meist mit einander
verbinden, in paretische und ataktische, coordinatorische Störungen.
Die Schwerfälligkeit in den Bewegungen der Lippen- und Zungen-
muskulatur hindert den Kranken, einzelne Buchstaben klar hervor-
zubringen, und noch mehr, verwickeltere Buchstabenverbindungen
rasch im Zusammenhänge auszusprechen, also von einer Sprach-
stellung glatt in die andere überzugehen. Es kommt auf diese
Weise zu einer Verlangsamung der Sprache, zu gelegentlichem
Stocken (Haesitiren), bisweilen auch zu merklichen Pausen zwischen
den einzelnen Silben, meist mit Verlust des Tonfalles und des
richtigen Zeitmaasses (Scandiren). Zugleich wird die Sprache, na-
mentlich im Zusammenhänge, durch das schleifende Hinübergleiten
über die mangelhaft articulirten Lautverbindungen undeutlich und
verschwommen (schmierende, lallende Sprache). Das Wort „Flanell-
lappen“ eignet sich gut zur Darstellung dieser Störung. Da dieselbe
ganz der bidbären Sprachlähmung entspricht, so dürfte sie auf Er-
krankungen in der Medulla, insbesondere auf solche des Facialis
und Hypoglossus zurückzuführen sein. Weiterhin aber ist ganz ge-
wöhnlich die Zusammenordnung der Laute zu Silben geschädigt,
eine Erscheinung, die man mit den oben besprochenen Störungen
in der Gruppirung den Silben zu Wörtern als „Silbenstolpern“ zu-
sammenzufassen pflegt. Unbequeme Lautübergänge werden durch
bequemere ersetzt („schwissen“ statt „zwischen“) oder einfach aus-
gelassen und vereinfacht („Damschiff“, „Schleffschiff-'). Dabei zeigt
sich vielfach eine Beeinflussung der Silbenbildung durch andere,
voraufgegangene oder folgende Silben und Buchstaben oder nahe-
liegende Wörter, genau wie beim gewöhnlichen Versprechen
(„schwitzernder Schwan“, „drittende reitere Artrilleriebrade“). Von
den Kranken selbst werden diese Erschwerungen meist gar nicht
empfunden oder doch auf Nebenumstände zurückgeführt', weil sie
dursten mussten und der Mund trocken wurde, weil die Kost nicht
kräftig genug sei, weil man sie immer so aufrege.
236
VI. Die Dementia paralytica.
Am deutlichsten pflegen die centralen und ataktischen Sprach-
störungen, -wie Rieger festgestellt hat, beim lauten Lesen hervor-
zutreten. Der Kranke bringt hier bei mehrmaliger "Wiederholung
oft immer wieder neue Silben- und Wortzusammenstellungen vor,
die nur eine bruchstückweise und entfernte Aehnlichkeit mit der
Vorlage darbieten. Dabei glaubt er vollständig richtig abgelesen zu
haben, ohne doch den Inhalt des Gelesenen zu verstehen. Wieweit
hier die sinnliche Auffassung der Vorlage, die Verknüpfung der
Wortzeichen mit den Begriffen einerseits, den sprachlichen Be-
wegungsvorstellungen andererseits, wie weit endlich das Zusammen-
spiel der Antriebe an dem Zustandekommen der verwickelten
Störung betheiligt ist, lässt sich heute noch nicht entscheiden.
Ganz ähnliche Störungen wie die Sprache lässt die Schrift
erkennen. Die einzelnen Züge sind unregelmässig und unsicher,
ohne doch die gleichmässigen Zitterlinien des Tremor senilis dar-
zubieten; die Striche fahren häufig über die Grenzen hinaus. Von
den beigefügten Schriftproben zeigt die IV. diese Störung in ge-
ringerem Grade bei einer ausgeschriebenen Kaufmannshandschrift,
die V. dagegen in so starker Ausbildung, dass die Schrift kaum
noch leserlich ist. Es soll heissen: „Anton Kutterer Waurer von
Karlsruhe (wiederholt) Baden.“ Bei der Probe VI, die von einem
sehr gebildeten Herrn herrührt, ist die Flüchtigkeit und Kachlässig-
keit der Schrift bemerkenswerth. Der Satz lautet: „mit dem Blitz-
zug nach Berlin wo um 1 Uhr anlange dort werde ich das neue
Service bestellen.“ In der siebenten Probe ist die Unsicherheit
einigermassen durch sehr kräftigen Federdruck verdeckt worden. Hier
wie in den früheren Beispielen begegnet uns ferner das Gegenstück
des Silbenstolperns in Versetzung der Buchstaben und Silben, Aus-
lassungen und Wiederholungen derselben. Koch stärker ist diese
Störung bei geringer Veränderung der einzelnen Schriftzüge in der
Probe VIII ausgesprochen. Fast überall finden sich hier Verdoppelungen
und Auslassungen. Besonders sei das Wort „Kauss“ statt Kuss er-
wähnt, bei dem offenbar eine Beeinflussung durch das folgende
„aus“ stattgefunden hat.
Geringe Rücksicht wird auf die räumliche Anordnung der Schrift-
stücke genommen. Der Kranke kümmert sich nicht darum, ob
er mit der Linie oder der Seite auskommt, schreibt quer und
schräg durch- und übereinander, oft auch noch auf beide Seiten
Allgemeine Krankheitszeichen.
237
des Umschlags, an verschiedene Personen auf demselben Blatte.
Dabei laufen Klexe, Fettflecken, Unsauberkeiten in Menge mit
yA- *
&»* ^
Schriftprobe IY. Leichte Ataxie.
•VHVK/«
Schriftprobe V. Hochgradige Ataxie.
*'*/S/***^'
<|1
Schriftprobe VI. Flüchtige Schrift mit Aus- Schriftprobe VII. Schrift mit starkem
lassungen und Zusätzen. Druck und Buchstaben Verdoppelung.
238
VI. Die Dementia paralytica.
unter, so dass die Entzifferung nicht selten völlig unmöglich
wird. In manchen Fällen wird auch längere Zeit hindurch
wahre Paragraphie beobachtet; ich sah eine Kranke, die sich
mündlich durchaus geläufig und fast ohne Andeutung einer
Schriftprobe VIII. Schrift mit Auslassungen und Wiederholungen.
w
Schriftprobe IX. Paragraphische Schrift.
Sprachstörung ausdrücken konnte, auf dem Papier aber nur ganz
unsinnige Buchstabenverbindungen zu Stande brachte. Die Probe IX
rührt von derselben her. Bei weit vorgeschrittener Krankheit besteht
meist völlige Agraphie. Die Kranken sitzen rathlos vor ihrem Brief-
bogen da, ohne etwas anderes, als einige unsichere Linien mühsam
hinzumalen, um nach manchen vergeblichen Versuchen ihre Be-
Allgemeine Krankheitszeichen.
239
mühungen aufzugeben, weil sie „Rheumatismus in der Hand“ oder
„keine Brille da hätten“.
Weniger, als die Störungen bei den so überaus feinen und ver-
wickelten Leistungen des Schreibens und Sprechens, fallen zunächst
die krankhaften Abweichungen bei gröberen Bewegungen ins Auge.
Freilich wird der Paralytiker sehr bald zu allen Beschäftigungen
untauglich, welche eine besondere Handfertigkeit erfordern, zum
Clavierspielen, zum Einfädeln von Nähnadeln, zum Ausführen feiner
mechanischer Arbeiten. Späterhin treten diese ataktischen Störungen
deutlicher hervor und können in einzelnen Fällen sehr auffallend
werden. Die täppische Langsamkeit und Ungeschicklichkeit beim
Zugreifen, Knöpfen, das stossweise, in Absätzen erfolgende Drücken
der Hand lässt erkennen, dass die Fähigkeit zu einer feineren
Regelung der Bewegungen verloren gegangen ist, wenn auch
die grobe Kraft, abgesehen von den bisweilen an die Anfälle sich
anschliessenden Hemiparesen, noch ziemlich normal erscheint. Hie
und da beobachtet man ausgeprägtes Intentionszittern, in einzelnen
Fällen choreatische Muskelunruhe, wechselnde, zuckende Bewegungen
in den verschiedensten Muskelgebieten, Gesichterschneiden (Hun-
tin gton’sche Chorea). Der Gang wird allmählich unsicher, breit-
spurig, schlürfend; zu Zeiten, namentlich vor einem Anfalle, hängt
der Kranke ganz nach einer Seite hinüber. Dazu gesellen sich ge-
wöhnlich noch die Zeichen einer Affection der Seitenstränge (Steifig-
keit, spastischer Gang) oder Hinterstränge (Romberg’sches Symptom,
Ataxie, Schleudern). Die Zeichen einer tabischen Erkrankung gehen
dem Ausbruche der eigentlichen Paralyse nicht selten längere Zeit
voraus, selbst eine Reihe von Jahren (ascendirende Paralyse).
Schliesslich werden die Kranken immer dauernd bettlägerig, gewöhn-
lich mit mehr oder weniger ausgesprochenen Contracturen und all-
gemeinem Muskelschwund. Besonders auffallend pflegt dabei die
vorgebeugte Haltung des Kopfes zu sein, der gewöhnlich nicht auf
der Unterlage aufruht, sondern unter starrer Spannung der Hals-
muskeln dauernd frei getragen wird. Nicht selten kann man in
diesen letzten Abschnitten der Krankheit leichtere und stärkere
Zuckungen in einzelnen krampfhaft gespannten Muskelgruppen be-
obachten, namentlich bei Bewegungsversuchen und passiven Lage-
veränderungen, aber auch in voller Ruhe. Einmal sah ich gekreuzte
Radialis- und Peronaeuslähmung, ohne Zweifel neuritischen Ursprungs.
240
VI. Die Dementia paralytica.
Aehnlich sind wol auch die seltenen örtlichen Muskelatrophien auf-
zufassen, doch werden einzelne Fälle berichtet, in denen Syringo-
myelie vorhanden war.
Die allgemeine Reflexerregbarkeit ist in der Regel erhöht,
bisweilen so stark, dass eine heftige Bewegung gegen das Gesicht
des Kranken ein Zusammenfahren des ganzen Körpers zur Folge
hat. Die Untersuchung der Sehnenreflexe erweist sich häufig als
sehr schwierig, da die Kranken ihre Muskeln durchaus nicht ent-
spannen. Gelingt es endlich, durch Zuhülfenahme der bekannten
Kunstgriffe (psychische Ablenkung, Jendrassik’sches Verfahren)
zum Ziele zu kommen, so findet man die Sehnenreflexe je nach dem
Sitze der Rückenmarkserkrankung bald hochgradig gesteigert, so
dass Fussklonus und saltatorischer Reflexkrampf (beim Aufsetzen
der Zehen auf den Boden) auftritt, bald aber auch abgeschwächt
oder vollständig erloschen (in 20 — 30 °/0 der vorgeschrittenen Fälle) :
hie und da finden sich Unterschiede auf beiden Seiten. Fehlen des
Patellarreflexes scheint sich auch hier besonders häufig mit völliger
Pupillenstarre und Myosis zu verbinden. Die elektrische Erregbar-
keit der Muskulatur soll anfangs erhöht sein; später ist sie herab-
gesetzt.
Von Seiten der Blase sind auch ausserhalb der Anfälle häufig
Störungen vorhanden, sowol Schliessmuskellähmung wie Harnver-
haltung, erstere meist als Folge der letzteren (Harn träufeln). Die
Trägheit des Mastdarms kann zu massigen Kothstauungen führen:
andererseits besteht in allen vorgeschrittenen Fällen völlige Unfähig-
keit, den Koth zurückzuhalten, zum Theil vielleicht wegen Lähmung
der Schliessmuskeln, namentlich aber deswegen, weil der Kranke
die herannahende Entleerung ebensowenig bemerkt wie die Füllung
der Blase bis zum Nabel. Die sexuelle Potenz erlischt, nach-
dem anfangs nicht selten die geschlechtliche Erregbarkeit stark ge-
steigert war.
Unter den vasomotorischen Störungen sind vor allem die
häufigen Blutwallungen zum Kopfe, Erytheme, lange dauernde Nach-
röthung der Haut und selbst Quaddelbildung bei leichten Reizen.
Cyanose zu nennen. Die Sphygmographencurve zeigt öfters all-
mähliches Ansteigen und Erniedrigung der Gipfelwelle („tarde“
Pulsformen), Erscheinungen, die sich auf eine langsamere und wenig
kräftige Ausdehnung der Gefässwand beziehen lassen. An den zu-
Allgemeine Krauklieitszeiclien.
241
gänglichen Arterien, besonders den Temporales, wird nicht selten
starke Schlängelung, auffallendes Hervortreten und Starre als An-
zeichen atheromatöser Erkrankung beobachtet. Mit diesen Gefäss-
veränderungen stehen ohne Zweifel auch die sog. „trophischen“
Störungen in allernächster Beziehung. Es giebt eine ganze Anzahl
von Begleiterscheinungen der Paralyse, deren Auftreten man vielfach
als eine unmittelbare Folge der Entartung gewisser trophischer, die
Ernährung der Organe regelnder Nervenbahnen ansieht, den Decu-
bitus, die Rippenbrüche, die Ohrblutgeschwulst, ja auch die so
häufigen Pneumonien, die man avoI auf einen Nachlass der Vagus-
innervation zurückgeführt hat. Ein unbestreitbares wissenschaftliches
und fast noch mehr praktisches Verdienst Gudden’s ist es, den
Nachweis geführt zu haben, dass alle jene Störungen nicht aus
inneren Ursachen, sondern ganz ausnahmslos unter der Einwirkung
äusserer Schädlichkeiten sich entwickeln.
Freilich Avird man kaum umhin können, eine Herabsetzung der
allgemeinen Widerstandsfähigkeit der Gewebe bei Paralytikern als
Hülfsursache anzimehmen, da hier sehr schwere Störungen schon
bei verhältnissmässig geringen Reizen zu Stande kommen. Die Ent-
stehung des Druckbrandes erklärt sich in erster Linie dadurch,
dass die Kranken wegen ihrer Unempfindlichkeit nicht, Avie jeder
Gesunde, durch unangenehme Druckgefühle zu häufigem Lagewechsel
augetrieben werden, oder doch Avegen ihrer Unbehiilflichkeit denselben
nicht auszuführen vermögen, sondern Avie ein Klotz im Bette liegen.
Unter diesen Umständen kann man schon nach 1 — 2 Stunden, be-
sonders bei Uebereinanderliegen der abgemagerten Beine oder beim
Sitzen auf einer harten Nachtstuhlkante starke Röthung, Quaddel-
und selbst Blasenbildung entstehen sehen, während eine einzige un-
bewachte Nacht vollauf genügt, um eine mehrere Centimeter in die
Tiefe greifende Gangrän zu erzeugen. Ausserdem aber beobachtet
man bei sehr heruntergekommenen Paralytikern bisweilen das Auf-
treten eigenthümlich kreisrunder, oberflächlicher Hautnekrosen an
Stellen, welche durchaus keinem Drucke ausgesetzt gewesen sind.
Endlich ist bei den unreinlichen, wenig Aviderstandsfähigen Kranken
natürlich ein günstiger Boden für die Entwicklung von infectiösen
Hauterkrankungen, insbesondere von Furunkeln. Rippenbrüche
und Othämatome kommen bei Paralytikern verhältnissmässig häufig
und bisweilen in schreckenerregender Ausdehnung zu Stande, Aveil
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. IX. Baud. 16
242
YI. Die Dementia paralytica.
die. Kranken sehr ungeschickt, dabei unruhig und vor allem ausser
Stande sind, sich zu vertheidigen und zu beklagen, so dass sie hülf-
los den Misshandlungen ihrer Umgebung preisgegeben erscheinen.
Ganz gewiss aber spielen auch hier besondere begünstigende Ur-
sachen eine wesentliche Rolle, Ernährungsstörungen im Ohrknorpel
und ungewöhnliche Brüchigkeit der Rippen, von der man sich an
der Leiche häufig genug überzeugen kann. Sie scheint auf einem
einfachen Schwund der Knochenmasse mit Ersatz durch Fett zu be-
ruhen und ist wol eine Theilerscheinung der allgemeinen Ernährungs-
störung in der Paralyse. Auch der geringen Inanspruchnahme der
Rippen in Folge von Herabsetzung der Athembewegungen hat man
dabei eine gewisse Bedeutung zugeschrieben. Dennoch steht die
Thatsache unzweifelhaft fest, dass mit der besseren Ausbildung und
Ueberwachung des Wartpersonals die Zahl der Rippenbrüche wie
der Ohrblutgeschwülste regelmässig abnimmt.
Störungen der Eigenwärme sind in der Paralyse überaus
häufig. Flüchtige, aber oft recht bedeutende Temperatursteigerungen
werden vielfach beobachtet, ohne dass sich immer ein greifbarer
Anlass dafür erkennen Hesse. Bisweilen fördert dann eine Eingiessung
gewaltige Kothmassen zu Tage ; die Blase ist überfüllt, oder es wird
irgendwo ein Rippenbruch entdeckt. In anderen Fällen mögen
leichte bronchitische oder pneumonische Störungen zu Grunde Hegen.
Seltener dürften diese Fieberbewegungen unmittelbar mit der Hirn-
erkrankung im Zusammenhänge stehen. Dagegen ist eine solche
Beziehung wahrscheinHch bei den Wärmesteigerungen, welche die
daralytischen Anfälle zu begleiten pflegen. Bei längerer Dauer dieser
letzteren treten allerdings gewöhnlich noch andere fiebererregende
Ursachen hinzu, namentlich Schluckpneumonien. In den letzten
Stadien der Paralyse kommt es nicht selten zu anhaltender, beträcht-
licher Temperatur Senkung, die von den Kranken auffaUend gut er-
tragen wird. Ich sah einen Paralytiker unter massenhafter Nahrungs-
aufnahme mit Temperaturen bis zu 30,8 herunter wochenlang munter
und lebhaft erregt bleiben.
Von den übrigen Leistungen des Organismus sind es nament-
lich der Schlaf, der Appetit und das Körpergewicht, welche
durch die Paralyse durchgehends in Mitleidenschaft gezogen werden.
Der Schlaf ist in den ersten Stadien der Krankheit vielfach sehr
gestört, später in den Erregungszuständen oft zeitweise ganz auf-
Allgemeine Krankheitszeichen.
243
gehoben, während er gegen das Ende hin wieder besser wird,
obgleich hier bei dem blödsinnigen Hindämmern der Kranken ein
sicheres Urtheil über diesen Punkt kaum möglich ist. Bei manchen
Kranken entwickelt sich eine förmliche Schlafsucht, so dass sie
eigentlich nur dann wach sind, wenn sie essen oder wenn man sich
gerade mit ihnen beschäftigt, während sie unmittelbar nachher sofort
wieder einschlafen. Der Appetit pflegt anfangs und in der Auf-
regung herabgesetzt zu sein, um späterhin gewöhnlich in wahre Ge-
frässigkeit überzugehen; bisweilen wird Wiederkäuen beobachtet.
Das Körpergewicht sieht man im Beginne und auf der Höhe der
Krankheit sinken, dann aber bei dauernder Beruhigung unter massiger
Fettansammlung sehr bedeutend, bis weit über die Norm hinaus an-
steigen und endlich gegen das Ende hin wieder unaufhaltsam bis
zum tiefsten Marasmus herabgehen. Einen Theil dieses Verlaufes
zeigen die beiden umstehenden Curven. Die erste derselben beginnt
mit sehr tiefem Stande bei anfänglicher Erregung; dann tritt aber
ein ungemein rasches Ansteigen ein, das nur von Zeit zu Zeit durch
kleine Rückschläge unterbrochen ist, welche, wie durch Sternchen
angedeutet, fast immer von paralytischen Anfällen begleitet werden.
Nach mehr- als zwei Jahren beginnt ein langsamer Abfall, der in-
zwischen weiter fortgeschritten ist; die Kranke ist nach jährigem
Aufenthalte in der Klinik im Anfalle gestorben. Bei dem zweiten
Kranken lässt die Curve gut die jedesmalige rasche Beruhigung in
der Anstalt erkennen. Mit dem Ansteigen des Gewichtes stellte
sich regelmässig eine Remission ein, welche auch nach der Entlassung
eine längere Reihe von Monaten Stand hielt.
Deuten alle die letztbesprochenen Störungen auf den Ablauf tief-
greifender Stoffwechselveränderungen in der Paralyse hin, so dürften
die leider noch zu wenig verarbeiteten Befunde von Eiweiss und anderen
krankhaften Bestandtheilen im Harn (Glykosurie, Diabetes) in gleichem
Sinne als Theilerscheinungen des allgemeinen Krankheitsvorganges
Beachtung verdienen. Auch die vielfachen Untersuchungen über
das Blut der Paralytiker, die ein helleres Licht auf die all-
gemeine Ernährungsstörung werfen könnten, haben, abgesehen
von den Angaben über die Herabsetzung des Hämoglobingehaltes,
noch nicht zu einwandfreien und übereinstimmenden Er-
gebnissen geführt. Neuerdings fand Idelson Herabsetzung
oder völliges Fehlen der bakterientödtenden Wirkung des Blutes;
16*
244
VI. Die Dementia paralytica.
Curvo VII.
Domonto ParalyRo mit anßliißliclior Errognng, dann Vorblödunp. Violo AnflUlo (*).
Einzelne Kranklieitsbilder.
245
d’ Abundo*) bat die
Giftigkeit desselben er-
höht gefunden. —
Die Mannigfaltigkeit
der Krankheitsbilder,
welche sich aus den bis
hierher besprochenen
einzelnen Störungen er-
fahrungsgemäss zusam-
mensetzen, ist eine so
grosse, dass es kaum
möglich erscheint, eine
auch nur einigermassen
befriedigende Uebersicht
über die klinischen Ge-
staltungsformen der Pa-
ralyse zu geben. Wenn
wir auch überall dem
gemeinsamen Grundzuge
der eigenartigen psychi-
schen Schwäche, den
Zeichen des organischen
Hirnleidens und endlich
dem unerbittlich bis zur
Vernichtung des geisti-
gen und körperlichen
Lebens fortschreitenden
Verlaufe begegnen, so
können doch die ge-
gebenen Beobachtungen
in ihrer Entwicklung wie
in ihren Zustandsbildern
derartig von einander
abweichen, dass dem
Anfänger die allgemeine
*) Rivista sperimentale
di freniatria XVIII, 212.
Curve VIII.
Agitirte Paralyse mit mehrfachen' Remissionen.
246
VI. Die Dementia paralytiea.
Zusammengehörigkeit durch den starken Eindruck widersprechen-
der Einzelheiten völlig verdeckt wird. Erst eine vorgeschrittenere
Erfahrung lehrt uns, dass alle die anscheinend so verschieden-
artigen Gestaltungsformen unvermittelt und unberechenbar in
einander übergehen können und nur die oben gekennzeichneten
Grundzüge „den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht“
abgeben. Alle klinische Einzelschilderung, alle Abgrenzung von
bestimmten Krankheitsbildern auf dem grossen Gebiete der Paralyse
hat daher zunächst nur einen sehr bedingten "Werth. Immer-
hin wollen wir der Uebersichtlichkeit halber im Folgenden versuchen,
hergebrachter Weise als hauptsächlichste Verlauf sarten der Paralyse
die depressive, die expansive, die agitirte und die demente
Form derselben auseinanderzuhalten. Vielleicht lehrt uns einmal
eine bessere Kenntniss der ursächlichen oder der pathologisch-anato-
mischen Verhältnisse des Leidens unter neuen Gesichtspunkten auch
für die klinischen Beobachtungen eine zuverlässigere Gruppirung
erreichen.
Die depressive Form der Paralyse ist gekennzeichnet durch
depressive Verstimmung und Wahnideen, welche den ganzen
Krankheitsv erlauf bis zur völligen Verblödung des Kranken begleiten.
Ihren Ausgangspunkt nimmt die traurige Verstimmung häufig von
dem Krankheitsgefühle des Eingangsstadiums, welches im übrigen
die allgemeinen, schon früher geschilderten Anzeichen einer allmählich
fortschreitenden Schwäche des Gedächtnisses und des Verstandes,
einer erhöhten augenblicklichen Reizbarkeit neben gemüthlicher
Stumpfheit und Willenlosigkeit darbietet. Es sind daher zumeist
hypochondrische Ideen, in denen sich die Verstimmung der
Kranken ausdrückt. Sie sind unheilbar krank, syphilitisch, innerlich
verfault, haben gefühlt, wie ein Giftbrocken in den Kopf gefahren
ist; es haben sich Gefässyeränderungen entwickelt, weil ihnen früher
einmal ein Blutegel angesetzt wurde; der Schädel ist weich ge-
worden, an einer Stelle aufgetrieben, das Gehirn ausgetrocknet „wie
ein Sumpf“, die Nerven vom Denken überreizt Meist bestehen
mannigfache unangenehme Empfindungen in den verschiedensten
Theilen des Körpers, die vielfach wechseln und auch wol durch
Einreden beeinflusst werden können. Die Kranken suchen daher
wegen allerlei wenig greifbarer Beschwerden die Hülfe des
Arztes auf, der sie beim Mangel oder bei Nichtbeachtung eines
Depressive Form. 247
objectiven Befundes für neurasthenisch, hysterisch, hypochondrisch
erklärt.
Allmählich gewinnen die Klagen der Kranken einen ganz un-
sinnigen Inhalt. Sie haben keine Nase, keine Augen, keine Leber
und keine Nieren mehr, haben zwei Leiber; der Magen ist abgedrückt,
der Schlund, der Mastdarm zugewachsen, zugenäht, durch einen Kork
verschlossen, so dass sie weder etwas geniessen noch etwas entleeren
können. Der Schädel ist leer, der Kopf verbrannt; die Eingeweide
sind verfault, mit Milben vollgestopft. Der Magen, ja auch die
Matratze füllen sich immerfort mit Urin; das Essen steigt in den
Kopf hinein oder fällt nur gerade so hinunter; die Lungen sind
verschwunden; die Beine werden zu Eis; alles läuft als Speichel
zum Munde heraus. Es ist Musik im Leibe; alles ist mit Gestank
erfüllt. Der Kopf ist ganz klein zusammengeschrumpft, ausgewechselt
oder gänzlich verloren gegangen, die Zunge angefroren, der Leib
aufgeblasen. Arme und Beine haben sich ungeheuerlich ausgedehnt;
die Kippen sind riesengross, die Ohren von Holz, die Zunge von
Gold; in der Seite stecken 3000 Mark; 100 Pfund Steine liegen auf
der Brust. Der ganze Mensch ist verdoppelt, viereckig, in ein Pferd
verwandelt, unsichtbar, bereits gestorben, ist „schon längst nichts
mehr gewesen“, begraben, eine „lebendige Leiche“, hat gar keinen
Namen. Alle diese „mikromanischen“ Vorstellungen versetzen den
Kranken in lebhaftes Unbehagen und vermögen, wenn sie auch zu-
meist nicht weiter verarbeitet werden, doch sein Benehmen oft
lange Zeit zu beeinflussen. Er bemüht sich wochenlang auf alle
Weise, durch seinen zugewachsenen Schlund etwas hindurch zu
bringen, hantirt unablässig an seiner Zunge, am After, an den
Genitalien herum, sitzt mehrere Stunden täglich auf dem Nacht-
stuhi in der verzweiflungsvollen Erwartung dessen, was kommen
soll; er vermeidet ängstlich jede Lage Veränderung, weil er seine
ungeheuren Hände nicht bewegen kann oder die winzigen Beine
unter der Last des mächtigen „Kikerikikopfes“ zusammenbrechen
müssten.
Mit diesen hypochondrischen Vorstellungen verbinden sich viel-
fach Versündigungsideen; seltener beherrschen diese letzteren
allein das Krankheitsbild. Zunächst können die Selbstvorwürfe ganz
an diejenigen der Melancholiker erinnern. Die Kranken sind grosse
Sünder und Verbrecher, jammern darüber, dass sie kein Herz und
248
VI. Die Dementia paralytica.
keine Liebe mehr haben, ein Gelübde nicht erfüllt, unkeusch ge-
lebt, Vieles gestohlen hätten. Andere glauben, einen Meineid ge-
leistet, den heiligen Geist betrübt, Deutschland verrathen, die ganze
Welt ermordet und zu Grunde gerichtet zu haben; „die ganze Welt
weiss es“; man „macht ihnen Verbrechen“. Eine meiner Kranken
wurde bei völliger Besonnenheit Monate lang von der Idee ver-
folgt, dass sie ihre Kinder ermordet, Nadeln und Glas in das Essen
gethan habe. Von den ihr begegnenden Menschen meinte sie immer,
einen bei Seite gebracht und alle Zeugen zum Schweigen bestochen
zu haben. Ein anderer schrieb einen langen Brief an den Erz-
bischof, in welchem er mit genauen Zahlenangaben die verschieden-
artigsten Unkeuschheiten aufführte, die er sich habe zu Schulden
kommen lassen. Im Anschlüsse an die Versündigungsideen fürchtet
der Kranke gewöhnlich, dass die Bolizei kommen, ihn aufgreifen, er-
hängen, vergiften, verbrennen, in einen Sack stecken, ihm die Glieder
abhacken, die Haut abziehen werde ; er wünscht, vor Gericht geführt,
in Stücke zerhackt, im Backofen gebraten, von drei Ochsen aus-
einandergerissen zu werden, sieht in den Personen seiner Umgebung
Spione und gedungene Mörder. Ein Kranker ging auf den Kirchhof,
um sich sein Grab auszusuchen.
Solche und ähnliche Verfolgungsideen können auch den
einzigen Inhalt des depressiven Wahnes bilden. Dieselben werden
dann meist von Gehörstäuschungen begleitet. Der Kranke hört
seine Lieben weinen, um Hülfe rufen ; Gott spricht zu ihm. Stimmen
bedrohen, beschimpfen, beschuldigen ihn der scheusslichsten Ver-
brechen. Er soll gestohlen, sich mit Thieren vergangen haben,
ist verhext, in der Hölle, ganz arm geworden. Man will ihn und
seine armen Kinder umbringen, ihm den Leib aufschneiden; er
soll fort, vor ein Kriegsgericht geschleppt werden. Seltener sind
Täuschungen der übrigen Sinne. Der Kranke sieht feurige Schlangen
in der Luft, Löwen, weisse Gestalten; die Lichterscheinungen bei
beginnender Sehnervenatrophie hält er für künstlichen Trug; im
Essen ist Gift, Ungeziefer, Menschenfleisch. Das Bett brennt wie
Feuer, wird von elektrischen Schlägen durchzuckt; alles ist ge-
storben; die ganze Welt geht unter. Von Knoten werden immerfort
schreckliche Verbrechen vollführt; es wird eiugebrochen, Feuer an-
gelegt. Ein harmloses Geräusch im Nebenzimmer kündigt dem
Kranken die Bäuber an, die sich im nächsten Augenblicke auf ihn
Depressive Form.
249
stürzen werden. Ein derartiger Kranker meiner Beobachtung ver-
wüstete in seiner Angst sein ganzes Zimmer und hätte um ein Haar
seine Frau umgebracht, die er für einen Einbrecher hielt, bis man
sie aus seiner Gewalt befreite.
Die Besonnenheit pflegt sich bei diesen letzteren Formen
der depressiven Paralyse vielfach zu trüben. Die Kranken verlieren
meist rasch die Fähigkeit zu ruhiger Auffassung ihrer Lage und
ihrer Umgebung, werden oft ganz verstört, stier benommen, verkennen
die Personen, beziehen jede Aeusserung und jedes Ereigniss in ihrer
Umgebung im Sinne ihrer Angst auf sich, so dass sie dauernd von
verworrenen Schreckbildern erfüllt sind. Sie sind an allem Schuld,
müssen für alles biissen, regen die Andern auf, entziehen Jenen
das Essen. Alles ist verkehrt, wirbelt durcheinander. Die Kranken
beten, bitten, flehen um Gnade, sind äusserst schreckhaft und miss-
trauisch, zerkratzen sich, zupfen an ihren Fingern, zerkauen die
Nägel, verkriechen sich, laufen halbnackt herum. Manche Kranke
gerathen in fassungsloseste Verzweiflung, sehen sich mit dem Aus-
drucke des Entsetzens bei jedem Geräusche um, in der Erwartung,
von irgend etwas Schrecklichem betroffen zu werden; sie schreien
unausgesetzt aus Leibeskräften die gleichen, abgerissenen Worte:
„Gift“, „Unglück“, „Sterben“ u. dergl., oder sie vermögen in starrer
Spannung keinen Laut hervorzubringen. Ganz unfähig zu irgend
einem Entschlüsse, sitzen sie rathlos im Hemde oder vor ihrem Essen
da, ohne sich zum Ankleiden oder Zugreifen aufraffen zu können.
Schliesslich wagen sie sich nicht mehr aus ihrem Zimmer, ja aus
ihrem Bette heraus, in welchem sie, am ganzen Leibe zitternd und
schwitzend, mit hochgezogener Decke liegen, um jedem äusseren
Eingriffe einen blinden, rücksichtslosen Widerstand entgegenzusetzen.
Durch keinerlei Beeinflussung sind sie zu den einfachsten Mass-
regeln zu bringen, so dass die Bettlagerung, das Aufstehen, An-
und Auskleiden immer erst nach verzweifeltem Ringen mit dem
vollständig verwirrten Kranken erreicht werden kann.
Nicht selten kommt es zu gewaltthätigen, aber meist sehr unüber-
legten und unsinnigen Selbstmordversuchen oder Selbstverstümme-
lungen. Versuche, Scrotum oder Penis abzureissen, habe ich mehr-
fach erlebt. Ein Kranker hieb sich mit einem Beile glatt die ge-
sammten äusseren Genitalien ab, weil ihm Stimmen vorwarfen,
dass er sich vor Jahren von einem Herrn hatte manustupriren
250
VI. Die Dementia paralytica.
lassen; er wollte sich an dem Gliede strafen, mit dem er ge-
sündigt habe. Noch Andere verschlacken grosse Gegenstände, um
sich zu tödten; so fand ich im Darm eines derartigen Kranken
eine dicke Weichselcigarrenspitze und zwei mehrere Zoll lange
Schrauben.
Die Dauer der heftigen Angstzustände schwankt zwischen
Stunden und Wochen. Nicht selten verschwindet die ängstliche
Spannung ganz plötzlich, um sich ebenso unvermittelt wieder ein-
zustellen. Im übrigen sind die Kranken niedergeschlagen und ver-
stimmt, aber ruhig, oft auch im Zusammenhalte mit den von ihnen
geäusserten Ideen auffallend affectlos. Ueberhaupt fehlt der gemüth-
lichen Erregung durchaus jene Nachhaltigkeit und Einheitlichkeit,
welche den nicht paralytischen Depressionszuständen eigenthümlich
ist. Zuweilen schieben sich vorübergehend Zeiten gehobener und
selbst humoristischer Stimmung dazwischen. In der Nacht tritt ein
himmlisches Wohlgefühl auf; der Kranke erzählt lächelnd, dass es
nun zu Ende gehe. Im weiteren Verläufe mit zunehmendem
Schwachsinn stellt sich oft ein Zustand blöden Wohlbehagens mit
einzelnen kindischen Grössenideen ein. Der Kranke ist schon eine
Ewigkeit alt; in den Wäscheschränken ist lauter Gold.
Nicht ganz selten beobachten wir im Laufe der Paralyse länger
dauernde Stupor zustände, die vielleicht an dieser Stelle Erwähnung
finden dürfen. Die Kranken sprechen weder von selbst noch auf Anreden,
liegen ohne erkennbare Antheilnahme an der Umgebung regungslos
da, nehmen keine Nahrung zu sich, lassen unter sich gehen. Ein-
dringliche Aufforderungen werden sehr langsam und zögernd, mit-
unter gar nicht befolgt. Die Stimmung ist meist ziemlich gleich-
gültig, öfters aber auch etwas ängstlich oder kleinmüthig gefärbt.
Die Auffassung und Orientirung pflegt sehr mangelhaft zu sein,
kehrt aber in der Eegel schon wieder, wenn die Kranken noch gar
nichts oder doch nur einzelne flüsternde Worte vorzubringen ver-
mögen. Wahnbildungen und Sinnestäuschungen können vorhanden
sein oder fehlen. Die Dauer solcher Zustände, die sich an die ein-
leitende Depression, aber auch an Erregungen von verschiedener
Färbung auschliessen können, beträgt bisweilen viele Monate.
Wir haben hier endlich noch kurz einer kleinen Gruppe von
Fällen zu gedenken, in denen System atisirte Verfolgungsideen
entwickelt werden. Die Kranken sind ruhig, vollkommen besonnen.
Depressive Form.
251
geordnet und erzählen in zusammenhängender Weise, dass man seit
einiger Zeit etwas gegen sie im Schilde führe, sie aus dem Wege
räumen wolle, dass sie beobachtet würden, unter polizeilicher Ueber-
wachung stünden, wahrscheinlich fälschlich irgend eines Yerbrechens
bezichtigt seien. Auf der Reise begegnen sie verdächtigen Ge-
stalten, die überall wieder auftaueben; aus den Reden der Um-
gebung entnehmen sie Anspielungen auf persönliche Yerhältnisse.
Die Angehörigen haben sich uicht nur iu ihrem Benehmen, sondern
auch im Aeusseren verändert; ein ganz besonnener Kranker fragte
unmittelbar nach einem mehrstündigen Besuche seiner Frau bei ihr
schriftlich an, ob sie es wirklich gewesen sei. Andere klagen, dass
man ihnen Hirngift, Yitriol und Scheidewasser in das Essen gethan,
sie dadurch aufgeregt und das Gedächtniss geschwächt, die Augen
verdorben hat; man will sie zum Halbsimpel machen. Auch Eifer-
suchtswahn ist nicht selten. Ein Kranker, der vor der Thüre seiner
wegen Misshandlung von ihm geschiedenen Frau lauerte, hörte im
Hausgang ein verdächtiges Geräusch und fand, als er eindrang, dass
der Platz noch warm war, au dem sich die Frau mit dem vermeint-
lichen Nebenbuhler gerade geschlechtlich vergangen hatte. Ein
impotenter Kranker mit tabischen Erscheinungen behauptete, dass
seine Frau ihn durch Spiegel und Eloktricität zu verderben suche
und ihm Schmerzen in den Gliedern mache. Durch das Fenster
tönen Stimmen, 3 bis 4; die Gedanken werden laut; es kommen
telephonische Nachrichten ; die Nachbarn verschwätzen den Kranken.
Längere Zeit hindurch können die Kranken ganz den Eindruck
von Paranoikern machen. Erst bei genauerer Prüfung entdecken wir
einzelne handgreifliche, von dem Kranken aber gar nicht bemerkte
Widersprüche in seinen Erzählungen, trotzdem er anscheinend ganz
klar und verständig ist; wiederholte Darstellungen desselben Vor-
ganges weichen von einander ab. Ferner fehlt die leidenschaftliche
Hartnäckigkeit in der Verteidigung des Wahnes; es gelingt ver-
hältnissmässig leicht, den Kranken vorübergehend in seiner Auffassung
wankend zu machen und zum Eingeständnisse zu bringen, dass er
sich geirrt habe. Er zieht aus seinen wahnhaften Vorstellungen
nicht die naheliegenden Schlussfolgerungen für sein Handeln, sondern
zeigt gerade in dieser Beziehung eine auffallende Weichheit und
Unschlüssigkeit. Einer meiner Kranken, ein sehr tatkräftiger und
umsichtiger Grosskaufmann, der bei längerer Unterhaltung sonst
252
VI. Die Dementia paralytica.
vollständig normal erschien, behauptete in aller Gemütbsruhe, dass
seine Frau ihn durch geschlechtliche Ueberreizung und durch plan-
mässige, geheimnissvolle Anspielungen mit Hülfe der Spiritisten
geisteskrank zu machen und zum Selbstmorde zu treiben suche, um
in den Besitz seiner Lebensversicherung zu gelangen. Trotzdem
liess er sie sich von Amerika nachkommen und suchte sie soviel
wie irgend möglich in seiner Nähe zu haben.
Der depressiven Form der Paralyse gehören nach meinen Er-
fahrungen etwa ein viertel der Fälle an. Sie bevorzugt ein wenig
mehr die höheren Lebensalter, als die übrigen Formen; nur 36 °/0
der Kranken hatten im Beginne des Leidens das 40. Lebensjahr noch
nicht überschritten. Vielleicht dürfen wir hier an die Neigung des
Rückbildungsalters zu Depressionszuständen überhaupt erinnern, um
so mehr, als •wir bei unseren Kranken recht häufig die Zeichen eines
vorzeitigen Alterns vorfinden. Dieser Auffassung würde der weitere
Umstand entsprechen, dass hier das weibliche Geschlecht auffallend
stark (33 °/0) betheiligt zu sein scheint, welches ja auch die meisten
Melancholien im Rückbildungsalter liefert. Remissionen sind bei
dieser Form verhältnissmässig selten (in etwa 12 °/0 der Fälle);
paralytische Anfälle kamen nach meiner Erfahrung bei fast einem
viertel der Kranken zur Beobachtung. Fügen wir hinzu, dass die
Dauer der Krankheit in 7 0 °/0 der Fälle den Zeitraum von zwei
Jahren nicht zu überschreiten pflegt, so kommen wir zu dem Schlüsse,
dass die depressive Paralyse zu den schwereren Formen der Krank-
heit gerechnet werden muss. Der Tod erfolgt bisweilen durch Selbst-
mord oder in Folge von Verletzungen, häufiger durch Erschöpfung
oder im Anschlüsse an paralytische Anfälle.
Die expansive Paralyse beginnt meist mit den allgemeinen
Zeichen des herannahenden Leidens, Abnahme der Arbeitsfähigkeit,
Zerstreutheit, Gedächtnissschwäche, Charakterveränderung, Reizbar-
keit; dazu gesellen sich vielleicht einzelne körperliche Andeutungen,
Kopfschmerz, Erschwerung der Sprache, Schwindelanfälle. Bisweilen
entwickelt sich aus diesen Vorboten heraus zunächst das Bild der
depressiven Paralyse mit Versündigungs- oder Verfolgungsideen imd
Angstzuständen. Häufiger jedoch tritt von Anfang an sogleich eine
heitere Erregung mit blühendem Grössenwahn hervor, wenn auch
hypochondrische Anwandlungen, vorübergehende weinerliche Ver-
stimmungen keineswegs selten sind.
Expansive Form.
253
Die weitere Entwicklung der Krankheit vollzieht sich in der
Kegel allmählich, seltener plötzlich und unvermittelt binnen wenigen
Tagen. Die Anzeichen von Verstimmung und Krankheitsgefühl
verlieren sich; der Kranke wird zugänglich, heiter, gesprächig,
verräth aber dabei durch den Mangel an klarem Verständnisse
für seinen Zustand und seine Lage, durch merkwürdige Urtheils-
losigkeiten und Unbesonnenheiten deutlich, dass es sich nicht um
eine Besserung, sondern nur um eine Aenderung seines Krankheits-
zustandes handelt.
Sehr bald stellt sich nun der eigenthümliche Grössen wahn ein,
die „Megalomanie“, welche vor allem das klinische Krankheitsbil der
Dementia paralytica bekannt gemacht („classische Paralyse“) und auch
die volksthümliche Bezeichnung des ganzen Leidens bestimmt hat. Der
Inhalt desselben umfasst die gesammten Beziehungen des Kranken,
seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, sein Wissen, seine
äussere Stellung, seinen Besitz, seine Zukunft. Zunächst halten sich die
Grössenideen vielleicht noch im Bereiche des Denkbaren und Mög-
lichen und machen den Eindruck kindisch aufdringlicher Prahlereien.
Der Kranke fühlt sich so kräftig wie noch nie, ist auffallend gut
conservirt, sehr gebildet, versteht viele Sprachen, wenn er sie auch
wegen seiner Zahnlücken im Augenblick nicht sprechen kann, hat
wunderschöne Töchter. Er macht vortreffliche Gedichte, hat eine
ausgezeichnete Stimme, hohe Verbindungen, grossartige Aussichten,
verkehrt nur mit feinen Leuten, ist sehr angesehen, kann jeden Tag
die besten Partien machen, erfreut sich des besonderen allerhöchsten
Vertrauens. Sein Geschäft geht glänzend, wirft ein schönes Geld
ab; er wird es bedeutend vergrössern, überall Filialen anlegen, das
grosse Loos gewinnen, wichtige Erfindungen machen, öffentliche Vor-
träge halten, ein Buch schreiben, welches das grösste Aufsehen
machen und ihm bedeutende Summen einbringen muss; er wird
sich ein Schloss bauen, weite Reisen unternehmen, Reichstagsabge-
ordneter werden, glänzende Reden halten und ohne Zweifel binnen
kurzem ins Ministerium berufen werden, hat eine riesige Erbschaft
in Aussicht. Auf der Schule wie an verschiedenen Universitäten
hat er seine Lehrer durch seine Begabung in Erstaunen gesetzt, eine
Menge Preise gewonnen, ist Meister in allen ritterlichen Künsten,
Liebling der Frauenwelt, hat im Kriege Wunder der Tapferkeit ver-
richtet, mehrfach durch sein persönliches Eingreifen den Sieg herbei-
254
VI. Die Dementia paralytica.
geführt, auf grossen Reisen äusserst merkwürdige Erlebnisse durch-
gemacht, ist wiederholt in höchster Lebensgefahr gewesen, aus der
er sich immer wieder durch seine unerhörte Kraft und Klugheit be-
freit hat.
Schon jetzt indessen tritt die bedeutende psychische Schwäche
des Kranken in der widerspruchsvollen Zerfahrenheit seines Wahnes,
in der traumhaften Unbefangenheit, mit der er seine Luftschlösser
aufbaut, und in der Urtheilslosigkeit gegenüber den nächstliegen den
Einwänden nur allzu deutlich hervor. Ein armer Gemeindeschreiber
erzählte mir triumphirend, dass er für jeden Tag seines Anstalts-
aufenthaltes 1000 Rubel Entschädigung verlangen und dann mit dem
erhaltenen Gelde herrlich und in Freuden leben werde. Andere be-
rauschen sich an dem Plane, von nun an einfach alle Waaren mit
50°/o Nutzen zu verkaufen oder sämmtliche Lotterieloose zu erwerben,
damit ihnen das grosse Loos sicher nicht entgehen könne. Einen
guten Einblick in die erregten Gedankengänge solcher Kranker ge-
währt folgende Nachschrift:
„0 Gott, o Gott, ich habe ja so viel Ideen, jede Secunde eine Idee; ich
werde ja noch wahnsinnig — mein armer Kopf! Ich bin das grösste Genie, das je
existirt hat und sitze hier im Narrenhause; ich armer Tropf, ich bin ja zu allem
fähig; lassen Sie mich heim zu meiner armen Frau. Ich hin Offizier; Sie dürfen
mich nicht zurückhalten; ich habe den Krieg mitgemacht; ich müsste eigentlich
im Generalstabswerk stehen, aber ich habe es nicht haben wollen. Ich schenke
ja meine besten Ideen her; mir liegt die Literatur und die Philosophie am Herzen;
ich kann ja meine Patente nicht alle verwerthen; ich denke ja jede Viertelstunde
ein neues aus. Wollen Sie sich Equipage anschaffen, Herr Dr.? Ich bin der
beste Pferdekenner; ich schenke Ihnen 2 prächtige Trakehner; ich baue Ihnen das
schönste Bicycle, das in Europa existirt; ich bin Ihnen ja ewig dankbar; Sie sind
mein Fetter, mein Heiland; Sie retten in mir der Welt ein Genie! Machen Sie
mich gesund; ich küsse Ihnen aus Dankbarkeit die Stiefel! Herr Gott, stehe mir
bei, errette mich aus diesem Narrenhaus; zerschmettere diese Leute, die mich so
misshandeln! Was ist das für eine scheussliche Anstalt; der Baumeister hat ja
gar nichts verstanden! Sehen Sie, Herr Dr., ich will Ihnen einmal zeigen, wie
Sie das umbauen. Die Anstalt ist viel zu akustisch; da müssen Filztapeten her;
die Geisteskranken dürfen Sie nicht machen lassen, was sie wollen; da muss strenge
Zucht her. Ueberhaupt räumen wir die Baracke aus, machen eine Pionirkaserne
draus; der Neckar ist ja in der Nähe. Die Irrenanstalt verlegen wir ins Schloss;
ich baue es um ; ich bin ja über die historische Bedeutung orientirt. Wir machen
da Ausgrabungen, wie die von Schliemann — ach Gott, heisst er Schliemann?
— ich verliere ja das Gedächtniss; ich bin ja wahnsinnig; ich bin verrückt; geben
Sie mir Blausäure, dass ich verrecke ; ich will gern sterben. Lassen Sie mich fort,
lassen Sie mir Handschellen anlegeu und mich durch einen Polizeicommissär in die
Expansive Form.
255
Heimath bringen; ich kann mein Leben nicht im Narrenhaus zubringen; was wird
aus der Deutschen Wissenschaft, aus den Deutschen Universitäten ! Ich bin doch
ein Genie, wie Sie doch merken müssen; ich spreche doch französisch — bin ich
also verrückt? Aber ein Segen war’s, dass ich in’s Narrenhaus kam; soll ich.
Ihnen den Faust declamiren? u. s. w.“
In der Regel nimmt die Unsinnigkeit und Abenteuerlichkeit
des Grössenwahns rasch und unaufhaltsam zu. Der Kranke glaubt
über ungeheure Körperkräfte zu verfügen, kann zehn Elephanten
heben, ist der schönste Adonis der Welt, schläft „wie Tausend in
einer Nacht“, wiegt vier Zentner, nimmt jede Woche 25 Pfund zu,
hat eine eiserne Brust, geht in einer Minute tausend Meilen weit,
kann fliegen; sein Urin ist Rheinwein, seine Ausleerungen Gold.
Er hat alle Wissenschaften studirt, ist Professor für alle Fächer,
spielt den Don Carlos wie ein Gott, spricht sämmtliche Sprachen
der Welt, plaudert mit dem lieben Gott, trinkt täglich hundert
Eiaschen Champagner, hält jeden Nachmittag Hochzeit, zu der alle
Fürstlichkeiten eingeladen sind, zeugt nur kaiserliche Prinzen, hat
eine goldene Frau. Er kann tausend Weiber befriedigen, alle Krank-
heiten curiren, Todte auferwecken, hat ein comprimirtes Gehirn, wird
niemals sterben. Dabei ist er Graf, Fürst, „Kaiser, Gott und Roth-
schild“, „Hercules, Millionär und Wassertaucher“, einstimmig zum
deutschen Kaiser gewählt, „der höchsten Natur zugetheilt“, Ober-
gott, „seine eigene Grossmutter im Cubus“, besitzt sämmtliche hohe
Orden, blauseidene Wäsche, Berge von Gold, ein ungeheures Ver-
mögen, Millionen mal Milliarden, ausgedehnte Jagdgründe, 600 Orlof-
traber, ungezählte Viehheerden in Marmorställen, 100 000 Schiffe,
jedes hundert Fuss lang und hundert Fuss breit, mit 10 000 elek-
trischen Schrauben, Königreiche, Erdtheile, ja die ganze Welt. Er
ist im Himmel geboren, Sohn der Frau Venus, gestorben und wieder
auf die Welt gekommen, hat grosse Reisen gemacht, war in Amerika,
Jerusalem und Kamerun, überall auf seinem eigenen Kriegsschiffe;
er wird Reitknecht mit 10 000 Mark Gehalt, wird die Kaiserin
heirathen, jedem der Mitkranken eine Million schenken, dem Arzte
eine Million Gehalt zahlen „und die Kost“, eine Brücke über den
Ocean nach Indien bauen, einen Thurm errichten in einem Garten,
der tausend Meilen lang ist, mit goldenem Dach, mit eigenem
Theater und Circus; er wird eine Flugmaschine erfinden und im
Weltall herumfliegen, ein Bergwerk bis nach Califomien durch die
256
VI. Die Dementia paralytica.
Erde graben u. s. f. Meist spiegeln sich die persönlichen Lebens-
verhältnisse und Interessen in diesen Ideen wieder, aber immer in
unsinniger Verzerrung. Frauen prahlen mit ihrer Schönheit, ihrem
Schmuck, dem goldenen Taschentuch, mit Diamanten gestickt, mit
ihren zahlreichen und schönen Kindern, deren sie täglich zwei oder
mehrere gebären, erwählen sich die höchsten Würdenträger zu
Männern. Bemerkenswerth ist es, dass sich im allgemeinen die
Grössenideen der weiblichen Paralytiker in bescheideneren Grenzen zu
halten und nicht so ungeheuerlich über das Mögliche hinauszugehen
pflegen wie diejenigen der Männer.
Das Bewusstsein der Kranken ist während der Entwicklung
des Grössenwahnes meist leicht getrübt. Die Umgebung wird nur
unvollkommen und bruchstückweise von ihnen aufgefasst und ver-
standen. Ueber Zeit, Ort und Umstände vermögen sie sich keine
klare Rechenschaft zu geben, wie sich bei eingehender Prüfung
bald herauszustellen pflegt. Sie kümmern sich auch wenig um die
wirklichen Vorgänge, sind vielmehr ganz von ihren traumhaften
Glücksvorstellungen und Plänen in Anspruch genommen. Der Zu-
sammenhang ihres Gedankenganges ist regelmässig ein sehr lockerer
und kann leicht durch äussere Einflüsse gelenkt werden. Wie sie
der Augenblick eingiebt, folgen die verschiedenartigsten Ideen ein-
ander, in buntem Wechsel, unverarbeitet, voll der handgreiflichsten
Widersprüche. Seltener werden einzelne Bestandtheile des Wahnes
längere Zeit hindurch festgehalten; meist wird alles rasch wieder
vergessen oder durch Neues verdrängt. Regelmässig gelingt es,
durch Zureden den Kranken zu neuer Ausdehnung und Aus-
schmückung seiner Grössenideen, fabelhaften Erlebnisse und aben-
teuerlichen Pläne zu veranlassen. Vielfach besteht, wie in dem obigen
Beispiele, deutliche Ideenflucht. Namentlich in den Schriftstücken der
Kranken, bei den Aufzählungen ihrer Wünsche, Aufträge und Pläne
pflegt sie als Theilerscheinung der erhöhten Ablenkbarkeit klar
hervorzutreten. In einzelnen Fällen sind vorübergehend Gesichts-
oder Gehörstäuschungen vorhanden, pflegen aber nur eine geringe
Rolle im Krankheitsbilde zu spielen.
Die Stimmung des Kranken ist, übereinstimmend mit dem
Inhalte seines Wahnes, freudig gehoben, selbstbewusst und hoffnungs-
voll. Sie steigert sich vielfach zu ganz überschwänglicher, un-
beschreiblicher Glückseligkeit. Der Kranke dankt dem Himmel
Expansive Form.
257
unter heissen Freudenthränen, dass ihm eine solche Wonne be-
schieden sei. Die ganze Welt möchte er umarmen und beglücken,
■wie er selbst dadurch beglückt ist, dass sich nun sein Schicksal so
wunderschön und herrlich gestaltet hat. Alles, was ihn umgiebt, ist
unübertrefflich und köstlich; seine Mahlzeiten, seine Wohnung, seine
Kleider sind eines Königs werth, seine Freunde und Bekannten aus-
gezeichnete, edle, hochgebildete Männer, seine Kinder vollendete
Muster an Wohlerzogenheit und Verstand. Hie und da schimmern
indessen durch die gehobene Stimmung leise Andeutungen eines
dumpfen Krankheitsbewusstseins hindurch, das Zugeständnis, etwas
nervös, ruhebedürftig zu sein; auch einzelne hypochondrische An-
wandlungen werden beobachtet, die Klage, dass kein Gehirn mehr
da, das Blut eingetrocknet sei. Auch dieser Stimmungswechsel ist
in der mitgetheilten Nachschrift deutlich erkennbar.
Andererseits jedoch besteht häufig auch eine ausserordentliche
Reizbarkeit. Namentlich Zweifel oder Widerspruch gegenüber den
Grössenideen bringen den Kranken leicht in heftigen, aber rasch ver-
rauchenden Zorn, um so mehr, wenn er gerade nichts auf die Ein-
wände zu erwidern weiss. Auch gegenüber anderen Kranken wird
er bisweilen rücksichtslos gewaltthätig, da er nicht das geringste
Verständniss für deren Zustand hat, sondern sie ohne weiteres für
freche Schwindler und für vollständig gesund erklärt. Er droht
dann, durch seine Artillerie alles zusammenschiessen, die ganze Ge-
sellschaft in Ketten schliessen, „von 100 Kamerunnegern mit eisernen
Peitschen durchprügeln“ zu lassen. Nicht selten beobachtet man ganz
plötzliches Umschlagen der Stimmung in tiefe Depression oder leb-
hafte Angst mit krampfhaftem Weinen und einzelnen hypochondrischen
oder Verfolgungsideen. Freilich pflegen solche Anwandlungen einige
Stunden oder Tage nicht zu überdauern ; seltener bilden sie längere
Abschnitte im Krankheitsverlaufe.
Auf psychomotorischem Gebiete fällt an dem Kranken fast
immer eine gewisse Erregung auf, die sich unter Umständen zu
sehr erheblichen Graden steigern kann. Der Kranke ist unstät,
vielgeschäftig, unternehmungslustig, treibt sich planlos herum, knüpft
überall Bekanntschaften an, benimmt sich auffallend, lärmend, spricht
viel und laut, schreibt zahllose Briefe, geräth leicht in Streit, fängt
an, stark zu trinken, zu rauchen, zu schnupfen, geschlechtlich aus-
zuschweifen. Zugleich beginnt er, an die Verwirklichung der grossen
Kr ae pol in, Psychiatrie. 6. Aofl. II. Band. 17
258
VI. Die Dementia paralytica.
Pläne zu gehen, die ihm aus dem Gefühle unbegrenzter Leistungs-
fähigkeit und aus seinem lebhaften Thatendrange hervorwachsen.
Ohne jede Ueberlegung nimmt er die verschiedenartigsten Unter-
nehmungen in Angriff, die nicht nur über sein Verständniss und
seine Geldmittel, sondern sehr bald auch über das Mögliche überhaupt
hinausgehen. Allerdings bleibt es regelmässig bei einigen unsinnigen
einleitenden Schritten, weil rasch eine neue Idee die frühere ver-
drängt. Er vergrössert plötzlich sein Geschäft, fängt an, zu bauen,
schliesst eine ganz unpassende Ehe oder betreibt seine Scheidung,
um eine vornehme Partie zu machen, zeigt aus dem Stegreif seine
Verlobung mit irgend einer reichen Erbin an, telegraphiert an
Souveräne mit der Bitte um hohe Orden oder Titel, macht gross-
artige Geschenke, kauft auf, was ihm vor das Gesicht kommt, und
bestellt ungemessene Mengen der verschiedensten Gegenstände, die
er zur Ausführung seiner Pläne zu brauchen glaubt. Einer meiner
Kranken, der reich und Liebhaberphotograph war, sandte eine Depesche
ab, mit dem Ersuchen, ihm für seinen Gebrauch Pyrogallussäure
im Werthe von 200 000 Mark zu senden. Andere studiren die An-
zeigentheile der Zeitungen und nehmen kurzer Hand alles in An-
spruch, was dort angeboten wird, Papageien und Köchinnen, Kaleschen,
Landhäuser und Heirathspartien. Auf diese Weise erklärt sich die
ausserordentliche Geschwindigkeit, mit welcher die Kranken grosse
Summen verschwenden, die heilloseste Verwirrung anrichten und
über sich selbst wie über ihre Angehörigen die schwersten Unan-
nehmlichkeiten heraufbeschwören.
Dazu kommt, dass sich in ihrem ganzen erregten und kopflosen
Handeln deutlich jene Abstumpfung des sittlichen Gefühles geltend
zu machen pflegt, welche durch die Erkrankung regelmässig herbei-
geführt wird. Die Kranken werden nicht nur nachlässig in ihrem
Aeusseren, unsauber und unordentlich in der Kleidung, sondern sie
verlieren auch das Verständniss für die einfachsten Anforderungen
des Anstandes, erzählen schmutzige Geschichten, befriedigen ihre
Bedürfnisse ohne Rücksicht auf die Umgebung, rühmen iu scham-
loser Weise die geschlechtlichen Vorzüge ihrer Frauen oder Töchter,
zeigen sich mit öffentlichen Dirnen auf der Strasse oder suchen die-
selben bei Bekannten einzuführen. Ja, wir sehen die Kranken sogar
nicht selten geradezu gefährliche und verbrecherische Handlungen
begehen, kleine Diebstähle, plumpe Betrügereien, Zechprellereien,
Expansive Form.
259
unsittliche Angriffe. Meist verfahren sie dabei so unüberlegt, dass
sie sofort entdeckt werden. Einer meiner Kranken ergriff auf dem
Bahnhöfe ohne weiteres den Koffer eines neben ihm sitzenden
Reisenden und wollte damit verschwinden. Da er nachher trotz
des offenkundigsten Augenscheines oft einfach alles ableugnet, wird
der Kranke bisweilen für einen ganz besonders frechen und ge-
riebenen Gauner gehalten. Erst dann, wenn er die verschiedensten
Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, gegen die Schamhaftig-
keit, Widerstand gegen die Staatsgewalt u. s. f. begangen und
seine Familie binnen kurzer Zeit an den Bettelstab gebracht hat,
wird er endlich, gemisshandelt und gemassregelt, heruntergekommen,
von Ausschweifungen erschöpft, als krank in die Anstalt ein-
geliefert.
Vielfach tritt nunmehr eine gewisse Beruhigung ein, in welcher
der Kranke seine Grössenideen und Pläne zum Theil ableugnet, zum
Theil aber auch mehr oder weniger geschickt zu begründen weiss.
Für die Beobachtung in der Anstalt kann er, der bisweilen nach-
drücklich seine Befreiung verlangt, abgesehen von einem gewissen
Grade des Schwachsinns, unter Umständen annähernd gesund er-
scheinen, doch pflegt sich nach einem Entlassungsversuche früher
oder später in dem Handeln des Kranken die tiefe Störung kund-
zugeben, die seine gesammte Persönlichkeit erfahren hat. An-
dererseits kann das unsinnige Grössendelirium auch längere Zeit,
oft viele Monate und selbst Jahr und Tag hindurch, in allmählich
immer ausschweifenderer und zerfahrenerer Form fortdauern. Man
bemerkt sehr bald, dass die ursprüngliche Regsamkeit und Reich-
haltigkeit des Vorstellungslebens mehr nnd mehr verloren geht. Die
Wahnideen werden dürftiger und zusammenhangsloser, widerspruchs-
voller; die Stimmung wird matter und theilnahmloser, und der
Thatendrang beschränkt sich schliesslich auf das Verfassen von un-
entzifferbaren Briefen und Depeschen, das Entwerfen kindisch un-
geschickter Zeichnungen und Pläne, das Ansammeln allen möglichen
Unraths in den vollgestopften Taschen, das Schreiben endloser
Zahlenreihen, in denen sich das unermessliche Vermögen des Kranken
oder der Gewinn ausdrückt, den er durch seine Unternehmungen
zu erzielen hofft. Nach und nach wird der Kranke immer blöd-
sinniger und stumpfer, wenn auch ein matter Abglanz des Grössen-
wahns bisweilen noch lange Zeit seinen Stimmungshintergrund er-
17*
260
YI. Die Dementia paralytica.
hellt. Zufrieden, mit freundlichem, glücklichem Gesichte, sitzt er da
und lallt vielleicht noch mit kaum verständlicher Sprache einzelne
aus den Grössenideen herübergenommene Worte: „gutes Essen",
„Millionen“, „schöne Pferde“, „goldene Kaiserin“, bis endlich auch
die letzte derartige Erinnerung mit der vollständigen Vernichtung
der psychischen Persönlichkeit erlischt.
Der expansiven Paralyse dürften etwa 15 — 16 °/0 der Fälle an-
gehören. Ihre Dauer ist im allgemeinen eine längere, als diejenige
der anderen Formen; von den in den letzten 7 Jahren bei uns ver-
storbenen Kranken ging nur etwa 1/3 innerhalb der ersten zwei
Jahre zu Grunde. Einzelne Fälle konnte ich bis zu 14jäbriger Dauer
verfolgen. Erklärt wird dieser langsame Verlauf vor allem durch
die häufigen Remissionen, die ich in einem Drittel meiner Fälle
auftreten sah. Namentlich beobachtet man hier nicht selten Jahre
vor dem Auftreten der eigentlichen Krankheit einzelne Krankheits-
erscheinungen, Doppeltsehen, Schwindelanfälle, Reizbarkeit, Er-
regung, Versagen der Sprache, welche dann völlig wieder zurück-
treten können. Mir ist es unzweifelhaft, dass wir jene Störungen,
sofern sie in das klinische Bild der Paralyse hineinpassen, als erste
leise Anfänge des Krankheitsprocesses aufzufassen haben. So sah
ich noch 1884 einen Fall, in welchem durch derartige Vorboten ein
ursächlicher Zusammenhang mit dem Kriege von 1870 wahrschein-
lich wurde.
Das Schwanken zwischen depressiven und expansiven Zuständen,
wie wir es oben kennen gelernt haben, kann sich in einzelnen
Fällen mehrmals hintereinander wiederholen, so dass kürzere oder
längere Zeiten heitersten Grössen wahns mit dem Versinken in
ängstliche Verstimmung, hypochondrische Verzweiflung oder völlige
Stumpfheit abwechseln. Diese Verlaufsart hat man auch wol als
circuläre Form der Paralyse bezeichnet. Die äussere Aehnlich-
keit mit gewissen Fällen von circulärem Irresein ist bisweilen
eine sehr grosse. Trotzdem wird man sie von diesem letzteren
wegen ihrer schleppenden Entstehungsweise in reiferem Lebensalter,
wegen der Unregelmässigkeit der einzelnen Abschnitte, namentlich
aber wegen der deutlichen Anzeichen zunehmender psychischer
Schwäche, wegen der nervösen Störungen und des fortschreiten-
den Verlaufes bei längerer Beobachtung immer abzugrenzen im
Stande sein. —
Agitirte Form.
26 L
Die agitirte Paralyse ist diejenige Verlauf sart der expansiven
Form, bei welcher ausgeprägtere manische und deliriöse Erregungs-
zustände das Krankheitsbild beherrschen. Gerade bei dieser Form
sind die einleitenden Störungen häufig sehr gering, so dass die
Krankheit öfters ganz plötzlich hereinzubrecheu scheint. Meist ent-
wickelt sich hier sofort ein fast noch blühenderer und unsinnigerer
Grössenwahn, als wir ihn schon bei der expansiven Form kennen
gelernt haben. Binnen wenigen Tagen wird der Krauke von allen
seinen früheren Leiden und Gebrechen geheilt; er besitzt die Krone
vom Heiland, eine Villa im 8. Himmel, führt eine neue Zeit-
rechnung herbei und rückt auf zum höchsten Gott, der ewig gelebt
und das Weltall erschaffen hat. Er kann Menschen und Pferde
künstlich machen, Todte auferwecken, ist Naturmensch, Graf Reinach,
König von Spanien. Sonne, Mond und Sterne gehorchen seinen
Befehlen; mit Gedankengeschwindigkeit vermag er sich an jeden
Punkt des Himmels zu versetzen. Er hat alle Kriege geführt, alle
Schlachten gewonnen, die grössten Entdeckungen und Erfindungen
gemacht, alle grossen Männer aller Zeitalter persönlich gekannt
oder selber erzeugt. Er gebietet über fabelhafte Reichthümer,
deren Werth in Zahlen überhaupt nicht ausgedrückt werden kann,
über Decillionen oder Decilliarden, baut im Nu die prachtvollsten
Schlösser und Dome aus violetter Mondkohle, Diamanten und
Edelsteinen, befruchtet Tausende der schönsten Weiber mit den
herrlichsten Göttersöhnen. Bisweilen verbinden sich Grössen- und
Kleinheitsideen in unentwirrbarer Weise miteinander. Der Kranke
ist verzweifelt darüber, dass er sich in seiner Dummheit in die
Anstalt begeben hat, statt seine Millionen deutscher Reichspatente
auszunutzen und sich als Kaiser krönen zu lassen. Dadurch ist ihm
der Hals zugewachsen, und er hat unermesslichen Schaden. Aber
er wird so viele Milliarden unter die Leute vertheilen, dass Niemand
mehr von seiner Verrücktheit sprechen wird. Sein Bauch ist voll
Eiter, sein Kopf mit Käfern gefüllt, Gedächtniss und Verstand
verloren, aber er wird wiedergeboren, bekommt ein neues Hirn
und stärkere Muskeln, andere Augen. In den plötzlichen Ver-
zweiflungsanwandlungen kann es zu triebartigen Selbstmordversuchen
kommen.
Hier pflegt auch die Aufregung eine sehr viel stärkere zu sein.
Zeitweise kommt es zu ideenflüchtiger Verworrenheit mit grosser
262
VI. Die Dementia paralytica.
Reizbarkeit und Gewalttätigkeit. Eine solche Kranke lieferte folgende
abgerissene Sätze:
„Das war eine Qual, in diesem Saal, nur das Knicken und das Knacken;
sie haben’e getban, sie baben’s gethun, sie baben nichts verschuldet. Nicht sie,
nicht ich, nicht sie, nicht ich, nur die eine vereinte menschliche Natur, nein,
nein, nein, nein, nur die Spur, zu dem Hang, der Natur, ja, ein ruhiges Gewissen,
wird mir stets den Schlaf versüssen, lebe wohl, lebe wohl, du schöner Wald.
Wörrishofer Kurgast, als gerathen, die isst Hasenbraten, ein Kurgast, diese Kuh,
die macht Muh. Acb, da ruckt’s, ach da spuckt’s, mit dem einen, mit dem kleinen,
vereinbarten Ding, in dem Ring, der menschlichen Natur.“
Der Kranke ist Tag und Nacht unruhig, ohne Unterbrechung
mit seinen unendlichen Plänen beschäftigt, Befehle in alle Himmels-
richtungen telephonirend, lacht, schwatzt, singt unaufhörlich, hält
Zwiegespräche mit Gott, masturbirt, ist unrein und schmiert mit dem
Essen und seinen Ausleerungen herum. Er schläft fast gar nicht,
nimmt sehr unregelmässig Nahrung zu sich, da er unvergleichlich
viel Besseres zu beanspruchen hat; sein Körpergewicht sinkt sehr
rasch. Nicht selten sind subnormale Tempera-
turen; mehrfach sah ich die Anzeichen eines
Diabetes insipidus.
Die schwersten Fälle der agitirten Paralvse
hat man bisweilen mit dem Namen der
galoppirenden Paralyse belegt. Es handelt
sich dabei um einen überaus raschen, tödt-
lichen Verlauf der Erkrankung unter deu
Erscheinungen hochgradigster psychischer
und nervöser Erregung mit plötzlichem
Zusammenbruche. In der Regel bildet dieses
stürmische Krankheitsbild den Abschluss einer
agitirten, seltener depressiven Paralyse; es
giebt aber auch Fälle, die von vorn herein in
dieser Weise verlaufen. Unter rasch sich
steigernder Erregung wird der Kranke voll-
kommen verwirrt und imbesinnlich, stösst nur
unarticulirte Laute oder stereotype, unsinnige
Silben aus, wälzt sich am Boden, zappelt mit
Armen und Beinen, schläft nicht, nimmt keine
Curve VIII Nahrung zu sich, sondern spuckt alles wieder
Gaioppirondo Paraiyso. aus, lässt Kotk und Urin unter sich gehen. Das
Agitirte Form.
263
Körpergewicht sinkt mit erschreckender Schnelligkeit, wie die
Curve VIII zeigt; der Puls ist klein und frequent, die Temperatur
erhöht (38 — 39°), wahrscheinlich meist wegen der zahlreichen
Quetschungen und Hautabschürfungen, die sich der Kranke
in seiner sinnlosen Erregung zuzieht. Nach einigen Tagen oder
Wochen, nachdem vielleicht schon wiederholt apoplektiforme oder
epileptiforme Anfälle dagewesen sind, werden die Bewegungen des
zeitweise soporösen Kranken unsicher und zitternd; die Mund-
höhle ist trocken, Lippen und Zunge mit dicken, schwärzlichen
Krusten bedeckt; es stellen sich profuse Diarrhöen, kalte Schweisse,
Sehnenhüpfen, grosse Neigung zu Decubitus ein, und unter zu-
nehmender Herzschwäche erfolgt, bisweilen nach vorübergehender
Besonnenheit, der tödtliche Ausgang. Dieses Krankheitsbild ist
es, welches ohne Zweifel bisweilen mit unter der Bezeichnung
des „Delirium acutum“ zusammengefasst worden ist. Es gilt das
namentlich für diejenigen Eälle, in denen die einleitenden Er-
scheinungen wenig oder gar nicht ausgesprochen sind. Was mir
diese Anschauung vor allem wahrscheinlich macht, ist der Um-
stand, dass man hie und da Gelegenheit hat, einen Kranken aus
diesem Zustande sich wieder erholen und nunmehr die vorher viel-
leicht nicht bemerkten Zeichen der Paralyse unzweifelhaft hervor-
treten zu sehen.
Die agitirte Form ist im ganzen die seltenste Erscheinungsart
der Paralyse; nach meinen Erfahrungen möchte ich derselben
höchstens 11 °/0 der Fälle zuzählen. Paralytische Anfälle sind ziem-
lich häufig; Remissionen habe ich in nahezu einem Viertel der Fälle
beobachtet. Die Dauer betrug in 2/s der Fälle weniger als zwei
Jahre; bei der galoppirenden Form kann das Ende schon nach
wenigen Monaten, vielleicht sogar noch schneller eintreten.
Zum Schlüsse sei hier noch kurz eines Krankheitsbildes
gedacht, welches zwar nicht selbständig auftritt, aber in allen
Formen der Paralyse sich vorübergehend einschieben kann, nament-
lich in den ersten Zeiten des Leidens. Ich meine gewisse
deliriöse Zustände, welche eine grosse klinische Aehnlichkeit mit
dem Delirium tremens zeigen. Die Kranken verlieren rasch die
Orientirung, gerathen in eine eigenthümliche Unruhe mit Be-
schäftigungsdelirium, lebhaften Sinnestäuschungen, Schlaflosigkeit und
starkem Zittern, mit halb ängstlicher, halb euphorischer Stimmung,
264
VI. Die Dementia paralytica.
aber ohne den kennzeichnenden Humor der Trinker. Nach einigen
Tagen oder Wochen pflegt Beruhigung und Klärung einzutreten.
Man ist in der Regel versucht, diese Zustände ohne weiteres für
alkoholische zu halten und sie auf übermässiges Trinken in gesunden
oder kranken Tagen zurückzuführen. Für eine Anzahl von Fällen
hat diese Auffassung gewiss Berechtigung. Abgesehen aber davon,
dass oft der vorausgegangene Alkoholmissbrauch ein ganz unver-
hältnissmässig geringer gewesen ist, habe ich zu meiner Ueber-
raschung jenes Krankheitsbild auch in einzelnen Fällen auftreten
sehen, in denen es sich bestimmt um sehr nüchterne und mässige
Kranke handelte. Es hat demnach den Anschein, als ob es ein
Delirium der Paralytiker giebt, welches demjenigen der Trinker zwar
sehr ähnlich, aber doch nicht mit ihm wesensgleich ist. —
Als demente Form bezeichnen wir diejenige Gruppe von Fällen,
bei welcher die Erscheinungen des fortschreitenden Blödsinns
von vorn herein das Krankheitsbild beherrschen. Meist finden sich
auch hier einzelne Andeutungen der bisher besprochenen Störungen,
namentlich vorübergehende deliriöse Erregung, triebartige ängstliche
Unruhe, kümmerliche hypochondrische oder Grössenideen, vereinzelte
Sinnestäuschungen, allein diese psychischen Reizerscheinungen treten
ganz in den Hintergrund gegenüber der Lähmung, der rasch und
stark ausgeprägten Verblödung. Die ersten Anzeichen der heran-
nahenden Krankheit sind Verlust der geistigen Regsamkeit, Unfähig-
keit zur Arbeit, Gedankenarmuth, Vergesslichkeit und Zerstreutheit,
unvermittelte Launenhaftigkeit und Reizbarkeit neben auffallender
Gleichgültigkeit und Schlaffheit in wichtigen Angelegenheiten, Klagen
über Schmerzen oder Druckempfindungen im Kopfe. Der Kranke
ermüdet rasch, schläft gelegentlich in Gesellschaft ein, ist bisweilen
plötzlich wie abwesend; er wird unsicher und leicht bestimmbar in
seinem Urtheile, in seinen Entschlüssen, dabei oft zu Zeiten wieder
in Kleinigkeiten sonderbar eigensinnig. Bei Dingen, die ihm sonst
durchaus geläufig waren, irrt er sich und muss sich lange besinnen,
um sich ganz einfache Daten zu vergegenwärtigen, mit denen er
vielleicht täglich zu arbeiten hatte. Das Bewusstsein trübt sich all-
mählich; der Kranke ist nicht mehr im Stande, die Vorgänge
in seiner Umgebung zu verstehen, verliert die Klarheit über Zeit,
Ort und Lage. Seine Gedanken verwirren sich; er macht zeitweise
den Eindruck eines Betrunkenen, verirrt sich in seiner eigenen
Demente Form.
265
Wohnung und erkennt vielleicht seine nächsten Angehörigen und
Freunde nicht mehr. In etwa 1/3 der Fälle werden vorübergehend
Erregungszustände mit mehr oder weniger starker deliriöser Be-
nommenheit beobachtet.
Nicht selten tauchen auch flüchtige Wahnvorstellungen oder
Sinnestäuschungen auf. Der Kranke sieht schwarze Männer mit
grossen Bärten, Engel im Himmel, hört Mückenstimmen, Schimpf-
worte, fühlt sich verdoppelt, verhext. Er wird bestohlen, vergiftet,
gequält, ist von Adel, sehr reich, wird eine schöne Frau heirathen,
rühmt seine 1000 Orden, seine schöne Stimme, seine „stolzen“
Unterhosen, hat eine seidene Kappe, eine Uniform zu Hause. Ein
Kranker telegraphirte beim Ausbruche des Leidens nach Hause,
dass er eine grosse Entdeckung gemacht habe, sprang kurz darauf
in einem Angstanfalle aus dem Fenster, um von da ab das Bild
eines einfachen, behaglichen Blödsinns darzubieten. Die Wahn-
vorstellungen der Kranken tragen deutlich die Kennzeichen des
Kindischen und Schwachsinnigen; sie lassen sich in der Regel durch
Zureden sehr leicht beeinflussen. Oefters beginnen die Kranken
auch in der gleichen schwachsinnigen Weise zu fabuliren, erzählen
von einem Zusammentreffen mit dem Kaiser, von einer Geldsendung,
die eingetroffen sei, von einem Besuche, den sie am Morgen ge-
habt haben.
Die gemüthliche Erregbarkeit pflegt dabei meist mehr
und mehr zu schwinden. Im Beginne freilich tritt nicht selten
eine dumpfe Angst auf, innere Unruhe, Beten, plötzliches Weinen
oder unvermittelter Wechsel der Stimmung. Yielfach besteht auch
Reizbarkeit, wüste geschlechtliche Erregbarkeit und selbst Neigung
zu Gewaltthaten, die sich in Bedrohungen und Angriffen auf die
Umgebung äussern kann. Späterhin aber wird der Kranke stumpf,
theilnahmlos, zeigt nicht das geringste Interesse mehr für die Per-
sonen und Dinge, die ihn am nächsten angehen. Die Vorhaltungen,
die ihm wegen seiner Yerstösse gemacht werden, nimmt er ohne
nachhaltige Reaction hin; er versteht kaum, was man von ihm will,
da er den Ueberblick über seine Berufsthätigkeit bereits vollkommen
verloren hat.
Sehr deutlich tritt gewöhnlich ein stumpfsinniges, rücksichtsloses
Interesse für gröbere Genüsse hervor. Der Kranke isst, trinkt, raucht,
so lange ihm die Genussmittel erreichbar sind, unempfindlich gegen
266
VI. Die Dementia paralytica.
alle sich aus seiner Gier ergebenden Folgen. Meist entwickelt sich
im weiteren Verlaufe eine ungemein kennzeichnende schw-achsinnige
Zufriedenheit, die sich in vergnügtem Lächeln, in der freundlichen
Miene bei jeder Anrede und in herzlichen Begrüssungen ganz fremder
Personen kundgiebt. Trotz des raschen geistigen Verfalles fühlt
sich der Kranke doch kerngesund und leistungsfähig, ist überall
„gern da“, findet alles ausgezeichnet und vortrefflich. In anderen
Fällen dagegen besteht doch eine gewisse allgemeine Vorstellung
von der tiefgreifenden Veränderung, die sich mit der eigenen Per-
sönlichkeit vollzogen hat. Der Kranke klagt selbst über die Lang-
samkeit und Schwerfälligkeit seines Denkens, über seine Vergesslich-
keit, und sucht deswegen ärztliche Hülfe auf, ja er rafft sich vielleicht
sogar in der mehr oder weniger klaren Furcht vor dem bevorstehen-
den Leiden zu einem Selbstmordversuche auf, wenn derselbe auch
bei seinem Schwachsinn und dem Mangel an Thatkraft häufig er-
gebnisslos bleibt.
Die Arbeitsfähigkeit des Kranken wird durch die rasch fort-
schreitende Verblödung auf das empfindlichste geschädigt. Er fängt
an, in seinen gewohnten Verrichtungen unordentlich und nachlässig
zu werden, versäumt seine Dienststunden, wichtige Aufträge, vergisst
die Aufschrift auf seinen Briefen, verliert oder verlegt werthvolle
Gegenstände, Geld, Papiere, kommt mit seinen Arbeiten gar nicht
oder nicht rechtzeitig zu Stande und lässt sich unbegreifliche Ver-
sehen zu Schulden kommen, Schnitzer in der Rechtschreibung, grobe
Rechenfehler u. dergl., ohne es selbst recht zu bemerken. Ein Be-
amter meinte, die Erlasse seiner Vorgesetzten Behörde müssten in
den letzten Jahren immer dunkler und unverständlicher geworden
sein, da er sie sich nicht mehl- wie früher sogleich einprägen könne.
Meist hört er überhaupt auf, sich um seine Obliegenheiten zu
kümmern. Dagegen begeht er allerlei unvernünftige und verkehrte
Handlungen, die ihn nicht selten mit der öffentlichen Ordnung und
mit dem Strafgesetze in Widerstreit bringen. Er wird unruhig,
lärmend, treibt sich zwecklos herum, selbst halbnackt, trinkt, bettelt,
wird als Landstreicher aufgegriffen, verübt Zechprellereien und
plumpe Diebstähle, geräth in Streit und Thätlichkeiten, macht scham-
lose unsittliche Angriffe. Ein ganz gebildetes und besonnenes
Mädchen bat bei jedem Besuche die Aerzte flehentlich, doch mit fin-
den Beischlaf zu vollziehen, damit ihr Kopf wieder gesund werde,
Demente Form.
267
und versuchte geradezu mit Gewalt ihren Zweck zu erreichen.
Auch in diesen Handlungen ist meist der Schwachsinn deutlich er-
kennbar. Einer meiner Kranken hieb junge Bäume in einem öffent-
lichen Garten um und versuchte, sie in seinem eigenen Gelände
wieder einzupflanzen; ein anderer brachte ohne weiteres die Ernte
seines Nachbarn ein, verpflanzte dessen Kartoffelstauden zwischen
die seinigen, so dass auch diese zu Grunde gingen. Noch ein
anderer nahm vor den Augen des Verkäufers eine Schinkenwurst
vom Nagel, lief damit fort und versteckte sie in seinem Keller; ein
vierter endlich belud sich mit werthlosen leeren Flaschen.
Das äussere Benehmen der Kranken verräth meist sehr bald
die Vernichtung der geistigen Persönlichkeit. Sie sind ganz willen-
los, gutmüthig, lenksam, dämmern gleichgültig vor sich hin, sind
nicht mehr im Stande, für ihre Bedürfnisse zu sorgen, vergessen die
Nahrungsaufnahme und werden imvermuthet unrein. In anderen
Fällen begegnet man einem eigenthümlich abstossenden, unzugäng-
lichen Wesen. Die Kranken geben auf jede Anrede unwirsche,
zurückweisende Antworten ohne klaren Beweggrund, ohne eigent-
lichen Affect und ohne sich durch freundliches Zureden beeinflussen
zu lassen ; sie sträuben sich gegen die bestgemeinten Massregeln und
lassen auch in diesem sinnlosen Widerstande den bereits weit vor-
geschrittenen Blödsinn erkennen.
Endlich aber finden sich einzelne Kranke, die trotz tiefsten
Blödsinns überraschend gut ihre äussere Haltung bewahren. Wir
sehen dann, wie der Kranke, der uns formgerecht begrüsst, sein
Aeusseres in Ordnung hält, keine Ahnung hat, wo er sich befindet,
seine Angehörigen kaum oder gar nicht erkennt, über seine Ver-
gangenheit keinerlei Auskunft zu geben vermag. Gerade in solchen
Fällen wird das Leiden, da der Kranke ganz aufhört, zu klagen,
viel schläft, einen vorzüglichen Appetit zeigt und an Körpergewicht
stark zunimmt, von der Umgebung öfters erst dann gewürdigt, wenn
der Blödsinn schon sehr weit gediehen ist. Die Angehörigen ge-
wöhnen sich, wie es scheint, so sehr an den allmählich fortschreiten-
den Untergang der psychischen Persönlichkeit, dass sie oft gar nicht
von der Schwere der Störung zu überzeugen sind und die be-
scheidensten geistigen Regungen als Anzeichen nahezu völliger Ge-
sundheit betrachten. „Er weiss doch noch alles,“ meinen sie, wenn
der Kranke seine Frau erkennt oder sich zufällig zu entsinnen ver-
268
VI. Die Dementia paralytica.
mag, dass er Kinder besitzt. Mir wurde ein derartiger Kranker
zugeführt, der noch den verantwortungsvollen Posten eines Cassiers
bekleidete, als er sich bereits häufig verunreinigte und ganz ein-
fache Additionen nicht mehr auszuführen im Stande war. Ein
anderer, ein Arzt, kam unmittelbar aus seiner umfangreichen
Praxis selber ins Krankenhaus, um sich ein Panaritium operiren
zu lassen. Als er sich hier in der Nacht verirrte und in die
Frauenabtheilung gerieth, wurde entdeckt, dass er bereits hoch-
gradig blödsinnig war und die Dosirung des Morphiums nicht
mehr kannte.
Die demente Form ist wahrscheinlich die häufigste Yerlaufsart
der Paralyse überhaupt. Obgleich gerade diese Kranken wegen
ihrer Harmlosigkeit verhältnissmässig seltener in die Irrenanstalt
gelangen, gehörten doch mehr als 40 °/0 der während der letzten
Jahre in meiner Klinik beobachteten Fälle dieser Form an. Die
körperlichen Begleiterscheinungen sind dieselben wie bei den übrigen
Formen. Insbesondere habe ich bei genauerer Prüfung nicht finden
können, dass tabische Störungen hier verhältnissmässig häufiger seien.
Dagegen sah ich paralytische Anfälle beträchtlich öfter auftreten, in
mehr als 45% der Fälle. Dem entsprechend wurden ausgiebige
Nachlässe der Krankheitserscheinungen seltener beobachtet, als bei
den anderen Formen, namentlich der expansiven Paralyse. Die
Krankheitsdauer überstieg in fast der Hälfte der Fälle zwei Jahre
nicht; in 18% erfolgte der Tod bereits innerhalb eines Jahres nach
dem Auftreten der ersten Krankheitserscheinungen, und nur ver-
einzelte Fälle wiesen eine Dauer bis zu 4 und 5 Jahren oder länger
auf. Die demente Form scheint demnach das schwerste paralytische
Krankheitsbild darzu stellen. —
Wie sich aus den vorstehenden Einzelschilderungen ergiebt,
setzt sich der Gesammtverlauf der Paralyse im allgemeinen aus
einem bisweilen ganz imbemerkt bleibenden Einleitungsstadium und
aus einer Zeit lebhafterer Krankheitserscheinimgen zusammen, an
welche sich dann der später zu besprechende Endzustand tiefen
Blödsinns anschliesst. Es ist jedoch von grösster Wichtigkeit, zu
bemerken, dass in diesen verschiedenen Abschnitten des Krankheits-
verlaufes die Stärke der körperlichen Störungen durchaus nicht
immer der Ausbildung der psychischen Krankheitszeichen entspricht.
Es giebt einerseits Fälle, in denen selbst schwere Sprach- und
Verlauf.
269
Schriftstörungen lange Zeit bestehen können, bevor eine irgend
auffallendere Beeinträchtigung des Gedächtnisses oder Verstandes
nachweisbar ist. Andererseits aber — und das ist praktisch weit
wichtiger — vermögen wir aus dem psychischen Krankheitsbilde
sehr häufig die beginnende Paralyse bereits mit voller Sicherheit zu
erkennen, während die körperliche Untersuchung durchaus noch
keine verwerthbaren Anzeichen liefert. Aus der ungenügenden Be-
rücksichtigung dieser Erfahrung entspringen zahlreiche diagnostische
Fehlschlüsse.
Der Verlauf aller Formen der Paralyse kann durch zwei ver-
schiedene Ereignisse fast stets in unberechenbarer Weise beeinflusst
werden, durch paralytische Anfälle und durch Remissionen.
Die ersteren können jederzeit einen unvorhergesehenen, bedeutenden
Fortschritt aller Krankheitserscheinungen oder auch plötzlichen Tod
zur Folge haben; sie sind bei weitem am häufigsten in der
dementen, am seltensten in der expansiven Form. Auf der anderen
Seite sieht man gelegentlich ausgiebige Nachlässe der psychischen
und nervösen Störungen in nahezu allen Abschnitten der Paralyse,
mit Ausnahme des allerletzten, den Ablauf der Krankheit verzögern.
Am häufigsten scheinen derartige Besserungen bei der agitirten und
namentlich bei der expansiven Form vorzukommen; selten und
wenig ausgeprägt beobachtet man sie bei der depressiven und
dementen Form. Der Eintritt der Beruhigung vollzieht sich bis-
weilen ganz rasch, von einem Tage zum andern, wenn auch die
volle Höhe der Remission erst allmählich, vielleicht im Laufe von
Monaten, erreicht wird. Der Kranke erscheint klar, besonnen,
geordnet; die Wahnideen treten zurück und werden von ihm als
Träume und Einbildungen bezeichnet; er kann sich oft selbst nicht
genug wundern, wie ihm nur all das „dumme Zeug“ in den Kopf
hat kommen können. Gleichwol geräth er vielleicht in den ersten
Tagen gelegentlich immer wieder in seine früheren Ideen hinein,
um erst auf ernstes Zureden die Wahnhaftigkeit derselben von neuem
einzusehen und zu zugestehen.
Die Erinnerung an die Zeit der Krankheit ist zunächst oft eine
verworrene, doch tauchen nach und nach viele Einzelheiten wieder
deutlicher auf. Allmählich kann sogar eine gewisse Krankheits-
einsicht zu Stande kommen, wenn auch manche der verkehrten
Handlungen noch in krankhafter Weise begründet oder als durch
270
VI. Die Dementia paralytiea.
äussere Umstände und Einwirkungen veranlasst dargestellt werden.
Mit dieser mangelhaften Klarheit über die Vergangenheit verbindet
sich häufig eine siegesgewisse Einsichtslosigkeit hinsichtlich der
Zukunft. Der Kranke fühlt sich nunmehr vollständig gesund und
weiss ganz bestimmt, dass er es auch in Zukunft bleiben -wird;
die Mahnungen des Arztes schlägt er daher leichthin in den
Wind. Die Stimmung ist bald eine selbstzufriedene, vergnügte,
bald aber auch gedrückt und theilnahmlos , indem der Kranke
sich müde, abgespannt, erholungsbedürftig fühlt und über allerlei
körperliche Beschwerden klagt, namentlich über Druck und Schmerzen
im Kopfe.
Nach und nach kann sich der Zustand des Kranken immer
mehr bessern, so dass er, besonders in den engen, geschützten Ver-
hältnissen der Anstalt, den Eindruck eines nahezu oder völlig ge-
sunden Menschen macht. Den nächsten Angehörigen und Freunden
pflegt freilich eine leichte Abschwächung des Verstandes und des
Gedächtnisses, eine Abstumpfung seiner geistigen Regsamkeit und
seiner gemüthlichen Antkeilnalnne sowie ein gewisser Mangel an
Thatkraft und Nachhaltigkeit kaum jemals verborgen zu bleiben.
Dennoch sind manche derartige Kranke im Stande, selbst den ver-
antwortungsvollen Beruf eines Eisenbahnbeamten, Officiers, Arztes
während der Besserung mit Erfolg wieder aufzunehmen. Einer
meiner Kranken füllte nicht nur seine Stellung als Telegraphen-
beamter zur vollen Zufriedenheit 5 Jahre lang aus, sondern rückte
auch in höhere Stellen vor, bestand Prüfungen und heirathete; ein
anderer, der Grössenideen, Sprachstörung, Pupillenstarre, West-
p haDsches Zeichen und Schwindelanfälle darbot, verlor seine Grössen-
ideen, war 6 Jahre lang wieder in seinem früheren Amte als Schul-
diener thätig, erkrankte von neuem mit den früheren Erscheinungen,
ist aber nach rascher Besserung schon wieder ein Jahr lang in
seinem Dienste. In der Regel allerdings dauern die Nachlässe höchstens
eine Reihe von Monaten; jene Fälle, in denen die Kranken länger
als 2 — 3 Jahre annähernd gesund bleiben, sind immerhin als ver-
einzelte Ausnahmen zu betrachten.
Die letzten Stadien der Krankheit sind allen Formen der-
selben, mit Ausnahme der frühzeitig tödtlich verlaufenden Fälle,
gemeinsam. Der Kranke wird immer stumpfer und blöder; er
kennt die Gegenstände und Personen seiner Umgebung nicht mehr.
Ausgang.
271
versteht weder Aufforderung noch Geberde und ist schliesslich kaum
viel mehr, als ein vegetirender Körper, in dem das psychische Leben
gänzlich oder fast gänzlich erloschen ist. Bisweilen tritt zeitweise
eine gewisse Erregung mit stunden- und tagelangem lallendem, ein-
förmigem Schreien und Brüllen hervor. Zugleich machen auch die
nervösen Störungen unaufhaltsame Fortschritte. Der Kranke wird
nahezu vollkommen unempfindlich; die Schwäche nimmt immer mehr
zu; es stellen sich Steifigkeit, Intentionszuckungen, Beugecontrac-
turen und ausgebreitete Muskelatrophien ein, so dass er die Möglich-
keit der selbständigen Bewegung verliert, weder gehen, noch stehen,
noch am Ende auch sitzen kann. Zugleich magert er immer mehr
ab und ist dauernd hochgradig unrein, so dass er wie ein Kind
nach jeder Richtung hin der sorgfältigsten .Pflege bedarf. Bis zu
diesen tiefsten Stufen des apathischen Blödsinns und der allge-
meinen Lähmung giebt es allerdings zahlreiche Uebergangsformen,
die sich durch die verschiedene Erhaltung der geistigen Regsamkeit,
durch Ueberreste depressiver oder expansiver Stimmungen und
Vorstellungen sowie endlich durch die verschiedenartige Ausbreitung
der nervösen Störungen von einander abgrenzen.
Der Ausgang der Paralyse ist regelmässig der Tod. Freilich
sind einzelne Fälle bekannt geworden, in denen die Besserung der
Krankheitserscheinungen andauernd ein Jahrzehnt und darüber
Stand hielt, so dass man hier von einer Heilung der Paralyse zu
sprechen berechtigt ist. Allein derartige Beobachtungen sind so
ungemein selten (lange nicht l°/0 der Fälle), dass sie gegenüber
dem gewöhnlichen Verlaufe gar nicht in Betracht kommen. Ueber-
dies erhebt sich hier der Verdacht, dass es sich vielleicht um ganz
andersartige chronische diffuse Hirnerkrankungen handeln kann, die
wir vor der Hand klinisch noch nicht von der dementen Form der
Paralyse unterscheiden können. Jedenfalls thut man gut, allen
Fällen von „geheilter“ Paralyse das äusserste Misstrauen entgegen
zu bringen, da Nasse*) festgestellt hat, dass unter 6 von ihm als
geheilt angesehenen Paralytikern nur ein einziger nicht wieder er-
krankt ist, bei dem obendrein die Diagnose nicht über allen Zweifel
erhaben war. Müller**) giebt an, dass etwa 8/4 der Kranken inner-
*) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLII, 136.
**) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 1027.
272
VL Die Dementia paralytica.
halb der ersten drei Jahre zu Grunde gehen; Heilbronner fand,
dass nur 10 — 180/0 der Paralytiker mehr als 5 Jahre den Beginn
des Leidens überleben. Die längste zuverlässig festgestellte Krank-
heitsdauer betrug 18 Jahre.
Herbeigeführt wird der tödtliche Ausgang durch die ver-
schiedensten Ursachen. Abgesehen von den in der ersten Zeit doch
bisweilen glückenden Selbstmordversuchen, können im ganzen Ver-
laufe der Krankheit paralytische Anfälle plötzlich und unerwartet
dem Leben ein Ende machen. Im letzten traurigen Abschnitte des
Leidens sind Schluckpneumonien (Speichel, Speisen), namentlich
während der Anfälle, die bei weitem häufigste Todesursache; ausser-
dem aber kommen noch gelegentlich Blutvergiftungen oder Fett-
embolien in Betracht, wie sie sich bei der Unruhe und Unempfind-
lichkeit der Kranken aus Verletzungen aller Art, in Folge von
Decubitus oder Blasenkatarrh (Pyelitis) entwickeln können. Vereinzelte
Kranke gehen durch Ersticken zu Grunde, indem sie sich beim
Essen den ganzen Mund mit Speisen, namentlich Brod, vollpfropfen
und dann einen Theil derselben in den Keblkopf hinunterwürgen.
Endlich aber ist der gewissermassen natürliche Ausgang der Paralyse,
wie man ihn bei einzelnen Kranken beobachtet, welche allen jenen
Gefahren glücklich entgangen sind, ein schwerer Marasmus, der
Tod in Folge von Herzschwäche. In solchen Fällen magern die
Kranken schliesslich zum Skelett ab ; die gesammte Körpermuskulatur
atrophirt bis zum Aeussersten ; die Temperatur sinkt häufig dauernd
sehr tief unter die Horm; der Puls wird langsam und immer
schwächer, schliesslich nicht mehr fühlbar, bis endlich das Leben
vollkommen erlischt. —
Die pathologische Anatomie der Paralyse zeigt uns in den
nervösen Centralorganen eine Reihe von Veränderungen, welche in
ihrer Gesammtheit bis zu einem gewissen Grade für diese Krankheit
kennzeichnend erscheinen. Als wesentlich sind nicht zu betrachten
die bisweilen beobachteten Hyperostosen und Exostosen des Schädels,
die auch bei Gesunden nicht ganz selten Vorkommen, doch ist die
in weit vorgeschrittenen Fällen recht häufige allgemeine Ver-
dickung der knöchernen Hülle wol mit Wahrscheinlichkeit als Aus-
gleichserscheinung gegenüber der Druckabnahme des schrumpfenden
Gehirns aufzufassen. Vielfach sieht man dabei tiefes Einschneiden der
Gefässfurchen in die mit Osteophyten reichlich besetzte Knochentafel.
Pathologische Anatomie.
273
AVichtiger sind schon die Veränderungen der Hirnhäute. Die
Dura ist oft theilweise, seltener in ganzer Ausdehnung mit dem
Schädeldache verwachsen; bisweilen lässt sie sich ohne Zerstörung
gar nicht von diesem letzteren trennen. Recht häufig findet man
Pachymeuingitis interna und Haematome der Dura, bald
nur zarte, schleierartige Anflüge, bald dicke, mehrfache Schichtung
auf weisende Schwarten oder frische, massige Blutergüsse, meist auf
■der Scheitelhöhe. Auch unter der Pia bemerkt man öfters mehr
oder weniger ausgedehnte Oberflächenblutungen. Die weichen Hirn-
häute sind in Folge von zelliger Infiltration fast immer getrübt,
verdickt, bisweilen sehr beträchtlich, namentlich längs der Gefässe ;
hie und da finden sich eingelagerte Knochenplättchen. Ihre Venen
sind stark erweitert, besonders bei der galoppirenden Paralyse, zeigen
auch häufig verdickte AVandungen; die Pacchioni 'sehen Granu-
lationen sind nicht selten auffallend entwickelt Das Gehirn ist bei
länger bestehenden Fällen stets atrophisch; das Gewicht desselben
sah ich selbst bei Männern von normaler Körpergrösse bis auf 900 gr
herabsinken. Die AVindungen sind verschmälert, besonders in den
vorderen Partien; es finden sich stellenweise förmliche Einsenkungen,
über welche die Pia in Gestalt serumgefüllter Blasen hinwegzieht.
Auch die Rinde ist verschmälert und, namentlich am Stirnhirn, öfters
mit der Pia so fest verwachsen, dass sich diese nicht ohne
Substanzverlust von ihr ablösen lässt. Die Ventrikel sind mehr oder
weniger stark erweitert; das Ependym derselben, vorzüglich des
vierten, zeigt oft reichliche, stark entwickelte, knötchenartige Granu-
lationen. Nach AFeigert’s Befunden handelt es sich dabei um
Verlust der Epitheldecke, AVucherung und hyaline Entartung der
Neuroglia.
Die mikroskopische Untersuchung bietet vor allem in der
Rinde*) ausgesprochene Veränderungen. Einen Ueberblick über
dieselben sollen die beiliegenden Tafeln gewähren, welche nach
Mikrophotogrammen angefertigt sind. Die nach Nissl’s Verfahren
gefärbten Bilder von einzelnen Zellen und das Mitosenbild wurden
meist mit dem Zeiss 'sehen Apochromaten 2 mm, Apertur 1,30,
*) Binswanger, Die pathologische Histologie der Grosshirnrinden-Erkrankung
bei der allgemeinen progressiven Paralyse. 1893; Nissl, Archiv f. Psychiatrie,
XXVIII, 989; Heilbronner, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIII, 172.
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 18
274
VI. Die Dementia paralytica.
zum Theil mit 3 mm, Apertur 1,40 und dem Projectionsocular 2
aufgenommen; die Vergrösserung ist 1000. Dagegen sind die
Schicbtbilder mit dem achromatischen System AA ohne Ocular und
in einer Yergrösserung von 250 angefertigt. Bei ihrer Wiedergabe
fand eine Verkleinerung auf etwa 1/3 statt. Dabei mussten natür-
lich manche Einzelheiten verloren gehen, doch vertragen die Bilder
sehr gut die Betrachtung durch die Lupe. Die Yergrösserung der
Gliahüllen, die mit Seibert Y aufgenommen wurden, betrug 1250; die
Bilder wurden auf 1/3 verkleinert. Die Spinnenzellen auf Tafel Y
sind bei 500facher, die einzelne Zelle auf Tafel LX ist bei lOOOfacher
Yergrösserung angefertigt; in beiden Fällen hat eine geringe Ver-
kleinerung stattgefunden.
Bei weitem am wichtigsten sind ohne Zweifel die Erkrankungs-
vorgänge an den Nervenzellen. Wie ich den Darlegungen Nissl’s
entnehme, haben wir hier zunächst acute und langsame Verlaufs-
arten des Krankheitsvorganges zu unterscheiden. Die erste Ver-
änderung ist bei den acuten Processen eine Schwellung des Zell-
leibes, an der regelmässig auch der Zellkern Antheil nimmt. Zugleich
beginnt die nicht färbbare Substanz sich zu färben, so dass die
Protoplasmafortsätze auf weite Strecken sichtbar werden; auch der
sonst unsichtbare Achsencylinderfortsatz tritt deutlich hervor. Diesen
Vorgang an einer grossen Pyramidenzelle zeigt die Figur 4 der
Tafel IV, auf der zum Vergleiche in Figur 1 die entsprechende
gesunde Form wiedergegeben ist. An beiden Zellen sind die Achsen-
cylinderfortsätze sichtbar. Bei höheren Graden und rasch fort-
schreitender Schädigung zerfällt die färbbare Substanz vollständig;
der Kern bläht sich auf, und es kommt zu einer Art Zerbröckelung
der ganzen Zelle, die mehr und mehr ein schattenhaftes Ansehen
gewinnt und schliesslich ganz verschwindet. Die acute Erkrankung
pflegt alle Zellen der Hirnrinde in gleichmässiger Weise zu ergreifen.
Die schwerste Form der paralytischen Veränderung, die man
allerdings auch bei anderen zerstörenden Eingriffen wiederfindet,
besteht in einem sofortigen Zerfall der färbbaren Substanz des
Zellkörpers unter gleichzeitiger Verkleinerung des Kerns, der seine
Membran und seine Structur verliert, sich abrundet (Verflüssigung
des Inhaltes?) und gleichmässig blau violett färbt. Er bleibt schliess-
lich mit oder ohne spärliche Reste des Zellleibes als kleines, structur-
loses Klümpchen allein übrig. Die Figur 5 stellt diese Umwand-
Tafel IV.
j'vraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl .
}: Pyramidenzelle. 2. Acute Schwellung bei Typhus. 3. Körniger Zerfall mit Einwanderung grosser Gliazellen bei Katatonie
an der Zelle links ein gewöhnlicher Trabantkern. 4. Acute Veränderung bei Paralyse. 5. Schwere Veränderung hei Paralyse. 6. Zellschwund bei
Paralyse. 7. Zellsklerose bei Paralyse. 8. Sklerose mit acuter Veränderung (Mischform) bei Paralyse. ä.Mitose eines Gliakerns bei Paralyse;
rechts oben ein Centrosoma (Weigert's Mitosenfä'rbung.)
Pathologische Anatomie.
275
lung dar. Dieser Vorgang scheint eine Rückbildung nicht mehr
zuzulassen, während die ersterwähnten Veränderungen anscheinend
sich wenigstens einigermassen wieder ausgleichen können.
Eine weitere Veränderung, die wahrscheinlich den chronischeren
angehört, ist der von Nissl so genannte Zellschwund. Es handelt
sich dabei um ein Abblassen und Schwinden der färbbaren Theile, von
denen jedoch einzelne Abschnitte, Verzweigungskegel, Kernkappen
und Basalkörper, auffallend lange erhalten bleiben. Zugleich wird
der Kern regelmässig mit ergriffen. Seine Membran schwindet
ganz oder theilweise, so dass er für die oberflächliche Betrachtung
vergrössert erscheinen kann. Die ungefärbte Substanz färbt sich
bei dieser Veränderung nicht merklich; gleichwol kann man den
Achsencylinderfortsatz erkennen und verfolgen, ein Zeichen dafür,
dass dennoch eine Betheiligung der ungefärbten Bahnen an dem
Krankheitsvorgange stattfindet. Wahrscheinlich ist der Zellschwund
als eine schwere, nicht der Rückbildung .zugängliche Erkrankung zu
betrachten. Ein Beispiel für denselben giebt Figur 6, in der aller-
dings der nach unten abgehende Achsencylinderfortsatz nicht mit
eingestellt ist.
Die häufigste Form der chronischen Erkrankung bildet die Zell-
sklerose. Hier färben sich die Zellfortsätze auf weite Strecken; auch
der Zellleib nimmt reichlich Farbe auf. Der geschwollene Zellkörper
schrumpft mehr und mehr zusammen; die Fortsätze schlängeln sich,
und die Umrisse der Zelle nehmen eigenthümlich starre, eckige,
morgensternartige Formen an, namentlich gegen die Basis zu; auch
die ganz kleinen Zellen erinnern an spitze, zackige Sternchen. Zu-
gleich wird der Kern länglich, spitzer; der innere Aufbau der Zelle
geht mehr und mehr verloren, Aveun sich auch noch sehr lange
einzelne heller gefärbte Bahnen in dem tief dunklen Zellleibe erkennen
lassen. Bei der Beurtheilung dieser Bilder, von denen Figur 7, ferner
Figur 3 der Tafel V einen Begriff geben mag, ist wegen der Gefahr
einer Verwechselung mit Kunsterzeugnissen einige Vorsicht geboten.
Auch hier handelt es sich um eine Erkrankung, die zwar das Leben
der Zellen anscheinend noch lange Zeit hindurch fortbestehen lässt,
einer Rückbildung jedoch scliAverlieh fähig ist.
Einige seltenere Zellerkrankungen, die sich gelegentlich in para-
lytischen Rinden finden, sollen hier nicht näher besprochen werden,
ebensoAvenig die weiteren Veränderungen, Avelche die abgestorbenen
18*
276
VI. Die Dementia paralytica.
Zellen durch Imprägnirung mit Kalk und anderen Stoffen, durch
Anhäufung von Pigment u. s. f. erleiden können. Dagegen sei darauf
hingewiesen, dass auch chronisch erkrankte Zellen späterhin noch
einmal acute Veränderungen erleiden können, so dass Mischungen
zwischen verschiedenen Erkrankungsformen zu Stande kommen.
Wir geben ein solches Bild in Figur 8. An den schmächtigen
Formen, der dunkleren, diffusen Färbung und namentlich dem läng-
lich gewordenen Kern erkennt man noch die Sklerose, während der
beginnende Schwund der färbbaren Theile den acuten Krankheits-
vorgang anzeigt.
Alle geschilderten Veränderungen, mit Ausnahme der ersten,
acuten Erkrankung, ergreifen niemals die ganze Hirnrinde gleich-
zeitig. Vielmehr finden sich mannigfache örtliche Verschiedenheiten
in der Ausbreitung und Stärke des Vernichtungsvorganges.
Auch an derselben Stelle der Rinde kann man regelmässig ver-
schiedene Abstufungen der krankhaften Veränderungen, ja un-
mittelbar daneben zahlreiche Zellen sehen, die noch völlig gesund
erscheinen. Kur bei sehr schwerem oder lange dauerndem Krank-
heitsverlaufe zeigen schliesslich alle Zellen der Rinde in höherem
oder geringerem Grade die Zeichen der paralytischen Erkrankung:
ein sehr grosser Theil derselben geht ausserdem vollständig zu
Grunde. Ob die verschiedene örtliche Vertheilung der Zellverände-
rungen in einer verschiedenen Widerstandsfähigkeit der einzelnen
Rindenabschnitte und Zellengruppen oder in einer verschiedenen
Localisation des Krankheitsvorganges an sich ihre tiefere Ursache
hat, ist noch unbekannt; mir ist die erstere Annahme weit wahr-
scheinlicher.
Es ist auch bisher nicht gelungen, bestimmte Beziehungen
zwischen dem Sitze der Veränderungen und dem klinischen Kraukheits-
bilde aufzufinden. Nur das Eine lässt sich sagen, dass im allgemeinen
die Ausdehnung und Stärke der anatomischen Veränderung um so
grösser ist, je weiterder klinische Verlauf vorgeschritten war. Immer-
hin dürften für gewisse Symptome, die Sprachstörungen, die Wort-
taubheit, die Krampferscheinungen, die durch die Localisations-
lehre geforderten allgemeinen Beziehungen auch hier bestehen (be-
sondere Betheiligung der Stirn-, Schläfen-, Centralwindungen). So
hat Lissauer nach paralytischen Anfällen mit sensorischen Herd-
symptomen gerade in der Rinde des Hinterhauptes fleckweise und
Pathologische Anatomie.
277
schichtweise besonders starke Veränderungen der Ganglienzellen bis
zum völligen Schwunde derselben beobachtet.
Mit dem Untergange der Nervenzellen steht derjenige der F asern
in innigstem Zusammenhänge. Es ist Tuczek’s*) Verdienst, diese
Veränderungen mit feineren Methoden (Exner’sche, Weigert’sche
Methode) genauer studirt zu haben. Dabei hat sich herausgestellt,
dass bei allen länger dauernden Fällen von Paralyse sowol die aus
der weissen Substanz in die Hirnrinde einstrahlenden „Radiärfasern“
als auch die in der äussersteu Rindenschicht der Hirnoberfläche parallel
laufenden „zonalen Rindenfasern“ (Tangentialfasern) in höherem oder
geringerem Grade zu Grunde gehen, so dass in den spätesten
Stadien kaum noch Nervenfasern in der Rinde nachzuweisen sind.
Eine gesetzmässige Beziehung zwischen Stärke und Sitz der Ver-
änderung lässt sich nach Zacher’s Untersuchungen nicht mit Be-
stimmtheit feststellen, ja es kann nicht zweifelhaft sein, dass auch
der Faserschwund gar nicht ausschliesslich der Paralyse, sondern
unter Umständen auch anderen Psychosen, namentlich der nahe ver-
wandten Dementia senilis, sowie sonstigen, z. B. den epileptischen
Blödsinnsformen, zukommen kann. Allerdings dürfte die Häufigkeit,
die Ausdehnung und die Stärke jener Veränderungen bei der Para-
lyse eine weit grössere sein, als bei irgend einer anderen psychischen
Erkrankung.
Durch den Ausfall massenhaften Nervengewebes kommt in vor-
geschrittenen Fällen eine Schrumpfung der Rinde zu Stande, die
sich schon an der Verschmälerung derselben erkennen lässt und bis-
weilen so hochgradig wird, dass die Breite der Rinde auf die Hälfte
zurückgeht. Einzelne Stellen, namentlich um die Gefässe herum,
können dabei ganz an narbige Schrumpfungen erinnern. Aber auch
schon geringere Grade dieses Vorganges deuten sich dadurch an,
dass die regelmässige Anordnung der noch vorhandenen Ganglien-
zellen vielfach gestört wird; sie stehen nicht mehr reihenförmig,
sondern verschoben und verzerrt. An manchen Stellen erscheinen
sie, wie man in Figur 3 der Tafel V erkennt, zusammengerückt,
gedrängt; an anderen sind grosse Lücken entstanden, die nur durch
Stützgewebe und Gefässe ausgefüllt werden.
*) Beiträge zur pathologischen Anatomie und zur Pathologie der Dementia
paralytica. 1884.
278
VI. Die Dementia paralytica.
Dieses Verhalten ist es, welches als eigentlich kennzeichnend
für den Ivrankheitsvorgang der Paralyse bezeichnet werden muss.
Die Veränderungen an den einzelnen Zellen finden sich in gleicher
Weise auch bei anderen Erkrankungen wieder; ja sie können zum
Theil beim Thier künstlich erzeugt werden. Sie sind daher gewisser-
massen nur als Zustandsbilder und nicht als der Ausdruck bestimmter
eigenartiger Vorgänge zu betrachten. Diese Erkenntniss schliesst
natürlich die Möglichkeit nicht aus, dass wir mit vervollkommnten
Htilfsmitteln vielleicht doch im Stande wären, auch an der einzelnen
erkrankten Zelle Besonderheiten aufzufinden, die uns den Rückschluss
auf die Paralyse gestatten könnten. Jedenfalls aber vernichtet die para-
lytische Erkrankung das gesammte Nervengewebe der Rinde in weit
grösserem Umfange, als irgend eine andere. Auch bei der Idiotie,
bei der Dementia praecox, beim Altersblödsinn gehen zahlreiche
Zellen und Fasern zu Grunde. Allein dort bleibt überall, wie ein
Blick auf Tafel IX lehrt, der allgemeine Aufbau der Rinde er-
halten; man sieht die durch Glia ausgefüllten Lücken in den Zellen-
reihen, ohne dass doch ihre Ordnung sonst gestört wäre. Hier da-
gegen pflegt sich auch dann schon eine Verzerrung und Schrumpfung
im Rindenbau zu zeigen, wenn die Vernichtung der erkennbaren
Bestandtheile noch verhältnissmässig geringfügig ist. Am wenigsten
tritt das bei der sehr stürmisch verlaufenden Erkrankung hervor,
die in Figur 2 der Tafel V, wiedergegeben ist. Dagegen erscheint die
Veränderung des Gesammtbildes der Rinde bei den chronischen
Formen, bei denen die Zellen zum Theil lange erhalten bleiben,
gegenüber etwa dem Altersblödsinn sehr auffallend, da bei letzterem weit
zahlreichere Zellen ohne Störung des allgemeinen Aufbaues zu Grunde
gegangen sind. Wenn wir daher auch nach Nissl’s Auffassung zur Zeit
die Paralyse nicht aus der einzelnen erkrankten Zelle erkennen können,
so pflegt doch das Gesammtbild der paralytischen Hirnrinde so eigen-
artige Züge zu tragen, dass wir es meist von andersartigen Er-
krankungen zu unterscheiden im Stande sind.
Man könnte vielleicht daran denken, die besondere Gestaltung
des Rindenbildes auf Rechnung der Ne uro glia Veränderungen
zu setzen, die in der Paralyse ungemein verbreitet zu sein pflegen.
Namentlich durch Weigert’s klassische Untersuchungen*) wissen
*) C. Weigert, Beiträge zur Kenntniss der normalen menschlichen Neu-
roglia. 1895.
Tafel V.
paepelin, Psychiatrie. 6. Auf I.
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3. Chronisch verlaufende
Paralyse (Ausgesprochene
Sklerose.)
Gliakappe in der gesunden Rinde.
5. Gliawucherung bei Paralyse)
starke Randgliose.
6. Spinnenzellen, i. Th mit der
Gliahülle eines Blutgefässes
in Verbindung tretend.
Pathologische Anatomie.
279
wir, dass jeder Untergang von nervösem Gewebe regelmässig von
einer Wucherung der umgebenden Neuroglia begleitet wird. In der
That sehen wir denn auch in der Paralyse, entsprechend der Ver-
nichtung massenhafter Zellen und Fasern, ein ausserordentlich
üppiges Wachsthum der Stützsubstanz. Nissl konnte als Zeichen
dieser Vorgänge in paralytischen Gehirnen Kerntheilungsfiguren an
den Gliazellen nachweisen. Ein Beispiel giebt Figur 9, Tafel IV;
■ausser der Mitose ist ein Centrosoma sichtbar.
Die Kerne erscheinen bedeutend vermehrt, ihr Fasernetz stark
verdichtet. Ganz besonders auffallend und schon seit langer Zeit
bekannt sind jene Gebilde, welche man mit dem Namen der Astro-
cvten oder Spinnenzellen zu belegen pflegt. Sie erreichen hier
vielfach eine geradezu monströse Entwicklung. (Siehe Tafel V,
Fig. 6; Tafel IX, Fig. 4.) Wie Weigert nachgewiesen hat, handelt
es sich dabei um Gliazellen, welche gewissermassen die Stützpunkte
für zahlreiche, von ihnen gebildete und an sie sich anlegende Flasern
abgebeu. Am schönsten finden sich die Spinnenzelleu meist in der
Nähe der Gefässe und in den tieferen Schichten der Rinde ent-
wickelt. Auf Tafel V in den Figuren 4 und 5 ist die normale und
eine paralytische Gliahülle des Rindensaumes nebeneinandergestellt.
Man sieht hier sehr deutlich die mächtige Faserbildung und Kern-
vermehrung in der Paralyse. Häufig stehen die Gliazellen durch
Faserzüge mit der Gliahülle der Gefässe in Verbindung. (Siehe
Tafel V, Fig. 6.)
Die Ausbildung der Gliawucherung steht nur im allgemeinen,
nicht aber im einzelnen zu dem Untergange der Nervenzellen in
Beziehung. Auf der einen Seite beobachten wir ausgebreiteten
Zellenschwund ohne nennensw^erthe Vermehrung der Glia; anderer-
seits finden wir öfters mitten im stark gewucherten Gliagewebe an-
nähernd oder völlig gesunde Zellen. Daraus geht hervor, dass die
Vernichtung der Zellen jedenfalls unabhängig von der Vermehrung
der Glia erfolgt und nicht etwa durch diese letztere bedingt ist.
Das Nervengewebe wird unmittelbar durch den Krankheitsvorgang
geschädigt und zerstört; die Gliawucherung ist eine gewöhnliche,
wenn auch bisweilen vermisste oder erst später hinzutretende Be-
gleiterscheinung.
Jedenfalls kann sie schwerlich allein die eigenartige Gestaltung
des paralytischen Rindenbildes erklären. Wir wissen, dass massen-
280
VI. Die Dementia paralytica.
hafte Gliawucherungen auch bei andersartigen Erkrankungen, bei
Idioten, Epileptikern, Altersblödsinnigen Vorkommen, ohne zu einer
derartigen Verzerrung des Rindenaufbaus zu führen. Will man nicht
zu der von vorn herein wenig wahrscheinlichen Annahme greifen,
dass jene eigenartige Veränderung hier auf einer ganz besonderen
Form der Gliaerkrankung beruhe, so wird man zu der Vermuthung
gedrängt, dass die Paralyse noch Gewebstheile zerstört, die bei
anderen Erkrankungen weniger in Mitleidenschaft gezogen werden.
Die oft schon dem blossen Auge so auffällige Schrumpfung der
Kinde vermag uns hier vielleicht den Weg zu zeigen. Da bei den
chronischen Formen die Zellen vielfach dicht an einander rücken,
so dass sie im Gesichtsfelde bisweilen zahlreicher erscheinen, als bei
der gesunden Rinde, wird man kaum zweifeln können, dass zwischen
ihnen Rindenbestandtheile ausgefallen sein müssen. Der Schwund
markhaltiger Fasern, der auch bei anderen Erkrankungen ziemlich
bedeutend sein kann, genügt schwerlich zur Erklärung: vielmehr
dürfte wol an weitreichende Zerstörungen des grauen Netzes zu
denken sein, von dessen Ausdehnung und Wichtigkeit wir vielleicht
noch immer zu unvollkommene Vorstellungen haben. Ist diese An-
schauung richtig, so würde möglicherweise gerade die starke Be-
theiligung der fibrillären grauen Substanz zwischen den Zellen die
besondere Eigenthiimlichkeit des paralytischen Krankheitsvorganges
darstellen.
Endlich haben wir unter den krankhaften Befunden in der
Hirnrinde noch der Gefässveränderungen zu gedenken, die wir zwar
nicht ausnahmslos, aber doch sehr häufig antreffen. Einerseits handelt
es sich um eine mehr oder weniger beträchtliche Vermehrung der
Blutgefässe, vielfach auch um eine Erweiterung derselben, dann
aber um eine Verdickung ihrer Wandungen mit reichlicher Kem-
vermehrung. (Siehe Tafel V, Fig. 3.) Das dadurch bedingte Klaffen
der Lumina kann man bisweilen beim Durchschneiden schon mit
blossem Auge feststellen. Oefters finden sich in den Wandungen
kleinzellige Infiltrationen, seltener hyaline Ausscheidungen. Hie und
da kommt es zu Verengerungen, auch wol zu kleinen Aneurysmen.
Die Tafel V ist trotz der Verkleinerung, welche die Bilder
haben erfahren müssen, doch vielleicht geeignet, einige der im Vor-
stehenden beschriebenen Veränderungen zu verdeutlichen, nament-
lich wenn man die Uebersichtsbilder mit dem Durchschnitte durch
Pathologische Anatomie.
281
die gesunde Centralrinde Figur 1 vergleicht, der den übrigen
Schnitten vollkommen entspricht. Das erste Bild (Figur 2) stellt
eine ungemein rasch verlaufende agitirte Paralyse dar. Die Zellen
befinden sich zumeist im Zustande der schweren Veränderung, hie
und da auf dem Boden der Sklerose; die Zeichnung der gefärbten
Theile ist verwaschen; die ungefärbten Bahnen und damit die Fort-
sätze sind auf weite Strecken gefärbt, so dass man überall die feinen
Streifen im Gewebe erkennt; die Kerne sind zum Theil verkleinert,
dunkler gefärbt und ohne scharfe Umgrenzung. An zahlreichen
Zellen lassen sich die verschiedensten Stufen des fortschreitenden
Zerfalles wahrnehmeu; häufig ist nur noch das Kernkörperchen mit
geringen Resten des Kernes und der Zellmasse vorhanden. Ueberall
im Gewebe zerstreut finden sich Gruppen von blassen kleinen Glia-
kernen, namentlich in den unteren Schichten.
Das nächste Bild (Figur 3) zeigt uns eine sehr chronisch verlaufene
Paralyse. Hier sind die Zellen zum grössten Theile erhalten, ja sie er-
scheinen in Folge der Schrumpfung verhältnissmässig zahlreich und ge-
drängt, wenn auch ihre regelmässige Anordnung erheblich gestört ist.
Die Zellen selbst sind sämmtlich in höherem oder geringerem Grade
sklerotisch erkrankt. Sie haben sich ungemein stark gefärbt; ihr
feinerer Bau ist gänzlich unkenntlich geworden; meist heben sich
nicht einmal die Kerne ab. Die Körper der Zellen sind geschrumpft,
die Fortsätze dünn, vielfach geschlängelt, die gesammten Umrisse
zackig, stachlig. An verschiedenen Stellen bemerken wir abge-
blasste, zerfallende Klümpchen, die an ihren Kernkörperchen noch
als Reste früherer Zellen kenntlich sind, ein Beweis dafür, dass doch
auch hier ein Untergang von Nervengewebe stattgefunden hat.
Zahlreiche Gliakerne durchsetzen das Gewebe, besonders stark im
zellenarmen Rindensaum. Mehrere durchschnittene Gefässe zeigen
gewaltig verdickte Wandungen.
Ausser den feineren Veränderungen sehen wir in der Rinde ge-
gelegentlich noch kleinere erweichte Stellen, welche sich durch die
leichte Ablösbarkeit der oberflächlichen Rindenschichten oder auch
der ganzen Rindendecke von der weissen Substanz bemerkbar
machen. Ausgedehntere Zerstörungen in der Rinde, wie man sie
insbesondere zur Erklärung der paralytischen Anfälle vermuthen
seilte, sind dagegen recht selten; selbst bei einer viele Monate
andauernden Hemiplegie mit vollständiger Paraphasie konnte ich
282
VI. Die Dementia paralytica.
einen bestimmten Erweichungsherd im Gehirne nicht auffinden.
Dagegen werden hie und da kleinere oder grössere Gummata ange-
troffen.
Aelmliche Veränderungen, wie in der Grosshirnrinde, finden
sich ganz verbreitet auch in den übrigen Theilen des Gehirns, wie
das schon im Hinblicke auf die sehr bedeutende Gewichtsabnahme
als erwiesen angesehen werden darf. Die Markmassen der Hemi-
sphären zeigen regelmässig einen zerstreuten Faserschwund, der nur
bisweilen einzelne dichtere Bündel verschont Seltener sind fleck-
weise Entartungsherde oder, im Anschluss an umschriebenere
Rindenzerstörungen, strangförmige Degeneration bestimmter Leitungs-
bahnen. In den grossen Stammganglien, im centralen Höhlengrau
und ebenso im Kleinhirn ist ausgedehnter Faserschwund nach-
gewiesen worden. Lissauer sah nach stärkerem Befallensein gewisser
Bezirke der Scheitel- und Hinterhauptsrinde bestimmt umgrenzten
Faserschwund in den entsprechenden Abschnitten der Sehhügel.
Weigert hat in der Körnerschicht des Kleinhirns hochgradige Glia-
wucherungen aufgefunden, aus denen er auf den Untergang der
Fortsätze der Purkinje ’schen Zellen schliesst. Ausserdem finden
sich in den Nervenkernen der Medulla oblongata, namentlich in den-
jenigen des Hypoglossus, ähnliche Veränderungen der Ganglienzellen
wie in der Hirnrinde.
Im Rückenmarke*) beobachtet man ausser pachymeuin-
gitischen und leptomeningitischen Veränderungen bei weitem am
häufigsten eine degenerative Erkrankung der Hinter- und Seiten-
stränge, seltener Veränderungen in den erste ren oder letzteren allein.
Fürstner fand jene gemischte Erkrankung in 50°/o, Betheiligung
der Seitenstränge allein in 12 °/0, der Hinterstränge allein in 19°/0
der Fälle; meist waren beide Seiten in verschiedenem Grade be-
fallen. Bei ll°/0 fanden sich im Rückenmarke keine Veränderungen.
Sehr selten waren Erkrankungen der Vorderstränge. Ausserdem
wurde einige Male diffuse, hie und da auch herdartige Vermehrung
der Stützsubstanz festgestellt. In einzelnen Fällen kommen syringo-
myelitische Veränderungen vor. Ho che**) wies Entartungsvor-
*) Westphal, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XX, XXI; Virchow’s Archiv,
XXXIX; Archiv f. Psychiatrie, I, XII; Fürstner, ebenda, XXIV, 1.
**) Hoche, Beiträge zur Kenntniss des anatomischen Verhaltens der mensch-
lichen Rückenmarkswurzeln. 1891.
Pathologische Anatomie.
283
gänge in den vorderen und hinteren Wurzeln nach, anscheinend un-
abhängig von den Erkrankungen des Rückenmarks. Auch an den
peripheren Nerven, am Saphenus major, am Peronaeus, Thoracicus
longus sind Entartungsvorgänge beschrieben worden, welche mit
den Befunden bei Tabes wie mit den gelegentlich im Leben beob-
achteten Lähmungen gut vereinbar sein würden. Angesichts der
Seltenheit solcher Befunde betont indessen Fürstner, dass wir noch
nicht berechtigt seien, hier diese Veränderungen gerade auf Rech-
nung der Paralyse zu setzen. Er macht vielmehr darauf aufmerksam,
dass noch eine Reihe von anderen Ursachen mitspielen, Alkoholis-
mus, Tuberculose, Marasmus, Contusionen, welche erfahrungsgemäss
im Stande seien, neuritische Erkrankungen zu erzeugen.
An den übrigen Organen sind natürlich in erster Linie die-
jenigen Veränderungen zu verzeichnen, welche durch die gewöhn-
lichen Todesursachen der Paralytiker bedingt werden, namentlich
Pneumonien, Tuberculose, septische Erkrankungen, Pyelonephritis
u. dergl. Ausserdem aber haben wir noch eine Reihe von Befunden
zu erwähnen, die einerseits nicht als Folgeerkrankungen aufgefasst
werden können, andererseits doch so häufig sind, dass auch ein zu-
fälliges Zusammentreffen unwahrscheinlich wird. Dahin gehören vor
allem die ausgebreiteten Gefässveränderungen, namentlich das Atherom
der Aorta, welches hier selbst bei recht jugendlichen Personen öfters
in sehr starker Ausbildung angetroffen wird. Angiolella fand auch
in der Leber und den Nieren bei einer Reihe von Kranken peri-
arteriitische Veränderungen. Weiterhin sind die Herzerkrankungen zu
nennen. Unter 56 Paralytikersectionen der letzten Jahre fand sich
Entartung des Herzmuskels 11 mal, braune Atrophie 4 mal, Fettherz
3 mal, Endocarditis 4mal, Pericarditis lmal. Granularatrophie der
Niere wurde 6 mal angetroffen. EinigeMale waren auch parenchymatöse
Erkrankungen der Leber zu verzeichnen. —
Die Dementia paralytica ist erst seit verhältnissmässig kurzer
Zeit näher bekannt. Wenn man von einzelnen unsicheren An-
deutungen absieht, so scheint erst Haslam vor nunmehr 100 Jahren
die erste genauere Beschreibung der Krankheit geliefert zu haben,
die dann im Anfänge unseres Jahrhunderts namentlich von franzö-
sischen Irrenärzten eingehend studirt wurde. Bei der Eigenart und
Schwere des klinischen Bildes liegt unter diesen Umständen die An-
nahme nahe, dass die Krankheit erst in unserem Zeitalter ihre
284
VI. Die Dementia paralytica.
jetzige Häufigkeit erlangt habe. Zur Zeit gehören ihr bei uns im
Durchschnitte etwa 10 — 20 °/0 aller Aufnahmen in Irrenanstalten
an; doch ist dieses Yerhältniss ausserordentlichen Schwankungen
unterworfen.*) In einzelnen Ländern, so in Island, ist die Paralyse
fast unbekannt; unter den Negern Nordamerikas hat sie erst im
letzten Jahrzehnt etwas weitere Ausdehnung gewonnen. Wie es
scheint, nimmt die Paralyse im allgemeinen zu, namentlich in den
Grossstädten. Yon den beiden Geschlechtern ist das männliche un-
gefähr 2 — 5 mal so stark unter den Erkrankten vertreten, aLs das
weibliche; in der Charite waren 1891/92 nicht weniger als 45,6 °/0
der geisteskranken Mänuer Paralytiker. Bei Frauen höherer Stände
ist die Krankheit recht selten. Die relative Häufigkeit der weib-
lichen Paralyse ist gewachsen, besonders stark in den grossen
Städten. Von den klinischen Formen ist es nach meinen Erfahrungen
besonders die depressive Paralyse, an welcher das weibliche Ge-
schlecht zu erkranken pflegt; agitirte Formen sind verhältnissmässig
selten. Dass die durchschnittliche Dauer des Leidens bei Frauen eine
längere sei, kann ich bisher nicht bestätigen.
Ueber die Betheiligung der einzelnen Altersklassen giebt die
nebenstehende prozentische Darstellung Aufschluss, deren Grundlage
249 Fälle bilden. Die grösste Häufigkeit fällt demnach bei uns in
das Jahrfünft zwischen dem 40. und 45. Lebensjahre; vor dem
25. und nach dem 55. Jahre werden nur noch vereinzelte Fälle
beobachtet; zwischen dem 30. und dem 50. Jahre liegen über 81°/0
aller Erkrankungen. In Bezug auf diese Verhältnisse bestehen in-
dessen zweifellos örtliche Unterschiede; in Berlin und Wien z. B.
erkrankt die Mehrzahl schon zwischen dem 35. und 40. Lebensjahre.
In den jüngeren Jahren scheinen die expansiven und agitirten Formen,
späterhin die depressive Paralyse ein wenig zu überwiegen. Frauen
erkranken meist in etwas höherem Alter. Yon meinen Kranken
hatten 46,6 °/0 der Männer und 29 °/0 der Frauen beim Beginne des
Leidens das 40. Lebensjahr noch nicht überschritten. Man hat des-
wegen für die weibliche Paralyse auch dem Klimakterium eine ge-
wisse Bedeutung zugeschrieben. Die Erfahrungen in Berlin deuten
darauf hin, dass die Betheiligung der jugendlicheren Lebensalter an
*) Wollenberg, Archiv f. Psychiatrie, XXVI, 2; Gudden, ebenda;
v. Krafft-Ebing, Jahrb. f. Psychiatrie XIII, 2 u. 3; Oebecke, Allgera. Zeitschr.
f. Psychiatrie XL; Hirschl, Jahrbücher f. Psychiatrie XIV, 321.
Ursachen.
285
der Paralyse beim weiblichen Geschlechte im Zunehmen begriffen
ist. Andererseits scheinen auch gerade die späteren Jahre gegen-
über den mittleren eine wachsende Neigung zur Erkrankung dar-
zubieten. Eine stärkere Betheiligung der jugendlichen Altersklassen
scheint sich in beschränkterem Maasse bei der Paralyse überhaupt
herauszubilden. Namentlich im Laufe des letzten Jahrzehntes sind
eine grössere Anzahl von Erkrankungen an Paralyse bei ganz
jugendlichen Personen bekannt geworden; einzelne gehen bis in das
9. und 10. Lebensjahr zurück. Hier sind auffallender Weise beide
30
Jahre
Geschlechter gleichmässig vertreten. Erbliche Veranlagung scheint
dabei eine ganz besonders grosse Rolle zu spielen; namentlich fand
sich vielfach Paralyse bei den Eltern, ferner Alkoholismus und
syphilitische Erkrankungen. Alzheimer*) meint, dass in etwa
70°/0 der Fälle ein Zusammenhang mit der Lues sicher oder sehr
wahrscheinlich sei. Die klinische Form der Krankheit zeigte meist
eine einfache Demenz, dabei häufige Anfälle und starkes Hervortreten
der Lähmungserscheinungen; der Verlauf war im allgemeinen ein
ziemlich langsamer.
Ledige Personen scheinen mehr gefährdet zu sein, alsVerheirathete;
*) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LII. 3.
286
VI. Die Dementia paralytica.
jugendliche weibliche Paralysen sind auffallend häufig Prostituirte,
paralytische Frauen vielfach kinderlos. Nicht ganz selten beobachtet
man, dass zwei Ehegatten gleichzeitig oder kurz nach einander
paralytisch werden. Grosse Städte liefern einen sehr bedeutend
höheren Procentsatz von Paralytikern, als die Landbevölkerung. In
Freiburg mit vorwiegend ländlichem Aufnahmebezirk ist nach
mündlicher Mittheilung von Emminghaus die Paralyse ziemlich
selten, während die mehr städtische Bevölkerung im nördlichen
Baden einen recht grossen Bruchtheil von Paralytikern liefert.
Unter den Berufsarten sind Officiere, Kaufleute, Feuerarbeiter,
Eisenbahnbeamte verhältnissmässig zahlreich vertreten, während
katholische Geistliche sehr selten paralytisch werden, v. Krafft-
Ebing sah unter 2000 Paralytikern keinen einzigen katholischen
Geistlichen, umgekehrt aber unter den geisteskranken Officieren bis
zu 90°/o Paralytiker. Der Einfluss der erblichen Anlage tritt hier
gegenüber den sonstigen Geistesstörungen mehr in den Hintergrund,
scheint aber bei jugendlicheren Paralytikern eine etwas grössere
Rolle zu spielen. Meine eigenen Erfahrungen ergaben in 50 °/0 der-
jenigen Fälle erbliche Veranlagung, in denen sichere Nachrichten
über diese Verhältnisse Vorlagen, etwas mehr bei Männern als bei
Frauen. In einem Falle war auch Vater und Grossvater paralytisch
gewesen.
Unter den Ursachen der Paralyse haben wir in allererster
Linie der Syphilis zu gedenken. Dieselbe findet sich auffallend
häufig in der Vergangenheit der Paralytiker, wenn sich auch gegen-
wärtige syphilitische Krankheitserscheinungen nur verhältnissmässig
selten nachweisen lassen. Damit stimmt die Erfahrung überein, dass
es anscheinend vorzugsweise leichte syphilitische Erkrankungen sind,
welchen ein ursächlicher Zusammenhang mit der Paralyse zukommt,
vielleicht deswegen, weil bei ihnen häufiger keine durchgreifende Be-
handlung stattfindet. Die Zwischenzeit zwischen der luetischen An-
steckung und dem Ausbruche der Paralyse ist sehr grossen Schwank-
ungen unterworfen. Unter 21 Fällen, in denen mir diese Zeit genauer
bekannt war, betrug sie 8 mal weniger als 10, 8 mal 10 — 20 Jahre:
die kürzeste Zwischenzeit waren 2, die längste 31 Jahre. Hirschl.
der über 78 Fälle verfügt, sah die Paralyse in 23 Fällen innerhalb
der ersten 10, in 40 Fällen zwischen 10 und 20 Jahren nach der An-
steckung zum Ausbruche kommen; die Grenzen waren 2 und 29 Jahre.
Ursachen.
287
Er weist im Anschlüsse an Obersteiner darauf hin, dass diese zeit-
lichen Beziehungen etwa denjenigen der tertiären Lues entsprechen.
Ueber die Häufigkeit, mit welcher die Syphilis als Vor-
gängerin der Paralyse beobachtet wird, gehen die Angaben sehr
weit auseinander (11 — 77 °/0). Hougberg*) fand sogar in 75,7 bis
86,9 seiner Fälle vorausgegangene Syphilis. Meine eigenen Auf-
zeichnungen ergeben, übereinstimmend mit den Erfahrungen Gudden’s
in der Charite, bei Männern sichere Syphilis in etwa 34 °/0 der Fälle.
Eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht ausserdem noch vielfach. Bei
Frauen ist es mir nicht gelungen, über diesen Punkt hinreichende
Sicherheit zu erhalten; richtet man sich nach dem Vorkommen von
Aborten, so ergiebt sich annähernd dasselbe Verhältniss wie bei
Männern. Wollenberg nimmt an, dass von seinen weiblichen
Kranken die Hälfte sicher oder sehr wahrscheinlich an Lues gelitten
habe. Hirschl fand bei 200 Kranken in 6°/0 die sicheren Zeichen
überstandener Lues. Aus der Vorgeschichte von 175 paralytischen
Männern konnte er entnehmen, dass 56°/0 sicher, 25% wahrschein-
lich an Lues gelitten hatten, und nur bei 19% fehlten verwerthbare
Anhaltspunkte. Natürlich ist es aus naheliegenden Gründen un-
gemein schwierig, über frühere syphilitische Erkrankungen auch nur
einigermassen zuverlässige Angaben zu gewinnen, sei es, dass die
Ansteckung gar nicht bemerkt, sei es, dass sie verheimlicht wurde.
So konnte Hirschl feststellen, dass von Kranken mit tertiärer
Syphilis nicht weniger als 36,5% keinerlei Angabe über Ansteckung
oder frühere luetische Erscheinungen machen konnten. Alle bei
Paralytikern gefundenen Zahlen bedeuten daher nur untere Grenz-
werthe der wirklichen Häufigkeitsverhältnisse.
Jedenfalls steht der Zusammenhang zwischen Syphilis und
Paralyse über allem Zweifel fest. Heibe'rg will in Kopenhagen
gefunden haben, dass einer Häufung der syphilitischen Erkrankungen
nach 15 Jahren (12 Jahre Zwischenzeit, 3 Jahre Krankheitsdauer)
ein Höhepunkt der Todesfälle an Paralyse entspreche. Ferner hat
v. Krafft-Ebing die Versuche eines vor der Hand ungenannten
Arztes über die Einimpfung von Syphilisgift bei 9 Paralytikern mit-
getheilt, bei denen bis dahin keinerlei Anhaltspunkte für eine frühere
Ansteckung Vorlagen. In keinem dieser Fälle entwickelten sich
*) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, L, 3 u. 4.
•288
VI. Die Dementia paralytica.
Secundärerscheinungen. Daraus wird geschlossen, dass bei jenen
Kranken höchst wahrscheinlich doch Lues voraufgegangen war. Auch
manche Punkte der oben angeführten allgemeinen Prädisposition,
insbesondere die Unterschiede zwischen Stadt und Land, die Selten-
heit der Paralyse bei Frauen der besseren Stände und bei katholischen
Geistlichen, ihre Häufigkeit bei Officieren, Kaufleuten, Prostituirten.
das Vorkommen paralytischer Ehepaare sind mit grösster Wahr-
scheinlichkeit auf einen Zusammenhang zwischen Paralyse und Lues
.zu beziehen, ebenso die verschiedene Betheiligung der Geschlechter,
da auch bei der Lues auf eine weibliche 4 männliche Kranke
kommen. Das Anwachsen der Paralyse bei den ganz jugendlichen
und bei den älteren Frauen lässt daran denken, dass die Lues im
-ersteren Falle vor, im letzteren während der Ehe erworben
wurde. Sehr auffallend ist es freilich, dass die Mehrzahl gerade der
französischen Irrenärzte die ursächliche Bedeutung der Syphilis für
die Paralyse leugnet und statt dessen den Alkoholmissbrauch in
den Vordergrund stellt. Unsere Erfahrungen in Deutschland führen
nach beiden Richtungen zu durchaus anderen Ergebnissen. Neuer-
dings mehren sich übrigens auch dort die Stimmen, welche die Lues
für das Entstehen der Paralyse verantwortlich machen. So berichtet
Morel-Lavallöe von 5 Männern, die sich aus derselben Quelle
syphilitisch ansteckten und sämmtlich paralytisch wurden.
Von sonstigen Schädlichkeiten, denen man für die Entstehung
der Paralyse eine gewisse Rolle zuzuschreiben pflegt, sind auf körper-
lichem Gebiete der Alkoholismus, Sonnenstich, Wärmebestrahlung
Res Kopfes und Kopfverletzungen zu nennen. An diese letzteren
schliesst sich die Erkrankung in einzelnen Fällen ziemlich bald an.
Da es sich hier meist um jugendliche, noch anderweitig zu Geistes-
störungen prädisponirte Personen handelt, so haben wir es nach
Gudden’s Ansicht wesentlich mit einer Auslösung des Leidens durch
die Kopfverletzung zu thun. Andererseits sehen wir die Paralyse
dem Trauma oft erst nach Jahren folgen, so dass man mehr eine
vorbereitende Wirkung des Traumas anzunehmen hätte. Natürlich
wird dann die Sicherheit des Zusammenhanges eine immer geringere;
zugleich ist es wol zweifelhaft, ob solche Fälle wirklich gleichartig
und namentlich, ob sie ohne weiteres der Paralyse zuzurechnen sind-
Der Alkoholmissbrauch ist nach meinen Erfahrungen ziemlich häufig
Folge, aber schwerlich Ursache der Paralyse, wenn er auch eine
Wesen der Krankheit.
289
grosse vorbereitende und auslösende Rolle spielen mag. Ebenso
können auch manche andere Einflüsse, körperliche Erkrankungen,
das Wochenbett, psychische Schädlichkeiten die Entwicklung der
Krankheit beschleunigen. Namentlich eine sehr verantwortungsvolle,
mit heftigen Gemüthsschwankungen verbundene Thätigkeit, andauernde
Unruhe und Aufregung scheint die Entstehung der Paralyse zu be-
günstigen. Wenigstens sehen wir, dass der Krieg mit seiner An-
spannung der gesammten psychischen Leistungs- und Widerstands-
fähigkeit, das Börsenspiel, Ausschweifungen, der aufreibende Kampf
ums Dasein in dem lebhaften Getriebe der grossen Städte regel-
mässig zahlreiche Opfer fordert. Einfache Verstandesarbeit dagegen,
und sei sie noch so anstrengend an sich, hat auf die Entwicklung
der Paralyse schwerlich einen Einfluss. Allerdings ist bei allen
derartigen Erfahrungen die Beziehung zur Häufigkeit der Syphilis
nirgends abzutrennen.
Suchen wir uns nunmehr an der Hand der vorliegenden That-
sachen wenigstens ungefähr ein Bild von dem Wesen des paraly-
tischen Krankheitsvorganges zu machen, so muss gleich im Beginne
einer solchen Betrachtung betont werden, dass möglicherweise eine
Reihe verschiedener Krankheitsformen unter dem klinischen Bilde
des fortschreitenden Blödsinns mit Lähmung zusammengefasst werden,
die uns erst eine eingehendere Kenntniss der pathologischen Ana-
tomie dereinst auseinanderzuhalten lehren wird. Es ist ja ohne
weiteres begreiflich, dass jede ausgebreitete Zerstörung der Hirnrinde
annähernd die gleichen Erscheinungen zu erzeugen im Stande sein
wird. In der That finden wir auch heute schon gelegentlich bei
anscheinend dementer Paralyse an der Leiche ganz andersartige
allgemeinere und selbst umgrenzte Hirnerkrankungen, die wir später
noch etwas genauer zu besprechen haben werden.
Trotzdem aber darf es als sicher gelten, dass der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle von progressiver Paralyse ein ganz bestimmter,
einheitlicher Krankheitsvorgang zu Grunde liegt, der durch den fort-
schreitenden Schwund des Nervengewebes, namentlich in der Hirn-
rinde, gekennzeichnet ist. Das Wesen dieses Vorganges kann An-
gesichts der Bilder, die uns das Mikroskop liefert, nicht zweifelhaft
sein. Offenbar haben wir es hier mit einer Vergiftung zu thun,
welche in ihrem Ablaufe vollkommen den Erfahrungen bei anderen,
künstlich herbeigeführten Vergiftungen entspricht. Die anfänglichen
Eraepelin, Psychiatrie. C. Anfl. IX. Band. 19
290
VI. Die Dementia paralytica.
Reizungsorscheinungcn an den Zellen, der rasche Zerfall, die langsame
Schrumpfung, das gelegentliche Aufll ackern des Krankheitsvorganges,
die Möglichkeit einer Rückbildung wiederholen sich in ganz ähnlicher
Weise bei der schnelleren oder langsameren Vergiftung des Ver-
suchsthiers mit irgend einem Stoffe, der die Nervenzellen schädigt.
Dass diese anatomischen Thatsachen mit den klinischen Beobach-
tungen der schleichenden Verblödung, der plötzlichen Erregungen
und Anfälle, der weitgehenden Besserungen in vollster Ueberein-
stimmung stehen, bedarf wol kaum des besonderen Hinweises.
Lassen wir für diese Betrachtung die Ausbreitung der Schädigung
auf andere Gebiete des Nervensystems zunächst ausser Acht, so be-
trifft die Vergiftung wesentlich die Ganglienzellen und das graue Netz
in der Hirnrinde. Der Untergang der markhaltigen Fasern und die
Wucherung der Neuroglia würden als die weiteren Folgen des Zellen-
schwundes anzusehen sein.
Das Gift, mit welchem wir es hier zu thun haben, muss im
Blute kreisen. Dafür spricht einmal die weite Verbreitung der
Schädigung, dann aber wol auch die häufige Betheiligung der Blut-
gefässe an dem Krankheitsvorgange. Man könnte sogar geradezu
daran denken, wie es häufig geschehen ist, dass erst die Erkrankung
der Hirngefässe den eigentlichen Anstoss zu der schweren Ernährungs-
störung gebe, die wir an den Ganglienzellen sich abspielen sehen.
Dieser Gedanke liegt um so näher, als die Schädlichkeiten, welchen
gewöhnlich die Entstehung der Paralyse zugeschrieben wird (Syphilis.
Alkohol, Gemüthsbewegungen), alle gemeinsam eine schwächende
Wirkung auf die Muscularis der Gefässwand auszuüben im Stande
sind. Gerade die Erschlaffung der Muscularis aber giebt, wie Thorua
nachgewiesen hat, den regelmässigen Anlass zur Entstehung end-
arteriitischer Erkrankungen, wie wir sie im paralytischen Gehirne
so häufig beobachten. Allein es muss darauf hingewiesen werden,
dass einerseits die Gefässerkrankimgen eine zwar häufige, aber
keineswegs ausnahmslose Begleiterscheinung des paralytischen Krank-
heitsvorganges darstellen und jedenfalls keine bestimmte Beziehung
zu dem sonstigen anatomischen oder klinischen Bilde erkennen
lassen. Andererseits aber begegnen uns vielfach noch weit stärkere
Veränderungen an den Gefässen, ohne dass die eigenartige Störung
der Paralyse zu Stande käme.
Vielmehr weist uns das ganze klinische Bild der Paralyse, wie
Wesen der Krankheit.
291
ich meine, mit grosser Bestimmtheit darauf hin, dass es sich hier
um eine schwere allgemeine Ernährungsstörung handelt, bei
welcher die Hirnerkrankung zwar die wichtigste und auffallendste,
aber doch nur eine Theilerscheinung darstellt. Zur näheren Be-
gründung dieses früher schon kurz ausgesprochenen Satzes sei zu-
nächst auf die ganze Reihe von Störungen hingewiesen, welche die
Paralyse, im Gegensatz zu den reinen Hirnerkrankungen, in den
verschiedensten Theilen des Körpers hervorruft. Dahin gehören
ausser den Gefässveränderungen die häufigen Erkrankungen des
Herzens oder der Nieren, die vielleicht zum Theil mit jenen ersteren
in einem gewissen Zusammenhänge stehen mögen, zum Theile jedoch
unmittelbar auf tiefgreifende Schädigungen der gesammton Ernährungs-
vorgänge hinweisen. Sicherlich werden solche Schädigungen nicht
etwa erst durch das Verhalten der Kranken herbeigeführt, sondern
sie müssen in dem Krankheitsvorgange selber begründet sein. Dafür
zeugt die Thatsache, dass wir jene Erkrankungen bei anderen Formen
des Irreseins nicht wiederfinden, obgleich dieselben mit den gleichen
ungünstigen Umständen, mit Aufregung, Schlaflosigkeit, Nahrungs-
verweigerung u. s. f. einhergehen. Dasselbe gilt für die so sehr
in die Augen fallenden Störungen, die man als „trophische“ von dem
Erkrankungsvorgange im Nervengewebe abhängig gedacht hat. Diese
Erklärung kann nur in sehr beschränktem Maasse und höchstens für
den Druckbrand zugestanden werden. Die erhöhte Brüchigkeit der
Knochen finden wir bei keiner einzigen örtlichen Hirnerkrankung
wieder, wol aber bei verschiedenen allgemeinen Ernährungsstörungen,
insbesondere bei den Greisenveränderungen.
Auch die gewaltigen Schwankungen des Körpergewichtes, die
schlechterdings nicht aus dem äusseren Verhalten der Kranken zu
erklären sind, sprechen für Krankheitsursachen, Avelche den Allgemein-
zustand des Körpers entscheidend beeinflussen. Nimmermehr kann
uns der Untergang des Nervengewebes bei der Paralyse erklären,
dass die Kranken zu gewissen Zeiten von einem Heisshunger be-
fallen werden, dessen rücksichtslose Befriedigung zu einer ungeheuer-
lichen Fettansammlung im Körper führt, während gegen das Ende
des Leidens wieder binnen kurzer Zeit die denkbar höchsten Grade
der Abmagerung erreicht werden. Bei keiner anderen Hirnerkran-
kung begegnet uns Aehnliches. Dagegen werden wir lebhaft an die
Erscheinungen bei gewissen Stoffwechselerkrankungen erinnert, ins-
19*
292
VI. Die Domeutia paralytica.
besondere an das Myxödem und den Diabetes. Hat doch v. Noorden
gezeigt, dass der übermässige Fettansatz vielfach geradezu auf
eine verminderte Lebhaftigkeit der Yerbrennungsvorgänge im
Körper zurückweist, die durch allgemeinere Stoffwechselstörungen
bedingt ist.
Wir haben ferner an jene früher angeführten Beobachtungen
zu denken, welche für tiefer greifende Veränderungen im Verhalten
des Blutes sprechen. Ebenso würden die gelegentlichen Steigerungen
wie die dauernden Senkungen der Körperwärme, die man meist auf
Schädigungen der Wärmeregulirungscentren zurückzuführen pflegt,
wrol ungezwungener als Vergiftungserscheinungen aufzufassen sein.
Entsprechende Störungen sind uns ja von anderen Vergiftungen her
genugsam bekannt. Man denke nur an die Eklampsie einerseits,
an das Myxödem andererseits. Aber auch die paralytischen Anfälle
selbst vertragen kaum eine andere Erklärung, als diejenige durch
Vergiftung. In den urämischen, den eklamptischen Anfällen, in den
epileptiformen Anfällen nach Schilddrüsenausschneidung, im Koma
diabeticum haben wir so zahlreiche Beispiele für eine solche Ent-
stehungsweise vor uns, dass wir diese Annahme jedenfalls als die
nächsthegende und am besten beglaubigte betrachten dürfen. Der
gelegentliche stürmische Zerfall der Zehen, wie er von Nissl ana-
tomisch im einzelnen festgestellt und von Lissauer geradezu als
Grundlage der paralytischen Anfähe betrachtet wurde, würde einer
solchen plötzlich ein tretenden Ueberschwemmung mit dem Krank-
heitsgifte bestens entsprechen. Vielleicht können wir hier auch an
die von Kemmler studirten rhythmischen Zuckungen in Folge des
Anpralles der Blutwelle erinnern. Freilich ist mit Recht darauf
hingewiesen worden, dass gerade die paralytischen Anfälle die
Kennzeichen örtlicher Reizerscheinungen tragen, die darum schwer-
lich auf allgemeine Giftwirkungen zurückgeführt werden könnten.
Wir dürfen uns aber nach Ausweis des mikroskopischen Bildes
vorstellen, dass sich das Rindengewebe des Paralytikers vielfach in
ganz verschiedenen Stufen der Erkrankung befindet; ein im Blute
kreisendes Gift könnte daher recht wol zunächst nur in bestimmten,
gerade besonders empfindlichen Gegenden Reizerscheinungen aus-
lösen, die sich erst allmählich weiter ausbreiten. Man könnte sogar
versucht sein, den Unterschied zwischen apoplektiformen, allgemeinen
lind umgrenzten epileptiformen Krämpfen auf das wechselnde Ver-
Wesen der Krankheit.
293
Mltniss zwischen Stärke der Giftwirkung und örtlicher Empfindlich-
keit zurückzuführen.
Alle die angeführten Erfahrungen werden, wie ich meine, nur
dann verständlich, wenn die Paralyse, indem sie die gesammten
Ernährungsvorgänge und nach Umständen eine Reihe von Organen,
Gefässe, Herz, Nieren, Knochengewebe, in Mitleidenschaft zieht, zu-
gleich ein Gift erzeugt, welches weite Bezirke des Nervensystems
vernichtet. Kein Gebiet scheint völlig unverletzlich zu sein, doch
bestehen hinsichtlich der “Widerstandsfähigkeit der einzelnen Gebiete
und Zellen vielfache Unterschiede. Der gleichen Erfahrung be-
gegnen wir bei anderen Vergiftungen, z. B. derjenigen mit Alkohol.
Auch durch ihn werden bei verschiedenen Menschen nicht immer
dieselben psychischen und nervösen Störungen, und sie werden
nicht immer in derselben Reihenfolge erzeugt. Wie es scheint, ge-
langt das paralytische Gift, ähnlich dem urämischen und dem
diabetischen, nicht dauernd oder doch nicht immer in grösseren
Mengen in die Blutbahn. Vielmehr dürfte zeitweise ein Stillstand
in seiner Erzeugung eintreten, während zu anderen Zeiten reich-
lichere Mengen den Organen zugeführt werden. So wenigstens
würden sich am einfachsten die Nachlässe und Besserungen der
Krankheit einerseits, die Anfälle und Verschlimmerungen anderer-
seits erklären. Dass sowol Nachlässe wie Steigerungen der Krank-
heitserscheinungen durch äussere Verhältnisse einigermassen beein-
flusst werden, darf uns dabei nicht Wunder nehmen. Gerade wenn
der allgemeine Haushalt des Körpers durch die Krankheit wesentlich
gestört ist, wird es leicht verständlich, dass günstige hygienische
Verhältnisse, Ruhe, regelmässiges Leben, sorgfältige Ernährung
einen Ausgleich der Störung erleichtern, Ueberanstrengungen, Aus-
schweifungen, Gemüthsbewegungen denselben erschweren müssen.
Dazu kommt, dass natürlich auch die Widerstandsfähigkeit des
Nervengewebes gegen die andringende Schädlichkeit in beiden Fällen
eine sehr verschiedene sein muss.
Die hier durchgeführte Auffassung der Paralyse bringt die
Krankheit, wie man ohne weiteres übersieht, in eine gewisse Ver-
wandtschaft mit dem Myxödem und weiterhin mit Diabetes, Osteo-
malacie, Akromegalie. Bei diesen letzteren Krankheiten vermag
allerdings das zweifellos im Körper kreisende Gift nicht das Nerven-
gewebe zu zerstören. Dagegen haben wir früher in der Dementia
294:
VI. Die Dementia paralytica.
praecox eine Form des Irreseins kennen geleimt, welche nach den
verschiedensten Richtungen hin das Bindeglied zwischen dem
Myxödem und der Paralyse zu bilden geeignet ist. Rur war dort
das vermuthete Gift ausser Staude, andere, als die Träger ganz be-
stimmter Verrichtungen des Hirns zu vernichten; das Urtheil, die
Gefühlsbetonung und die Willensentschliessungen wurden in erster
Linie in Mitleidenschaft gezogen, während Gedäclitniss und Auf-
fassung verhältnissmässig wenig litten. Aeknlich sehen wir etwa
das Morphium in gewisser Beziehung die gleichen psychischen
Störungen erzeugen wie der Alkohol; andere, die Gewalttätigkeit,
die Wahnbildungen, die Gedäcktnisssclwäche, ferner die neuritiseben
Erkrankungen, die Epilepsie kommen auch bei dem längstdauernden
Missbrauche des Mittels nie zu Stande. Yon besonderer Bedeutung
aber erscheint es mir, dass bei der Dementia praecox nicht nur
ganz ähnliche psychische Krankheitsbilder zur Entwicklung kommen
können wie bei der Paralyse, die einleitende Verstimmung, der
Grössen wahn, die Hypochondrie, die einfache Verblödung u. s. f.,
sondern dass auch Anfälle, freilich meist leichterer Art, centrale
Sprachstörungen, Pupillenveränderungen, endlich jene auffallenden
Schwankungen des Körpergewichts sich dort wiederfinden, welche
diese beiden Krankheitsgruppen vor anderen auszeichnen.
Wir stehen nunmehr aber vor der Frage, wie weit sich die
hier vertretene Anschauung mit den bisher über die Entstehung der
Paralyse bekannten Thatsacken in Uebereinstimmung bringen lässt
Hauptsächlich werden wir uns dabei nur mit der Verursachung durch
Syphilis abzufinden haben, da alle sonstigen Ursachen der Paralyse
theils überhaupt unsicher, tlieils doch nur als unterstützende Ein-
wirkungen zu betrachten sind.
Allerdings hat Binswanger*) den Satz aufgestellt, dass wil-
den paralytischen Krankheitsvorgang „unbestritten als die Folge-
erscheinung einer functioneilen Ueberanstrengung des Central-
nervensystems und dabei in erster Linie der Grosshirnrinde1“ zu
betrachten haben. Ich kann dieser Auffassung nicht zustimmen.
Wir kennen in der Hauptsache die Krankheitsbilder, welche durch
Erschöpfung erzeugt werden, ziemlich gut; sie entsprechen in keiner
Weise der Paralyse. Auch die besonderen Entstehungsbedingungen
*) Berliner klinische Wochenschrift, 1894, 49.
Wesen der Krankheit.
295
des Leidens bieten für die erwähnte Annahme schwerlich eine Be-
stätigung. Es ist zwar richtig, dass dauernde gemüthliche Erregungen
anscheinend die Entwicklung der Paralyse begünstigen; doch lässt
sich gewiss nicht erweisen, dass sie wirkliche Ursachen der Krank-
heit sind, mag man der Verschiedenheit der persönlichen Wider-
standsfähigkeit einen noch so grossen Spielraum zugestehen. Sehen
wir doch zahllose kräftige Männer paralytisch erkranken, die in den
einfachsten und geregeltsten Verhältnissen leben, während anderer-
seits die grösste Anspannung der geistigen und gemüthlichen Leistungs-
fähigkeit zwar regelmässig alle Störungen der nervösen Erschöpfung,
aber nicht Paralyse herbeiführt. AVas aber meines Erachtens die
Frage entscheidet, ist der Umstand, dass Ermüdung und Erschöpfung,
so viel wir wissen, sicher vorübergehende, vielleicht unter Um-
ständen auch einmal dauernde Schädigungen, nicht aber einen fort-
schreitenden Krankheitsvorgang erzeugen können. Fällt die Ur-
sache fort, so hört die Wirkung auf — diesen Satz finden wir
gerade bei den Störungen nach Erschöpfung überall bewahrheitet,
auch dort, wo schwere Schädigungen voraufgegangen waren. Es
wäre nicht zu. verstehen, warum Ueberanstrengungen, die in keiner
Weise das Durchschnittsmaass überschreiten, so ungemein häufig
eine Erkrankung der Hirnrinde herbeiführen sollten, die trotz vollster
geistiger Ruhe sich nicht bessert, sondern unaufhaltsam bis zur Ver-
nichtung fortschreitet.
Dem gegenüber ist die Rolle der Syphilis offenbar eine durchaus
■wesentliche. Es hat daher in älterer wie in neuerer Zeit auch nicht an
Forschern gefehlt, welche die Paralyse, ebenso wie die ihr offenbar
nahe verwandte Tabes, einfach als syphilitische Erkrankung des cen-
tralen Nervensystems auffassen zu können glaubten. Strümpell
hat die Paralyse in Parallele mit den diphtherischen Lähmungen
gestellt, indem er annahm, dass dort wie hier durch den lebenden
Ansteckungsträger, also bei der Paralyse den Syphiliskeim, nach
Ablauf des ersten Kraukheitsabsclmittes ein chemisches Gift erzeugt
werde, welches nun in eigenthümlicher Weise auf die verschiedenen
'Abschnitte des Nervensystems zerstörend einzuwirken im Stande sei.
Auch Möbius hält Tabes und Paralyse geradezu für Nachkrank-
heiten der Syphilis. Leider gestatten die heute vorliegenden That-
sachen eine so einfache Deutung, wie mir scheint, noch nicht. Selbst
wenn wir die Annahme machen wollten, dass alle „wahren Paralysen“
296
VI. Die Dementia paralytiea.
mit der Syphilis in ursächlichem Zusammenhänge stehen, so er-
wachsen dem "Verständnisse doch noch eine Reihe von Schwierig-
keiten. Erstens lehrt uns die anatomische Untersuchung, dass bei
den paralytischen Veränderungen von eigentlicher Syphilis keine
Rede sein kann. Zwar finden wir nicht so selten Infiltrationen der
Gefässwandungen, die als gummöse Erkrankungen aufgefasst werden
dürfen, vereinzelt auch einmal ein grösseres Gumma; dagegen ent-
spricht der Erkrankungsvorgang in der Hirnrinde in keiner Weise
den uns sonst bekannten Einwirkungen der Syphilis. Dazu kommt,
dass die Paralyse durch antiluetische Behandlung erfahrungsgemäss
nicht zum Stillstände gebracht, noch weniger gebessert, geschweige
denn geheilt werden kann. In den nicht ganz seltenen Fällen, in
denen die Zeichen einer fortbestehenden Lues vorhanden sind, sehen
wir diese letzteren auf Quecksilber und Jodkalium in gewohnter
Weise schwinden, während die paralytischen Störungen völlig un-
berührt bleiben oder sich gar verschlimmern. Endlich aber ist zu
berücksichtigen, dass die Paralyse der syphilitischen Ansteckung
regelmässig erst nach recht langer Zeit, meist nach mehr als einem
Jahrzehnte, zu folgen pflegt.
Aus diesen Thatsachen geht mit Bestimmtheit soviel hervor,
dass die Paralyse schwerlich eine einfache syphilitische Erkrankung
sein kann. Dagegen muss sie im Stande sein, innerhalb längerer
Zeiträume auf irgend welche Weise eine tiefgreifende Stoffwechsel-
erkrankung herbeizuführen, die als solche mit der Syphilis nichts
mehr zu thun hat und ihrerseits ein Gift erzeugt, das wir als die
letzte Ursache der paralytischen Veränderungen anzusehen haben.
Eine solche Annahme würde, so viel ich sehe, allen besprochenen
Schwierigkeiten der Erklärung weitaus am besten gerecht werden.
Freilich können wir uns über das Wesen des Bindegliedes zwischen
Lues und Paralyse heute noch keine bestimmteren Vorstellungen
machen, doch möchte ich daran erinnern, dass z. B. auch Myxödem
durch die Syphilis erzeugt werden kann, wenn die Krankheit gerade
die Schilddrüse zerstört. Auch hier wird sich das Myxödem erst lange
nach der syphilitischen Ansteckung entwickeln, da ihm die völlige Ver-
nichtung der Drüse voraufgehen muss; auch hier ist die antiluetische
Behandlung machtlos geworden, trotzdem sie andere gleichzeitige
Zeichen der Syphilis glatt beseitigt. Auch hier endlich haben die
anatomischen Veränderungen nicht die geringsten Beziehungen mehr
Erkennung.
297
zu der ursprünglichen Syphilis. Andererseits kann die Schilddrüse
auch durch Tuberculose, durch Geschwulstbildungen, durch das
endemische Gift des Kretinismus und wol noch durch eine Reihe
von weiteren Krankheitsvorgängen zerstört werden. Aehnlich sehen
wir die Addison’sche Krankheit, ebenfalls eine allgemeine Er-
nährungsstörung, oftmals durch die Tuberculose erzeugt werden, ob-
gleich diese letztere mit jenem Leiden nicht die geringste Verwandt-
schaft besitzt. So wäre es denkbar, dass auch die gleiche, der
Paralyse zu Grunde liegende Allgemeinerkrankung auf verschiedenen
Wegen zu Stande kommen könnte, von denen derjenige der lueti-
schen Ansteckung nur der gangbarste ist. Damit endlich würde
die Thatsache begreiflich, dass uns die Syphilisstatistik immer noch
in einer ziemlich grossen Zahl von Fällen im Stiche lässt.
Die Erkennung der Paralyse*) ist eine der wichtigsten
Aufgaben des Irrenarztes, weil von ihr fast immer sehr ein-
schneidende Massregeln, namentlich auch wirthschaftlicher Natur
(Entmündigung, Auflösung von Geschäften), abhängig sind. Die
grössten Schwierigkeiten erwachsen natürlich im ersten Beginne,
so lange körperliche wie psychische Störungen noch unbestimmte
sind. Hier gilt zunächst die Regel, dass man bei geistigen Er-
krankungen, die ohne greifbare Ursache erstmals in mittleren Lebens-
jahren auftreten, besonders bei Männern, immer an die Möglichkeit
einer Paralyse denken soll. Von körperlichen Zeichen sind fast
unbedingt beweisend reflectorische Pupillenstarre und die eigenartige
Sprachstörung. Nach Siemerlings Zusammenstellung betraf die
Pupillenstarre bei Geisteskranken in 92 °/0 der Fälle Paralytiker.
Ebenso dürfte die Unfähigkeit zur richtigen Zusammenordnung der
Wörter, Silben und Buchstaben nahezu oder ganz ausschliesslich
der Paralyse angehören, während die aphasischen Störungen be-
kanntlich auch anderen Hirnerkrankungen zukommen, die rein arti-
culatorischen aber zudem angeboren sein können. Auch die para-
lytischen Anfälle sind ungemein wichtige Zeichen der Krankheit;
doch ist es begreiflicherweise nöthig, im gegebenen Falle die Möglich-
keit epileptischer, alkoholischer, urämischer, diabetischer Anfälle aus
der Art derselben, aus der Vorgeschichte und durch die körper-
liche Untersuchung auszuschliessen. Anfälle mit vorübergehender
*) Hoc he , Die Frühdiagnose der progressiven Paralyse. 1896.
298
VI. Dii Dementia paralytica.
Aphasie oder rasch schwindenden Lähmungen sind stets in höchstem
Grade der Paralyse verdächtig. Nicht ganz selten gehen einzelne
körperliche Krankheitszeichen dem Auftreten der psychischen Ver-
änderungen lange Zeit voraus. Thomsen hat Fälle berichtet, in
denen Pupillenstarre, Augcnmuskellähmungen , aphasische oder epi-
leptiforme Anfälle, Verschlechterung der Sprache 5, 7, ja 10 und
11 Jahre vor dem eigentlichen Ausbruche der Krankheit beobachtet
wurden. Ich kann diese Angaben durchaus bestätigen. Man wird
daher beim Auftreten derartiger Erscheinungen immer auf die all-
mähliche Entwicklung einer Paralyse gefasst sein müssen, auch
wenn sich zunächst Jahre lang keine weiteren Erscheinungen geltend
machen.
Wo psychische Veränderungen neben den angeführten kenn-
zeichnenden körperlichen Störungen vorhanden sind, zu denen
noch als weniger wrerthvoll Steigerung oder seltener Fehlen der
Kniesehnenreflexe und Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit
hinzuzufügen wären, wird im allgemeinen die Aufdeckung der
Krankheit keine Schwierigkeiten bieten. Wir sind aber that-
sächlich sehr häufig in der Lage, die Diagnose der Paralyse aus-
schliesslich oder wesentlich aus dem psychischen Zustande stellen
zu müssen. Einzelne Fehlgriffe sind dabei unausbleiblich, doch
ist die Zuverlässigkeit auch dieser Merkmale eine recht grosse.
In erster Linie steht dabei die Störung des Gedächtnisses und
der Merkfähigkeit, weiterhin die Urtheilsschwäche, die Gemüths-
stumpfheit, die Beeinflussbarkeit der Stimmung und die Bestimm-
barkeit des Handelns.
Alle diese Zeichen werden bei der Abgrenzung der Paralyse
von der Neurasthenie zu beachten sein, die in den ersten Zeiten
der Krankheit zuweilen ebenso schwierig wie durch die Sachlage
dringend gefordert erscheint. Wir haben der einzelnen Unter-
scheidungsmerkmale bereits bei Besprechung der nervösen Er-
schöpfung gedacht, möchten aber hier noch hinzufügen, dass den
Klagen über gelegentlichen Schwindel, leichtem Stottern, Zittern der
Zunge und mässiger Steigerung der Sehnemeflcxe keine schwer-
wiegende diagnostische Bedeutung zukommt. Klare Einsicht und
Verständniss für die Krankheitserscheiuungon, nachhaltiges Streben
nach Beseitigung derselben, Zugänglichkeit für vernünftigen Zu-
spruch, fortschreitende Besserung durch angemessene Erholung
Erkennung.
299
sprechen für Neurasthenie, während der Paralytiker manche deut-
liche Störungen (Gedächtnissschwäche, Reizbarkeit) selbst vielleicht
gar nicht beachtet, dafür andere in hypochondrischer Weise vor-
bringt, Belehrungen nur unvollkommen versteht und verarbeitet, im
Vergleiche zu seinen lebhaften Klagen merkwürdig wenig gegen
seine Krankheit unternimmt, keine Behandlung zu Ende führt und
durch einfaches Ausspannen oft gar nicht gebessert wird.
Sehr gross kann öfters die äusserliche Aehnlichkeit der para-
lytischen Depression mit anderen, sonst ganz verschiedenartigen
Zuständen sein. Die Abgrenzung von der Melancholie kommt
namentlich beim weiblichen Geschlechte in Frage, bei dem ohnedies
depressive Paralysen ziemlich häufig sind; bei Männern wird wegen
der grossen Seltenheit wirklicher Melancholien vor dem 50. Jahre
schon das Lebensalter einen gewissen Anhalt geben. Für Paralyse
spricht ferner der Nachweis auffallender Schwäche des Urtheils, der
Stimmung, des Handelns und ganz besonders des Gedächtnisses,
mangelhafte zeitliche Orientirung, Verständnisslosigkeit für die
Umgebung und die Sachlage, Unsinnigkeit und Zusammenhangs-
losigkeit der Wahnbildungen. Allerdings treten bei Frauen in den
50er Jabren, wo die Paralyse noch vielfach beobachtet wird, auch
in der Melancholie öfters schon die Zeichen einer psychischen
Schwäche deutlich hervor. Wenn hier nicht das Verhalten des Ge-
dächtnisses die Sachlage klärt, kann die sichere Abgrenzung der
Paralyse von der Melancholie auf Grund des psychischen Bildes
allein in der ersten Zeit unmöglich werden. Ver werthbar ist bis-
weilen auch die Entwicklung des Leidens, die bei der Paralyse eine
allmählichere und schleichendere zu sein pflegt, als bei der Melan-
cholie. Den Ausschlag aber wird meist das Auffinden dieses oder
jenes entscheidenden körperlichen Krankheitszeichens geben müssen.
Aehnliches gilt von der Unterscheidung der Paralyse gegenüber
den Depressionszuständen des manisch-depressiven Irreseins. Wo frei-
lich die Vorgeschichte frühere manische oder depressive Erkrankungen
aufweist, ist die Erkennung leicht. Da sich aber die ersten Anfälle
eines manisch-depressiven Irreseins auch in mittlerem und höherem
Lebensalter zeigen können, so ist man bei der Diagnose nicht selten
auf das Zustandsbild allein angewiesen. Bei besonnenen und ge-
ordneten Kranken wird der Nachweis oder das Fehlen der Ge-
dächtnisstörung, der Urtheilsschwäehe und der Bestimmbarkeit von
300
VI. Die Dementia paralytica.
besonderer Bedeutung sein. Einfacher Stimmungswechsel und das
gelegentliche Auftauchen von Bewegungsdrang und leichten Grössen-
ideen ist wegen der Möglichkeit des Umschlagens in einen manischen
Zustand nur mit grösster Vorsicht für die Annahme einer Paralyse
zu verwerthen. Die Diagnose bei Stuporzuständen wird im all-
gemeinen zu berücksichtigen haben, dass circulare Kranke einerseits
etwas besser aufzufassen pflegen, als paralytische, andererseits mo-
torisch gebundener sind. Sie folgen daher den Vorgängen in der
Umgebung mit grösserer Aufmerksamkeit, gerathen leichter in Angst,
wenn man sie etwa mit einer Nadel bedroht, bewegen sich aus
freien Stücken wenig und langsam, doch macht sich die innere Er-
regung bisweilen in flüsternden Selbstgesprächen Luft. Dem gegen-
über kümmern sich stuporöse Paralytiker wenig um die Aussen weit,
beachten auch drohende Gefahren kaum, sind in ihren Bewegungen
freier, entweder unruhig, ängstlich oder stumpf, unzugänglich. Es
ist aber im einzelnen Falle natürlich nicht immer möglich, sich über
die inneren Vorgänge der Kranken soweit Klarheit zu verschaffen,
dass die Unterscheidung ohne Berücksichtigung der freilich auch
vielfach unsicheren körperlichen Zeichen rasch und zuverlässig
durchführbar wäre.
Die expansiven Erregungszustände der Paralytiker können zu
Verwechselungen mit manischen Erkrankungen Anlass geben. Ab-
gesehen von den körperlichen Zeichen sprechen Unfähigkeit, sich
neue Eindrücke einzuprägen, Unsicherheit in den Zeitangaben und
in den Schulkenntnissen (Rechnen), abenteuerliche und widerspruchs-
volle Wahnbild ungen, grosse Beeinflussbarkeit der Stimmung, Lenk-
samkeit des Willens für Paralyse. Auch in der Manie werden
übrigens nicht selten Wahnvorstellungen vorgebracht, die inhaltlich
ganz an diejenigen der Paralytiker erinnern, aber man merkt meist
bald, dass die Kranken mit ihnen mehr spielen, aufschneiden, ver-
blüffen wollen, sie nicht mit der naiven Ueberzeugtheit Vorbringen
wie die Paralytiker. Manische Kranke haben ein weit besseres
Verständniss für ihre Lage, pflegen lebhaft nach Hause zu verlangen,
Thatendrang zu zeigen, lassen sich nicht so leicht beschwichtigen
und vertrösten wie paralytische. In den ganz schweren Erregungs-
zuständen ist die Auffassung, die Orientirung und der Gedanken-
zusammenhang bei den Paralytikern erheblich stärker getrübt, als
bei manischen Kranken. Nicht selten wird hier auch die Vor-
Erkennung.
301
geschichte, das frühere Auftreten manischer oder depressiver Er-
krankungen, Anhaltspunkte für die Diagnose liefern.
Manche sein plötzlich auftretende Erregungszustände der Para-
lytiker können für Delirium tremens gehalten werden, besonders
wenn Alkoholmissbrauch vorlag. Im allgemeinen sind die Para-
lytiker dabei schwerer benommen, geben weniger Auskunft, zeigen
auch nicht die eigenthümliche Mischung von Angst und Humor,
die wir so oft bei Alkoholdeliranten finden. Bisweilen wird uns
aber erst die nach dem Schwinden des Deliriums zurückbleibende
psychische Schwäche über die paralytische Grundlage des Krank-
heitsbildes aufklären, wenn nicht Vorgeschichte oder körperliche
Anzeichen darauf schon hingewiesen haben.
Auf die Unterscheidung der Paralyse von der Amentia brauchen
wir wol kaum des näheren noch einzugehen. Es dürfte ge-
nügen, auf den Anschluss der Amentia an schwere erschöpfende
Schädigungen, auf die Erhaltung der Aufmerksamkeit bei tiefer
Störung des Verständnisses und der Orientirung, auf die Ver-
wirrtheit und Unbesinnlichkeit ohne eigentliche Schwäche des
Urtheils und des Gedächtnisses für die fernere Vergangenheit hin-
zuweisen.
Die Abgrenzung der Paralyse von den verschiedenartigen Zu-
ständen der Dementia praecox haben wir bereits bei der Darstellung
jener Krankheit besprochen. Massgebend ist überall ausser körper-
lichen Zeichen und klinischer Entwicklung der Krankheit die Ge-
dächtnisstörung der Paralytiker, die tiefere Trübung der Besonnen-
heit, das Pehlen oder doch die weit geringere Ausbildung der
eigenthümlichen katatonischen Erscheinungen. Dem paralytischen
Schwachsinn fehlen die Schrullen und Manieren sowie die perio-
dischen Erregungen, dem Stupor der zähe, unbeeinflussbare Nega-
tivismus, wenn auch Nahrungsverweigerung, Stummheit, Reactions-
losigkeit längere Zeit hindurch bestehen kann. In der Erregung
beobachten wir wol einzelne triebartige Bewegungsstereotypen, aber
nicht die ganz beziehungslosen Antworten, die Sprachverwirrtheit;
zudem sind die Kranken nicLt besonnen und orientirt wie zumeist
die Katatoniker. Immerhin sind auch hier die Fälle keineswegs
selten, in denen die Unterscheidung zwischen Paralyse und Dementia
praecox erst nach längerer Beobachtungszeit mit einiger Sicherheit
möglich ist, besonders da auch manche körperliche Zeichen, so die
302
VI. Die Dementia paralytioa.
Anfälle, die Steigerung der Reflexe, liier für die Beurtheilung nicht
immer verwerthbar sind.
In ganz vereinzelten Fällen können besonnene Paralytiker zu-
nächst das Bild einer beginnenden Paranoia darbieten. Soweit die
Klärung hier nicht durch den Nachweis körperlicher Zeichen gelingt,
wird eine gewisse Weichheit lind Nachgiebigkeit, Unklarheit und
Veränderlichkeit der Wahnbildungen, zeitweise hervortretendes Krank-
heitsgefühl, Wechsel zwischen auffallender Gereiztheit und Stumpf-
heit die Diagnose erleichtern.
Bei weitem am schwierigsten, aber glücklicher Weise praktisch
weniger wichtig ist die Abgrenzung der Paralyse von gewissen
Krankheiten, die ebenfalls ausgebreitete Zerstörungen der Hirnrinde
mit sich bringen. Zunächst käme etwa der Altersblödsinn in seinen
verschiedenen Formen in Betracht. Für ihn spricht hohes Alter,
sehr langsamer Verlauf der Erkrankung, Dürftigkeit der Wahnideen
sowie geringere Entwicklung der motorischen Störungen, die sich
auf einfache Lähmungen und Paresen zu beschränken pflegen.
Ueber die Abgrenzung einiger weiteren, zum Theil erst neuerdings
von der Paralyse getrennten Krankheitsbilder, welche durch diffuse
Hirnrindenveränderungen erzeugt werden, haben wir im folgenden
Abschnitte näher zu haudeln. Hie und da sieht man auch einmal
eine Hirngeschwulst unter dem Bilde der dementen Paralyse ver-
laufen, indem der gesteigerte Hirndruck eine ähnliche allgemeine
Abschwächung der psychischen Leistungen erzeugt wie die paraly-
tische Vergiftung. Meist / wird hier der Nachweis der Stauungspapille
Klarheit bringen, auch wenn wegen des Sitzes der Herderkraukung
keine örtlichen Ausfallserscheinungen vorhanden waren. Zerstreute
Herderkrankungen sind von der dementen Paralyse nur unter Be-
rücksichtigung des Lebensalters, durch den geringeren Grad der
geistigen Schwäche, das Fehlen der eigentlich kennzeichnenden
paralytischen Störungen und den meist viel langsameren Verlauf
des Leidens zu unterscheiden. Syphilitische Hirnerkrankungen, wenn
sie nicht herdartig sind oder durch den Erfolg der antiluetischen
Behandlung erkannt werden, lassen sich nicht mit Sicherheit von der
Paralyse abgrenzen. Das ist verständlich, weil eben die Lues an-
scheinend nur durch Erzeugung ausgebreiteter Gefässerkrankungen
und dadurch bedingte Ernährungsstörungen ausgeprägtere psychische
Krankheitsbilder hervorruft
Behandlung.
303
Bei der Behandlung der Paralyse hat man in erster Linie
häufig genug die Ursache der Krankheit dadurch zu beseitigen ge-
sucht, dass man mit kräftigen antisyphilitischen Massnahmen gegen
die Kranken vorging. Die Erfahrung lehrt indessen regelmässig,
dass hier noch weniger, als bei der Tabes, durch Quecksilber oder
Jodkalium Heilerfolge erzielt werden. Nachlässe der Krankheit
kommen allerdings ebenso wie bei jeder anderen Behandlungsart,
namentlich unter dem Einflüsse der Anstaltsruhe, nicht selten vor.
Auf der anderen Seite habe ich in einer ganzen Reihe von Fällen,
in denen Syphilis sicher voraufgegangen und zum Theil noch in
frischen Anzeichen vorhanden war, im unmittelbaren Anschlüsse an
eine Schmiercur raschen Verfall der Kräfte und plötzliches Auftreten
schwerer Aufregungszustände beobachtet. Ich kann daher in Ueber-
einstimmung mit der Mehrzahl der Irrenärzte einstweilen nur rathen,
sich im allgemeinen höchstens mit der Darreichung von Jodkalium
oder zunächst überhaupt mit symptomatischer Behandlung der
Paralyse zu begnügen.
Das wichtigste Erforderniss einer solchen ist in der ersten Zeit
vor allem Ruhe, Entfernung des Erkrankten aus den gewohnten
Verhältnissen und Beschäftigungen sowie eine sorgfältige Regelung
der gesammten Lebensweise. Aufgeregte Kranke und solche mit
Selbstmordneigung gehören unbedingt in eine Anstalt, um sie und
ihre Umgebung vor den Folgen ihrer Handlungen zu schützen; ruhige
und lenkbare Kranke in besseren Vennögensverhältnissen können,
soweit eine sachverständige Behandlung und Ueberwachung mög-
lich ist, auch in privater Pflege erhalten werden. Zu vermeiden
sind jedoch besuchte Badeorte mit ihren vielfachen Zerstreuungen
und Aufregungen, anstrengende Reisen, alle schwächenden Mass-
regeln, angreifende Hunger-, Kaltwasser-, Badecuren u. s. f. Eine
sehr gewöhnliche Erfahrung ist rasche Verschlechterung des All-
gemeinzustandes und plötzlicher Ausbruch tobsüchtiger Erregung
in Folge von Kaltwassermisshandlung. Ausser der Ruhe ist Sorge
für kräftige Ernährung, Regelung der Verdauung, Bewegung in
frischer Luft, Vermeidung von geistigen Getränken, von Tabak,
Kaffee, Thee von Wichtigkeit; auch eine ganz milde, gut über-
wachte hydropathische Behandlung (Abreibungen, laue Bäder, Ein-
wicklungen; keine Douche, keine Ueber- und Untergüsse!) kann gute
Dienste leisten.
304
VI. Die Dementia paralytiea.
Bei den Aufregungszuständen der Paralytiker hilft sehr
häufig schon die Versetzung in eine ruhige Umgebung, die Bettruhe,
ein verlängertes Bad sowie die Ablenkung durch freundliches und
geschicktes, der Stimmung des Kranken angepasstes Entgegen-
kommen. Ist die Erregung sehr heftig, so gelingt es nur durch
grosse Geduld, allmählich die Kranken an die hier sehr empfehlens-
werthen Dauerbäder zu gewöhnen, zunächst vielleicht nach vorauf-
gehender Betäubung durch Sulfonal oder Hyoscin. später ohne Arznei-
mittel. Unter Umständen wird man, da die Kranken vielfach auch
keine genügende Nahrung zu sich nehmen, ein bis zwei Mal täglich
zur Sondenfütterung schreiten, bei der man versuchen kann, durch
Zusatz von 50 — 60 gr Alkohol oder von 1 gr Sulfonal längere
Ruhe zu erzielen. Die grössten Schwierigkeiten für die Behandlung
bieten die ängstlichen Aufregungen der Paralytiker. Hier erweisen
sich die Bäder meist als undurchführbar, und auch die Arzneimittel
pflegen nicht viel Erfolg zu haben. Man wird sich daher unter
Umständen auf beständige Ueberwachung, Schutz der Kranken vor
Verletzungen, sorgfältige Behandlung der entstehenden Hautabschür-
fungen u. s. w. beschränken müssen. Gelegentlich habe ich bei
starker, sinnloser Erregung den Versuch gemacht, durch planmässig
zweimal täglich wiederholte subcutane Infusionen Besserung zu er-
zielen; wir Hessen jeweils etwa 750 gr Kochsalzlösung einfliessen.
Die Behandlung wurde in einem Falle ohne üble Zufälle zwei Wochen
lang fortgesetzt. Es trat bei dem Kranken, der einem raschen Ver-
falle entgegen zu gehen schien, eine entschiedene, andauernde
Besserung ein, so dass weitere Versuche mit dem genannten Ver-
fahren in verzweifelten Fällen gerechtfertigt sein dürften.
Die meiste Pflege erfordern die Paralytiker im letzten, bett-
lägerigen Stadium und besonders in den Anfällen. Schon vorher
ist es vielfach nothwendig, sorgfältig auf die Reinhaltung der Kranken
zu achten und die Nahrungsaufnahme zu überwachen, wegen des
mangelhaften Kauens nur gut zerkleinerte, leicht verdauliche Speisen
einzuführen und das gierige Schlingen durch vorsichtiges Eingeben
zu verhindern, da sonst leicht tödtliche Erstickungsanfälle Vorkommen.
Im Anfalle und bei sehr erschöpften, blödsinnigen Kranken ist vor
allem der Entstehung von Decubitus vorzubeugen. Dieser Auf-
gabe dienen peinlichste Reinlichkeit, häufige Waschungen der ge-
fährdeten Theilo mit kaltem Wasser oder einer spirituösen Sublimat-
Behandlung.
305
lösung, sorgfältige Beseitigung aller Falten, Brodkrumen u. dergl.
aus dem Bette, die Anwendung von Wasser- oder Luftkissen oder
die Lagerung auf feine Holzwolle oder Moos, welche rasch jede
Verunreinigung aufsaugen, aber von den blödsinnigen Kranken leider
vielfach verzehrt werden. Endlich aber ist ein regelmässiger, durch
Wärterhände bewirkter Wechsel der Lage nothwendig, so dass der
Kranke (in schweren Fällen alle % Stunde Tag und Nacht) von
einer Seite auf die andere, auf den Rücken, den Bauch u. s. f.
herumgedreht wird. Diese von G u d den eingeführte Massregel,
welche bis zu einem gewissen Grade auch der Entstehung von
,, hypostatischen“ Pneumonien entgegenarbeitet, ermöglicht es, den
sonst für unvermeidlich gehaltenen Druckbrand von den Paralytikern
(10% derselben sollen nach Mendel’s Angaben daran zu Grunde
gehen) fast ganz fernzuhalten und jedenfalls gefahrdrohende Formen
desselben vollständig zu verhüten. Weit schwieriger ist es, den
einmal entstandenen Druckbrand wieder zur Heilung zu bringen,
zumal der Kranke durch seine Unruhe und Abreissen des Ver-
bandes dieselbe oft sehr erschwert. Eine regelrechte chirurgische
Behandlung hat mich bei rechtzeitigem Einschreiten dennoch stets
zum Ziele geführt, wo eine Nachlässigkeit des Wartpersonals die
Vorbeugung verabsäumt und (in wenigen Stunden!) das Uebel herbei-
geführt hatte.
Als ein. ausserordentlich zweckmässiges Hülfsmittel sowol für
die Verhütung des drohenden Druckbrandes bei sehr unreinlichen
und schwer beweglichen Kranken wie zur Heilung selbst der aus-
gebreitetsten Formen kann ich das Dauerbad empfehlen, nach Um-
ständen unter Lagerung des Kranken auf ein durchgespanntes Tuch
oder auf ein Wattepolster. Selbst die Anwendung bestimmter Arznei-
stoffe auf die Wundflächen lässt sich mit Hülfe deckender Pflaster
im Bade ohne Schwierigkeit durchführen. Die Kranken pflegen
sich sehr leicht an das Verfahren zu gewöhnen, welches ich in
einzelnen Fällen mit bestem Erfolge Tag und Nacht hindurch fort-
gesetzt habe.
Für die Behandlung des paralytischen Anfalles empfiehlt Kern ml er
Einpackung des Kopfes in Eis, bei starken Krämpfen Klystiere von
Amylenhydrat (6 gr) oder Chloralhydrat; ersteres Mittel wurde auch
in 5 — 10%iger Lösung subcutan gegeben. Ist rasche Wirkung
nothwendig, so soll zur Chloroformbetäubung bis zum Nachlasse der
Kraepeün, Psychiatrie. 6. Aull. II. Hand. 20
306
VI. Die Dementia paralytica.
motorischen Reizerscheinungen geschritten werden. Bei eintretender
Herzschwäche passen anregende Mittel, Coffein, Kampher, Alkohol in
kleinen Gaben, endlich Kochsalzinfusionen.
Die Entleerung des Mastdarms und der Blase bedarf im para-
lytischen Anfalle gewöhnlich nur anfangs einer Nachhülfe durch
Eingiessung, Auspressen der Blase oder Einführung des (sorgfältigst
gereinigten und desinficirten !) Katheters; später vollzieht sie sich
regelmässig von selbst, wenn man nicht durch zu langes Warten
Ueberfüllung und dadurch Lähmung beider Organe hat entstehen
lassen, die dann zu dauernder Kunsthülfe zwingt. Leider wird die
Behandlung der sehr leicht eintretenden Blasenlähmung öfters
durch alte Stricturen erschwert. Zweckmässig ist es, an jede künst-
liche Entleerung der Blase regelmässig eine Ausspülung (Bor-
säure) anzuschliessen, der man bei Schlaffheit des Detrusor kühle
Temperatur gebe. Auch ausserhalb des Anfalles sind übrigens
Urin- und Kothentleerimg dauernd zu beachten, wenn nicht an-
haltendes Urinträufeln und Schlussunfähigkeit des Mastdanns ent-
stehen soll. Ich habe bei einem Paralytiker, der bereits 2 Jahre
lang katheterisirt worden Avar, nach 2 mal täglich wiederholten
Blasenausspülungen (Tanninlösung) in Zeit von 4 Wochen die selb-
ständige Entleerung sich wiederherstellen und dann auch in einem
13 Tage dauernden paralytischen Anfalle nicht versagen sehen. Bei
demselben Kranken entstand trotz andauernden tiefsten Komas und
fast völliger Pulslosigkeit unter der oben erwähnten Behandlung bis
zum Tode keine Spur von Druckbrand. Die Ernährung hat im
Anfalle stets durch die Sonde zu geschehen (nur bei mehrtägigen
Anfällen nöthig); blosses Eingiessen in den Mund ist im höchsten
Grade gefährlich. Sorgt man dann noch für häufige Reinigung und
Desinfection des Mundes durch Auswischen mit einem feuchten
Läppchen (Kali chloricum) und für Feuchterhaltung der Hornhaut
durch regelmässiges (alle 1/2 Stunde) Bewegen der meist halbgeöffneten
Augenlider (Vermeidung von Ulcerationen), so kann es gelingen, die
Kranken noch nach 8 — 14 Tagen aus dem paralytischen Anfalle sich
erholen zu sehen.
VH Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
In ähnlicher Weise wie bei der Paralyse sehen wir auch bei
dem an sonstige Hirnerkrankungen sich anschliessenden Schwachsinn
Seelenstörungen mit nervösen Reizungs- oder Ausfalls-
erscheinungen sich verbinden. Die besondere Gestaltung der
klinischen Krankheitsbilder ist dabei wesentlich durch die Aus-
dehnung, den Sitz und die Art des Hirnleidens bedingt. Wir
werden unter diesem Gesichtspunkte vor allem ausgebreitete
und örtlich begrenzte Erkrankungen auseinander zu halten
haben.
Wie es scheint, lassen sich gerade unter den Himerkrankungen,
welche sich über einen grösseren Rindenbezirk erstrecken, noch eine
Anzahl verschiedener Krankheitsvorgänge von einander unterscheiden,
die wir jetzt mit unter dem Sammelnamen des „fortschreitenden
Blödsinns mit Lähmung“, der Dementia paralytica, zusammenwerfen.
Ein Anfang in dieser Richtung ist bereits gemacht mit der besonders
von Eürstner*) und seinen Schülern näher studirten „Gliose der
Hirnrinde“, vorwiegend tumorartigen, multiplen Gliawucherungen
in den oberflächlichen Rindenschichten mit Höhlenbildung und
Schwund der nervösen Bestandtheile. Die Krankheit entwickelt sich
überaus chronisch bei Menschen, welche schon von Jugend auf
einzelne, als erste Anfänge des Leidens zu deutende Störungen
(Krämpfe, Imbecillität, Reizbarkeit) dargeboten haben; später stellt
sich dann eine fortschreitende Verblödung ein, mit Gedächtnis-
schwäche, Sprachstörung, Opticusatrophie und häufig auch tabischen
Erscheinungen.
*) Fürstner und Stühlinger, Archiv f. Psychiatrie, XVII, 1.
20*
308
VII. Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
Id einer gewissen Verwandtschaft zu dieser Form steht vielleicht
auch jener Krankheitsvorgang, den man als diffuse Hirnsklerose
bezeichnet, eine ausgedehnte Vermehrung des Stützgewebes in
einer oder in beiden Hemisphären, die ebenfalls mit allmählich fort-
schreitendem Schwachsinn und mannigfachen centralen Ausfalls-
und Reizungserscheinungen einhergeht, Hemiplegien, Krampfanfällen.
Steigerung der Patellarreflexe und Spasmen in den Beinen. Ferner
hat Homen*) ein eigenthümliches, bei mehreren Geschwistern be-
obachtetes Krankheitsbild als vermuthliche Erscheinungsform der
Lues hereditaria tarda beschrieben, welches klinisch der dementen
Form der Paralyse ähnelt. Das Leiden begann in jugendlicherem
Lebensalter mit Schwindel, Kopfschmerzen, Unsicherheit des Ganges
und fortschreitender Abnahme des Gedächtnisses und des Ver-
standes. Dazu gesellten sich später Verlangsamung und Er-
schwerung des Sprechens, Spasmen, Contracturen, Incontinenz.
Schluckstörungen, leichter Tremor und bisweilen auch Krämpfe,
während die geistige Schwäche bis zu den höchsten Graden fort-
schritt. Der Tod erfolgte nach einer Reihe von Jahren. Die ana-
tomische Untersuchung ergab vor allem sehr ausgedehnte end-
arteriitische Erkrankungen, ferner Faseratrophie, namentlich im
Stirnhirn, sowie leichte Veränderungen an den Pyramidenzellen und
geringe N eurogliawucherung.
Endlich ist in neuester Zeit der Versuch gemacht worden, noch
einige Krankheitsbilder von der Paralyse abzugrenzen, als deren
Grundlage umschriebene oder ausgebreitete Erkrankungen der Him-
gefässe betrachtet werden. In erster Linie ist die arterioskle-
rotische Hirnentartung zu nennen, wie sie von Binswanger**)
und Alzheimer***) bezeichnet worden ist. Es handelt sich dabei
um ausgebreitete, aber doch in einzelnen Herden auftretende
arteriosklerotische Veränderungen an den Hirngefässen, denen
übrigens ähnliche Erkrankungen in anderen Organen, namentlich in
der Niere, auch im Herzmuskel, zu entsprechen pflegen. Die Ge-
fässe sind theils atrophisch, theils verdickt, die Gefässlumina stark
erweitert; vielfach sieht man Aneurysmenbildungen und die Spuren
*) Archiv f. Psychiatrie, XXIV, 1.
**) Berliner klinische Wochenschrift 1894, 49.
***) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. LI, 809; ebenda LEU, 863.
Diffuse Erkrankungen.
309
capillärer Blutungen. Diese letzteren habe auch ich in ausgedehn-
testem Maasse neben ungemein starken Gefässveränderungen bei
einem Kranken gesehen, der im Leben ganz das Bild der dementen
Paralyse darbot. Die Neuroglia ist gewuchert, ganz besonders in
Herden um die erkrankten Gefässe herum; endlich finden sich
Entartungsvorgänge an Nervenzellen und Fasern. Klinisch soll die
Krankheit durch die langsame Entwicklung mit Kopfschmerzen,
Schwindel, Reizbarkeit und Verlust des Gedächtnisses, durch viel-
fache Nachlässe der Erscheinungen, das Auftreten stumpfer Be-
nommenheit neben vorübergehenden guten Verstandesleistungen, ge-
ordnetes Benehmen bei bereits vorgeschrittenem Blödsinn gekenn-
zeichnet sein, doch erscheint die Abgrenzung des psychischen
Krankheitsbildes nach den bisher vorliegenden Schilderungen noch
wenig zuverlässig. In körperlicher Beziehung wird auf die wesent-
lich paretische Sprachstörung, die aphasischen Erscheinungen und
die Häufigkeit umschriebener, dauernder Lähmungen hingewiesen.
Das Leiden entwickelt sich zu Ende der 40 er oder zu Beginn der
50 er Jahre und ist daher in nähere Beziehung zu den senilen Ent-
artungsvorgängen gebracht worden. Die Syphilis soll keine ursäch-
liche Rolle spielen. Alzheimer hat als perivasculäre Gliose auch
Fälle beschrieben, in denen alle Veränderungen nur in einzelnen,
sich an die Gefässe anschliessenden Herden auftraten. Klinisch ent-
stand dadurch das Bild einer umschriebenen Hirnerkrankung.
Ein zweites Krankheitsbild hat Binswanger mit dem Namen
der Encephalitis subcorticalis chronica progressiva be-
zeichnet. Auch diese Krankheit beginnt am häufigsten an der
Schwelle des Greisenalters und selbst noch später. Ihr sollen aus-
geprägte Atrophien des Marklagers mit sehr starker Erweiterung
der Hirnhöhlen zu Grunde liegen, besonders in den hinteren Theilen
des Gehirns. Zugleich findet sich ausgebreitete Atheromatose der
Gefässe. Im Krankheitsbilde, welches im allgemeinen wieder eine
allmählich fortschreitende Verblödung darstellt, sollen dauernde
Herderscheinungen (Lähmungen, die verschiedenen Formen der
Aphasie) stark in den Vordergrund treten; der Verlauf ist ein sein-
langsamer.
Bei der multiplen Sklerose gestaltet sich die Stärke und
Ausdehnung der psychischen Erscheinungen je nach der Oertlichkeit
und Grösse der einzelnen Herde sehr verschieden. Wo überhaupt
310
VII. Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
das Gehirn in beträchtlicherem Maasse betheiligt ist, sehen, wir in
der Regel einen einfachen, fortschreitenden Schwachsinn, Abnahme
des Verstandes und des Gedächtnisses ohne Verwirrtheit oder Auf-
regung sowie allmählich zunehmende Stumpfheit und Willenlosigkeit
sich entwickeln. Unter Umständen können derartige Kranke grosse
Aeknlickkeit mit dementen Paralytikern darbieten; die Beachtung
der mehr auf einzelne Herde hinweisenden nervösen Störungen,
gelegentlich auch der scandirenden Sprache, des Intentionszitterns,
Nystagmus, sowie der Mangel jener eigenartigen, tieferen Bewusst-
seinstrübung, welche den Paralytiker auszeichnet, ermöglichen jedoch
fast immer die Unterscheidung.
Die multiple Sklerose bildet gewissermassen den Uebergang
von den diffusen zu den strenger umgrenzten Erkrankungen des
Gehirns. Im Bereiche dieser letzteren haben wir hauptsächlich zwei
grössere Gruppen von Veränderungen auseinander zu halten, die
Geschwülste auf der einen, die Blutungen, Erweichungen,
Embolien, Thrombosen auf der anderen Seite. Bei grösseren Ge-
schwülsten pflegen die psychischen Störungen meist wesentlich durch
die Steigerung des Druckes im Schädel, weniger durch ihren Sitz
bedingt zu werden. So kommt es, dass dort, wo die Geschwülste
sehr langsam wachsen, oder wo sie mehr zerstören, als verdrängen,
die psychischen Erscheinungen lange Zeit hindurch gering sein
können. Einer meiner Kranken, dem eine über faustgrosse, im An-
schlüsse au ein Trauma aufgetretene tuberculöse Geschwulst den
grössten Theil des rechten Stirnhirns mit der Rinde vernichtet hatte,
bot bis wenige Tage vor seinem Tode keinerlei Störung der Be-
sonnenheit und des Verstandes dar, nur eine mässige, von dem
Kranken selbst bemerkte Gedächtnissschwäche. Bei denjenigen
Geschwülsten dagegen, welche den Druck in der Schädelhöhle
erheblich steigern, stellt sich zunächst eine gewisse Benommenheit
und Unbesinnlichkeit ein. Die Aufmerksamkeit der Kranken wird
nur durch kräftigere Reize und auch dann nur für kurze Zeit
erregt; sie liegen theilnahmlos oder sich unter unerträglichen Kopf-
schmerzen herumwälzend da, ohne sich um ihre Umgebung zu
kümmern. Bisweilen tritt Katalepsie auf. Nach und nach werden
die Kranken immer stumpfer uud schlafsüchtiger, obgleich vielleicht
noch gar keine ausgeprägteren Herderscheinungen hervortreten.
Nicht selten beobachtet man bis in die letzte Zeit der Schlafsucht
Herderkranlcungen.
311
hinein einzelne Täuschungen auf Siunesgebieten, die für gesunde
Reize völlig unerregbar geworden sind, namentlich, wie es scheint,
bei Kleinhirngeschwülsten. In einem solchen, von mir beobachteten
Falle glaubte der blinde Kranke (Trinker) lange Reisen zu machen,
sah bunte Gegenden und kleine Schnapsgläser vor sich, nach denen
er griff; ein anderer derartiger Kranker, der kein Trinker war, sah
trotz völliger Atrophie der Sehnerven ebenfalls monatelang wechselnde
„Bilder“ und hörte bei allmählich fortschreitender und schliesslich
vollständiger Taubheit sehr häufig seinen Namen und allerlei Schimpf-
worte rufen. Stärkere Aufregungszustände sind bei Hirngeschwülsten
selten.
Hirnabscesse können lange Zeit ohne jegliche psychische
Störungen verlaufen, namentlich, wenn sie sich sehr langsam ent-
wickeln. Ich sah einen Schreiber, der bis zum Eintritte in die
Abtheilung seinen Dienst gethan hatte, dann aber unter den Er-
scheinungen leichter Benommenheit und mit Krampfanfällen er-
krankte, die auf das täuschendste hysterischen glichen. Als er
3 Wochen später in einem solchen Anfalle starb, fand sich ein apfel-
grosser Abscess im linken Hinterhauptslappen. Bei frischen trauma-
tischen Abscessen pflegt die Benommenheit im Vordergründe des
Krankheitsbildes zu stehen. Die Kranken verstehen ihre Umgebung
und die an sie gerichteten Anreden nicht, geben ganz verkehrte
Antworten, sind theilnahmlos, unruhig, widerstrebend, deliriren bis-
weilen in traumhaft zusammenhangsloser Weise. Dazu können sich
dann noch Katalepsie, aphasische Störungen, Rindenepilepsie, Puls-
verlangsamung, Cheyne -Stockes’sches Athmen und andere Reiz-
erscheinungen gesellen.
Ein wesentlich anderes Bild pflegen die psychischen Störungen
bei Blutungen und Embolien darzubieten. In unmittelbarem
Anschlüsse an den Schlaganfall sind die Kranken meist benommen,
desorientirt, verwirrt, verkennen ihre Umgebung, begehen allerlei
verkehrte Handlungen. Bisweilen treten vorübergehend lebhafte
Erregungszustände mit lautem Schreien, Fortdrängen, Widerstreben
auf. Späterhin jedoch pflegen die Kranken, wenn nicht schon um-
fangreichere endarteriitische Veränderungen vorliegen, vollständig
klar und über ihre Umgebung orientirt zu sein. Am meisten in
die Augen fällt gewöhnlich neben den nervösen Störungen eine
mehr oder weniger erhebliche Gedächtnissschwäche. Die Kranken
312
VII. Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
irren sich leicht, ohne es zu bemerken, hinsichtlich wichtiger Daten
und Ereignisse aus ihrem Vorleben; besonders die zeitliche Ord-
nung ist sehr unsicher. Das Rechnen geht schlecht, selbst wenn
früher grosse Fertigkeit darin bestand. Auch die Erinnerung an
die jüngste Vergangenheit haftet nicht zuverlässig. Dazu kommt,
dass dem Kranken leicht einzelne Klassen von Vorstellungen, Eigen-
namen und Zahlen, verloren gehen, Störungen, die bereits als
erste Andeutungen der amnestischen Aphasie zu betrachten sind.
Die Beurtheilung der Verstandesthätigkeit wird gerade durch das
Hinein spielen aphasischer und paraphasischer Störungen vielfach
sehr erschwert; die Kranken erscheinen dadurch bei flüchtiger Unter-
suchung oft weit blödsinniger, als sie wirklich sind. So stellte sich
bei einem jugendlichen Herzkranken meiner Beobachtung, der zu-
nächst eine -wahrscheinlich embolische, linksseitige Hemiplegie mit
Hemianaesthesie, Hemianakusie, Abducens- und Trigeminus-Lähmung.
Gesichtsfeldeinschränkung, kurz darauf aber eine mit Krämpfen auf-
tretende rechtsseitige Hemiparese erlitt, ein eigenthümlicher Agram-
matismus ein, der ihn vollständig kindisch erscheinen liess, da er
ohne jede Construction nur in Infinitivsätzen nach Art der Kinder
sprach. Als sich diese Störung nebst sämmtlichen übrigen Krankheits-
zeichen allmählich verlor und er mit einer gewissen Anstrengung
auch die immer noch vorhandene Neigung zum Reden in Infinitiven
überwinden konnte, stellte sich heraus, dass der Verstand vollkommen
erhalten war und sogar nicht unbeträchtlich über das Mittelmaass
hinausging. Die gleiche Störung, das kindliche Reden in Infinitiv-
sätzen, beobachtete ich vorübergehend bei einer 62jährigen Frau mit
Mammakarcinom und alter Lues nach einem Schlaganfall mit Aphasie
und starker verwirrter Aufregung.
Wo es sich um ausgedehntere Zerstörungen in der Hirnrinde
handelt, pflegt eine gewisse Schwächung der gesammten Verstandes-
thätigkeit nicht auszubleiben. Namentlich langes Fortbestehen apha-
sischer Störungen scheint regelmässig eine empfindliche Einbusse der
geistigen Leistungsfähigkeit und des Vorstellungsschatzes nach sich
zu ziehen. Die Kranken zeigen eine Erschwerung und Verlang-
samung ihres Denkens, ermüden ungemein leicht, vermögen keinem
schwierigeren Gedankengange mehr zu folgen, verlieren in ihren
Erzählungen alle Augenblicke den Faden, werden leichtgläubig und
urtheilslos. Oft haben sie ein deutliches Gefühl für die Veränderung,
Herclerkrankungen.
313
die sich mit ihnen vollzogen hat, jammern über ihre Unfähigkeit.
„Ich bin so dumm“, klagte mir eine solche Kranke. In einzelnen
Fällen treten dürftige Verfolgungsideen auf; eine Kranke meinte, ihr
Mann treibe Unzucht mit ihrer Tochter; sie werde verzaubert, spüre
es an ihrem Körper. Die Stimmung ist bald mehr weinerlich,
verdriesslich, querulirend, bald sorglos heiter und unbekümmert,
immer aber leicht erregbar und zu Schwankungen geneigt. Bisweilen
kommt es zeitweise zu lebhafteren Aufregungszuständen mit Ideen-
flucht, grosser Geschwätzigkeit und Grössenvorstellungen, namentlich
im Anschlüsse an epileptische Anfälle, wie sie bei alten Apoplektikern
nicht selten auftreten. Sehr auffallend ist oft die sittliche Stumpfheit,
die Gleichgültigkeit gegenüber den Angehörigen, gegenüber den früher
sorgfältig gepflegten Lebensinteressen, die ausgeprägte Selbstsucht
und die Unempfindlichkeit gegenüber den Geboten der Sitte und des
Anstandes. Der Kranke ist lenksam, leicht bestimmbar, fängt häufig
an, zu bummeln, zu trinken, zu vergeuden. Ein derartiger Kranker
aus guter Familie, der vor 13 Jahren eine rechtsseitige Lähmung in
Folge von Lues erlitten hatte, gerieth dadurch mit dem Strafgesetze
in Berührung, dass er bei jeder Gelegenheit ohne klaren Beweggrund
Strümpfe stahl.
Auch noch in anderer Richtung können die psychischen Störungen
nach Hirnblutungen eine bedeutende forensische Wichtigkeit ge-
winnen. Die Verstandesschwäche und Urtheilslosigkeit der Apo-
plektiker, ihre Reizbarkeit auf der einen, ihre leichte Bestimmbarkeit
auf der andern Seite stellen den Arzt bei den bisweilen vorkommen-
den Eheschliessungen, bei Kaufverträgen und Testamentsstreitigkeiteu
vor die Frage nach dem Vorhandensein der Dispositionsfähigkeit.
Einer meiner Kranken, der sich durch seine besondere Tüchtigkeit
ein riesiges Vermögen erworben hatte, begann nach einem Schlag-
anfalle auf luetischer Grundlage, zu trinken, fremde Personen in ver-
schwenderischer Weise zu bewirthen, überall auf das handgreiflichste
zu prahlen und durch unsinnige geschäftliche Massnahmen alles zu
verschleudern, so dass er, trotz seines heftigsten Widerstandes,
entmündigt werden musste. Sein Zustand dauerte noch fast
20 Jahre in wesentlich gleicher Weise fort. Hier können be-
deutende Schwierigkeiten für die Beurtheilung entstehen, da die
Schwäche auf den verschiedenen Gebieten des psychischen Lebens
von den allerleichtesten, noch in die Gesundheitsbreite fallenden
314 VII. Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
Schädigungen alle Grade bis zum tiefsten Blödsinn erreichen
kann.
Eine besondere, recht wichtige hierher gehörige Gruppe stellen
endlich die durch schwere Kopfverletzungen erzeugten Geistes-
störungen dar. Auch dann, wenn wir dabei nicht mit umschriebenen
Erkrankungen der Hirnrinde (Blutungen, Knocheneindrücke, Ein-
dringen von abgesprengten Splittern) zu rechnen haben, scheinen
heftige Erschütterungen des Kopfes dauernde und tiefgreifende Ver-
änderungen in den Rindenzellen hervorrufen zu können, über deren
Wesen wir allerdings einstweilen noch im Unklaren sind. Die
nächste Folge einer schweren Hirnerschütterung pflegt eine mehr
oder weniger lange anhaltende Bewusstlosigkeit zu sein, an die sich
bisweilen wochenlange Verwirrtheit anschliessen kann. Die Kranken
sind schwerfällig in ihrem Denken, vermögen sich zeitlich und ört-
lich nicht zu orientiren, verstehen ihre Lage nicht und haben ge-
wöhnlich gar keine oder nur sehr unklare Erinnerung an den Un-
fall, erzählen ihn auch wol zu verschiedenen Zeiten ganz verschieden.
Sie fassen schlecht auf, verlieren leicht den Zusammenhang, können
sich nicht recht besinnen, fabuliren. Sie sind reizbar, eigensinnig,
unruhig, öfters weinerlich, sprechen viel, haben kein klares Ver-
ständniss für ihre Krankheit, fühlen sich ganz gesund und begreifen
nicht, was man von ihnen will. Bei einem meiner Kranken ent-
wickelte sich wenige Tage nach einem gewaltigen Schlage mit dem
Stuhlbein auf den Schädel eine Monate lang andauernde Benommen-
heit, in welcher der Kranke nach seiner Angabe „Papier vor den
Gedanken hatte“. Er wurde in diesem Zustande, aus dem er ziem-
lich plötzlich mit sehr unklarer Erinnerung erwachte, vom Arzte für
blödsinnig gehalten.
In anderen Fällen verlieren sich die unmittelbaren Folgen der
Verletzung sehr rasch; nicht einmal eine eigentliche Bewusstlosigkeit
braucht zu Stande zu kommen. Früher oder später aber stellt sich
eine ausgeprägte Veränderung des psychischen Gesammtzustandes
heraus. Der Kranke ermüdet leicht, wird vergesslich, zerstreut, klagt
über Schwindel, Benommenheit, Ohrensausen, Kopfdruck. Er wird
reizbar, heftig, zeitweise ängstlich, verstimmt, zeigt meist ein starkes
Krankheitsgefühl. Dazu gesellen sich sehr häufig einzelne epilep-
tische Anfälle, sowol Krämpfe wie Ohnmächten, seltener Dämmer-
zustände, wie ja Hirnerschütterungen auch das Bild der einfachen
Kopfverletzungen.
315
Epilepsie erzeugen können. In einem von mir beobachteten Falle
stellte sich der erste und einzige Krampfanfall 3 Wochen nach der
ohne Bewusstlosigkeit verlaufenen Verletzung ein, während die psy-
chische Veränderung erst nach 5 Jahren deutlicher hervortrat. Der-
artig lange Zwischenzeiten scheinen durchaus nicht ungewöhnlich zu
sein. Im weiteren Verlaufe pflegt sich der Zustand nur langsam
und in geringem Maasse zu ändern. Es kann jedoch unter Um-
ständen zur Entwicklung eines ausgeprägten Schwachsinns kommen.
,,Der Verstand wächst nicht mit“, sagte der Vater eines Jungen, der
vor einigen Jahren vom 4. Stockwerk heruntergestürzt war, eine
Basisfractur mit Sehnervenatrophie und Glykosurie davongetragen
hatte und nun bei voller Besonnenheit kindisch, reizbar und ver-
gesslich geworden war.
Fast immer finden sich nach schweren Hirnerschütterungen
einzelne nervöse Zeichen, die auf eine organische Hirnerkrankung
hindeuten. In der ersten Zeit beobachtete ich wechselnde Pupillen-
starre; ferner sind ungleiche Innervation der Gesichtshälften, Zittern
der Zunge, der Mundmuskulatur, Abweichen der Zunge, namentlich
aber starke Steigerung der Sehnenreflexe sehr häufig. Meist besteht
besondere Empfindlichkeit gegen Alkohol. In einzelnen Fällen ent-
wickelt sich nach Trauma geradezu das Krankheitsbild der Paralyse.
Ob es sich dabei bisweilen um eine eigenartige Erkrankung oder
nur um die Auslösung des bereits vorbereiteten Leidens handelt,
lässt sich nicht sicher entscheiden.
Die verschiedenen Formen des Schwachsinns bei Kirnleiden sind
im Ganzen überaus häufige Erkrankungen, wenn sie auch dem Irren-
arzte nur selten, vielmehr zumeist dem inneren Mediciner oder dem
Nervenärzte zu Gesicht kommen. Wir dürfen annehmen, dass jede
ausgedehntere Erkrankung der Hirnrinde bis zu einem gewissen
Grade psychische Störungen erzeugen muss, auch wenn wir sie heute
bei oberflächlicher Betrachtung nicht immer aufzudecken verstehen.
Die Abgrenzung von der Paralyse ergiebt sich im Leben theils
aus den ursächlichen Verhältnissen, theils aus der Art der klinischen
Entwicklung, theils endlich aus den besonderen Zeichen herdartig
umschriebener Hirnerkrankuugen. Diffuse Erkrankungen der Hirn-
rinde lassen sich, wie es scheint, durch die Symptome allein nicht
mit Sicherheit von der Paralyse trennen. Mitunter können organische
Himerkrankungen hysterieähnliche Bilder erzeugen, und umgekehrt
316
VII. Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
vermag die Hysterie die Zeichen eines schweren Hirnleidens vorzu-
täuschen. Auf die einzelnen Unterscheidungsmerkmale in solchen
schwierigen Fällen können wir indessen hier nicht eingehen, da sie
wesentlich auf rein neurologischem Gebiete liegen.
Die Behandlung wird sich hier im allgemeinen auf die Be-
kämpfung der Krankheitserscheinungen zu beschränken haben. An
eine ursächliche Behandlung kann nur bei den syphilitischen Herd-
erkrankungen, bei umschriebenen Geschwülsten, Abscessen und beiden
Hirnverletzungen gedacht werden, namentlich bei Knocheneindrücken
und Absprengungen. In frischen Fällen ist hier der operative Ein-
griff oft von ausgezeichnetem Erfolge begleitet. Dagegen hat die
Erfahrung gelehrt, dass bei langsam sich entwickelnden Störungen
nach Trauma die Ergebnisse auch dann weit weniger günstige sind,
wenn Knocheneindrücke, Narbenschmerzen, halbseitige Krämpfe auf
einen bestimmten Sitz des Leidens hinweisen. Meist erreicht hier
die Trepanation mit Entfernung der erkrankten Theile nur eine
vorübergehende Besserung; nach einiger Zeit pflegt sich der frühere
Krankheitszustand wieder herauszubilden. Wir müssen daraus
schliessen, dass es sich in solchen Fällen thatsächlich nicht um eine
eng abgegrenzte, sondern um eine ausgebreitete Veränderung in
der Hirnrinde handelt, welche sich durch den örtlichen Eingriff
nicht mehr beseitigen lässt.
YIII. Das Irresein des ßückbildnng’salters.
Als Irresein des Rückbildungsalters wollen wir alle diejenigen
Geistesstörungen zusammenfassen, die in ursächlichen Beziehungen
zu den allgemeinen Altersveränderungen stehen. Ohne Zweifel giebt
es eine Reihe von psychischen Erkrankungen, die in den verschie-
densten Lebensabschnitten auftreten können; ebenso unzweifelhaft
ist es jedoch, dass sich in der Zeit des körperlichen Niederganges
ganz bestimmte Formen des Irreseins einstellen, die in ihrer klini-
schen Gestaltung den Ursprung aus den Rückbildungsvorgängen
verrathen. In besonderem Maasse gilt das für das eigentliche Greisen-
alter; aber auch schon vorher, vom 5. Lebensjahrzehnte an, beginnen
sich die ersten Zeichen auch des geistigen Rückganges in dem Auf-
treten eigenartiger Formen des Irreseins bemerkbar zu machen. Eine
scharfe Grenze lässt sich natürlich zwischen diesen beiden Lebens-
abschnitten nicht ziehen. Immerhin tragen die Geistesstörungen der
Rückbildungsjahre im engeren Sinne trotz mancher gemeinsamer
Züge doch ein etwas anderes Gepräge, als diejenigen des eigent-
lichen Greisenalters. Ihre kennzeichnende Erkrankungsform ist in
erster Linie die Melancholie; daneben werden wir noch kurz den
eigenartigen praesenilen Beeinträchtigungswahn zu schildern
haben. Den letzten Abschnitt dagegen bilden die verschiedenartigen
Gestaltungen des Altersblödsinns.
A. Die Melancholie.*)
Mit dem Namen der Melancholie bezeichnen wir alle krank-
haften ängstlichen Verstimmungen der höheren Lebens-
*) v. Krafft-Ebing, Die Melancholie; Christian, etude sur la melancolie
1876; Voisin, de la melancolie. 1881; Koubinowitsch et Toulouse, la me-
lancolie. 1897.
31B
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
alter, welche nicht Verlaufsabschnitte anderer Formen
des Irreseins darstellen. Ausser der gemüthlichen Störung ge-
hören zum Krankheitsbilde der Melancholie regelmässig noch Wahn-
bildungen, namentlich Versündigungswahn, aber auch Verfolgungs-
ideen und hypochondrische Vorstellungen. Die Entwicklung der
Krankheit vollzieht sich allmählich, nachdem meist bereits Monate,
bisweilen selbst Jahre lang allerlei unbestimmtere Anzeichen vorauf -
gegangen sind, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Ver-
stopfung, Mattigkeit, Schwere in den Gliedern, Herzklopfen, Ohren-
sausen, Unschlüssigkeit, Arbeitsunlust. Die Kranken werden nieder-
geschlagen, verzagt, weinerlich, ängstlich; wüste Gedanken steigen ihnen
auf, Sorgen, Befürchtungen, Zweifel, Selbstquälereien. Sie fühlen
sich schwer krank, dumm im Kopf, sind zerstreut, vergesslich,
bringen nichts mehr fertig, legen die Hände in den Schooss, um ver-
zweifelt zu jammern und zu wehklagen. Freilich schieben sich
dazwischen einzelne freiere Tage oder Stunden ein, allein allmählich
stellt sich immer klarer heraus, dass die vielleicht zunächst als Folge
eines traurigen Ereignisses aufgefasste Verstimmung krankhafte Aus-
dehnung gewinnt.
Vor allem zeigt sich sehr bald die Entwicklung der dem melan-
cholischen Krankheitsbilde besonders eigenthümlichen Versündi-
gungsideen. Der Kranke beginnt in seiner Verstimmung sein
früheres Leben zu mustern. Mit erschreckender Deutlichkeit stellen
sich ihm dabei eine ganze Reihe von kleinen imd grossen Ver-
fehlungen vor Augen, die ihm jetzt als schwärzeste Unthaten und
als der wahre Grund seiner trüben Gemüthsverfassung erscheinen.
Bisweilen klagen sich die Kranken nur in allgemeinen Ausdrücken
an. Sie seien schlecht, nichts mehr werth, Scheusale, mit Bosheit
angefüllt, haben Fehler begangen, etwas angestellt, dumme Streiche
gemacht, betrogen, Unkeuschheit getrieben, nicht gelebt, wie siclrs
gehört. Meist aber knüpfen sich die Selbstanklagen an bestimmte,
aber mehr oder weniger harmlose, oft sehr weit zurückliegende Er-
lebnisse an. So führte ein 59 Jahre alter Krauker an, er habe
als Junge „Aepfel und Nüss’“ gestohlen, „einer Kuh an der Natur
herumgespielt“. Das Gewissen regt sich; „freilich wär’s besser ge-
wesen, wenn es sich schon früher geregt hätte“, meinte er auf meinen
Einwand, dass er sich doch bis dahin über die vermeintlichen Sünden
keine Gedanken gemacht habe. Andere haben einmal einen Bettler
Melancholie.
319
unfreundlich abgewiesen, bei einer Erkrankung nicht rechtzeitig den
Arzt gerufen, den Tod eines Angehörigen durch mangelhafte Pflege
verschuldet, imrichtige Aussagen gemacht, Jemanden beim. Kauf
iibervortheilt, im Amte nicht ihre volle Kraft eingesetzt. Durch das
Miethen einer Wohnung, das Unternehmen eines Neubaues, einen
unbedachten Kauf, einen Selbstmordversuch haben sie ihre Familie
ins Elend gebracht; sie haben gelogen, ihre Krankheit übertrieben,
sich verstellt, den Arzt und die Angehörigen hintergangen, sich nicht
genug „zusammengenommen“, hätten nicht in die Anstalt gehen
sollen, dann wäre alles ganz anders gekommen. In ganz vereinzelten
Fällen endlich liegen auch wirkliche ernstere Verschuldungen zu
Grunde, mit denen sich der Kranke in gesunden Tagen längst ab-
gefunden hatte, die aber nun von neuem drohend in seiner Erinne-
rung auftauchen. Häufig spielen die Selbstanklagen in das religiöse
Gebiet hinüber. Der Kranke kann nicht mehr so beten wie früher,
hat den Glauben, den Segen Gottes, die ewige Seligkeit verloren,
die Sünde wider den Heiligen Geist begangen, die Kirche nicht
fleissig besucht, das Göttliche verkauft, nicht genug Lichter geopfert,
ist vom Herrgott abgefallen, vom Teufel besessen; der Geist Gottes
hat ihn verlassen; der böse Feind hat ihn holen wollen. Ihm ist,
als dürfe er nicht in die Kirche hinein; er muss mit der Sünden-
schuld in die Ewigkeit gehen, arme Seelen erlösen.
Einen guten Einblick in den Seelenzustand solcher Kranken
gewährt der nachfolgende Ausschnitt aus dem Briefe einer Dame,
in welchem sich Versündigungsideen mit unklarem Krankheits-
gefühl und der Hoffnung auf Genesung in sehr bezeichnender Weise
mischen.
„Ein krankhafter, teuflischer Zug trieb mich von Hause fort; ich war krank,
ebenso wie ich jetzt krank hin, geplagt von Gewissenspein. Die Meinigen mussten
glauben, dass ich krank sei, mussten mich hierher bringen, weil ich noch mehr
Krankheit heuchelte, als factisch da war, und nur ein in derartigen Betrügereien
erprobter Arzt das Falsche vom Wahren unterscheiden konnte.“ . . . „Mein Leben
war eine lange Kette von Lügen, indem ich mich besser stellte, als ich war, tiefere
Gefühle heuchelte, als ich sie hatte, wovon ich mich gerade in letzter Zeit immer
mehr überzeugte , dass ich lange nicht das leisten konnte , was man von mir
voraussetzte. Ich kam eben in einen solchen Zwiespalt, dass ich zur Verbrecherin
wurde, indem ich N. verliess.“ . . . „Wenn ich immer sagte, ich könne nicht mehr
lügen, so wollte ich damit sagen, dass ich nicht mehr im Stande sei, ein schein-
bar guter Mensch zu sein, während ich doch eigentlich durch und durch nichts
taugte.“ ... „0 fürchterliches Gericht, dass ich, ein erbärmliches Wesen, ein
320
VIII. Das Irresein des Kückbildungsalters.
Räthsel, wie es vielleicht nur wenige giebt, so viel Schönes, Edles zerstören musste.
Mir graut davor; ich möchte mich einzeln zerstückeln lassen, wenn ich nur etwas
ungeschehen machen könnte.“ . . . „ Jetzt, wo alles zu spät ist, kommt es mir vor,
als könnte es wieder sein, wenn Alle nur vergessen könnten, aber dies ist unmög-
lich, und das Fatum muss sich erfüllen.“
Griesinger hat das Auftreten von Versündigungsideen aus
dein Untergründe der trüben Verstimmung als eine Art Erklärungs-
versuch angesehen, den der Kranke unternimmt, um sich überden
Ursprung des peinlich empfundenen Unbehagens Rechenschaft zu
geben, ähnlich etwa, wie der Gesunde nach einem schweren Schicksals-
schlage geneigt ist, über die Fehler und Unterlassungen nachzu-
grübeln, welche vielleicht das Unheil haben herbeiführen helfen.
Es ist wahrscheinlich, dass in der That ein tieferer Zusammenhang
zwischen Verstimmung und Versündigungswahn besteht, aber schwer-
lich ist derselbe durch Ueberlegungen vermittelt. Das lehren am
besten die häufigen Fälle, in denen die Kranken sich geradezu
gegen die in ihnen zahlreich auftauchenden Selbstvorwürfe mit allen
Kräften wehren. Ich habe doch nichts Schlechtes gethan, nichts
gestohlen, das Vaterland nicht verrathen, hört man solche Kranke
jammern. Andere fürchten, dass man sie wegen des Todes eines
Angehörigen im Verdachte des Giftmordes haben könne („Ist denn
Gift gefunden?“), sie vor Gericht stelle, weil sie über den Kaiser
geschimpft, ein Attentat geplant haben sollen.
Für den gemeinsamen Ursprung der Versündigungsideen und
der Verstimmung aus einer krankhaften Veränderung des Gesammt-
zustandes spricht ferner auch die häufige Beobachtung, dass die
Selbstanklagen sich fortlaufend an alle Handlungen und Erlebnisse
des Kranken anknüpfen. Er merkt, dass er immer neue Fehler
begeht, so dumm daherredet, Alle beleidigt „Was ich mache, ist
verkehrt; ich muss immer alles wieder zurücknehmen, was ich
rede.“ Er macht zu viel Mühe, ist Schuld, dass die Andern so
jammern, fortgebracht werden. „Ich werd’ wol der Thäter sein von
all Dem“, meinte ein Kranker. Er hat alle Mitkranken herein-
gebracht, muss für Alle sorgen, ist für Alle verantwortlich, jammert,
dass er doch nicht im Stande sei, die Andern zu füttern, den Dienst
des Oberwärters zu versehen, für Alle zu zahlen. Alle müssen
hungern, wenn er isst.
In solchen Fällen gewinnen alle Vorgäuge in der Umgebung
Melancholie.
321
sofort eine besondere Bedeutung für das eigene Wohl und Wehe.
Der Kranke bezieht jede Aeusserung der Mitkranken auf sich; die-
selben sind unruhig um seinetwillen, beschimpfen ihn, sprechen
über seine Angelegenheiten. „Jemand hat von Amerika gesprochen;
gewiss ist mein Sohn mit dem Schiff untergegangen,“ sagte eine
Krau. Der Kranke fühlt sich zu viel da, gehört nicht daher, sollte
fort, ist Allen ein Dorn im Auge. Die Anderen missbilligen seine
Anwesenheit, empfinden sie als eine Beleidigung, können ihn gar
nicht mehr unter sich dulden. Er ist ehrlos, wird ausgelacht, kann
sich nicht mehr sehen lassen.
An das bisher gezeichnete Bild des Versündigungswahns
schliessen sich nicht selten noch andere depressive Vorstellungskreise
an, die nach verschiedenen Richtungen hin entwickelt sein können.
Am häufigsten handelt es sich um die Befürchtung schwerer Strafen,
die sich gewissermassen als Folgerung aus dem Schuldbewusstsein
ergiebt. Der Kranke ist so sündhaft und verworfen, dass ihm Gott
nicht mehr verzeihen kaun ; er wird verdammt werden, in die Hölle
kommen. Man wird ihn abholen, fortschleppen, vor Gericht stellen,
ihm den Process machen, ihn ins Zuchthaus sperren, öffentlich preis-
geben, hinrichten, ins Feuer, ins heisse Wasser werfen, ersäufen.
Die Leute stehen schon draussen; die Anklageschrift ist schon ge-
schrieben; er ist ganz verlassen, bittet um gnädige Strafe; wie wirds
ihm ergehen! Freilich hat er es nicht anders verdient, ist das Essen
nicht werth, das man ihm reicht, will gerne büssen für seine
Schlechtigkeit, verlangt Gift. Nicht selten schildert er daher seine
Fehler in recht lebhaften Farben oder bekennt selbst Dinge, die er
gar nicht begangen hat, um die Bestrafung zu erreichen, die ihm die
Ruhe seines Gewissens wiedergeben soll. Auch die Angehörigen müssen
leiden, werden gemartert; „sie werden doch hoffentlich noch daheim
sein?“ Die Familie ist eingesperrt; die Kinder verhungern, liegen
in Ketten, werden von den Wölfen gefressen; die Tochter muss
nackt im Schnee herumirren.
In anderen Fällen tragen die Wahnvorstellungen mehr hypo-
chondrischen Inhalt. Der Kranke ist das elendeste, unglücklichste
Menschenkind auf der ganzen Welt; so, wie er, hat noch nie ein
Wesen gelitten; seit Jahrtausenden ist so etwas nicht vorgekommen.
Alles ist aus und vorbei durch seine eigene Schuld; er ist jetzt so
tief hineingerathen, dass seine Genesung gar nicht mehr möglich ist.
Kraepelin, Psychiatrie. 6. AuQ. II. Band. 21
322
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
Er hat Gift bekommen; Krebs und Schlaganfall sind im Anzuge;
jede Hoffnung ist verloren; er muss „verrückt“ werden, sein Lebe-
lang in der Anstalt bleiben, sterben, verlangt operirt zu werden.
In Eolge von alten „Jugendsünden“, Onaniren, überstandener Syphilis
ist das ganze Nervensystem zerrüttet, die Lunge angegriffen, der
Magen vollständig in Unordnung; der Stuhlgang geht nicht mehr;
man hat ihn dumm gemacht. Endlich erstrecken sich die Befürch-
tungen häufig auch auf die äusseren Verhältnisse des Kranken. Es
langt nicht mehr; er muss sparen, kann nicht mehr zahlen, hat
sein ganzes Vermögen verloren, soll aus dem Amte gejagt werden,
muss betteln gehen.
Nicht selten bestehen neben den Wahnvorstellungen einzelne
Sinnestäuschungen, freilich meist ziemlich unbestimmter Art
Der Kranke sieht Engel, Kinder, Teufel, Schutzmänner, die ihn holen
■wollen, erblickt seine Angehörigen als Leichen vor sich; man führt
ihm alles Schreckliche von Hause vor Augen; alles wird ihm vor-
gespiegelt, ganz tolles Zeug. Innere Stimmen, „Einsprechungen“
fordern ihn zum Selbstmorde auf, machen ihm Vorwürfe, rufen ihm
zu : „Du schlechtes Mensch !“
Das Bewusstsein der Kranken ist meist ungetrübt. Abgesehen
von den wahnhaften Deutungen fassen sie die Personen und Vor-
gänge in ihrer Umgebung richtig auf; die Orientirung bleibt er-
halten. Freilich kommt es vor, dass die Kranken glauben, an ganz
anderem Orte, nicht in der „richtigen“ Anstalt, bei „richtigen“
Aerzten, sondern im Zuchthause zu sein, dass sie die Mitkranken
für Bekannte oder Angehörige halten, Briefe als gefälscht bezeichnen-
Allein man überzeugt sich leicht, dass dabei die Wahrnehmung an
sich nicht gestört ist. Auch der Gedaukengang zeigt keine gröberen
Widersprüche und ist zusammenhängend, wenn auch meist sehr ein-
förmig. In dem begrenzten Rahmen der krankhaften Vorstellungen
kann dabei allerdings die Menge der auftauchenden Gedanken eine
recht grosse sein. Die Kranken müssen zwangsmässig immer wieder
über die Vergangenheit und über allerlei traurige Möglichkeiten
nachgrübeln. Vielfach klagen sie geradezu darüber, dass ihnen so
Vieles einfällt und sie sich an alle möglichen Dinge erinnern müssen,
die ihnen längst entfallen waren und nun mit peinlicher Deutlich-
keit sich wieder aufdrängen. „Ich komme in der ganzen Welt herum
mit meinen Gedanken,“ meinte eine solche Kranke. In der Regel
Melancholie.
323
besitzen sie ein deutliches Gefühl für die Veränderung, welche die
Krankheit erzeugt hat, wenn auch nicht immer die wirklichen
Krankheitszeichen als solche klar erkannt werden; der Kopf ist
verfinstert; „ich hab’s gerade wie eine Gemüthskrankheit“. Vor-
übergehend Averden auch wol einzelne der Wahnvorstellungen
von dem Kranken berichtigt; sobald jedoch die gemtithliche Er-
regung steigt, geht die besonnene Ueberlegung rasch wieder ver-
loren.
Von diesen leichteren Formen der Erkrankung führen all-
mähliche Uebergänge zu einer zweiten, weit weniger zahlreichen und
besonders den höheren Lebensaltern angehörenden Gruppe von
Fällen, bei der die Wahnbildungen der Kranken einen ganz aben-
teuerlichen, unsinnigen Inhalt annehmen. Es handelt sich hier
um jenes klinische Bild, welches man vielfach unter dem Namen
des depressiven Wahnsinns geschildert hat. Die ganze Umgebung
erscheint in schreckhafter Weise verändert. Die Häuser machen
den Eindruck von Festungen; die Anstalt ist ein Todtenpalast, ein
ewiges Haus, ein Gefängniss ohne Ausgang und Zugang, in welchem
sich fürchterliche Ereignisse abspielen. Jedes Geräth, jeder Vorgang
hat einen grauenerregenden, unheimlichen Anstrich; die Worte der
Umgebung enthalten einen versteckten Sinn. Das Licht ist ein
Todtenlicht, das Bett ein Zauberbett, der rasselnde Wagen draussen
ein Leichenwagen; die Bäume im Walde, die Felsen erscheinen
unnatürlich, als wenn sie künstlich gemacht und eigens für ihn dort
aufgebaut wären. Die Personen, die ihn besuchen, sind nicht die
richtigen, werden ihm nur vorgemacht; die Aerzte sind Figuranten,
ja selbst die Sonne, der Mond, das Wetter sind ganz anders, als
früher, und kommen ihm vor wie Blendwerk, dazu bestimmt, ihn
noch mehr zu verwirren. Aus allen Wahrnehmungen ziehen die
Kranken die absonderlichsten Schlüsse. Fliegende Baben bedeuten,
dass die Tochter im Keller zerschnitten wird; der Sohn hat beim
Besuche einen schwarzen Shlips getragen, also ist die Kleinste todt.
Ein abgenutztes Streichholz sagt dem Kranken, dass er ebenfalls
verbraucht sei und den Kopf verlieren müsste; die Krautsuppe bei
Tisch soll ihn an den Scharfrichter „Krauts“ erinnern, der ihn alsbald
hinrichten wird.
Der Kranke hat die ganze Welt ins Unglück gestürzt, die eigenen
Kinder gegessen, die Gnadenquelle fortgetrunken, die Dreifaltigkeit
21 *
824
VIII. Das Irresein des Eiickbildungsalters.
gepeinigt, kann nicht leben vor Schande. Die Häuser fallen ein:
Städte und Länder sind um seinetwillen verwüstet worden; jedes-
mal, wenn er isst oder wenn er sich im Bette umdreht, wird ein
Mensch hingerichtet. In der Nacht schläfert man ihn ein, bringt
ihn fort, lässt ihn tolle Streiche begehen, für die man ihn später
verantwortlich machen wird, ohne dass er etwas davon weiss. Er
ist nicht werth, dass mau mit ihm spricht, ihn auch nur ansieht;
man soll ihn doch nur erschiessen, in ein finsteres Loch werfen,
lebendig begraben, ihm die Zunge herausreissen, den Kopf ab-
schlagen; er will sich vom Abfall nähren und auf der Diele schlafen.
Man soll ihn in den Fluss werfen, nackt in den Wald hinauslaufen
lassen, am besten, wenn es recht schneit und friert. Die Welt geht
unter; das jüngste Gericht kommt; die Rache Gottes bricht herein:
er wird von einer Million Teufel geholt, auf ein „ExtraschafFot“ ge-
schleppt, nach Sibirien zu den Eskimos geschickt, an eine Leiche
festgebunden, nackt im wilden Wald von den Wölfen zerrissen, in
1000 Stücke zerfetzt; ihm wird die Haut abgezogen; Hände und
Füsse werden ihm abgehackt. Die Angehörigen werden vom Pöbel
umgebracht, gekreuzigt, müssen Trillionen von- Jahren unter
Räubern und Mördern leben; den Kindern ist das Augenwasser
herausgelassen worden.
In einzelnen Fällen wird das Krankheitsbild ganz durch so-
genannte „nihilistische“ Wahnideen beherrscht. Es ist kein Geld
mehr da; es giebt keine Eisenbahnen, keine Städte, keine Aerzte mehr:
das Meer läuft aus. Alle Menschen sind todt. verbrannt, verhungert,
weil es nichts mehr zu essen giebt, weil der Kranke in seinen un-
geheuren Magen alles hiueingeschlungen. die Wasserleitung leer
getrunken hat. Niemand isst oder schläft mehr; der Kranke ist das
einzige Wesen von Fleisch und Blut, allein auf der Welt, nicht mehr
da, überhaupt gar nichts mehr. Er hat kein Nachtlager, keinen
Namen, kann nicht sterben, nicht todtgeschlagen werden, ist so alt
wie die Welt, muss ewig herumlaufen. Es wird nicht mehr Nacht:
alles ist gefälscht und Schein; die Menschen sind Schatten und
Geister; es ist ein ganz anderes Jahrhundert.. Einer meiner Kranken
hielt die Sonne für künstliche elektrische Beleuchtung und beklagte
sich über die Schwäche seiner Augen, weil er die eigentliche Sonne
(in der Nacht) nicht sehen könne. Bisweilen gesellt sich dazu die
Vorstellung häufiger Ortsveränderung. „Ich bin wieder da,“ sagte
Melancholie.
325
eine Kranke bei jeder Visite, da sie meinte, sie werde immer fort-
geführt, sei jede Stunde an einem anderen Ort.
Häufig sind ferner gerade hier unsinnige hypochondrische Vor-
stellungen. Es ist ein Stück aus dem Kopf in den Schlund gefahren;
der Teufel hat das Gehirn herausgenommen; im Schädel ist Dreck;
die Adern sind eingetrocknet, mit Gift gefüllt; die Kehle geht zu;
ein Stein sitzt im Halse; in allen Gliedern steckt Eiter und geht
massenhaft mit dem Stuhlgang fort, wird beim Räuspern aus-
geworfen. Unter der Haut liegen Würmer und krabbeln; die Haut
ist über den Achseln zu eng; der Körper dehnt sich aus oder
schrumpft zusammen; auf der Brust sitzt das Panzergefühl. Es ist
aus; der Kranke ist todt, versteinert, syphilitisch, innerlich verfault,
stinkt, wird das ganze Krankenhaus anstecken, hat keine Augen,
keinen Athem, keinen Kopf, keine Seele und kein Herz mehr, kann
nicht sitzen, keinen Schritt gehen, nicht die Hand geben. Er ist in
ein wildes Thier verwandelt, wenigstens innerlich, muss bellen, rasen
und toben.
Auch geschlechtliche Wahnideen sind nicht selten. Eine 65jährige
Kranke beklagte sich über unsittliche Angriffe, glaubte, in einem
schlechten Hause untergebracht, in die Wochen gekommen zu sein;
eine andere in gleichem Alter wähnte sich fortwährend den Nach-
stellungen alter Junggesellen ausgesetzt, die sich zu ihr ins Bett
legten. Vielfach halten weibliche Kranke ihre Mitkranken für ver-
kleidete Männer. Ein älterer Herr wurde seiner Meinung nach
gegen seinen Willen allnächtlich in Bordells herumgeschleppt, um
dort syphilitisch gemacht zu werden.
Endlich kommt es in einzelnen Fällen, namentlich bei vor-
geschrittener geistiger Schwäche, auch zur Entwicklung dürftiger
Grössenideen. Die Kranken erzählen mit geheimnissvoller Miene,
dass man sie für die Jungfrau Maria halte, die nun bald mit Christus
niederkommen werde, dass man immer glaube, sie hätten die ganze
Welt hergestellt, könnten Wunder thun, Gold machen und alle
Krankheiten heilen. Sie sollen in einem „silbernen Kessel“ gesotten
werden; der Kaiser soll kommen und sie ansehen. Der Arzt ist
der Grossherzog, andere Personen der Schah von Persien oder die
Königin von England. Eine Kranke mit Namen Fürst meinte, sie
sei nun eine Fürstin, und verlangte fürstliches Essen.
Sinnestäuschungen pflegen hier vielfach eine Rolle zu spielen.
326
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
Teufelsstimmen tönen ins Ohr; im Kopf sitzt ein Männlein, welches
schwätzt; die Gedanken werden laut. Eine meiner Kranken gab
an, in der Zunge zu fühlen, dass sie immerfort unverantwortliche
Sachen rede. Viele dieser Täuschungen sind wol mehr als Illusionen
aufzufassen. Das „schreckliche“ Essen ist fade von Geschmack oder
brennt wie Feuer auf der Zunge. Oft stinkt es wie die Pest, und
der Kranke bemerkt nun bei genauerem Zusehen, dass es ganz
verdorben, mit Schimmel bedeckt ist, sich bewegt, oder dass dem-
selben die abscheulichsten Bestandteile, Würmer, Grünspan, Blut.
Menschenfleisch, Sperma, ganz kleine abgeschnittene Köpfe mit grin-
senden Fratzen beigemischt sind. Die kleinen Knötchen seiner Bett-
leinwand erscheinen ihm wie zahlloses Ungeziefer; am Fenster er-
blickt er Todtengesichter, die Skelette seiner Angehörigen, an den
Bäumen aufgehängte Leichen, oder er sieht Schlangen auf dem
Boden kriechen, Katzen, kleine Männer im Zimmer herumlaufen,
glaubt bis an die Kniee im Blute zu waten.
Das Bewusstsein erscheint bei dieser Form öfters stärker
getrübt, die Orientirung unklar, der Gedankengang verworren und
ungemein einförmig, namentlich in den Zeiten stärkerer Erregung.
Dennoch ist man vielfach überrascht durch die Besonnenheit, mit
welcher die Kranken auf Fragen Auskunft geben und ihre krank-
haften Vorstellungen äussern. Bisweilen besteht sogar ein dumpfes
Bewusstsein von der Natur der Störung; die Kranken klagen, dass
man sie durch das Essen, die Arzneien ganz verwirrt gemacht,
hypnotisirt habe, dass sie immerfort Unsinn reden, bald dies, bald
jenes Verbrechen bekennen müssten, verrückt geworden seien. In
anderen Fällen fehlt den Kranken die Fähigkeit vollkommen, selbst
die gröbsten Widersprüche zu erkennen und zu berichtigen; sie
behaupten, dass sie keinen Bissen mehr gemessen könnten, während
sie mit vollen Backen kauen; „dies ist der letzte,“ meinte einer
meiner Kranken jedesmal, wenn man ihn auf diesen Widerspruch
hinwies. Sie bitten in einem Augenblicke, dass man sie durch Gift
aus der Welt schaffen möge, während sie im nächsten erklären,
dass sie überhaupt nicht sterben könnten, was immer man auch mit
ihnen anfange.
Den Grundzug der melancholischen Verstimmung bildet, wie ich
glauben möchte, ganz regelmässig eine mehr oder weuiger deutliche
Angst, das Gefühl eines schweren Druckes, einer inneren Beklemmung.
Melancholie.
327
„Berg und Thal liegen auf mir,“ sagte mir eine Bäuerin, die später
durch Selbstmord endete. Die Kranken fühlen sich verzagt, klein-
miithig, unbehaglich und pflegen diese Verstimmung als „Heimweh“,
Sehnsucht nach den Angehörigen, dem Geschäft, Scheu vor der
fremden Umgebung zu deuten.
Gleich wol wird die heimliche Furcht und Beunruhigung regel-
mässig ganz besonders durch den Verkehr mit denjenigen Personen
verstärkt, an die den Kranken die innigsten Gefühlsbeziehungen
knüpfen. Je stärker der gemüthliche Widerhall ist, den ein Ein-
druck in seinem Innern weckt, desto lebhafter werden auch die
krankhaften Gefühle angeregt. Der fremden Umgebung stehen sie
ziemlich theilnahmlos gegenüber, obgleich sie alle Vorgänge gut
aufzufassen pflegen. Sie sind jedoch so völlig mit sich selbst be-
schäftigt, dass sie dadurch wenig berührt werden. So erklärt es
sich, dass ganz ruhige Melancholiker durch die Aufregungszustände
ihrer Mitkranken auffallend wenig belästigt werden und gewöhnlich
erst dann darüber klagen, wenn die eigene Verstimmung schon be-
deutend abgenommen hat.
In einer Reihe von Fällen entladet sich die innere Beängstigung
in heftigen Gefühlsausbrüchen. Man spricht dann wol von einer
Angstmelancholie (Melancholia activa), doch giebt es zwischen diesen
und den weniger stürmisch auftretenden Formen (Melancholia Sim-
plex) keinerlei scharfe Grenzen. Die Lebhaftigkeit der krankhaften
Verstimmung und Erregung zeigt regelmässig vielfache Schwankungen.
Während die Kranken vorübergehend nahezu frei erscheinen können,
brechen zu anderen Zeiten, namentlich nach Besuchen oder vorzeitigen
Entlassungen, bisweilen plötzlich Angstanfälle von ausserordentlicher
Heftigkeit herein, die sogar mit tiefer, selbst deliriöser Bewusst-
seinstrübung einhergehen können (Raptus melancholicus). Hie und
da, besonders in sehr schweren Fällen, sieht man auch wol ganz
vorübergehend eine eigenthiimlich heitere Stimmung hervortreten.
Bald kommt es nur zu einem unbestimmten Lächeln, bald auch
zu einer Art Galgenhumor. Die Kranken sind ärgerlich und ver-
zweifelt, lachen aber über ihre Dummheit, ihre krankhaften Ideen,
über Vorkommnisse in ihrer Umgebung, machen witzige Bemer-
kungen und jammern zugleich darüber, dass sie lachen, da ihnen
nichts weniger als froh zu Muthe sei. Das Auftreten dieser Stim-
mung scheint Zeichen einer gewissen geistigen Schwäche zu sein.
328
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
Das Handeln des Kranken wird durch die melancholische
Verstimmung stets erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Er ver-
liert die Lust und das Interesse an seiner Thätigkeit, die Thatkraft,
kann nicht mehr recht schaffen, sich zu keinem Entschlüsse auf-
raffen. Ein estnischer Bauer sagte mir, er komme sich vor wie ein
Rad am Wagen, das willenlos mitlaufen müsse. Man kann sich
^jedoch leicht davon überzeugen, dass nicht die Ausführung der Be-
wegungen an sich erschwert ist. Die Kranken befolgen Aufforde-
rungen, wenn sie nicht durch ihre Angst gehindert werden, ohne
Zögern, vollziehen alle Verrichtungen in natürlicher, freier Weise,
wenn auch ohne besondere Kraft und Schnelligkeit.
Es scheint sich demnach bei der Melancholie nicht um eine
psychomotorische Hemmung, sondern wesentlich um die Wirkung
der gemiithlichen Verstimmung auf die Schaffensfreudigkeit zu
handeln. Dem Kranken erscheint seine Berufsarbeit zwecklos und
vergeblich; alles wird ihm zu viel, steht bergehoch vor ihm. In
Folge dessen verabsäumt er die nothwendigsten Geschäfte und
Pflichten, lässt alles gehen, wie es geht. Manche Kranke suchen
noch eine Zeit lang gegen diese Unfähigkeit anzukämpfen, führen
mit grösster Anstrengung nothdürftig ihre täglichen Aufgaben durch;
andere entwickeln sogar eine fieberhafte Thätigkeit, bitten flehentlich
um Arbeit, stehen des Nachts auf, um zu schaffen, stricken bis zur
völligen Erschöpfung, um dem vermeintlichen Vorwurfe der Faul-
lenzerei zu entgehen.
Der Gesichtsausdruck der Kranken ist bald bekümmert,
bald weinerlich oder ängstlich gespannt. Manche geben nur spär-
liche, von Seufzern und Jammern unterbrochene Auskunft; andere
haben das Bediirfniss, sich auszusprechen, erzählen eingehend
von ihrem Zustande, kommen aber freilich immer rasch auf
ihre Klagen zurück, sobald man den Versuch macht über fern-
liegende Dinge mit ihnen zu sprechen. Vielfach wird das Bild
vollkommen von der ängstlichen Unruhe und Erregung beherrscht.
Die Kranken sind unfähig, ein geordnetes Gespräch zu führen
oder sich zusammenhängend zu beschäftigen, jammern vor sich hin.
verkriechen sich, fragen, ob sie fortmüssen, fortgejagt werden, ent-
schuldigen sich, dass sie noch da sind. Bei stärkerer Angst können
sie schliesslich nicht mehr ruhig sitzen oder liegen, springen immer
von neuem wieder auf, um rastlos umherzuwandern, irren im
Melancholie.
329
Wald herum, klammern sich an Vorübergehende an, drängen zur
Thüre hinaus, da sie nicht mehr dableiben können, „so starkes
Heimweh haben“. Auch im Bette finden sie keine Ruhe, sondern
steigen immer und immer wieder heraus, reissen auch Andere aus
den Betten, rufen um Hülfe, flehen um Gnade, klagen sich an,
jedem Zuspruche unzugänglich, anfangs leise, dann immer lauter,
Tag und Nacht unablässig, einförmig dieselben abgerissenen Rede-
wendungen wiederholend, bis zur völligen Heiserkeit. Sie ringen
die Hände, zittern und beben am ganzen Leibe, zupfen sich Nase,
Ringer, Lippen, Ohrläppchen blutig, schlagen sich mit der Faust
vor die Stirn, zerraufen ihre Haare, entblössen ihre Genitalien,
zerschlitzen ihre Kleider und wälzen sich am Boden. Allen
äusseren Einwirkungen, allen Beschwichtigungsversuchen setzen
sie unter raschem Anwachsen der Angst den verzweifeltsten Wider-
stand entgegen.
Es ist unter diesen Umständen selbstverständlich, dass die Be-
friedigung der körperlichen Bedürfnisse bei den Kranken erhebliche
Störungen erleidet. Die Kranken hören auf, regelmässig zu essen,
verlieren ganz den Appetit, weisen schliesslich auch wol die Nah-
rung, wenigstens das Fleisch, zurück, spucken alles wieder aus5
weil sie das Essen nicht werth sind, den Andern nichts wegnehmen
wollen, nicht bezahlen können, Gift oder Unrath im Essen bemerken.
Auch Arzneien oder Bäder werden abgelehnt, so dass die Sorge für
Reinlichkeit und Körperpflege auf grosse Schwierigkeiten stösst. Ein
Kranker lief barfuss herum, um an die Kälte gewöhnt zu sein, wenn
er in den Schnee hinausgejagt werde. In einzelnen Fällen tritt
Harnverhaltung und Bettnässen auf, sei es, dass die Kranken
das Bedürfniss nicht beachten, sei es, dass sie nicht wagen, es zu
befriedigen.
Das bei weitem schwerste und von allen Irrenärzten mit Recht
ausserordentlich gefürchtete Krankheitszeichen ist bei Melancholi-
schen die Neigung zum Selbstmorde, die nur sehr selten ganz
fehlt, oft genug aber auch ungemein stark in den Vordergrund tritt.
Diese Erfahrung steht in voller Uebereinstimmung mit der statistischen
Thatsache, dass die Häufigkeit des Selbstmordes auch in der gesunden
Bevölkerung mit wachsendem Lebensalter stetig zunimmt. Der An-
trieb zum Selbstmorde erscheint bisweilen als der Ausfluss einer
gewissen Ueberlegung. Der quälende Gedanke, ein unnützes und
330
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
sittlich verworfenes Geschöpf, von aller Welt verachtet zu sein,
der Blick in eine vermeintlich finstere und trostlose Zukunft,
die Unerträglichkeit des gegenwärtigen Zustandes regen in dem
Kranken den Wunsch der Vernichtung des Daseins an. Wenn
er nur weg von der Welt, nie geboren, als kleines Kind ge-
storben wäre! Alle würden dann von ihm befreit sein und er
selber Ruhe haben; er strebt daher bisweilen in geradezu leiden-
schaftlicher Weise nach einer Gelegenheit zur Ausführung seiner
Selbstmordpläne.
In anderen Fällen tauchen die Selbstmordgedanken ganz
plötzlich, triebartig auf, selbst noch bei weit vorgeschrittener
Besserung, ohne dass die Kranken sich über die eigentlichen
Beweggründe klare Rechenschaft ablegen können. Eine meiner
Kranken war mit häuslicher Arbeit beschäftigt, als ihr unver-
mittelt der Antrieb kam, sich zu erhängen, was sie auch sofort
ausführte; mit Mühe wurde sie gerettet. Nach solchen Handlungen
wissen die Kranken oft selbst nicht, wie es kam. ja sie erinnern
sich manchmal des Vorganges überhaupt nicht, besonders nach Er-
hängungsversuchen. Hie und da beginnt die Krankheit nach sehr
unbestimmten Vorboten mit einem plötzlichen Selbstmordversuche,
nach welchem erst das ganze Bild deutlich hervortritt. Bisweilen
hat man endlich auch den Eindruck, dass die Kranken nur mit dem
Gedanken des Selbstmordes spielen, ohne den Muth und die Kraft
zu seiner Ausführung zu haben. Sie selbst geben das so an; trotz-
dem darf man niemals sicher sein, dass nicht plötzlich einmal ein
Angstanfall den krankhaften Drang verstärkt und den gesunden
Widerstand überwältigt.
Jeder Melancholiker ist daher als ein äusserst gefährlicher
Kranker zu betrachten, um so gefährlicher, wenn er besonnen oder
gar zu Verstellung und List geneigt und befähigt ist. Er kann dann
auf die verschiedenste Weise die Wachsamkeit seiner Umgebung
täuschen, sich in der Badewanne ertränken, an der Thürklinke, an
irgend einer vorspringenden Ecke im Abtritte, ja selbst im Bette
(auch in der Zwangsjacke!) erwürgen, Nadeln, Nägel, Glasscherben
verschlucken, sich die Treppe hinunterstürzen, den Schädel mit einem
schweren Gegenstände zertrümmern, sich aushungern u. s. f. Be-
achtenswerth erscheint es, dass die Kranken in ihrer Aufregung fast
ganz unempfindlich gegen körperlichen Schmerz zu sein pflegen, ein
Melancholie.
331
Umstand, der ihnen die Ausführung ihres Vorhabens wesentlich er-
leichtert. Eine meiner Kranken, die sich mit einem Küchenmesser
im Abtritte eine grosse Schnittwunde am Halse beigebracht hatte,
bohrte in derselben mit dem stumpfen Stiel einer Abtrittsbürste
herum, um sie zu erweitern; ein anderer Kranker schlug mit dem
Halse so oft auf die Schneide eines am Boden aufgestellten Stemm-
eisens, bis dasselbe durch die ganzen Weichtheile in den Wirbel-
körper eindrang.
In einer kleinen Zahl schwerer Fälle kann man einzelne kata-
tonische Krankheitszeichen beobachten, namentlich langdauernde
Stummheit, eigentümlich gezwungene Stellungen, Katalepsie, auch
wol Echolalie. Stets besteht hier stärkere Bewusstseinstrübung.
Ich muss es einstweilen dahingestellt sein lassen, ob diese Formen,
die zum Theil in Genesung, zum Theil in Blödsinn übergehen, der
Melancholie zuzurechnen oder etwa als Katatonien aufzufassen sind.
Einstweilen möchte ich mich mehr der ersteren Ansicht zuneigen,
da die eigentlich kennzeichnenden Erscheinungen der Katatonie, der
starre Negativismus bei erhaltener Besonnenheit, die Bewegungs-
stereotypen und Manieren, die Triebhandlungen, in den von mir
beobachteten Fällen nicht vorhanden waren und wir ja auch bei
der Paralyse gelegentlich katatonische Andeutungen auftreten sehen.
Immerhin ist die Frage keineswegs spruchreif.
Begleitet wird das Krankheitsbild der Melancholie regelmässig
von einer Reihe von Störungen, die auf eine allgemeine Betheiligung
verschiedener Körperverrichtungen an dem Krankheitsvorgange hin-
weisen. Der Schlaf der Kranken ist regelmässig schlecht, kurz,
unruhig, von lebhaften, unangenehmen und quälenden Träumen,
bisweilen von nächtlichem Aufschreien begleitet. „Der Geist kann
nicht schlafen, a sagte mir ein Kranker. Bei Tage besteht ein
dauerndes Gefühl der Abspannung, Müdigkeit und Schwere in allen
Gliedern, eine dumpfe Benommenheit im Kopfe, die sich bisweilen
zu wirklich schmerzhaften Empfindungen, Druck auf der Scheitel-
höhe, Spannung im Hinterkopfe u. dergl. steigert. Hie und da be-
obachtet man die ersten Zeichen seniler Hirnveränderungen, Schwindel-
anfälle, träge Pupillenreaction, Facialisdifferenz, Zittern der Zunge und
der Hände. Einmal sah ich während einer ängstlichen Erregung-
vorübergehend aphasische Störungen auftreten. Schwerhörigkeit als
Alterszeichen ist nicht gerade selten. Sehr gewöhnlich wird über
332
VIII. Datj Irresein des Rückbildungsalters.
unangenehme Empfindungen in der Herzgegend geklagt,
Spannung, Druck, „Unruhe“, „Beängstigung“, „Vibriren“ am Herzen,
die bisweilen anfallsweise, namentlich Nachts, stärker hervortreten;
„das Herz hat arg Angst“. Der Muskeltonus erscheint herabgesetzt;
gleichzeitig besteht das Gefühl allgemeiner körperlicher Schwäche
und Hinfälligkeit. Die Ernährung nimmt nach Ausweis der
Körpergewichtscurve stets, auch dort, wo keine Nahrungsverweigerung
besteht, im Beginne der Erkrankung rasch ab, um erst mit dem
Eintritte der Besserung sich wieder zu heben. Die Curve IX giebt
dafür ein Beispiel. Hier wurde der anfangs günstige Krankheits-
verlauf durch einen vorzeitigen, von den Angehörigen erzwungenen
Entlassungsversuch unterbrochen. Nach
einem Selbstmordversuche zu Hause
wurde die Kranke in die Klinik
zurückverbracht, wo sie nach einigen
Wochen nochmals einen schweren
Selbstmordversuch unternahm. Erst
nach diesem stellte sich rasche Ge-
nesung ein.
Die Schleimhäute sind blass, blut-
leer. Die Esslust ist sehr gering oder
ganz aufgehoben, die Verdauung träge;
sehr häufig findet man äusserst hart-
näckige Stuhlverstopfung. Starker
Belag der Zunge und foetor ex ore
pflegen diese Störungen anzuzeigen.
Die Wärmeproduction wie die Wärmeabgabe ist vermindert, die
Temperatur häufig dauernd herabgesetzt, vielfache Unregelmässig-
keiten in ihrer Vertheilung auf die einzelnen Körperpartien dar-
bietend. Sehr erhebliche Störungen zeigen regelmässig die Kreis-
laufsorgane. Abgesehen von den atheromatösen Veränderungen an den
Blutgefässen, wie sie dem Lebensalter der Kranken entsprechen,
finden wir Kleinheit und Verlangsamung, öfters auch Unregel-
mässigkeit des Pulses, Kälte und Cyanose, ja sogar Oedeme der
Füsse und Hände. Der Befunde von Reinhold, welcher allerdings
die Melancholie viel weiter fasst (Veränderungen des Spitzeustosses,
der Herzdämpfung und Herztöne), ist bereits bei früherer Gelegenheit
gedacht worden. Seltener werden auch an der Haut die Erscheinungen
Curve IX.
Melancholie ; Rückfall ; Genesung.
Melancholie.
333
ungenügender Ernährung, Trockenheit, Sprödigkeit, kleienartige Ab-
schuppung u. s. w. beobachtet.
Der Verlauf der Melancholie zeigt regelmässig ein langsames
Ansteigen und nach längerer Dauer ein noch langsameres Schwinden
der Krankheitserscheinungen. Während der ganzen Zeit aber pflegt der
Zustand fast immer mehr oder weniger regelmässige Schwankungen
darzubieten, welche die Geduld der Kranken und namentlich der
Angehörigen oft auf eine recht harte Probe stellen. Zeitweise kann
sich der Kranke ganz leicht und wohl fühlen, um doch vielleicht
bereits am nächsten Tage von trüber Stimmung und schweren Ge-
danken wieder völlig beherrscht zu sein. Sehr häufig findet sich
ein Nachlass der Krankheitserscheinungen gegen Abend, während
am Morgen die Verstimmung in verstärktem Maasse wiederkehrt.
Ferner pflegen äussere Schädigungen, namentlich Briefe oder Besuche
der nächsten Angehörigen, auf der Höhe der Krankheit fast immer
eine deutliche Verschlechterung nach sich zu ziehen. Endlich wird
auch bisweilen ein ziemlich regelmässiger Wechsel zwischen schlim-
meren und besseren Zeiten oder Tagen beobachtet, ohne dass sich
eine äussere Ursache dafür auf finden liesse.
Das allmähliche Schwinden der Krankheit unter vielfachen
Nachlässen und Verschlimmerungen ist durchaus die Regel; plötz-
liche, im Verlaufe weniger Tage eintretende „Heilungen“ bedeuten,
wenn es sich nicht um ganz leichte und kurzdauernde Erkrankungen
handelt, die Zugehörigkeit des Krankheitsbildes zum manisch-
depressiven Irresein und damit meist das Umschlagen der traurigen
in eine heitere Verstimmung. Einen sehr guten Anhaltspunkt für
die prognostische Beurtheilung der Veränderungen im psychischen
Krankheitsbilde giebt das Verhalten des Körpergewichtes an
die Hand. Stetiges Ansteigen desselben deutet mit Entschiedenheit
auf eine bevorstehende günstige Wendung hin. Gleichzeitig bessern
sich nach und nach Schlaf und Verdauung; die Nachlässe der Ver-
stimmung werden anhaltender und ausgiebiger, wenn auch noch
einzelne schlechte Tage dazwischen Vorkommen. Nicht selten ent-
wickelt sich in dieser Zeit eine ausserordentliche Reizbarkeit, die
von den Kranken selbst als krankhaft empfunden oder auch wol im
Sinne des Versündigungswahnes als sittliche Verschlechterung auf-
gefasst wird. An Stelle der früheren Angst und Verzagtheit tritt
eine missmuthige, nörgelnde, unzufriedene Stimmung. Man kann
334
VIII. Das Irresein des Rückbildunijsalters.
ihnen nichts mehr recht machen; alles quält sie, regt sie auf; sie
können es nicht mehr aushalten und drängen stark nach Hause,
wo sie „besser ihre Ordnung haben“. In einzelnen Fällen kann,
wie es scheint, eine solche unleidliche, reizbare Stimmung bei
unvollkommener Einsicht als Ueberbleibsel der Krankheit nach
dem Schwinden der anderen Störungen dauernd Zurückbleiben.
Als ein Zeichen von besonders guter Vorbedeutung ist die Rückkehr
des Interesses für die gewohnten Beschäftigungen zu betrachten.
Sobald der Kranke wieder beginnt, zu arbeiten, zu lesen, sich zu
unterhalten, pflegt die Reizbarkeit bald zu schwinden; er wird ein-
sichtig, geduldig, dankbar und gehorsam. Gleichwol besteht immer
noch für einige Zeit eine leichtere Ermüdbarkeit sowie eine ver-
mehrte Empfindlichkeit gegen äussere Schädlichkeiten, besonders
Gemüthsbewegungen, Ueberanstrengungen, Ausschweifungen, welche
vorübergehende Verschlimmerungen nach sich ziehen können, bis
sich im Laufe der Wochen und Monate auch diese Störung voll-
kommen ausgleicht.
Die Prognose der Melancholie muss im ganzen als eine zweifel-
hafte bezeichnet werden. Von meinen Kranken fanden nur 32°/0
volle Genesung; ausserdem wurden allerdings noch 23 °/0 soweit
gebessert, dass sie in ihre Familie zurückkehren und selbst bis zu
einem gewissen Grade ihre frühere Beschäftigung wieder aufnehmen
konnten. Ungeheilt blieben 26 °/0, während 19°/0 innerhalb der
ersten zwei Jahre nach Beginn der Krankheit zu Grunde gingen.
Die Wahrscheinlichkeit der Heilung wird nicht unbedeutend durch
das Lebensalter der Erkrankten beeinflusst. Von meinen Kranken
unter 55 Jahren wurden 40°/0, von den älteren dagegen nur 25%
vollständig geheilt.
Eine ungünstige Wendung des Krankheitsverlaufes pflegt sich
im allgemeinen durch eine Abnahme der gemiithlichen Erregung
ohne Zurücktreten der krankhaften Vorstellungen oder gar mit der
Ausbildung unsinnigerer Wahnideen anzukündigen. In den leichteren
Fällen schwindet nun allmählich die Verstimmung nebst den Wahn-
ideen, aber die Kranken sind trotz einer ungefähren Krankheits-
einsicht doch stumpfer, gleichgültiger, leistungsunfähiger geworden.
Zugleich besteht meist noch ein kleinmüthiges, verzagtes oder weiner-
liches Wesen. Bei weiter fortschreitender Schwäche pflegen zwar
auch die Wahnvorstellungen mehr und mehr zu verblassen, aber die
Melancholie.
335
Kranken werden gedankenarm, verworren, desorientirt, vergesslich,
blöde, affectlos, arbeitsunfähig, gewinnen keine Krankheitseinsicht,
stehen stumpfsinnig und trübselig herum oder jammern eintönig vor
sich hin. Andere werden ganz unzugänglich, kindisch-eigensinnig,
mürrisch, kreischen, sobald man sie anrührt, kratzen, schlagen rück-
sichtslos um sich, gehen zeitweise aus dem Bett, um ihre Nachbarn
zu misshandeln, gesticuliren vor sich hin, murmeln unverständlich
und zusammenhangslos. Hie und da erhalten sich auch wol noch
einzelne zerfahrene Reste der früheren Wahnvorstellungen und Sinnes-
täuschungen. Das Körpergewicht kann, wie die Curve X zeigt,
Curve X.
Melancholie; Ausgang in Schwachsinn.
sehr bedeutend sinken, um nun dauernd auf niedrigem Stande zu
bleiben; bisweilen jedoch erfolgt später wieder ein ausgiebiges An-
steigen ohne psychische Besserung. Das erste rasche Sinken war
hier durch Nahrungsverweigerung bedingt, die durch Kochsalz-
infusionen erfolgreich bekämpft wurde.
Der Tod erfolgte in meinen Fällen meist unter den Er-
scheinungen der Herzschwäche in lebhaften ängstlichen Aufregungs-
zuständen, einige Male an Lungentuberculose nach längerem Krank-
heitsverlaufe. Zwei meiner Kranken erhängten sich wenige Tage
nach der gegen ärztlichen Rath erfolgten Entlassung zu Hause. Die
pathologische Anatomie hat uns ausser verbreiteter Arteriosklerose
mit ihren Folgezuständen am Herzen und in den Nieren einst-
336 VIII. Das Irresein des Rückbildungaalters.
weilen kein verwertbares Ergebniss geliefert Bei zwei älteren
Kranken wurden die Zeichen einer beginnenden Hirnatrophie auf-
gefunden.
Die Dauer der Melancholie erstreckt sich regelmässig über eine
längere Reihe von Monaten, selbst über Jahre. Von meinen ge-
heilten Fällen dauerten die meisten etwa % — 1 Jahr; fast ein
Drittel derselben erstreckten sich jedoch über 1 Jahr hinaus. Auch
in anscheinend leichten Fällen ist es immer misslich, bestimmte
Vorhersagen über die muthmassliche Dauer zu machen, da sich
der Krankheitsverlauf oft ungemein schleppend gestaltet, ohne dass
man darum die Hoffnung auf endliche Genesung aufzugeben brauchte.
Einzelne Fälle heilen noch nach 2 — 3 Jahren.
Die Melancholie, wie sie hier geschildert wurde, ist eine Er-
krankung des beginnenden Greisenalters. Sie ist vielleicht als der
krankhafte Ausdruck jenes schon dem gesunden Alter eigenthüm-
lichen Gefühls der wachsenden Unfähigkeit und Unzulänglichkeit
zu betrachten, im Gegensätze zu dem überquellenden Kraftbewusst-
sein der Jugendjahre. Mehr als 64% meiner Kranken standen
zwischen dem 50. und 60. Lebensjahre. Die ersten Erkrankungen
beginnen bald nach dem 40., die letzten bald nach dem 65. Jahre.
Ob auch gewisse der Schwangerschaft und der Lactation angehörige,
klinisch ähnliche Formen aus früherem Lebensalter hierher zu rechnen
sind, möchte ich einstweilen noch unentschieden lassen. In den
höheren Altersklassen werden allmählich die Formen mit unsinnigen
Wahnbildungen häufiger. Das weibliche Geschlecht liefert etwa 60%
der Kranken, ist also ein wenig stärker betheiligt, als das männliche.
Das gilt ganz besonders für die Erkrankungen im 5. und zu Anfang
des 6. Lebensjahrzehntes, wo Männer nur ausnahmsweise melancho-
lisch werden, während beim Weibe das Klimakterium gerade für
diese Form des Irreseins den günstigen Boden abzugeben scheint.
Späterhin ist ein Unterschied zwischen beiden Geschlechtern kaum
mehr erkennbar.
Die erbliche Veranlagung scheint hier hinter der erworbenen
Disposition zurückzustehen, da ich nur bei 53% der Kranken mit
genauer bekannter Vorgeschichte irgend eine, wenn auch öfters
nur entfernte Familienanlage auffinden konnte. Auffallend oft be-
gegneten mir bei Geschwistern und Eltern Apoplexien und Alters-
blödsinn, auch Alkoholismus. Zu berücksichtigen ist übrigens, dass
Erkennung.
337
bei den älteren Kranken genauere Angaben über das Verhalten der
Eltern und deren Geschwister vielfach fehlen. Dadurch wird die
Vergleichbarkeit der Zahlen über die erbliche Anlage beeinträchtigt.
Dem entspricht die Erfahrung, dass hier die Häufigkeit von Geistes-
störungen bei Geschwistern gegenüber derjenigen bei den Eltern stark
in den Vordergrund trat. Eine Reihe der Kranken werden als
Sonderlinge, kleinliche, ängstliche Naturen, zu Grübeleien geneigt
geschildert; mehrfach fand sich vorzeitiges Greisenthum. Sehr häufig
scheinen bestimmte äussere Anlässe den Ausbruch der Melancholie
zu begünstigen. Als solche sind zu nennen körperliche Krankheiten
(Influenza, Magenkatarrh), Operationen, Vermögensverluste, Schreck,
Sorgen durch Unternehmungen, Veränderungen in den ganzen Lebens-
verhältnissen, vor allem aber Krankheit und Tod der nächsten An-
gehörigen.
In der hier gegebenen Abgrenzung umfasst die Melancholie den
grössten Theil jener Beobachtungen, die man früher als einfache
und als Angstmelancholie zu bezeichnen pflegte, ferner den de-
pressiven Wahnsinn und endlich die senilen Depressionszustände.
Dass diese und nur diese Formen in der That eine innere Zu-
sammengehörigkeit darbieten, davon glaube ich mich in den letzten
Jahren überzeugt zu haben. Aus dieser Auffassung ergiebt sich,
dass zunächst alle depressiven Verstimmungen der jugendlicheren
Altersstufen nicht zur Melancholie zu rechnen sind. Sie gehören
nach meiner Ueberzeugung entweder dem manisch-depressiven Irre-
sein oder der Dementia praecox an, einzelne dem Entartungsirresein
und vielleicht auch der Hysterie. Andererseits ist zu bedenken,
dass sich bisweilen auch das manisch-depressive Irresein erst in den
Rückbildungsjahren entwickelt. Auffallend rascher und günstiger
Verlauf des Anfalles und das Auftauchen einzelner manischer
Andeutungen, starker Thatendrang, Ideenflucht, Grössenideen, fröhliche
Stimmung ohne die Zeichen des Schwachsinns werden hier die
Unterscheidung ermöglichen. Nicht selten freilich wird es recht
schwierig sein, den vorliegenden Anfall richtig zu deuten. Den
besten Anhalt giebt, wie mir scheint, das psychomotorische Ver-
halten. Während das Benehmen der Melancholiker in allen Stücken
den natürlichen Ausdruck ihrer ängstlichen oder reizbaren Stimmung
bildet, sehen wir in den Depressionszuständen des circulären Irre-
seins die Entscblussunfähigkeit, die Verlangsamung und Erschwerung
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aafl. II. Band. 22
338
VIII. Das Irresein des Riickbildungsalters.
aller' Willenshandlungen durchaus in den Vordergrund treten. Anderer-
seits geht die bei dieser Krankheit gelegentlich beobachtete reizbare
Verstimmung regelmässig mit lebhaftem Thätigkeits- und Rededrang
einher, indess die Reizbarkeit der Melancholiker das Gepräge der
inneren Beängstigung trägt.
Auch die Melancholie zeigt übrigens eine gewisse Neigung,
sich zu wiederholen. Unter meinen Kranken fanden sich 15%
die vor der beobachteten schon einmal eine Melancholie über-
standen hatten, regelmässig ebenfalls in den Rückbildungsjahren.
Fast immer waren die früheren Anfälle sehr leicht verlaufen.
Endlich fand sich noch eine ganz kleine Gruppe von Fällen,
bei denen schon im 4. Lebensjahrzehnt eine depressive Geistes-
störung vorausgegangen war; gerade diese Kranken schienen sich mir
durch grosse psychische Beeinflussbarkeit, Zunahme des Jammerrs
bei äusserer Anregung, Einförmigkeit des Affectes und Dürftigkeit
der Wahnbilduugen auszuzeichnen. Ich bin nicht sicher, ob sie der
Melancholie zuzurechnen sind und habe sie bei meinen Unter-
suchungen überall unberücksichtigt gelassen.
Die mit stärkerer geistiger Schwäche und unsinnigeren 'Wahn-
bildungen einhergehenden Formen der Melancholie leiten ganz all-
mählich in die senile Verwirrtheit hinüber. In einzelnen Fällen
kann die Frage entstehen, ob wir es nicht mit einer Dementia
praecox zu thun haben, namentlich beim Auftreten von katatonischen
Zeichen. Wir werden uns für die Annahme einer, in diesem Alter
freilich recht seltenen, katatonischen Erkrankung entscheiden, wo
sich starrer Negativismus, eigenartige läppische Erregungszustände
und Manieren entwickeln, zumal bei Fortbestehen der Besonnenheit
und Orientirung. Bei weitem die grössten diagnostischen Schwierig-
keiten jedoch entstehen bei der Abgrenzung der Melancholie von
der Paralyse. Namentlich diejenigen Fälle, welche etwa zwischen
dem 45. und dem 55. Jahre liegen, können lange Zeit zweifelhaft
bleiben, da die psychischen Krankheitsbilder einander bisweilen fast
völlig gleichen. Grössere Besonnenheit und Klarheit, lebhafter,
gleichmässiger Affect, subacute Entwicklung ohne länger zurück-
reichende Vorboten sprechen mehr für Melancholie, während die
Paralyse aus den Zeichen der sonst in diesen Jahren noch nicht
leicht vorkommenden psychischen Schwäche (Vergesslichkeit, mangel-
hafte zeitliche Orientirung, Unbesinnlichkeit, Urteilslosigkeit, un-
Behandlung.
339
sinnige und widerspruchsvolle Wahnbildungen, Schwächlichkeit des
Affectes), dann aber namentlich auch aus den körperlichen Krank-
heitszeichen erkannt wird. Auch die schleichende Entwicklung des
Leidens unter den bekannten Zeichen einer allmählichen Verblödung
kann in dieser Richtung einen Fingerzeig geben. Wie weit die
arteriosklerotischen Hirnerkrankungen das Bild der Melancholie dar-
bieten können, entzieht sich einstweilen meiner Beurtheilung.
Die Behandlung*) der Melancholie hat dem Kranken unter allen
Umständen Ruhe zu verschaffen, deren das leidende Gehirn un-
bedingt bedarf. In erster Linie wird es daher nöthig sein, für die
Entfernung aller den Kranken schädigenden Reize zu sorgen.
Dazu gehören namentlich diejenigen Personen und Dinge, welche
ihn gemüthlich am meisten berühren, die nächsten Anverwandten,
das eigene Heim und die Berufsarbeit. Bei ganz leichter Erkrankung
kann unter Umständen ein einfacher Aufenthaltswechsel, die Unter-
bringung bei einer befreundeten, verständnisvollen Familie genügen.
Dringend zu warnen ist vor „Zerstreuungen“, anstrengenden Reisen,
eingreifenden Curen, lebhafter Geselligkeit, die ebenso wie lange
Auseinandersetzungen und Zurechtweisungen immer rasch ver-
schlimmernd wirken. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird
die Verbringung in die Anstalt nothwendig sein, ganz unbedingt
dann, wenn irgendwie Selbstmordneigung hervortritt.
Das beste Beruhigungsmittel ist die Bettlagerung, die man
namentlich bei schwachen oder sehr gequälten Kranken mit kurzen
Unterbrechungen durch Aufenthalt im Freien lange Zeit hindurch
fortsetzen kann. Besondere Aufmerksamkeit erfordert ferner die
Sorge für eine gute, kräftige Ernährung. Der Kranke wird
regelmässig zum Essen angehalten; die Appetitlosigkeit und Ver-
dauungsträgheit wird durch Eingiessungen oder milde Abführmittel,
unter Umständen durch Magenausspülungen, sowie durch passende
Auswahl der Speisen bekämpft. Meist gelingt es besser, in häufiger
Wiederholung kleinere Mengen von Nahrung zuzuführen, als die
reichlicheren Hauptmahlzeiten einzuhalten. Geduld und Beachtung
der Wünsche des Kranken vermag hier viel zu erreichen. Bei sehr
ängstlichen und erregten Kranken 'wird man die Sondenfütterung
nicht immer umgehen können, ja ich habe bei drohender Herz-
schwäche auch schon zu Kochsalzinfusionen meine Zuflucht nehmen
*; Ziehen, Erkennung und Behandlung der Melancholie in der Praxis. 1897.
22*
340
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
müssen. Besonnene Kranke geben den Widerstand gegen das Essen meist
bald auf, sobald man ihnen die Nutzlosigkeit desselben vor Augen führt.
Yon grösster Wichtigkeit ist selbstverständlich ferner die
Regelung des Schlafes. Bei der langen Dauer der Krankheit
ist die Anwendung von Arzneimitteln möglichst zu beschränken, da
sie meist nicht sehr lange hintereinander fortgegeben werden können.
Häufig thut der Alkohol recht gute Dienste, der in kleinen Gaben
die innere Spannung mildert, in grösseren den Schlaf begünstigt.
Ausserdem passen gelegentliche Gaben von Trional, Sulfonal, auch
von Brom oder Paraldehyd. Yon diätetischen Massregeln kommen
abendliche verlängerte Bäder, Priesnitz’sche Einpackungen, mässige
Bewegung im Freien u. dgl. in Betracht, soweit sie nicht die Angst
der Kranken steigern.
Als Beruhigungsmittel hat sich namentlich bei den heftigeren Angst-
zuständen der Melancholiker mit Recht das Opium und Morphium
einen grosseu Ruf erworben. Man giebt diese Mittel planmässig
in rasch steigender Gabe (bis zu dreimal täglich 50 oder selbst
60 Tropfen Opiumtinctur), um später allmählich wieder herunterzu-
gehen. Wo nicht bald ein deutlich beruhigender Einfluss bemerk-
bar wird, ist die Fortsetzung der Cur zwecklos. Ausserdem aber
giebt es einzelne Fälle, in denen nicht nur keine Besserung, sondern
geradezu eine Steigerung der Angst eintritt; hier ist schleunige, aber
vorsichtige Beseitigung des Mittels geboten. Bei den leichteren und
ruhigeren Formen der Melancholie erweist sich oft die Yerbinduug
mässiger Opiumgaben mit Bromnatrium nützlich.
Wo die geringsten Anzeichen von Selbstmordneigung hervor-
treten, ist auch in den anscheinend mildesten Formen der Er-
krankung dringend eine sorgfältige Ueberwachung geboten,
wie sie nur in einer zuverlässigen Irrenanstalt (nicht sogenannten
„offenen“ Curanstalt) durchgeftikrt werden kann. Tag und Nacht
muss in solchen Fällen Jemand in unmittelbarer Nähe des Kranken
sein und ihn unausgesetzt im Auge behalten. Das Schlafen eines
Wärters im gleichen oder gar im Nebenraum ist in irgendwie
bedenklichen Fällen durchaus unzureichend. Diese peiuliche Auf-
merksamkeit, die den Kranken keinen Augenblick, auch auf dem
Abort nicht, ausser Acht lässt, ist bis zur vollen Genesung fort-
zusetzen, da oft unvorhergesehene Yerschlechterungen mit Wieder-
erwachen der krankhaften Triebe Vorkommen und die Besserung
Behandlung.
341
bisweilen nur eine scheinbare, zur Erreichung der Entlassung vor-
getäuschte ist.
Die psychische Behandlung muss eine ruhige, gleichmässig
freundliche und geduldige sein. Viele Gespräche über den psychi-
schen Zustand sind zu vermeiden; auch tröstender Zuspruch pflegt
meist wenig oder nichts zu helfen. Weit zweckmässiger ist es, eine
Ablenkung des Vorstellungsverlaufes auf ganz fernliegende Gebiete
anzustreben, was allerdings fast nur in leichteren Fällen mit einiger
Sicherheit gelingt. Auf der Höhe des Leidens verbieten sich solche
Versuche von selbst; in der Genesungszeit jedoch sind sie ein
wichtiges Hülfsmittel, das Denken und Fühlen wieder in die ge-
wohnten Bahnen zu leiten. Dazu dient anregende, nicht ermüdende
Beschäftigung, Lesen, Zeichnen, Handarbeit, sobald mit dem Nach-
lassen der Verstimmung eine freiere Hingabe an dieselbe möglich
wird. Diese Entwicklung pflegt sich ganz von selbst zu vollziehen;
der Arzt hat nichts zu thun, als dieselbe nach Kräften zu fördern
und Störungen durch Lieberanstrengung, starke Gemiitksbewegungen,
körperliche Schädlichkeiten zu verhüten. Besuche seitens der nächsten
Angehörigen wirken namentlich auf der Höhe der Krankheit nicht
selten sehr aufregend, machen dem Kranken das Herz schwer; hier
ist besondere Vorsicht geboten.
Von Wichtigkeit ist es endlich, den Kranken nicht zu früh
aus der Anstaltsbehandlung zu entlassen; Selbstmorde sind
nur zu häufig die Folge davon. Bisweilen kehren die Kranken auch
von selbst wieder zurück, da sie merken, dass sich ihr Zustand zu
Hause sofort wieder verschlechtert. „Mich hat gleich alles gereut,“
sagte mir ein solcher Kranker. Sehr häufig hat man freilich den
besonnenen, über „Heimweh“ klagenden, stark drängenden Kranken
und noch mehr ihren Angehörigen gegenüber einen schweren Stand.
Erst wenn das ungeduldige Drängen verschwindet, volle Krankheits-
einsicht besteht, die Ernährung auf ihren früheren Stand zurück-
gekehrt und der Schlaf ungestört ist, kann man die Heilung als
vollendet und die Zeit der Entlassung als gekommen ansehen ; Aus-
nahmen sind nur bei sehr günstigen Verhältnissen und zweifellos
fortschreitender Genesung zulässig. Jedenfalls bedürfen alle Ent-
lassenen noch längere Zeit hindurch einer gewissen Schonung und
Pflege sowie einer verständigen, ruhigen Behandlung seitens ihrer
Umgebung.
342
VIII. Das Irresein des Rückbildungsaltere.
B. Der praeseuile Beeintriiclitigungswalm.
Unter dieser Bezeichnung möchte ich eine kleine Gruppe von
Fällen aus den Rückbildungsjahren zusammenfassen, die durch all-
mähliche Entwicklung grosser Urt heilsschwäche mit Wahn-
bildungen und gesteigerter gemüthlicher Erregbarkeit
gekennzeichnet sind. Der Beginn der Krankheit ist immer ein
schleichender. Ganz unmerklich stellt sich eine Veränderung im
Wesen und Benehmen der Kranken heraus. Sie werden stiller,
menschenscheu, unzufrieden, grundlos traurig, misstrauisch und
reizbar. Die Besonnenheit und Orientirung bleibt vollkommen er-
halten. Dagegen tauchen nach und nach Wahnvorstellungen
auf, anfangs unbestimmt und flüchtig, später hartnäckiger und in
ausgeprägterer Form. Zunächst sind es vielfach hypochondrische
Ideen. Die Kranken klagen über die verschiedenartigsten, häufig
wechselnden nervösen Schmerzen, Singultus, krampfhaftes Zucken.
Schwindel, Schmerzen hier und dort, unruhige Träume, Schwäche
Schwellungen, Krachen im Kopf u. dergl. Sie erinnern dadurch
sehr an Hysterische, doch laufen auch sehr unsinnige Klagen mit
unter; das Rückenmark ist geschwunden, das Gehirn vertrocknet,
alle Kraft verloren gegangen.
Weiterhin pflegen sich Verfolgungsideen einzustellen, die eben-
falls einen ganz abenteuerlichen Inhalt annehmen können. Kleider
und Gegenstände werden vertauscht oder gestohlen; das Klavier
ist nicht mehr das alte, muss heimlich ausgewechselt worden
sein. Es sind Räuber im Hause; Nachts schleicht sich Jemand
ein; verdächtige Dinge geschehen; im Essen, in der Cigarre ist
Gift. Eine meiner Kranken Hess durch den Tapezierer das
Sopha öffnen, da sie vermuthete, dass in demselben Jemand stecke,
der das Haus in die Luft sprengen wolle. Die Aerzte machen
heimliche Eingiessungen und Einreibungen, treiben Schweinerei,
reissen die Gebärmutter heraus, erzeugen die Krankheit künst-
lich, um daran zu studiren; die Frau wendet hinter dem Rücken
der Kranken Mittel an.
Ganz besonders häufig pflegt der Wahu ehelicher Untreue
in den Vordergrund zu treten. Der Mann verkehrt mit allen
Krankheitsbild.
343
möglichen Frauenzimmern, liebäugelt auf der Pferdebahn hinter
der Zeitung mit seiner Nachbarin, tauscht verständnisvolle Blicke
mit begegnenden Mädchen, hat ein Verhältnis mit der Dienstmagd,
bestellt sich zu jeder Reise eine Dame, die im gleichen Zuge mit-
fahren muss, empfängt Briefe von den Schulfreundinnen der Tochter.
Die Frau steht in der Nacht ohne genügenden Grund aus dem
Bette auf, stöhnt in eigen thümlicher Weise, schrickt bei der Heim-
kehr des Mannes zusammen, verliert einen Zettel mit höchst ver-
dächtigen Andeutungen.
Gewöhnlich sind alle diese Wahnvorstellungen ungemein ver-
änderlich; sie tauchen in einem Augenblicke auf, um im nächsten
von dem Kranken preisgegeben zu werden, aber ebenso rasch in
anderer Form wiederzukehren. Viele Kranke geben auf eindring-
liche Vorstellungen ohne weiteres zu, dass sie sich getäuscht haben
könnten, krank seien, aber sie kommen nicht zu einem wirklichen
Verständnisse für die Unsinnigkeit ihrer Vorstellungen; man findet
sie vielleicht schon nach einer halben Stunde in der grössten Er-
regung darüber, dass sie mit der Milch soeben ein schreckliches
Gift zu sich genommen hätten, unfehlbar sterben müssten, dass ein
Mann unter dem Bette gesteckt haben müsse, ein eigenthümliches
Gefühl am Herzen ihnen nunmehr den Tod ihrer Tochter
ganz bestimmt angezeigt habe. Auch jetzt genügen meist wieder
einige beruhigende Worte, um diese Befürchtungen in den Hinter-
grund zu drängen.
In einzelnen Fällen geht der Wahn mit Sinnestäuschungen
einher. Der Kranke wird bedroht, hört, wie fremde Personen sich
des Verkehrs mit seiner Frau rühmen, wie seine gemisshandelten
Kinder schreien, sieht Nachts eine dunkle Gestalt zur Thür hinaus
huschen, fühlt beim Hiuiiberlangen, dass Jemand neben der Frau
im Bette liegt. Merkwürdiger Weise sucht er nun den Schuldigen
nicht näher zu überführen; indessen auch wenn die sofortige Unter-
suchung kein Ergebniss liefert, ist er nur entrüstet über die Scham-
losigkeit und Schlauheit, mit der die eheliche Treue in seiner Gegen-
wart gebrochen wird.
Der Gedankengang der Kranken bleibt vollkommen geordnet.
Dagegen ist man immer wieder aufs neue erstaunt über die ausser-
ordentliche Schwäche des Urtheils, welche den Kranken die aben-
teuerlichsten Wahnvorstellungen bei voller Besonnenheit ohne weiteres
344
VIII. Das Irresein des Eückbildungsalters.
hinnehmen lässt. Ihm fehlt offenbar durchaus die Fähigkeit, deren
Unsinnigkeit wirklich klar einzusehen ; er lässt sich im Augenblicke
wol ohne Mühe überreden, aber nicht überzeugen. Das Gedächtniss
für frühere Zeiten zeigt keine Störung, doch schieben sich in die
Darstellung der wahnhaft verarbeiteten Erlebnisse leicht allerlei Zu-
sätze und Verdrehungen hinein.
Die Stimmung der Kranken ist in der ersten Zeit nieder-
geschlagen, ängstlich; nicht selten kommt es zu Selbstmordversuchen.
Späterhin tritt meist eine gewisse Erregung und Reizbarkeit hervor.
Die Kranken sprechen viel, beklagen sich mit grossem "Wort-
schwall, führen lärmende Auftritte herbei, gerathen in heftige W uth,
schimpfen, lassen sich aber meist leicht beruhigen, lachen und weinen
ohne Anlass. Oefters macht sich gehobenes Selbstgefühl bemerkbar.
An die Wahnvorstellungen schliessen sich vielfach allerlei un-
sinnige Handlungen. Manche Kranke laufen bei allen Aerzten
herum, lassen sich ungezählte Rathschläge geben, ohne einen einzigen
zu befolgen; andere hören zeitweise auf, zu essen, ziehen sich von
ihrer Umgebung zurück, zerstören plötzlich, was ihnen unter die
Finger kommt, werden gewaltthätig. Eine meiner Kranken hatte
ihr Dienstmädchen so vollständig von der Wirklichkeit ihrer Yer-
folgungsideen überzeugt, dass dieses mit ihr das Haus nach ein-
gedrungenen Mördern durchsuchte und den Nachbarn der Vertauschung
des Kronleuchters beschuldigte. Der Eifersuchtswahn führt zu
peinlicher Ueberwachung des Gatten. Das Dienstmädchen wird ihm
nachgesandt; aus dem Papierkorbe werden zerrissene Briefe wieder
zusammengestellt, um den Beweis der Schuld zu erbringen. Es
kommt zu unverständlichen Wuthausbrüchen gegen die vermeintlichen
Verführerinnen; eine Dame ging auf die Polizei, um ein ihr ver-
dächtiges Fräulein unter Sittencontrolle stellen zu lassen.
Im weiteren Verlaufe werden die Wahnvorstellungen immer
unsinniger. Frau und Kinder werden gemartert, das Schnellen am
Boden festgenagelt, am Gartenzaun aufgehängt. Die Frau geht jede
Nacht aus einer Hand in die andere; alle sprechen davon. Weib-
liche Kranke glauben, dass sich der Mann mit den eigenen Kindern,
ja mit anderen Männern abgiebt, die sie für verkleidete Frauen-
zimmer halten; sie merken es an den Empfindungen ihres eigenen
Körpers, wenn er sie mit anderen betrügt. Der hebe Gott verkündet
alles, spricht dem Kranken ins Ohr, liegt Nachts wie ein Schatten
Abgrenzung.
345
rechts neben ihm im Bett. Personen und Umgebung sind vertauscht;
der eigene Körper wird entstell ^beeinflusst. Manche Kranke verhalten
sich daher sehr ablehnend, verhüllen sich, sprechen zeitweise kein
Wort, um dann plötzlich wieder ganz freundlich und mittheilsam zu
werden. Die Wahnvorstellungen wechseln vielfach, treten wol auch
vorübergehend in den Hintergrund, wenn auch gewisse allgemeine
Grundzüge immer wiederzukehren pflegen. Trotz weit vorgeschrittenen
Schwachsinns werden aber die Kranken, soweit meine Erfahrung
reicht, nicht verwirrt. Heilungen oder auch nur weitgehende Besse-
rungen scheinen nicht vorzukommen.
Das hier versuchsweise abgegrenzte Krankheitsbild ist nicht
gerade häufig; ich habe in den letzten 10 Jahren höchstens etwa
ein Dutzend Fälle gesehen. Die Mehrzahl bildeten Frauen; bei
ihnen begann das Leiden regelmässig im 5. oder im Beginne des
6. Lebensjahrzehntes, während die Männer immer erst in den 50er
Jahren zu erkranken pflegen. Fast überall bestand erbliche Ver-
anlagung zum Irresein; sonstige greifbare Ursachen habe ich nicht
auffinden können.
Es liegt daher die Annahme nahe, dass wir es hier mit einer
vorzeitigen Alterserkrankung auf krankhaft vorbereitetem Boden zu
thun haben, um so mehr, als wir im eigentlich senilen Verfolgungs-
wahn ein Bild kennen, welches viele ähnliche Züge aufweist.
Ob es sich indessen um einen eigenartigen Krankheitsvorgang
handelt, wird erst weitere Erfahrung entscheiden müssen. Meist
werden wol diese Fälle zur Paranoia gerechnet. Sie unterscheiden
sich aber meiner Auffassung nach von jener Krankheit dadurch
ganz scharf, dass es hier nicht zu einer weiteren Verarbeitung
der Wahnvorstellungen kommt. Vielmehr machen die Kranken gar
keinen Versuch, die feindseligen Wahrnehmungen etwa auf eine be-
stimmte Quelle zurückzuführen. Die Verfolger bleiben ganz unbestimmt,
oder sie wechseln doch überaus häufig; selbst die beargwöhnten
Ehegatten werden nicht eigentlich als Feinde, sondern vielfach als
Verführte betrachtet. Auch ziehen die Kranken aus ihren auf-
tauchenden und wieder schwindenden Wahnvorstellungen keine weiteren
Schlussfolgerungen für ihr Handeln; abgesehen von gelegentlichen
Heftigkeitsausbrüchen behandeln sie die vermeintlichen Verfolger
gar nicht besonders feindselig, verkehren mit den untreuen Gatten
weiter, ja drängen sich ihnen auf, sind plötzlich gegen dieselben
346
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
Personen zugänglich und freundlich, die sie kurz vorher verdächtigt
und beschimpft haben. Vielfach bleiben sie auch trotz der Klagen über
alle möglichen Nachstellungen recht gern in der Anstalt, freuen sich
über den Schutz, den sie dort gemessen. Endlich aber sind die
Wahnvorstellungen durchaus nicht feststehend, sondern vielfachem
Wandel unterworfen, bisweilen sogar in ganz kurzen Zeiträumen.
Die Kranken gestehen oft überraschend bereitwillig und nicht blos.
um den Arzt zu täuschen, die Möglichkeit eines Irrthumes zu. Auch
ihre Erregungszustände scheinen weniger durch Ueberlegungen. als
durch gemiithliche Schwankungen bedingt zu sein.
Auf der anderen Seite könnte man geneigt sein, diese Formen
des Irreseins einfach der Dementia praecox zuzurecbnen, die zweifel-
los, wenn auch nicht häufig, noch in diesem Alter beobachtet wird.
Ich vermag diese Auffassung nicht bestimmt zu widerlegen, möchte
aber darauf hinweisen, dass die Kranken keine katatonischen Zeichen
darbieten. Ihr gelegentliches Widerstreben, ihre Stummheit, ihre
Nahrungsverweigerung, ihre Erregungen sind regelmässig durch
Wahnvorstellungen oder Stimmungen begründet, nicht einfach
zwangsmässig oder triebartig. Die Kranken werden auch nicht
rasch gemüthlich stumpf, sondern bleiben im Gegentheil erregbar:
die Urtheilsstörung überwiegt weit diejenige des Fühlens und
Handelns. Der Ausgang ist niemals tiefer Blödsinn oder Sprach-
verwirrtheit, sondern ein mässiger Schwachsinn mit einzelnen
wechselnden und zusammenhangslosen Wahnvorstellungen. Gegen-
über der Paralyse ist, abgesehen natürlich von den körperlichen
Zeichen und dem weiteren Verlaufe, auf den Mangel einer Gedächt-
nisschwäche trotz bedeutender Urtheilslosigkeit hinzuweisen.
Von einer eigentlichen Behandlung dieser Krankheitszustände
kann heute keine Rede sein. Manche Kranke bedürfen der Anstalts-
pflege, weil sie zu störend werden und ihre Umgebung in hohem
Grade beunruhigen; sie pflegen sich vielfach ohne besondere
Schwierigkeiten in die Freiheitsentziehung und die Tagesordnung
der Anstalt zu finden. Andere vermögen unter einigermassen
günstigen Verhältnissen auch ausserhalb der Anstalt zu leben, ohne
dass die tiefgreifende Störung allzu auffallend hervorträte.
347
C. Der AltersMüdsinn.*)
Schon bei Besprechung der allgemeinen Ursachen des Irre-
seins sind in grossen Umrissen die Wandlungen geschildert worden,
welche die psychische Persönlichkeit im Alter regelmässig zu erleiden
pflegt. In ihrer stärksten Ausprägung führen diese Veränderungen
zum Krankheitsbilde des Altersblödsinns. Der Grundzug desselben
ist eine allmählich fortschreitende, eigenartige Verblödung.
Die Auffassung äusserer Eindrücke geschieht nur noch in grossen
Umrissen. Feinheiten, kleinere Abweichungen werden nicht mehr
bemerkt, der Zusammenhang verwickelterer Erscheinungen nicht mehr
verstanden. Der Kranke verliert daher leicht die klare Orientirung
in den täglichen Vorkommnissen, findet sich nicht gut zurecht,
weiss im Gespräche nicht, wovon die Rede ist, überhört und über-
sieht wichtige Einzelheiten. Er wird schläfrig, denkfaul, benommen,
zeitweise verwirrt, verliert leicht den Faden.
Die Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit des Denkens ist
dahin; die schöpferische Thätigkeit versagt; der Kranke ist unfähig
geworden, seinen geistigen Standpunkt zu verändern, neue Ge-
sichtspunkte zu gewinnen. Das altgewohnte Spiel erstarrter Vor-
stellungsverbindungen erhält sich noch in stetem Kreisläufe, aber es
ist keiner weiteren Entwicklung mehr fähig, keiner Anregung von
aussen mehr zugänglich. Die gleichen Gedankenreihen kehren immer
wieder, flechten sich ohne Rücksicht auf das Ende überall ein, so-
bald sie einmal angeregt wurden. Die geistige Verarbeitung äusserer
Eindrücke, die Bildung von Urtheilen und Schlüssen, die kritische
Sichtung und Prüfung aufsteigender Vorstellungsreihen wird immer
ungenügender und unsicherer. Daraus erklärt sich der völlige
Mangel an Verständniss für fremde Anschauungen und Verhältnisse,
die Unbeugsamkeit seniler Vorurtheile und die geringe Widerstands-
fähigkeit gegenüber den hier sehr häufig sich einstellenden Wahn-
ideen. Meist pflegen sich diese letzteren im Rahmen übertriebener
*) Fürstner, Archiv f. Psychiatrie XX, 2; Nötzli, Ueber Dementia senüis,
Diss. Zürich, 1895; Alzheimer, Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologie,
1898, 101.
348
VIII. Das Irresein des Riickbildungsalters.
Krankheitsfurcht, unsinnigen Misstrauens oder kindischer Selbst-
überschätzung zu halten. Die Kranken haben keinen Stuhlgang
mehr, werden bestohlen, von den Franzosen todtgeschossen. Bis-
weilen tauchen Selbstmordgedanken auf. Dazu kommen vielfach
Sinnestäuschungen, namentlich Illusionen, aber auch einzelne Hallu-
cinationen. Die Kranken hören Engel, Leute, die ihnen den Hals
abschneiden wollen, sehen abenteuerliche Bilder, namentlich Nachts,
Landschaften, bunte Scenen, bekannte Persönlichkeiten. Wirkliche
Krankheitseinsicht besteht nicht, doch klagt der Kranke öfters, dass
er zu nichts mehr nütze sei, sich über nichts mehr freue, etwas im
Kopfe habe, dass es mit ihm aus und vorbei sei.
Sehr erheblich sind regelmässig die Störungen auf dem Gebiete
des Gedächtnisses. Zwar die Erinnerung an längst entschwundene
Tage haftet noch fest, ja einzelne Erlebnisse aus früher Kindheit
tauchen nicht selten mit erstaunlicher Lebhaftigkeit wieder auf, um
in weitschweifiger Breite immer von neuem vorgebracht zu werden.
Allein das Gedächtniss für die jüngste Vergangenheit beginnt immer
zahlreichere und unbegreiflichere Lücken aufzuweisen. Die Gegen-
wart geht fast spurlos, ohne zu haften, an dem Kranken vorüber;
sie ist ihm schon nach kurzer Zeit völlig entschwunden, weil sie
keinen Widerhall in seinem Innern findet. Er vergisst, was er
gestern, vorgestern gethan hat, erzählt im Laufe einer Unterhaltung
dieselben altbekannten Geschichten zum zweiten Male, ohne es zu
bemerken, verirrt sich in seiner neuen Wohnung, weiss sich auf die
Namen alter Bekannter nicht zu besinnen und verwechselt die
Personen seiner Umgebung. Ganz ähnlich wie in der Paralyse
können auch hier die wirklichen Erinnerungen nicht nur vielfache
unwillkürliche Abänderungen erfahren, sondern es können auch die
Lücken geradezu durch allerlei Erdichtungen ausgefüllt werden,
deren subjective Entstehung dem Kranken selbst nicht klar wird.
Halberlebtes und frei Erfundenes mischt sich derart zu höchst un-
zuverlässigen Erzählungen, dass der Wahrheitskern oft äusserst
schwierig oder gar nicht sich herausschälen lässt. Endlich kommt
es bei dem fortschreitenden Versagen des Gedächtnisses, dem kein
neuer Erwerb gegenübersteht, mehr und mehr zu einer Ver-
armung des Vorstellungsschatzes, deren Folge uns in der ausser-
ordentlichen Dürftigkeit und Einförmigkeit des Gedankeninhaltes
entgegentritt.
Krankheitsbild.
349
Auch im Gemüthsleben macht sich die Verödung geltend.
Der Kranke wird stumpf und theilnahmslos ; seine Empfänglichkeit
für die Leiden, aber auch für die Freuden des Daseins erlischt. In
den Vordergrund des Interesses tritt mehr und mehr das eigene
Ich und die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse und Launen.
Das körperliche "Wohlbefinden, das Essen und Trinken, die Ver-
dauung, der Schlaf, der Tabak gewinnen eine ganz besondere
Wichtigkeit. Verlust der nächsten Angehörigen und ähnliche Schick-
salsschläge gehen ohne nachhaltigen Eindruck vorüber. Die Familie,
der Beruf, seine Lieblingsbeschäftigung werden dem Kranken gleich-
gültig. Den Stimmungshintergrund bildet bald mürrische Unzu-
friedenheit, bald mehr kindische Fröhlichkeit und gehobenes
Selbstgefühl.
Dabei nimmt die augenblickliche Erregbarkeit häufig zu. Der
Kranke ist rücksichtslos, eigenwillig, rechthaberisch, fühlt sich durch
jeden Widerspruch gereizt und beleidigt. Dennoch sind die
Schwankungen der Stimmung oberflächlich und ohne Nachhaltigkeit;
weinselige Rührung, läppische Freude, klägliches Verzagen werden
durch die geringfügigsten Anlässe hervorgerufen, um ebenso rasch
wieder zu verschwinden. Der Geschlechtstrieb ist vielfach ge-
steigert und äussert sich in schamlosen Reden, stutzerhafter Kleidung,
zotigen Aufschneidereien, Heirathsplänen, aber auch in unzüchtigen
Handlungen, namentlich an Kindern, für deren strafrechtliche Be-
deutung dem geschwächten Verstände die klare Einsicht mangelt.
Im übrigen zeigt das äussere Verhalten der Kranken grosse
Verschiedenheiten. Viele bleiben immer ruhig, harmlos, zufrieden,
geben trotz ihrer wachsenden geistigen und gemüthlichen Stumpf-
heit zu keinerlei Störungen Anlass; sie werden ohne Schwierigkeit
in ihren Familien, in Pfründen und Siechenhäusern verpflegt. Bei
anderen dagegen entwickelt sich allmählich eine wachsende Un-
ruhe. Die Kranken jammern, klagen, nörgeln, zanken mit ihrer
Umgebung, schimpfen bei jeder Gelegenheit in den unflätliigsten
Ausdrücken, drohen oder werden sogar gewaltthätig. Andere be-
ginnen viel zu schwatzen, sich Ausschweifungen hinzugeben, zu
masturbiren, laufen zwecklos herum, verirren sich im Walde, machen
unsinnige Einkäufe und Pläne, sammeln allen möglichen Plunder
bei sich an und gerathen durch ihr unvernünftiges Treiben in
mannigfache Schwierigkeiten. Namentlich in der Nacht finden sie
350
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
keine Ruhe, sondern führen durch vielfaches Aufstehen, Herum-
wandern im Hause, Kramen in alten Scharteken, unvorsichtiges
Hantiren mit Licht allerlei Störungen und selbst ernste Gefahren
herbei. Am Tage sind die Kranken dann müde und schläfrig,
nicken mitten im Gespräche oder bei der Mahlzeit ein. Für ihre
körperliche Pflege sind sie nicht im Stande, selbst zu sorgen, ver-
kommen daher vielfach in Schmutz und Ungeziefer, wenn Niemand
sich ihrer annimmt.
Die körperlichen Begleiterscheinungen der Dementia
senilis sind ausser der unregelmässigen Störung des Schlafes ein sehr
beträchtlicher Rückgang des allgemeinen Kräftezustandes, gewöhn-
lich auch eine Abnahme der Esslust. Die abgemagerten Kranken
sehen mit ihren gerunzelten Zügen und der fahlen Gesichtsfarbe
meist noch älter aus, als sie wirklich sind; ihre Muskulatur ist
schwach ; die Körperkräfte sind gering. Der ergraute, spärliche Haar-
Schriftprobe X.
wuchs, der Greisenbogen an der Hornhaut, die Linsentrübungen, die
Schwerhörigkeit, die Schwerfälligkeit der Bewegungen, das Zittern
sind als Zeichen des Greisenalters auch bei unseren Kranken häufig.
Die besonderen Eigentümlichkeiten der letztgenannten Erscheinung
im Gegensätze zu dem Zittern der Paralytiker und der Trinker, die
grosse Regelmässigkeit und Ausgiebigkeit der einzelnen Bewegungen,
lässt die beigegebene Schriftprobe deutlich erkennen. Dazu können
sich eine Reihe von Erscheinungen gesellen, welche auf leichtere
oder tiefere Veränderungen in der Hirnernährung hindeuten, Kopf-
schmerzen, Schwindelanfälle mit vorübergehenden oder andauernden
aphasischen Erscheinungen, ferner Hemianaesthesie, Hemianopsie,
Ptosis, Hemiparesen des Gesichtes, der Zunge, der Extremitäten;
auch die Gefahr wirklicher Apoplexien und Hemiplegien liegt hier
überall ausserordentlich nahe. Die Pupillen sind nicht selten eDg,
ungleich, reagiren träge, in einzelnen Fällen gar nicht; die Reflexe
sind gesteigert, seltener geschwunden; die Sprache ist undeutlich.
Senile Verwirrtheit.
351
Vielfach bestehen neuritische Störungen, bisweilen Pruritus senilis.
An den geschlängelten, starren Arterien, an dem harten, aber
kleinen und verlangsamten, nicht selten unregelmässigen Pulse
lassen sich oft schon im Leben die Zeichen der arteriosklerotischen
Veränderungen erkennen, welchen wir wol nicht mit Unrecht
die wichtigste Rolle in der Entstehungsgeschichte der Dementia
senilis zuschreiben dürfen.
Die höchsten Grade des Altersblödsinns bezeichnen wir als
senile Verwirrtheit. In diesen Zuständen geht das Verständniss
der Lebensereignisse und die Orientirung allmählich ganz verloren.
Die Kranken fassen wol noch Anreden auf, geben auch sinngemässe
Antworten, haben aber keine Ahnung mehr davon, wo sie sich be-
finden, reden die Personen ihrer Umgebung wahllos mit den Namen
längst verstorbener Jugendbekannter an, kennen ihre eigenen An-
gehörigen nicht mehr, wissen nicht, wie alt sie sind, wie viel Kinder
sie haben, entschuldigen sich mit ihrer Vergesslichkeit. Meist sind
sie ungemein ablenkbar, vermögen keinen Gedanken festzuhalten.
Der Vorstellungskreis ist stark eingeengt; die gleichen, oft ganz
sinnlosen Wendungen werden immer wieder vorgebracht. Auch
sinnlose, eigen thiimlich rhythmische, halb singende Wiederholung
einzelner Wörter oder Silben wird beobachtet. Bisweilen bemerkt
man in dem Fehlen der Hauptwörter und in der eigenthümlichen
Unbestimmtheit der Reden die Spuren aphasischer Störungen. Ein
Beispiel dafür giebt die folgende Nachschrift:
„0 Gott, wie ich dann herein gekommen hin in die Stube, wo die vielen
sind, wie sie da auch sind in der Stube, da haben sie gekrischen und da haben
sie mir mein Sach ausgezogen. Und da ist er heraus und die haben es zugemacht
und haben mich hier dabei gelassen und die auch, wo da so kreischen, und da
haben sie mich in die Stube daneben hinein und da — ach Gott ich bin ganz
verwälscht — es ist mir nicht ganz klar — mein Kopf — ich bin doch recht
gescheidt.“
Vielfach entwickeln sich ganz abenteuerliche, wechselnde Wahn-
bildungen, Verfolgungs- oder Grössenideen. Hier bestehen fliessende
Uebergänge zu den früher besprochenen Spätformen der Melancholie,
deren unsinnigen hypochondrischen und nihilistischen Vorstellungen
wir wieder begegnen. Der Kranke kann nichts mehr reden, nichts
essen, ist todt, wird bestohlen, soll geschlachtet werden; man will
ihn prügeln, ihm den Zwangskittel anziehen, den Bauch auf-
schneiden, die Därme herausnehmen: „die Wärter freuen sich schon
352
VIII. Das Irreaeiu des Rückbildungsalters.
darauf.“ Der Arzt ist ein Mörder, wird ihn vergiften; die Frau
hält es mit anderen Männern; er muss die Leiden des Heilands
durchmachen. Kleider, Geld, Kaffee ist für ihn angekommen;
er besitzt Millionen, ist von Adel; Gott gehorcht ihm auf den
leisesten Wink.
Ganz besonders ausgebildet pflegt die Neigung zum Fabuliren
zu sein. Der Kranke erzählt von allen möglichen wahnhaft er-
fundenen Erlebnissen, dass er einen Brief erhalten, Besuch gehabt,
einen Spaziergang gemacht habe. Er hat Kartoffeln herausgenommen,
kommt soeben aus dem Stall. Gestern hat er beim Kaiser gespeist,
im Kriege ein ganzes Regiment eigenhändig umgebracht, fabelhafte
Reisen unternommen und Abenteuer erlebt, deren Einzelheiten sich
durch Gegenfragen leicht beeinflussen lassen. Bei diesen Erzäh-
lungen lässt sich öfters ein gewisses Gefühl der Unsicherheit fest-
stellen; der Kranke verbessert sich, nimmt auf eindringlichen Vor-
halt seine Aussagen zurück, meint, er sei ganz irre, nicht richtig
im Kopf. Vielfach leben die Kranken wie in einer Traumwelt, weit
zurück in der Kindheit, verkehren mit Eltern und Grosseitem,
halten sich für 20 Jahre alt, faseln von ihrer Hochzeit, glauben,
die Menses zu haben, wähnen sich bei einer eingebildeten Be-
schäftigung. Einzelne Sinnestäuschungen, besonders des Gesichts,
sind nicht selten.
Die Stimmung ist bald niedergeschlagen, ängstlich, verzagt,
bald reizbar, unwirsch, bald entwickelt sich eine läppische Heiterkeit,
die allerdings oft unvermittelt in weinerliche Angst umschlägt Die
Kranken jammern und schimpfen, kratzen, schlagen zu, sind eigen-
sinnig und widerspenstig, machen plötzliche Selbstmordversuche; sie
tänzeln mit freundlich-blödem Lächeln herum, springen ausgelassen
durchs Zimmer, werfen Kusshände. Oft sind sie sehr unruhig,
ganz besonders des Nachts, gehen aus dem Bette, wollen fort,
wühlen ihre Bettstücke durcheinander, packen alles zusammen,
um abzureisen, zerstören, schmieren, kriechen und wischen am
Boden herum, entkleiden sich am Tage, weil sie meinen, es
sei Schlafenszeit. Sie werden hülflos und unrein; der Schlaf ist
stets sehr gestört, die Nahrungsaufnahme bald gierig, bald ganz un-
genügend. —
Auf der Grundlage des Altersschwachsinns können sich eine
Reihe von Krankheitsbildern entwickeln, in deren klinischer Ge-
Klinische Formen.
353
staltung mehr oder weniger deutlich der Einfluss der allgemeinen
psychischen Rückbildung zum Ausdrucke kommt. Wir sehen dabei
ganz ab von denjenigen Störungen, die in jedem und somit auch in
hohem Alter eintreten können, wenn auch eine gewisse Färbung
derselben durch die Greisenveränderungen sich häufig genug be-
obachten lässt.
Die überwiegende Mehrzahl der Geistesstörungen des Greisen-
alters sind Depressionszustände, deren senile Gestaltungen wir
bereits in dem Abschnitte über Melancholie eingehender geschildert
haben. Erheblich seltener sind manische Erregungszustände, entweder
in der leichteren Form der Hypomanie oder mit starker ideen-
flüchtiger Verwirrtheit, Wahnbildungen und Sinnestäuschungen. Da
solche Erregungen sich meist mehrmals wiederholen, öfters auch mit
deutlichen Depressionen abwechseln, so halte ich es für wahrschein-
lich, dass wir es hier einfach mit Spätformen des manisch-depressiven
Irreseins zu thun haben. Im Klimakterium gehört die Entwicklung
zweifellos circulärer Geistesstörungen nicht gerade zu den Selten-
heiten, aber auch noch erheblich später habe ich einzelne ganz
sichere derartige Fälle beobachtet.
Etwas anders liegt die Sache, wie mir scheint, mit den deli-
riösen Erkrankungen des Greisenalters; hier dürften wir wahrschein-
licher eigenartige Aeusserungen der senilen Hirnveränderungen vor
uns haben. Es handelt sich um plötzlich sich entwickelnde und
rasch verlaufende verwirrte Aufregungszustände mit lebhaften Sinnes-
täuschungen. Regelmässig sind schon einzelne Zeichen des be-
ginnenden Altersblödsinns einige Zeit voraufgegangen. Den äusseren
Anstoss zum Ausbruche des Deliriums giebt eine acute Erkrankung,
ein Fall, eine gemüthliche Aufregung; bisweilen schliesst es sich
an einen Schlaganfall an; öfters ist auch gar kein Anlass auf-
findbar.
Die Kranken werden unter starker Trübung des Bewusstseins
rasch völlig verwirrt, sind nicht zu fixiren, halluciniren und ge-
rathen in eine äusserst hochgradige Erregung hinein, welche binnen
kurzem für sie verhängnisvoll werden kann. Aus ihren kaum ver-
ständlichen Reden entnimmt man, dass sie sich vergiftet, verhext
glauben, dass der Teufel vor der Thüre steht, Leute mit Beilen,
Pistolen und Messern hereindringen, dass ein Schaffot gezimmert
wird. Sie sind in der Unterwelt, von feindlichen Mächten um-
Kraepelin. Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 23
354
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
geben, sehen das Gnadenlicht nicht mehr; die Polizei ist da;
die Welt geht unter. Sie erblicken Gestalten an der Decke, hören
Stimmen, Singen, drohende Zurufe, geschlechtliche Vorwürfe; es
wird Sand in das Zimmer geworfen. Die Umgebung wird voll-
ständig verkannt.
Die Stimmung ist meist ängstlich oder gereizt, vorübergehend
aber auch heiter und vergnügt oder theilnahmlos, brütend. Die
sprachlichen Aeusserungen sind ganz zusammenhangslos, weitschweifig,
ideenflüchtig, beschränken sich oft auf abgerissene, kaum verständ-
liche Worte oder die eintönige Wiederholung einzelner sinnloser
Silben; dabei besteht meist ausgeprägter Rededrang. Hie und da
wird Echolalie beobachtet. Die Kranken sind unruhig, nahezu
schlaflos, drängen fort, rütteln an den Thüren, schlagen die Fenster
entzwei, schreien laut, rufen um Hülfe, schimpfen und drohen; sie
verkriechen sich, rutschen am Boden herum, zerreissen, wischen,
schmieren, wälzen und rollen sich, beissen, knirschen mit den Zähnen,
widerstreben sinnlos, verweigern die Nahrung. Bei den Dunkelzimmer-
delirien nach Kataraktoperationen, die vielleicht auch zum Theil
hierher gehören, pflegt die motorische Erregung nicht so stürmisch
zu sein; dagegen treten Täuschungen des Gesichts wie des Gehörs
stärker in den Vordergrund.
Der Verlauf dieser Formen, welche eine grosse Aehnlichkeit
mit dem Collapsdelirium und mit paralytischen Delirien darbieten
können, zeigt fast regelmässig Schwankungen, plötzliche Nachlässe
mit mehr oder weniger vollständiger Rückkehr der Besonnenheit
Bisweilen setzt kurze Zeit nachher das Delirium wieder ein, oder
aber die Erregung geht in einen Zustand von weinerlich-ängstlicher
Schwäche über, der sich einigermassen allmählich wieder verlieren,
aber auch ein bleibender sein kann. Im ungünstigsten Falle
steigert sich die Erregung rasch zu sehr hohen Gradeu; es
kommt zu Flockenlesen und Fädenspinnen, zu äusserstem Verfalle
der Kräfte und zu tödtlichem Zusammenbruche in Folge von Er-
schöpfung, Schluckpneumonien oder zufälligen Erkrankungen und
Verletzungen.
Eine eigenartige Erscheinungsform des Altersblödsinns bildet
schliesslich noch der senile Verfolgungswahn, der dem ent-
sprechenden Krankheitsbilde der früheren Lebensalter in vieler Be-
ziehung ähnlich ist und wol ohne scharfe Grenze in denselben über-
Ursachen.
355
geht. Auch diese Form entwickelt sich ganz allmählich, indem die
Kranken verschlossen, reizbar, misstrauisch werden, sich zurückziehen
und der Umgebung feindlich gegenüber stellen. Nach und nach
wird es deutlich, dass sie von Wahnvorstellungen beherrscht sind.
Sie glauben sich bestohlen, von den Nachbarn verhöhnt, geschmäht,
entdecken Gift in ihren Speisen ; Gebrauchsgegenstände werden ihnen
verdorben und vertauscht. Meist sind diese Wahnvorstellungen
ziemlich dürftig, verworren und zusammenhangslos, werden nicht
weiter ausgebildet, können aber längere Zeit unverändert bleiben.
Oefters bestehen einzelne Sinnestäuschungen („Du musst ver-
recken“), namentlich bei schwerhörigen Kranken. Sie hören Schimpf-
worte, Drohungen, fühlen, dass sie elektrisirt, mit Glassplittern be-
schossen, mit Säuren bespritzt, mit Dampfausströmungen gequält
werden, dass man ihnen künstlich den Stuhlgang zurückhält, Pferde-
staub in den Hals bläst. Die Besonnenheit und Orientirung der
Kranken bleibt vollkommen erhalten. Dagegen verkennen sie leicht
die Personen ihrer Umgebung, bringen fabulirende Erzählungen
über dieselben vor, verflechten sie in ihre Wahnbildungen. Die
Stimmung ist im allgemeinen gleichmüthig, hie und da gereizt,
bisweilen selbstbewusst und hochfahrend. Die Kranken benehmen
sich geordnet, beschäftigen sich, sind leicht lenkbar, nur zeitweise
erregter.
Die Entwicklung des Altersblödsinns beginnt meist erst
zwischen dem 65. und 75. Lebensjahre, doch kann sich bei ein-
zelnen schon ursprünglich schwach veranlagten oder durch auf-
reibende Lebenserfahrungen und schwere Ueberarbeitung „ver-
brauchten“ Menschen auch bereits erheblich früher, selbst schon
gegen Ende des fünften Lebensjahrzehntes, ein vorzeitiges Greisen-
thum (Senium praecox) einstellen. Bei dem stärker durch Arbeit
und Ausschweifungen gefährdeten Manne scheint der Eintritt des
gewöhnlichen Altersblödsinns im allgemeinen etwas früher zu er-
folgen als beim weiblichen Geschlechte. Die Erblichkeit spielt hier
anscheinend keine grosse Rolle; nur bei wenig mehr als der
Hälfte der Fälle mit bekannter Vorgeschichte fand ich Geistes-
störung in der Familie. Fast ausschliesslich handelte es sich um
kranke Geschwister, wol auch um altersblödsinnige Eltern; der
Verdacht unvollkommener Nachrichten über die Schicksale der Vor-
fahren erscheint daher sehr begründet. Einzelne der Kranken waren
23*
356
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
von jeher schwach im Kopf. Sehr vielfach hört man, dass sich die
ersten Zeichen der Verblödung nach äusseren Schädigungen, nach
einer Kopfverletzung, einer fieberhaften Krankheit, besonders
Influenza, Bronchialkatarrh, nach einer heftigen Gemüthsbewegung
gezeigt haben.
Der Leichenbefund*) zeigt uns in schwereren Fällen des Alters-
blödsinns makroskopisch wie mikroskopisch deutliche Atrophie der
Nervensubstanz. Das Hirngewicht ist verringert, nach Forel’s
"Wägungen im Mittel um 200 gr; das Volumen hat abgenommen
(compensatorische Schädelverdickungen und hvdropische Serum-
ansammlungen); die Rinde der gesammten Hirnwindungen ist gleich-
mässig verschmälert. Die Ganglienzellen erscheinen in verschiedenem
Grade atrophisch, vielfach sehr stark pigmentirt; dazu können sich
alle die acuteren Veränderungen gesellen, die wir schon bei der
Paralyse als Ausdruck allgemeiner Erkrankungen der Nervenzellen
kennen gelernt haben. Auch von den markhaltigen Nervenfasern
geht in den Tangential- wie in den Radiärbahnen ein mehr oder
weniger grosser Theil zu Grunde.
Die Figur 1 der Tafel IX zeigt die Rinde einer an Altersblöd-
sinn erkrankten Frau. Man erkennt leicht die grossen Lücken, die
durch den Ausfall zahlreicher Nervenzellen entstanden sind. Auch
die noch vorhandenen Zellen erscheinen ausnahmslos erheblich er-
krankt. Ausser den Spuren einer langsam verlaufenden Sklerose
zeigen sie die beginnende Auflösung durch acute Zellveränderungen.
Dagegen hat der allgemeine Aufbau der Rinde, im Gegensätze zur
Paralyse, nicht gelitten; eine ungleichmässige Schrumpfung ist nicht
wahrzunehmen. Vielfach finden sich capilläre Blutungen und
Blutaustritte in die adventitiellen Lymphscheiden der Gefässe, die
ihrerseits in weitem Umfange atheromatös entartet sind. Ausserdem
trifft man gelegentlich auf Erweichungsherde und Blutungen in Rinde
und Marklager, in deren Umgebung das Hirngewebe in höherem
oder geringerem Grade zu Grunde gegangen ist. Die Neuroglia er-
scheint stark gewuchert; ihre Kerne sind vermehrt Die zarten
Hirnhäute sind getrübt und verdickt; auch pachymeningitische Er-
krankungen, namentlich Hämatome, sind verhältnissmässig häufig.
Im Rückenmarke und an den peripheren Nerven lässt sich ebenfalls
*) Campbell, Journal of mental Science, 1894, 638.
Abgrenzung; Behcindlung.
357
der Untergang zahlreicher Nervenfasern sowie Wucherung des Stütz-
gewebes und Verdickung der Gefässe nachweisen. Auch im Bereiche
des übrigen Körpers finden wir ausgedehnte arteriosklerotische Ver-
änderungen an den grossen und kleinen Gefässen mit deren
Folgezuständen, Erkrankungen der Aorta, des Herzmuskels, der
Nieren.
Der unmerkliche Uebergang der ausgeprägten Formen des Alters-
blödsinns in die gewöhnlichen psychischen Veränderungen der Greise
macht eine scharfe Abgrenzung derselben von der Gesundheits-
breite unmöglich. Bis zu einem gewissen Grade ist daher die
Kennzeichnung des Krankhaften hier vollkommen willkürlich, wenn
auch das Auftreten von Wahnideen und stärkeren Erregungszuständen
natürlich an der Ueberschreitung der gesunden Grenzen keinen
Zweifel mehr zulässt. Andererseits gehen die senilen Geistesstörungen
auch ganz allmählich in diejenigen der Btickbildungsjahre über, in
denen sich ja gewissermassen die Einleitung des Greisenalters voll-
zieht. Bei den Depressionszuständen kündigt sich, wie schon er-
wähnt, die geistige Schwäche des Alters durch das Auftreten
hypochondrischer, nihilistischer oder anderer unsinniger Wahn-
bildungen sowie durch das Missverhältnis zwischen Verstandes-
störung und Stärke der gemiithlichen Erregung an. Der Abgrenzung
von der Paralyse ist bei Besprechung jener Krankheit bereits ein-
gehend gedacht worden. Die senilen Delirien werden sich zur Zeit
klinisch, soweit ich sehe, wesentlich nur durch die einleitenden oder
begleitenden Erscheinungen des Altersblödsinns von anderen ähn-
lichen Formen unterscheiden lassen, mit denen sie vielleicht inner-
lich eine gewisse Verwandtschaft haben. Der senile Verfolgungs-
wahn geht in den praesenilen Beeinträchtigungswahn unmerklich
über. Immerhin ist vielleicht neben den sonstigen Zeichen stärkerer
Verblödung auf die dürftigere Ausbildung und die Verworrenheit
der Wahnvorstellungen wie auf das Fehlen tieferer gemüthlicher Er-
regung hinzuweisen. Gegenüber der Paranoia ist ebenfalls die
starke geistige Schwäche, die Gleichgültigkeit der Kranken, die ge-
ringe Folgerichtigkeit in der geistigen Verarbeitung des Wahnes und
endlich der Mangel an Zusammenhang zu beachten.
Die Behandlung der Krankheit hat naturgemäss meist nur
einen sehr engen Spielraum. Sorgsame körperliche Pflege und Ueber-
wachung der oft gebrechlichen und schlecht genährten Kranken, ge-
358
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
legentliche Bekämpfung der Schlaflosigkeit durch Trional oder Sulfonal,
der Angst durch vorsichtige Darreichung von Morphium oder Opium,
zuweilen auch passend durch geistige Getränke (abendliches Bier)
und Regelung der Lebensweise ist so ziemlich alles, was geschehen
kann. In den deliriösen Aufregungszuständen ist häufiger die An-
wendung des Polsterbettes, verlängerter Bäder sowie die Sonden-
fütterung (mit Alkohol oder Paraldehyd) notwendig. Andererseits
ist bei den ruhigen Schwachsinnsformen sehr häufig die Anstalts-
behandlung unnöthig und unter günstigen häuslichen Verhältnissen
durch die Verpflegung in der Familie oder in einer Pfründe voll-
ständig zu ersetzen.
IX. Das manisch-depressive Irresein*).
Das manisch-depressive Irresein, wie es in diesem Abschnitte
geschildert werden soll, umfasst einerseits das ganze Gebiet des so-
genannten periodischen und circularen Irreseins, andererseits
die meist noch davon unterschiedene einfache Manie. Im Laufe
der Jahre habe ich mich mehr und mehr davon überzeugt, dass alle
die genannten Bilder nur Erscheinungsformen eines einzigen Krank-
heitsvorganges darstellen. Möglich ist es freilich, dass sich späterhin
eine Reihe von Unterformen bilden oder auch einzelne kleine
Gruppen wieder ganz abspalten werden; wenn das aber geschieht,
so werden dabei nach meiner Ansicht ganz gewiss nicht diejenigen
Zeichen massgebend sein dürfen, die man zur Zeit überall in den
Vordergrund zu stellen pflegt. Was mich zu dieser Stellung in der
Frage veranlasst, ist die Erfahrung, dass in allen angeführten
Krankheitsbildern trotz vielfacher äusserlicher Verschiedenheiten
doch gewisse Grundzüge immer in gleicher Weise wiederkehren.
Kennt man diese, so wird man, abgesehen von gewissen praktischen
Schwierigkeiten, stets im Stande sein, aus ihnen die Zugehörigkeit
des einzelnen Zustandsbildes zu dem grossen Formenkreise des
manisch-depressiven Irreseins zu erschliessen und damit eine Reihe
von Anhaltspunkten für die besondere klinische und prognostische
Bedeutung des Falles zu gewinnen. Auf der anderen Seite ist es,
so viel ich sehe, gänzlich unmöglich, irgend welche bestimmten
Grenzen zwischen den einzelnen bisher auseinander gehaltenen
*) Kirn, Die periodischen Psychosen. 1878; Mendel, Die Manie, eine
Monographie. 1881; Emmerich, Schmidt’s Jahrbücher CXC, 2; Pick, Circu-
lares Irresein, Eulenburg’s Realencyclopädie , 2. Auflage; Hoche, Ueber die
leichteren Formen des periodischen Irreseins. 1897; Hecker, Zeitschrift für
praktische Aerzte, 1898, 1.
360
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Krankheitsbildern aufzufinden. Von der „einfachen“ Manie führen
die zahlreichen Beobachtungen mit 2, 3, 4 Anfällen im Leben ganz
unmerklich zur periodischen Form hinüber, und von dieser gelangen
wir zum circulären Irresein durch jene Fälle, in denen immer deut-
lichere depressive Vor- oder Nachstadien das reine Bild der Manie
allmählich trüben, oder in denen die lange Reihe der manischen
Anfälle unvermuthet einmal durch einen Depressionszustand unter-
brochen wird.
Es giebt keinen Irrenarzt, und kann nach meiner Ueberzeugung
keinen geben, der im Stande wäre, aus dem Zustandsbilde allein zu
erkennen, ob ein gegebener Krankheitsfall als einfache, als periodische
Manie oder als circulares Irresein aufzufassen ist. So verschieden-
artig sich auch das Bild der Erregung oder Verstimmung an sich
gestalten kann — für die besondere klinische Deutung des Falles
erfahren wir daraus ebenso wenig, wie wir etwa die verschiedenen
Gestaltungen der paralytischen Erregung imd Depression zu Schlüssen
über den muthmasslichen weiteren Verlauf verwerthen können, ab-
gesehen natürlich in beiden Fällen von gewissen allgemeinen statisti-
schen Regeln, die im einzelnen Falle sehr trügerisch sein und daher
niemals zur Abgrenzung wirklicher Krankheiten dienen können.
Dazu kommt, dass wir in einem und demselben Krankheitsverlaufe
gar nicht selten die verschiedensten Zustandsbilder nach einander
auftreten sehen. Alle die mannigfachen Erscheinungsformen der
manischen Erregung können einander ablösen in demselben wie in
verschiedenen Anfällen, bei einfacher wie bei periodischer Manie
und beim circulären Irresein. Sie erscheinen daher als Aequi-
valente, als Ausdruck ganz nahe verwandter und ohne weiteres in
einander übergehender Grundzustände. Aehnlich wie wir in den
äusserlich so mannigfaltigen Zustandsbildern des epileptischen Irre-
seins, der Dementia praecox, der Paralyse doch immer wieder den
bestimmten zu Grunde liegenden Krankheitsvorgang erkennen, wie
sich dort bei demselben Kranken alle jene Bilder nach einander
entwickeln können, so giebt es auch für das manisch-depressive
Irresein einen ganz bestimmten Kreis von klinischen Erscheinungs-
formen, die mit einander abwechseln, ohne dass wir berechtigt
wären, die so entstehenden zahllosen Spielarten des Krankheitsbildes
auf wesentlich verschiedene Grundvorgänge zurückzuführen. Dagegen
sind wir durchaus in der Lage, auch jedes kleinste Bruchstück eines
Allgemeine Krankheitszeichen.
361
hierher gehörigen Krankheitsverlaufes ohne weiteres in den grossen
Rahmen des manisch-depressiven Irreseins einzuordnen; zu den
übrigen Gruppen von Geistesstörungen, abgesehen etwa vom Ent-
artungsirresein, führen keine Brücken hinüber. Aus allen diesen
Gründen sehe ich mich veranlasst, den klinischen Formenkreis des
manisch-depressiven Irreseins als eine Einheit aufzufassen und die
einzelnen Zustandsbilder und Verlaufsarten als Sondergestaltungen
des einen gemeinsamen Krankheitsvorganges darzustellen.
Das manisch-depressive Irresein verläuft, wie schon sein Name
andeutet, in einzelnen Anfällen, die entweder die Zeichen einer so-
genannten manischen Erregung, Ideenflucht, gehobene Stimmung
und Beschäftigungsdrang, oder diejenigen einer eigenartigen psy-
chischen Depression mit psychomotorischer Hemmung
oder endlich eine Mischung beider Zustände darbieten.
Die Auffassung und das Verständniss äusserer Eindrücke zeigt
gewöhnlich eine mehr oder weniger schwere Beeinträchtigung; nur
in den ganz leichten Formen scheint diese Störung bisweilen zu
fehlen. In den Erregungszuständen spielt dabei eine wesentliche Rolle
die ausserordentliche Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit.
Den Kranken geht die Fähigkeit zur Answahl und Ordnung der
Eindrücke verloren; jeder auffallende Sinnesreiz drängt sich ihnen
mit einer gewissen Gewalt auf, so dass sie sich ihm sofort zu-
zuwenden pflegen. Wenn man daher auch meist im Stande ist,
ihre Aufmerksamkeit durch Vorzeigen von Gegenständen, Zurufen
von Worten rasch anzuziehen, so schweift dieselbe doch ungemein
leicht wieder auf irgend einen neuen Reiz ab. Das Bild der Um-
gebung bleibt darum für den Kranken auch dann unzusammen-
hängend und lückenhaft, wenn eine schwerere Beeinträchtigung
des Wahrnehmungsvorganges an sich gar nicht vorhanden ist. Es
muss indessen als sehr wahrscheinlich betrachtet werden, dass die
centrale Erregbarkeit für äussere Eindrücke bei diesen Kranken
meistens bis zu einem gewissen Grade herabgesetzt ist. Dafür
spricht namentlich die ganz auffallende Unempfindlichkeit der
Kranken gegen Hitze und Kälte, Hunger und Durst, Schmerzen
und Verletzungen. Sie setzen sich stundenlang dem glühendsten
Sonnenbrände aus, entkleiden sich bei Wintertemperatur, vergessen
Essen und Trinken, reissen schonungslos die Verbände von ihren
Wunden und misshandeln ihre kranken Körpertheile oder ge-
362 IX. Das manisch-depressive Irresein.
brochenen Glieder, ohne auch nur ein Zeichen des Unbehagens zu
äussem.
In den Depressionszuständen kann die Auffassung sehr hochgradig
gestört sein. Einerseits ist auch hier die Ablenkbarkeit nicht selten
erhöht, so dass die Kranken sich neuen kräftigen Reizen sofort
widerstandslos zuwenden. Noch stärker aber pflegt die Unfähigkeit
hervorzutreten, die Eindrücke geistig zu verarbeiten, zu begreifen.
Wir sehen daher die Kranken unter Umständen ganz verständnislos
der Aussen weit gegenüber stehen, auch wenn die sinnliche Wahr-
nehmung an sich noch leidlich gut von Statten geht.
Das Bewusstsein der Kranken ist bei den schwereren Formen
des Leidens regelmässig etwas getrübt. Auf der Höhe der Erregung
werden Eindrücke und Vorstellungen unklar und verschwommen.
In Folge dessen leidet die Klarheit der Orientirung. Die Kranken
wissen nicht recht, wo sie sich befinden, verkennen die Personen,
begriissen Aerzte oder Mitkranke mit den Namen von Angehörigen
oder Nachbarn. Diese Verkennungen knüpfen sich bisweilen an
entfernte Aehnlichkeiten an; in anderen Fällen aber erscheinen
sie mehr als ein scherzhaftes Spiel, in dem der Kranke sich
gefällt, halb und halb der Willkiirlichkeit seiner Bezeichnung sich
bewusst. Das tritt namentlich bei Abnahme der Erregung hervor, wenn
die falschen Bezeichnungen noch festgehalten werden, -während aus
dem sonstigen Benehmen und gelegentlichen Aeusserungen des
Kranken hervorgeht, dass er über Aufenthaltsort und Personen seiner
Umgebung völlig im klaren ist. Am stärksten pflegt die Bewusstseins-
trübung in den Depressionszuständen, besonders im Stupor zu sein.
Hier kann sich der Kranke bisweilen viele Monate lang in geradezu
traumhafter Benommenheit befinden und die abenteuerlichsten, ver-
worrensten deliriösen Schicksale durchleben.
Vielfach und in den verschiedensten Zuständen beobachtet man
einzelne Sinnestäuschungen, wenn sie auch nicht gerade häufig
sehr in den Vordergrund treten. Meist handelt es sich um illusionäre
Vorgänge, wie sie durch die Unvollkommenheit und Flüchtigkeit
der Wahrnehmungen besonders begünstigt wt erden, aber auch wirk-
liche Hallucinationen kommen öfters vor, namentlich in den de-
pressiven und stuporösen Zuständen. Ebenso sind Wahnbild ungen
keineswegs selten. In der Erregung pflegen dieselben vielfach zu
wechseln und in der Form von scherzhaften Aufschneidereien und
Allgemeine Krankheitszeichen.
363
Uebertreibungen aufzutreten, doch werden bei grösserer Besonnen-
heit auch lange festgehaltene und ausgesponnene Wahnvorstellungen
beobachtet, Grössenideen wie Verfolgungswahn, Eifersuchtswahn,
Vergiftungsfurcht. In den Depressionszuständen tauchen vor allem
Versündigungs- und Verfolgungsideen, ferner hypochondrische Vor-
stellungen auf. Alle diese Wahnbildungen können unter Umständen
ungemein abenteuerliche Formen annehmen, so dass sie bisweilen
an diejenigen bei der Paralyse oder beim Altersblödsinn erinnern,
einer von den vielen Beweisen dafür, dass der Inhalt der Wahnideen
ebenso wenig wie ihr Vorkommen überhaupt irgend welche zuver-
lässigen Schlüsse auf die Art eines Krankheitsvorganges zulässt
Ein gewisses Verständniss für die durch die Krankheit erzeugte
Veränderung ist recht häufig vorhanden, doch wird in der Regel
die Erregung wie die traurige Verstimmung nicht auf eine Er-
krankung, sondern auf äussere oder innere Ursachen zurückgeführt,
Lebensschicksale, ungeeignete Behandlung, Verfehlungen.
Sehr wichtige und ausgeprägte Störungen bietet regelmässig der
Vorstellungsverlauf unserer Kranken dar. In den Erregungs-
zuständen vermögen sie nicht, einen bestimmten Gedankengang
planmässig zu verfolgen, sondern sie springen immerfort von einer
Vorstellungsreihe auf eine ganz andere über, um auch diese sofort
wieder fallen zu lassen. Eine beliebige Frage wird zunächst viel-
leicht ganz richtig beantwortet, aber es knüpfen sich daran eine
Menge von Nebenbemerkungen, die nur in sehr lockerem oder bald
in gar keinem Zusammenhänge mehr mit dem Ausgangspunkte
stehen. In Folge dieser fortwährenden Einschiebsel und Zwischen-
fälle sind die Kranken ganz ausser Stande, etwa allein irgend ein
verwickelteres Erlebniss zu erzählen, wenn man sie nicht durch
stete Unterbrechungen und Zwischenfragen immer von neuem auf
den angefangenen Weg zurückführt. Der Vorstellungsverlauf wird
somit nicht mehr, wie beim Gesunden, durch eine Gesammtvorstellung
beherrscht, welche zur Zeit nur eine bestimmte Richtung der Ge-
dankenverknüpfung zulässt und alle nebensächlichen und zufälligen
Einfälle hemmt. Nicht die von dem ganzen Zusammenhänge ge-
forderten, sondern die durch allgemeine Denkgewohnheiten be-
günstigten Vorstellungen gewinnen daher in jedem Augenblicke die
Oberhand. Dadurch kommt es zum Abschweifen von einem Gegen-
stände auf andere ähnliche oder häufig damit verbundene, ohne
364
IX. Das manisch-depresaive Irresein.
Rücksicht auf das Ziel des ursprünglichen Gedankenganges. Der
Zusammenhang des Denkens lockert sich mehr und mehr; es ent-
steht jene Störung, die wir als ideenflüchtige Verwirrtheit
kennen gelernt haben.
Nicht selten pflegen bei solchen Kranken auch äussere Ein-
drücke, namentlich solche aufdringlicher Art, den Anstoss zu einer
neuen Wendung des zügellosen Gedankenganges zu geben. Man
hat darin bisweilen das Anzeichen einer gesteigerten Empfänglich-
keit für äussere Wahrnehmungen erblickt. In Wirklichkeit zeigt
sich indessen, dass die Kranken keineswegs genau beobachten, sich
vielmehr um die Vorgänge in ihrer Umgebung oft sehr wenig
kümmern. Aber wenn sie etwas bemerken, so geschieht das nicht
ohne Reaction; sie fassen ihre Wahrnehmung sogleich in Worte und
sprechen sie aus, weil die Auslösung von Bewegungsvorgängen bei
ihnen erleichtert ist. Auch in den Depressionszuständen scheint bis-
weilen eine gewisse Ideenflucht zu bestehen. Für den Beobachter
deutlich wird sie allerdings nur dann, wenn die Kranken ihre Ge-
danken auch fortlaufend aussprechen, was nur bei gleichzeitigem
Rededrang, in Mischzuständen, der Fall ist. Wir hören indessen
nicht selten deprimirte Kranke darüber klagen, dass ihnen alle mög-
lichen Gedanken in den Kopf kämen, dass in ihrem Kopfe alles wirr
durcheinander gehe.
Ganz regelmässig aber können wir in der Depression, ferner
in manisch -stuporösen Mischzuständen und mit ihnen verwandten
Formen der manischen Erregung eine mehr oder weniger aus-
gesprochene Denkhemmung nachweisen, die Unfähigkeit, über die
eigenen Vorstellungen nach Bedarf zu verfügen. Daraus entsteht
eine grosse Schwerfälligkeit und Verlangsamung des Denkens, Un-
besinnlichkeit bei der Beantwortung einfacher Fragen, Ideenarmut!).
Solche Kranke fördern nur eine auffallend dürftige Zahl von Vor-
stellungen zu Tage, auch wenn sie augenscheinlich am Aussprechen
ihrer Gedanken durchaus nicht gehindert sind. Sie werden dann
gewöhnlich für sehr schwachsinnig gehalten, während der weitere
Verlauf deutlich zeigt, dass es sich hier nur um eine Erschwerung
des Denkens, nicht um eine Vernichtung des Vorstellungsschatzes
gehandelt hat.
Die hier vertretene Auffassung steht in einem gewissen Gegen-
sätze zu der weit verbreiteten Ansicht, dass der Gedankengang in
Kraepelin. Psychiatrie. G. Aufl. TAFEL VI.
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig.
• Allgemeine Krankheitszeichen.
365
der Manie überstürzt sei. Man nimmt gewöhnlich an, dass die
ideenflüchtige Zusammenhangslosigkeit der Vorstellungen in der
Manie wesentlich durch das Ausfallen ganzer Gedankenreihen
bedingt sei, welche schneller auf einander folgen, als die Sprach-
organe sie ausdrücken können. Genauere Untersuchungen haben
mir gezeigt, dass jene Ansicht nicht nur nicht beweisbar, sondern
höchst wahrscheinlich falsch ist. Es lässt sich nämlich bei der künst-
lich, durch Alkohol oder körperliche Anstrengung, erzeugten Ideen-
flucht zeigen, dass keineswegs unausgesprochene associative Binde-
glieder zwischen den ganz sinnlos aneinander geknüpften Vor-
stellungen bestehen, und dass der Associationsvorgang thatsächlich
sehr beträchtlich verlangsamt ist. Dagegen ist es richtig, dass die
einzelnen Vorstellungen, weil sie nicht durch feste Zielvorstellungen
gestützt werden, nur von sehr kurzer Dauer sind und rasch von
anderen abgelöst werden. Die Ideen sind flüchtig, aber sie drängen
einander nicht. „Meine Gedanken sind so schnell, dass ich sie gar
nicht festhalten bann,“ sagte eine Kranke. Nicht auf eine Be-
schleunigung des Gedankenganges weist uns diese Aeusserung hin,
sondern auf die Flüchtigkeit und Unbeständigkeit der einzelnen
Glieder. Thatsächlich lehrt auch die Beobachtung manisch erregter
Kranker, dass sie keineswegs ideenreich, sondern nur wortreich sind
und sich häufig ganz eintönig wiederholen. Auch die gelegentlichen
Witze solcher Kranken sind fast immer einfache Wortspiele, wie sie
eben durch die Neigung zu Klangassociationen hervorgerufen werden.
Wir begegnen ihnen wie der Sucht, in fremden Sprachen zu reden,
und einer Reihe von ähnlichen Zügen im Alkoholrausche, bei dem
die Lähmung der Verstandesthätigkeit mit voller Sicherheit nach-
gewiesen werden konnte. Trotzdem stossen wir hier im Gegensätze
zu dem Messungsergebnisse häufig auf die Selbsttäuschung einer
Erhöhung der geistigen Leistungsfähigkeit. Sie hat ebensowenig
Beweiskraft wie die aus dem manischen Wohlgefühl erwachsende
Vorstellung besonderer geistiger Frische und Gesundheit.
Die Stimmung ist in der manischen Erregung meist eine ge-
hobene. Die Kranken sind vergnügt, fühlen sich sehr wohl, zu allen
möglichen Spässen und Neckereien aufgelegt, lachen, singen und
scherzen. Den Ausdruck dieser Stimmung in verschiedener Färbung
von leichter Fröhlichkeit bis zum unbändigen Lachen giebt das
beigefügte Gruppenbild manisch erregter Kranker wieder (Tafel VI).
366
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Zugleich beobachten wir gewöhnlich eine erhebliche Steigerung
der gemüthlichen Reizbarkeit. Daher schieben sich in die
ausgelassene Heiterkeit bei .geringfügigen Anlässen Zornausbrüche
mit rücksichtslosestem Schimpfen und Neigung zu Gewalttätigkeiten
ein. Andererseits aber schlägt die Stimmung auch auffallend leicht in
Traurigkeit und Weinerlichkeit um, freilich meist nur ganz vorüber-
gehend. Ich möchte annehmen, dass sich in dieser Erfahrung die
nahe Verwandtschaft der manischen und der depressiven Zustände
ausdrückt. In diesen letzteren ist die Stimmung regelmässig düster,
hoffnungslos, verzweifelt oder ängstlich, wenn es auch einzelne
Fälle giebt, in denen neben der Hemmung eine bestimmte Färbung
der Gemiithslage nicht deutlich erkennbar ist Auch in der De-
pression deutet indessen nicht selten ein verlorenes Lächeln oder
selbst eine plötzliche Fröhlichkeit darauf hin, wie leicht hier die
Stimmungen in einander übergehen. In den Misch- und Uebergangs-
zuständen sehen wir einerseits Stupor mit stiller Lustigkeit, anderer-
seits eine erregte Verstimmung, die sich in unleidlichem Nörgeln und
reizbarer Missvergnügtheit kundgiebt.
Die bei weitem auffallendsten Störungen liegen beim manisch-
depressiven Irresein auf psychomotorischem Gebiete. In den Er-
regungszuständen ist. das Krankheitsbild beherrscht vom Be-
schäftigungsdrange. Wir haben es hier mit einer allgemeinen
Erleichterung der Umsetzung centraler Erregungen in Handlungen
zu thun. Jeder aufsteigende Antrieb führt alsbald zur That, während
der Gesunde zahllose Willensregungen schon im Entstehen zu unter-
drücken pflegt. Die Störung scheint in hohem Grade mit derjenigen
übereinzustimmen, die wir künstlich durch Alkoholeinwirkung er-
zeugen können; daher die grosse Aehnlichkeit vieler manischer
Kranker mit leichter oder schwerer Angetrunkenen. Freilich pflegt
im Rausche die Beeinträchtigung der Auffassung und des Denkens
verhältnissmässig weit stärker hervorzutreten, als bei unseren Kranken-
Der manische Beschäftigungsdrang führt naturgemäss zu mehr oder
weniger ausgesprochener Unruhe (Tobsucht). In den leichtesten
Graden ist es nur eine gewisse Unstetigkeit und Vielgeschäftigkeit,
die uns auffällt, rastlose, überstürzte Unternehmungslust. Bei
stärkerer Erregung drängen sich die Antriebe immer mehr, und der
Zusammenhang des Handelns geht allmählich verloren. Der Kranke
ist ausser Stande, irgend eine weiterreichende Absicht wirklich
Allgemeine Krankheitszeichen.
367
durchzuführen, weil sich ihm immerfort neue Antriebe dazwischen
schieben, die ihn von dem ursprünglichen Ziele ablenken. So kann
sich schliesslich sein Thatendrang in eine bunte Folge immer neuer,
rasch wechselnder Willenshandlungen auflösen, die gar kein ge-
meinsames Ziel mehr erkennen lassen, sondern kommen und gehen,
wie sie der Augenblick geboren hat. Immer aber sind die ein-
zelnen Handlungen, im Gegensätze zu dem katatonischen Bewegungs-
drange, durch Vorstellungen oder Stimmungen, wenn auch noch so
flüchtiger Art, verursacht; es sind Ausdrucksbewegungen, tiber-
miithige Scherze, Angriffe, Zeitvertreib, Liebeswerbungen u. dergl.
Ausser der Erregung besteht bei unseren Kranken regelmässig auch
eine Steigerung der Erregbarkeit. Vielleicht ist diese sogar
als die wesentliche Grunderscheinung zu betrachten. Oft sind die
Kranken ziemlich ruhig, so lange man alle äusseren Reize nach
Möglichkeit abschliesst; eine Anrede, ein Besuch, das Schreien der
Mitkranken führt aber ungemein leicht zu rasch wachsender Er-
regung. Je mehr man sie reden und gewähren lässt, desto stärker
pflegt der Beschäftigungsdrang zu werden, eine für die Behandlung
sehr wichtige Erfahrung.
Trotz der hochgradigsten motorischen Erregung, die bisweilen
Wochen, ja viele Monate lang mit geringen Unterbrechungen in
vollster Stärke fortdauert, fehlt dem Kranken das Ermüdungs-
gefühl vollständig. Er ist nicht matt und abgespannt; der Verbrauch
des Muskelgewebes erzeugt keine Unlustempfindung, zum Theil viel-
leicht wegen der früher besprochenen Abstumpfung seiner Empfind-
lichkeit, namentlich aber wol wegen der Leichtigkeit, mit welcher
die centrale Auslösung seiner Bewegungen von Statten geht. Bei
ihm genügt schon der leiseste Antrieb, um ausgiebige Bewegungs-
äusserungen hervorzurufen, während der Gesunde zur Erzielung des
gleichen Erfolges eines unvergleichlich grösseren Aufwandes von
centraler Arbeitsleistung bedürfen Avürde. Darum muss auch jeder
Versuch der Nachahmung dieses Zustandes nothwendig nach sein-
kurzer Zeit an der Unmöglichkeit scheitern, das lähmende Ermüdungs-
gefühl durch die blosse Willensanstrengung zu überwinden. Dieser
Umstand wie die Rücksichtslosigkeit, mit der die Kranken ihre
Glieder gebrauchen, hat zu der verbreiteten, unrichtigen Anschauung
geführt, dass sie über aussergewöhnliche Körperkräfte verfügen.
Eine Theilerscheinung des allgemeinen Thatendranges ist der
308
IX. Das manisch-depressive Irresein.
oft sein- ausgeprägte Rededrang der Kranken. Auch die Umsetzung
von Wortvorstellungen in Sprachbe wegungen ist krankhaft erleichtert.
Wie wir schon früher ausgeführt haben, dürfte gerade dieser Um-
stand bei der besonderen Gestaltung der manischen Ideenflucht eine
gewisse Rolle spielen. Die leicht angeregten motorischen Sprach-
vorstellungen gewinnen einen unverhältnissmässig starken Einfluss
auf den Ablauf des Gedankenganges, -während die inhaltlichen Be-
ziehungen der Vorstellungen mehr in den Hintergrund treten. So
kommt es, dass in den höheren Graden der Ideenflucht, ganz wie
unter dem Einflüsse des Alkohols, an die Stelle des sachlichen
Bandes der Vorstellungen mehr und mehr sprachlich eingelernte
Redensarten, Wortzusammensetzungen, Anklänge und Reime treten.
Namentlich gewinnen mehr und mehr die reinen Klangasso-
ciationen die Oberhand, bei denen jede Spur einer inneren Be-
ziehung der Vorstellungen verschwunden ist, die Gleichklänge und
Reime, sogar ganz sinnlose. Eine Kranke schrieb auf ein Blatt:
Nelke — welke — Helge — Hilde — Tilde — Milde — Hand — Wand
— Sand.
In den sprachlichen Aeusserungen des Kranken macht sich
die Ideenflucht und der Rededrang gleichzeitig geltend. Er kann
nicht lange Stillschweigen, sch-watzt und schreit mit erhobener
Stimme, lärmt, brüllt, johlt, pfeift, überstürzt sich im Reden, reiht
zusammenbangslose Sätze, Worte, Silben aneinander, predigt mit
feierlicher Betonung und leidenschaftlichen Geberden, vom Hoch-
trabenden ganz unvermittelt ins Humoristisch-Gemüthliche, Drohende,
Weinerliche verfallend oder plötzlich in ausgelassenem Lachen
endigend. Bisweilen kommt es zu eigenthümlich gezierter Sprechweise,
auch wol zum Reden in selbsterfundenen Sprachen, die zum Theil
aus sinnlosen Silben, zum Theil aus fremdländisch zurechtgestutzten
und verstümmelten Wörtern bestehen. Eine Probe manischer Reden
giebt die folgende Nachschrift:
„Notiren Sie genau, es scheint mir alles so grau; die Uhr (wurde der
Kranken vorgehalten) bedeutet den Kreislauf der Zeit; Herr N. hat einen Chrono-
meter bereit. Mein Magen thut mir weh, immer hipp, hipp hurrah! Der Geibel
ist der Dichter, der Genius der Zeit gewesen, ete, der Sommer muss kommen, die
Bäume schlagen aus, und Du bist nicht zu Haus. Köslein, so hold am Haag,
mich doch Niemand holen mag. Les extremes se touchent; Zeiten fliehen so
manches Jahr, mich doch Niemand holen mag. (Zur Wärterin) Du Luder, Du
unverschämtes Saumensch, kannst Du darüber lachen, dass die guter Hoffnung
Allgemeine Krankheitszeiclien.
369
ist, von Rosa gesprochen, drum bist Du Esel so grau. Grau, theurer Freund , ist
alle Theorie. Stern, Blume so gern. Der Grossherzog soll leben hoch. Leberecht
Hühnchen“ u. s. w.
Die Zusammenhangslosigkeit ist hier keineswegs durch einen
sprudelnden Reichthum an Gedanken, sondern durch die mangelnde
Ausbildung richtunggebender Ziel Vorstellungen bedingt. Auch der
Gesunde kann ganz ähnliche Reihen liefern, wenn er seinem Denken
die Zügel schiessen lässt und wahllos alles ausspricht, was ihm in
den Sinn kommt. Freilich ist in der Manie dieses Aussprechen er-
heblich erleichtert und beschleunigt. In Folge dessen setzt sich jede
auftauchende Vorstellung sofort in Worte um; der Kranke sagt alles,
was er denkt. Da aber beim ziellosen Denken stets die Vor-
stellungen rascher auf einander folgen, als man sie in Worte kleiden
kann, überhastet sich das Reden des Kranken, trotzdem sein Denken
eher verlangsamt, als beschleunigt ist.
Auch in den Schriftstücken der Kranken zeigt sich die Neigung,
Fremdwörter zu gebrauchen, verschiedene Sprachen durcheinander
zu werfen. Die Ablenkbarkeit und Erregbarkeitssteigerung pflegt
sich in dem Umstande kundzugeben, dass die ersten Worte oder
Zeilen meist ganz zusammenhängend geschrieben sind, während sich
der weitere Inhalt in eine wirre Folge von Aufzählungen, Rerainis-
cenzen. Versbruchstücken, Anklängen und Reimen auflöst. Zugleich
werden auch die Schriftzüge grösser, anspruchsvoller und unregel-
mässiger. Sie nehmen keine Rücksicht mehr auf den Leser, laufen
durcheinander, werden verschmiert; die Unterstreichungen, Aus-
ruf ungszeichen, kühnen Schnörkeleien nehmen zu. Alle diese Stö-
rungen, die inhaltlichen wie die formalen, treten an der beigegebenen
Schriftprobe in ausgezeichneter Weise hervor. Die Menge der von
manischen Kranken erzeugten Schriftstücke ist bisweilen eine er-
staunliche; freilich rechnen sie selbst nicht darauf, dass sie gelesen
werden: nur das Vergnügen des Schreibens selbst ist der Be-
weggrund.
In den Depressionszuständen des manisch-depressiven Irreseins
tritt an Stelle des Beschäftigungsdranges sein völliges Gegen-
stück, die psychomotorische Hemmung. Die centrale Aus-
lösung von Handlungen ist hier erschwert, selbst bis zur Un-
möglichkeit. Die leichteren Grade der Störung zeigen sich in
der Entschlussunfähigkeit der Kranken. Die auf tauchenden
Kraepelin. Psychiatrie. 6. Anfl. II. Band. 24
370
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Antriebe gewinnen nicht die Macht, die entgegenstehenden Hem
mnngen zu überwinden; trotz der klaren Erkenntnis« der Noth
Schriftprobe XI.
wendigkeit, trotzdem alle wirklichen Gegengründe oder Bedenken
fehlen, vermag sich der Kranke doch nicht zu den einfachsten Han
Allgemeine Krankheitszeichen.
371
lungen aufzuraffen. Auch die endlich nach vielem Zögern begonnene
Thätigkeit bleibt jeden Augenblick stecken, da ihr der Nachdruck
des kräftigen Entschlusses fehlt. Alle einzelnen Bewegungen, soweit
sie einen Willensantrieb erfordern, sind mehr oder weniger verlang-
samt und geschehen ohne Kraft. Aeussere Einwirkung und nament-
lich gemiithliche Erregung kann die Hemmung verringern. Untei;
stetem Zureden oder in der Gefahr vermag der Kranke noch
Leistungen zu vollbringen, die ihm sonst unmöglich sind. Bei den
schwersten, stuporösen Formen kann jede Willensäusserung des
Kranken aufgehoben sein, so dass er nicht mehr im Stande ist, das
Bett zu verlassen oder seine Bedürfnisse zu verrichten. Bomerkens-
werth ist es, dass die Ausdrucksbewegungen, die am meisten durch
seelische Einflüsse beherrscht werden, am schwersten von der
Hemmimg betroffen zu sein pflegen. Wir sehen Kranke bisweilen
schon sich ohne wesentliche Störung beschäftigen, während sie trotz
guten Verständnisses doch noch kein Wort über die Lippen zu
bringen vermögen.
Einen guten Einblick in die Eigenthümüchkeiten der psycho-
motorischen Störungen beim manisch-depressiven Irresein dürfte
die beiliegende Curventafel gewähren. Dieselbe stellt die Druck-
schwankungen beim Schreiben der 1 und der 10 aus einer fort-
laufenden Zahlenreihe vor, wie sie mit Hülfe der Schriftwage ge-
wonnen werden. Die senkrechten Bewegungen einer kleinen, durch
Federzug immer wieder in die Gleichgewichtslage zurückkehrenden
Platte, auf die der Druck des Bleistiftes beim Schreiben wirkte,
wurden auf einer Drehtrommel aufgezeichnet. Die Abstände auf den
wagerechten Linien geben einen Begriff von der während des
Schreibens verflossenen Zeit; die Höhe der Curven dagegen stellt
in vergrössertem Maassstabe den in jedem Augenblicke auf die
Schreibunterlage ausgeübten Druck dar. Unter den einzelnen Curven
befinden sich getreue Nachbildungen der Schriftzüge, die bei den
Versuchen geliefert wurden. Figur I stammt von einer gesunden
Wärterin. Man erkennt bei der ersten, noch besser bei der zweiten 1
das Nachlassen des Druckes während der Umkehr der Schreib-
bewegung sowie das Ansteigen im Grundstriche; auch in der 0 ent-
spricht der Umbiegung eine kleine Druckschwankung. Die Zacken
am Schlüsse der Curven entstehen durch Nachschwingungen der
Feder bei raschem Absetzen des Stiftes.
24*
372
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Figur III wurde von einer manischen Kranken geliefert. Die
psychomotorische Erregung tritt hier schon in den mächtigen, an-
spruchsvollen Schriftzeichen hervor. Der Druck ist erheblich ge-
steigert, ebenso die Schreibgeschwindigkeit, wenn wir die verschiedene
Länge des zurückgelegten Schreibweges berücksichtigen. In der
zweiten 1 sind sowol Druck wie Geschwindigkeit sehr bedeutend
gestiegen, eine Erscheinung, die sich auch bei Gesunden überall
findet, nur in ungleich schwächerer Ausprägung. Da sie uns die
wachsende Erleichterung der Leistung während der Arbeit anzeigt,
darf sie als Ausdruck der gesteigerten psychomotorischen Erregbar-
keit angesehen werden. Die im Laufe des Schreibens rasch zu-
nehmende Ausgiebigkeit der Nachschwingungen deutet auf die
grössere Plötzlichkeit der Druckschwankungen bei den heftigen
Schreibbewegungen hin.
Ein vollkommen anderes Bild bietet die Figur II dar, die von
einer Kranken im Depressionszustande gewonnen wurde. Die Schrift-
züge sind auffallend klein; trotzdem nahmen sie erheblich grössere Zeit
in Anspruch als Figur I, waren also stark verlangsamt Zugleich ist
der Druck ausserordentlich niedrig; er betrug noch nicht 50 gr und
zeigt sehr wenig ausgeprägte Schwankungen. Nachschwingungen
fehlen ganz; der Schreibdruck hörte also nicht plötzlich, sondern
ganz allmählich auf. Auch hier ist übrigens eine geringe Zunahme
der Geschwindigkeit bei der zweiten 1 nachzuweisen. Fanden wir
demnach bei der manischen Kranken heftige, sehr beschleunigte Be-
wegungen mit rascher, erheblicher Zunahme der Erregbarkeit, so
begegnet uns hier zögerndes Ein- und Ausschleichen, geringer Nach-
druck und bedeutende Verlangsamung des Schreibens, Zeichen, die
in klarer Weise auf das Bestehen einer psychomotorischen Hemmung
hindeuten.
Allein die beiden hier auseinandergehaltenen Zustände des Werk-
zeuges unseres Willens sind schwerlich solche Gegensätze, wie es
auf den ersten Blick scheinen mag. Wir sehen sie wenigstens im
Verlaufe der Krankheit häufig genug unvermittelt in einander über-
gehen. Hemmung und Erleichterung der Willensantriebe müssen
demnach nur nahe verwandte Erscheinungsformen einer gemeinsamen
Grundstörung sein. Noch deutlicher wird das, wenn wir sehen, dass
sich die Zeichen beider krankhafter Veränderungen gar nicht selten
mit einander mischen. Die besonderen klinischen Gestaltungen
373
374
IX. Das manisch-depressive Irresein.
dieser Mischung werden wir späterhin genauer ins Auge zu fassen haben.
Hier möchte ich nur auf die Figur IV der Curventafel hinweisen,
die von der gleichen Kranken geschrieben wurde wie Figur IH.
Nur befand sich dieselbe damals in einem Zustande, in dem während
einer schweren Manie einige Tage lang der Beschäftigungsdrang
vollständig geschwunden war. Die Druckcurve der Schrift zeigt
uns bei kleiner gewordenen Schriftzügen eine geringe Abnahme des
Druckes, langsames Ansteigen und Erlöschen desselben und sehr
erhebliche Verlangsamung des Schreibens, also eine höchst eigen-
artige Mischung der Veränderungen, die wir oben bei der manischen
Erregung und bei der Hemmung kennen gelernt haben. —
Wie schon die Betrachtung der allgemeinen Krankheitszeichen
lehrt, haben wir beim manisch-depressiven Irresein zunächst zwei
grosse Gruppen von Zustandsbildem auseinanderzuhalten , die ma-
nischen und die depressiven. Ihnen schliessen sich dann noch
als dritter Formenkreis die bisher viel zu wenig beachteten Misch-
zustände an, die neben einander einzelne Erscheinungen der ma-
nischen Erregung und der Hemmung darbieten. Gerade die That-
sache solcher Mischzustände lehrt uns, dass die manischen und
die depressiven Formen ohne bestimmte Grenzen in einander
übergehen; trotzdem wird es sich der Uebersichtlichkeit halber
empfehlen, diese beiden Gruppen von Krankheitsbildern in einer
Reihe häufiger beobachteter Spielarten gesondert darzustellen.
Manische Zustände. Die leichtesten Formen der manischen
Erregung pflegt man als „Hypomanie“, Mania mitis, mitissima, auch
wol, aber unzweckmässig, als Mania sine delirio zu bezeichnen. Die
Franzosen haben von einer „Folie raisonnante“, einem Irresein ohne
Verstandesstörung gesprochen. In der That erscheint die Besonnen-
heit, die Auffassungsfähigkeit, das Gedächtniss der Kranken im all-
gemeinen ungestört. Die geistige Regsamkeit, die Beweglichkeit der
Aufmerksamkeit ist sogar nicht selten gesteigert; die Kranken können
aufgeweckter, scharfsinniger, leistungsfähiger erscheinen, als früher.
Namentlich ist es die Gewandtheit in der Erfassung entfernter
Aehnlichkeiten, die nicht selten den Hörer überrascht, weil sie den
Kranken zu witzigen Wendungen und Einfällen, Wortspielen, ver-
blüffenden, wenn auch bei genauerer Betrachtung meist wenig stich-
haltigen Vergleichen und ähnlichen Leistungen der Einbildungskraft
befähigt Dennoch ist auch bei den leichtesten Graden der Störung
Manische Zustände.
375
der Mangel an innerer Einheit des Vorstellungsverlaufes,
die Unfähigkeit zur folgerichtigen Durchführung einer bestimmten
Gedankenreihe, zur ruhigen, logischen Verarbeitung und Ordnung-
gegebener Ideen, die Unbeständigkeit des Interesses, das jähe, un-
vermittelte Abspringen von einem Gegenstände zum andern ausser-
ordentlich bezeichnend. Allerdings wissen die Kranken nicht selten
mit einiger Anstrengung diese Erscheinungen vorübergehend zu
verwischen und die Herrschaft über ihren zügellos gewordenen Vor-
stellungsverlauf noch für einige Zeit wiederzugewinnen; in Schrift-
stücken und namentlich in den oft eifrig betriebenen Reimereien
pflegt dann doch eine leichte Ideenflucht regelmässig deutlich her-
vorzutreten. Vorübergehend kann sich übrigens auch bei diesen
leichten Formen stärkere Erregung und Verwirrtheit einstellen.
Die Erinnerung an die jüngsten Erlebnisse ist nicht immer treu,
sondern vielfach durch eigene Zuthaten gefärbt und ergänzt. Der
Kranke lässt sich in seinen Erzählungen leicht zu Uebertreibungen
imd Verdrehungen hinreissen, die zum Theil schon einer schiefen
Auffassung, zum Theil aber auch nachträglicher Umdeutung ent-
springen, ohne dass deren Willkürlichkeit dem Kranken selbst klar
zum Bewusstsein kommt. Obgleich daher eigentliche Wahnbildungen
fehlen, begegnet uns doch regelmässig eine stark übertriebene
Selbstschätzung. Der Kranke rühmt seine Leistungen und Fähig-
keiten, prahlt mit seinen vornehmen Bekanntschaften, versteht alles
am besten, bespöttelt das Treiben Anderer mit vornehmer Gering-
schätzung und verlangt besondere Anerkennung für seine eigene
Person. Demgemäss ist von einer Krankheitseinsicht gar keine
Rede; auch durch den Hinweis auf frühere Anfälle, die er während
der traurigen Verstimmung vielleicht ganz richtig beurtheilte, lässt
er sich keinen Augenblick von der krankhaften Natur seines Zustandes
überzeugen.
Im Gegentheil fühlt er sich gesünder und leistungsfähiger, als
jemals, höchstens [etwas erregt durch die unwürdige Behandlung.
Die Beschränkung seiner Freiheit betrachtet er als einen schlechten
Witz oder als eine unverzeihliche Kränkung, die er auf Quer-
treibereien seiner Angehörigen oder sonst ihm feindlich gesinnter
Personen zurückführt und zu deren Beseitigung und Sühne er ge-
setzliche Massregeln zu ergreifen droht. Nicht selten meint er,
nicht er, sondern diejenigen seien geisteskrank, die seine geistige
376
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Ueberlegenheit, seine Begabung nicht zu würdigen verständen und
ihn durch aufreizende Reibereien in Erregung zu versetzen suchten.
Man wird durch dieses Verhalten an die Erfahrungen erinnert, die
man so häufig über die Selbsttäuschungen Angetrunkener zu machen
Gelegenheit hat.
Die Stimmung des Kranken ist vorwiegend eine gehobene,
heitere, durch das Gefühl der erhöhten Leistungsfähigkeit beeinflusste.
Er ist in unverwüstlich guter Laune, fühlt sich glücklich und froh,
nicht selten in etwas überschwänglicher Weise, sieht sich von lieben,
edlen Menschen umgehen, findet volle Befriedigung in den Genüssen
der Freundschaft, der Kunst, der Humanität. Bisweilen entwickelt
sich ein ausgeprägt humoristischer Zug, die Neigung, allen Dingen
und Ereignissen die scherzhafte Seite abzugewinnen, Spitznamen zu
erfinden, sich selbst und Andere lustig zu verspotten. Meist treten
jedoch gerade die Bedürfnisse und Wünsche der eigenen Person
gänzlich in den Vordergrund. Auf der anderen Seite besteht regel-
mässig eine grosse gemüthliche Reizbarkeit. Der Kranke ist unzu-
frieden, unduldsam, nörgelnd, namentlich im Verkehr mit Nahe-
stehenden, wo er sich gehen lässt; er wird rücksichtslos, patzig und
selbst roh, wo er mit seinen Wünschen und Neigungen auf Wider-
stand stösst; geringfügige äussere Anlässe können ungemein heftige
Zornesaushrüche mit kräftigem Schimpfen und Neigung zu Gewalt-
tätigkeiten herbeiführen. Der innere Halt des Kranken ist ver-
loren gegangen; er lässt sich gänzlich durch augenblickliche Ein-
drücke und Gemütsbewegungen beherrschen, die sofort eine un-
widerstehliche Macht über seinen steuerlosen Willen erlangen. Seine
Handlungen tragen daher vielfach das Gepräge des Triebartigen.
Unüberlegten und — wegen der geringen Störung des Verstandes
— des Unsittchen.
Was vor allem auffällt, ist seine erhöhte Geschäftigkeit Der
Kranke fühlt das Bedürfniss, aus sich herauszugehen, mit seiner
Umgebung in lebhafteren Verkehr zu treten, eine Rolle zu spielen.
Da er keine Ermüdung kennt, duldet es ihn nicht lange im Bett;
in aller Frühe, um 4 Uhr bereits, steht er auf, räumt alle Rumpel-
kammern auf, erledigt rückständige Angelegenheiten, unternimmt
Morgenspaziergänge, Ausflüge. Er beginnt, Gesellschaften, Ver-
gnügungen mitzumachen, viele und lange Briefe zu schreiben, ein
Tagebuch zu führen, viel zu musiciren, zu Schriftstellern, entfernte Be-
Manische Zustände.
377
kannte zu besuchen, sich um alle möglichen Dinge und Verhältnisse
zu kümmern, die ihm früher gänzlich fern lagen. Namentlich die
Neigung zum Reimen (Briefe!) pflegt sich stark geltend zu machen.
Ein einfacher Bauer gab seine ideenflüchtigen Reimereien im Selbst-
verläge heraus; eine junge Dame verfasste bei ihrem Scheiden aus
der Anstalt ein humoristisches Testament in Knittelversen und liess
es drucken. Der Kranke knüpft zahlreiche Verbindungen an, zahlt
plötzlich ohne Nöthigung sämmtliche Geschäftsschulden, macht gross-
artige Geschenke, baut allerlei Luftschlösser und stürzt sich mit
rascher Begeisterung in gewagte, seine Kräfte weit übersteigende
Unternehmungen. Er lässt von seinem Dörfchen 16000 Stück An-
sichtspostkarten drucken, sucht einen Negerknaben aus Kamerun zu
adoptiren. Ein Kranker erbot sich plötzlich, der Polizei einen lange
gesuchten politischen Verbrecher sofort zur Stelle zu schaffen, verlieh
dabei dem Beamten in scherzhafter Weise eine Phantasieuniform,
lud durch die Zeitung „die ganze Haute volöe“ zum Ballfest in
einem Aussichtshäuschen ein.
Die wirkliche Arbeitsfähigkeit des Kranken erleidet dabei
regelmässig eine erhebliche Einbusse. Er hat keine Ausdauer
mehr, lässt das Angefangene halbfertig liegen, ist liederlich und
sorglos in der Ausführung, thut nur, was ihm zusagt. Wie es ihm
gerade einfällt, unternimmt er unnöthige Reisen, treibt sich herum,
macht zwecklose Einkäufe und Tauschgeschäfte, auch ohne einen
Pfennig in der Tasche, weil jeder neue Gegenstand seine Begierde
reizt. Selbst der gelegentliche Diebstahl und die Uebervortheilung
wird in dieser krankhaften Lust am Besitze bisweilen nicht gescheut,
um das Gewünschte zu erlangen.
Im äusseren Benehmen des Kranken macht sich gewöhnlich
das gehobene Selbstgefühl, die Sucht, hervorzutreten, dann aber Un-
ruhe und Unstetigkeit bemerkbar. Er kleidet sich gegen seine
sonstige Gewohnheit nach der neuesten Mode, wenn auch vielleicht
nachlässig, trägt Blumen im Knopfloch, begiesst sich mit Wohl-
gerüchen. Die Schrift zeigt grosse, anspruchsvolle Züge, viele
Ausrufungs- und Fragezeichen, Unterstreichungen neben Flüchtig-
keiten in der äusseren Form. Der Kranke führt überall das Wort,
drängt sich bei jeder Gelegenheit in den Vordergrund, declamirt
öffentlich, zeichnet hohe Beiträge bei Sammlungen, sucht Aller
Augen auf sich zu lenken, Eindruck zu machen; er spricht viel und
378
IX. Das manisch-depressive Irresein.
gern, weitschweifig, laut, mit lebhaften Geberden und besonderer
Betonung, in gesuchten Ausdrücken, von sich selbst oft in der
dritten Person, um sich ein gewisses Ansehen zu geben, ergeht sich
in handgreiflichen Prahlereien und Aufschneidereien. Er benimmt
sich sehr ungenirt, lässt sich Verstösse gegen Anstand und Sitte
zu Schulden kommen, macht trotz tiefer Trauer geräuschvolle Ver-
gnügungen mit, erzählt gewagte Witze in Damengesellschaft, nimmt
sich mit lustigem Uebermuthe unpassende Vertraulichkeiten gegen
Fremde oder höher stehende Personen heraus, schliesst mit dem
ersten Besten Freundschaft und Duzbrüderschaft und geräth in die
mannigfaltigsten Streitigkeiten mit seiner Umgebung und der öffent-
lichen Ordnung, indem er seinen augenblicklichen Launen folgt,
die ihn zu allerlei muthwilligen, unüberlegten und ungehörigen
Streichen treiben.
Besonders verhängnissvoll pflegt dem Kranken die Neigung zu
Ausschweifungen zu werden. Er fängt an, sich häufig zu betrinken,
unsinnig zu spielen, die Nächte auszubleiben, sich in Bordellen und
zweifelhaften Wirthschaften herumzutreiben, übermässig zu rauchen
und zu schnupfen, stark gewürzte Speisen zu essen. Ein älterer, sonst
sehr eingezogen lebender Familienvater begann, mit den Kunst-
fechterinnen eines Circus Champagner zu trinken. Bei Frauen treten
in der Erregung häufig lebhafte geschlechtliche Gelüste hervor, die
sich in auffallender Kleidung, künstlichen Frisuren, flottem Benehmen,
zweideutigem Entgegenkommen, in der Neigung, Bälle zu besuchen,
zu tändeln, Liebesverhältnisse anzuknüpfen, schlüpfrige Romane zu
lesen, besonders kundzugeben pflegen. Eine meiner Kranken erliess
in diesem Zustande regelmässig Heirathsgesuche, die schliesslich den
Erfolg hatten, dass sie unter Beihülfe eines Vermittlers thatsächlich
mit einem wenig vertrauenswürdigen Menschen die Ehe einging.
Unbegreifliche Verlobungen, auch Schwängerungen sind in diesen
Zuständen nicht selten; ich kenne Fälle, in denen sich das Ein-
setzen der Erregung mehrfach durch eine plötzliche Verlobung an-
kündigte.
Alle seine auffallenden und unsinnigen Handlungen weiss der
Kranke mit ausserordentlicher Spitzfindigkeit zu begründen; um einen
Entschuldigungs- und Erklärungsgrund ist er nie in Verlegen-
heit. Die Bemühungen seiner Angehörigen, ihn zu beruhigen, er-
weisen sich daher nicht nur als erfolglos, sondern sie reizen den
Manische Zustände.
379
Kranken geradezu und führen leicht zu heftigen Zornausbrüchen
und selbst Gewalttaten. In der Anstalt drängt er meist vom ersten
Tage an auf Entlassung, führt seine Heftigkeit ausschliesslich auf die
ungerechte Freiheitsberaubung zurück, verlangt, von anderen Aerzten
untersucht zu werden. Einer meiner Kranken wusste seine Frau
durch Nörgeln dazu zu bewegen, dass sie ihm gegen meinen Rath
die Uebersiedelung in eine andere Austalt zugestand. Auf der ganz
kurzen Reise übernahm er jedoch selbst die Führung, fuhr seiner
Frau davon und begab sich nach Berlin, um sich von einem Arzte
untersuchen zu lassen, der sich in der Gesunderklärung Geistes-
kranker einen gewissen Ruf erworben hat.
Die Mannigfaltigkeit dieses Krankheitsbildes im einzelnen ist
trotz aller gemeinsamen Züge eine sehr grosse. Je leichter der
eigentliche Krankheitsvorgang den Menschen berührt, desto mehr
muss ja seine persönliche Eigenart in der Gestaltung der Krankheits-
erscheinungen mit zur Geltung kommen. Namentlich in der Art
und Heftigkeit der gemüthlichen Regungen machen sich die Ver-
schiedenheiten bemerkbar. Während manche Kranke in dieser Zeit
liebenswürdig, gutmiithig, lenksam, umgänglich sind und höchstens
durch ihre Ruhelosigkeit für die Umgebung störend werden, sind
andere wegen ihrer Reizbarkeit, ihrer Herrschsucht und ihres rück-
sichtslosen Thatendranges ausserordentlich schwierig und unan-
genehm. Gerade die eigenthümliche Mischung von Besonnenheit mit
echt tobsüchtigem Handeln, vielfach auch die grosse Anstaltserfahrung
macht sie überaus erfinderisch in Mitteln, ihre zahlreichen Gelüste
zu befriedigen, die Umgebung zu hintergehen, sich allerlei Vortheile
zu verschaffen, fremdes Eigenthum in ihren Besitz zu bringen. Ihre
Mitkranken pflegen sie bald vollständig zu beherrschen, sie aus-
zubeuten, dem Arzte in Kunstausdrücken über sie zu berichten, sie
zu bevormunden und in Schach zu halten.
Von den hier geschilderten leichteren Formen der Manie führen
zahllose Uebergänge allmählich hinüber zu dem Krankheitsbilde der
eigentlichen Tobsucht. Der Beginn der Erkrankung ist regel-
mässig ein ziemlich plötzlicher; höchstens gehen Kopfschmerzen,
Mattigkeit, Arbeitsunlust dem Ausbruche der stürmischeren Er-
scheinungen einige Tage oder Wochen voraus, wenn nicht etwa ein
ausgeprägter Depressionszustand die Einleitung gebildet hat. Die
Kranken werden rasch unruhig, reizbar, zusammen!) augslos in ihren
380
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Reden, gewaltthätig, lärmend, so dass -in der Regel schon nach
wenigen Tagen die Verbringung in die Anstalt erfolgen muss. Hier
erweisen sie sich als besonnen und annähernd orientirt, aber ausser-
ordentlich ablenkbar in ihrer Auffassung und ihrem Gedankengange.
Sie verstehen eindringliche Anreden, geben auch einzelne zutreffende
Antworten, lassen sich aber durch jeden neuen Eindruck beeinflussen,
schweifen ab, kommen vom hundertsten ins tausendste, kurz zeigen
mehr oder weniger entwickelte Ideenflucht, wie wir sie früher ein-
gehend geschildert haben.
In einer ganzen Reihe von Fällen aber kommt es vorüber-
gehend oder dauernd zu einer schwereren Trübung des Bewusst-
seins mit völliger Verworrenheit. Die Kranken fassen nur noch
ganz bruchstückweise auf, was um sie her vorgeht, wissen nicht
mehr, wo sie sich befinden, schwatzen zusammenhangslos und un-
verständlich, bisweilen in selbsterfundener Sprache.
Vielfach wird auch das Auftreten von ausgeprägten Sinnes-
täuschungen und Wahnvorstellungen, Grössenideen sowol wie
Verfolgungsideen, beobachtet, namentlich in den Formen mit stärkerer
Verworrenheit. An der Wand erscheint ein Todtenkopf, „schim-
mernde Seiden würmer“; die Kranken sehen Schlangen und Leichen,
den Teufel, die Franzosen, arme Seelen, Geisterköpfe, Engelsgesichtchen,
die Mutter Gottes; auf der Bettdecke werden Bilder vorgeführt durch
das Fenster farbige Signale gegeben. Die Personen ihrer Umgebung
sind ganz verändert, werden für frühere Bekannte, Prinz Heinrich,
den Grossherzog von Luxemburg, auch wol für historische Grössen,
Ludwig XIV., Caesar. Elisabeth gehalten. Meist bleiben die einmal
gewählten wahnhaften Bezeichnungen während des ganzen Krankheits-
verlaufes die gleichen. Ferner hören die Kranken Stimmen aus der
Unterwelt, verworrenes Getöse; sie werden verhöhnt und verspottet;
der knarrende Fussboden, die pfeifende Lokomotive, die Glocken
sprechen mit ihnen. Es wird ihnen befohlen, dass sie nicht essen
sollen; Gott bestimmt sie zu etwas Höherem. In der Nacht werden
giftige Dünste, Schwefelgeruch ins Zimmer geleitet, geschlecht-
liche Angriffe auf sie ausgeführt; sie fühlen elektrische Schläge;
die Speisen schmecken nach Gift Ihre Gedanken werden ihnen
eingegeben, nachgesprochen, die Eingeweide verdorben; sie
sind verhext, verzaubert, in einem Zauberpalast, werden durch
Mittel aufgeregt, sind allen möglichen Verfolgungen ausgesetzt.
Manische Zustände.
381
müssen mit dem Tode ringen; man quält sie, macht ihnen Zahn-
schmerzen.
Sehr bemerk enswerth ist dabei die Neigung, beliebigen Wahr-
nehmungen eine besondere Bedeutung beizulegen. Auf einem alten
Zettel entdecken sie das Zeichen von Oesterreich und Deutschland ; die
Buchstaben ihres Namens weisen auf königliche Abstammung hin; die
Schwalben fliegen genau nach den Winken ihrer Hand. Sie haben über-
natürliche Kräfte, himmlische Gedanken, sind eine Art Erlöser, zweite
Braut Christi, Joseph von Aegypten, vom heiligen Geiste über-
schattet, Gott der Allmächtige. Andere sind adelig, Husarenoffizier,
Königin von England, Schlachtenlenker, General, Kaiser und Papst
Leo XIII. Der Kranke hat Berge erschaffen, Städte gebaut, besitzt
die ganze Anstalt, diamantene Tassen, bekommt eine goldene Krone,
ein Schloss in Gibraltar, den Paradiesgarten, kündigt dem Kaiser
den Krieg an. Das Deutsche Reichsheer gehört ihm; er muss böse
Geister bannen, ein Regiment führen, wird seines Glaubens wegen
verfolgt; alles geht durcheinander; die Welt geht unter.
Alle diese Wahnbildungen, die noch durch allerlei fabulirende
Erzählungen von merkwürdigen und grossartigen Erlebnissen be-
reichert werden, pflegen flüchtig zu sein und vielfach zu wechseln;
sie werden als Einfälle, oft mit lachendem Munde, vorgebracht und
nicht weiter verarbeitet. Hie und da kommt es indessen auch vor,
dass gewisse Vorstellungen lange Zeit hindurch in gleicher Weise
und mit Leidenschaftlichkeit festgehalten werden. Nicht selten be-
steht Krankheitsgefühl; die Kranken sprechen davon, dass sie
„närrisch“ seien, ihre Gedanken nicht beisammen halten könnten.
Die Stimmung ist ausgelassen, lustig, übermüthig, oft aber
auch reizbar, zornmüthig, gelegentlich in heftiges Weinen und
Jammern umschlagend. Auf motorischem Gebiete besteht lebhafte
Unruhe und Erregung. Der Kranke kann nicht lange still sitzen
oder liegen, geht herum, springt, läuft, tanzt, wälzt sich am Boden.
Er schwatzt unaufhörlich, singt, jodelt und jauchzt, bedeckt ungezählte
Bogen mit mächtigen, flüchtigen Schriftzügen; er gesticulirt lebhaft,
klatscht in die Hände, schneidet Gesichter, schmiert und wischt am
Boden, an den Wänden und Fenstern herum, poltert und trommelt
an der Thür, entkleidet sich, zerschlitzt seinen Anzug, sein Bettzeug,
um die Fetzen hundertfältig verknotet und verschlungen zu aben-
teuerlichem Aufputz zu benutzen. Alle irgend erreichbaren Gegen-
382
IX. Das manisch-depressive Irresein.
stände werden in ihre Bestandteile zerlegt, um zu neuen Gebilden
verschiedener Art zusammengesetzt zu werden, wie es just der
Augenblick eingiebt. Die Knöpfe werden abgedreht, die Taschen
herausgerissen, der Rock umgekehrt, die Hosen in die Strümpfe ge-
steckt, die Hemdzipfel zusammengeknüpft, Ringe aus Gamresten um
die Finger geknotet. Was dem Kranken in die Hände fällt, Steine,
Holzstückchen, Glasscherben, Nägel, sammelt er auf, um mit ihrer
Hülfe Wände, Möbel, Fenster zu zerkratzen und kreuz und quer mit
Malereien oder Schriftzeichen zu bedecken. Nicht selten dienen
ihm dabei in Ermangelung anderer Hülfsmittel auch die eigenen
Ausscheidungen. Cigarrenreste und trockene Blätter werden in
Papier gewickelt geraucht, Papierfetzen zum Schreiben, Nägel zum
Pfeifen stopfen, Scherben zum Bleistiftspitzen benutzt; andere Funde
dienen als Tauschmittel, um von den Mitkranken kleine Vortheile zu
erlangen. Bisweilen wird auch allerlei in die Nase oder die Ohren
gesteckt, das Ohrläppchen mit Streichhölzern oder Drahtstückchen
durchbohrt, Asche und Staub als Schnupftabak verwendet, das Bart-
haar theilweise mit der Cigarre versengt Mit den anderen Kranken
geräth er wegen seiner Herrschsucht und Rücksichtslosigkeit häufig
in Streit; er nimmt ihnen fort, was ihm gefällt. Die Erhöhung der
gemüthlichen Reizbarkeit führt bei den geringfügigsten Anstössen
zu Wuthausbrüchen von ungemeiner Heftigkeit, zu wahren Hoch-
fluthen von überlautem Schimpfen und Brüllen, zu gefährlichen
Drohungen, zu blindem Zerstören und Angreifen. Das weibliche
Geschlecht ist zu solchen Ausbrüchen ungleich mehr geneigt als das
männliche. Die geschlechtliche Erregung macht sich in unfläthigen
Reden, Herandrängen an jugendliche Kranke, schamlosem Onaniren,
beim weiblichen Geschlechte auch im Duzen der Aerzte, Auflösen
der Haare, Salben mit Speichel, häufigem Ausspucken, Schimpfen in
unanständigen Ausdrücken sowie in geschlechtlichen Verdächti-
gungen des Wartpersonals Luft.
Eine weitere, seltenere Form der manischen Erregung ist ge-
kennzeichnet durch die rasche Entwicklung tiefer, traumhafter
Bewusstseinstrübung mit zahlreichen Sinnestäuschungen
und verworrenen Wahnideen (deliriöse Form). Der Anfall be-
ginnt gewöhnlich ganz plötzlich; nur Schlaflosigkeit, Unruhe oder
ängstliche Verstimmung kann sich schon 1 — 2 Tage, seltener einige
Wochen voi’her bemerkbar machen. Das Bewusstsein trübt sich
Manische Zustände.
383
rasch; die Kranken werden schwer benommen, verwirrt, verkennen
ihre Umgebung und verlieren vollständig die zeitliche und örtliche
Orientirung. Sofort treten massenhafte Sinnestäuschungen auf. Alles
ist verändert; es brennt; Vögel fliegen in der Luft herum; Engel
erscheinen; Geister werfen den Kranken Schlangen ins Gesicht; an
den Wänden huschen Schatten. Sie hören Glockenläuten, Schiessen,
Wasserrauschen; die Stimme Gottes kündigt ihnen das jüngste Ge-
richt, die Erlösung von allen Sünden an. Der Kaffee riecht nach
Todten, die Hände wie verwest; das Essen schmeckt wie Ziegen-
oder Menschenfleisch, das Wasser nach Schwefel. Der Kopf ist ganz
taumelig, voll Fieberhitze; die Kranken glauben gehoben, in Abgründe
geworfen zu werden; alles stürzt um sie her zusammen. Zugleich
entwickeln sich zerfahrene, traumhafte Wahnideen. Ein schreck-
liches Unglück bricht herein; der Teufel kommt; der Kranke muss
sterben, schreckliche Kämpfe durchmachen; er soll vergiftet, geköpft
werden, ist verloren, verflucht, verfault, ganz allein auf der Welt.
Alles ist vernichtet; die Angehörigen sind sämmtlich gestorben. Er
hat das grosse Loos gewonnen, ist zum Kaiser ausgerufen, der ver-
heissene Held, der die Welt erlösen soll. Das 1000jährige Reich ist
angebrochen ; die grosse Schlacht mit dem Antichristen wird geschlagen.
Die Stimmung ist während dieses Deliriums sehr wechselnd,
bald ängstlich verzweifelt („Todesgedanken“), weinerlich schreckhaft,
bald ausgelassen heiter oder verzückt, bald theilnahmlos und gleich-
gültig. Im Anfänge bieten die Kranken vielfach die Zeichen
der sinnlosesten Tobsucht dar, schwatzen, schreien, tanzen herum,
wälzen sich am Boden, entkleiden sich ; sie widerstreben, zerstören,
lassen unter sich gehen, schmieren, machen triebartige Selbstmord-
versuche, werden rücksichtslos gewaltthätig. Sie sind gar nicht zu
fixiren, geben keinerlei Auskunft, beten, schimpfen, bitten um Ver-
zeihung; in ihren unverständlichen, stammelnden Reden zeigt sich
hochgradige Ideenflucht und Ablenkbarkeit. Zeitweise werden sie
plötzlich ruhig, sind aber dabei nicht klar, sondern unbesinnlich,
verworren, bis ebenso rasch die Erregung wieder beginnt. Während
der ersten Zeit pflegt fast völlige Schlaflosigkeit zu bestehen. Die
Nahrung wird häufig verweigert; die Ernährung sinkt sehr schnell.
Der Kopf erscheint nicht selten stark geröthet; die Reflexe sind
lebhaft; bisweilen beobachtet man deutliches Zittern am ganzen
Körper ohne alkoholische Grundlage.
384
IX. Das manisch-dopressive Irresein.
Auf voller Höhe erhält sich der Anfall gewöhnlich nur sehr
kurze Zeit. Nach einigen Tagen, spätestens nach 3 — 4 Wochen,
pflegt ziemlich rasch Beruhigung einzutreten. In einzelnen Fällen
verlieren sich sämmtliche Krankheitserscheinungen von einem Tage
zum andern; meist jedoch vollzieht sich dieser Nachlass mehr all-
mählich. Einzelne Täuschungen, Reste der Wahnideen und nament-
lich der Stimmungsanomalien bleiben noch kurze Zeit zurück, nach-
dem die Aufregung und Verwirrtheit bereits geschwunden sind. Die
Kranken sind zunächst noch misstrauisch, einsichtslos, unzufrieden,
reizbar, auch wol leicht ideenflüchtig, namentlich in Schriftstücken,
redselig oder unzugänglich, drängen fort, bis dann im Laufe
einiger Wochen nach und nach auch die letzten Krankheits-
zeichen zurücktreten. Die Erinnerung an die deliriöse Zeit ist
meist eine ziemlich unklare ; vielfach besteht sogar fast völlige
Amnesie. —
Die körperlichen Erscheinungen der manischen Zustände sind
je nach der besonderen Gestaltung derselben etwas verschieden. Bei
den Formen mit stärkerer Erregung ist der Schlaf stets sehr gestört:
bisweilen besteht sogar fast völlige, höchstens auf wenige Stunden
unterbrochene Schlaflosigkeit, die Wochen, selbst Monate andauem
kann. Auch in den leichteren Erregungszuständen kommen die
Kranken spät zur Ruhe und sind schon sehr früh wieder munter,
scheinen aber ausserordentlich tief zu schlafen. Die Esslust ist
vielfach gesteigert, die Nahrungsaufnahme aber dennoch in Folge der
Hast und Unruhe unregelmässig. Das Körpergewicht sinkt bei
der Tobsucht stets sehr bedeutend, während es in hypomanischen
Anfällen meist ansteigt. Dem entsprechend gewinnt hier die Haut
frische Farbe und Spannung; die Bewegungen werden elastisch und
kräftig; das spärlich gewordene Haar wächst nach, bisweilen mit ver-
jüngtem Pigment. Bei starker Erregung ist die Temperatur bis-
weilen hochnormal, der Puls etwas beschleunigt; die Reflexe sind
gesteigert. In vereinzelten Fällen treten Ohnmächten und selbst
epileptiforme Anfälle auf; häufiger sind einzelne hysterische Er-
scheinungen. Hie und da beobachtet man Wallungen zum Kopfe,
geröthetes Gesiebt, injicirte Bindehäute, starkes Schwitzen am Kopfe,
Kälte der Extremitäten. Einige Male sah ich in Folge des anhaltenden
Schreiens hochgradige Ausdehnung und Schlängelung der oberfläch-
lichen Venen am Halse. Im Harn fand Mendel eine auffallende
Manische Zustände.
385
Abnahme des Phosphorgehaltes; in einzelnen Fällen wird Diabetes
insipidus beobachtet.'
Der Verlauf des manischen Anfalles ist ein recht verschiedener.
Die Höhe der Krankheitserscheinungen wird in der Regel ziem-
lich rasch erreicht, bisweilen schon innerhalb weniger Tage. Von
da ab kann der Zustand ebenso schnell wieder dem gesunden sich
nähern, doch ist das meist nur bei den deliriösen Formen, selten
auch einmal bei einfacher Tobsucht der Fall. In der Regel erhält
sich die manische Erregung längere Zeit hindurch in annähernd
gleicher Stärke, allerdings immer mit vielfachen Schwankungen.
Sehr häufig sind Einschiebsel trauriger Verstimmung und selbst
vorübergehenden Stupors, eine Erscheinung, die uns das Verständniss
für die später zu besprechenden Mischformen eröffnet. Die end-
gültige Beruhigung stellt sich nach längerer Krankheitsdauer stets
ganz allmählich ein, indem die Besserungen des Zustandes sich
immer deutlicher ausprägen. Die Kranken werden klarer über ihre
Umgebung, zugänglicher, aufmerksamer, gerathen aber sehr leicht
wieder in die frühere Ideenflucht hinein. Auch dann, wenn die
stürmischeren Störungen bereits in den Hintergrund getreten sind,
pflegt doch eine erhöhte gemüthliche Reizbarkeit, gehobenes Selbst-
gefühl sowie eine gewisse Unstetigkeit noch einige Zeit lang
zurückzubleiben. Plötzliche, unerwartet heftige Zornausbrüche
können sich an die geringfügigsten Anlässe anschliessen, auch
nachdem anscheinend schon längst völlige Beruhigung eingetreten
ist, namentlich bei den späteren, gern schleppend verlaufenden
Anfällen. Oefters sieht man auch die anscheinend gänzlich ge-
schwundene manische Erregung noch einmal aufflackern, wenn
die Kranken in ungünstige Verhältnisse kommen oder zu trinken
anfangen.
Auch die Dauer der manischen Erregung ist grossen Schwan-
kungen unterworfen. Während die deliriösen Formen meist innerhalb
einiger Wochen ablaufen, erstreckt sich die übergrosse Mehrzahl
der Erkrankungen über viele Monate. Aber auch Anfälle von 2 bis
3 jähriger Dauer gehören keineswegs zu den Seltenheiten; ich habe
sogar eine Tobsucht gesehen, die noch nach 7 Jahren in Genesung
überging. Es scheinen namentlich die Formen mit allerlei Wahn-
bildungen und mässiger, sich nur von Zeit zu Zeit steigernder Er-
regung zu sein, die einen so langwierigen Verlauf zeigen.
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 25
386
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Recht häufig schliesst sich an das Schwinden der manischen
Erregung ein mehr oder weniger ausgeprägter Zustand von Schwäche
und Kleinmüthigkeit an, der gewöhnlich als Erschöpfung nach der
schweren Krankheit aufgefasst wird, während ich mehr geneigt bin,
darin einfach den Umschlag in die unserer Krankheit eigenthüm-
liche Depression zu erblicken. Die Kranken sind äusserst leicht
ermüdbar, unfähig zu jeder geistigen oder körperlichen Anstrengung,
meist niedergeschlagen, besorgt wegen ihrer Zukunft, einsilbig,
schwerfällig, unentschlossen. Im weiteren Verlaufe pflegen sich
diese Störungen unter beträchtlichem Steigen des Körpergewichtes
nach und nach wieder zu verlieren. In einzelnen, ganz be-
sonders schweren Fällen kann jedoch, wie es scheint, eine ge-
wisse Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit (Urtheilslosigkeit
mangelhafte Krankheitseinsicht) und namentlich der gemüthlichen
Widerstandsfähigkeit (Reizbarkeit, Bestimmbarkeit) dauernd Zurück-
bleiben.
Der Ausgang in Tod ist nicht sehr häufig. Derselbe kann durch
verschiedenartige hinzutretende Erkrankungen, durch einfache Er-
schöpfung (Collaps), durch Verletzungen und durch Fettembolien
der Lungen in Folge von ausgedehnten Zerquetschungen oder Ver-
eiterungen des Unterhautzellgewebes herbeigeführt werden. Sehr
fettreiche Personen mit ungenügender Leistungsfähigkeit des Herz-
muskels sind in schwereren manischen Anfällen entschieden ge-
fährdet. Von irgend gesicherten Leichenbefunden ist noch keine
Rede. Jedenfalls ist auf die häufig berichtete Hyperaemie des Hirns
und seiner Häute wegen der bekannten Fehlerquellen, welche der
Beurtheilung von Blutfüllungen an der Leiche anhaften, kein grosses
Gewicht zu legen.
Depressive Zustände. Die leichtesten Formen der Depressions-
zustände sind gekennzeichnet durch das Auftreten einer einfachen
psychischen Hemmung ohne Sinnestäuschungen und ohne
ausgeprägte Wahnideen. Dem Kranken wird das Denken schwer;
er vermag nicht mehr aufzufassen, dem Gedankengange eines Buches,
eines Gespräches zu folgen, fühlt sich müde, abgespannt, verdummt;
er beherrscht die ihm sonst geläufigen Kenntnisse nicht mehr, muss
sich auf einfache Dinge lange besinnen, findet keine Worte, kann
die Sätze nicht richtig zusammenfügen.
Die Stimmung ist eine trübe, hoffnungslose. Nichts vermag
Depressive Zustände.
387
sein Interesse dauernd anzuregen; nichts macht ihm Freude; er ist
gleichgültig geworden gegenüber seinen Angehörigen und dem, was
ihm früher das Liebste war. Ueberall sieht er nur die Schatten-
seiten und Schwierigkeiten; die Menschen um ihn herum sind nicht
so gut und uneigennützig, wie er gedacht hat; eine Enttäuschung
und Ernüchterung folgt der andern. Schwere Gedanken steigen auf:
seine Vergangenheit wie seine Zukunft erscheinen ihm in gleich-
massig trübem Lichte; er fühlt sich namenlos unglücklich, ohne doch
sagen zu können, warum. Sein Leben ist verpfuscht; er passt nicht
für seinen Beruf, will umsatteln, hätte sein Leben anders einrichten,
sich mehr zusammennehmen sollen. Er hat keinen Lebenszweck
mehr, zweifelt an unserem Herrgott, ist ein „Enterbter des Schick-
sals“ und schleppt sich mit einer gewissen dumpfen Ergebung, die
jeden Trost und jeden Lichtblick ausschliesst, mühsam von einem
Tage zum andern hin. Alles ist ihm verleidet; er hat keine Freude
in der Welt, mag nicht mehr leben, wird missmuthig, unfreundlich,
menschenscheu, bald weinerlich-verzagt oder ängstlich, bald reizbar
und finster. An allen Ecken und Enden kostet es Geld, mehr als
er bezahlen kann. Der wirtschaftliche Zusammenbruch ist unaus-
bleiblich; der Kranke fängt daher an, zu sparen und zu knausern,
sich und Andern nichts mehr zu gönnen, trägt seine schlechtesten
Kleider, isst sich nicht mehr satt.
Bisweilen tauchen in diesen Zuständen allerlei Zwangsvor-
stellungen auf. Die Kranken müssen wider ihren Willen grübeln,
sich mit der Ausmalung unangenehmer Bilder beschäftigen. Eine
meiner Kranken wurde auf das schwerste durch den Zwang ge-
peinigt, an religiöse Darstellungen (Crucifixe) obscöne geschlecht-
liche Vorstellungen anzuknüpfen. Andere quälen sich mit dem Ge-
danken, wie man sie martern, stückweise zerreissen könnte. Auch
Zwangsantriebe kommen gelegentlich vor, die eigene Mutter umzu-
bringen, Feuer anzulegen. Diese Erscheinungen dürfen wir vielleicht
als den Ausdruck einer gewissen, auch durch andere Gründe ge-
stützten Verwandtschaft des manisch-depressiven Irreseins mit dem
Entartungsirresein betrachten.
Ganz besonders auffallend ist der vollständige Mangel an That-
kraft. Der Kranke ist „muthlos und willenlos“, wie erstarrt und ver-
steinert, spricht kaum ein Wort, sitzt oft tagelang, die Hände in den
Schooss gelegt, stumpf vor sich hinbrütend da, unfähig, sich zu irgend
25*
388
IX. Das manisch-depressive Irresein.
einer Handlung emporzuraffen. Jede kleinste Leistung kostet ihm
eine unerhörte Anstrengung; selbst die alltäglichsten Verrichtungen,
das Aufstehen, Ankleiden, Waschen werden nur mit der grössten
Mühe erledigt, unterbleiben schliesslich auch wol ganz. Arbeiten,
wichtige Briefe, Geschäfte bleiben liegen, weil der Kranke nicht die
Kraft findet, die entgegenstehenden Hemmungen zu überwinden.
Beim Spazierengehen bleibt er in der Hausthüre oder an der
nächsten Ecke stehen, unschlüssig, wohin er sich wenden soll,
fürchtet sich vor jeder Begegnung, jedem Gespräche. Bisweilen
entwickelt sich eine förmliche Bettsucht; die Kranken versprechen
immer wieder, „morgen“ aufzustehen, haben aber stets neue Vor-
wände, liegen zu bleiben. Gerade wegen dieser schweren Willens-
störung kommt es verhältnissmässig selten zu ernsteren Selbst-
mordversuchen, wenn auch der Wunsch, zu sterben, recht häufig
auftaucht.
Die Besonnenheit und Orientirung der -Kranken ist trotz der
starken Erschwerung der Auffassung und des Denkens vollständig
erhalten. Zumeist besteht auch ein sehr lebhaftes Krankheits-
gefühl, ja nicht selten sogar eine gewisse Krankheitseinsicht, in-
sofern die Kranken ihr Bedauern über früher vorgekommene Un-
gehörigkeiten und die Besorgniss aussprechen, dass sie sich in der
Aufregung aufs neue hinreissen lassen möchten. Vielfach -wird
indessen die Wiederkehr der Verstimmung auf äussere Zufälligkeiten,
unangenehme Erfahrungen, Aenderungen in den Verhältnissen u. dergl.
zurückgeführt. Für den unbefangenen Beobachter ist es dabei deut-
lich, dass die psychische Wirkung jener Einflüsse überhaupt erst
durch die krankhafte Trübung der Gemiithslage zu Stande ge-
kommen war.
In ihren höchsten Graden kann die psychische Hemmung bis
zur Entwicklung eines ausgeprägten Stupors fortschreiten. Die
Kranken sind tief benommen, vermögen die Eindrücke der Um-
gebung nicht mehr aufzufassen und zu verarbeiten, verstehen die an
sie gerichteten Fragen nicht, haben keine Ahnung von ihrer Lage.
Ein bestimmter Affect ist dabei meist nicht erkennbar, doch pflegt
sich in den erstaunten Mienen der Kranken die Rathlosigkeit gegen-
über den eigenen Wahrnehmungen, ferner in ihren Abwehr-
bewegungen eine gewisse ängstliche Unsicherheit auszudrücken. Die
Willensäusserungen der Kranken sind äusserst spärliche. In der
Depressive Zustände.
389
Regel liegen sie stumm im Bette, geben keinerlei Antwort, ziehen
sich höchstens scheu vor Annäherungen zurück. Bald zeigen sie
Katalepsie und Willenlosigkeit, bald planloses Widerstreben bei
äusseren Eingriffen. Sie sitzen hülflos vor ihrem Essen, lassen es
sich aber vielleicht ohne weiteres einlöffeln; sie halten fest, was man
ihnen in die Hand drückt, drehen es langsam in der Hand, ohne
zu wissen, wie sie sich wieder davon befreien können. Sie sind
daher gänzlich ausser Stande, für ihre körperlichen Bedürfnisse zu
sorgen, werden nicht selten unrein. Von dem eigenthümlich verstörten
Gesichtsausdrucke solcher Kranker giebt die Figur 1 auf Tafel VII
eine gute Vorstellung. Die Erinnerung ist nach der meist ziemlich
rasch eintretenden Aufhellung des Bewusstseins sehr unklar und für
manche Zeiten ganz erloschen.
In einer zweiten grossen Gruppe von Fällen gesellen sich der
Denkstörung und der psychomotorischen Hemmung verschieden-
artige Wahnbildungen hinzu, vor allem Versündigungs- und Ver-
folgungsideen. Der Kranke fühlt sich ganz von Gott verlassen, ist
unnütz auf der Welt, von Jugend auf der schlechteste Mensch, ein
grosser Sünder und Verbrecher, heimgesucht vom bösen Geist, ganz
verworfen und verdammt; er hat seine Schuldigkeit nicht gethan,
die Ehe gebrochen, nicht alles gebeichtet, Alle beleidigt und un-
glücklich gemacht, ist Schuld am Krieg. Es werden ihm so Sachen
vorgestellt, als ob er jeden Schritt und Tritt in seinem Leben nicht
richtig gemacht hätte. Ihm ist, als müsse er fort; die Leute sehen
ihn an; er kann nicht mehr beten, hat kein Gefühl, keine Thränen
mehr, so roh ist er; im Gemüth fehlt’s. Er hat sich verkauft, kommt
in die Hölle; der Teufel holt ihn. Alle verachten und verspotten
ihn; er wird eingesperrt, von den Gensdarmen abgeholt, kommt ins
Zuchthaus, muss sterben, wird vergiftet, mit Hunden gehetzt, ver-
stümmelt; das Schaffot wird schon gezimmert. Die ganze Familie
wird eingesperrt; die Frau hat sich ertränkt; der Kranke wird
schimpflich aus seiner Stellung gejagt, muss nackt und elend^herum-
laufen; das Vermögen reicht nicht mehr; er kann nichts zahlen,
kommt nicht mehr durch. Häufig sind auch hypochondrische Vor-
stellungen. Der Kranke hat seine Gedanken verloren, seine Gesund-
heit zerstört, fühlt sich wie halb todt; er ist unheilbar, kann nie
wieder gesund werden. Weibliche Kranke fühlen sich schwanger,
sind geschlechtlich gemissbraucht worden; eine Kranke fing an, zu
390
IX. Das manisch-depressive Irresein.
fasten und ganz dünne Röckchen zu tragen, um ihren vermeintlich
gesegneten Zustand nicht offenkundig werden zu lassen. Eine solche
Kranke mit tief bekümmertem Gesichtsausdrucke stellt die Figur 3
der Tafel VII dar.
Yielfach gewinnen die Wahnideen einen ganz abenteuerlichen
und unsinnigen Inhalt. Alles kracht zusammen, ist verändert, ge-
fälscht, „alles fingirt, alles Talmi“; es ist eine ganz andere Welt, gar
nicht die richtige Stadt. Die Heimath ist vom Erdboden ver-
schwunden; die Angehörigen sind todt. Der Kranke hat den Kaiser
vergiftet, gehört gar nicht mehr zur Welt, ist kein Mensch mehr,
eine Missgeburt, ein Bild, ein Gespenst, „gerade nur so eine Gestalt1-.
Er kann nicht leben und nicht sterben, muss so herumschweben,
ewig auf der Welt sein. Wenn man ihn mit der Axt vor den
Kopf schlägt, ihm die Brust aufschneidet, ihn ins Feuer wirft, ist er
doch nicht umzubringen. „Man kann mich nicht mehr begraben1-,
sagte eine Kranke; „wenn ich mich auf die Wage setze, so heisst
es: Kuli!“ Das Herz schlägt nicht mehr, ist ein todtes Stück Fleisch:
die Eingeweide sind vertrocknet und zerfressen, der Stuhlgang seit
Monaten ausgeblieben, alle Glieder aus dem Gelenk, die Knochen
heruntergerutscht; der Körper ist durch und durch syphili tisch, hat
keinen Zusammenhalt mehr; der Magen ist gar nicht mehr da, der
Kopf so gross wie Palaestina; ein Wurm steckt im Leibe, ein Stück
Fleisch im Halse.
Hie und da werden auch Sinnestäuschungen beobachtet Der
Kranke sieht drohende Schatten, Gespenster, Geister, erblickt Thiere
mit spitzen Zähnen, die zur Thüre hereinkommen, junge Löwen,
Schlangen, einen grauen Kopf mit grossem Munde auf seinem Bett.
Er hört seine Angehörigen jammern, wird bedroht, beschimpft, mit
Vorwürfen überhäuft; seine eigenen Gedanken werden laut. Man
lässt ihm Qualm ins Zimmer; ihm wird Russ ins Gesicht geworfen,
in die Augen geschossen.
In einzelnen Fällen entwickeln sich bei völliger Besonnenheit
zusammenhängende Verfolgungsideen mit Sinnestäuschungen, die
etwa an den Alkoholwahnsinn erinnern. Die Kranken werden miss-
trauisch, fühlen sich beobachtet, werden von Spionen verfolgt, von
verkappten Mördern bedroht, erblicken einen Dolch in der Hand des
Nachbarn. Bei anderen bestehen dauernd zahlreiche Gehörs-
täuschungen. Sie hören auf der Strasse, im Wirthshause vom Neben-
raepelin, Psychiatrie, 6. Auf!.
TAFEL Vn.
Fig. 1. Circulärer Stupor
Fig. 2. Hypomanie
bei derselben Kranken.
Fig. 3. Circulare Depression.
Fig. 4. Manischer Stupor.
Circuläres Irresein.
ig von Johann Ambrosius Barth in Leipzig,
Depressive Zuf.ände.
/
391
tische einzelne Bemerkungen über sich fallen. Im Nebenzimmer
findet eine Gerichtssitzung über sie statt; es werden Intriguen ge-
sponnen, Versuche an ihnen gemacht; mit geheimen Worten und mit
verdächtigen Geberden wird gedroht; die Personen werden wahnhaft
verkannt.
Trotz aller dieser Wahnbildungen pflegt die Besonnenheit und
Orientirung der Kranken vollständigerhalten zu sein, obgleich sie
vielleicht ihren Aufenthaltsort wie die Personen ihrer Umgebung
wahnhaft umdeuten. Sie verstehen ohne weiteres alle Anreden,
wenn sie auch mit ihren Gedanken nicht sehr dabei sind, bringen
ihre Klagen geordnet, aber in überaus eintöniger Weise vor, kehren
sofort zu denselben zurück, sobald man versucht, über andere Dinge
mit ihnen zu sprechen. Sie sind denkträge, mögen und können sich
nicht viel besinnen, versagen sehr bald, wenn man ihnen Auf-
gaben stellt, erlahmen beim Versuche, einen einfachen Brief zu
schreiben.
In leichteren Fällen kann auch ein gewisses Krankheitsver-
ständniss vorhanden sein. Der Kranke kommt vielleicht von selbst
in die Anstalt, wenn er nicht von vorn herein alles für nutzlos hält.
An dieser Ansicht vermag auch der Hinweis auf frühere, glücklich
verlaufene Anfälle nichts zu ändern. Damals war alles noch ganz
anders; damals war noch die Möglichkeit einer Wiederherstellung,
jetzt nicht mehr. Dieser Anfall ist viel schlimmer, als irgend
einer zuvor.
Die Stimmung ist muthlos, düster, verzweifelt und macht sich
bisweilen in lebhaftem, eintönigem Jammern Luft. Vielfach aber
erscheinen die Kranken im Zusammenhalte mit den von ihnen ge-
äusserten Wahnvorstellungen merkwürdig stumpf, gehen wenig aus
sich heraus, starren vor sich hin, ohne sich um die Umgebung zu
bekümmern. Eine Kranke verkroch sieh in den Keller, um Ruhe
zu haben. Bei Besuchen der Angehörigen kann man sich indessen
öfters überzeugen, dass die Kranken durchaus nicht gleichgültig
sind; sie können dabei in sehr lebhafte Erregung gerathen.
In der Regel lassen sich deutlich die Zeichen der psychomoto-
rischen Hemmung nachweisen, leise, zögernde Antworten, langsame,
müde Bewegungen, Fehlen selbständiger Handlungen. In anderen
Fällen sind die Kranken lebhafter, ängstlich. Sie wollen sich selbst
der Polizei stellen, bitten um Verzeihung, flehen um Erbarmen.
392
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Sehr häufig sind Todesgedanken. Der Kranke möchte weg sein von
der Welt; man soll ihm den Kopf herunterschlagen. Er macht
auch Versuche, sich umzubringen, allerdings in Folge der Entschluss-
unfähigkeit vielfach mit geringem Nachdruck, stösst mit dem Kopfe
gegen die Wand, knüpft sich ein Tuch um den Hals, ritzt sich mit
dem Tischmesser am Handgelenk. Eine meiner Kranken kaufte sich
Strychninweizen und Phosphorpasta, nahm aber zum Glück nur den
ersteren, weil der Phosphor „zu wüst roch“. Eine andere trat auf
die Fensterbrüstung im zweiten Stocke, um sich herunterzustürzen,
kehrte aber ins Zimmer zurück, als ihr ein zufällig vorübergehender
Polizist mit dem Finger drohte.
Auch die wahnhaften Formen der Depressionszustände können
sich mit tiefer, stuporöser Trübung des Bewusstseins verbinden.
Die Kranken versinken hier in einen Dämmerzustand, in welchem
sie äusseren Eindrücken nahezu völlig unzugänglich sind, während
sie von bunten, zusammenhangslosen Delirien und Sinnestäuschungen
erfüllt werden. Ihre Umgebung verändert sich in der abenteuer-
lichsten Weise: das Zimmer dehnt sich aus ins Unendliche, wird
zum Himmel, in welchem sie Gott auf dem Throne sitzen sehen, oder
zum engen Grabe, in dem sie ersticken, während draussen Todten-
gebete gemurmelt werden. Die ganze Welt verbrennt und erstarrt dann
wieder zu Eis; der Kranke ist der letzte Mensch, der ewige Jude,
allein in der Verwüstung, in Sibirien. Draussen wird das Schaffot
aufgeschlagen; eine zahlreiche Gesellschaft beobachtet und verspottet
ihn; der Ofen macht bissige Bemerkungen. Man lässt ihn. nackt auf
der Strasse herumlaufen, stellt ihn als siamesischen Zwilling öffent-
lich aus, fordert ihn auf, sich aufzuhängen, um seine Schande zu
begraben. Er befindet sich auf schaukelndem Schiffe, wohnt der
feierlichen Beerdigung eines Fürsten mit Trauermusik und grossem
Gefolge bei ; auf einem hohen Berge sitzt ein kleines Männchen mit
einem Begenschirm, das immer wieder vom Winde heruntergeblasen
wird. Die Gesichter um ihn herum verzerren sich; die Personen
haben eine geheimnissvolle Bedeutung, sind geschichtliche Grössen,
Gottheiten. Der Kranke selbst ist anderen Geschlechtes geworden,
geschwollen wie ein Fass; er ist von hoher Abkunft, der Welt-
erlöser, ein Schlachtross.
Während dieser wechselnden, traumhaften Erlebnisse sind die
Kranken äusserlich meist stark gehemmt, ausser Stande, ein Wort
Depressive Zustände.
393
zu sprechen oder selbst für ihre Bedürfnisse zu sorgen, essen nicht,
werden unreinlich. Ohne lebhaftere Gefühlsregungen zu verrathen,
liegen sie stumm, unzugänglich, theilnahmlos im Bett; nur der ge-
spannte, scheue Gesichtsausdruck und das Widerstreben gegenüber
äusseren Einwirkungen , bisweilen auch einzelne absonderliche
Stellungen oder Bewegungen sowie unvermuthete triebartige
Handlungen (Selbstmordversuche) deuten auf die Vorgänge in
ihrem Innern hin. Hie und da hört man auch einzelne ab-
gerissene, langsam, wie staunend, von ihnen vorgebrachte Aeusse-
rungen. Die folgende Nachschrift lässt die tiefe Verworrenheit
deutlich erkennen:
„Eine Stimme hat die andere verstießt — Nein, so wars nicht — Es ist
etwas sonderbar — Es war ganz anders — Das Haus ist überzwerch — Alle haben
Gift — Nein, die haben das geschrieen — Nein, ich hab’s extra geschrieben —
Ja, jetzt ess’ ich nichts mehr — Hätten Sie es anders nun gemacht, dann wär’s
besser gewesen — Sie hätten gar nichts geschrieben — Die hat alle Leute ver-
schreckt — Es ist halt keine richtige Schildwache droben — jetzt wird’s nicht
mehr besser —
Bei dem allmählichen Erwachen aus diesem Zustande bleiben
oft noch längere Zeit hindurch einzelne illusionäre oder hallucina-
torische Täuschungen zurück, selbst wenn die Kranken sie schon
richtig zu beurtheilen verstehen.
Auch die Depressionszustände sind regelmässig von allerlei
körperlichen Störungen begleitet. Die Kranken klagen über Druck
und Benommenheit, Leere im Kopfe, Ohrensausen, Beklemmungs-
gefühle, Herzklopfen, Schaudern im Nacken, Schwere in den Gliedern.
Die Esslust ist in der Regel sehr herabgesetzt, die Zunge belegt,
der Stuhlgang angehalten ; die Kranken nehmen nur mit Wider-
willen und auf vieles Zureden Nahrung zu sich. Der Schlaf ist
trotz starken Schlafbedürfnisses stets empfindlich beeinträchtigt; die
Kranken liegen stundenlang, von peinigenden Vorstellungen ge-
quält, schlaflos im Bette, um nach wirren, ängstlichen Träumen am
andern Morgen mit wüstem Kopfe, abgeschlagen und ermattet zu
erwachen. Sie stehen meist sehr spät auf, bleiben auch wol Tage
oder Wochen lang ganz liegen. Der Gesichtsausdruck und die
Körperhaltung ist schlaff und matt, die Sprache leise, zögernd,
die Augen glanzlos; die Haut ist fahl, runzelig, welk; das
Körpergewicht pflegt bedeutendzu sinken, namentlich in den mit
Wahnbildungen oder Stupor eingehenden Formen.
394
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Mischzustände. Wenn man genauer eine grossere Zahl von
Fällen beobachtet, die den verschiedenen Gestaltungen des manisch-
depressiven Irreseins angehören, so macht man bald die Bemerkung,
dass zwischen den bisher auseinandergehaltenen Grundformen, der
manischen Erregung und der Depression, zahlreiche Uebergänge be-
stehen. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass manische Kranke
vorübergehend nicht nur traurig oder verzweifelt, sondern auch still
und gehemmt erscheinen können. Solche plötzliche Umschläge für
Stunden oder einzelne ganze Tage sind in der einen wie in der
anderen Richtung ungemein häufig. Ein Kranker geht vielleicht
verstimmt und gehemmt zu Bette, wacht plötzlich mit dem Gefühle
auf, als ob ein Schleier von seinem Hirn weggezogen wäre, ver-
bringt den Tag in manischer Schaffensfreudigkeit, um am nächsten
Morgen zerschlagen, mit schwerem Kopfe das ganze Elend seines
Zustandes wieder in sich vorzufinden. Oder der hypomanische,
übermtithige Kranke unternimmt ganz unvermuthet einen schweren
Selbstmordversuch.
Weiterhin aber beobachten wir auch wirkliche Mischungen
gleichzeitig bestehender manischer und Repressiver
Krankheitszeichen. So begegnen uns in den Depressions-
zuständen vielfach einzelne Zeichen heiterer Stimmung oder er-
leichterter Auslösung von Willensantrieben. Wir sehen die tief-
bekümmerten Kranken bei der Aeusserung einer unsinnigen Wahn-
vorstellung plötzlich lächeln; sie machen trotz ihrer Verzweiflung
vielleicht eine treffende, witzige Bemerkung über einen Vorfall
in der Umgebung. Umgekehrt werden manische Kranke zeitweise
missmuthig, unzufrieden, äussern Verfolgungsideen und ängstliche
Befürchtungen; sie werden vergiftet, unterdrückt, von der Frau
betrogen.
Abgesehen aber von solchen mehr vorübergehenden Erschei-
nungen, giebt es bei unseren Kranken auch ganze, mitunter sehr
lange dauernde Anfälle, die wir wol am zutreffendsten als Zwischen-
formen zwischen den bisher besprochenen Zuständen auffassen dürfen.
In der Hauptsache lassen sich vielleicht zwei grosse Gruppen aus-
einanderhalten, manische Zustände mit Hemmung und De-
pressionszustände mit Erregung.
Zu der erstgenannten Gruppe sind zunächst die Fälle zu
rechnen, in denen die Kranken trotz unzweifelhaft manischer Störung
Mischzustände.
395
ganz auffallend gedankenarm und unbesinnlich sind. Die
Kranken nehmen langsam und ungenau wahr, verstehen Fragen
öfters erst bei mehrfacher, eindringlicher Wiederholung, passen gar
nicht auf, geben vielfach verkehrte, ausweichende Antworten, können
sich auf einfache Dinge nicht gleich besinnen. Sie machen darum
nicht selten einen geradezu schwachsinnigen Eindruck, während sie
sich später sogar als recht begabt erweisen können. Der Zustand
ist grossen Schwankungen unterworfen, so dass die Kranken vorüber-
gehend sehr schlagfertig und gewandt antworten, während sie zu
anderen Zeiten gar nichts vorzubringen vermögen.
Die Stimmung der Kranken ist heiter, vergnügt, ausgelassen; sie
lachen mit und ohne Anlass, freuen sich über jede Kleinigkeit. Ihre
Reden sind zusammenhangslos, faselig, oft sehr einförmig; sie sprechen
weder besonders hastig noch viel, können sich lange Zeit hindurch
ganz still verhalten, wenn sie nicht von aussen angeregt werden.
Immerhin pflegt eine gesteigerte Erregbarkeit zu bestehen. Während
die Kranken zunächst keine Worte finden, kann sich im Laufe eines
Gespräches allmählich ein rasch anschwellender Rededrang ent-
wickeln. Der Beschäftigungsdrang beschränkt sich vielfach auf
Gesichterschneiden, gelegentliches Herumtanzen, übermiithiges
Schleudern von Gegenständen, Veränderung in Kleidung und Haar-
tracht, ohne die rastlose Geschäftigkeit zu zeigen, wie sie sonst der
Manie eigenthümlich ist. Manche dieser Kranken benehmen sich
für gewöhnlich so ruhig und geordnet, dass die Erregung bei ober-
flächlicher Beobachtung gar nicht hervortritt. Dagegen sind sie in
gehobener, hie und da etwas gereizter Stimmung und gerathen in
Gesprächen bei grosser Gedankenarmuth sofort in ein zusammen-
hangsloses, ideenflüchtiges Gefasel hinein, das mit einer gewissen
zufriedenen Selbstverständlichkeit vorgebracht wird. Allmählich be-
merkt man dann, dass sie zu keiner geordneten Beschäftigung fähig
sind, vielmehr Neigung zu allerlei Schabernack und imnützen
Streichen zeigen, sammeln, zusammenstehlen, zerreissen, verknoten,
Schlüssellöcher verstopfen, Papierfetzen an die Wand kleben, muth-
willig verderben. Zeitweise kommt es auch zu ganz unvermittelten,
kurzdauernden, triebartigen Ausbrüchen von grosser Heftigkeit.
Ein solcher Kranker sprang ohne Anlass plötzlich aus dem Bade,
schlug den Wärter mit einem Stuhle nieder, zertrümmerte einige
Fensterscheiben und schlüpfte völlig nackt in den schneebedeckten
396
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Garten hinaus, wo er sich ganz ruhig* wieder einfangen Hess, als
ob nicht das Geringste geschehen wäre ; er war auch nicht im
Stande, irgend einen Beweggrund für sein Handeln anzugeben.
Vorübergehend kann sich auch wirkliche Tobsucht mit Ideenflucht
und lebhaftem Rededrang einstellen.
Am überzeugendsten vielleicht tritt die wechselvolle Zusammen-
setzung der Krankheitsbilder aus den einzelnen Zeichen des manisch-
depressiven Irreseins in jenen Zuständen hervor, für die ich die
Bezeichnung des „manischen Stupors“ vorgeschlagen habe. Es
handelt sich hier um die Mischung von stuporöser Hemmung mit
manischer Erregung. Die Kranken sind gewöhnlich ganz unzu-
gänglich, kümmern sich nicht um ihre Umgebung, geben keine Amt-
wort, sprechen höchstens leise vor sich hin, lächeln ohne erkenn-
baren Anlass, liegen vollkommen still im Bett oder nesteln an ihren
Kleidern und Bettstücken herum, putzen sich in abenteuerücher
Weise heraus, alles ohne Zeichen von äusserer Unruhe oder ge-
müthlicher Erregung. Bisweilen werden einzelne Wahnvorstellungen
wechselnden Inhaltes geäussert. Die Kranken fühlen Kälte im
Hirn, haben eine Zunge von Eisen, werden von Eisbären gefressen,
sind vertauschtes Fürstenkind, Eleonora von Halberstadt. Meist
aber erweisen sie sich als ziemlich besonnen und orientirt. Nicht
selten lässt sich Katalepsie nachweisen. Ganz unvermuthet jedoch
werden sie lebhaft, schimpfen laut und. heftig, machen unter aus-
gelassenem Lachen eine schnippische, treffende Bemerkung, springen
aus dem Bett, werfen ihr Essen ins Zimmer, entkleiden sich plötz-
lich, rennen im Sturmschritt durch einige Säle, zerreissen ein
Kleidungsstück oder misshandeln ohne äussere Veranlassung einen
Mitkranken, um sofort wieder in ihre frühere Unzugänglichkeit zurück-
zuversinken. Zu anderen Zeiten trifft mau sie auch wol einmal
ruhig, besonnen und einsichtig an, meist allerdings nur ganz vor-
übergehend. Manche Kranke wandern gemessenen Schrittes auf der
Abtheilung herum, reden fast nichts, machen aber gelegentlich einen
Witz, duzen den Arzt, drängen sich erotisch an ihn heran, lächeln.
Eine solche Kranke stahl Nachts ihrer schlafenden Wärterin die
Schlüssel und entwich damit in das Zimmer eines Arztes, freute
sich sehr über den gelungenen Streich, ohne ein Wort zu sprechen.
Oft haben die Kranken eine ganz genaue Erinnerung an die ver-
flossene Zeit, vermögen aber ihr absonderliches Benehmen durchaus
Mischzustände.
397
nicht zu erklären. „Ich wollte keinen Willen haben,“ sagte mir ein
derartiger Kranker. Er hatte die Nahrung verweigert, um leichter
zu werden und dadurch die Gesundheit zu erlangen, fühlte sich aber
durch den Hunger veranlasst, grosse Mengen Milch durch die Nase
einzuschlürfen und an einer Semmel leidenschaftlich zu riechen.
Bei diesen absonderlichen Veranstaltungen lächelte er selbst, sprach
aber kein Wort und liess sich nicht davon abbringen.
Eine gewisse Vorstellung von diesem Zustande kann vielleicht
die Figur 4 der Tafel VII geben. In dem mürrischen, finsteren Ge-
sichtsausdrucke der immer starr auf demselben Flecke stehenden
Kranken giebt sich deutlich die Verstimmung und Hemmung zu
erkennen, die sie viele Monate lang beherrschte und stumm machte.
Gleichzeitig aber trat in der fast unüberwindlichen Neigung zum
Zerreissen und Schmieren die manische Erregung hervor, die in dem
Schmucke aus abgerupften Blättern und Zweigen auch auf dem
Bilde erkennbar ist. Bisweilen, wie bei dieser Kranken, dauert der
manische Stupor während eines ganzen Anfalles an. Oefters aber schiebt
sich dieser Zustand nur vorübergehend in einen ausgeprägt manischen
Anfall ein. Noch häufiger bildet er den Uebergang zwischen einem de-
pressiven Stupor und der an ihn sich anschliessenden Manie. Man
kann dann schrittweise die verschiedenen Zwischenstufen verfolgen,
das Nachlassen der traurigen Verstimmung, das Auftreten des ersten
Lächelns, das Freierwerden der Bewegungen, die Entwicklung einer
gewissen Unruhe mit leisem Flüstern und endlich das Schwinden
der Hemmung auch auf sprachlichem Gebiete mit Hervorbrechen
von Rededrang und Ideenflucht.
Auf eine Mischung von manischen und depressiven Krankheits-
zeichen lassen sich ferner wol auch die nicht seltenen nörgelnden
Formen der Manie zurückführen, auf deren leichteste Gestaltungen
Hecker besonders hingewiesen hat. Hier zeigen die Kranken wol
ein gehobenes Selbstgefühl, aber durchaus keine heitere Stimmung.
Vielmehr sind sie unzufrieden, unleidlich, vielleicht sogar leicht
ängstlich, haben an allem etwas auszusetzen, fühlen sich bei jeder
Gelegenheit schlecht behandelt, bekommen schlechtes Essen, können
es in der entsetzlichen Umgebung nicht aushalten, in den miserablen
Betten nicht schlafen, mit den anderen Kranken nicht verkehren.
Bei ihrer völligen Besonnenheit haben sie eine grosse Neigung und
Fähigkeit, Andere zu verletzen und zu kränken, sie unter einander
398
IX. Das manisch-depressive Irresein.
zu verhetzen, aufzuwiegeln, überall das Unangenehme herauszufinden
und in den Vordergrund zu stellen. Jeden Tag bringen sie neue
Klagen vor, bevormunden ihre Umgebung, -werden gereizt wenn
man ihnen nach ihrer Meinung nicht genügend Gehör schenkt Die
manische Grundlage deutet sich in leichter Ideenflucht, grosser Un-
stetigkeit und Rastlosigkeit an, die den Kranken dazu treibt viel
herumzuwandern, alle möglichen Curen zu beginnen, ohne eine
einzige durchzuführen, übermässig zu rauchen und zu trinken.
Die richtige Deutung dieser Fälle wird uns durch die Er-
fahrung gegeben, dass derartige Zustände ungemein häufig in der
Uebergangszeit zwischen manischer Erregung und Depression
beobachtet werden. Die bis dahin gehemmten und traurig ver-
stimmten Kranken sehen wir allmählich unruhiger werden, aber sie
erscheinen zunächst mit sich und aller Welt zerfallen, bringen in
immer lebhafterer Weise alle möglichen Klagen über ihren Zustand
und bald auch über die Umgebung vor, machen treffende, oft bissige
Bemerkungen, beschäftigen sich gewandt, aber ruhelos, sind immer-
fort in Bewegung, sprechen viel, einförmig, bis endlich ein ge-
legentliches Lächeln, Neigung zu Reimereien und Wortspielen, Unter-
nehmungslust die Ausbildung des manischen Krankheitszustandes
immer deutlicher verkündet. Umgekehrt verliert sich bei manischen
Kranken die ausgelassene und übermiithige Stimmung; sie werden
missmuthig, unverträglich, unlenksam, quälerisch für ihre Umgebung,
drängen und nörgeln, bis nach und nach die Unruhe immer
mehr zurücktritt und die Zeichen der psychomotorischen Hemmung
das Uebergewicht erhalten. Während aller dieser Uebergangszustände,
in denen sich traurige Verstimmung ohne ausgesprochene Hemmung
findet, sind die Kranken sich selbst am gefährlichsten, obgleich ihr
Zustand vielleicht weniger schwer erscheint, als auf der Höhe der
Verstimmung oder Erregung. Mehrfach sah ich gerade dann Selbst-
mordversuche, die vorher wegen der Willenlosigkeit trotz schweren
Lebensüberdrusses nicht zu Stande gekommen waren. Ein Kranker
mit sehr leichter Verstimmung erhängte sich wenige Tage vor seiner
Entlassung auf einem freien Ausgange, nachdem er bereits auf-
fallend heiter erschien.
Wir erkennen bei diesen Zuständen unmittelbar, dass sie durch
die Verbindung von psychomotorischer Erregung mit depressiver
Verstimmung gekennzeichnet sind, und werden diese Auffassung
Ursachen.
399
daher auch für diejenigen Fälle festhalten dürfen, bei denen das
Krankheitsbild dauernd die Erscheinungen der depressiven Erregung
aufweist.
In einer kleinen Zahl von Fällen habe ich neben schweren
depressiven Wahnvorstellungen und verzweifelter Stimmung geradezu
ausgeprägte Ideenflucht beobachtet. Eine Kranke mit Versün-
digungswahn schrieb zu meinem Erstaunen ausserordentlich flott
bogenlange Briefe voll von Selbstanklagen und wahnhaften Be-
fürchtungen. Manche traurig verstimmte Kranke sind ungemein
redselig und überschütten ihre Umgebung mit zusammenhangslosen
Klagen über ihr schreckliches Unglück. Da wir auch diese Erscheinung
vielfach in der Uebergangszeit zur manischen Erregung beobachten,
bin ich geneigt, darin schon das Umschlagen der psychomotorischen
Hemmung in erleichterte Auslösung vpn Bewegungsantrieben zu
sehen. Nicht selten erfahren wir von gehemmten Kranken, sobald
sie wieder anfangen, sich über ihre Zustände zu äussern, dass sie
ihre Gedanken gar nicht festhalten können, dass ihnen immerfort
massenhafte Dinge in den Kopf kämen, an die sie niemals gedacht
hätten. Im Hinblicke auf die sonstigen Erfahrungen über Mischung
der Krankheitszeichen läge die Annahme nahe, dass wir es in
solchen Fällen mit dem Auftreten einer Ideenflucht zu thun haben,
die nur wegen der Hemmung der sprachlichen Bewegungen
nach aussen hin nicht erkennbar wird. Gesellt sich späterhin der
Rededrang hinzu, so haben wir das gewöhnliche Bild der manischen
Ideenflucht vor uns. —
Das manisch-depressive Irresein in dem hier umgrenzten Sinne
ist eine recht häufige Krankheit; etwa 10 — 15 °/0 der Aufnahmen in
meiner Klinik gehören demselben an. Die Ursachen desselben
haben wir, wie es scheint, wesentlich in krankhafter Veranlagung
zu suchen. Erbliche Belastung konnte ich in etwa 80°/o meiner
Fälle nachweisen, vielfach gerade auch circuläres oder periodisches
Irresein bei anderen Familienmitgliedern. Nicht selten findet sich
bei den Kranken eine vortreffliche verstandesmässige oder künst-
lerische Begabung. Bei anderen wird berichtet, dass sie von Jugend
auf ungewöhnliche, aufgeregte Menschen mit häufigem, grundlosem
Stimmungswechsel oder im Gegentheil grüblerisch, übertrieben
fromm, scheu und still gewesen seien. Hie und da besteht auch
geradezu angeborener Schwachsinn. In einer Reihe von Fällen
400
IX. Das manisch-depressive Irresein.
treten namentlich während der Anfälle, aber auch schon vorher,
allerlei hysterische Züge hervor, Schreianfälle, Magenkrämpfe, Ohn-
mächten, grosse Anfälle. Auch körperliche Entartungszeichen, be-
sonders Schädelverbildungen, Kleinheit desselben, Skoliosen, hydro-
cephalische Ausbuchtung, finden sich öfters. Das weibliche Geschlecht
liefert nahezu zwei Drittel der Kranken. Die Yertheilung der ersten
Anfälle auf die einzelnen Lebensalter erhellt aus der nebensteben-
I-
4?
Jahre
den Darstellung. Die Krankheit beginnt demnach in mehr als 2/s
der Fälle vor dem 25. Lebensjahre; hie und da reichen ihre
ersten Andeutungen schon vor das 10. Lebensjahr zurück. Ganz
besonders stark ist das Ueberwiegen der jugendlicheren Lebensalter
beim weiblichen Geschlechte. Hier fallen 8/4 der Fälle vor das
25. Jahr; auch im Rückbildungsalter findet sich bei den Frauen
wieder eine etwas stärkere Neigung, in der hier geschilderten Weise zu
erkranken. Bisweilen setzt die Krankheit mit dem ersten Auftreten der
Menses ein; auch späterhin beobachten wir häufig Verschlimmerungen
Ursachen.
401
des Zustandes während der Regel. Umgekehrt deutet das Wieder-
erscheinen derselben nach längerem Aussetzen während der De-
pression auf eine bevorstehende Aenderung des Krankheitsbildes
hin. Nicht ganz selten sieht man einen Anfall im Wochenbette
beginnen. Bei einer meiner Kranken erfolgten die drei ersten Anfälle im
Anschlüsse an Geburten, die späteren dann freilich ohne solchen
Anlass; eine andere erkrankte zunächst nach einem von ihr selbst
herbeigeführten Abortus und dann wieder in einem Wochenbette,
gebar aber dazwischen einmal ohne Störung.
Yon sonstigen äusseren Anlässen ist die Entwicklung der Krank-
heit im allgemeinen unabhängig, wenn auch gewöhnlich vom Kranken
und seiner Umgebung irgend welche Zufälle zur Erklärung herbei-
gezogen werden. Immerhin können allerlei Schädigungen, eine heftige
Gemüthserschütterung, ein körperliches Unwohlsein, eine fieberhafte
Krankheit, auf vorbereitetem Boden den letzten Anstoss zum Ausbruche
der Störung geben. Eine meiner Kranken wurde manisch nach einem
Bauchschnitte. Kopfverletzungen werden öfters als Ursachen der
Krankheit angegeben, doch lässt sich der Nachweis des Zusammen-
hanges wol kaum jemals in überzeugender Form erbringen. Auf
der anderen Seite beobachten wir vielfach eine erstaunliche Unab-
hängigkeit der gesammten Krankheitsanfälle von äusseren Ein-
wirkungen, so dass wir an der inneren Verursachung derselben
nicht wol zweifeln können.
Vielleicht der wichtigste Beweisgrund für diese Auffassung ist
aber die Thatsache, dass die manisch-depressiven Geistesstörungen
eine sehr ausgesprochene Neigung haben, im Leben mehrfach, ja
sogar sehr häufig wiederzukehren; in manchen Fällen können die
verschiedenartigen Formen desselben Jahrzehnte lang ununterbrochen
mit einander abwechseln. Diese Eigenthümlichkeit der Krankheit
hat von jeher die Aufmerksamkeit der Irrenärzte in besonderem
Maasse auf sich gezogen und ihnen Anlass gegeben, die Haupt-
masse der Beobachtungen unter dem Namen des periodischen
Irreseins zusammenzufassen. Da man die selbständige Periodicität
als ein wesentliches Kennzeichen der Krankheit betrachtete, schloss
man aus dem Bilde alle diejenigen Formen aus, welche jene Eigen-
schaft anscheinend oder wirklich nicht darboten. Zunächst ins Auge
fielen unter diesem Gesichtspunkte diejenigen Beobachtungen, in denen
die einzelnen Anfälle, seien sie manischer oder depressiver Gestaltung,
Kraopelin. Paychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 26
402
IX. Das manisch-depressive Irresein.
mit grösster Regelmässigkeit wiederkehrten. So unterschied man
eine periodische Manie, eine periodische Melancholie und
das circulare Irresein mit regelmässigem Wechsel zwischen
„Manie“ und „Melancholie“. Diese Umgrenzung ist noch heute in
Deutschland die verbreitetste. Schwierigkeiten entstehen dabei einmal
für die Mischformen und für die Fälle mit ausgeprägten Wahn-
bildungen, die auch woi als „periodische Paranoia“ bezeichnet wer-
den, andererseits für jene Fälle, in denen die einzelnen, bald mani-
schen, bald depressiven Anfälle ganz unregelmässig auf einander
folgen. Meist wird hier die Zugehörigkeit zum „periodischen“ oder „cir-
culären“ Irresein verneint oder doch stark bezweifelt. Vielmehr handelt
es sich dabei nach der landläufigen Anschauung um einzelne, von
einander unabhängige Erkrankungen an „Manie“ und „Melancholie“.
Vor allem gilt das natürlich für die Fälle mit sehr wenigen oder
gar nur einem einzigen Anfalle im Leben. Allerdings hat die Er-
fahrung überall gezeigt, dass die Zahl solcher Fälle bei genauerer
Untersuchung merkwürdig stark einschrumpft und die einfache
Manie eine immer seltenere Krankheit wird*); immerhin aber giebt
es ohne Zweifel vereinzelte Beobachtungen, in denen nur ein einziger
Anfall manischer Erkrankung im ganzen Leben nachgewiesen
werden kann.
Wer meinen bisherigen Darlegungen gefolgt ist, wird leicht
erkennen, dass diese Thatsache, um deren Festlegung sich eine
Reihe von Forschern bemüht haben, in keiner Weise geeignet ist,
die hier vertretene Anschauung von der Einheitlichkeit des manisch-
depressiven Irreseins zu erschüttern. Auf dem Wege einer mehr
oder weniger angreifbaren Statistik kann diese Frage überhaupt
nicht entschieden werden. Vielmehr kommt es offenbar darauf an,
festzustellen, ob die Wiederkehr der Anfälle bei dieser Krankheit
ein wesentliches oder ein mehr nebensächliches Krankheitszeichen
darstellt. Im ersteren Falle werden -nur die „periodischen“ Formen
den „einfachen“ als besondere Krankheitsgruppe gegenüberzustellen
haben, im letzteren nicht.
Zu dieser Frage ist zunächst zu bemerken, dass die mehr oder
weniger regelmässige Wiederkehr gewisser Störungen eine allgemeine
*) von Erp Taalman Kip, Allgern. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 119^
Hinrichsen, ebenda, 86.
Periodiqjjtät.
403
Eigenschaft aller derjenigen Formen des Irreseins ist, die aus einem
gleichmässigen psychischen Schwächezustande hervorwachsen oder
zu einem solchen führen. Alle aus krankhafter Veranlagung ent-
stehenden Geistesstörungen, das Entartungsirresein im engeren
Sinne, die Epilepsie, die Hysterie, andererseits wieder die Endzustände
der Dementia praecox zeigen die Neigung, von Zeit zu Zeit sich in
heftigeren Krankheitserscheinungen zu entladen, in „Krisen“, An-
fällen, Aufregungen u. s. f. Bisweilen spielen dabei auslösende An-
stösse eine gewisse Rolle, bisweilen auch nicht, ganz wie bei den
sogenannten periodischen Geistesstörungen. In manchen Fällen ist
die Wiederkehr eine streng regelmässige, so namentlich hie und da
in der Epilepsie; meist aber wird die Periodicität durch allerlei
unberechenbare Einflüsse derart gestört, dass nur ganz im all-
gemeinen die häufigere Wiederholung derselben Zufälle ins Auge
fällt. Ueberall aber, auch in der sonst am meisten zu gesetzmässiger
Periodicität neigenden Epilepsie, kann man einzelne Beobachtungen
sammeln, in denen die eigenartigen Störungen nicht häufig, sondern
nur wenige oder gar nur ein einziges Mal im Leben zur Entwick-
lung kommen. Wie wir wol annehmen dürfen, scheint in derartigen
Fällen die krankhafte Grundlage so wenig ausgeprägt zu sein, dass
sich der schlummernde Krankheitskeim nur unter besonders un-
günstigen Umständen wirklich einmal zur geistigen Störung
ausbildet. Trotzdem sprechen wir auch in solchen Ausnahmefällen von
epileptischen, hysterischen Zuständen, von Zwangsirresein u. dergl.,
ohne die häufigere Wiederkehr der Erscheinungen als durchaus
massgebend für die Diagnose zu betrachten.
Mit vollem Recht. Entscheidend ist uns das klinische Krank-
heitsbild selbst, dessen sämmtliche Einzelheiten sich widerspruchslos
in den Rahmen der bekannten Formen einordnen lassen müssen. Wie
mir scheint, ist nicht abzusehen, warum -wir bei den sogenannten
periodischen Geistesstörungen ein anderes Verfahren einschlagen
sollten. Zunächst ist von einer wirklich streng periodischen Wieder-
kehr der Anfälle nur in einer verhältnissmässig recht kleinen Zahl von
Beobachtungen die Rede. Von diesen aber führt eine unabsehbare
Schaar allmählicher Uebergänge zu den Formen mit ganz un-
regelmässigem Verlaufe hinüber, ja wir sehen — und darauf möchte
ich besonderes Gewicht legen — überaus häufig, dass auch bei sonst
ausgeprägter Periodicität die Anfälle im Beginne des Leidens oder
26*
404
IX. Das manisctylepressive Irresein.
selbst nach längerer Dauer sehr unregelmässig einsetzen oder eine
Reihe von Jahren plötzlich ausbleiben. Mit anderen Worten, die
Fälle mit grosser Regelmässigkeit unterscheiden sich nur nach dem
Grade, nicht nach dem Wesen der Störung von den übrigen.
Ganz ähnliche Erwägungen aber gelten für die Zahl der An-
fälle bei dem einzelnen Kranken. Wir kennen Beobachtungen, in
denen viele Dutzende von Anfällen in unabsehbarer Reihe zu ver-
zeichnen sind. Sodann giebt es Kranke mit 6, 8, 10 Anfällen im
Leben, die in grösseren Pausen auf einander folgen. Wird hier die
Zugehörigkeit zum periodischen Irresein zugestanden, so wird man
sie auch nicht ablehnen können, wenn etwa alle 15 — 20 Jahre von
der Entwicklungszeit an ein Anfall eintritt, also im ganzen 3—4
während des Lebens. Wer aber will behaupten, dass hier die
Grenze des „periodischen“ Irreseins endgültig erreicht wäre? Es
giebt Fälle, in denen zwischen den Anfällen 17, 28, ja, wie es mir
kürzlich vorgekommen ist, sogar 32 Jahre liegen; natürlich schrumpft
hier die Zahl der Erkrankungen auf höchstens 2 — 3 zusammen.
Erkrankt Jemand mit so langen Zwischenzeiten erst in höherem
Lebensalter oder dehnt sich die Pause noch länger aus, so kann es
leicht geschehen, dass er einen späteren Anfall überhaupt nicht
mehr erlebt, ganz abgesehen von der Möglichkeit, dass er gar
schon in verhältnissmässig frühen Jahren stirbt.
Wie man sieht, könnte man die vereinzelten Ausnahmefälle
mit nur einmaliger Erkrankung auch unter der Voraussetzung recht
wol erklären, dass wir es bei unserer Krankheitsform überall
wirklich mit einer strengen Periodicität zu thun hätten. Da aber
davon schlechterdings gar keine Rede sein kann und wir vielmehr
nur von einer allgemeinen Neigung zu häufigerer Wiederkehr
sprechen dürfen, so bedürfen wir derartiger Künsteleien gar nicht
Worauf es uns vielmehr einzig und allein ankommt, das ist die
grundsätzliche und vollkommene D ebereinstimmung des
allgemeinen klinischen Krankheitsbildes. Bis auf den
heutigen Tag hat man sich immer wieder abgemüht, die einfache
und die periodische Manie aus den Kraukheitszeichen selbst von
einander abzugrenzen, aber stets vergebens, weil diese Grenze eine
künstliche ist, von der die Natur nichts weiss. So sicher wir bei
gehöriger klinischer Erfahrung die Zugehörigkeit eines gegebenen
Krankheitsfalles zu dem vielgestaltigen Formenkreise des manisch-
Verlauf.
405
depressiven Irreseins zu erkennen vermögen, so unmöglich ist es,
irgend ein Kennzeichen anzugeben, welches ons gestatten soll, den
j, einfachen“ von dem „periodischen“ manischen Anfalle zu unter-
scheiden. Dass uns hier die Thatsache der Wiederkehr allein nicht
helfen kann, liegt auf der Hand; wir müssten ja sonst unter Um-
ständen 30 und mehr Jahre warten, bis wir unserer Diagnose ge-
wiss wären. Oder will man den Punkt ganz willkürlich bestimmen,
jenseits dessen ein sich wiederholender Anfall nicht mehr der Aus-
druck einer periodischen, sondern eine Neuerkrankung an einfacher
Manie ist? Wären beide Krankheiten nicht wirklich wesensgleich,
so müssten sich wenigstens nachträglich bei den Pallen mit nur
einer Erkrankung irgend welche Eigenthümlichkeiten auffinden
lassen, die wir bei den übrigen nicht finden. Bis das geschehen
ist, halte ich die Ansicht für berechtigt, dass wir es hier mit einer
einheitlichen Krankheit zu thun haben, die zwar in der Kegel,
aber nicht ausnahmslos mehrfach, bisweilen sogar sehr oft im Leben
wiederkehrt. )
Die einzelnen Anfälle des manisch-depressiven Irreseins sind, wie
schon aus der klinischen Schilderung hervorgeht, unter einander nicht
gleich, sondern können sich recht verschieden gestalten. Yor allem
können wir diejenigen Beobachtungen auseinanderhalten, deren sämmt-
liche Anfälle wenigstens die gleiche Stimmungsfärbung aufweisen,
die sogenannte periodische Manie bezw. Melancholie, und diejenigen
mit einem Wechsel von manischen und depressiven Anfällen, das
circulare Irresein. Auch ich habe früher diese drei Formenkreise
unterschieden, freilich mehr der Ueberlieferung, als der eigenen
Ueberzeugung folgend. Im Laufe der Zeit bin ich zu der Ansicht
gelangt, dass alle diese Gruppenbildungen nur eine sehr unter-
geordnete Bedeutung haben. Zwischen periodischer Manie und
circulärem Irresein ist eine scharfe Grenze schlechterdings nicht zu
ziehen. Bei der ungeheuren Mehrzahl der Manien beobachtet man,
sobald man einmal darauf aufmerksam geworden ist, einleitende
oder abschliessende Depressionszustände, die freilich oft nur einige
Tage andauern und wenig ausgeprägt sind. Auch in den Verlauf
der Erregung schieben sich ungemein häufig Stunden oder Tage
von ganz entgegengesetzter Färbung ein, und endlich entdeckt man
oft genug, dass leichtere Verstimmungen in den Zwischenzeiten
zwischen den manischen Anfällen vorhanden gewesen sind. Um-
406
IX. Das manisch-depressive Irresein.
gekehrt folgt den hierher gehörigen Depressionszuständen vielfach
eine auffallende „reactive“ Heiterkeit, die von Aerzten und Kranken
gewöhnlich als Ausdruck der Freude über die Genesung angesehen
wird, wie die reactive „Melancholie“ nach Manie als Erschöpfung
oder als Trauer wegen der überstandenen Geisteskrankheit. Während
der Depression beobachten wir plötzliche Erregungszustände, vorüber-
gehende Lustigkeit, oder wir erfahren, dass die Kranken sich vorher
oder nachher auffallend geputzt, gegen ihre Gewohnheit Vergnügungen
besucht haben, reizbar und aufgeregt gewesen seien. Von ganz
besonderer Bedeutung aber sind die Mischzustände, die uns auf das
eindringlichste lehren, dass manische und depressive Bilder in aller-
nächstem Grade mit einander verwandt sind. Sehen wir doch auch un-
gezählte Male die anscheinend so verschiedenartigen Zustände ganz
unvermittelt in einander übergehen! Wie mir scheint, ist demnach
der Schluss unabweisbar, dass alle die geschilderten Gestaltungen
des Krankheitsbildes nichts anderes sind, als Erscheinungsformen
eines und desselben grundlegenden Krankheitsvorganges.
Aequivalente, wie es die mannigfachen Abarten des epileptischen
Anfalles sind.
Eine wichtige Bestätigung erhält dieser Satz durch die Er-
fahrung, dass thatsächlich in einem und demselben Krankheitsfälle
die verschiedenartigsten Zustandsbilder für einander eintreten können.
Man beobachtet zwar im allgemeinen, dass die einzelnen Anfälle
bei einem Kranken eine gewisse Aehnlichkeit mit einander dar-
bieten, die sich hie und da zur „photographischen“ Gleichheit
steigern kann. Allein andererseits hat man nicht selten Gelegenheit,
in demselben Krankheitsverlaufe eine ganze Anzahl der hier ge-
schilderten Zustände nach einander auftreten zu sehen, von der
leichten Depression und dem Stupor durch die mannigfachsten
Mischzustände hindurch zur Hypomanie und zur schweren Tobsucht.
Irgend eine Gesetzmässigkeit dabei aufzufinden, ist mir bisher
nicht gelungen. Namentlich ist auch ein ganz regelmässiger Wechsel
zwischen manischen und depressiven Krankheitsabschnitten ver-
hältnissmässig selten. Weit häufiger ist die unregelmässige Auf-
einanderfolge oder ein starkes Ueberwiegen der .Anfälle einer
Färbung. In eine ganze Reihe von mauischen Anfällen schiebt
sich unvermuthet einmal ein depressiver oder ein Mischzustand und
umgekehrt. Die klinischen Zeichen der manischen Anfälle selbst
Verlauf; Grundlage.
407
sind auf ein Haar dieselben, gleichviel, ob sie mit depressiven ge-
mischt auftreten oder nicht. Auf Grund aller dieser Erwägungen
und Erfahrungen sehe ich keine Möglichkeit, die periodische Manie
im allgemeinen wie im einzelnen Falle vom circulären Irresein
abzutrennen.
Weniger einfach liegt die Frage vielleicht hinsichtlich der
periodischen „Melancholie“. Da es ohne Zweifel Beobachtungen mit
nur manischen Anfällen giebt, so lässt sich die Wahrscheinlichkeit
nicht von der Hand weisen, dass auch hierher gehörige Erkrankungen
Vorkommen, deren sämmtliche Anfälle depressive Bilder aufweisen.
In der That kennen wir solche wiederkehrende Formen, deren
einzelne Anfälle in allen klinischen Kennzeichen, namentlich in der
ausgeprägten psychomotorischen Hemmung, den depressiven Ab-
schnitten circulär verlaufender Erkrankungen entsprechen. Auf der
anderen Seite sehen wir aber auch die klimakterischen Melancholien
sich öfters mehrmals wiederholen. Freilich pflegen hier die späteren
Anfälle, anders als bei circulären Fällen, deutlich die fortschreitende
Greisenschwäche zu zeigen. Ausserdem dürfte auch das klinische
Bild gewisse, früher näher besprochene, eigenartige Züge aufweisen.
Immerhin ist die genauere Umgrenzung derjenigen Formen perio-
discher Depressionszustände, die der hier behandelten Krankheit
angehören, einstweilen noch etwas erschwert. So lange wir die
Kennzeichen der circulären Depressionszustände noch nicht bis in
ihre feinsten Einzelheiten erforscht haben, werden wir vielleicht im
einzelnen Falle zweifelhaft bleiben, ob wir uns auf die Möglichkeit
einer späteren Manie gefasst machen müssen oder nicht. Dass diese
Schwierigkeit indessen nicht im Wesen der Sache, sondern nur in
unserer unvollkommenen Kenntniss beruht, bedarf keiner besonderen
Begründung. —
Ueber das Wesen des manisch-depressiven Irreseins sind wir
noch gänzlich im Unklaren. Sowol die häufige Wiederkehr der
Anfälle wie der eigentümliche Wechsel zwischen Erregung und
Hemmung sind durchaus rätselhafte Thatsachen. Wir können vor-
erst nur darauf verweisen, dass in unserem Nervensysteme die
Neigung zu periodischem Ablaufe der Hemmungs- und Erregungs-
vorgänge auf den verschiedensten Gebieten wiederkehrt. Meynert
hat die Erklärung für den Wechsel gegensätzlicher Zustände in
periodischen Störungen der vasomotorischen Innervation gesucht.
408
IX. Das manisch-depressive Irresein.
In Folge von gesteigerter Reizbarkeit des Gefässcentrums soll sich
ein verstärkter Spannungszustand im gesammten Arteriengebiete mit
gleichzeitiger Hirnanaemie als Ursache der depressiven Verstimmung
entwickeln. Gerade die so entstandene mangelhafte Ernährung des
vasomotorischen Centrums soll dann weiterhin eine Lähmung des-
selben, Erweiterung der Gefässe und Hyperaemie des Gehirns herbei-
führen, als deren Ausdruck die Entwicklung der manischen Erregung
betrachtet wird. Zweifellos ist es, dass Veränderungen im Verhalten
der Pulsbilder den beiden Abschnitten des Anfalles entsprechen; im
übrigen jedoch rechnet die vorgetragene Anschauung mit völlig
unbekannten Grössen. Zudem versagt sie durchaus vor der That-
sache der Mischzustände.
Die sehr beträchtlichen Schwankungen des Körpergewichtes
könnten auch hier an allgemeinere Umwälzungen im Bereiche
der Stoffwechselvorgänge denken lassen, doch reichen unsere Kennt-
nisse durchaus nicht zur Aufstellung brauchbarer Gesichtspunkte
aus. Erwähnen will ich, dass mir einige Male von den Kranken
über epileptiforme Anfälle berichtet wurde. Das würde etwa
auf eine chemische Theorie hinweisen können, um so mehr,
als man jetzt auch bei der ebenfalls periodischen Epilepsie
sich der Annahme einer Selbstvergiftung zu nähern scheint.
Lange*) hat eigenthiimliche periodische Depressionszustände mit
psychischer Hemmung beschrieben, für die er eine gichtische
Entstehungsweise annimmt. Nach seiner Schilderung kann ich, wie
Hecker, nicht zweifeln, dass er leichte Formen des manisch-
depressiven Irreseins im Auge gehabt hat, deren manische Ab-
schnitte ihm entgangen sind. Dass wirklich die Gicht eine wesent-
liche Ursache bilden sollte, ist jedoch bis jetzt weder erwiesen noch
auch wahrscheinlich ; immerhin dürfte von Stoffwechseluntersuchungen
vielleicht einmal Auikhirung in dieser Frage zu erwarten sein.
Den Beginn der ganzen Krankheit bildet am häufigsten, in
etwas über 60 °/0 der Fälle, ein Depressionszustand, namentlich beim
weiblichen Geschlechte und bei den in jugendlichem Alter ein-
setzenden Formen. Die Färbung des ersten Anfalls ist bald eine
einfach traurige oder ängstliche, bald diejenige eines stärkeren oder
*) Periodische Depressionsz.ustände und ihre Pathogenesis auf dem Boden der
harnsauren Diathese, deutsch von Kureil a. 1896.
Beginn; Dauer der Anfälle.
409
schwächeren Stupors. Auf diesen ersten Anfall folgt etwa in der
Hälfte der Fälle eine freie Zwischenzeit; ebenso häufig jedoch
schliesst sich an die Depression sogleich eine manische Erregung,
die meist in vorläufige Genesung überführt. Nur in einer kleinen
Zahl von Fällen beginnt nun sofort die Depression von neuem, um
wieder einer Erregung Platz zu machen u. s. f. Wo die Krankheit
mit einem manischen Anfalle beginnt, scheint in der Regel zunächst
eine Remission einzutreten; weit seltener knüpft sich schon jetzt
eine Verstimmung oder ein Stupor an. Auch der nächste oder so-
gar mehrere der folgenden Anfälle sind oft noch manisch, so dass
es längere Zeit den Anschein haben kann, es handle sich um eine
periodische Manie, bis unvermuthet ein depressiver Anfall sich ein-
schiebt. Ebenso können sich mehrere depressive Anfälle mit freien
Zwischenzeiten wiederholen, bevor einmal die manische Erregung
sich zeigt. Bei den Fällen, welche nicht schon im ersten Anfalle
beide Bilder vereinigt darbieten, ist zunächst die gleichartige Fort-
setzung der Anfälle sogar das häufigere Verhalten. Auch im weiteren
Verlaufe der Krankheit ist ein regelmässiger Wechsel zwischen
manischen und depressiven Zuständen eher die Ausnahme. Viel-
mehr sind die Fälle gar nicht selten, bei denen die überwiegende
Mehrzahl der Anfälle eine gleichartige Färbung aufweist, während
einige wenige oder auch wol nur ein einziger dem anderen
Formenkreise angehört. Vielfach entwickelt sich ein regelmässigerer
Wechsel nach längerer Krankheitsdauer, wenn in der ersten Zeit
die eine Art von Anfällen überwog oder allein vorhanden war.
Auch die Mischformen, insbesondere der manische Stupor, kommen,
wie es scheint, gewöhnlich erst nach wiederholten Anfällen zur
Ausbildung.
Die Dauer der einzelnen Anfälle ist eine ungemein verschiedene.
Es giebt solche, die nur 8 — 14 Tage währen, ja wir sehen bisweilen,
dass zweifellos krankhafte Verstimmungen oder Erregungen bei diesen
Kranken nur einen oder zwei Tage anhalten können. Meist pflegt
jedoch ein einfacher Anfall 6 — 8 Monate zu dauern. Andererseits
sind die Fälle nicht ganz selten, bei denen sich ein Anfall 1 — 2,
ja 3 und 4 Jahre hindurch, ein Doppelanfall die doppelte Zeit fort-
setzt. Die depressiven Anfälle verlaufen meist etw-as schleppender,
doch pflegen die ersten Anfälle verhältnissmässig selten die Dauer von
einigen Monaten zu überschreiten.
410
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Fast immer liegen zwischen je zwei einfachen oder Doppel-
anfällen freie Zwischenzeiten. Die Dauer derselben ist ebenfalls
ausserordentlichen Verschiedenheiten unterworfen und steht, soviel
ich sehen kann, in keinem bestimmten Verhältnisse zu derjenigen
der Anfälle selbst. Leichte Anfälle können sich rasch wiederholen,
schwere durch längere Zwischenzeiten getrennt sein und umgekehrt.
Im Beginne der Krankheit betragen die Pausen meist einige Jahre,
können sich aber bis zu 10 Jahren und darüber, ja soweit aus-
dehnen, dass überhaupt nur noch ein oder zwei Anfälle im späteren
Leben folgen. Bisweilen ist die Dauer der Zwischenzeiten so regel-
mässig, dass sich die Kranken zur gewohnten Zeit pünktlich wieder
in der Anstalt einstellen; meist aber zeigt die Krankheit die Neigung,
späterhin in rascherem Zeitmaasse zu verlaufen und die Zwischen-
zeiten abzukürzen, selbst bis zum vollständigen Fortfallen der-
selben. Dabei pflegt die Dauer der Anfälle allmählich zu wachsen.
So sah ich bei einer Kranken im Laufe von 13 Anfällen die
Dauer dieser letzteren von 3 — 4 auf 6 — 7 Monate wachsen, während
die Zwischenzeiten von 1 Jahre auf 6 — 7 Monate abnahmen. Uebrigens
kann auch trotz langen Bestandes der Krankheit ein Anfall einmal
unerwartet rasch verlaufen, besonders bei den Formen mit langen
Zwischenzeiten.
In den Rückbildungsjahren nehmen die Zwischenzeiten gern ab,
bisweilen um sich später wieder zu verlängern. In einzelnen Fällen
sieht man nach den ersten Anfällen im Entwicklungsalter eine Pause
bis zum Ende der 40er Jahre ein treten, wo die Krankheit wieder-
kehrt, nun vielleicht ohne weitere Unterbrechung.
Zuweilen beginnt das Leiden mit einer abgeschlossenen Reihe
sehr kurzer und sehr rasch auf einander folgender Anfälle von
manischer oder manisch-stuporöser Färbung, denen dann eine längere,
mehrjährige Pause folgt. Besonders ist das der Fall bei einer kleinen
Gruppe von jugendlichen, wie es scheint, vorzugsweise weiblichen
Kranken. Die einzelnen Erregungen dauern dabei oft nur wenige
Tage, können aber sehr heftig sein und mit starker Verworrenheit
einhergehen. Nur eine kleine Minderzahl, wol kaum mehr als
4 — 5°/0, bilden die Fälle, in denen vom ersten Anfalle an die
Krankheit in regelmässigem Wechsel der Färbung das ganze Leben
gleichmässig und vollständig ausfüllt Mehrfach sah ich dabei die
Verstimmung im Herbste einsetzen, um im Frühling, „wenn der Saft
Veriaufsarten.
411
in die Bäume schiesst“, in Erregung überzugehen, in gewissem Sinne
den Stimmungswandlungen entsprechend, welche auch den gesunden
Menschen im Wechsel der Jahreszeiten überkommen. In der Regel
dürfte es sich dabei um sehr leicht verlaufende Formen, Hypomanie
und einfache Hemmung, handeln. Auch nach längerem, ununter-
brochenem Verlaufe kann übrigens doch immer gelegentlich noch
eine Remission sich einstellen.
Die verschiedenen Verlaufsarten des manisch - depressiven
Irreseins, wie sie durch das wechselnde Verhalten in Dauer und
Färbung der einzelnen Anfälle wie in der Länge der Zwischenzeiten
bedingt werden, sind, namentlich von französischen Forschern, in
eine Reihe von klinischen Abarten zerlegt worden. Ich glaube mich
überzeugt zu haben, dass derartige Bestrebungen zur Gruppirung an
der Regellosigkeit der Krankheit nothwendig scheitern müssen.
Die Art und Länge der Anfälle und Zwischenzeiten bleibt im ein-
zelnen Falle durchaus nicht die gleiche, sondern kann vielfach
wechseln, so dass derselbe immer neuen Formen zugerechnet werden
müsste. Bis jetzt sind auch alle meine Bemühungen vergebens ge-
blieben, aus den Eigenthümlichkeiten eines Anfalles einigermassen
zuverlässige Schlüsse für die weitere Gestaltung des Krankheits-
falles zu gewinnen; vielleicht aber gelingt es bei sehr ausgedehntem
Beobachtungsstoffe doch einmal, gewisse prognostische Regeln abzu-
leiten, wenn auch die unberechenbaren Einflüsse der persönlichen
Veranlagung und Lebensführung stets bedeutende Fehlerquellen dar-
stellen werden. Immerhin kann man etwa sagen, dass sich Hypo-
manie am häufigsten mit einfacher Hemmung verbindet, während
auf schwere Tobsucht leicht tiefer Stupor folgt. Sinnestäuschungen
und Wahnbildungen scheinen gern beide Abschnitte der Krankheit
zu begleiten, wenn sie überhaupt auftreten.
In den Zwischenzeiten erscheinen die Kranken zunächst wenig-
stens vollkommen gesund. Vielleicht fällt nach einer Depression
das besonders blühende Aussehen und die Lebensfrische, nach einer
Manie die Muthlosigkeit und Verdrossenheit auf, die der Kranke
lange Zeit hindurch nicht überwinden kann. Bei längerer Dauer
der Krankheit und bei häufigerer Wiederholung der Anfälle pflegen
sich die psychischen Veränderungen auch während der Zwischen-
zeiten deutlicher herauszustellen. Wenn auch keine auffallenden
Krankheitszeichen mehr nachweisbar sind, so ist doch eine gewisse
412
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Unfreiheit und Unselbständigkeit, gedrücktes, menschenscheues. .,ver-
zweiflerisches“ Wesen, leichte Ermüdbarkeit, grosses Schlafbedürfniss
und Herabsetzung der Arbeitskraft, andererseits Reizbarkeit, stark ge-
hobenes Selbstgefühl, Streitsucht, Unstetigkeit, Aufgeregtheit vielfach
unverkennbar. Oefters gewinnen die Kranken auch keine volle Klarheit
über den Umfang und die Bedeutung ihres Leidens. Sie geben wol zu,
aufgeregt oder schwermüthig gewesen zu sein, schieben aber die
Schuld zum grossen Theile auf zufällige Umstände, das Verhalten
ihrer Umgebung, die Verbringung in die Anstalt. Darum werden
sie auch nicht gern an die Zeit der Krankheit erinnert, weichen
allen Erörterungen darüber aus, gehen dem Arzte bei späteren zu-
fälligen Begegnungen aus dem Wege.
Ausserordentlich häufig sind während der Zwischenzeiten ganz
leichte, angedeutete Anfälle, deren krankhafte Natur nur aus genauer
Kenntniss der ausgebildeteren Anfälle und dieser Krankheitsformen
überhaupt erschlossen werden kann, plötzlich erwachende Lebenslust,
ungewöhnlicher Unternehmungsgeist, Abschütteln der Alltagssorgen,
Geschwätzigkeit, Ausgelassenheit, Reizbarkeit, oder unbegründet
sorgenvolles, in sich gekehrtes Wesen, wochenlange Unthätigkeit und
Theilnahmlosigkeit, die dann auf Ueberarbeitung, einen Aerger oder
dergl. zurückgeführt wird, aber ebenso rasch wieder verschwindet,
wie sie gekommen war. Einer meiner Kranken liess sich in einem
hypomanischen Anfalle von einer Hochstaplerin ausbeuten : die
dann folgende Verstimmung wurde von der Familie durch die
erlittene Enttäuschung anscheinend ganz natürlich erklärt. Kürzere
Erregungen schliessen sich bei Frauen leicht an die Menses an.
Das Herannahen eines neuen Anfalles fühlen die Kranken
selbst bisweilen schon Tage oder gar Wochen vorher, ohne sich
darüber klare Rechenschaft zu geben. Eine meiner Kranken machte
häufig einige Zeit vor dem Ausbruche des Anfalls eiuen sonst ganz
zwecklosen Besuch in der Anstalt, bei dem sie noch keine Spur
von Krankheitszeichen darbot. Andere haben noch Zeit, vor dem
Beginne der Erregung ihr Haus zu bestellen und sich dann frei-
willig in die Behandlung zu begeben; ein derartiger Kranker sprang
einmal mitten in der Nacht über die hohe Mauer in die Anstalt
herein, nachdem er schon mehrere Stunden weit gelaufen war.
Der Uebergang der beiden Krankheitsabschnitte in einander voll-
zieht sich bisweilen ganz plötzlich und dann regelmässig in der Nacht.
Wechsel der Zustände.
413
Der deprimirte Kranke wacht zur gegebenen Zeit wider sonstige Ge-
wohnheit sehr früh auf und ist nun manisch; der Erregte fühlt sich
eines Morgens müde, abgeschlagen, gehemmt. Häufiger sieht man
den Wechsel der Zustände sich schon von langer Hand vorbereiten.
Der Gesichtsausdruck und die Haltung des bis dahin depfimirten
Kranken wird allmählich freier, sein Auge lebhafter; Esslust und
Ernährung heben sich. Seine Haut gewinnt die frühere Spannung
seine Bewegungen ihre Spannkraft wieder. Nach und nach wird
er zugänglicher, zeigt mehr Antheilnahme für seine Umgebung,
beginnt sich andauernder zu beschäftigen, fühlt sich frischer und
wohler, äussert die Sehnsucht nach Freiheit und Berufsthätigkeit,
..nach Frühling und Waldesgrün“, fasst seine Entlassung ins Auge
und macht oft längere Zeit hindurch den Eindruck eines Genesenden
Eine entlassene Kranke schrieb in diesem Zustande, sie wolle als
Wärterin eintreten, „aber nur auf der ruhigen Abtheilung“.
Die krankhafte Natur der anscheinenden Besserung deutet sich
oft schon jetzt an. „Es geht mir unnatürlich gut,“ erklärte mir eine
später durch Selbstmord endende Kranke; sie fühle sich um Jahre
verjüngt, schlafe ganz kurze Zeit und sei dabei doch immer frisch:
„so kann es doch eigentlich nicht weiter gehen“. Einzelne Hand-
lungen tragen vielleicht bereits einen manischen Anstrich, während
im ganzen noch die Zeichen der Hemmung überwiegen. Ich be-
handelte eine Kranke, die nach schwerer Depression trotz völliger
Besonnenheit kaum im Stande war, ein Wort hervorzubringen, dabei
körperlich aufblühte, häufig lächelte und zum allgemeinen Erstaunen
plötzlich blitzschnell eine Ohrfeige austheilte. Eine Dame, die noch
von schweren Verfolgungsideen geplagt wurde, erfasste unversehens
eine Bauersfrau, um mit ihr um den Tisch herumzutanzen. Eine
andere hatte, als sie verzweifelnd an einem Putzgeschäfte vorüber-
ging, den Einfall, sich ein Ballkleid zu kaufen, und erschien zur
grössten Verwunderung ihrer Angehörigen in demselben zwei Tage
später auf einem Balle, den sie bereits abgesagt hatte. Mehr und mehr
gewinnt dann die gehobene Erregung die Oberhand. „Charfreitag
ist heute, aber bei mir ist schon Ostern geworden,“ schrieb eine
Kranke in ihr Tagebuch.
In ähnlicher Weise spielt sich die entgegengesetzte Wandlung
ab. Das Körpergewicht, welches sich trotz der Erregung in der
letzten Zeit gehoben hatte, beginnt langsam wieder zu sinken. Nun
414
IX. Das manisch-depressive Irresein.
lässt die Vielgeschäftigkeit allmählich nach; die grossen Pläne treten
in den Hintergrund; der Kranke hat „keinen solchen Muth mehr“:
die Stimmung wird ruhiger, ernster, trüber. Ein junger Jurist, der
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"» 7 -X- — / " 1 * f
Schriftprobe XU. Manisch-depressives Irresein: Erregung nach Streit
mit einer Wärterin (13. H. 92, Mittags 2 U.).
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yy
rr
jP'p’.M-.
— —
Schriftprobe XIH. Depression (14. II. 92, Morgens 8 U.).
in der Erregung eine Preisarbeit verfasst hatte, besass iu der folgenden
Verstimmung nicht den Muth, sie einzureichen. Zum Glücke kehrte
die Erregung noch rechtzeitig wieder, und er gewann den Preis.
Hie und da tauchen einzelne Betrachtungen über getäuschte Hoff-
Wechsel der Zustände.
415
nungen, verfehlte Anläufe, schwere Lebenserfahrungen auf; die Be-
wegungen werden Langsamer, schlaffer, kraftloser, der Gesichtsausdruck
matt, abgespannt, der Blick müde, und nun treten auch alle die
übrigen Erscheinungen der früheren Depressionszustände eine nach
der andern wieder hervor.
Der gesetzmässige Verlauf dieser allmählichen Uebergänge ist
oft in hohem Grade schlagend. Bis in die kleinsten Einzelheiten der
Lebensführung, Kleidung, Haartracht, in alle Neigungen und Ab-
neigungen hinein pflegt sich der durchgreifende Gegensatz der Zu-
stände zu erstrecken, so dass man glauben möchte, zwei vollständig
verschiedenartige Menschen vor sich zu haben. Sehr deutlich wird
das bei Vergleichung der Figuren 1 und 2 auf Tafel VII. welche
-M
r
V
/
t
\
J
W\
a/
V
-
Hypomanie | Hemmung | Hypomanie | Hemmung |
Curve XI.
Manisch-depressives Irresein: 2 Doppelanfalle.
dieselbe Kranke einmal im Stupor und wenige Wochen später in
hypomanischer Erregung darstellt, das letztere Mal mit riesigem
Strausse an der Brust und geziertem Lächeln. Ebenso sind die
Schriftproben XH und XHI geeignet, diesen Wechsel zu zeigen.
Die erste mit den flüchtigen, zusammenhangslosen, stark abge-
kürzten Zügen ist in der Erregung nach einem Streite mit der
Wärterin geschrieben; die zweite dagegen, welche in der kleinen,
gedrängten, stark geneigten Schrift die eingetretene Depression an-
deutet, stammt vom Morgen des nächsten Tages. Auch der Unter-
schied in Ton und Inhalt der kleinen Briefe ist ungemein be-
zeichnend.
416
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Den Gang des Körpergewichtes in zwei Doppelanfällen von
einer Kranken mit leichter Hypomanie und einfacher Hemmung
zeigt die Curve XI. Wir erkennen, wie dasselbe während der Er-
regung ansteigt und genau mit dem Einsetzen der Verstimmung
wieder sinkt.
Die Prognose des manisch-depressiven Irreseins ist für den
einzelnen Anfall eine günstige. Seit langer Zeit gelten namentlich
die Heilungsaussichten bei manischer Erregung als recht gute. In
der That kann man auch nach sehr langer Dauer der Erregung oder
Verstimmung bei zuverlässiger Diagnose noch mit grosser Wahr-
scheinlichkeit auf völlige Wiederherstellung hoffen. Insbesondere
darf man sich nicht durch die anscheinend während der Manie oder
nach schwerer Tobsucht öfters bestehende geistige Trägheit täuschen
lassen, die gewöhnlich nur der Ausdruck der Denkhemmung ist
und sich später, wenn auch langsam, völlig wieder auszugleichen
pflegt. Dagegen müssen wir es in jedem Falle, der dem Formen-
kreise des manisch-depressiven Irreseins angehört, für äusserst
wahrscheinlich halten, dass der erste Anfall nicht der letzte sein
wird, sondern dass die Krankheit sich mehrfach oder selbst sehr
häufig im Leben wiederholen wird. Leider lässt sich der Zeitpunkt
der Wiederkehr, wenn sich nicht schon eine gewisse Regelmässig-
keit herausgestellt hat, bis jetzt auch nicht annähernd Voraussagen.
Im allgemeinen freilich dürfte bei den sehr früh und ohne äusseren
Anlass einsetzenden Fällen auf vielfache Wiederkehr der Anfälle
mit kurzen Pausen zu rechnen sein. Tritt jedoch das Leiden erst
später und im Anschlüsse an tiefer greifende Schädigungen, etwa
im Wochenbette, auf, so pflegen die späteren Anfälle weniger zahl-
reich zu sein. Im Klimakterium muss man auf die Wiederkehr
früherer Anfälle gefasst sein; die Formen, die in diesem Alter zu-
erst auftreten, schienen mir eine gewisse Neigung zu mehrfacher
Aneinanderreihung wechselnder Anfälle zu haben.
Auch bei sehr langer Dauer der Krankheit entwickelt sich kein
eigentlicher Schwachsinn, wenn die Anfälle selbst in milden Formen
verlaufen. Im Gegentheil giebt es zahlreiche derartige Kranke, die
in ihren Zwischenzeiten recht tüchtige geistige Leistungen aufzuweisen
haben. Kahl bäum hat diese leichteren Gestaltungen der Krankheit
als „Cyclothymie“ den schwereren, zum Schwachsinn führenden
gegenübergestellt, die er als „Vesania typica circularis“ bezeichnete.
Prognose.
417
Von der Berechtigung einer derartigen grundsätzlichen Scheidung
habe ich mich nicht zu überzeugen vermocht, zumal wir in dem-
selben Krankheitsverlaufe ganz leichte und sehr schwere Anfälle
nach einander auftreten sehen. Auch giebt es Kranke genug mit
heftigen, aber seltenen Tobsuchtsanfällen, die keine Einbusse ihrer
geistigen Fähigkeiten erkennen lassen. Es ist jedoch richtig, dass
namentlich sehr lange anhaltende und häufige, schwere Krankheits-
anfälle auf die Dauer nicht ohne schädigenden Einfluss bleiben.
Solche Kranke sind während der Zwischenzeiten zwar besonnen,
orientirt, behalten ein leidliches Gedächtnis«, aber sie werden
Curve XL
Manisch-depressives Irresein. Käscher, ununterbrochener Wechsel von Tobsucht und Stumpfheit.
Bei jedem Einsetzen der Erregung Sinken des Körpergewichtes.
schliesslich dauernd urtheilslos, reizbar, ungemein schwankend in
ihrer Stimmung, oder stumpf, gleichgültig und willenlos. Begel-
mässig handelt es sich dabei um Kranke, bei denen das Leiden in
der Entwicklungszeit begonnen hat, während die später einsetzenden
Formen meistens leichter verlaufen.
Eine ganz besonders ungünstige Bedeutung dürfte die Kürze
der Zwischenzeit zwischen den Anfällen haben. Wir kennen
eine kleine Gruppe von Fällen, bei denen Anfälle wie Zwischen-
zeiten nur wenige Wochen andauern, so dass ein ziemlich
regelmässiger Wechsel zwischen Erregung und Beruhigung ent-
steht Das eigentliche Krankheitsbild ist fast immer das einer
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. n. Band. 27
418
IX. Das manisch-depressive Irresein.
ganz acut sich entwickelnden und rasch verlaufenden Tobsucht.
Beim weiblichen Geschlechte schliesst sich der Ausbruch der-
selben häufig an die M enstrualperioden an, in der Weise, dass
mit dem Eintritte der Menses oder kurz vorher auch der Anfall
beginnt, um dann etwa 1 — 2 Wochen anzudauern, bis er einer ge-
wöhnlich etwas längeren freien Zwischenzeit weicht (menstruelles
Irresein). Nachdem höchstens leichte Andeutungen des beginnenden
Anfalles, grundloses Lächeln, Blitzen der Augen, Herumwandern,
voraufgegangen sind, werden die Kranken von einem Tage zum
andern, oft mitten in der Nacht, unruhig, aufgeregt, verwirrt, stark
ideenflüchtig, sind in gehobener Stimmung, reizbar und zeigen leb-
haften Beschäftigungsdrang. Sie tanzen und singen, fangen an, zu
zerreissen und zu schmieren, ihre Umgebung zu necken, sind oft
geschlechtlich stark erregt, essen in ihrer Unruhe wenig und schlafen
fast gar nicht. Das Körpergewicht nimmt dabei regelmässig
rasch ab, bisweilen um 5 — 8 Pfund in 24 Stunden (Fürstner).
Die Curve XI veranschaulicht den Gang desselben während einer
längeren Reihe von Anfällen.
Der Eintritt der Beruhigung vollzieht sich in der Regel ebenso
schnell wie derjenige der Erregung, wenn man auch meist schon
gegen das Ende des Anfalles eine leichte Abnahme der Ideenflucht
und der Unruhe bemerken kann. Mehrfach schien mir die anfäng-
lich heitere und iibermüthige Stimmung späterhin mehr reizbar und
unwirsch zu werden. Der Kranke ist nun mit einem Male geordnet,
aber auffallend still, gleichgültig, stumpf und gewinnt in der Regel
keine vollständige Einsicht in die krankhafte Natur seines Zustandes,
wenn er sich auch vieler Einzelheiten desselben noch gut erinnert-
Yielmehr sucht er die überstandene Aufregung als etwas ganz Harm-
loses oder als durch die Umgebung, die Zurückhaltung in der An-
stalt und dergl. veranlasst hinzustellen. Eine gewisse körperliche
Erholung pflegt sich dann rasch zu vollziehen, doch bleibt das
Körpergewicht auch während der nun folgenden Zwischenzeit häufig
niedriger, als in früheren, gesunden Zeiten.
Gerade diese Form führt gewöhnlich ziemlich rasch zur Ver-
blödung, wenn nicht nach einer Reihe von Anfällen ein Stillstand
des Leidens eintritt. In diesem Falle pflegen späterhin neue Gruppen
von Anfällen aufzutreten, die durch längere Zwischenzeiten von
einander geschieden sind. Folgen die Anfälle dauernd rasch auf
Erkennung.
419
einander, so zeigen sie regelmässig die Neigung, sich im Laufe der
Zeit immer mehr auszudehnen, und es kommt auf diese Weise all-
mählich zu einem Zustande dauernder ideenflüchtiger Verwirrtheit
und Aufregung, der nur hie und da in unregelmässigen, selteneren
Zwischenräumen durch plötzlich eintretende und ebenso plötzlich
wieder abschneidende ruhigere Zeiten unterbrochen wird.
Das gesammte Seelenleben der Kranken pflegt bei diesem Ver-
laufe sehr empfindlich zu leiden. Verstand und Gedächtniss nehmen
stark ab, wenn die Kranken auch bisweilen in den Zwischenzeiten
noch durch einzelne Ueberbleibsel aus gesunden Tagen überraschen.
Das Urtheil über die Umgebung und namentlich über den eigenen
Zustand ist stets äusserst unklar: die Kranken halten sich schon
am ersten Tage der eingetretenen Beruhigung für völlig gesund und
drängen auf Entlassung. Ebenso hat die gemüthliche Seite aus-
nahmslos sehr gelitten. Ist auch oft die äussere Form ihrer Gefühls-
beziehungen, annähernd wenigstens, die frühere geblieben, so ver-
mag sie doch den tieferblickenden Beobachter nicht über die innere
Leere und Theilnabmlosigkeit dieser schwachsinnig gewordenen
Kranken hinwegzutäuschen.
Die Erkennung des manisch-depressiven Irreseins ist leicht
in denjenigen Fällen, in denen bereits eine Reihe von wechselnden
oder gleichartigen Anfällen voraufgegangen ist. Immerhin ist zu
bemerken, dass auch in der Paralyse und in der Dementia praecox
ein ähnlicher Wechsel zwischen Erregung und trauriger Verstimmung
oder Stupor Vorkommen kann wie hier. Die Unterscheidung hat in
solchen Fällen die besonderen klinischen Zeichen der Anfälle selbst
zu berücksichtigen, auf die wir später näher eingehen werden. Die
leichteren und leichtesten Formen des manisch-depressiven Irreseins
gehen, wie es scheint, ganz unmerklich in gewisse Entartungs-
zustände über, bei denen wir häufig genug mehr oder weniger
regelmässige Schwankungen in der Gemiithslage, in der gesammten
Lebensauffassung und im Handeln beobachten. Solche Zeiten
grundloser Verstimmung oder ungestümer Ausgelassenheit können
lange Zeit für einfache Launen gehalten und mit allerlei Zufällig-
keiten in Verbindung gebracht werden. Derartige Fälle, die viel-
leicht niemals in die Hände des Irrenarztes kommen, sondern
höchstens wegen „Nervosität“ die verschiedensten Curen durchmachen,
sind ungemein häufig. Trifft dann die Cur gerade mit dem Um-
27*
420
IX. Das manisch-depressive Irresein.
schlage der Stimmung zusammen, so erzielt sie einen glänzenden
Erfolg. Auch hier kann übrigens die Umgebung jederzeit einmal
durch einen schwereren Anfall überrascht werden, wenn auch
meistens das Lehen in einem Wechsel zwischen allerlei tollen
Streichen und der vermeintlichen Reue über dieselben, zwischen
fieberhafter Unternehmungslust und den anscheinenden Nach wehen
der Ueberarbeitung hinzufliessen pflegt.
Weit schwieriger, als aus dem Gesammtverlaufe, lässt sich das
manisch-depressive Irresein aus dem einzelnen, besonders dem ersten
Anfalle erkennen; manche Irrenärzte halten diese Diagnose über-
haupt für unmöglich. Dem gegenüber glaube ich ohne weiteres be-
haupten zu können, dass zunächst alle wirklich manischen Anfälle
nichts anderes sind, als Erscheinungsformen der hier beschriebenen
Erkrankung. Auch hier giebt es Formen, deren Aeusserungen
so wenig aus dem Rahmen des Gesunden heraustreten, dass
sie nur von dem Erfahrenen richtig beurtheilt werden können.
„Sie wird von Leuten, die sie nicht kennen, blos als lebens-
lustig bezeichnet,“ schrieb uns die sehr verständige Mutter einer
solchen Kranken. Massgebend ist hier stets der Umstand, dass die
erhöhte Geschäftigkeit und Ruhelosigkeit nicht von Jugend auf be-
standen, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkte eingesetzt hat,
vielleicht auch zu wiederholten Malen dageweseu und immer wieder
verschwunden ist.
Die Abgrenzung der manischen Erregung von der katato-
nischen und paralytischen wie von den Erschöpfungspsychosen
haben wir bei der Besprechung jener Krankheitsformen bereits
ausführlicher gewürdigt. Den hysterischen Erregungszuständen,
auf welche die Erscheinungen bisweilen hindeuten, fehlt die
Ideenflucht und die grosse Ablenkbarkeit; die Erregung schliesst
sich mehr an bestimmte Anlässe an und tritt in Form einzelner
Gefühlsausbrüche auf gegenüber dem ganz allgemeinen manischen
Bethätigungsdrange. Zudem schwindet die hysterische Aufregung
jeweils nach kurzer Dauer rasch und vollständig, während auch die
leichtesten Formen des manischen Anfalles ungleich länger an-
dauem und erst allmählich zur Gleichgewichtslage zurückkehren.
Die deliriösen Anfälle können mit epileptischen Dämmerzuständen
verwechselt werden. Davor schützt die ausgeprägte Ideenflucht und
die Ablenkbarkeit der Kranken. Der epileptische Gedankengang ist
Erkennung.
421
in den Delirien einförmig und ganz durch Wahnvorstellungen und
Sinnestäuschungen beherrscht, die Stimmung vorwiegend ängstlich,
reizbar oder verzückt, während die manischen Kranken deutlichen
Wechsel der Stimmung mit Ueberwiegen der heiteren Gefühls-
betonuugen darzubieten pflegen.
Viele der hier beschriebenen manischen wie depressiven Zu-
stände werden noch immer als „acute Paranoia“ bezeichnet. Dass
man sich durch diese Auffassung selber den richtigen Weg zu
einer Prognose verbaut, wird hier keiner weiteren Ausführung mehr
bedürfen. Sobald Wahnbildungen, und seien sie noch so „paranoisch“,
von den Zeichen der manischen Erregung oder von psychomotorischer
Hemmung begleitet sind, handelt es sich stets um Anfälle des
manisch-depressiven Irreseins.
Die depressiven Zustände müssen vor allem von den einleiten-
den Verstimmungen der Dementia praecox abgegrenzt werden.
Wie wir schon früher ausgeführt haben, liegt hier der Schwerpunkt
auf der Unterscheidung von Negativismus und psychomotorischer
Hemmung, die im gegebenen Falle recht schwierig sein kann.
Weiterhin ist die Besonnenheit und das Fehlen der Denkstörung
sowie namentlich die gemüthliche Stumpfheit bei der Dementia
praecox gegenüber der Benommenheit, Unbesinnlichkeit und traurigen
oder ängstlichen Verstimmung bei der hier besprochenen Krankheit
zu berücksichtigen. Rasches Auftreten sehr unsinniger Wahn-
bildungen und zahlreicher Sinnestäuschungen ohne stärkere Bewusst-
seinstrübung und Verstimmung spricht sehr für Dementia praecox.
Langdauernde Stuporzustände können als Schwachsinn aufgefasst
werden. Ich kenne eine Kranke, die nach zwei Anfällen von Depression
und nachfolgender Tobsucht später an Erregung mit folgendem
Stupor erkrankte und als unheilbar der Pflegeanstalt überwiesen
wurde. Dort genas sie wider Erwarten und ist nach einer freien
Zwischenzeit von 15 Jahren nochmals erkrankt, dieses Mal unter
dem Bilde des manischen Stupors. Die Entstehungsgeschichte und
der Nachweis von Hemmungserscheinungen auf dem Gebiete des
Denkens und Handelns wird uns vor solchen Irrthümern bewahren
können. Wirklich tiefe und rasche Verblödungen scheinen bei
manisch-depressiven Kranken überhaupt nicht vorzukommen; darum
darf man auch nach sehr langer Dauer noch auf annähernde Wieder-
herstellung rechnen.
422
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Die Abgrenzung der Depressionszustände von denen der Paralyse
und von der Melancholie haben wir bereits eingehend besprochen.
Die leichtesten Formen werden vielfach für Neurasthenie, Hysterie,
Hypochondrie gehalten, wie Hecker sehr zutreffend betont hat, da
die Kranken in den zugehörigen manischen Zeiten für gesund gelten-
Sie haben jedoch in der Depression, die sie zum Arzte treibt, recht
häufig selbst ein deutliches Gefühl für die Krankhaftigkeit der Er-
regung, die sie bisweilen sehr fürchten. Es gelingt daher meist
leicht, den Wechsel der Zustände, die Wiederkehr der einzelnen
Abschnitte und damit die Natur des vorliegenden Leidens auf-
zudecken. Die einfache, ohne Anlass hereinbrechende Entschluss-
unfähigkeit ist so eigenartig, dass sie oft ohne weiteres den richtigen
Schlüssel für die Deutung des Zustandes liefert.
Am häufigsten werden die Mischzustände verkannt. Die Manien
mit Denkhemmung betrachtet man vielfach als „Imbecillität mit Er-
regung“; davor schützen die Zeichen von Ideenflucht, die Unbesinn-
lichkeit der Kranken und ihre tobsüchtigen Handlungen bei geringer
Unruhe. Der manische Stupor kann leicht für katatonisch gehalten
werden. Indessen die Kranken sind nicht negativistisch. Wo sie
etwa widerstreben, liegt eine ärgerliche, gereizte Stimmung zu Grunde,
die sich dann auch in gewaltthätigen Handlungen oder Schimpf-
ausbrüchen kundgiebt. Die Kranken beachten die Umgebung viel
mehr, werden in ihrem Thun und Lassen deutlich durch die Um-
stände beeinflusst, im Gegensätze zu der stumpfen oder geflissent-
lichen Gleichgültigkeit der Katatoniker. Ihre gelegentlichen Aeusse-
rungen zeigen grosse Gedankenarmuth, aber nicht die Stereotypie
und unsinnige Beziehungslosigkeit jener Kranker. Auch die Er-
regungen führen hier zu zielbewussten, oft scherzhaften und der
Sachlage angepassten Handlungen, während wir es dort mit plan-
losem, triebartigem, oft einförmigem Bewegungsdrange zu thun
haben. Die nörgelnden Erregungszustände unserer Kranken erweisen
ihre Zugehörigkeit zum manischen Formenkreise durch die Weit-
schweifigkeit und Ideenflucht; zudem bilden sie meist den Ueber-
gang zwischen ausgeprägter Manie und Verstimmung, so dass dadurch
ihre richtige Deutung erleichtert wird.
Eine ursächliche Behandlung des manisch-depressiven, tief in
der Persönlichkeit wurzelnden Irreseins giebt es nicht. Dass eine
sehr gleichmässige Lebensweise in geschützten Verhältnissen, nament-
Behandlung.
423
lieh auch unter Vermeidung von Alkohol, eine gewisse vorbeugende
Wirkung bei gefährdeten Menschen haben kann, darf im Hinblicke
auf den vielfach zweifellosen Einfluss äusserer Schädigungen als
wahrscheinlich angesehen werden. Auch in dem ruhigen Anstalts-
leben sieht man oft die Anfälle verhältnissmässig milde verlaufen.
Wie weit es möglich ist, den einzelnen drohenden Anfall im Ent-
stehen zu unterdrücken, wissen wir noch nicht. Kohn hat der-
artige Versuche namentlich für die Formen mit kurzen, rasch auf
einander folgenden Anfällen angestellt, bei denen man den Eintritt
einer neuen Verschlechterung etwas genauer vorhersehen kann. Er
empfahl die Einspritzung von Chininlösung, besonders aber sehr
grosse Gaben von Bromsalzen. Man giebt 12 — 15 gr täglich, wo-
möglich schon einige Tage vor dem erwarteten Ausbruche des
Anfalls beginnend, dessen erste Anzeichen man recht genau be-
achten soll. Es gelingt auf diese Weise bisweilen mit ganz über-
raschender Zuverlässigkeit, das Auftreten der Erregung zu ver-
hindern. Nachdem die besonders gefährlichen Tage vorüber-
gegangen sind, geht man ganz allmählich mit der Gabe des
Mittels herunter, um bei der Annäherung an den nächsten zu er-
wartenden Anfall von neuem zu der angeführten grossen Gabe
anzusteigen u. s. f. Neuerdings hat Hitzig in einigen Fällen die
Anwendung von Atropineinspritzungen versucht..
Die Behandlung der manischen Erregung wird vor allem
möglichst die äusseren Beize abzuhalten haben. Dieser Anzeige
dient die Versetzung in die Anstalt, von der man in ganz leichten
Formen absehen darf, sobald die Freiheitsbeschränkung schlecht er-
tragen wird und nicht zu schweren Schädigungen und Unzuträg-
lichkeiten führt. Da wir ferner wissen, dass die Erregung sich
durch die Thätigkeit immer mehr steigert, werden wir den Be-
schäftigungsdrang nach Möglichkeit beschränken und alle un-
ruhigen Kranken im Bette halten, was namentlich bei körper-
licher Schwäche und Blutleere dringend anzurathen ist. Bei
sehr starker Erregung empfiehlt sich statt dessen das Dauerbad.
Hat man den Kranken erst einmal an diese Einrichtung ge-
wöhnt, was im Beginne vorübergehend die Anwendung von Sulfonal
oder selbst Hyoscin erfordern kann, so ist die wohlthätige und
beruhigende Wirkung des Dauerbades eine geradezu überraschende.
Alle die sonst so gefürchteten Uebelstände, die Isolirung, das
424
IX. Das manisch-depressive Irresein.
Schmieren, Zerstören, die Gewalttätigkeit lassen sich durch diese
Massregel ganz oder doch nahezu ganz vermeiden. Nach Ab-
nahme der Erregung lässt sich die Badebehandlung recht gut
mit zeitweiligem Aufenthalte im Freien verbinden. Wo bei sehr
stürmischer Tobsucht die Gefahr eines Collapses besteht, zieht
man Alkoholica (Grog, Glühwein, Champagner), auch Campher
Moschus, Aether, letztere allerdings mit meist nur ganz vorüber-
gehendem Erfolge, in Anwendung; gleichzeitige Herzschwäche lässt
vorsichtige Gaben von Digitalis oder Coffein rathsam erscheinen.
Bei andauernder hochgradiger Schlaflosigkeit wird man die Schlaf-
mittel, vielleicht auch das Hyoscin, nicht immer umgehen können.
Für die Behandlung sehr schleppend verlaufender Manien ist von
J o 1 ly das Opium empfohlen worden.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Ernährung der Kranken,
die vielfach unter ihrer Unruhe Noth leidet. Reichliche, leicht ver-
dauliche Nahrung soll häufig gereicht, nach Umständen mit grosser
Geduld eingegeben werden. In schweren Fällen empfehlen sich
tägliche Wägungen, um genau den Stand des Körpergewichtes be-
urtheilen und im Nothfalle rechtzeitig mit der Sonden ernährung
eingreifen zu können.
Die psychische Behandlung des Tobsüchtigen hat natürlich
auf seine Reizbarkeit Rücksicht zu nehmen. Ruhige Freundlichkeit,
im geeigneten Augenblicke mehr scherzhaftes Eingehen auf die
heitere Stimmung desselben, vorsichtiges, geduldiges Laviren er-
leichtern den Verkehr ungemein und machen oft den in un-
geschickten Händen recht gefährlichen und widerspenstigen Kranken
lenksam und gutmüthig. Beim Eintritte der Beruhigung wird auf
die Vermeidung äusserer Anreizungen und Verführungen besonders
Bedacht genommen werden müssen. Nicht unerhebliche Schwierig-
keiten können bei Festsetzung des Entlassungszeitpunktes entstehen,
da die Kranken oft sehr ungeduldig sind und auf alle Weise hinaus-
drängen. Selbst ganz beruhigte Kranke können aber in der Freiheit,
besonders unter dem Einflüsse des Alkohols, sofort wieder erregt
werden und die gefährlichsten Streiche begehen. Den sichersten
Anhalt für die Beurtheilung des Zustandes giebt auch hier das
Körpergewicht.
In den Depressionszustiinden pflegt man Opium oder Morphium,
Bromsalze, hie und da auch Schlafmittel, abendliche Bäder mit
Behandlung.
425
kühlen Ueberrieselnngen, gelegentlich vorsichtige Massage in An-
wendung zu ziehen; dazu kommt die Sorge für kräftige Ernährung,
Regelung der Verdauung, Bettruhe mit regelmässigem Aufenthalte
im Freien, endlich sorgfältige Ueberwachung, namentlich in den
Uebergangszeiten zwischen Erregung und Verstimmung.
Die psychische Behandlung wird sich wesentlich auf die Fern-
haltung gemüthlicher Reize zu beschränken haben. Besuche von
Angehörigen, lange Gespräche, Briefe, geschäftliche Auseinander-
setzungen sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Besonderer trösten-
der Zuspruch ist auf der Höhe der Verstimmung meist ziemlich
wirkungslos; späterhin, wenn die Stimmung sich aufhellt, erscheint
sein Nutzen gewiss oft grösser, als er in Wirklichkeit ist. In leichten
Fällen kann gegen die unangenehmen Empfindungen, die Schlaf-
losigkeit und Niedergeschlagenheit hypnotische Beeinflussung gewisse
Dienste leisten. Grosse Vorsicht ist bei deprimirten Kranken hin-
sichtlich der Entlassung aus dem Schutze der Anstalt anzurathen.
Wo Selbstmordneigung vorhanden ist, pflegt sie, wie schon früher
erwähnt, meist nicht während der stärksten Hemmung, sondern
gerade mit dem Nachlasse derselben zur That zu führen, so lange
dabei die verzweifelte Stimmung noch fortbesteht. Oft wissen der-
artige Kranke die letzten Reste ihrer trüben Gemüthslage mit
grosser Geschicklichkeit vor dem Arzte zu verbergen, um das lange
geplante Vorhaben sicherer zur Ausführung bringen zu können.
X. Die Verrücktheit (Paranoia)*).
Unter dem Namen der Paranoia fasst eine grosse Zahl Deutscher
Irrenärzte alle diejenigen functionellen Geisteskrankheiten zusammen,
bei denen die Störung sich hauptsächlich oder ausschliesslich auf
dem Gebiete der Yerstandesthätigkeit abspielt. Als wesent-
liches Kennzeichen dieser Krankheit gilt daher einfach das Auftreten
von Wahnideen und Sinnestäuschungen. Der tiefere Grund für diese
ganz verschwommene Begriffsbestimmung liegt in der Entstehungs-
geschichte derselben. Nach der älteren Lehre Griesingers war die
Verrücktheit stets der Ausgang einer voraufgegangenen affectiven
Geistesstörung. Erst die Untersuchungen von Snell, Westphal,
Sander haben dazu geführt, dass man eine „primäre“ Form der
Verrücktheit allgemein anerkannte. Unter dem Eindrücke dieses
unleugbaren Fortschrittes kam man dazu, die neugewonnene Krank-
heitsform als primäre Erkrankung des Verstandes in Gegensatz zu
stellen zu der Manie und Melancholie, bei denen man die mass-
gebenden Störungen auf dem Gebiete des Gefühlslebens erblickte.
Die bei der ersteren Form gelegentlich beobachteten Affectschwan-
kungen sollten ausschliesslich „secundär“, durch Vermittlung von
Wahnbildungen oder Sinnestäuschungen, zu Stande kommen, gerade
so wie man das Auftauchen von Verstandesstörungen bei den affec-
tiven Erkrankungen erst als Folgeerscheinung aus der primären
heiteren oder traurigen Verstimmung ableiten zu können glaubte.
*) Snell, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie XXII, S. 368; Griesinger, Archiv
f. Psychiatrie I, S. 148; Sander, ebenda S. 387; Westphal, Allgem. Zeitschr. f.
Psychiatrie XXXIV. S. 252; Mercklin, Studien über primäre Verrücktheit 1879;
Amadei e Tonnini, Archivio italiano per le malattie nervöse, 1884, 1, 2; Werner,
Die Paranoia. 1891; Schule, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie L, 1 u. 2; Cramer,
ebenda, LI, 2; Sandberg, ebenda, LII, 619.
Begriffsbestimmung.
427
Es war daher für die Diagnose von grösster Bedeutung, im einzelnen
Falle zu wissen, ob die Störungen der Stimmung oder diejenigen
des Verstandes den Ausgangspunkt der Krankheitserscheinungen ge-
bildet hatten.
Besonders verhängnisvoll für die weitere Entwicklung der
klinischen Psychiatrie wurde die von Westphal zuerst kurz an-
gedeutete Möglichkeit eines acuten Verlaufes der Verrücktheit mit
Uebergang in Genesung. Die letzten Folgerungen dieser Lehre
haben in neuester Zeit Cramer und Ziehen gezogen. Durch diese
Verschiebung des ursprünglichen Begriffes, der nur mit chronischen,
unheilbaren Zuständen rechnete, wurde die rein äusserlich-sympto-
matische Fassung des Krankheitsbildes mächtig gefördert. Wenn der
Verlauf der Krankheit nicht mehr massgebend war, blieb eben die
Verstandesstörung, das Auftreten von Wahnideen oder Sinnestäu-
schungen, als das einzig greifbare Kennzeichen der Verrücktheit
übrig. Mit Nothwendigkeit mussten nun eine Reihe von Krankheits-
bildern zur Verrücktheit gezogen werden, die, klinisch genommen,
nicht mehr die geringste wirkliche Gemeinschaft mit der ursprüng-
lichen Verrücktheit darboten, so die Amentia, der Alkoholwahnsinn
und zahlreiche Zustandsbilder, die unzweifelhaft der Dementia praecox
oder dem manisch-depressiven Irresein angehören. Sprach man doch
ganz harmlos von einer periodischen Paranoia !
Es bedarf wol kaum einer besonderen Ausführung, dass ich
diese Entwicklung der Paranoiafrage für eine völlig verfehlte*halten
muss. In ihr begegnet uns mit greifbarster Deutlichkeit der Grund-
fehler unserer klinischen Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten, die
rein symptomatische, auf ausgeklügelten Voraussetzungen be-
ruhende Abgrenzung der Krankheitsformen. Der als grundlegend
angesehene Gegensatz zwischen den Störungen des Verstandes und
denjenigen der Gefühle ist nur ein psychologischer, aber durchaus
kein klinischer. In den wirklichen Krankheitsbildern sehen wir
beide in ganz unberechenbarer Weise sich mit einander verknüpfen.
Wem das nicht einleuchtet, der versuche doch einmal bei dem all-
seitig anerkannten Krankheitsbilde der Paralyse, die Fälle nach der
primären oder secundären Entstehung der Wahnideen zu gruppiren.
An diesem klaren Beispiele, von dem die klinische Auffassung der
Seelenstörungen noch immer nichts lernen will, zeigt es sich bis
zum Ueberdrusse, dass Wahnbildungen und Sinnestäuschungen an
428
X. Die Verrücktheit.
sicli für die Kennzeichnung eines Krankheitshildes ebenso unwesent-
lich sind wie das Auftauchen von Verstimmungen und Erregungen.
Ganz dasselbe kann man aus dem manisch-depressiven Irresein und
aus der Dementia praecox lernen, wenn man sich nicht den freien
Blick zuvor durch bestimmte Yoraussetzungen versperrt hat
In der That hat denn auch jeder bisher unternommene Versuch,
die „Paranoiagruppe“ in sich zu ordnen und sie von anderen Formen
des Irreseins abzugrenzen, regelmässig mit dem Geständnisse geendet
dass Mischformen und Uebergänge in Menge die Formen selbst
überwuchern und sogar zu den angeblich grundverschiedenen affec-
tiven Geistesstörungen hinüberführen. Dadurch fällt die einzige
Grundlage des jetzigen Paranoiabegriffes, der künstliche Gegensatz
zwischen Yerstandeskrankheiten und Gemüthskrankheiten, in sieh
zusammen. Wir können nicht zweifeln, dass die Hoffnungslosigkeit,
auf dem eingeschlagenen Wege zu einer Klarheit zu kommen, einen
grossen Theil der Schuld an der allgemeinen Unlust zur Beschäf-
tigung mit klinisch -psychiatrischen Fragen trägt. Was nützt uns
auch die Zerlegung der grossen Verstandeskrankheit in ihre feinsten
Spielarten, wenn wir dadurch nicht zugleich erfahren, ob der Kranke
gesund, ob er periodisch, ob er einfach schwachsinnig oder im alten
Sinne „verrückt“ werden wird? Ueber diese wichtigen Fragen muss
uns jede Diagnostik Aufschluss geben, die uns befriedigen und
unsere Anschauungen klären soll. Dass uns gerade nach dieser
KichAng die jetzige Universalkrankheit Paranoia, die bei manchen
Irrenärzten bereits 70 — 80% des gesammten Krankenmaterials um-
fasst, nicht einen einzigen Schritt weiter bringt, bedarf keines
Beweises. Wir wissen zur Genüge, dass Wahnbildungen und
Sinnestäuschungen bei den günstigsten und ungünstigsten, bei den
acutesten und chronischesten, bei einfachen und periodischen Formen
des Irreseins Vorkommen können und daher an sich keinerlei Schlüsse
auf den weiteren Verlauf des einzelnen Falles gestatten.
Dem gegenüber ist kein Mittel in so hohem Grade geeignet,
maseren Blick für die wirklich wesentlichen Eigentümlichkeiten
eines Krankheitsvorganges zu schärfen, wie die Beachtung des Ver-
laufes und endlichen Ausganges. Hat sich doch auch die Erkennt-
nis der Paralyse und ihrer körperlichen Zeichen zuerst an die
Erfahrung angeknüpft, dass alle Kranken mit Sprachstörung und
Lähmungen schliesslich in gleicher Weise zu Grunde gingen. Haben
Begriffsbestimmung.
429
wir einmal eine Gruppe von Fällen vor uns, die den gleichen Aus-
gang genommen haben, so werden wir nunmehr vielfach auch im
klinischen Bilde selbst schon kleine Eigenthümlichkeiten erkennen,
die uns von vorn herein gestatten, ähnliche Fälle künftighin richtig
zu beurtheilen. So sind wir heute meist im Stande, die paralytische
Erregung nur an der Hand der psychischen Krankheitszeichen von
der so sehr ähnlichen manischen oder katatonischen sicher zu unter-
scheiden, aus den besonderen Zeichen des circulären oder katato-
nischen Stupors den periodischen oder fortschreitenden Verlauf zu
prognosticiren, die verschiedenen Depressionszustände der Paralyse,
der Melancholie, der Dementia praecox, des manisch-depressiven Irre-
seins beim ersten Beginne der Krankheit in ihrer Bedeutung für die
Zukunft zu würdigen. In der praktischen Thätigkeit werden wir
natürlich nicht immer das Richtige treffen, sondern uns nicht selten
auch irren. Immer aber wird die Geschichte des einzelnen Falles die
Wahrheit unfehlbar an den Tag bringen; sie wird uns bestätigend
oder berichtigend zu immer klarerer Erfassung des Wesentlichen
gegenüber dem Zufälligen und Nebensächlichen führen müssen.
Dagegen kann eine Diagnose, die darauf verzichtet, mehr als
eine Umschreibung einzelner Krankheitszeichen zu sein, überhaupt
weder bewiesen noch widerlegt werden. Wer heute damit zufrieden
ist, jede Psychose mit vorwiegender Verstandesstörung als Paranoia
zu bezeichnen, lernt aus der weiteren Beobachtung schlechter-
dings nichts für künftige Fälle. Da seine Diagnose nichts ent-
hält, was nicht auch jeder Laie sofort sehen könnte, so wird ihn
auch die Zukunft nicht enttäuschen, aber sie wird ihm auch nichts
offenbaren.
Dies sind in Kürze die Ueberlegungen, welche mich bewegen,
in der Paranoiafrage eine grundsätzlich abweichende Stellung ein-
zunehmen. Ich kann nur solche Krankheitsfälle für wesensgleich
halten, welche, von gradweisen Unterschieden und besonderen
Zwischenfällen abgesehen, in der Hauptsache zu demselben Ende
führen. Aus diesem Grunde halte ich die Aufstellung einer acuten
Paranoia für ein Unding, weil durch sie wesentliche Merkmale der
Krankheit, die grundsätzliche Unheilbarkeit, das dauernde Fort-
bestehen der auftretenden Wahnbildungen, vollkommen verwischt
werden. Wenn die 'Paranoia eine Krankheit ist, so kann sie nur
entweder acut oder chronisch sein. Ich ziehe die letztere Bestimmung
430
X. Die Verrücktheit.
vor, da ich die sogenannten acuten Formen weit befriedigender zu
deuten weiss.
Aber auch von der grossen Zahl chronischer Fälle, die man der
Paranoia zuzurechnen pflegt, bedürfen, wie ich denke, diejenigen
einer gesonderten Betrachtung, bei denen die Wahnbildung mit den
Zeichen einer deutlichen geistigen Schwäche einhergeht. Wir sehen
dabei die Wahnvorstellungen rasch sehr abenteuerliche Gestaltungen
annehmen, widerspruchsvoll, ausserordentlich üppig oder sehr dürftig
werden, sich vielfach verändern und wechseln, endlich nach kürzerer
oder längerer Zeit in den Hintergrund treten und verblassen. Diese
Zustandsbilder tragen in allen Zügen so deutlich den Stempel der
hebephrenischen, katatonischen, senilen Erkrankungen, dass wir bei
Beachtung dieser Zeichen schon im ersten Beginne die nebensäch-
liche Bedeutung der Wahnbildungen und die Entwicklung eines
ganz bestimmten Endzustandes Voraussagen können. Andererseits
aber giebt es ohne Zweifel eine Gruppe von Fällen, in denen sich
von Anfang an klar erkennbar ganz langsam ein dauerndes,
unerschütterliches Wahnsystem bei vollkommener Er-
haltung der Besonnenheit und der Ordnung des Ge-
dankenganges herausbildet. Diese Formen sind es, denen ich
die Bezeichnung der Paranoia Vorbehalten möchte. Sie sind es,
die mit Nothwendigkeit zu einer tiefgreifenden Umwandlung der
gesammten Lebensanschauung, zu einer „Verrückung'1 des Stand-
punktes führen, welchen der Kranke gegenüber den Personen und
Ereignissen seiner Umgebung einnimmt.
Die Entwicklung dieser Krankheit scheint sich immer sehr lang-
sam zu vollziehen. Den oft über Jahre sich erstreckenden Beginn
bilden leichte Verstimmungen, Misstrauen, auch wol unbestimmte
körperliche Beschwerden und hypochondrische Befürchtungen. Der
Kranke ist unzufrieden mit seiner Lage ; er fühlt sich zurückgesetzt,
glaubt sich vielleicht schon von seinen Eltern und Geschwistern
nicht mit der rechten Liebe behandelt, sondern vielfach verkannt;
man hat für seine Eigenart kein Verständniss. So entwickelt sich
ein geheimer, allmählich wachsender Gegensatz zwischen ihm und
seiner Umgebung; er steht seinen Angehörigen als ein Fremder, als
Mensch aus einer anderen Welt gegenüber; sein Verhältniss zu ihnen
ist ein kaltes, äusserliches, unnatürliches, selbst feindliches. „Gott
ist mein Vater und die Kirche meine Mutter,“ sagte ein Kranker,
Krankheitsbild.
431
der durch häufiges Fasten das Irdische in sich abtödten und dad ureh
in ein inniges Verhältniss zu Gott kommen wollte. Er zieht sich
daher von ihnen zurück, begegnet ihnen schroff, abweisend, such
die Einsamkeit auf, um ungestört seinen Gedanken nachhängen zu
können, beschäftigt sich mit unpassender und unverstandener Lectür e.
Im Innern des Kranken besteht dabei eine tiefe Sehnsucht nach
etwas Grossem und Hohem, ein geheimes Drängen nach kühner Be-
thätigung, die stille Hoffnung auf ein unfassbares Glück, die sich
bisweilen in dem Aufbau und der genauen Ausmalung unwirklicher
Situationen, farbenreicher Luftschlösser befriedigt, in denen die eigene
Person die Heldenrolle spielt. Mehr und mehr befestigt sich in ihm
die Ueberzeugung, zu etwas „Besonderem“ geboren, „nicht wie der
grosse Haufe gebacken“ zu sein. Er glaubt an seine „Bestimmung“^
an seine Mission, die er zu erfüllen hat. Alle praktischen Misserfolge
können ihn dabei nicht entmuthigen. „Um den Glauben mir zu
nehmen,“ schrieb ein Kranker, „müsste die Stimme meiner innersten
Seele ausgerodet, die Seele selbst oder mein Leben vernichtet werden:
per aspera ad astra!“
Nach und nach beginnen die krankhaften Ahnungen und Ge-
dankenreihen auch seine Wahrnehmungen zu beeinflussen. Er macht
die Bemerkung, dass man ihm bei dieser oder jener Gelegenheit nicht
mehr so freundlich entgegenkommt wie früher, dass man zurück-
haltender gegen ihn ist, ihm aus dem Wege geht und trotz manchen,
wie er meint, heuchlerischen Freundschaftsbeweises nichts mehr mit
ihm zu thun haben will. In Folge dessen steigert sich seine Em-
pfindlichkeit imd sein Misstrauen; er beginnt, in einer harmlosen
Bemerkung, einer zufälligen Geberde, einem aufgefangenen Blicke
Beleidigungen und versteckte Andeutungen einer feindseligen Ge-
sinnung zu argwöhnen. Aus den Gesprächen der Tischgesellschaft
entnimmt er, dass ein geheimes Einverständniss besteht; die gleichen
Redewendungen werden mit auffallender Absichtlichkeit bei ganz
bestimmten Gelegenheiten zu Tode gehetzt. Man pfeift in bemerkens-
werter Weise gewisse Lieder, um damit auf kleine Erlebnisse in
seiner Vergangenheit hinzuweisen, ihm Winke für sein Handeln zu
geben. In Theaterstücken, Zeitungsartikeln finden sich besondere
Beziehungen auf sein Thun und Treiben; der Geistliche auf der
Kanzel, ein Wahlredner macht „in der Bildersprache“ nicht misszu-
verstehende Anspielungen über seine Person. Er begegnet plötzlich
432
X. Die Verrücktheit.
immerfort denselben Menschen, die ihn anscheinend beobachten,
ihm wie zufällig folgen; man fixirt ihn, sieht ihn von der Seite an;
man räuspert sich, hustet um seinetwillen, spuckt vor ihn hin oder
weicht ihm aus; in öffentlichen Localen rückt man von ihm fort oder
steht auf, sobald er erscheint, wirft ihm verstohlene Bücke zu und
kritisirt ihn. Die Droschkenkutscher, Eisenbahnschaffner, Arbeiter
unterhalten sich über ihn. Ueberall ist die Aufmerksamkeit auf ihn
gerichtet; seine Kleidung wird trotz ihrer Ungewöhnlichkeit von zahl-
reichen Unbekannten nachgeahmt. Einzelne Bemerkungen, die er
hat fallen lassen, werden sofort zur öffentlichen Parole. Einer meiner
Kranken hatte Gelb als die Farbe des Verstandes bezeichnet; am
nächsten Tage trug alle Welt gelbe Rosen, um ihm, da die Rose
das Symbol des Schweigens ist, anzudeuten, dass er klug sein und
schweigen solle. „Wer wül all das aufzählen, was hier zu mir
spricht !“
Alle diese Erfahrungen sind an sich ganz gleichgültigen Inhalts ;
sie erscheinen „Jedem nicht Eingeweihten ganz natürüch“, als Zu-
fälügkeiten, aber der Kranke merkt nur zu deutlich, dass alles mit
der ausgesuchtesten Schlauheit „gemacht“ wird, dass es sich um die
„künstliche Erzeugung von Zufällen“ handelt, hinter der sich ein
abgekarteter Handel, irgend ein niederträchtiger Anschlag verbirgt.
Allerdings wird das ganze Spiel äusserst geschickt eingefädelt, um
ihn zu täuschen und um ihm jede Mögüchkeit einer wirksamen
Yertheidigung gegen alle die versteckten Gemeinheiten, gegen das
ganze Spionir- und Beobachtungssystem zu benehmen. So oft er
Jemanden offen zu Rede stellt und zu erkennen giebt, dass er
alles durchschaut, thut man ganz unschuldig und erfindet allerlei
Ausflüchte; man steuert nicht geradezu, sondern auf Umwegen
dem Ziele zu, indem die wirklichen Zwecke nur in verschleierten
Andeutungen berührt werden. Man kommt ihm freundüch entgegen,
um seine Wachsamkeit zu täuschen, verwickelt ihn in eigen-
thümüche Gespräche, macht ihm allerlei Vorspiegelungen mit Hinter-
gedanken, deren wahren Sinn er sofort erkennt Ein junger Jurist,
der die feindseügen Absichten seiner Mutter durch unmittelbare
Eingebung zu verstehen glaubte , betrachtete die telegraphische
Nachricht von deren Tode als eine „kindische Mystification“ und
war nicht zu einer Regelung der Erbangelegenheiten zu be-
wegen, da er überzeugt war, dass die Mutter noch lebe und
Krankheitsbild.
433
sich nur zum Zwecke ihrer Wiederverheirathung von ihm los-
sagen wolle.
Von der ganz eigenthiimlichen Verschiebung, die sich in dem
Verhältnisse des Kranken zur Aussenwelt vollzieht, giebt vielleicht
eine Vorstellung die folgende Stelle aus dem Tagebuche eines
Kranken, der sich von einem Geheimbunde zur Beförderung der
Päderastie aufs Kom genommen glaubte:
„Dass eine Verbindung mit Zwecken, wie sie aus diesen Zeilen ersichtlich
sind, alles aufbietet, um dieselben nicht in die Oeffentlichkeit kommen zu lassen,
und daher in versteckter oder symbolischer Form Propaganda zu machen sucht,
ist einleuchtend. Da sie nun nicht sicher sein kann, welche Stellung der von ihr
Beeinflusste der Sache gegenüber einnehmen wird, so sucht sie durch allerlei
mit der Hauptbestrebung gleichsam parallel laufende, aber in sich unschuldige
Kunstgriffe denselben zu verwirren, bezw. sich vor unliebsamen Enthüllungen zu
schützen. So z. B. hatte ich mir damals, wie dies ja bei fast allen Menschen
der Fall ist, einige stereotype Redensarten angewöhnt, unter anderem: „Gewiss!“
und „Kaum zu glauben“, und siehe da, ich fand diese beiden Sentenzen und noch
manches andere in rascher Aufeinanderfolge als Ueberschrift einer Reclame fett
gedruckt im Generalanzeiger. Daraus musste ich natürlich schliessen, dass das
Zufall und mein Leben also tagtäglich aus lauter Zufällen zusammengesetzt sei,
so dass es schliesslich das reinste phantastische Doppelleben geworden wäre. —
Das ist allerdings kaum zu glauben! — “
Durch die fortgesetzte vorurtheilsvolle Verarbeitung seiner Er-
fahrungen wird dem Kranken klar, dass eine weitverbreitete Ver-
schwörung gegen ihn im Werke ist. Es werden Verleumdungen
über ihn ausgestreut, er habe sich durch Ausschweifungen ein
Nervenleiden zugezogen, sei syphilitisch, der Paederastie ergeben.
Man hat seine Photographie in Bordells gesandt, um ihn dort als
Stammgast hinzustellen; es wurden gefälschte Rechnungen ver-
öffentlicht, als ob er täglich unsinnige Mengen Alkohol trinke. Das
Essen schmeckt höchst verdächtig ; der Tischnachbar erkrankt, nach-
dem er zufällig aus dem für den Kranken bestimmten Glase getrunken
hat. Man will ihn also aus dem Wege räumen, mit Gewalt unter-
drücken, wahnsinnig machen, zu geschlechtlichen Ungeheuerlichkeiten,
zur Onanie verführen. Diese Zwecke verfolgt, wie er annimmt, eine
mit erstaunlichen Mitteln arbeitende Gesellschaft, der nicht nur alle
möglichen Privatpersonen aller Stände, sondern auch Beamte, Gerichte,
Zeitungsschreiber, Geistliche, Schriftsteller als geheime Agenten an-
gehören, Die Triebfeder derselben sind entweder einzelne, bestimmte
Personen, oder es handelt sich um einen allgemeinen Bund der
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Anfl. II. Band. 28
434
X. Die Verrücktheit.
Freimaurer, Socialisten, welcher, durch furchtbare Eide zusammen-
gehalten, aus besonderen Gründen den Kranken in seine Gewalt zu
bringen trachtet.
Hand in Hand mit der Entwicklung des Verfolgungswahns gehen
regelmässig Grössenideen. Bisweilen halten sich dieselben im
Rahmen eines stark erhöhten Selbstgefühls. Schon die Ungeheuer-
lichkeit der ganzen Machtmittel, die der Kranke gegen sich auf-
geboten wähnt, deutet auf eine sehr bedeutende Ueberschätzung der
eigenen Persönlichkeit, des vermeintlichen Mittelpunktes derartiger
Kraftanstrengungen, hin. Der Kranke betrachtet sich als besonders
veranlagt, genial, als bedeutenden Dichter, Musiker, Entdecker, Ge-
lehrten, legt grossen Werth auf sein Aeusseres, hält etwas auf sich,
glaubt sich berufen, eine hervorragende Stellung in der Welt einzu-
nehmen. Weiterhin aber schiesst vielfach nach jahrelangem, un-
klarem Grübeln in dem Kranken die siegreiche Ahnung hervor, dass
er überhaupt nicht das rechte Kind seiner Eltern, sondern viel höherer
und herrlicherer Abstammung sei. Den äusseren Anlass zur Ent-
stehung dieser Wahnidee, welche sofort für ihn unzweifelhafte Ge-
wissheit erlangt, giebt oft eine ganz gleichgültige Begebenheit In
einem Streite gebraucht der Vater einen heftigen Ausdruck, den er
seinem wirklichen Kinde gegenüber niemals anwenden würde. Der
Kranke merkt, dass seine Eltern im Nebenzimmer flüstern, bei seinem
Eintritte erblassen, ihn mit besonderem Ernste begrüssen; es wird
in seiner Gegenwart „bedeutungsvoll“ der Name einer hochgestellten
Persönlichkeit genannt; auf der Strasse, im Theater blickt ihn irgend
eine vornehme Dame aussergewöhnlich freundlich an; beim Be-
schauen des Bildes eines Grafen oder Fürsten, der Büste Napoleons
fällt ihm plötzlich eine überraschende Aehnlichkeit zwischen sich
und Jenem auf, oder endlich es wird ihm ein Brief in die Hände
gespielt, zwischen dessen Zeilen er das grosse Geheimniss ohne Mühe
herausliest.
Mit besonderer Genugthuung erkennt der Kranke, dass auch
von seiner näheren und ferneren Umgebung die Ueberlegenheit
seiner Person und seiner Stellung mehr oder weniger offen anerkannt
wird. Man behandelt ihn, wohin er kommt, mit unverkennbarer
Ehrerbietung; fremde Personen ziehen tief den Hut vor ihm; die
königliche Familie sucht ihm möglichst oft zu begegnen; die Musik
auf der Parade oder im Theater beginnt zu spielen, sobald er er-
Krankheitsbild.
435
scheint. In den Zeitungen, die ihm vom Kellner vorgelegt werden,
in den Büchern, die ihm der Buchhändler zuschickt, findet er mehr
oder weniger verblümte Anspielungen auf sein Schicksal. Die Schau-
spieler auf der Bühne, der Geistliche auf der Kanzel richten lange
Sätze mit dem Hinweise auf seine hohe Abkunft geradezu an ihn,
und die Vorübergehenden auf der Strasse begleiten ihn mit bei-
fälligen und beziehungsreichen Bemerkungen. Nicht selten vermag
er bei gewissen Gelegenheiten das unmittelbare Eingreifen der Vor-
sehung in sein Lebensschicksal festzustellen. Aus den Veränderungen
des Wetters, dem eigenthümlichen Blinken der Sterne, aus dem
Fluge der Vögel, aus der Kleidung der Menschen, die ihm begegnen,
dem Papierfetzen, den er auf der Landstrasse findet, geht auf das
klarste hervor, dass Gott in ganz besonderer Weise seine Hand über
ihm hält und ihm Zeichen für sein Handeln giebt, die er ohne
weiteres zu deuten versteht und auch mit freudiger Zuversicht auf
das gewissenhafteste befolgt. In Folge aller dieser Erfahrungen
entsteht ein ausgedehntes Netz geheimnissvoller Beziehungen, dessen
Mittelpunkt der Kranke bildet. Er ist Thronerbe, Reformator, Friedens-
fürst, Kaiser und Papst in einer Person, Messias, Gottesgebärerin, er-
hält seine Gedanken von Gott, wird zum auserwählten Werkzeuge
des Himmels, ja zum Mittelpunkte der Welt.
In manchen Fällen macht der Kranke die Bemerkung, dass
eine wirklich oder vermeintlich durch hervorragende Stellung aus-
gezeichnete Person des anderen Geschlechts ihm gewogen ist und ihm
eine nicht misszuverstehende Aufmerksamkeit schenkt (erotische
Verrücktheit). Bisweilen ist es ein aufgefangener Blick, eine
vermeintliche Fensterpromenade, eine zufällige Begegnung, welche
diese verborgene Liebe dem Kranken zur Gewissheit werden lässt;
häufiger jedoch erfährt er davon nur auf Umwegen durch verblümte
Anspielungen seiner Umgebung, Zeitungsanzeigen, ohne dass er viel-
leicht den Gegenstand seines Interesses jemals gesehen hat.
Sehr bald mehren sich die Zeichen des geheimen Einverständ-
nisses. Jedes zufällige Erlebniss, Kleidung, Begegnungen, Lectüre,
Gespräche gewinnen für den Kranken eine Beziehung zu seinem
eingebildeten Abenteuer. Seine Liebe ist öffentliches Geheimniss und
Gegenstand allgemeinster Aufmerksamkeit; überall spricht man davon,
allerdings niemals mit klaren Ausdrücken, sondern immer nur in
feinen Andeutungen, deren tiefen Sinn er aber sehr gut versteht.
28*
436
X. Die Verrücktheit.
Natürlich muss diese ausserordentliche Liebe einstweilen geheim
gehalten werden; darum erhält der Kranke alle Nachrichten nie auf
geradem Wege, sondern stets durch Vermittelung Anderer, durch die
Zeitung und in Form versteckter Bemerkungen; auf dieselbe Weise
weiss er sich durch gelegentliches Fallenlassen von Anspielungen
mit dem Gegenstände seiner Liebe in Verbindung zu setzen. Der
Flug der Tauben, die symbolisch ihn und die Geliebte darstellen,
zeigt ihm, dass man ihn verstanden hat, dass er nach langen
Kämpfen endlich sein Ziel erreichen wird; irgend eine Person, mit
der er in Berührung tritt, erscheint ihm als die Erkorene, die sich
verkleidet hat, um ihre Zuneigung der Welt zu verbergen, ja, eine
geheime Ahnung vermag ihn bei einer derartigen Erkennungsscene
über die handgreiflichsten Unähnlichkeiten, sogar über die Ge-
schlechtsverschiedenheit hinwegzusetzen.
Dieser eigen thtimliche Wahn kann sich, besonders durch Ver-
mittelung von verblümten Zeitungsanzeigen genährt, lange Zeit hin-
durch in der geschilderten Weise fortspinnen, ohne dass im sonstigen
Thun und Treiben des Kranken, der ja seine Angelegenheit geheim
zu halten sucht, etwas Verkehrtes hervortritt. Im weiteren Verlaufe
gesellen sich nicht selten traumhafte Sinnestäuschungen, das Gefühl
eines Kusses im Schlafe u. dergl. hinzu. Die ganze Färbung der
Liebe ist dabei stets eine schwärmerische, romanhafte, häufig plato-
nische, der eigentliche Geschlechtstrieb bei dem Kranken oft wenig
oder in ungesunder Weise (Onanie) entwickelt. Zwischen die Zeiten
seligen ,, Hangens und Bangens“ schiebt sich bisweilen tiefe Zer-
knirschung ein, das Gefühl der Unwürdigkeit gegenüber dem mit
allen möglichen Vorzügen ausgeschmückten Ideale, Enttäuschung
über unbegreifliche Zurückweisungen, unbestimmter Versündigungs-
wahn.
Die Entstehung aller dieser Wahnbildungen vollzieht sich
wesentlich auf dem Wege krankhafter Auslegung wirklicher Erleb-
nisse. Einmal werden thatsächliche Wahrnehmungen in vorurtheils-
voller Weise gedeutet. Ganz gleichgültige Erfahrungen gewinnen
für den Kranken eine geheime Beziehung zu seiner eigenen
Person, wie das aus vielen der angeführten Züge klar erkennbar
ist. Ein Fleck am Kleide, ein Loch im Stiefel ist nicht die Folge
der gewöhnlichen Abnutzung, sondern eine sehr auffallende That-
sache, deren Zustandekommen nur durch ganz besondere Um-
Krankheitsbild.
437
stände, durch feindliche Machenschaften zu erklären ist. Ein
Wassertropfen in der Essschüssel, Ohrensausen, Hitze im Kopf, Bauch-
grimmen beweisen auf das unzweideutigste einen Yergiftungsversuch;
}4ch weiss schon, was das ist11. Namentlich in den Reden der Um-
gebung und im Lesestoffe fliesst diese Quelle reichlich. Stets ist es
„die gewohnte Bildersprache“; „sie haben gemeint, ich versteh’s
nicht“. Der Kranke liest etwas vom Antichrist und weiss sofort,
dass er gemeint ist und zu Christus verklärt werden soll; einen
biblischen Satz: „Die Stadt liegt viereckig“ bezog ein Kranker ohne
weiteres auf seine, im quadratisch gebauten Mannheim erlittene
Untersuchungshaft. Ein Kranker hörte in einer Volksversammlung
davon sprechen, dass man doch einem Ertrinkenden helfen werde
und schloss daraus, dass man ihn beschuldige, einen hohen Beamten
umgebracht zu haben, der sich ertränkt hatte. Weiterhin werden
sehr häufig innere Zusammenhänge zwischen zwei zufällig auf-
einanderfolgenden Ereignissen angenommen. Ein Kranker hatte an
den Kaiser geschrieben: „Ich bin nicht gekommen, aufzulösen,
sondern zu erfüllen“; alsbald wurde der Reichstag aufgelöst.
Ein anderer unterbreitete dem Badischen Ministerpräsidenten eine
Karte, auf der die noch nicht besetzten Gebietstheiie der Erde an-
gezeichnet waren; unmittelbar darauf begann die Deutsche Colonial-
politik.
Weit seltener, als die wahnhafte Verarbeitung wirklicher Er-
fahrungen sind eigentliche Sinnestäuschungen. Nur in vereinzelten
Fällen begleiten zahlreichere Sinnestäuschungen längere Zeit den
Krankheitsverlauf; in der Regel kommt nur hie und da einmal eine
Gehörstäuschung vor, meist ein einzelnes Wort oder ein kurzer
Satz: „Heinrich, Heinrich!“ „der säuft“; „da kommt der stinkige
Prophet“. Personen am Nebentische stecken die Köpfe zusammen
und flüstern sich Bemerkungen zu, die der Kranke deutlich ver-
steht, da er „ein feines Gehör hat“. Oder es fällt auf dem
Spaziergange ein Schuss, und der Kranke hört die Kugel an
seinem Kopfe vorbeipfeifen, fühlt auch wol den Luftdruck. Aus
der Luft sprüht ein feiner Giftregen auf ihn herab; eine plötz-
liche Beklemmung überfällt ihn, und dabei hört er eine warnende
Stimme. Auch nächtliche Visionen kommen vor, das Sehen von
Sternen, glänzenden Figuren, göttlichen Erscheinungen. Eine Ver-
heissung ertönt; dem Kranken wird der Segen Esaus auf die linke,
438
X. Die Verrücktheit.
der Segen Jacobs auf die rechte Schulter verliehen. Stets pflegt es
sich hier nur um vereinzelte Erlebnisse zu handeln, die auch von
dem Kranken regelmässig als ganz besondere, aus dem Rahmen
der gewöhnlichen Erfahrung herausfallende Vorkommnisse aufgefasst
werden.
Wie mir scheint, haben wir es dabei vielfach mit einer eigen-
artigen Störung zu thun, die nachweisbar in der Entstehung der
Wahnbildungen bisweilen eine gewisse Rolle spielt, nämlich mit
Erinnerungsfälschungen. Indem der Kranke die Erfahrungen
seiner Yergangenheit durchmustert, fällt es ihm wie Schuppen von
den Augen. Mit voller Klarheit treten ihm eine Menge von Einzel-
heiten entgegen, die er früher gar nicht beachtet hat, die aber jetzt
plötzlich eine hohe Bedeutung für ihn gewinnen. Sein Gedächtnis.?
schärft sich, wie er meint, in erstaunlichem Maasse, so dass sein
ganzes vergangenes Leben wie ein abgeschlagenes Buch vor ihm
liegt. Der Kranke weiss noch ganz genau, wie er als kleines Kind
seinen wirklichen Eltern aus einem schönen Schlosse geraubt, in der
Welt herumgeschleppt und schliesslich bei seinen falschen Eltern
untergebracht wurde. Vielfache Aeusserungen und Handlungen
dieser letzteren, der Zuschnitt und die Farbe seiner Kleidung, die
Behandlung in der Schule, prophetische Träume, alle kleinen und
grossen Ereignisse seines Lebensganges haben von seiner frühesten
Jugend an auf seine Abstammung, seinen zukünftigen hohen Beruf
hingewiesen. Ein wenig gebildeter Kranker schilderte genau die
Villa seines Vaters, der Hannoverscher Finanzminister gewesen sei
und sich Windthorst’s Plänen widersetzt habe. Als man ihm nach-
wies, dass es einen Minister seines Namens niemals gegeben habe,
behauptete er, man habe aus Feindschaft sämmtliche alte Staatshand-
bücher von Hannover vernichtet und gefälscht neugedruckt, um den
Namen seines Vaters auszumerzen. Bisweilen kann man es un-
mittelbar verfolgen, wie derartige Erinnerungen in dem Kranken '
auftauchen und sich festsetzen. Ein Kranker meinte, schon früher
sei alles wahr geworden, was er sich dachte.
Die gemeinsame Eigenthümlichkeit aller, auf den verschiedensten
Wegen entstandenen Wahnbildungen ist ihre grundsätzliche Un-
erschütterlichkeit. Obgleich der Kranke vielleicht selbst zugiebt,
dass er selten oder nie den zwingenden Beweis für die Richtigkeit
seiner' Auffassung erbringen könne, prallt doch jeder Versuch, ihn
Krankheitsbild.
439
von der Wahnhaftigkeit seiner Ideen zu überzeugen, wie an einer
Mauer ab. Man geht eben so schlau vor, dass sich die Erkenntniss
des inneren Zusammenhanges aller der scheinbaren Zufälligkeiten
nur vom Standpunkte jener subjectiven Ueberzeugung aus gewinnen
lässt, „die einmal unerschütterlich bestand und bestehen wird“, wie
ein Kranker sagte. „Ich lebe in der Einbildung, dass das keine
Einbildung ist; ich drücke mich eben sein vorsichtig aus.“ Der
Kranke fühlt daher auch bisweilen, dass ein Uneingeweihter seinen
Gedankengängen nicht überall folgen kann, und fürchtet dann, dass
seine Verfolger sich diese Sachlage zu Nutze machen möchten,
um ihn für einen mit Verfolgungswahn Behafteten zu erklären.
Von einer Krankheitseinsicht ist niemals die Rede; dagegen be-
stehen nicht selten allerlei hypochondrische Klagen, über Nervosität,
Kopfdruck, Verdauungsschwäche, für die gern die ärztliche Behand-
lung verantwortlich gemacht wird; die Kranken nehmen daher wol
zu allerlei absonderlichen, zum Theil selbst erfundenen Curen ihre
Zuflucht.
Die Stimmung des Kranken steht mit seinen Wahnvorstellungen
in innigstem Zusammenhänge. Er empfindet die vermeintlichen
Verfolgungen als eine Art „geistiger Folter“, fühlt sich dauernd be-
unruhigt und gequält, wird argwöhnisch, menschenscheu, gereizt.
Andererseits sind die Kranken selbstzufrieden, anmassend, hoch-
fahrend und rechthaberisch. Oft wechselt die Stimmung aus wahn-
haften Anlässen. Einen sonst sehr selbstbewussten Kranken fand
ich eines Tages ängstlich und am ganzen Leibe zitternd, da er aus
einem zufällig gehörten Schimpfworte den Schluss gezogen hatte,
dass man ihn eines vor Jahren vorgekommenen Mordes beschuldige.
Bisweilen tauchen auch plötzlich Selbstmordgedanken auf.
Das Handeln und Benehmen des Kranken kann verhältniss-
mässig lange ohne deutlichere Störung bleiben. Allerdings erscheint
seine gesammte Lebensführung oft sonderbar und unverständlich.
Ein Kaufmann, der sich in Amerika ein kleines Vermögen erworben
hatte und krank von dort zurückgekehrt war, verzehrte dasselbe all-
mählich, bis er der Armenpflege anheimfiel, zu stolz, um eine seiner
hohen Selbstschätzung nicht angemessene Arbeit zu übernehmen.
Nun erst stellte sich heraus, dass er seit fast 20 Jahren an aus-
geprägten Verfolgungs- und Grössenideen litt. Trotz guter Anlagen
bringt der Kranke doch nichts Rechtes fertig, sondern hat überall
440
X. Die Verrücktheit.
Misserfolge, macht Ausgaben, die weit über seine Verhältnisse hinaus
gehen, beschäftigt sich mit absonderlichen Fragen, baut an einem
Perpetuum mobile, an einem lenkbaren Luftschiffe mit nie entmuthigter
Zuversicht herum. Da er überall Geheimbündelei vermuthet, hält
er nirgends lange aus, zieht sich zurück, schreibt an fremde Per-
sonen beleidigende Briefe, führt gelegentlich Auftritte mit seinen
Freunden und Verwandten herbei, die diesen gänzlich unverständ-
lich bleiben. Viele dieser Kranken sind jedoch im Stande, ihre
Kämpfe und Wünsche dauernd derart in sich zu verschliessen, dass
nur der Eingeweihte über den Krankheitszustand ins Klare kommt
and im täglichen Lebensgange keine krankhaften Handlungen ohne
weiteres erkennbar sind. Dennoch fällt wol hier und da einmal
eine räthselhafte Aeusserung, eine imbegreifliche Handlung des
Kranken auf, absonderliche Lebensgewohnheiten, ungewöhnliche
Kleidung, schwärmerische Vorliebe für gewisse einseitige religiöse,
künstlerische, populär- wissenschaftliche Bestrebungen, allein man
pflegt alle diese Dinge berechtigten Eigentümlichkeiten einer
stark entwickelten Persönlichkeit oder einfachen Charakterfehlern
zuzuschreiben, ohne die tiefere Bedeutung derselben zu durch-
schauen.
Um sich den Verfolgungen und fortgesetzten Anzapfungen zu
entziehen, wechselt der Kranke plötzlich unter nichtigem Vorwände
seine Stellung, oder er begiebt sich auf Beisen. Dieses Mittel hilft
nicht selten für einige Zeit. Allein sehr bald bemerkt er, dass man
ihm wie einer bereits angemeldeten Persönlichkeit begegnet, über
ihn und sein gesammtes Vorleben vollständig untem chtet ist. In
allerlei Andeutungen spinnen sich geheime Fäden aus seiner früheren
in die jetzige Umgebung hinein. Man spionirt ihm überall nach;
einzelne Personen, die er trotz vermeintlicher Verkleidung, falscher
Bärte, gefärbter Haare überall wiedererkennt, folgen ihm auf Schritt
und Tritt, überwachen ihn beständig, so dass seine Lage oft „schlimmer
ist, als die eines steckbrieflich Verfolgten'1. Seine Vorstellungen
von der Ausdehnung und den Machtmitteln der ihn verfolgenden
Bande erweitern sich dabei allmählich immer mehr. Zugleich wird
seine Lebensführung wie sein äusseres Benehmen eigenthümlich
unstet und zerfahren. Die Fähigkeit zu andauernder sachlicher
Beschäftigung, zur regelmässigen Erfüllung bestimmter Berufspflichten
wird durch die fortwährende gemüthliche Beunruhigung empfindlich
Krank hei tsbild.
441
beeinträchtigt, auch wenn seine Verstandesleistungen an sich keine
gröberen Störungen erkennen lassen.
In dem Gefühle wachsender Unsicherheit sucht er nun in Form
I
von Zeitungsanzeigen oder Flugblättern das schändliche Spiel seiner
Gegner öffentlich zu brandmarken und sich gegen die versteckten
Anschuldigungen zu vertheidigen. Er reicht auch wol eine Ver-
leumdungsklage ein, ruft die Hülfe der Behörden, des Staatsober-
hauptes an. Oder er greift zur Selbsthülfe, ohrfeigt einen vermeint-
lichen Spion im Wirthshause, sucht einen Yerleumder niederzu-
schiessen, die öffentliche Aufmerksamkeit durch eine auffallende
Handlung auf seine Person und seine gefährdete Lage zu lenken.
Auch Selbstmordversuche kommen vor. Ein Student, der sich für
einen Napoleoniden hielt, brachte seiner Mutter, seinen beiden
Schwestern und sich selbst schwere Verletzungen bei, weil der
sonderbare Geschmack der Suppe ihm einen Yergiftungsversuch
anzeigte. Die Grössenideen können den Kranken veranlassen, sich
seinen vermeintlichen hohen Eltern, seiner erlauchten Braut zu
nähern, anfangs vielleicht auf allerlei Umwegen, indem er an ihrem
Hause vorübergeht, Fremden gegenüber geheimnissvolle Andeutungen
fallen lässt, von denen er überzeugt ist, dass sie richtig verstanden
und an die bestimmte Adresse befördert werden. Er schreibt einen
Brief und, da derselbe erfolglos bleibt, einen zweiten und dritten,
macht schliesslich den Versuch, persönlich zu den in sein Wahn-
system verflochtenen Personen und Behörden vorzudringen. Bei
mehr religiöser Färbung des Grössemvahns tritt der Kranke öffent-
lich als Apostel hervor, sucht sich eine Gemeinde zu gründen, einen
neuen Gottesdienst in eigenartigen Formen einzuführen, predigt in
Wort und Schrift, unterbricht den Geistlichen in der Kirche.
Vielfach führen absonderliche oder gefährliche Handlungen ver-
schiedenster Art zur Verbringung des Kranken in die Irrenanstalt.
Dieses Ereigniss ist für ihn ein neuer hinterlistiger Schachzug seiner
Gegner, die ihm schon längst angedeutet haben, dass er mit Wahn-
sinn endigen müsse. Zunächst fügt er sich, da er sicher ist, dass
man seine geistige Gesundheit bald erkennen werde. In allen seinen
Aeusserungen hält er sich sehr zurück, weicht eindringlicheren Fragen
aus und verbirgt oft lange Zeit das Netz seiner Wahnideen hinter
einem äusserlich tadellosen Benehmen, bis ihm ein besonderer Anlass,
eine gemüthliche Erregung dieselben herauslockt. Allmählich wird
442
X. Die Verrücktheit.
ihm jedoch klar, dass sich das versteckte Verfolgungssystem auch in
der Anstalt fortsetzt. Die Aerzte sind gedungen, ihn unschädlich und
womöglich wirklich geisteskrank zu machen, da man ihm auf andere
Weise nicht beizukommen vermochte. Kleine Reibereien und Un-
annehmlichkeiten, Aenderungen im Befinden, gelegentliche Be-
merkungen zeigen ihm, dass die Anfechtungen und Einschüchte-
rungen auch von der neuen Umgebung ins Werk gesetzt werden.
Seine Mitpatienten sind gar nicht krank, sondern bestochene Simu-
lanten oder Polizeispione, welche ihn durch ihr Verhalten, ihre un-
sinnigen Streiche „prüfen“ sollen. Er dringt daher sehr nachdrück-
lich auf seine Entlassung, schreibt Briefe über Briefe, um dieselbe
zu erwirken, verfasst Beschwerden wegen widerrechtlicher Freiheits-
beraubung, macht Fluchtversuche und führt nicht selten den er-
bitterten Kampf um seine Menschenrechte mit grossem Geschicke
und äusserster Hartnäckigkeit.
Oder aber der Kranke erkennt, dass der Aufenthalt in der An-
stalt nur ein nothwendiges Glied in der Kette der Prüfungen dar-
stellt, die er bestehen muss, um am Ende zu seinem hohen Ziele
zu gelangen. Ja, bei genauerem Nachdenken ergiebt sich ihm
klar, dass schon in seiner Vergangenheit vielfache Hinweise auf
dieses Fegefeuer der Irrenanstalt enthalten waren. Weit entfernt
daher von der Muthlosigkeit und Verzweiflung, schöpft er aus dem
pünktlichen Eintreffen alles dessen, was das Schicksal vorher mit
ihm bestimmt hatte, neue Hoffnung auf die Erreichung auch seiner
letzten und höchsten Ziele. Eine besondere Bestätigung findet
diese seine Auffassung nicht selten in der alsbald von ihm ge-
machten Wahrnehmung, dass auch in der Anstalt die geheimniss-
vollen Andeutungen über seine glänzende Zukunft nicht ausbleiben.
Er wird mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt; man giesst
ihm Rosenöl in sein Badewasser, sagt ihm verblümte Schmeicheleien,
spielt ihm Zeitungen und Bücher in die Hand, deren Inhalt sich
auf ihn bezieht. Es kann ihm daher nicht entgehen, dass die
Aerzte ihn nur „auf höheren Befehl“ zurückhalten und gar nicht
daran denken, ihn wirklich für krank anzusehen. Unter seinen
Mitkranken entdeckt er sehr hochgestellte Persönlichkeiten, die man
unter falschem Namen zu seiner Gesellschaft mit in die Anstalt
versetzt hat.
Der weitere Verlauf der Krankheit ist regelmässig ein sehr
Verlauf; Ursachen.
443
langsamer, meist viele Jahre hindurch fast stillstehender. Die Kranken
bleiben ruhig, besonnen, bewahren andauernd eine äusserlich ge-
ordnete Haltung und vermögen sich vielfach sogar recht gut geistig
zu beschäftigen. Ein einfacher Bauernsohn, der sich für den Kaiser
und Papst in einer Person, späterhin sogar für unsterblich hielt,
lernte im Laufe einiger Jahre unter meinen Augen mit äusserst un-
zulänglichen Hülfsmitteln nicht weniger als acht verschiedene alte
und neuere Sprachen leidlich lesen, um sich die für seinen hohen
Beruf nöthige Bildung zu verschaffen. Andere sind künstlerisch
oder schriftstellerisch thätig, sogar mit Erfolg, oder sie vermögen
doch wenigstens ihren Lebensunterhalt zu verdienen, werden nur
für eigenthümliche Käuze gehalten, da sie ihre Wahnvorstellungen
sorgfältig in sich verschliessen. Vielfach führen sie freilich ein
unstetes, abenteuerliches Leben voller Unbegreiflichkeiten und Ab-
sonderlichkeiten. Erst im Laufe von Jahrzehnten pflegt sich eine
langsam zunehmende psychische Schwäche geltend zu machen, Nach-
lassen der geistigen Regsamkeit unter ganz allmählicher Weiter-
bildung des Wahnsystems. Irgend welche körperliche Störungen,
insbesondere Schwankungen des Gewichtes, pflegen die Krankheit
nicht zu begleiten; sie können nur einmal durch zufällige Neben-
umstände herbeigeführt werden.
Die Häufigkeit der hier beschriebenen Form des Irreseins ist
keine grosse ; sie erreicht nach meinen Erfahrungen noch nicht 1 °/0
der Aufnahmen. Männer scheinen in höherem Maasse betheiligt zu
sein, als Frauen. Erbliche Veranlagung zu Geistesstörungen dürfte
eine erhebliche Rolle spielen. Im übrigen werden widrige Lebens-
schicksale, Enttäuschungen, Einsamkeit, der Kampf mit Noth und
Entbehrung als Ursachen aufgeführt; oft sind sie aber wol mehr
als Folge des schon lange Zeit absonderlichen Verhaltens der Kranken
anzusehen. Meist tritt die Krankheit zwischen dem 25. und 40. Lebens-
jahre auf. Allerdings hat Sander unter dem Namen der originären
Paranoia eine Form beschrieben, bei der nach seiner Anschauung
die Krankheit bis in die Jugendzeit zurückreichen sollte. In der
That hört man nicht selten von solchen wie von anderen wahn-
bildenden Kranken, dass schon ihre früheste Jugend von Ahnungen
und Wahrnehmungen erfüllt gewesen sei, die auf ihre hohe Geburt
und auf die mächtigen Feinde hingewiesen hätten. Ich habe mich
indessen allmählich davon überzeugen können, dass sich in diesen
444
X. Die Verrücktheit.
Fällen der Beginn der Krankheit mit einiger Sicherheit meist nur
bis in die erste Hälfte des 3. Lebensjahrzehntes verfolgen lässt. Alle
weiter in die Vergangenheit hineinreichenden Erzählungen der Kranken
sind höchst wahrscheinlich immer nachträgliche Erfindungen. Neisser
hat geradezu als kennzeichnendes Merkmal der von Sander ge-
schilderten Gruppe das dort in der That besonders häufige Krankheits-
zeichen der Erinnerungsfälschungen bezeichnet und die Unterscheidung
einer „confabulirenden Paranoia“ vorgeschlagen. Es erscheint mir
indessen nicht möglich, unter dem einen oder dem anderen Gesichts-
punkte eine einheitliche Gruppe von Krankheitsfällen gegenüber
anderen Formen abzugrenzen.
Die Erkennung der Krankheit hat bei aufmerksamer Be-
achtung der langsamen Entwicklung, der eigenthümlichen, zusammen-
hängenden Wahnbildung, der ausgezeichneten Erhaltung des Ver-
standes sowie der Ordnung in Gedankengang, Benehmen und
Handeln kaum irgend welche Schwierigkeiten. Freilich können
manche Fälle von Dementia praecox, von Paralyse, Altersblödsinn
und selbst von manisch-depressivem Irresein für die oberflächliche
Betrachtung vorübergehend ein ganz ähnliches Bild darbieten. Wir
sind bei den genannten Krankheiten überall schon auf die unter-
scheidenden Merkmale eingegangen und wollen hier daher nur noch-
mals betonen, dass die Paranoia immer schon Jahre lang besteht,
bevor sie überhaupt erkannt wird, dass die Wahnvorstellungen
folgerichtig verarbeitet, Einwände scharfsinnig, wenn auch vielleicht
durch Trugschlüsse, widerlegt werden. Ferner steht das ganze
Denken und Handeln des Kranken hier vollkommen unter dem
Einflüsse des Wahnes; er ist durchaus unbelehrbar, leidenschaftlich,
hartnäckig in der Verteidigung und in der Verfolgung seiner
Ideen. Die Freiheitsberaubung empfindet er als eine schwere Un-
bill und wird nicht müde, mit allen Mitteln gegen dieselbe anzu-
kämpfen, alles im Gegensätze zu der Weichheit und Bestimmbarkeit
der Paralytiker, zu der Zerfahrenheit und gemüthlichen Stumpfheit
in der Dementia praecox. Der senile und praesenile Beeinträchtigungs-
wahn sind durch die rasche Entstehung, den Wechsel, die Zu-
sammenhangslosigkeit und Abenteuerlichkeit der Wahnbildung aus-
gezeichnet, während das manisch-depressive Irresein überall neben
dem Wahne die Zeichen der psychomotorischen Hemmung oder
Erregung erkennen lässt.
QueTulantenwahn .
445
Die Behandlung unserer Kranken hat nur die Aufgabe, sie
durch Ablenkung und Beschäftigung möglichst von der Versenkung
in ihre Wahnvorstellungen abzuhalten. Vielfach gelingt das unter
günstigen Verhältnissen Jahrzehnte lang so gut, dass die Kranken
trotz der ausgeprägtesten Wahnbildungen doch im Stande sind,
ohne allzu grosse Schwierigkeit in der Freiheit zu leben. Die
Zurückhaltung in der Anstalt vertragen sie regelmässig sehr schlecht;
man wird daher bestrebt sein, ihnen, so weit es irgend angeht, diese
Beschränkung zu ersparen. —
Eine ganz eigenartige Entwicklungsform der Verrücktheit bildet
der Querulantenwahn*). Den Grundzug im Krankheitsbilde
liefert hier die Vorstellung der rechtlichen Benachtheiligung
und der leidenschaftliche Drang, gegen das vermeintlich erlittene Un-
recht bis auf das äusserste anzukämpfen. In der Regel knüpft sich
jene Vorstellung an irgend einen wirklichen Nachtheil an,
den der Kranke, meistens in einem Rechtsstreite und mit vollem
Rechte, erlitten hat. Bei dieser Gelegenheit stellt sich heraus, dass
ihm die Fähigkeit fehlt, sein Unrecht einzusehen. Er ist ausser Stande,
die Sachlage unparteiisch zu betrachten, auch den gegnerischen Stand-
punkt zu würdigen, und verlangt ohne weiteres die allgemeine An-
erkennung seiner persönlichen Auffassungen und Wünsche. Der
Widerstand, auf den er dabei stösst, meist auch greifbare Nachtheile,
die ihm erwachsen, befestigen in ihm die Ansicht, dass ihm bitteres
Unrecht geschehen sei, gegen das er sich mit allen Mitteln auflehnen
müsse. Es liegt auf der Hand, dass der Gedanke, auf jeden Fall
die Anerkennung der eigenen Rechtsansprüche zu erzwingen, an
sich ein vollkommen gesunder genannt werden muss. Was den
Querulanten kennzeichnet, ist der Mangel an Verständniss für das
wirkliche Recht, die einseitige Betonung der persönlichen Interessen
gegenüber dem höheren Gesichtspunkte des allgemeinen Rechts-
schutzes. „Er sucht das Recht, kann es aber nicht finden,“ sagte
ein Zeuge im Entmündigungsverfahren sehr bezeichnend von einem
Querulanten.
Ihre tiefere Grundlage hat die Entwicklung einer derartig
schiefen Auffassung immer in einer Unzulänglichkeit des Urtheils.
*) Hitzig, Ueber den Querulantenwahnsinn, 1895; Koppen, Archiv f. Psy-
chiatrie, xxvm, 221.
446
X. Die Verrücktheit.
Thatsächlich lässt sich diese Störung regelmässig bei Querulanten
nachweisen. Sie zeigt sich namentlich in der vollkommenen Un-
belehrbar keit dieser Kranken. Selbst die handgreiflichsten Beweis-
stücke machen nicht den geringsten Eindruck auf sie, ja sie werden
gar keiner eigentlichen Prüfung gewürdigt. Die Kranken hören die
an sie gerichteten Auseinandersetzungen wol ruhig mit an, geben
zu, was nach ihrer Ansicht unverfänglich ist, entziehen sich jedoch
jedem logischen Zwange dadurch, dass sie als Antwort einfach ihre
früheren Ansichten wiederholen oder alle Einwendungen durch
einen gänzlich untriftigen Gegenbeweis abschneiden. „Ich bleibe bei
meiner Sache stehen; was geschrieben ist, ist geschrieben.“ Selbst
die Gewährung der vom Kranken geforderten Genugtuung ver-
mag ihn nicht zu befriedigen. Einer meiner Kranken, der sich auf
Grund einer Aeusserung des Richters „amtlich für närrisch er-
klärt“ glaubte, machte diese Behauptung zum Ausgangspunkte eines
erbitterten Kampfes gegen die Behörden, obgleich ihm wiederholt
sogar vom Ministerium, dargelegt wurde, dass gar nichts gegen ihn
geschehen sei, und obwol man sich von allen Seiten bemühte,
ihn durch freundliches, schonendes Entgegenkommen zu beruhigen;
er wies kurzer Hand jeden Versuch, ihm zu helfen, zurück, „so
lange die amtliche Närrischerklärung nicht aufgehoben sei“. Durch
diese Unerschtitterlichkeit kennzeichnet sich die Vorstellung recht-
licher Benachteiligung schon von vorn herein als Wa h n. Alle
der eigenen Ansicht entgegenstehenden Aussagen werden ohne
weiteres für unglaubwürdig und erlogen erklärt; die fremden
Zeugen sind meineidig, bestochen. Dem gegenüber beruft sich der
Kranke bei jeder seiner Behauptungen auf eine Menge namhaft ge-
machter Zeugen, die indessen gar keine oder ganz belanglose An-
gaben zu machen wissen und dann verleugnet werden, weil sie
nicht recht ausgesagt haben. An ihre Stelle treten gewöhnlich
andere und wieder andere, von denen der Kranke besonders wichtige
Aufschlüsse in Aussicht stellt, um stets von neuem in seiner Er-
wartung betrogen zu werden.
Aus der Quelle des Wahnes entspringt auch die eigenthümliche
Leichtgläubigkeit der Querulanten, die inbemerkenswerthem Gegen-
sätze zu ihrer Unbelehrbarkeit steht. Jede Klatschgeschichte, jedes
Gerücht, jede beliebige Rederei gilt ihnen sofort als unumstössliche
Gewissheit, sobald sich ihr Inhalt in den eigenen. Vorstellungskreis
Querulanten wahn .
447
einfügt. So unzugänglich sie gegenüber den schlagendsten Ein-
wänden sind, so empfänglich erweisen sie sich für jede üble Nach-
rede über ihre Gegner. Sie halten sich nicht nur für berechtigt,
ohne die geringste Prüfung daran zu glauben, sondern sie auch in
der schärfsten und übertriebensten Form weiter zu verbreiten. Die
eingehendsten und wohlwollendsten Belehrungen über die Rechts-
lage von wirklich Sachverständigen fruchten bei ihnen nichts, sobald
sie ihrer Auffassung zuwiderlaufen; dagegen bauen sie felsenfest
auf die Bestätigung dieser letzteren, welche ihnen „rechtskundige
Männer“ im Dorfe gegeben haben.
Die Auffassung und das Gedächtniss des Querulanten erscheint zu-
nächst ungestört, ja man ist oft sogar über die Genauigkeit erstaunt, mit
welcher der Kranke umfangreiche Actenstücke, Verhöre, Gesetzesstellen,
anscheinend wörtlich, auswendig herzusagen weiss. Bei eingehenderer
Prüfung findet man jedoch sehr häufig, dass der Kranke den Sinn
seiner Ausführungen durchaus nicht verstanden hat und die klarsten
Sätze in ganz verschrobener Weise ausdeutet, sogar in ihr Gegentheil
verkehrt. Ausserdem laufen, namentlich bei der Wiedergabe von
Unterredungen, die gröbsten Unrichtigkeiten mit unter, von denen sich
schwer sagen lässt, ob sie durch ursprüngliche Missverständnisse
oder durch nachträgliche Fälschungen der Erinnerung entstanden
sind. Zweifellos kommt auch das letztere vor; man hat bisweilen
Gelegenheit, unmittelbar zu beobachten, wie sich eine Erzählung bei
häufiger Wiedergabe immer mehr im Sinne des Wahnes verändert.
Ein Kranker behauptete hartnäckig, ich habe ihn vor Gericht für
gesund erklärt und gesagt, die Geisteskrankheit werde erst in 3 bis
4 Jahren ausbrechen. Er hielt an dieser Behauptung trotz meiner
Ableugnung dauernd fest. Bei einem anderen Kranken wuchs die
Summe, um die er geschädigt sein wollte, sehr rasch von 1200 auf
10000 Gulden an; eine Geldschuld, die er anfangs zugab, behauptete
er späterhin bereits vor Jahren abgetragen zu haben.
Wenn die ersten Anfänge des Querulan tenwahnes wegen ihrer
Anknüpfung an thatsächliche Vorkommnisse für die oberflächliche
Betrachtung als Ausfluss eines besonders empfindlichen Rechtsgefühls
erscheinen können, so tritt nach und nach die krankhafte Natur
jener Gedankengänge immer deutlicher hervor. Die Unmöglichkeit,
sein vermeintliches Recht zu erlangen, beweist dem Kranken, dass
die Zeugen meineidige Schurken, die Richter und Behörden eine
448
X. Die Verrücktheit.
Bande von Räubern und Spitzbuben sind, die alle Zusammenhalten,
um ihn zu unterdrücken und ihre eigenen Schlechtigkeiten nicht an
den Tag kommen zu lassen. „Dem hilft alles,“ sagt er von seinem
Gegner. Man ladet seine Zeugen nicht, die nunmehr ganz gewiss
glänzend zu seinen Gunsten ausgesagt haben würden; man verdreht
seine Aussagen, fälscht die Acten und Protocolle, seine Unterschrift,
schickt ihm die Vorladungen durch falsche Postboten, macht unter
die Bescheide „Stempel, wie wenn es von der KgL Hoheit her-
kommen würde“. Bisweilen gesellen sich noch auffallendere Wahn-
bildungen hinzu. Der Kranke spürt, dass man ihn im Gefängnisse
durch stark gewürzte und gepfefferte Speisen hat närrisch machen
wollen, glaubt, dass man ihm nach dem Leben trachte. Mehrfach
sah ich gleichzeitig ausgeprägten Eifersuchtswahn. Hie und da
kommen einzelne Sinnestäuschungen vor; in einem Falle ent-
wickelte sich im Gefängniss vorübergehend ein ängstlicher Er-
regungszustand mit zahlreichen Gehörstäuschungen. Der Kranke
hörte Vorwürfe und Drohungen, glaubte, dass seine Hinrichtung
bevorstehe.
Die Besonnenheit des Kranken ist dauernd ungetrübt, die Ord-
nung seiner Gedanken erhalten. Niemals aber wird man eine sehr
grosse Eintönigkeit seines Vorstellungsinhaltes vermissen. Jede
Unterredung mit einem Querulanten pflegt sehr bald auf seine Beein-
trächtigungsideen zu führen, welche, je länger, desto mehr, sein ganzes
wirkliches Interesse in Anspruch nehmen. Von jedem, noch so ent-
legenen Punkte aus führt sein Gedankengang immer wieder auf
diesen Mittelpunkt zurück. In endlosen, vielfach wörtlichen Wieder-
holungen kehren bei seinen Ausführungen dieselben Gedankengänge
wieder, offenbar, ohne dass der Kranke im Stande wäre, sie zu unter-
drücken oder auch nur abzukürzen. Bei längerem Bestände der
Krankheit pflegt übrigens auch der Zusammenhang der langathmigen
Auseinandersetzungen zu leiden. Von einer Einsicht in die Krank-
heit ist hier natürlich niemals die Rede; vielmehr betrachtet der
Kranke den Einwand der geistigen Störung als einen „treulosen
Schwindel“. Fast immer findet er aber auch Laien und selbst
Aerzte genug, die ihm auf Wunsch seine geistige Gesundheit be-
scheinigen. Einer meiner Kranken brachte mit Genugtuung die
Gesundheitszeugnisse vor, die ihm sechs Bürgermeister ausgestellt
hatten.
Querulanten wahn.
449
Eine regelmässige Begleiterscheinung des Querulantenwahnes
ist das stark gehobene Selbstgefühl. Die Kranken halten sich für
hervorragend tüchtig und rechtlich, blicken daher unter allen Um-
ständen auf ihre Gegner herab. Sie halten etwas auf sich, finden
es besonders erschwerend, dass man gerade ihnen, als „verheiratheten
Männern“ das Recht vorenthält. Ein Kranker Unterzeichnete sich :
„Bürger, Landwirth und Wittwer“; ein anderer, der ein recht ge-
schickter Uhrmacher war, sprach von dem Undanke, mit dem das
Vaterland seinen grossen Söhnen lohne. Mit dieser Selbstüber-
schätzung hängt es auch zusammen, dass der Kranke die unsitt-
lichsten Mittel für erlaubt hält, sobald sie ihm zur Schädigung seines
Feindes dienen, während selbst die mildesten Formen des rechtlichen
Zwanges in ihrer Anwendung auf ihn selbst als unerhörte Angriffe
und Vergewaltigungen, als „gefühllose Misshandlungen“ aufgefasst
werden. Ein Kranker empfand die verzögerte Ablieferung einer
Postkarte seitens des Postbeamten an ihn als eine schwere Schädigung,
während ihm die Blutschande mit seiner Stieftochter und die Unter-
schlagung einer Geldsumme als geringfügige Uebertretungen er-
schienen; er schrieb seiner Frau Briefe mit hochtrabenden Er-
mahnungen zur Sittlichkeit und rühmte sein gutes Gewissen. „So
gefühlvoll?“ schrieb ein anderer erstaunt, als wegen eines von gröbsten
Beleidigungen strotzenden Briefes Anklage gegen ihn erhoben wurde.
In seinem gehobenen Selbstgefühle pflegt der Kranke ungeheure
Summen als Entschädigung für das ihm angethane Unrecht zu ver-
langen.
Ausnahmslos finden wir ferner bei den Querulanten eine be-
deutende Steigerung der gemüthlichen Erregbarkeit; viel-
leicht ist in ihr der nächste Grund für den Mangel an ruhiger
sachlicher Ueberlegung bei diesen Kranken zu suchen. Während
sie für gewöhnlich keine auffallenderen Störungen der Stimmung
darbieten, gerathen sie bei der Besprechung ihrer Rechtsstreitig-
keiten sofort in die leidenschaftlichste Aufregung, überschütten den
Hörer mit einer wahren Fluth von Schmähungen über ihre Gegner
und wenden sich gegen jeden Widerspruch oder Einwand mit
der gleichen zornigen Gereiztheit. Einer meiner Kranken bat den
Grossherzog schriftlich um die Erlaubniss, seine Gegner selbst abtbun
zu dürfen.
Diese Leidenschaftlichkeit in Verbindung mit der Unbelehrbar-
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aull. II. Band. 29
450
X. Die Verrücktheit.
keit ist es auch, welche dem Handeln des Kranken den eigenartigen
Stempel aufdrückt. Er ist nicht im Stande, sich nach Erschöpfung
der gewöhnlichen Rechtsmittel bei der endgültigen, unabänderlichen
Entscheidung zu beruhigen. Ohne jedes Verständniss für die völlige
Nutzlosigkeit, ja die sicheren schweren Folgen weiterer Schritte sucht
er um jeden Preis und mit allen Mitteln den Sieg im Kampfe um
sein vermeintliches Recht zu erzwingen. Blind gegen jeden besseren
Rath, setzt er alle nur irgend möglichen Rechtsmittel in Bewegung,
verlangt „eine richtige Untersuchung“ über Dinge, die längst ab-
gethan sind, appellirt von einer Instanz an die andere, durch keinen
Misserfolg belehrt oder wenigstens eingeschüchtert. Vielmehr nimmt
die Hartnäckigkeit und Leidenschaftlichkeit immer zu. Er schreibt
unzählige Briefe und Eingaben an die Gerichte, an Privatpersonen.
Beamte, an den Reichstag, den Landesfürsten und den Kaiser, in
denen er in den schärfsten, beleidigendsten Ausdrücken, ja in un-
fläthigen Schimpfereien über seine Gegner, über die Behörden, die
Richter seinem Herzen Luft macht. Schon in der äusseren Form,
in den Unterstreichungen, Ausruf ungs-, Frage- und Anführungs-
zeichen, in der Hervorhebung der Kraftstellen durch besondere Schrift
oder farbige Tinte, ferner in der Langathmigkeit, Umständlichkeit
und Eintönigkeit des Inhaltes pflegen diese Schriftstücke ihre krank-
hafte Entstehungsweise zu verrathen. Auch der Stil zeigt vielfach
eine eigenthiimlich verzwickte, verschrobene Ausdrucksweise, die
Wiederkehr einzelner absonderlicher, halbverstandener, aber tönen-
der Redewendungen, die sich an die Rechtssprache anlehnen. Ein
Kranker schrieb viel vom „falschen Meineid“; ein anderer ge-
brauchte mit Vorliebe den angeblich von mir geäusserten Satz:
„Juristenrecht geht über Reichsrecht“. Die Paragraphen der Gesetz-
bücher, die Berufung auf die „Acten“ spielen eine grosse Rolle.
Abschriften seiner Eingaben, Vorladungen, Bescheide pflegt der
Kranke wohlverpackt mit sich herumzutragen und bei passeuder Ge-
legenheit auszukramen.
Die zunächst folgenden Anklagen und Strafen wegen Beleidigung
oder Verleumdung steigern nur die Erbitterung des Kranken; er
antwortet mit neuen, immer weiter gehenden und ungeheuerlicheren
Schmähungen. Seine ganze Thätigkeit, seine Lebensinteressen gehen
immer mehr in der Sucht auf, Recht zu behalten, mag auch alles
Andere darüber zu Grunde gehen; seine Häuslichkeit, sein Geschäft,
Querulanten wahn.
451
sein Vermögen, alles wird diesem krankhaften Drange geopfert. Auf
diese Weise kommt er in seinen Verhältnissen herunter, wird durch
die endlosen Processe und Anklagen in dauernder Aufregung er-
halten, die ihn zu immer schrofferer Stellungnahme gegenüber seinen
Feinden veranlasst. Schliesslich weist er jede Gemeinschaft mit der
bestehenden Rechtsordnung, ja auch mit den staatlichen Einrichtungen
überhaupt zurück. Er unterschreibt kein Protokoll mehr, verweigert
die Annahme von Vorladungen, lässt sich zur Verhandlung mit Ge-
walt vorführen. Er greift zur Selbsthülfe, nimmt einfach fort, was
er als sein Eigenthum betrachtet, wendet sich an die Presse, be-
droht seine Gegner persönlich, schiesst auf den pfändenden Gerichts-
vollzieher.
Sehr häufig gelingt es dem Kranken mit seiner leidenschaftlichen
Thatkraft, diese oder jene Person seiner Umgebung von der Recht-
mässigkeit seiner Ansprüche zu überzeugen. Ich kannte einen
58jährigen Querulanten, der in einem fernen Dorfe mehrere Bauern
veranlasst hatte, grosse Geldopfer zu bringen, um eine vermeintliche
Entschädigungssumme von 50,000 Mark von einem Bürgermeister
herauszupressen. Die von ihnen verfassten Eingaben ähnelten denen
des Kranken ganz überraschend; einer der Bauern hatte den letzteren
bereits als willkommenen Schwiegersohn in Aussicht genommen.
Andererseits ergreifen Querulanten vielfach mit Freuden die Ge-
legenheit, auch für Andere Briefe, Eingaben, Proteste, Streitschriften
zu schreiben, und gerathen auf diese Weise bisweilen geradezu in
die Laufbahn von Winkeladvocaten hinein. Dabei kommt ihnen be-
sonders eine gewisse Spitzfindigkeit und ihre äusserliche Kenntniss
der Rechtssätze zu Gute, die sie überall hervorkehren.
Im weiteren Verlaufe der Krankheit stellt sich regelmässig eine
deutliche Zunahme der geistigen Schwäche ein. Die Eingaben und
Reden des Kranken werden immer einförmiger und zusammenhangs-
loser. Der Kranke wartet auch meist gar nicht mehr auf eine
Antwort, sondern schreibt nur noch gewohnheitsmässig von Zeit zu
Zeit eines seiner eigenartigen Schriftstücke. Die Erregbarkeit nimmt
ab; der Kranke wird stumpf, harmlos und gleichmüthig, öfters sogar
weinerlich und rührselig, wenn man ihn nicht durch Berührung des
wunden Punktes geflissentlich reizt. Er verkehrt freundlich mit
dem Arzte, den er vielleicht eben noch in einer Eingabe als infamen
Lügner und Schwindler bezeichnet hat. Bisweilen verleugnet er
29*
452
X. Die Verrücktheit.
geradezu seine früheren Handlungen, um unangenehmen Auseinander-
setzungen auszuweichen; er will nichts mehr davon wissen; das ist
vorbei. Von einer wirklichen Berichtigung der krankhaften Vor-
stellungen ist dabei jedoch keine Rede; vielmehr lässt sich bei An-
regung der alten Erinnerungen in den Augenblicken, wo die Selbst-
beherrschung versagt, stets erkennen, dass der Kranke unverändert
auf seinem früheren Standpunkte stehen geblieben ist und nur die
Spannkraft zu äusserem Widerstande verloren hat.
Die Erkennung des Querulantenwahnes bietet namentlich im
Beginne gewisse Schwierigkeiten. Einerseits kann das Queruliren
als Krankheitszeichen bei verschiedenen Formen des Irreseins auf-
treten, so bei der Paralyse und namentlich im circulären Irresein.
Die Beachtung der für jene Erkrankungen kennzeichnenden Er-
scheinungen, der körperlichen und Gedächtnisstörungen dort, der
Ideenflucht, der Ablenkbarkeit, des Betätigungsdranges, der
Stimmungsschwankungen und des anfallsweisen Auftretens hier, wird
die Sachlage in der Regel bald aufklären. Andererseits kann unter
Umständen auch ein Gesunder queruliren, sogar mit Hartnäckigkeit
und Leidenschaftlichkeit. Gerade nach dieser Richtung hin sind in
neuerer Zeit vielfache Fehldiagnosen von solchen Gutachtern zu
verzeichnen, denen die Thatsache des Querulirens an sich und der
Umfang der aufgelaufenen Acten als die wesentlichen Kennzeichen
des Querulantenwahnes galten. Dem gegenüber ist als massgebend
für die Diagnose vor allem die wahnhafte Gestaltung der Vor-
stellungskreise zu bezeichnen, die völlige Unbelehrbarkeit, die all-
mähliche Ausbreitung der Verfolgungsideen auf immer weitere
Personen, der Ausgang der ganzen Entwicklung von einem einzigen
Punkte, welcher dauernd im Vordergründe steht imd allen späteren
Gedanken und Handlungen des Kranken immer wieder zur An-
knüpfung dient. Gerade deswegen sind die Querulanten nicht zu
verwechseln mit jenen gesunden streitsüchtigen und rechthaberischen
Menschen, die mit ihrer ganzen Umgebung in Unfrieden leben.
Im Gegentheil scheint es mir, als ob Querulanten wie andere Ver-
rückte vielfach im täglichen Verkehr ganz verträgliche, wenn auch
oft eigentümliche Menschen sind. Während jene gesunden Kampf-
hähne bei den verschiedensten Gelegenheiten Zank und Streit
vom Zaune brechen, Processe aufangen, Beleidigungen begehen,
besteht hier ein innerer Zusammenhang zwischen allen einzelnen
Querulanten wahn.
453
Abschnitten des Kampfes; der ganze Rattenkönig von Processen,
Klagen und Beschwerden weist auf einen bestimmten ersten An-
stoss zurück. Bei der einfachen Streitsucht findet jede einzelne
Angelegenheit, wenn auch nach langen Kämpfen, endlich ihre Er-
ledigung, bei der sich alle Betheiligten beruhigen; hier dagegen endet
der ursprüngliche Streit niemals; er wächst nur immer ungeheuer-
licher an und erreicht erst in der Entmündigung des Kranken seinen
gewaltsamen und äusserlichen Abschluss.
Auf der anderen Seite ist es natürlich möglich, dass die an-
scheinend wahnhaften Vorstellungen und Behauptungen wirklich der
Wahrheit entsprechen. Die Erbitterung und der rücksichtslose Kampf
bis auf das äusserste kann die gesunde Antwort eines lebhaft ent-
wickelten und schnöde beleidigten Rechtsgefühls sein. So stellte
sich in einem von mir beobachteten Falle nachträglich heraus, dass
der schwer angeschuldigte Gegner in der That nicht der Ehreumann
war, für den er amtlich galt, sondern sich ernster Verbrechen
schuldig gemacht hatte. Ein anderes Mal konnte nachgewiesen
werden, dass eine zunächst wahnhaft erscheinende Unterschrift-
fälschung von dem Beschuldigten wirklich begangen war. In dieser
Beziehung ist also äusserste Vorsicht geboten. Trotzdem waren
übrigens in beiden Fällen die Ankläger Querulanten, aber das liess
sich nicht aus der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der vorgebrachten
Beschuldigungen entscheiden, sondern aus der Art, wie sie dieselben
begründeten und wahnhaft weiter verarbeiteten. Freilich pflegt auch
in ausgesprochenen Fällen der Querulantenwahn erst nach sehr langer
Zeit erkannt zu werden, weil das oft gut erhaltene Gedächtniss und
die Gewandtheit im Reden und Schreiben für den richterlichen
Beobachter die geistige Schwäche und Zerfahrenheit sowie die wahn-
hafte Ausgestaltung der Vorstellungskreise verdecken. Die Ent-
stellungen und Verdrehungen des Thatbestandes, die der Kranke vom
Standpunkte seiner krankhaften Auffassung in bestem Glauben vor-
bringt, werden leicht für absichtliche, schlau berechnete Täuschungen
gehalten und als Beweis für die sittliche Verkommenheit und Un-
verschämtheit desselben angesehen.
Die eigentlichen Ursachen des Querulantenwahnes sind höchst
wahrscheinlich in krankhafter, meist ererbter Veranlagung zu suchen.
Mehrmals fand ich Trunksucht der Eltern angegeben. In der
Regel beginnt die Krankheit zwischen dem 35. und dem 45. Lebens-
454
X. Die Verrücktheit.
jahre, bisweilen auch noch etwas später. Der Rechtsstreit ist ohne
Zweifel nur als Auslösung, nicht als Ursache zu betrachten; öfters
haben die Kranken früher bereits allerlei Processe gehabt, ohne da-
bei zu queruliren. Die Prognose muss als ungünstig bezeichnet
werden; der Ausgang ist ein mehr oder weniger hoher Grad von
geistiger Schwäche unter Fortbestehen der Wahnbildungen. Gleich-
wol scheinen erhebliche Besserungen in der Weise vorzukommen,
dass die Kranken, ohne ihre Auffassung zu ändern, sich wenigstens
längere Zeit einer Aeusserung derselben enthalten; ganz ähnliches
sehen wir ja auch bei anderen Formen der Verrücktheit.
Die Behandlung dieser Kranken hat nur die Aufgabe, die-
selben für einige Zeit, noch besser für immer, der Umgebung zu
entziehen, welche auf sie erregend wirkt. Vorübergehend kann das
durch die Verbringung in die Anstalt, dauernd durch die Ueber-
siedelung in andere Verhältnisse geschehen. Längeren Anstalts-
aufenlhalt vertragen die Kranken in der Regel schlecht. Man thut
daher gut, sie nach eingetretener Beruhigung möglichst rasch wieder
zu entlassen, wenn man nicht durch die Rücksicht auf die Ge-
meingefährlichkeit im einzelnen Falle genöthigt wird, sie auch
trotz der Schädigung durch das Anstaltsleben ihrer Freiheit zu be-
rauben.
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Als allgemeine Neurosen wollen wir in der folgenden Darstellung
eine Gruppe von Krankheitszuständen zusammenfassen, welche mit
mehr oder weniger ausgeprägten uervösen Functionsstörungen
einhergehen. Gemeinsam ist diesen Gestaltungen des Irreseins, dass
wir es überall mit dauernd krankhafter Verarbeitung der Lebens-
reize zu thun haben; gemeinsam ist ihnen ferner das Auftreten
mehr vorübergehender, eigenartiger Krankheitsäusserungen bald
auf körperlichem, bald auf psychischem Gebiete. Diese anfallsweise
auftretenden Schwankungen des psychischen Gleichgewichtes sind
demnach keine selbständigen Erkrankungen, sondern nur die ge-
legentlichen Steigerungen eines anhaltenden Krankheitszustandes.
Sie entsprechen unter diesem Gesichtspunkte ungefähr den Anfällen
des manisch-depressiven Irreseins, doch pflegt bei den allgemeinen
Neurosen auch in den Zwischenzeiten die eigenartige krankhafte
Grundlage weit deutlicher erkennbar zu sein, als bei jenen Formen.
Vielfach wenigstens sind wir im Stande, schon in dem alltäglichen
Verhalten der Kranken die Anzeichen einer ganz bestimmten all-
gemeinen Umwandlung der ganzen Persönlichkeit aufzufinden. Es
scheint mir zweckmässig, vorläufig zwei Hauptformen der allgemeinen
Neurosen auseinanderzuhalten, das epileptische und das hyste-
rische Irresein. An dieses letztere schliesst sich jedoch noch ein
besonderes, ihm näher verwandtes Krankheitsbild an, welches unter
dem Namen der traumatischen Neurose oder traumatischen Hysterie
bekannt genug geworden ist. Aus Gründen, die späterhin erörtert
werden sollen, ziehe ich für dasselbe die Bezeichnung „Schreck-
456
XI. Die allgemeinen Neurosen.
A. Das epileptische Irresein.
Am tiefgreifendsten sind die psychischen Begleiterscheinungen
der allgemeinen Neurose bei der Epilepsie. Zwar ist uns aus der
Geschichte bekannt, dass eine Beihe historischer Grössen, nament-
lich Feldherrn (Cäsar, Narses, Napoleon I.), an Epilepsie gelitten
haben, allein diese Fälle sind als seltene Ausnahmen zu betrachten,
denen die ungeheure Masse jener armen Kranken gegenübersteht,
welche durch die Epilepsie der psychischen Entartung entgegenge-
führt werden. Zudem lassen sich auch bei jenen hervorragenden
Persönlichkeiten fast immer wenigstens einige Züge nachweisen,
die auf eine gewisse Verwandtschaft mit dem klinischen Bilde des
epileptischen Irreseins hindeuten.
Yerhältnissmässig am wenigsten scheint die Epilepsie die Ver-
standesthätigkeit zu schädigen. Es giebt einzelne Epileptiker,
die dauernd sogar ganz hervorragende geistige Leistungen aufzu-
weisen haben. In mehr als der Hälfte der Fälle jedoch, die dem
Irrenärzte zu Gesicht kommen, findet sich eia mehr oder weniger
ausgeprägter, eigenartiger Schwachsinn. Bei demselben bleibt die
Orientirung, die Besonnenheit und der Zusammenhang des Gedanken-
ganges fast immer vollständig erhalten, aber die geistige Regsamkeit
geht allmählich verloren ; das ganze geistige Leben spielt sich lang-
sam und schwerfällig ab (Verlängerung der psychischen Zeiten);
es entwickelt sich ein Zustand, der am besten durch den Ausdruck
„Beschränktheit“ gekennzeichnet wird. Der Kranke vermag ^keine
wesentlich neuen Erfahrungen mehr in sich aufzunehmen und zu
verarbeiten, sondern bewegt sich mit Vorliebe in gewohnten Bahnen.
Stehende Redensarten, Gemeinplätze, Bibelverse, Sprichwörter pflegen
daher eine grosse Rolle in seinen Aeusserungen zu spielen. Ihm
fehlt jener Ueberblick über die Lebenserfahrungen, welcher uns be-
fähigt, .überall das Wichtige von dem Nebensächlichen zu trennen
und einen Gedankengang geradeswegs einem bestimmten Ziele zu-
zuführen. So kommt gerade hier nicht selten ein sehr eigen-
*) Fere, Die Epilepsie, Deutsch v. Ebers. 1896; Marinesco et Serieux,
essai sur la patkogenie et le traitement de l’epilepsie. 1895; Roncoroni,
trattato clinico dell’epilessia con speciale riguardo alle psichosi epüettic.he. 1895;
J. Yoisin, l’epilepsie. 1897.
Epileptisches Irresein.
457
artiges Kraukheitszeichen zu Stande, die Umständlichkeit der
Epileptiker. Bei jeder Erzählung beginnt der Kranke mit Daten,
deren Beziehung zur Frage zunächst kaum erkennbar ist, und
er häuft dabei an jedem Punkte eine solche Menge von ganz
gleichgültigen Nebenumständen, dass seine Darstellung schlechter-
dings nicht von der Stelle zu rücken scheint. Jeder Versuch,
hn durch Zwischenfragen zu einer rascheren Entwicklung des
Wesentlichen zu veranlassen, pflegt zu scheitern; der Kranke nimmt
den Faden einfach an der unterbrochenen Stelle wieder auf. Dabei
verliert er jedoch niemals den Zusammenhang, sondern kommt immer
schliesslich zum Ziel, freilich auf stark gewundenen Pfaden. Ge-
wöhnlich wird die gleiche Erzählung immer mit den gleichen Wen-
dungen und in derselben Ausführlichkeit vorgebracht.
Bei stärker ausgebildetem epileptischem Schwachsinn leidet regel-
mässig auch das Gedächtniss in erheblichem Grade. Der Kranke
wird vergesslich, merkt sich den Namen des Arztes oder seiner Mit-
kranken nicht, weiss nichts über seine Erlebnisse zu berichten, erzählt
wiederholt dieselben Dinge, ohne es zu bemerken. Bisweilen kommt
es zu fabulirenden Erzählungen, die vielleicht als Erinnerungen an
deliriöse oder traumhafte Erlebnisse aufzufassen sind. Auch eine
grosse Zahl von Erfahrungen des früheren Lebens geht dem Kranken
spurlos -wieder verloren, und nur diejenigen Vorstellungskreise bleiben
sein dauerndes Eigenthum, die sich durch immerwährende Wieder-
holung unverrückbar befestigt haben. Auf diese Weise entwickelt
sich eine fortschreitende Verarmung des Vorstellungsschatzes, so
dass der Kranke, unfähig, neue Erfahrungen zu sammeln, schliesslich
nur noch über einen ganz kleinen, allmählich immer mehr ein-
schrumpfenden Vorrath von Ideen verfügt. Im Gegensätze zu
anderen Formen des erworbenen Schwachsinns ist er jedoch im
Stande, sich innerhalb dieses kleinen Kreises von Vorstellungen
noch klar und zusammenhängend zu bewegen, wenn es sich auch
dabei zumeist nur um die ständige Wiederholung derselben Ge-
dankengänge und Wendungen handelt.
Es ist natürlich, dass bei der Verarmung des Vorstellungs-
schatzes nach und nach die Bedeutung des eigenen Ich in der
Weltanschauung der Kranken ausserordentlich anwachsen muss. So
kommt es, dass die Kranken, je weiter der Schwachsinn gediehen
ist, um so mehr in ihrem Selbstgefühle wachsen, und dass schliess-
458
XI. Die allgemeinen Neurosen.
lieh der Inhalt ihrer Reden sich wesentlich auf die Lobpreisung der
eigenen Person und alles dessen, was mit ihr zusammen bängt,
namentlich auch der übrigen Familienglieder, beschränkt. Eine grosse
Rolle spielt vielfach die Sorge um das eigene Befinden, dessen
kleinste Aenderungen von dem Kranken vermerkt werden und auf
ärztliche Beachtung Anspruch machen. Gleichzeitig beobachtet man
öfters eine auffallende Hoffnungsfreudigkeit gegenüber dem eigent-
lichen Leiden. Die Kranken meinen nach jedem Anfalle, derselbe
sei nur noch ganz klein gewesen; sie seien nun bald ganz gesund,
fühlen sich, Gott sei Dank, recht wohl. Ausserdem sind es reli-
giöse Vorstellungen, die mit imgemeiner Vorliebe gepflegt
werden. Sei es, dass bisweilen eigenthümliche, mit den Anfällen
verbundene Empfindungen die Idee einer göttlichen Beeinflussung
nahe legen, sei es, dass bei den hülflosen Kranken die Hoffnung auf
Erlösung durch übernatürliche Macht einen besonders günstigen
Boden findet — sehr häufig glauben sie, zum Himmel in einem
vorzugsweise innigen Verhältnisse zu stehen, weil sie immer so brav
gewesen sind und immer so fleissig gebetet haben. Sie bitten um
Bibel und Katechismus, ergehen sich in frommen Sprüchen, lesen
fleissig im Gesangbuche, gehen möglichst häufig in die Kirche, zur
Beichte und lieben es, Verbindung mit dem Geistlichen zu unterhalten.
Die stärksten Umwälzungen pflegt die Epilepsie auf gemüth-
lichem Gebiete herbeizuführen, auch dort, wo eine Beeinträchti-
gung des Verstandes nicht erkennbar ist. Fast immer entwickelt
sich eine Steigerung der gemüthlichen Reizbarkeit, die in geringerem
Grade dauernd bestehen kann, vor allem aber in den unten näher
zu schildernden Anfällen und unter dem Einflüsse des Alkohols in
krankhafter Weise hervortritt. Die Kranken werden empfindlich,
schrullig, launenhaft, rechthaberisch, schwer zu behandeln, gerathen
bisweilen bei geringfügigen Anlässen in heftige Zornausbrüche mit
rücksichtsloser Gewaltthätigkeit. Zugleich bildet sich häufig eine
starke Selbstsucht aus, welche den Kranken jeden Eingriff in die
eigenen Rechte ungemein lebhaft empfinden lässt, während ihn
fremdes Leid sehr wenig berührt. Dazu kommt vielfach ein un-
glaublich hartnäckiger, bornirter Eigensinn, der den Kranken allen
Ueberredungsversuchen gegenüber taub macht und ihn mit der
grössten Rücksichtslosigkeit eine einmal gefasste Idee festhalten und
durchführen lässt.
Epileptisches Irresein.
459
Alle diese Eigenthtimlichkeiten kennzeichnen auch das äussere
Verhalten des Epileptikers. Dasselbe bleibt trotz hochgradigster
geistiger Schwäche meist ein ganz geordnetes. Die Kranken beschäf-
tigen sich in der Regel gerne, führen ihre Arbeiten zwar langsam,
aber oft mit kleinlicher Genauigkeit aus. Freilich pflegt ihnen dabei
die Fähigkeit zu freiem, selbständigem Schaffen vollständig abzugehen.
Ein recht blödsinniger Kranker lieferte mir ziemlich schwierige
farbige Federzeichnungen, die von den Steindruckvorlagen nicht
mehr zu unterscheiden waren, während er sich ausser Stande erwies,
trotz genauester Anleitung ganz einfache Diagramme aus den gege-
benen Zahlen herzustellen. Andere Kranke zeigen eine gewisse
täppische Hülfsbereitschaft, mischen sich in alles ein, suchen Wärter-
dienste zu thun, ihre Mitkranken zu erziehen. Trotz ziemlich gut
erhaltener Arbeitsfähigkeit bringen es die Kranken vielfach zu keiner
dauernden Beschäftigung, weil sie eine eigentümliche Unstetigkeit
darzubieten pflegen. Sie versagen plötzlich, halten nicht lange auf
derselben Stelle aus, verlassen ohne erkennbaren Grund ihre Stel-
lungen, ziehen planlos in der Welt herum und liefern auf diese
Weise einen sehr starken Beitrag zu den Insassen der Arbeitshäuser
und Gefängnisse. Zum guten Theil steht jene Unstetigkeit gewiss
mit den sogleich zu besprechenden periodischen Verstimmungen in
nahem Zusammenhänge. Andererseits bildet die Beschränktheit, die
Selbstsucht und die Reizbarkeit der Epileptiker ohne Zweifel den
günstigen Boden für die Entwicklung verbrecherischer Neigungen.
Lombroso hat bekanntlich gerade die Epilepsie als die eigentliche
Grundlage des moralischen Irreseins und damit der geborenen
Verbrechernaturen überhaupt hingestellt, eine Anschauung, die in-
dessen sicherlich über das Ziel erheblich hinausschiesst. Häufig
sind auch krankhafte geschlechtliche Neigungen.
In ihren Reden sind die Kranken im allgemeinen klar und
verständlich; sie begrüssen den Arzt, vielfach sogar mit einer ge-
wissen umständlichen Förmlichkeit, kleiden sich sauber und halten
auf Ordnung und Herkommen, geben allen Vorgesetzten in Anrede
und Titel die Ehre, die ihnen nach ihrem Dafürhalten gebührt.
Oefters entwickelt sich bei ihnen ein etwas süssliches, gespreiztes
Wesen und eine eigenthümlich verzwickte Redeweise. Einer meiner
Kranken sprach von dem „immer allgegenwärtigen, verzweifelnden
Täuschungssinn“. Einen guten Einblick in so manche Eigenthüm-
460
XI. Die allgemeinen Neurosen.
lichkeiten des epileptischen Schwachsinns giebt vielleicht der nach-
folgende Brief eines Kranken an den Geistlichen seines Hei-
mathsortes:
Gestatten der Herr Pfarrer, dass ich mir erlaube, Herrn Pfarrer mit einigen
Zeilen, soviel und wie ich es vermag, erfreuen zu können. Ich bekomme hierzu
von ganzem Herzen Antriebe und will so meinem allerhochgeehrtesten Herrn
Pfarrer meine Geistesempfindungen und körperliches Gedeihen aussprechen. Ich
habe Tag und Nacht zu kämpfen, bald geistig, bald körperlich und hm froh damit,
dass es so ist, sonst würde Manches nicht eifüllt werden, wovon die heilige Schrift
lehrt, durch unseren Herrn Jesum Christum; darum sage ich: wer auf Gott ver-
traut, der hat auf keinen Sand gebaut, denn ich empfand es und will somit meine
Freude auch Herrn Pfarrer zu Theil werden lassen, indem ich sage: Ich freue
mich in Christo, von ganzem Herzen mittheilen zu können, dass alles von Gott
kommt, worüber ich jetzt in keinem Zweifel mehr bin.
Dasselbige, wie ich vernommen, ist geoffenbart durch die heilige_Schrift. Ich
danke täglich Gott für seine Gnade allerseits, und hin froh, dass Gott mich bin
hierher gebracht, denn er hat Grosses an mir (uns) gethan und thut noch Grösseres
an mir (uns) und vielen Menschen, aber selig sind diese Menschen, welche es ver-
nehmen. Ich wurde zu jahrelangem Kampfe verwendet, sah und fühlte es, konnte
mich aber nicht frei davon machen, aber Gott sei Dank, der mir (uns) den Sieg
gegeben hat durch Herrn Jesum Christum. Ich hoffe, dass ich in Manchem
kräftiger werde, das unruhige Schlafen hat sich gebessert.
So harre ich nun wieder der Gnade und Kraft Gottes in Christo Jesu.
Aufs allerfreundlichste grüsset Herrn Pfarrer nebst allerhochgeehrteste Familie
Georg G.
Man erkennt in dem nichtssagenden und inhaltlosen Schriftstücke
leicht die Umständlichkeit, die Verschrobenheit der Ausdrucks-
Aveise, die gespreizte Höflichkeit, die Neigung zu religiösen Redens-
arten, das gehobene Selbstgefühl und die Hofinungsfreudigkeit
Die im Vorstehenden geschilderte dauernde Entartung der Epi-
leptiker ist in den einzelnen Fällen ausserordentlich verschieden
ausgebildet. Häufig nur leise angedeutet oder nur bei besonderen
Gelegenheiten erkennbar, beherrscht sie in anderen Fällen das
Krankheitsbild derartig, dass die Diagnose der Epilepsie schon aus
der Eigenart des Sclrwaehsinns abgeleitet werden kann, Avie es mir
nicht selten gelungen ist. Nicht ganz selten sehen Avir aber hier
auch die schwersten Formen der Verblödung zu Stande kommen,
die wir überhaupt kennen, namentlich bei jugendlichen Kranken.
Die dauernde epileptische Veränderung bildet die Grundlage, auf
welcher sich eine Reihe mehr vorübergehender Störungen ent-
wickeln können, deren gemeinsame Eigenthümlichkeit in ihrer selb-
Epileptisches Irresein.
461
ständigen, von äusseren Einflüssen unabhängigen Periodici-
tä t liegt. Zunächst haben wir dabei jener wol nur wenigen Epileptikern
ganz fehlenden psychischen Gleichgewichtsschwankungen zu geden-
ken, welche ohne auffallende Bewusstseinstrübung mit den
Anzeichen einer starken gemiithlichen Spannung einhergehen.
Aschaffenburg fand sie in 78 °/0 unserer Fälle ausgesprochen. Meist
ist die Verstimmung Morgens beim Aufwachen plötzlich da; seltener
entwickelt sie sich im Laufe des Tages. Im Beginn ist öfters eine
gewisse geschlechtliche Erregung vorhanden, die sich in Pollutionen,
wollüstigen Träumen und Gelüsten kundgiebt. Die Kranken werden
plötzlich missmuthig, finster, mürrisch, abweisend, ziehen sich zurück,
griissen nicht, bleiben von der Arbeit weg, oder sie beginnen zu
nörgeln, zu schimpfen, ihre Entlassung zu verlangen, sich in stehen-
den Wendungen über eine längst erlittene Benachteiligung zu be-
klagen. Dabei sind sie regelmässig sehr reizbar, drohend, ärgern
sich „über die Fliege an der Wand“, gerathen leicht mit ihrer Um-
gebung in Streit und schlagen bei dem geringsten Anlasse roh
drauf los. „Da darf mich Niemand reizen; wenn man mich in Ruhe
lässt, geht’s schnell vorüber,“ sagte ein solcher Kranker. „Das sind
Tage, an denen ich mich selbst nicht leiden kann,“ sagte ein anderer.
Hie und da stellen sich auch unbestimmte Gesichtstäuschungen
(Funken vor den Augen, rothe Flämmchen), ferner Gehörstäuschungen
(Rauschen und Brausen in den Ohren, Stimmen) sowie einzelne
Verfolgungsideen ein. Man verachtet und verspottet sie, schaut sie
curios an, will ihnen ans Leben, sie heimlich überfallen, zerstückeln,
im Abtritt aufhängen. Einer meiner Kranken erklärte sich gerne
bereit, sich von den Aerzten ordnungsmässig hinrichten zu lassen,
verwahrte sich aber gegen die vermeintlichen Absichten der andern
Patiepten, ihn hinterrücks niederzumachen. Er sass daher, heimlich
mit selbstverfertigten , recht gefährlichen Waffen ausgerüstet, die
ganze Nacht wachend im Bett, um sein Leben so theuer wie mög-
lich zu verkaufen. Nach einem oder wenigen Tagen pflegen diese
Zustände ebenso rasch zu schwinden, wie sie gekommen sind. Der
Kranke ist wieder zugänglich, gutmüthig, harmlos, will nichts mehr
von den „Verfolgungen“ wissen, lacht über seine „Einbildungen“.
Seltener beobachtet man Wochen und selbst Monate lang eine der-
artige „Geladenheit“, die dann vielfache Schwankungen zu zeigen
und ganz allmählich zu verschwinden pflegt.
462
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Ungemein häufig nehmen die gemüthlichen Schwankungen der
Epileptiker die Form innerer Beängstigungen an. „So Tage habe
ich, dass mir das Leben gerad’ verleidet ist,“ sagte ein Kranker;
„das dauert verschiedene Zeit, bis ich’s wieder vergesse.“ Es kommt
„wie angeflogen“, ohne irgend welchen Anlass, wenn auch der
Kranke bisweilen bestimmte Ueberlegungen oder Erfahrungen dafür
verantwortlich macht. „Ich bin betrübt, wenn ich gerade nach
Hause denke und man weiss nicht, was die Zukunft bringt,“ sagte
ein Kranker; ein anderer gab an, dass der Zustand jedesmal komme,
wenn er so recht schön von seiner verstorbenen Frau geträumt
habe; der Gegensatz zu seinem freudlosen Leben beim Erwachen
drücke ihn dann so nieder. Ihnen wird plötzlich schwer ums Herz,
mutklos, „heimwehartig“, „so recht von innen heraus betrübt1^
„lebensmüd’ und lebenssatt“; es steigen ihnen traurige Gedanken,
trübe Ahnungen, Versündigungsideen auf. Es wäre am besten, sie
wären nicht mehr auf der Welt; ihr Leben ist verpfuscht; es ist
alles umsonst; sie haben sich am Allerhöchsten vergangen, den
Kelch verunreinigt, sind unbussfertig gewesen; sie sind nicht gesund
und werden nicht gesund. Meist gesellt sich auch das Gefühl von
Benommenheit und Druck im Kopfe hinzu, Klingen und Läuten in
den Ohren, Erschwerung des Denkens und innere Unruhe. Sie sind
dann unfähig zu arbeiten, stieren vor sich hin, bleiben im Bett,
beten viel, oder sie laufen planlos herum, greifen zum Alkohol,
machen einen triebartigen Selbstmordversuch, über dessen Beweg-
gründe und Ausführung sie sich später oft selbst keine Rechenschaft
zu geben vermögen. Auch diese Störungen pflegen einige Stunden
oder Tage nicht zu überdauern; bisweilen scheint ihnen eine Art
Erleichterung, ein auffallendes Wohlbefinden zu folgen.
Seltener ist das anfallsweise Auftreten expansiver oder eksta-
tischer Stimmungen. Die Kranken werden erregt, laufen mit glän-
zenden Augen, geröthetem Kopfe und freudig gehobenem Gesichts-
ausdrucke herum, springen und jauchzen, begehen allerlei muthwillige
Streiche, werfen alles durcheinander, necken die Mitkrauken, beten
laut und feierlich, äussem auch wol religiöse Grössenideen oder
prahlen mit hoher Abkunft und vornehmer Verwandtschaft. Ideen-
flucht scheint dabei nicht vorzukommen, wol aber grosse gemütklicke
Reizbarkeit mit Neigung zu raschen Gewaltthaten. Die Dauer ist
meist eine kurze.
Epileptisches Irresein.
463
In der Regel zeigen die einzelnen Anfälle bei dem gleichen
Kranken eine ausserordentliche Uebereinstimmung untereinander.
Man bemerkt sofort an einer bestimmten Redensart, einer kleinen
Aenderung im Benehmen, im Gesichtsausdruck, dass wieder etwas
im Gange ist, dass „ein schlechter Wind weht“. Die gleichen Klagen,
die gleichen, oft berichtigten Wahnideen kehren wieder, die gleichen
Antriebe und Handlungen, um der inneren Erregung einen Ausweg
zu schaffen. Freilich giebt es auch unvollkommene Anfälle, in
denen die gewöhnlichen Erscheinungen nur theilweise oder nur in
ganz schwachen Andeutungen ausgebildet sind oder sehr rasch wieder
vorübergehen. Die Zwischenzeiten zwischen den Anfällen sind bis-
weilen regelmässige, so dass man den Eintritt der Erscheinungen mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit Vorhersagen kann. Meist jedoch wechseln
die Intervalle; zeitweise kann es zu einer Häufung der Störungen
kommen. Durchschnittlich pflegen sich dieselben etwa alle paar
Wochen oder Monate einzustellen, in einzelnen Fällen auch wol nur
ein oder zwei Mal im Jahre. s
Diese ungemein wichtigen, aber meist wenig beachteten Ver-
stimmungen der Epileptiker gehen ohne scharfe Grenze allmählich
in diejenigen Zufälle über, die mit mehr oder weniger tiefer Trübung
des Bewusstseins einhergehen, die eigentlichen Dämmerzustände.
Gar nicht selten bildet eine Verstimmung die Einleitung des Däm-
merzustandes; oft auch wird sie durch Alkoholeinfluss in einen
solchen übergeführt. Wir können bei der Schilderung der Dämmer-
zustände von der schweren Bewusstseinsstörung ausgehen, die regel-
mässig den epileptischen Krampfanfall begleitet. Die Auffassung
äusserer Eindrücke wie die Erzeugung von Vorstellungen sind voll-
ständig aufgehoben, und an Stelle der Willenshandlungen treten
unwillkürliche Muskelzusammenziehungen (tonische und klonische
Krämpfe). Die Krampfbewegungen können indessen in dem Bilde
des epileptischen Anfalles auch vollkommen fehlen, so dass einzig
die Bewusstseinsstörung den wesentlichen Zug desselben ausmacht
(psychische Epilepsie). ' Uebergangsformen bilden jene Fälle, in
denen sich der Krampf nur durch ein leichtes Verdrehen der Augen,
rasch vorübergehende starre Haltung, einige eigenthümliche, stereo-
type Bewegungen, unverständliche Ausrufe, krampfhaftes Lachen
gerade noch andeutet. Die einfachsten Erscheinungen der psychi-
schen Epilepsie sind leichte Schwindelanfälle (petit mal), Ohn-
-164
XI. Die allgemeinen Neurosen.
machten, Schlafanfälle oder rasch1 vorübergehende Be-
wusstlosigkeit (absence). Die letztere Störung ist dadurch
gekennzeichnet, dass der Kranke plötzlich in seiner Beschäftigung,
in der Unterhaltung abbricht und regungslos in der eingenommenen
Stellung verharrt, um nach wenigen Secunden ohne Bewusstsein
des Vorgefallenen fortzufahren, als ob nichts geschehen wäre.
Vielfach gewinnt die Bewusstseinstrübung im epileptischen An-
falle insofern eine grössere Selbständigkeit, als sie entweder schon
vor dem Beginne der Krämpfe einsetzt oder, häufiger, das Ende
derselben überdauert. Auf diese Weise entstehen jene Dämmer-
zustände, die man als prae- oder post-epileptisches Irresein
zu bezeichnen pflegt. Vor dem Anfalle können sich allerlei krank-
hafte Sinnesempfindungen einstellen, Lichterscheinungen, Verlust der
Farbenwahrnehmung, Vergrösserung oder Verkleinerung der Gesichts-
bilder, Sausen, Klingen und Brodeln in den Ohren, Hören bestimmter
Worte, eigenthümliche Gerüche, Tintengeschmack, Kopfschmerzen.
Hitzegefühl, Zucken, Stechen, Kriebeln in verschiedenen Körper-
theilen, Empfindung von Nässe oder Kälte (Aura). Bestimmte Ge-
danken, Zweifel am Dasein Gottes, Erinnerungen tauchen auf, identi-
ficirende Erinnerungsfälschungen, Worttaubheit, aphasische Störungen,
einförmiges Wiederholen derselben Wbrte, Zwangsantriebe, unwill-
kürliche Bewegungen; das Bewusstsein trübt sich, und der eigent-
liche Anfall beginnt. In der Regel dauern diese Vorläufer, die sich
noch nicht in der Hälfte der Fälle finden, nur ganz kurze Zeit,
wenige Minuten oder Secunden; weit seltener geht dem Krampf-
anfalle schon Stunden oder Tage lang ein ausgeprägter Dämmer-
zustand voraus.
Nach dem Anfalle dagegen beobachten wir ganz regelmässig
eine deutliche, vielfach sogar recht tiefe Benommenheit. Die
Kranken verstehen die an sie gerichteten Fragen nicht und
vermögen nicht zu antworten, reden verworren, paraphasisch ; sie
wissen nicht recht, wo und in welcher Lage sie sich befinden, ver-
kennen die Personen, wälzen sich herum, zupfen, wühlen, suchen
sich zu entkleiden, legen sich ins Bett, machen Gehbewegungen,
wie um eine Treppe zu ersteigen, trinken aus dem Nachtgeschirr,
stecken allerlei erreichbare Gegenstände in die Tasche. Unzweifel-
haft finden dabei nicht selten lebhafte Sinnestäuschungen statt.
Ganz ähnliche Störungen können auch unabhängig von den
Epileptisches Irresein.
465
Krampfanfällen, als psychische Epilepsie auftreten. Die Kranken
werden benommen, verkennen die Personen, äussern einzelne zusam-
menhangslose Wahnvorstellungen, hören Stimmen, sehen die Um-
gebung in unheimlicher, veränderter Gestalt. Raben folgen ihnen
krächzend; die Wellen des Flusses scheinen emporzusteigen. In
diesem Traumzustande begehen sie allerlei verkehrte Handlungen,
verlassen ihre Arbeit, irren planlos herum. Nach einigen Stunden
oder Tagen erwachen sie ohne klare Erinnerung an das Vorgefallene,
sehr verwundert, sich in der inzwischen entstandenen Lage wieder-
zufinden. Ein junges Bauernmädchen lief in einem solchen Anfalle
beim Mähen in einen Bach, dabei immer noch mechanisch die Be-
wegung des Mähens fortsetzend. Später legte sie in einem ähnlichen
Zustande zweimal Feuer an (sehr häufig bei jugendlichen Epilep-
tikern!) und verübte eine Reihe von Diebstählen, indem sie alle
Gegenstände, die ihr unter die Hände kamen, in einem versteckten
Winkel zusammentrug. Ein anderer Kranker zündete sein Bett an,
in der Absicht, sich Kaffee zu kochen. Wieder ein anderer klagte
sich in Briefen an die Polizei mit allen Einzelheiten verschiedener,
gar nicht begangener Verbrechen an, einmal eines unsittlichen An-
griffes, ein anderes Mal des Todtschlages. Wegen des ersteren wurde
er verurtheilt, und erst in der späteren Untersuchung konnte die
Wahnhaftigkeit auch jener früheren Selbstbeschuldigung festgestellt
werden. Der Kranke gab an, er könne sich zu gewissen Zeiten des
Gedankens durchaus nicht erwehren, dass er dies und jenes ver-
brochen habe; es sei ihm, als ob Jemand hinter ihm stehe und ihm
zurufe, er müsse sich jetzt der Polizei anzeigen. „Ich habe es mit
nichts zu thun gehabt, als mit Mord und Todtschlag,“ erklärte er
später.
In manchen Fällen zeigen die Kranken bei traumhafter
Bewusstseinstrübung mehr eine heitere, ausgelassene Erregung, in
der sie zunächst ganz den Eindruck von Angetrunkenen machen
können. Sie treten patzig und selbstbewusst auf, schreien, johlen,
toben, schimpfen, lachen, tanzen herum, geben Antwort, verstehen
aber ihre Umgebung nicht und kümmern sich auch nicht um die-
selbe. Endlich gehören hierher manche Beobachtungen, in denen
unter dumpfer Benommenheit eine triebartige geschlechtliche Auf-
regung periodisch hervortritt. Solche Kranke masturbiren, selbst
ganz öffentlich, entblössen ihre Genitalien auf der Strasse vor Frauens-
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Anfl. II. Band. 30
4bt>
XI. Die allgemeinen Neurosen.
personen oder Kindern, begehen geschlechtliche Angriffe. Gar nicht
selten geben derartige Zustände bei Soldaten Veranlassung zu
ärztlicher Begutachtung, da in ihnen leicht Gehorsamsverweigerung,
auch Fahnenflucht begangen werden.
Recht häufig sind solche Dämmerzustände in der Form des
Nachtwandeins. Andeutungen desselben (lautes Sprechen im
Schlafe, Aufrichten und lebhafte Bewegungen im Bette) kommen
allerdings wol auch ohne eigentlich epileptische Grundlage bei nervös
veranlagten Kindern zur Beobachtung. Die Handlungen der Kran-
ken sind auch hier gewöhnlich sehr einfache, durch vielfache Ge-
Avöhnung eingeübte; sie stehen aus ihrem Bette auf, gehen im Zimmer
oder im Hause herum, zünden Licht an, schüren den Ofen, schliessen
Thüren auf und zu u. dergl., um sich dann nach kurzer Zeit (einige
Minuten bis 1/2 Stunde) meist wieder ruhig ins Bett zu legen. Die
Augen sind dabei geschlossen oder halb geöffnet, starr. Die Wahr-
nehmung der Aussenwelt ist sehr beschränkt; es werden nur die-
jenigen Gegenstände bemerkt, die der Kranke gerade vor sich hat:
alles Uebrige entgeht ihm. So kommt es, dass der Nachtwandler
sich nur mit solchen Dingen zu beschäftigen pflegt, die sich an ihrem
gewohnten Platze befinden; ein wirkliches planmässiges „Suchen-
ist in diesem Zustande kaum möglich. Die Auffassung der Umgebung
scheint eine traumhaft verfälschte zu sein; der Nachtwandler, der
durch das Fenster steigt, hält dieses für eine Thür u. s. f.
Die Bewegungen tragen meist die Zeichen des Automatenhaften
an sich, gehen aber zweifellos oft aus Bewusstseinsvorgängen bervor,
da sie in der Vermeidung und Ueberwindung von Hindernissen
bisweilen die Spuren einer, wenn auch nur dunklen, Ueberlegung
verrathen. Die Sicherheit, mit welcher Nachtwandler sich manchmal
in schwieriger Lage, bei Wanderungen auf Dächern bewegen, erklärt
sich lediglich aus ihrer unvollkommenen Auffassung, welche ihnen
die Gefahr nicht zum Bewusstsein kommen lässt und somit die
Entstehung der ängstlichen Gefühlsregungen hindert, durch die ja
unsere Unsicherheit bei schwindelerregendem Klettern bedingt wird.
In seltenen Fällen erheben sich die Leistungen von Nachtwandlern
über diese einfachen Vorgänge hinaus zu höheren psychischen Ver-
richtungen. Es werden Beispiele erzählt, in denen man mit der-
artigen Kranken lange Gespräche über gleichgültige Dinge führen
konnte, in denen Gedichte angefertigt, Recepte ausgeführt und Auf-
Epileptisches Irresein.
467
gaben gelöst wurden. Die Verwandtschaft mit den hypnotischen
Dämmerzuständen liegt hier sehr nahe.
Meist genügen schon kräftiges Anreden oder doch Anspritzen
mit kaltem Wasser und ähnliche stärkere Reize, um den Nacht-
wandler aus seinem Zustande zu erwecken. Aus naheliegenden
Gründen muss man sich hüten, das Erwachen in irgend einer ge-
fährlichen Lage herbeizuführen, weil die sich sofort einstellenden
lebhaften Affecte dem Gefährdeten die Sicherheit der Bewegung als-
bald rauben. Ausgedehntere Anfälle von Somnambulismus machen
sich am nächsten Morgen beim Erwachen gewöhnlich durch das
Gefühl einer gewissen Ermattung und Abgeschlagenheit bemerk lieh.
Dabei ist die Erinnerung an die ausgeführten Handlungen vollständ ig
erloschen und kann selbst durch die Wahrnehmung ihrer unzweifel-
haften Spuren meist nicht wieder erweckt werden.
Wahrscheinlich ebenfalls auf epileptische Grundlage zurückzu -
führen sind jene vereinzelten Beobachtungen, in denen bei plötz-
lichem Erwachen aus dem Schlafe eine mehr oder weniger
lange Andauer der Bewusstseinstrübung mit illusionärer Verfälschung
der Wahrnehmung besteht. Die Erwachenden glauben sich, unter
Fortspinnen beängstigender Traumvorstellungen, in grosser Gefahr
und begehen in ihrer Verwirrung bisweilen äusserst gefährliche Hand-
lungen, namentlich Angriffe auf Schlafkameraden.
Die ausgeprägteren und länger dauernden Formen einfacher
Bewusstseinstrübung werden als epileptischer Stupor bezeichnet.
Zuweilen bleibt dabei die äussere Ordnung des Handelns einiger-
massen erhalten; die Kranken arbeiten, essen, sprechen, aber alles
wie im Traume und ohne klares Verständniss, auch ohne rechte Er-
innerung. Meist jedoch zeigen die Kranken einen schwer benom-
menen, stieren Gesichtsausdruck, sprechen nicht oder bringen höchstens
einzelne abgerissene, zusammenhangslose, stotternde oder flüsternde
Worte hervor. Aeusserlich verhalten sie sich ruhig, bleiben im
Bett liegen, verunreinigen sich, kümmern sich nicht um die Vor-
gänge in ihrer Umgebung, antworten auf keine Anrede. Bei äusseren
Einwirkungen widerstreben sie meist sehr heftig, unter Umständen
auch durch plötzliche, rücksichtslose Angriffe, doch wird in einzelnen
Fällen wenigstens zeitweise Katalepsie beobachtet. Aus den Aus-
drucksbewegungen der Kranken, ihrem ängstlichen Zusamm enkauern,
Kopfschütteln, Händefalten, Knieen lässt sich entnehmen, dass sie
30*
468
XI. Die allgemeinen Neurosen.
wahrscheinlich von verworrenen Wahnideen beherrscht sind, welche
am häufigsten einen schreckenerregenden, grauenvollen, hie und da
jedoch auch einen beglückenden, religiös-ekstatischen Inhalt zu haben
scheinen. Die Nahrung wird in der Regel ganz oder theilweise ver-
weigert; triebartige Selbstmordversuche sind nicht selten.
Die Dauer dieses Zustandes beträgt gewöhnlich 1 — 2 Wochen,
nur bei sehr schwerem Verlaufe erheblich mehr. Die Lösung Ist
fast immer eine allmähliche. Der Kranke wird im Verlaufe einiger
Tage klarer, orientirt sich wieder über seine Umgebung, hat keine
oder nur sehr undeutliche Erinnerung an den Anfall; „es fehlten mir
zwei Tage“, sagte ein solcher Kranker. Höchstens weiss er anzu-
geben, dass ihm allerlei Schreckliches vorgekommen sei und er
grosse Angst gehabt habe, ist auch wol noch einige Tage gedrückt
und niedergeschlagen. Einige Male sah ich während des allmählichen
Schwindens der Bewusstseinstrübung eine ausserordentliche Sug-
gestibilität bestehen, die ganz an das Verhalten in der Hypnose er-
innerte. Namentlich bei einer jungen Erau war es möglich, sie zu
der Ueberzeugung zu bringen, bald dass sie 7, bald dass sie 70 Jahre
alt sei, ein künstliches Gebiss trage, von einem Bären gebissen
worden sei, gestohlen habe, einen erwachsenen Sohn in Amerika
besitze und dergl. Mehrere Tage lang ging sie auf alle diese Sug-
gestionen ein, ergänzte sie und hielt sie fest, allerdings in stumpfer,
theilnahmloser Weise. In einzelnen Fällen verschwindet die Be-
nommenheit und Verworrenheit ungemein langsam. Es vergehen
Monate unter immer wiederholten Rückfällen mit Krämpfen, und
auch nach der endgültigen Besserung bleibt der Kranke lange Zeit
hindurch unklar, zerfahren und stumpf.
Die praktisch bei weitem wichtigste Geistesstörung der Epi-
leptiker ist das ängstliche Delirium, welches viel häufiger, als
der Stupor, auch ohne Verbindung mit Krampfanfällen, beobachtet
wird. Die Entwicklung des Zustandes vollzieht sich rasch, innerhalb
einiger Minuten oder längstens Stunden. Häufig gehen allerdings
schon kurze Zeit Verstimmungen, ängstliche Träume, eigenartige
Empfindungen und Benommenheit voraus, bis dann plötzlich der
eigentliche Anfall losbricht. Vielfach wird die Einleitung durch eiue
ganz bestimmte, sich regelmässig wiederholende Sinnestäuschung
gebildet; namentlich bemerkenswerth ist der „schwarze Mann“ und
das Sehen von rothen Gegenständen, Blut, Flammen, Mann im rothen
Epileptisches Irresein.
469
Mantel u. s. f. Der Kranke verliert völlig die Orientirung; seine
Umgebung verändert sich; Sinnestäuschungen und ängstliche Wahn-
bildungen treten auf. Er fasst nur sehr unvollkommen auf, was
um ihn herum vorgeht, lauscht auf die Stimmen, die ihn beschimpfen
und bedrohen. Er soll wegen Onanie bestraft werden, hört Gott
sprechen, das Todtenwägelchen fahren, muss sterben, hat etwas
angerichtet, fühlt sich gepackt, sieht sich von Teufeln, Gespenstern,
wilden Thieren, grossen Yolksmassen umgeben, die aus der Wand
kommen und oft von allen Seiten gegen ihn anrücken. Yor dem
Fenster steht ein Mann, der ihn erschiessen will; er hat schon Kugeln
im Leibe; der Arzt führt Böses im Schilde; Milch und Brot
schmecken nach Schwefel. Schlachten werden geschlagen, ein furcht-
bares Blutbad angerichtet; er watet im Blut und schreitet über
Leichen; Mutter und Schwester sind auf der Eisenbahn umgekommen;
das Haus wird in die Luft gesprengt. Man führt ihn in einen
unterirdischen Gang, in welchem auf schrecklichen Marterwerkzeugen
Menschen und Thiere zerstückelt werden. Alles stürzt über ihm
zusammen; Luft und Licht wird ihm abgeschnitten; das jüngste
Gericht bricht herein; er fährt in die Hölle. Zugleich bemächtigt
sich seiner die äusserste Todesangst, so dass er zitternd sein Ende
erwartet, ein Stossgebet nach dem andern stammelt oder in feier-
lichen Worten sein Leben in Gottes Hände legt. Dazwischen schieben
sich fabulirende Aeusserungen; der Kranke ist gestern mit der Post-
kutsche angekommen, zum Militär eingezogen worden, hat mit dem
Grossherzog gesprochen. Bisweilen erscheinen auch Gott und
Christus, schenken ihm die Freiheit, verheissen ihm Gnade, krönen
ihn zum Friedenskaiser, führen ihn auf prächtigem Wagen ins
Paradies, in den Himmel, wo ihm seine selige Mutter erscheint;
doch sind solche freudigen Erhebungen regelmässig nur rasch vorüber-
gehende Einschiebsel.
Die mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Grundstim-
mung des ganzen Anfalles bleibt immer ängstliche oder zornige
Erregung. Sie treibt den Kranken nur allzuhäufig zu grässlichen
Gewalttaten, die sich durch die rücksichtslose Rohheit ihrer Aus-
führung auszuzeichnen pflegen. Ihm ist, als müsse er seiner Frau
den Hals abschneiden, die Kinder aufhängen, sich erschiessen. Er
sucht zu entfliehen, klettert aus dem Fenster, oder er greift in dem
verzweifelten Drange, sich den vermeintlichen furchtbaren Gefahren
470
XI. Die allgemeinen Neurosen.
zu entziehen oder sein Leben zu retten, blindlings zur ersten besten
Waffe, um sie gegen sieh selbst oder gegen seine Umgebung zu
richten. Mit stark geröthetem Kopfe und stierem Gesichtsausdrucke,
stumm oder kurze, abgerissene Sätze, ein unarticulirtes Schreien
und Brüllen ausstossend, wüthet er unter Aufgebot seiner ganzen
Kraft plan- und ziellos, alles zerstörend und vernichtend, was ihm
erreichbar ist. Hierhin gehören auch die öfters beobachteten Sol-
daten, die plötzlich blind und toll um sich schiessen und zahlreiche
Personen verwunden oder tödten. Vielleicht handelt es sich bei
dem „Amok11 der Malayen um ähnliche Zustände. In anderen Fällen
sind es ganz bestimmte Handlungen, welche der Kranke unter dem
Einflüsse einer in ihm auftauchenden Idee, einer Sinnestäuschung,
eines Antriebes begeht. So erinnere ich mich eines Falles, in wel-
chem ein Brauknecht durch den Teufel in Gestalt eines schwarzen
Hundes zur Zerschmetterung seines schlafenden Kameraden veran-
lasst wurde. Ein anderer Kranker ging mit den Worten: ..Bist du
ein Jude, so musst du sterben“ auf einen ihm gänzlich unbekannten
Mann los und brachte ihm mit einem bereit gehaltenen Messer eine
schwere Verletzung bei; noch ein anderer endlich fühlte bei einer
Procession, wie sich sein Arm hob und mit voller Wucbt auf eine
arme alte Frau niedersauste, die- am Wege sass. Hier können die
Kranken für die oberflächliche Betrachtung einen ziemlich geordneten
Eindruck machen und ihre Handlung zunächst in unsinniger, aber
doch zusammenhängender Weise begründen.
Die Dauer des ängstlichen epileptischen Deliriums beträgt oft
nur einige Stunden, höchstens ein bis zwei Wochen. Die Besonnen-
heit kehrt bisweilen nach einem längeren Schlafe plötzlich zurück;
meist aber erfolgt die Aufhellung des Bewusstseins allmählich, so
dass sich vorübergehend deliriöse und gesunde Vorstellungen in
eigenthümlicher Weise mischen. Einer meiner Kranken bezeichnete
am letzten Tage eines solchen Deliriums mich als Gott, den kli-
nischen Praktikanten als Christus, während er doch die ihm bereits
vertrauten Räume der Klinik richtig erkannte. Unter Umständen
kann der Kranke schon ganz klar und gesund erscheinen, während
er in Wirklichkeit noch sehr benommen und von mannigfachen
wahnbaften Erinnerungen wie Verfälschungen der Auffassung be-
herrscht ist, ein Verhalten, welches sich dann nachträglich erst bei
vollkommener Genesung herausstellt.
Epileptisches Irresein.
471
Eine etwas seltenere Form der epileptischen Dämmerzustände
ist das langsamer verlaufende besonnene Delirium, welches eben-
falls im Anschlüsse an einen Krampf oder als selbständiger psy-
chischer Anfall beobachtet wird. Die Bewusstseinstrübung ist hier
weniger tief, so dass die Kranken äusserlich fast ganz besonnen er-
scheinen. Dennoch wird die Auffassung der Aussenwelt sehr stark
beeinträchtigt; mannigfache illusorische und hallueinatorische Trug-
wahrnehmungen spiegeln dem Kranken eingebildete Gefahren vor;
meist sind auch gleichzeitig Grössenideen vorhanden. Trotzdem er
auf einfache Fragen ganz zutreffende, oft freilich auch mit deliriösen
Elementen durchsetzte Antworten giebt, lässt doch sein ganzes Be-
nehmen eine gewisse Benommenheit und Desorientirtheit. erkennen.
Er ist in gereizter, meist etwas ängstlicher, selten auffallend heiterer
Stimmung und begeht oft genug auch plötzliche Gewaltthaten auf
Grund von verschiedenartigen Wahnideen, die indessen meist nicht
näher geäussert werden. In anderen Fällen wird das Bewusstsein
erfüllt durch traumartige Einbildungen mit Personenverkennung und
Sinnestäuschungen von häufig religiöser Färbung (Weltuntergang,
jüngstes Gericht), während dessen der Kranke bei scheinbarer Be-
sonnenheit eine Menge unsinniger, zweckloser, ja verbrecherischer
Handlungen (Herumirren, weite Reisen, wiederholtes Hin- und Her-
fahren auf derselben Strecke, Diebstähle, Brandstiftung, Auflehnung
gegen die Staatsgewalt, Sittlichkeitsverbrechen) begehen kann, ohne
irgend welche Einsicht in die Bedeutung derselben zu besitzen.
Sehr bekannt geworden ist der von Legrand duSaulle mitgetheilte
Fall eines Pariser Kaufmanns, der aus einem solchen Anfalle plötz-
lich auf der Rhede von Bombay wieder erwachte. Solche Zustände
können Wochen, ja eine Anzahl von Monaten dauern; es können
sich auch mehrere, durch kurze Zwischenzeiten getrennte Anfälle
aneinanderreihen.
Die Erinnerung an die Zeit des Dämmerzustandes kann wäh-
rend des Anfalles noch ziemlich klar sein, schwindet aber
später rasch und zwar entweder vollständig oder nur theilweise,
so dass der Kranke sich auf einzelne Erlebnisse bisweilen noch zu
besinnen vermag, während ihm andere gänzlich entfallen sind. Bis-
weilen erstreckt sich der Erinnerungsverlust auch rückschreitend
auf kürzere oder längere Zeiten vor dem Anfalle, ähnlich wie das
nach einfachen Krampfanfällen beobachtet wird. Die Kranken wissen
472
XI. Die allgemeinen Neurosen.
sich dann nicht an Erlebnisse zu entsinnen, die ihnen in noch zwei-
fellos völlig gesundem Zustande begegnet sind. Alzheimer hat
Fälle mitgetheilt, in denen sich der Ausfall bis auf l‘/t Jahre er-
streckte, so dass die Kranken nichts von ihrem Wohnungswechsel
in dieser Zeit, nichts von ihrem jüngstgeborenen Kinde wussten.
In der Regel fallen diese Dinge dem Kranken ziemlich plötzlich
wieder ein, während die Erinnerung an die Zeit kurz vor dem
Anfalle dauernd verloren sein kann. Auch die Erinnerung an die
deliriösen Erlebnisse, die zunächst völlig erloschen war, kann nach
einigen Tagen oder Wochen wenigstens in dunklen Umrissen wieder
auftauchen. Alle diese Erfahrungen fordern zu grosser Vorsicht in
der forensischen Beurtheilung derartiger Fälle auf. Scheint doch
der Verdacht einer Verstellung ausserordentlich nahe zu liegen, wenn
ein anfangs zu Protokoll gegebenes Geständniss von dem Thäter
weiterhin vollständig widerrufen wird, oder wenn der Thäter zuerst
hartnäckig leugnet, später aber, anscheinend auf eindringlichen Vor-
halt hin, dennoch gesteht! Hingewiesen sei hier nur auf den Um-
stand, dass wir auch unsere Träume sehr häufig unmittelbar nach
dem Erwachen noch zurückzurufen vermögen, während sie später
unserem Gedächtnisse völlig entschwinden, und dass sie plötzlich
von selbst wieder auf tauchen, nachdem wir uns lange vergebens
bemüht haben, uns ihrer zu entsinnen.
Als körperliche Begleiterscheinungen der epileptischen Dämmer-
zustände sind Steigerung der Sehnenreflexe und starke Erweiterung
der Pupillen mit sehr geringer Lichtreaction zu nennen; mehrfach
sah ich ausgeprägte Dikrotie des Pulses (Erschlaffung der Gefäss-
wand). Ausserdem können sich, wo Krampfanfälle voraufgegangen
sind, noch eine ganze Reihe von anderweitigen nervösen Zeichen
bemerkbar machen, Gesichtsfeldeinschränkung, Störung des Farben-
sinnes, der Hautempflndlichkeit, des Geruches und Geschmackes,
Herabsetzung der Muskelkraft, leichte Lähmungserscheinungen, Para-
phasie, Nystagmus u. s. f.
Die Häufigkeit der epileptischen Dämmerzustände bei einem
Kranken ist ausserordentlich verschieden. Während sie sich bisweilen
in ganz kurzen Zeitabständen wiederholen, giebt es andererseits
Fälle, in welchen neben sonstigen epileptischen Zufällen nur ein
oder zwei Male im Leben ausgeprägte Dämmerzustände auftreten-
Bei zahlreichen Epileptikern kommt es überhaupt niemals dazu. Die
Epileptisches Irresein.
473
einzelnen Anfälle bei demselben Kranken pflegen eine sehr grosse
Uebereinstimmung in ihrem Inhalte und Verlaufe darzubieten. So
begann das fast alljährlich wiederkehrende besonnene Delirium bei
einem meiner Kranken regelmässig damit, dass er behauptete, von
einem Beamten der Polizei geschossen worden zu sein. Er gerieth
dann in einen halb traumhaften, halb besonnenen, mehrfach von
Krampfanfällen unterbrochenen Dämmerzustand hinein, aus dem er
nach mehreren Wochen eines Morgens klar, aber ohne jede Er-
innerung au die Zwischenzeit erwachte.
In vereinzelten Fällen können sich auf der epileptischen Grund-
lage noch andersartige Geistesstörungen entwickeln. So sah ich einige
Male bei völliger Besonnenheit und Orientirung Monate lang Ver-
folgungs- und Grössenideen mit lebhaften Sinnestäuschungen fort-
bestehen, die dann allmählich vollständig verschwanden. Die Fälle
erinnerten sehr an den Wahnsinn der Trinker, und in der That hatte
vorher Alkoholmissbrauch stattgefunden. Recht häufig ist auch
die Verbindung von alkoholischen mit epileptischen Delirien. Wir
sehen dann das Zittern und die eigenartigen lebhaften Gesichts-
täuschungen der Trinker sich mit den religiösen Vorstellungen und
der ängstlichen Gewaltthätigkeit der Epileptiker vermischen. Natür-
lich spreche ich hier nicht von jener Form der Epilepsie, die sich
erst in Folge des Alkoholmissbrauches entwickelt und auch dem
Bilde des Deliriums keine besondere Färbung zu geben pflegt.
Endlich kommt es bei Epileptikern bisweilen auch zu dauernden
Wahnbildungen, die ganz dem Bilde der Verrücktheit entsprechen*).
Wir werden uns über eine solche Verbindung nicht sonderlich wun-
dem, wenn wir berücksichtigen, dass beide Formen des Irreseins
auf dem Boden krankhafter Veranlagung zu erwachsen pflegen.
Unter den Ursachen der Epilepsie spielt die erste Rolle ohne
Zweifel die Erblichkeit. In 87 °/0 der Fälle mit genauer bekannter
Vorgeschichte fand ich erbliche Veranlagung und unter diesen
wieder in mehr als ein Viertel der Fälle Epilepsie bei den Eltern.
Umgekehrt zeigte Echeverria, dass von den Nachkommen
epileptischer Eltern mehr als die Hälfte an Krämpfen erkranken.
Bei den Vorfahren und Verwandten der Epileptiker beobachtet man,
*) Bucliholz, Ueber die chronische Paranoia bei epileptischen Indivi-
duen. 1895.
474
XI. Die allgemeinen Neurosen.
wie F6r6 mittheilt, ausserdem ungemein häufig Migräne, ferner
Kinderkrämpfe, Geistesstörungen, Altersblödsinn: von ihren Kindern
bleiben höchstens 1/5 gesund. Eine ganz besonders grosse Bedeutung
aber hat endlich der Alkoholismus für die Erzeugung der Epilepsie
bei den Nachkommen; nach Wildermuths Angaben ist sein Ein-
fluss nicht viel geringer, als derjenige geistiger Erkrankungen.
Neumann stellt fest, dass in etwa 23,7 °/0 der Fälle die Epilepsie
auf Trunksucht eines oder beider Eltern zurückzuführen ist Martin
kommt zu dem Schlüsse, dass von den überlebenden Kindern trunk-
süchtiger Eltern nicht weniger als 1/3 an Epilepsie erkranken. Auch
bedeutenden Altersunterschieden der Eltern sowie starken gemüthlichen
Erregungen der Mutter während der Schwangerschaft hat man Einfluss
auf die Entstehung der Epilepsie bei den Kindern zugeschrieben.
Jedenfalls entwickelt sich die Epilepsie regelmässig auf der
Grundlage einer angeborenen Entartung. Häufig deutet sich
dieselbe in körperlichen Zeichen an, besonders Verbildungen
des Schädels, Mikrocephalie , Hydrocephalie, Asymmetrien, oder
in der „epileptischen Physiognomie“, welche durch die breite
Stirn, die eingedrückte, breite Nase, durch vorspringende Backen-
knochen, wulstige Lippen und glänzende Augen mit auffallend
weiten Pupillen gekennzeichnet wird. Dem entspricht die Erfahrung,
dass ein erheblicher Theil der Epileptiker schon von Jugend auf
einen gewissen Grad von Schwachsinn darbietet. Auch sonstige Ent-
artungszeichen finden sich nicht selten. Bei 34 °/0 der Kranken treten
schon in der ersten Kindheit Krämpfe auf. Die weitere Entwicklung
der Krankheit kann durch eine ganze Beihe von äusseren Schädlich-
keiten bestimmt werden. Dahin gehören acute Krankheiten, heftige
Gemüthsbewegungeu, Nervenverletzungen. Ferner werden Fälle be-
richtet, in denen der Geschlechtsact, ein cariöser Zahn, Fremdkörper
im Ohre, ein Glassplitter in der Fusssohle epileptische Krämpfe
erzeugt haben. Schon die Verschiedenartigkeit dieser Einflüsse
lehrt uns, dass sie nicht als wahre Ursachen, sondern nur als aus-
lösende Beize angesehen werden dürfen.
Aehnliches dürfte wol auch für die Mehrzahl der Fälle gelten, in
denen sich die Epilepsie an Kopfverletzungen anschliesst Unter
den von mir in den letzten Jahren beobachteten Fällen befanden
sich fast ein Viertel, in denen solche Unfälle, allerdings oft leichterer
Art, als Ursache des Leidens angeführt wurden. Alle derartigen
Epileptisches Irresein.
475
Angaben sind schwer zu verwerthen, weil sich ein bestimmter Be-
weis für den inneren Zusammenhang zwischen Verletzung und
Erkrankung nur selten wird führen lassen. Vielfach sind auch die
Verletzungen, deren Spuren wir so häufig in Form von zahlreichen
und ausgedehnten Narben bei Epileptikern finden, nicht die Ursache,
sondern die Folge des Leidens; der Kranke ist gefallen, weil er von
epileptischem Schwindel ergriffen wurde, ohne sich des wahren Her-
ganges recht bewusst zu werden. Dennoch dürfen wir daran fest-
halten, dass in einer Anzahl von Fällen ein ursächlicher Zusammen-
hang thatsächlich besteht. Wildermut h giebt dessen Häufigkeit
nach seinen eigenen Erfahrungen auf 3,8 °/0, nach der Statistik des
Deutschen Heeres auf 4,2 °/0 an. Bei einem meiner Kranken traten
4 Jahre nach einem beim Militär erlittenen Hufschlage vor die Stirn
mit folgender Bewusstlosigkeit und theilweiser Zertrümmerung des
Nasenbeins die ersten Anfälle auf. Den allmählich sich weiter ent-
wickelnden Anfällen ging als Aura Stimkopfschmerz voraus; ein
Anfall wurde durch langwierige Untersuchung der verengten Nase
hervorgerufen; einigen anderen, die zu kommen drohten, konnte
durch Einpinselung der Nasenschleimhaut mit Cocainlösung vorge-
beugt werden. Freilich darf man auch in solchen Fällen wol an-
nehmen, dass eine gewisse Neigung zu epileptischer Erkrankung-
schön vorher bestanden haben mag. So war bei jenem Kranken
der Vater epileptisch gewesen.
Die bei weitem wichtigste äussere Ursache der Epilepsie ist
ohne Zweifel der Alkoholmissbrauch. Einerseits ist das Auf-
treten schwerer Krampfanfälle beim chronischen Alkoholismus
nicht selten, wenn es auch zweifelhaft bleiben muss, ob wir es
hier mit wirklicher Epilepsie zu thun haben. Weit häufiger aber
und überzeugender ist die verderbliche Wirkung, welche selbst
sehr mässige Alkoholgaben bei Epileptikern auszuüben pflegen.
Zunächst haben wir hier der sogenannten pathologischen Rausch-
zustände zu gedenken, wie sie bei Epileptikern häufig genug beob-
achtet werden. Es handelt sich dabei um das Auftreten schwerer
Bewusstseinstrübungen mit mangelhafter Erinnerung und meist auch
heftigen zornmüthigen Erregungen in Folge von verhältnissmässig
geringen Alkoholmengen. Das epileptische Gehirn mit seiner er-
höhten Erregbarkeit ist eben ganz besonders empfindlich, „intolerant“
gegen die Wirkungen des Alkohols. Begünstigt wird das Zustande-
476
XI. Die allgemeinen Neurosen.
kommen solcher häufig verkannter Störungen durch voraufgehende
Gemüthsbewegungen, welche eben gleichfalls die Erregbarkeit steigern.
Weiterhin können wir bei Epileptikern vielfach die Erfahrung
machen, dass auch die eigentlichen Anfälle durch Alkoholgenuss
mit der Sicherheit eines Experiments ausgelöst werden. Einer
meiner Kranken, ein Student, verfiel regelmässig nach Commersen
in ein epileptisches Delirium, in welchem er mehrfach nur mit ge-
nauer Noth an der Ausführung des Selbstmordes verhindert werden
konnte.
♦
Endlich aber kann es keinem Zweifel unterliegen, dass nicht
nur leichte epileptische Zufälle unter dem Einflüsse geistiger Ge-
tränke in schwere und schwerste Formen übergeführt werden können,
sondern dass auch die schlummernde epileptische Anlage häufig
geradezu erst durch den Alkohol geweckt wird. Fälle dieser Art
sind es, welche man unter dem Namen der Dipsomanie zu einem
Krankheitsbilde zusammengefasst hat, das nach meiner Ueberzeugung
der Epilepsie angehört, so weit es überhaupt als ein einheitliches
angesehen werden kann. Wir haben es dabei mit dem anfallsweise
auftretenden Drange zu ganz unsinnigem Missbrauche geistiger Ge-
tränke zu Thun. Wie sich bei genauerem Befragen herausstellt,
beginnt der Anfall regelmässig mit einem Zustande, der vollständig
den oben geschilderten epileptischen Verstimmungen gleicht, mit
Unbehagen, Beklemmuugsgefühlen, tiefer Traurigkeit, Lebensüber-
druss, erhöhter Reizbarkeit, Eingenommenheit des Kopfes, Appetit-
mangel, Schlaflosigkeit, bisweilen auch geschlechtlicher Erregung.
Smith fand dabei vorübergehende Vergrösserung der Herzdämpfung.
Gleichzeitig bemächtigt sich des Kranken eine lebhafte innere Un-
ruhe und damit die triebartige Begierde, sich durch den Alkohol-
genuss Erleichterung zu verschaffen, so dass er alles stehen und
liegen lässt und „im hellen Galopp“ der Kneipe zueilt Unter dem
Einflüsse des Alkohols kommt es in einer Reihe von Fällen zur
Entwicklung eines gewöhnlichen epileptischen Dämmerzustandes, in
welchem der Kranke schimpft und lärmt, gewaltthätig wird, sinnlose
Reisen unternimmt.
Damit ist natürlich die Auffassung der Krankheit gesichert. So
kannte ich einen Herrn, der regelmässig nach einigen Tagen reiz-
barer Verstimmung ganz plötzlich davonlief, jede ihm erreichbare
Menge schwerster alkoholischer Getränke hinunterstürzte und dann
Epileptisches Irresein.
477
in tiefer Bewusstlosigkeit irgendwo aufgefunden wurde, einmal auf
dem Eise eines Flusses, wo er die Nackt zugebracht hatte. Ein
anderer, sonst sehr nüchterner Kranker, der ausser zwei Ohnmachts-
anfällen keine Zeichen von Epilepsie dargehoten hatte, gerieth unter
dem Einflüsse des Alkohols, zu dem er in seinen Verstimmungen
griff, in stundenlanges, zwangsmässiges Schimpfen und Singen ; dabei
machte er nur den Eindruck leichter Angetrunkenheit, vermochte
sich aber später durchaus seiner Erlebnisse nicht mehr zu entsinnen.
Er wurde mehrfach wegen Majestätsbeleidigung verurtkeilt, die er in
solchen Zuständen begangen hatte. In einem weiteren Falle trat
nach dem durch Verstimmungen eingeleiteten Alkokolgenusse tage-
und wochenlange leichte Benommenheit auf, in welcher der Kranke
viel trank, planlos herumfuhr, bis er schliesslich irgendwo ohne Geld
und ohne Werthsachen, in verwahrlostem Zustande wieder zu sich
kam, völlig im Unklaren über das, was inzwischen mit ihm vorge-
gangen war. Die psychische Veränderung war dabei äusserlich so
geringfügig, dass sie von den Personen, mit denen er in Berührung
kam, durchaus nicht bemerkt wurde. Einmal stellte sich zu seinem
Schrecken nachträglich heraus, dass er, ein wohlhabender Kaufmann,
während einer solchen Zeit mit einem Thierbändiger einen für Jenen
äusserst vortkeilhaften Vertrag auf Errichtung einer Menagerie ab-
geschlossen und sich dadurch um Tausende geschädigt hatte.
Durch diese Erfahrungen wird ein Licht auf jene Fälle geworfen,
in denen bei Dipsomanen typisch epileptische Störungen ausbleiben
und der Kranke nur in einen rauschartigen Zustand gerätk, in
welchem er fortfährt, fast ohne Unterbrechung Wein, Bier, Schnaps,
selbst Spiritus Tag und Nacht in grossen Mengen herunterzustürzen.
Meist kehrt er nicht eher nach Hause zurück, als bis das letzte
Geldstück vertrunken ist, ja er verkauft und versetzt die Kleidungs-
stücke von seinem Leibe, um seine krankhafte Gier zu befriedigen.
Dabei besteht Schlaflosigkeit, vollständiger Appetitmangel und eine
deutliche Unruhe. Trotz der grossen Mengen des genossenen Alko-
hols kommt es vielfach doch nicht zu sinnloser Betrunkenheit. Nach
einigen Tagen oder Wochen hört das Trinken plötzlich auf; es stellt
sich unter starkem Ekelgefühl ein bisweilen von Delirien und Sinnes-
täuschungen begleiteter Collapszustand ein, in welchem auch die
körperlichen Folgen der Unmässigkeit, Erbrechen, Appetitmangel,
Magenkatarrh, Unsicherheit der Bewegungen, Zittern, stark hervor-
478
XI. Die allgemeinen Neurosen.
treten. Aus ihm geht der Kranke verhältnismässig gesund hervor
und zeigt oft eine tiefe Reue über das Yorgefallene sowie Abscheu
gegen den Alkohol, aber meist nur eine ziemlich unklare Erinnerung.
Trotz aller guten Vorsätze wiederholen sich die Anfälle in mehr
oder weniger regelmässigen Abständen ohne besonderen äusseren
Anlass in genau gleicher Weise. Die Zwischenzeiten, während derer
die Kranken entweder gar keine oder doch nicht übermässig geistige
Getränke zu sich zu nehmen pflegen, betragen einige Wochen oder
Monate („Quartalsäufer“), seltener Jahre; sie pflegen sich bei längerem
Bestände des Leidens allmählich zu verkürzen, wobei sich zugleich
mehr und mehr eine Herabsetzung der sittlichen Widerstandsfähig-
keit und namentlich auch die körperlichen Zeichen des Alkohol-
missbrauches herausbilden.
Dies ist das eigentliche Bild der Dipsomanie. Von ihm zu der
ersterwähnten Gruppe führt eine ununterbrochene Reihe von Ueber-
gängen, durch welche die innere Uebereinstimmung beider zweifellos
dargethan wird. Eine weitere Bestätigung für diesen Satz wird
durch die Erfahrung geliefert, dass auch bei den Dipsomanen im
engeren Sinne unabhängig vom Alkohol die gleichen Verstimmungen
auftreten wie bei den sonstigen Epileptikern. Endlich aber finden
sich Fälle, bei denen einzelne Anfälle zwar in der Form der Dipso-
manie verlaufen, während andere Male, vielleicht auch nur ein ein-
ziges Mal im Leben, der Rausch unvermuthet in einem epileptischen
Dämmerzustände endigt. Führen hier die Verstimmungen und der
Wunsch, sich Erleichterung zu verschaffen, zum Alkoholmissbrauche,
so sind die Epileptiker auch sonst in grosser Gefahr-, Trinker zu
werden. Ihre Widerstandsfähigkeit gegen den Alkohol pflegt herab-
gesetzt zu sein, so dass leicht schwere Vergiftungserseheinungen
auftreten; ferner haben viele von ihnen, da sie von trunksüchtigen
Eltern abstammen, von Jugend auf durch Vererbung und Erziehung
schon die Neigung zum Trünke. Endlich aber sind sie wegen der
grossen Schwankungen ihrer Arbeitsfähigkeit, die das Leiden bedingt,
in grosser Gefahr, in die Klasse der Landstreicher und Obdachlosen
herabzusinken, bei denen die Verführung zum Trinken eine so ver-
hängnisvolle Rolle spielt.
Mit der Bedeutung des Alkoholmissbrauches für die Erzeugung
der Epilepsie hängt die Thatsache zusammen , dass in den letzten
Jahren bei uns noch nicht 15 °/0 der in die Anstaltsbehandlung
Epileptisches Irresein.
479
gelangten Epileptiker Frauen waren. Bei den Frauen tritt nicht
selten eine Verschlimmerung der epileptischen Zufälle zur Zeit der
Menses ein. In der Schwangerschaft werden Besserungen, aber auch
Verschlimmerungen des Leidens beobachtet; ich sah einmal die
Entwicklung eines Status epilepticus bei einer Schwangeren. Meist
beginnt die Krankheit schon in der Jugend sich zu zeigen; freilich
bleiben die ersten Anzeichen derselben, leichte Ohnmächten, Bett-
nässen, gelegentliches Fortlaufen, Verstimmungen, vielfach unbeachtet,
bis ein stärkerer Krampfanfall, vielleicht nach übermässigem Alkohol-
genusse, die Sachlage klärt. In den Entwicklungsjabren verschlechtert
sich oft die Epilepsie, oder sie tritt erst jetzt deutlicher hervor.
Die ersten Menses geben dazu bisweilen den Anstoss. Andererseits
giebt es auch Formen, welche sich weit später, besonders nach
Infectionskrankheiten (Masern, Scharlach, Typhus) oder gar erst in
den Rückbildungsjahren einstellen, vielleicht im Zusammenhänge
mit den Veränderungen an den Gefässen, wie man gewöhnlich anzu-
nehmen pflegt (Epilepsia tarda, senilis).
Ueber das Wesen der Epilepsie gehen die Anschauungen noch
ziemlich weit auseinander. Zunächst steht es fest, dass in einer
gewissen Anzahl von Fällen gröbere Hirnveränderungen aufgefunden
werden. Wildermuth theilt mit, dass 13,3 °/0 seiner Fälle auf
Polioencephalitis, 5,8 °/0 auf anderweitige Rindenerkrankungen zurück-
zuführen seien. In der That begegnen uns öfters die Reste früherer
Hirnerkrankungen, Hemiparesen, Hemiathetose, Contracturen. Ana-
tomisch entsprechen ihnen Porencephalien, encephali tische Karben,
seltener einmal Missbildungen, multiple Tuberkel, Geschwülste u. s. f.
Aber auch in denjenigen Fällen, die wir als „genuine“ Epilepsie zu
betrachten pflegen (nach Wildermuth 82 °/0), scheinen sich häufig
genug allerlei Veränderungen zu finden, die nicht ohne Beziehung
zu den klinischen Erscheinungen sein dürften. Im Status epilepticus
fand Kazowsky starke Blutüberfüllung, Infiltration der Gefäss-
wandungen und des Hirngewebes mit Leukocythen, zahlreiche Blut-
austritte und Veränderungen an den Nervenzellen. Dass bei der
senilen Epilepsie die Alterserkrankungen der Gefässe wie des Nerven-
gewebes ausgesprochen zu sein pflegen, wurde soeben angedeutet.
Chaslin hat ferner bei der Epilepsie eine weit verbreitete Ver-
mehrung und Verdickung der Gliafasern nachgewiesen, die vorzugs-
weise die oberen Rindenschichten betraf und sich an einzelnen
480
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Stellen strudelförmig in die Rinde hi nein erstreckte. Ebenso fand
Bleuler bei 26 Epileptikern mit chronischer Verblödung regelmässig
eine sehr auffallende Wucherung der Glia in den obersten Rinden-
schichten („Randgliose“).
Andererseits liegen von zahlreichen Beobachtern Angaben über
sklerotische Veränderungen am Ammonshorn der Epileptiker vor,
die allerdings bisher noch wenig mit feineren Methoden nachgeprüft
wurden. Bratz konnte neuerdings feststellen, dass von 32 „genuinen-
Epileptikern 14 in der That auch mikroskopisch eine meist einseitige,
ausserordentlich gleichförmige Erkrankung des Ammonshoms dar-
boten, „Atrophie der Zellen eines bestimmten Gebietes und Erfüllung
des betroffenen Raumes mit feinfasriger NeurogliaF Nissl. der
freilich nur wenige Fälle untersuchen konnte, ist zu der Ansicht
gekommen, dass die Erkrankung des Ammonshomes nur die beson-
ders leicht erkennbare Theilerscheinung einer allgemeineren Er-
krankung der gesammten Rinde bedeute, bei der zunächst am meisten
das Auftreten zahlreicher und stark entwickelter Spinnenzellen,
besonders in den oberen Rindenschichten, ins Auge fällt. Auch die
Nervenzellen erwiesen sich in weitem Umfange, aber in verschie-
dener Weise und in sehr verschiedenem Grade erkrankt, vielleicht
auch das zwischen ihnen liegende Grau; ebenso zeigten die Gefässe
ausgebreitete Veränderungen. Eine irgend befriedigende Deutung
lassen leider alle diese Befunde zur Zeit noch nicht zu, doch dürfen
wir wol annehmen, dass der Verblödung der Epileptiker eine allge-
meine uud schwere Erkrankung der Hirnrinde entspricht.
Eine andere Frage ist es, wie sich die eigentümliche Periodi-
cität der epileptischen Störungen erklärt. Man kann hier auf die
Thatsache hinweisen, dass in unserem Nervensystem offenbar eine
Reihe von Einrichtungen vorhanden sind, die eine periodische Ent-
ladung von dauernd einwirkenden Reizen vermitteln. Ausser den
vielfachen Thatsachen des gesunden Lebens sei hier nur die Erfah-
rung genannt, dass auch in den Endzuständen der Dementia praecox
oft eine bemerkenswerte Regelmässigkeit der Erregungen beobachtet
wird. Man hat indessen bei der Epilepsie vielfach versucht, den
Schwankungen in den körperlichen Zuständen nachzugehen, um
dadurch einen Einblick in das Zustandekommen des epileptischen
Anfalles zu gewinnen. Vor allem ist nach Giften gefahndet worden,
die sich im Körper der Epileptiker bilden oder zu gewissen Zeiten
Epileptisches Irresein.
481
anhäufen sollten. Zunächst hat Yoisin nachgewiesen, dass nach
dem epileptischen Anfalle, besonders, wenn eine Reihe derselben
auf einander folgen häufig Eiweiss im Harn auftritt. Er stellte
ferner fest, dass der Harn der Epileptiker vor den Anfällen
eine geringere, nach denselben eine grössere Giftigkeit für
Kaninchen besass, als in den anfallsfreien Zeiten. Agostini*)
fand den Harn unmittelbar vor und nach dem Anfalle am giftigsten.
Haig**) kam zu dem Ergebnisse, dass vor dem Anfalle weniger,
nach demselben aber mehr Harnsäure ausgeschieden werde, als
sonst; er meint daher, dass ein Ueberschuss von Harnsäure im
Blute zu einer Verengerung der kleinen Gefässe und damit zu einer
Steigerung des Blutdruckes führe, der dann den Anfall auslöse. Zu
noch genaueren Vorstellungen ist Krainsky***) gelangt, der die
periodische Anhäufung von carbaminsaurem Ammoniak mit Be-
stimmtheit für die Entstehung der epileptischen Anfälle verantwort-
lich macht; er weist es nicht nur im Blute der Epileptiker nach,
sondern konnte auch bei Thieren epileptische Anfälle durch Ein-
spritzung jenes Körpers erzeugen. Im Anfalle soll das carbamin-
saure Ammoniak in Harnstoff und Wasser zerfallen, von dem der
erstere in Form von Harnsäure im Harn erscheint. Es gelang ihm
geradezu, aus der Verminderung oder Vermehrung der Harnsäure-
ausscheidung die Anfallstage zu bezeichnen oder vorherzusagen.
Der Anfall bildet also gewissermassen ein Sicherheitsventil gegen
die Anhäufung des Giftes im Blute.
Vorster fand bisweilen nach den Anfällen eine Erhöhung des
specifischen Blutgewichtes und eine Zunahme des Hämoglobingehaltes,
während F6re umgekehrt von einem Sinken dieses letzteren berichtet.
Vermehrte Giftigkeit des Blutplasmas nach dem Anfalle führt Agostini
an, ferner Vermehrung des Salzsäuregehaltes im Magensafte, abnorme
Gährungsproducte, Herabsetzung der Verdauungskraft, der Empfind-
lichkeit, der Beweglichkeit, der Aufsaugungsfähigkeit des Magens.
Vor dem Anfalle, noch mehr aber kurz nachher, war der Magensaft
in erhöhtem Maasse giftig. Cabittof) fand, dass Blutserum von
*) Eivista sperimentale di freniatria, XXII, 267.
**) Brain, 1896, 1.
***) Allgem. Zeitachr. f. Psychiatrie, LIV, 612.
t) Eivista sperimentale di freniatria, XXIII, 36.
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Auü. II. Band.
31
482
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Epileptikern bei Kaninchen Krämpfe hervorrief; der Schweiss der
Kranken erzeugte ebenfalls Krämpfe, um so stärker, je näher der
Anfall war. Abnorme Bestandteile, Aceton, Indican, die auf krank-
hafte Zersetzungen im Körper hindeuten, sind auch von anderen
Forschern nachgewiesen worden.
Wenn sich die hier angeführten Erfahrungen bestätigen, so
würde die Epilepsie, wenigstens in manchen Fällen, als eine Stoff-
wechselkrankheit anzusehen sein, bei der sich giftige Zersetzungs-
stoffe im Blute anhäufen, die dann vielleicht als die näheren Ur-
sachen des Anfalles zu betrachten wären. Für diese Auffassung
wird namentlich auch die Beobachtung ins Feld geführt, dass die
Anfälle vielfach von Erscheinungen begleitet sind, die auf eine Ver-
giftung hindeuten, Hinfälligkeit, Schläfrigkeit, Kopfschmerzen, Auf-
stossen, Erbrechen, Zungenbelag, Darmstörungen. Aus dem Schwinden
oder Fortbestehen dieser Zeichen soll man schliessen können, ob
eine Reihe von Anfällen abgeschlossen ist oder nicht Ferner wäre
darauf hinzu-weisen , dass wir gerade bei so manchen chronischen
Vergiftungen, vor allem durch Alkohol und Blei, bei der Urämie u. s. f.,
epileptische Anfälle auftreten sehen. Allerdings wird es wol immer
nur ein Theil der Fälle sein, auf den die toxische Erklärung passt.
Wo wir umschriebene Himerkrankungen antreffen, bedürfen wir
jener letzteren kaum. Aber auch sonst bietet sie uns noch viele Schwie-
rigkeiten. Wollen wir auch die nachgewiesenen allgemeinen Hirn-
veränderungen auf chronische Giftwirkungen zurückführen, so bleibt
doch die Periodicität der Anfälle, die anscheinende Aufspeicherung
des Giftes im Körper bis zu einem gewissen Zeitpunkte noch räthsel-
haft, ebenso die Erblichkeitsbeziehung der Epilepsie zu anderen
Geistes- und Nervenkrankheiten. Gerade diese letztere Thatsache
scheint mir sehr dafür zu sprechen, dass doch in den Zuständen
des Nervengewebes die eigentliche und letzte Ursache für die eigen-
artigen Krankheitsäusserungen liegt, die wir unter dem Namen der
Epilepsie zusammenfassen.
Die Prognose des epileptischen Irreseins hängt sehr wesentlich
von der Ursache des Leidens und von dem Zeitpunkte- seines Auf-
tretens ab. Wo gröbere Hirnerkrankungen zu Grunde liegen, ist
natürlich eine Besserung nicht zu erwarten; im Gegentheil beob-
achtet mau vielfach sogar ein allmähliches Fortschreiten der geistigen
Schwäche. Dagegen kann die selbständige Epilepsie heilen und ist
Epileptisches Irresein.
483
auch häufig der Behandlung bis zu einem gewissen Grade zugäng-
lich, die Alkoholepilepsie und die dipsomanischen Störungen sogar
in ziemlich hohem Maasse. Die schweren postepileptischen stupo-
rösen und deliriösen Zustände pflegen sich besonders gern nach
Reihen von starken Krampfanfällen einzustellen, während sich die
rein psychischen Anfälle mehr mit den leichteren, besonders auch
mit den nach Kopfverletzungen auftretenden Formen der Epilepsie
zu verbinden scheinen. Die Gefahr des epileptischen Schwachsinns
ist im allgemeinen geringer bei den örtlich umgrenzten Formen,
doch können auch diese sich allmählich zu allgemeiner Epilepsie
weiter entwickeln und dann zur Verblödung führen. Am schlimmsten
sind die Fälle mit häufigen und schweren allgemeinen Krämpfen,
vor allem, wenn das Leiden in frühem Lebensalter auftritt. Auch
abgesehen von den beträchtlichen Hindernissen, welche die Krank-
heitserscheinungen selbst der geistigen Ausbildung entgegensetzen,
bleibt hier die gesammte psychische Entwicklung regelmässig zurück,
oft sogar auf den niedrigsten Stufen. Weit seltener und wol nur
bei den leichten Formen der Epilepsie kann sich die Störung auf
das gemüthliche Verhalten beschränken, während die Kranken ver-
standesmässig normal oder sogar besonders gut veranlagt sind. An-
dererseits giebt Fer6 an, dass sich in höherem Alter die Verblödung
auffallend rasch einstellen könne, bisweilen ziemlich plötzlich nach
einem bestimmten Anfalle. Selbstverständlich ist bei allen Epileptikern
auch das Leben in hohem Maasse gefährdet, sei es durch die Ver-
letzungen im Anfalle, sei es durch Selbstmordversuche und Unglücks-
fälle, sei es endlich durch die Entwicklung eines Status epilepticus.
Worcester fand, dass unter 70 Epileptikern nicht weniger als 45
in Folge ihrer Anfälle zu Grunde gingen.
Die Epilepsie ist, wie so viele unserer Krankheitsbezeichnungen,
heute noch ein Sammelbegriff, dessen Umfang nicht genau feststeht.
Ganz allgemein hat man sich indessen gewöhnt, die auf gröberen
Herderkrankungen beruhenden Formen von der eigentlichen, „ge-
nuinen“ Epilepsie abzutrennen. Klinisch unterscheiden sie sich
namentlich durch das Auftreten solcher Erscheinungen, die auf einen
bestimmten Sitz des Leidens in der Hirnrinde hindeuten, seien es
dauernde Reizungen oder Lähmungen, seien es Herdzeichen, die dem
Anfalle selbst unmittelbar vorangehen oder folgen. Es zeigt sich
jedoch bei genauerer Betrachtung, dass die Grenzen zwischen der
31*
484
XI. Die allgemeinen Neurosen.
allgemeinen und der Örtlich umgrenzten oder Rindenepilepsie keines-
wegs scharfe sind. Namentlich kommt es häufig vor, dass die
ursprünglich umgrenzten Krankheitserscheinungen sich allmählich
ausdehnen, dass sich zwischen Anfälle zweifellos umschriebenen
Sitzes andere von ganz allgemeiner Ausbreitung einschieben.
Eine zweite umstrittene Gruppe von epileptischen Erscheinungen
sind diejenigen, die bei chronischen Vergiftungen auftreten. So
weit wir es hier nicht einfach mit der Erweckung einer schlum-
mernden epileptischen Anlage zu thun haben, scheinen diese Fälle
eine Sonderstellung einzunehmen, die sich klinisch darin ausdrückt,
dass bei ihnen zwar schwere Krampfanfälle häufig sind, dass aber
die übrigen Gestaltungen der Epilepsie, insbesondere die Geistes-
störungen, ganz in den Hintergrund treten, vielleicht sogar in ihrer
besonderen Eigenart völlig fehlen. Andererseits vertritt F6r6 den
Standpunkt, dass die Eklampsie, die wir auf urämische Vergiftung
zurückzuführen pflegen, nichts sei, als gewöhnliche Epilepsie, für die
das Wochenbett nur die Rolle einer auslösenden Ursache spiele.
Ein abschliessendes Urtheil über diese Umgrenzungsfragen ist zur
Zeit noch nicht möglich.
Sehen wir von diesen grundsätzlichen Schwierigkeiten ab, so
wird die Erkennung einer epileptischen Geistesstörung im allgemeinen
leicht sein, sobald man Gelegenheit hat, das Vorhandensein der kennzeich-
nenden Krämpfe festzustellen, deren unterscheidende Eigentümlich-
keiten wir bei Besprechung der hysterischen Anfälle aufzuführen haben
werden. Bei der Epilepsia tarda allerdings ist es notwendig, die
Möglichkeit einer Paralyse in Erwägung zu ziehen, die bisweilen
mit epileptiformen Anfällen beginnt. Die Beachtng der sonstigen
paralytischen Krankheitszeichen wird hier meist rasch Klarheit bringen.
Die epileptischen Erregungen werden durch das Fehlen der Ideen-
flucht von den manischen Zuständen leicht unterschieden. Dagegen
können bei der Abgrenzung von den Aufregungen und Stupor-
zuständen der Dementia praecox Schwierigkeiten entstehen, zumal
auch hier epileptiforme Anfälle Vorkommen. Wir haben die unter-
scheidenden Merkmale bei der Besprechung jener Krankheit bereits
aufgeführt. Besonderes Gewicht ist auf die Vorgeschichte zu legen,
den Nachweis einzelner Schwindel- oder Ohnmachtsanfälle, perio-
discher Verstimmungen, ferner auf solche Anzeichen, die nächtliche
Anfälle wahrscheinlich machen, zeitweises Bettnässen, Zungenver-
Epileptisches Irresein.
485
letzimgen, das gelegentliche Gefühl starker Abspannung oder heftiger
Kopfschmerzen am Morgen. Der epileptische Schwachsinn unter-
scheidet sich von den Endzuständen der Dementia praecox vor allem
durch das Fehlen des Negativismus, der Stereotypie, der Schrullen
und Manieren. Die Kranken fassen schlechter auf, sind ungemein
schwerfällig in ihrem Denken, aber nicht so verworren wie jene
letzteren; sie sind dauernd reizbarer, gewaltthätiger, im Gegensätze
zu den selteneren und harmloseren Erregungen bei verblödeten
Hebephrenen und Katatonikern.
Allein selbst nach Abrechnung aller derjenigen Fälle, in denen
man an der Hand der aufgeführten Gründe zur Annahme eines
epileptischen Irreseins geführt wird, bleiben noch eine Reihe von
Beobachtungen übrig, deren klinisches Bild genau demjenigen des
epileptischen Irreseins entspricht, ohne dass doch irgend eines der
gewohnten Zeichen der epileptischen Neurose nachweisbar wäre.
Einige Forscher, vor allem der um die Kenntniss der epileptischen
Psychosen so sehr verdiente Samt*), sind so weit gegangen, auch
hier aus allgemeinen Gründen eine epileptische Ursache vorauszu-
setzen. Der psychisch -epileptische Anfall wurde von Samt ge-
wissermassen als ein Aequivalent des Krampfanfalles betrachtet,
und jene zweifelhaften Formen waren ihm daher nichts Anderes, als
Epilepsie, bei welcher sämmtliche Krampfanfälle in psychisch-epilep-
tische Aequivalente umgewandelt sind.
Auf Grund meiner eigenen Erfahrungen bin ich geneigt, einer
solchen Auffassung durchaus zuzustimmen. Wenn wir uns gewöhnt
haben, als das eigentliche Kennzeichen der Epilepsie den Krampf-
anfall zu betrachten, so ist zu bedenken, dass einerseits durchaus
nicht alle epileptiformen Anfälle wirklich Epilepsie bedeuten, und
dass es andererseits zahlreiche Fälle giebt, in denen alle sonstigen
Erscheinungsformen der Epilepsie auf das schönste ausgebildet sind,
während Krämpfe vollkommen fehlen. Endlich lehrt die Erfahrung,
dass von diesen letzterwähnten Fällen alle denkbaren Uebergänge
zu denjenigen hinüberführen, welche den ganzen Formenreich thum
der epileptischen Anfälle gleichzeitig darbieten. Ich kannte einen
Kranken, der häufig in epileptischen Stupor verfiel, aber niemals
Krämpfe und nur zweimal kurzdauernde Ohnmächten gehabt hatte.
*) Archiv für Psychiatrie, Y u. VI.
486
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Ein anderer bot in ausgeprägtester Form die epileptische Charakter-
, Veränderung, ferner die periodischen Verstimmungen mit heftigen Ge-
walthandlungen, endlich krankhafte Rauschzustände dar, hatte aber nur
ein einziges Mal eine Ohnmacht und einmal einen Anfall von Nacht-
wandeln, dagegen niemals Krämpfe. Diese Beispiele, deren Zahl
sich leicht beliebig vermehren Hesse, sind es gewesen, welche mich
zu der Anschauung geführt haben, dass der Krampf zwar ein wich-
tiges, aber doch nur ein Zeichen der Epilepsie darstellt, und dass
wir berechtigt sind, auch dort Epilepsie anzunehmen, wo nur eine
oder mehrere der übrigen Erscheinungsformen der Epilepsie nach-
weisbar sind.
Diese Erweiterung der Begriffsbestimmung ist zunächst von
Bedeutung für die Auffassung der Dipsomanie. Es giebt ohne
Zweifel Periodentrinker, welche zugleich einzelne epileptische Krampf-
anfälle darbieten. In der Regel aber ist das nicht der Fall. Viel-
mehr erkranken vorzugsweise solche Personen dipsomanisch, bei
denen sich die Epilepsie in Form von periodischen Verstimmungen
äussert. In einer Reihe von Fällen kommt es ausserdem, wie oben
ausgeführt, unter dem Einflüsse des Alkohols zu Anfällen, wie sie
uns von der Epilepsie bekannt sind, zu schweren Ohnmächten und
Dämmerzuständen. Sobald man sich einmal daran gewöhnt hat, als
gleichberechtigte Formen der Epilepsie neben den Krämpfen und
Ohnmächten ebenso die periodischen psychischen Störungen, die
Dämmerzustände wie die plötzlichen Verstimmungen anzusehen,
erkennt man unschwer die Zusammengehörigkeit der hier vereinigten
Krankheitsbilder, welche überall neben und für einander auftreten
können.
Zugleich wird diese Auffassung uns noch über eine andere
Schwierigkeit hinweghelfen, die ebenfalls zur Aufstellung einer neuen
Krankheitsform geführt hat. Die Epilepsie ist eine periodische Krank-
heit. Man hat daher Bedenken getragen, solche Fälle derselben zu-
zurechnen, in denen bei Fehlen sonstiger epileptischer Krankheits-
zeichen nur ein einziges Mal im Leben ein Dämmerzustand be-
obachtet wurde. Vielmehr hat man eine besondere Krankheit,
die „Mania transitoria“*), besser vielleicht das Delirium transitorium,
*) Schwartzer, die transitorische Tobsucht. 18S0; Yenturi, le pazzie
transitorie. 1888; v. Kraffl-Ebing, Psychiatrische Arbeiten, I, 1.
Epileptisches Irresein.
487
angenommen, v. Krafft-Ebing spricht auch von transi torischem
Irresein bei Neurasthenie und scheint dabei namentlich die milder
verlaufenden Anfälle im Auge zu haben. Es handelt sich hier um
einen mehr oder weniger heftigen Aufregungszustand mit traumhafter
Trübung des Bewusstseins, der sehr rasch verläuft und keinerlei
Erinnerung hinterlässt. Kleine Alkoholmengen und voraufgehende
Gemiithsbewegungen scheinen die günstigen Bedingungen für den
Ausbruch der Krankheit abzugeben. Klinisch geht die Ueberein-
stimmung mit epileptischen Dämmerzuständen offenbar bis in die
kleinsten Einzelheiten. Ich halte es daher nicht für möglich, solche
Fälle von der Epilepsie zu trennen. Ganz abgesehen davon, dass
jene kleinen, gelegentlichen Zufälle, die wir sonst als Zeichen der
Epilepsie anerkennen, namentlich die viel zu wenig beachteten perio-
dischen Verstimmungen, sehr leicht übersehen oder vergessen werden
können, ist es durchaus denkbar, dass ein an sich periodisches
Leiden bei weniger ausgeprägter Veranlagung nur unter ganz be-
sonders ungünstigen Umständen einmal zum Ausbruche gelangt.
Wie es Epileptiker giebt, die neben unscheinbaren Störungen etwa
nur ein einziges Mal einen Krampfanfall erleiden, so kann wol auch
nur einmal ein Dämmerzustand auftreten. Meist werden dann frei-
lich andere Zeichen der Epilepsie deutlicher ausgeprägt sein. Es
ist aber gewiss möglich, dass in seltenen Fällen ganz allein jener
Dämmerzustand die schlummernde epileptische Veranlagung anzeigt.
In einem von mir lange Zeit beobachteten derartigen Falle stellte
sich übrigens heraus, dass ausser dem schweren Dämmerzustände
wahrscheinlich mehrfach krankhafte Rauschzustände dagewesen waren,
und dass von Jugend auf gut gekennzeichnete periodische Ver-
stimmungen bestanden hatten; später treten dann noch mehrfach
leichtere Dämmerzustände auf.
Die Bekämpfung der Epilepsie hat vor allem mit der Vor-
beugung zu beginnen. Der Weg wird uns hier durch die erblichen
Beziehungen der Krankheit zum Alkoholismus gewiesen. Wenn wir
bedenken, dass auf 1000 Menschen mindestens 1 — 2 Epileptiker
kommen, und dass nahezu 1/i derselben von trunksüchtigen Eltern
erzeugt wurden, so wird das für uns Aerzte ein neuer Antrieb sein,
mit allen Kräften die Verbreitung des furchtbaren Volksgiftes zu
bekämpfen, das nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft
vernichtet. Weiterhin wird unsere Aufgabe die ursächliche Behänd-
488
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Jung des einzelnen Falles sein, wie sie bald in der Trepanation
(Knocheneindrücke am Schädel, corticale Herderkrankungen), bald
(Reflexepilepsie) im Ausschneiden von Narben, der Beseitigung
cariöser Zähne, dem Ausbrennen der Nase, bald auch (Gummata,
Periostitis) in einer antiluetischen Cur zu bestehen hätte. Meist
werden dadurch allerdings nur vorübergehende Erfolge erzielt Selbst
in Fällen, die sich zweifellos an Kopfverletzungen angeschlossen
haben, scheint nach längerem Bestehen des Leidens die Aussicht
gering zu sein, durch Ausschneidung von Narben oder Knochen-
splittern dauernde Heilung zu erzielen, eine Erfahrung, die sehr für
das Bestehen oder die allmähliche Entwicklung einer allgemeinen
epileptischen Veränderung in solchen Hirnen spricht. Andererseits
sieht man auch ohne sonstige Eingriffe am Hirn die einfache
„Lüftung“ durch die Trepanation bisweilen eine Zeit lang günstig
wirken*)-
Eine ganz besondere Wichtigkeit möchte ich in der Be-
handlung der Epilepsie aus früher erörterten Gründen der Durch-
führung dauernder und vollständiger Enthaltsamkeit gegen-
über dem Alkohol auch in jenen Fällen beilegen, in denen es
sich nicht um eine eigentliche Alkoholepilepsie handelt. Jeder Epi-
leptiker ist in höherem oder geringerem Grade intolerant gegen
Alkohol und ist, wie ich glauben muss, in Gefahr, durch denselben
gelegentlich in schwere geistige Störung zu verfallen, sich selbst
und Anderen in hohem Grade gefährlich zu werden. Namentlich
gilt jene Forderung natürlich für die Dipsomanie, bei welcher ihre
unbedingte Durchführung das einzige, aber öfters erstaunlich günstig
wirkende Heilmittel bildet. Wie ich in einer Reihe von Fällen be-
obachtet habe, verlaufen die hier so gefährlichen Verstimmungen
ohne Alkohol nicht nur ganz harmlos, sondern sie werden auch nach
und nach seltener und unbedeutender und können sich, wie es
scheint, allmählich fast ganz verlieren.
Eine ganze Reihe von Behandlungsvorschlägen haben sich
an die Anschauungen über die Verursachung der Epilepsie durch
Selbstvergiftung angeknüpft Um die Gifte im Magen und Ver-
dauungskanal zu beseitigen, sind Magen- und Darmausspülungen, Ab-
führmittel, innerliche Desinfectionsmittel (/S-Naphthol, Salol, Ca-
*) J o 1 1 y , Charitearm alen, XX.
Epileptisches Irresein.
489
lomel) empfohlen worden. Ferner soll die Harnausscheidung durch
reichliches Trinken von Wasser, schwachem Thee, Kochsalzlösungen
angeregt werden, die Schweissabsonderung durch heisse Luftbäder.
Um den Stoffwechsel dauernd günstig zu beeinflussen und nament-
lich die Bildung reichlicher Harnsäure zu verhindern, giebt Haig
eine wesentlich pflanzliche Nahrung, Milch, Mehlspeisen, Gemüse,
und vermeidet ausser Fleisch auch Thee, Kaffee und Bouillon.
Agostini wiederum befürwortet mehr gemischte Kost, da er
von einseitiger Pflanzennahrung verderbliche Magenstörungen er-
wartet. Trotz so mancher Unklarheiten scheint übrigens die Ver-
meidung allzu reichlicher Fleischkost für Epileptiker thatsächlich
vortheilhaft zu sein.
Die Anfälle selbst hat man mit zahllosen Mitteln bekämpft.
Allerdings könnte man zweifelhaft sein, ob dieses Bestreben zweck-
mässig ist, wenn die Anfälle wirklich Sicherheitsventile vorstellen
und das angesammelte Gift vernichten. Vielleicht geschieht aber
die Verringerung der Anfälle überhaupt nur durch Beseitigung ihrer
Ursache. Von einer Aufzählung aller Mittel, die man zu jenem
Zwecke angewendet hat, dürfen wir hier absehen; nur der Borax,
der bei geringem Nutzen schwere Verdauungsstörungen, Haut-
erkrankungen und Nierenentzündungen erzeugt, das Argentum
nitricum, das Bromäthyl, das Atropin und das von verschiedenen
Seiten gerühmte Zinkoxyd (steigende Gaben von 0,06 gr an) sollen
hier kurz erwähnt werden. Von Wildermuth sind ferner die
Ueberosmiumsäure und namentlich das Amylenhydrat empfohlen
worden, das in Gaben von 5 — 8 gr täglich Zahl und Stärke der
epileptischen Anfälle herabzusetzen scheint. Besonders gute Dienste
soll es neben dem Chloralhydrat in der Behandlung des Status
epilepticus leisten, den man ausserdem durch verlängerte heisse
Bäder, Kochsalzinfusionen, unter Umständen durch Aderlass be-
kämpfen kann.
Bei weitem die wirksamsten Mittel in der Behandlung der Epi-
lepsie sind jedoch immer noch die Bromsalze, die hier zum ersten
Male im Jahre 1851 von Locock angewendet wurden. Wir geben
sie zu 5 — 6 gr täglich, einzeln oder in Form des Erlenmeyer-
schen Gemisches, doch sind schon viel grössere Gaben, bis zu 30 gr.
verordnet und anscheinend auch vertragen worden. Wollen wir
Erfolge erzielen, so muss das Brom ganz planmässig möglichst lange
490
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Zeit hindurch genommen werden. Man nimmt an, dass durch das
Schwinden des Rachenreflexes der Zeitpunkt gekennzeichnet werde,
an dem der Körper mit Brom gesättigt ist. Bei längerer Dar-
reichung von Brom in grösseren Gaben wird das Mittel im Körper
aufgespeichert, vielleicht, indem es an Stelle des Chlornatrium tritt,
das nach Laudenheimers Angaben in grösseren Mengen ausge-
schieden wird. Im weiteren Verlaufe pflegen dann die Erscheinungen
der Bromvergiftung her vorzutreten , Acne, Verdauungsstörungen,
bronchitische Erkrankungen, Herzschwäche, Schläfrigkeit, Gedächtnis-
schwäche, Benommenheit. Durch fleissiges Baden kann man das
Auftreten der Acne einigermassen hintanhalten; auch die neueren
Ersatzmittel, das Bromalin und Bromipin (Merck), sollen weniger
leicht Vergiftungserscheinungen herbeiführen. Bei schwererem Bro-
mismus ist es unbedingt geboten, sofort, aber langsam mit der
Arzneigabe herunterzugehen. Es gelingt aber bei gehöriger Vorsicht
meist, den Kranken mittlere Bromgaben, nach Umständen mit kurzen
Unterbrechungen, Jahre lang zuzuführen. Hier kommt es in ein-
zelnen Fällen vor, dass die epileptischen Störungen nicht nur gänz-
lich verschwinden, sondern auch nach dem Aussetzen des Mittels
nicht wiederkehren, so dass man von wirklichen Heilungen sprechen
kann. Meistens wird wenigstens eine erhebliche Besserung erreicht,
doch dauert der Erfolg in der Regel allerdings nur so lange und
vielleicht noch nicht einmal so lange 'wie die Darreichung des Heil-
mittels.
Nach dem Aussetzen kommt es nicht selten vor, dass sich die
Krämpfe und mit ihnen auch die psychischen Störungen rasch
wesentlich verschlimmern. Ausserdem sah ich zweimal gerade unter
dem Einflüsse des Bromkalium einen wahren Status epilepticus sich
entwickeln, der erst nach Ersetzung des Mittels durch Atropin
wieder schwand, und endlich wurden in einem von mir beobachteten
Falle zwar die Anfälle durch das Bromkalium vorübergehend be-
seitigt, doch stellten sich statt ihrer ungemein heftige Aufregungs-
zustände mit leichter Bewusstseinstrübung ein, welche mich die
Krämpfe zurückwünschen und die eingeleitete Cur aufgeben Hessen.
Indessen auch abgesehen von derartigen Zwischenfällen bleiben die
Bromsalze in einer gewissen Zahl von Fällen, die nach den Angaben
von Bratz zwischen 4 und 36 °/0 schwankt, ohne Wirkung. Man
hat daher das Mittel mit verschiedenen anderen verbunden, nament-
Epileptisches Irresein.
491
lieh mit Adonis vernalis (0,3 --0,6 gr täglich als Infas nach Bech-
terew), Digitalis, Codein, Belladonna, Chloralhydrat, oder man hat
die Wirkung durch Abwechselung mit anderen Arzneien zu erhöhen
gesucht. So wurde von Möli das Brom zeitweilig durch Atropin
ersetzt, während Flechsig*) die planmässige Folge von Opium und
Brom in solchen Fällen empfohlen hat, in denen die einfache Brom-
behandlung keinen Nutzen zeigt Man soll zunächst 6 Wochen lang
Opium in steigender Gabe bis zu 1 gr täglich verabreichen, dann
plötzlich dieses Mittel durch 8 gr Bromsalz täglich ersetzen. Durch
Darmausspülungen und diätetische Massregeln, namentlich aber durch
strenge Bettbehandlung soll die Cur unterstützt werden; die Kranken
müssen unter genauester ärztlicher Aufsicht bleiben. Die bisherigen
Berichte über diese Behandlung gehen ziemlich weit auseinander.
Wie es scheint, können sich recht ernste Erscheinungen einstellen.
Während der Opiumbehandlung sinkt das Körpergewicht bedeutend;
die Kranken können nicht warm werden, verlieren die Esslust;
mehrfach traten Delirien, Status epilepticus und selbst tödtliche
Collapse auf. Andererseits wurden einzelne Kranke erheblich ge-
bessert, bei denen andere Behandlungen ohne Erfolg gewesen waren.
In symptomatischer Beziehung erheischen die epileptischen
Dämmerzustände eine äusserst sorgfältige Ueberwachung der Kranken
wegen der grossen Gefahr, welche dieselben für sich und ihre Um-
gebung bedeuten. Epileptiker mit häufigen Dämmerzuständen be-
dürfen der Anstaltsfürsorge ebenso wie jene zahlreichen geistigen
Krüppel und Halbkrüppel, denen das Leiden die Möglichkeit zu
regelmässiger und lohnender Erwerbsthätigkeit raubt. In neuester
Zeit ist auch auf diesem Gebiete der öffentlichen Fürsorge die Lö-
sung der vorliegenden Aufgaben in Angriff genommen worden. Den
ersten praktischen Versuch einer Epileptikeranstalt in grösstem Maass-
stabe hat Pastor v. Bodelschwingh in Bielefeld gemacht. Leider
ist indessen schon jetzt erkennbar, dass hier die Wohlthaten des
Krankenhauses durch eine specifisch theologische Auffassung und
Behandlung der ohnedies zur Frömmelei neigenden Kranken vielfach
*) Neurolog. Centralblatt, 1898, 230; 1897, 50; Salzburg, Ueber die Be-
handlung der Epilepsie, insbesondere mit Opium -Brom nach Flechsig, Diss.
1894; Linke, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, UI, 753; Pollitz ebenda, LIII,
377; Bratz, ebenda UV, 208.
492
XI. Die allgemeinen Neurosen.
beeinträchtigt werden. Dagegen verdanken wir den wenigen unter
ärztlicher Leitung stehenden Epileptikeranstalten schon jetzt eine
Reihe werthvoller Aufschlüsse über Wesen und Behandlung der
Epilepsie, die uns sicherlich dem Ziele einer wirksamen Bekämpfung
dieser furchtbaren Krankheit näher führen werden.
B. Das hysterische Irresein.
Wenn es heute kaum möglich erscheint, eine knappe und scharfe
Begriffsbestimmung der Hysterie*) im allgemeinen aufzustellen, so
tritt uns diese Schwierigkeit in fast noch höherem Grade entgegen
heim Hinblicke auf das hysterische Irresein. Wir geben gelegent-
lich einer ganzen Reihe von krankhaften Seelenzuständen den Bei-
namen des „Hysterischen,“ ohne immer mit genügender Klarheit die
Begründung desselben durchführen zu können. Ja, es kann kaum
in Abrede gestellt werden, dass vielfach ein nicht zu rechtfertigender
Missbrauch mit der verallgemeinerten Anwendung jener Bezeichnung
getrieben worden ist. Als wirklich einigermassen kennzeichnend für
alle hysterischen Erkrankungen dürfen wir vielleicht die ausser-
ordentliche Leichtigkeit und Schnelligkeit ansehen, mit
welcher sich psychische Zustände in mannigfaltigen
körperlichen Störungen wirksam zeigen, seien es Anaesthesien
oder Paraesthesien, seien es Ausdrucksbewegungen, Lähmungen,
Krämpfe oder Secretionsanomalien.
Die eigentliche Grundlage dieser krankhaften Veränderung haben
wir höchst wahrscheinlich in das Gebiet der Gefühle zu verlegen.
Wir wissen wenigstens, dass von dieser Seite her schon beim ge-
sunden Menschen ein sehr bedeutender, vielfach dem Willen ent-
zogener Einfluss auf die Zustände unseres Körpers ausgeübt wird-
Dem entsprechend pflegen auch Verstand und Gedächtniss der
Hysterischen keine auffallenderen Störungen darzubieten. Allerdings
begegnet uns nicht selten eine besonders starke Empfänglichkeit Die
*) Möbius, Schmidts Jahrbücher 199, 2, S. 185 (Literatur); Neurologische
Beiträge I; Pitres, lejons cliniques sur l’hysterie et l’hypnotisme. 1891; Gilles
de la Tourette, traite clinique et thörapeutique de l'hysterie. lS91;Janet, Der
Geisteszustand der Hysterischen (die psychischen Stigmata). 1894; Soll ier, genese
et nature de l’hystörie. 1897; Ziehen, Eulenburgs Realencyclopaedie,
3. Auflage.
Hysterisches Irresein.
493
Kranken fassen vortrefflich auf, beobachten gut, haben ein scharfes
Auge für Kleinigkeiten, namentlich auch für die Schwächen ihrer
Umgebung. Einzelne Kranke zeigen geradezu hervorragende Be-
gabung, wenigstens nach gewissen, namentlich künstlerischen Rich-
tungen hin; in anderen Fällen freilich bestehtim Gegentheil geistige
Dürftigkeit und Gedankenarmuth. Yielfach überrascht im ersten
Augenblicke eine grosse geistige Lebendigkeit und Regsamkeit. Bei
näherer Bekanntschaft pflegt sich aber herauszustellen, dass sich mit
derselben Ablenkbarkeit, Oberflächlichkeit des Urtheils und Leicht-
gläubigkeit verbindet. Die Kranken sind unbeständig in ihrem
Interesse, gehen nirgends in die Tiefe, urtheilen wesentlich nach
Aeusserlichkeiten, ersten Eindrücken, zufälligen Nebenumständen.
Alles Neue hat für sie einen besonderen Reiz; sie geben sich ihm
um so lieber und um so urtheilsloser hin, je mehr es mit dem All-
täglichen und Gewohnten im Widerspruche steht. Ungewöhnliche,
äusserlich wirkungsvolle Persönlichkeiten und Begebenheiten pflegen
daher auf sie einen grossen Eindruck zu machen. Wegen dieser
ihrer blinden Empfänglichkeit sind Hysterische zu allen Zeiten die
ersten Gläubigen und begeistertsten Vorkämpfer für Wunder-
geschichten der verschiedensten Art gewesen, namentlich auch auf
religiösem Gebiete. Nur allzu häufig entspringt ferner aus diesen
Eigenthümlichkeiten eine starke Neugier, die Neigung, sich um fremde
Angelegenheiten zu bekümmern, die Freude am Klatsch, am Skandal,
an öffentlichen Schaustellungen, aufregender Lectüre und nerven-
kitzelnden Genüssen aller Art.
Die Erinnerung ist bei unseren Kranken im allgemeinen treu,
aber nicht selten ungemein einseitig. Wahrnehmung und Deutung
werden nicht immer scharf auseinandergehalten. In einzelnen Fällen
begegnet uns geradezu ein ausgeprägter Hang zu freier Aus-
schmückung der Vergangenheit, ja zur Vermischung der Erinne-
rungen mit vollkommen erfundenen Zügen. Bisweilen handelt es
sich hier ohne Zweifel um bewusste Schwindeleien, die aus dem
Wunsche entspringen, Aufsehen und Theilnahme zu erregen. Ich
kannte mehrere Hysterische, die es in verblüffender Weise ver-
standen, den Hörer ohne das geringste Besinnen mit den abenteuer-
lichsten Erfindungen über ihre Vergangenheit zu überschütten und
jedem Einwande mit der grössten Seelenruhe durch immer kühnere
Ausflüchte zu begegnen. Diesen Kranken gewährte das Schwindeln
494
XI. Die allgemeinen Neurosen.
offenkundig einen hohen Genuss, und sie wurden dadurch mit einer
gewissen Nothwendigkeit in die Laufbahn unternehmungslustiger,
wenn auch im ganzen harmloser Hochstapler hineingedrängt, zu der
sie durch ihre rasche Auffassung und ihre Verstellungskunst in
hervorragendem Maasse befähigt waren. Bei den kleineren Ab-
weichungen von der Wahrheit, wie sie uns auch in den landläufigen
Fällen von Hysterie häufig genug begegnen, lässt es sich mitunter
kaum entscheiden, wie weit sie absichtlicher Täuschung, wie weit sie
der Beeinflussung der Erinnerung durch eine gesteigerte Lebendig-
keit der Einbildungskraft ihre Entstehung verdanken. Pick hat
auf die Rolle hingewiesen, die gerade bei Hysterischen der Neigung
zu träumerischer Ausmalung unwirklicher Situationen zukommen
kann. Einzelne Kranke können sich derart in ihre Einbildungen
hineinleben, dass sie dadurch in ihrem Denken und Handeln voll-
kommen beeinflusst werden, obgleich es sich nicht um eigentliche
Wahnvorstellungen, sondern nur um Gedankenspielereien handelt,
die mit Liebe und Leidenschaftlichkeit ausgesponnen werden.
Beim Zustandekommen aller dieser Störungen sind vor allem
die Schwankungen der Stimmung massgebend. Sie sind es, welche
in hohem Grade das gesammte Seelenleben der Kranken bestimmen.
Ihr Einfluss ist weit stärker, als derjenige der vernünftigen Ueber-
legung oder der sittlichen Grundsätze. Die Kranken sind ungemein
erregbar; ihnen fehlt die Dämpfung, die beim gesunden Menschen
allmählich die raschen und starken Gefühlsschwankungen der Kinder-
jahre abschwächt. Ihnen ist nichts gleichgültig; sie sehen sich ver-
anlasst, zu allen Ereignissen in ihrer Umgebung persönlich Stellung
zu nehmen. Daher ihre ausserordentliche Empfindlichkeit, die
Heftigkeit der Gefühlsausbrüche bei den geringfügigsten Anlässen,
daher ihre Neigung, sich überall getroffen zu fühlen, alle sach-
lichen Beziehungen und Ueberlegungen sofort mit persönlichen
Zuthaten zu durchsetzen. In einzelnen Fällen, aber keineswegs
besonders häufig, findet sich eine erhöhte geschlechtliche Er-
regbarkeit, welche die Kranken zu Ausschweifungen verführt; nicht
so selten aber besteht im Gegentheil völlige geschlechtliche Un-
empfindlichkeit.
Die natürliche Folge der allzu lebhaften Gefühlsbetonung ist
ein häufiger, unvermittelter Wechsel der Stimmung. Die Kranken
sind unberechenbar, wetterwendisch, launenhaft; aus plötzlicher Aus-
Hysterisches Irresein.
495
gelassenheit verfallen sie binnen kürzester Frist und bei gering-
fügigstem Anlasse oder auch ganz ohne denselben in zornige, ent-
rüstete, in bittere, weltschmerzliche oder in schwärmerisch empfind-
same Gefühlsregungen. Diese Maasslosigkeit und Sprunghaftigkeit
der Stimmungsäusserungen zeigt deutlich, dass die Kranken nicht
jener tiefen Ergriffenheit fähig sind, welche trotz geringer äusserer
Zeichen das gesammte Fühlen dauernder und mächtiger beherrscht,
als die Stürme einer stets schwankenden, unausgeglichenen Gemüths-
verfassung.
Vielleicht ist es auf die Steigerung der gemtithlichen Erregbar-
keit zurückzuführen, dass die eigene Person für den Kranken be-
sondere Bedeutung gewinnt. Je mehr die ruhige Betrachtung der
Dinge durch die fortwährend sich vordrängenden Gefühlsbetonungen
gefärbt wird, desto stärker wird unwillkürlich die Aufmerksamkeit
durch diese Regungen des eigenen Innern in Anspruch genommen.
Sehr gewöhnüch kommen daher die Kranken dazu, sich mit einer
gewissen Liebe in ihre eigenen Zustände zu vertiefen, über dieselben
. nachzudenken, sich mit sich selbst zu beschäftigen. An diesem
Punkte liegt die Wurzel der bei unseren Kranken so überaus
häufigen hypochondrischen Beschwerden. Jedes Unbehagen
wird von den überempfindlichen Kranken in vergrössertem Massstabe
wahrgenommen und erregt die peinlichsten Gefühle. Weiterhin aber
haben unangenehme Gemüthsbewegungen hier in noch erheblich
höherem Grade, als schon bei Gesunden, die Neigung, nach den
verschiedensten Richtungen hin Störungen des körperlichen Wohl-
befindens zu erzeugen. Die Leichtigkeit, mit welcher sich diese
Beeinflussung vollzieht, die Mannigfaltigkeit der Wege, die ihr zu
Gebote stehen, ist ein besonderes Kennzeichen der hysterischen Ver-
anlagung; sie erinnert durchaus an die erstaunliche Zugänglichkeit,
welche die verschiedensten Verrichtungen des Körpers im hypnoti-
schen Zustande gegenüber den durch Einreden erzeugten Vor-
stellungen und Gefühlen darbieten.
Vielfach sind es wirkliche, aber durch die lebendige Einbildungs-
kraft der Kranken bis ins Ungeheuerliche vergrösserte Beschwerden,
an welche sich die hypochondrischen Vorstellungen anknüpfen.
Schmerz und Unbehagen, die durch irgend ein Leiden erzeugt
wurden, verlieren sich oft nicht mit der Ursache, sondern über-
dauern dieselbe, werden gewissermassen selbständig und nehmen
496
XI. Die allgemeinen Neurosen.
vielleicht sogar allmählich immer grössere Ausdehnung an. Das
Gefühl einer allgemeinen Schwäche in Folge von Blutarmuth, Ver-
dauungsbeschwerden, Kopfschmerzen verschiedener Art, unangenehme
Empfindungen längs des Rückens, in den Beinen, im Unterleibe,
am Herzen bieten der empfänglichen Selbstbetrachtung die Anhalts-
punkte für den Aufbau eines äusserst merkwürdigen und quälenden
Leidens, dessen Einzelheiten in feinster Ausmalung und wirkungs-
vollen Uebertreib ungen bei jeder Gelegenheit in den Vordergrund
geschoben werden.
Ein solches Leiden wird nicht selten zum Mittelpunkte der ge-
summten Interessen der Kranken. Es giebt ihnen eine Art Aus-
nahmestellung gegenüber allen anderen Menschen und wird vielleicht
gar mit einem gewissen heimlichen Stolze erduldet. Ja, es kann
dahin kommen, dass die Krankheit trotz der mit ihr verbundenen
Beschränkungen zu einer Quelle der Unterhaltung, zum eigentlichen
Lebensberufe wird, dem der Kranke nur mit entschiedenem, wenn
auch geheimem, nicht klar bewusstem Widerstreben entsagen würde.
Man möchte fast meinen, dass er in ihr eine Art Ersatz für wirk-
lich fruchtbringende Lebensarbeit findet, die ihm durch die Unzu-
länglichkeit seiner Anlage verkümmert wird. Wir machen dann
die merkwürdige Beobachtung, dass die Kranken trotz ihrer beweg-
lichen Klagen doch gänzlich unfähig erscheinen, ernsthaft und ziel-
bewusst an ihrer Wiederherstellung zu arbeiten. Sobald von ihrer
Ausdauer und Beharrlichkeit die gewissenhafte Durchführung eines
langwierigen Curplans gefordert wird, pflegen sie ungemein rasch
zu versagen. Ihnen fehlt mehr oder weniger vollständig das Ge-
fühl der eigenen Verantwortlichkeit für ihre Gesundheit, die natür-
liche, brennende Sehnsucht nach Genesung. Der Arzt hat dafür
zu sorgen, dass sie sich wohl fühlen; ihn klagen sie an bei jeder
Störung. Nicht für sich, sondern ihm zu Gefallen unterziehen sie
sich der Behandlung, die ihnen daher keine Unbequemlichkeiten zu-
muthen darf. Nur wo es ganz absonderliche, neu erfundene Me-
thoden oder grosse Operationen gilt, sind sie gern bereit, erstaun-
liche Dinge zu ertragen.
Andererseits sind sie oft gar nicht geneigt, auf den Lebensge-
nuss zu verzichten, so sehr ihnen auch ihr Leiden den Geschmack
daran verbittern sollte. Es kommt vor, dass die ganz gelähmten
Kranken sich nicht davon abhalten lassen, weite Reisen zu machen,
Hysterisches Irresein.
497
Gesellschaften zu geben, Museen zu besuchen. Ich selbst sab eine
Deutsche Dame mit gelähmten Beinen, von zwei Männern ge-
tragen, oben auf der Akropolis. Das vermag nur die Hysterie zu
leisten.
In manchen Fällen sind es namentlich psychische Leiden, welche
die Kranken an den Rand der Verzweiflung bringen. Entsetzliche
Gedanken, Angstzustände, die Erinnerung an die unerhörten Schick-
sale ihres Lebens, furchtbare Seelenpein, nächtliche Träume von
grauenhafter Ausführlichkeit und Schrecklichkeit, selbst angebliche
Sinnestäuschungen (ein schwarzer Mann mit einem langen Messer,
die Mutter im Leichengewande, geschlechtliche Angriffe), alles in
theatralischem und selbstgefälligem Aufputze, pressen den Kranken
bei jeder passenden Gelegenheit ganze Sturzbäche von Thränen aus
den Augen, während sie gleichzeitig einen sehr ausgeprägten, wenn
auch bemäntelten Sinn für die Freuden des Lebens besitzen, bei
keiner Anstaltsfeierlichkeit fehlen und überall ihren übermensch-
lichen Schmerz mit heldenhafter Ergebung zur Schau tragen.
Häufig wird hier der Wunsch geäussert, zu sterben, sich das Leben
zu nehmen; auch einige einleitende Schritte werden vielleicht
gethan, ein Band um den Hals geschnürt, eine Nadel verschluckt,
eine verdächtige Flüssigkeit getrunken; in der Regel hat es keine
grosse Gefahr damit.
Die vielfachen hypochondrischen Beschwerden pflegen die hyste-
rischen Kranken schon früh den Aerzten zuzuführen. Oefters be-
steht ein ausgeprägtes Arztbediirfniss. Der Arzt soll sich ihnen be-
sonders widmen, auf ihre Klagen und W ünsche ausführlich eingehen,
jeden Augenblick zu ihrer Verfügung stehen. Sie lieben es daher,
ihn auch in der Zwischenzeit immer über ihre Zustände zu unter-
richten, ihn mit Briefen zu überschütten, seine Hülfe bei den ge-
ringfügigsten Anlässen Tags oder Nachts in Anspruch zu nehmen.
Auf diese Weise kann sich eine geradezu hülflose Abhängigkeit
von einem bestimmten Arzte herausbilden, ohne den die Kranken
nicht leben zu können glauben. Meistens jedoch wechseln diese
Beziehungen häufiger. Die anspruchsvollen Kranken fühlen sich
nicht genügend berücksichtigt, in ihren hochgespannten Erwartungen
getäuscht; überdies sehnen sie sich nach Veränderung. So kommt
es, dass sie bisweilen von einem Arzte zum andern wandern, zahl-
lose Berühmtheiten und. Specialisten um Rath fragen, aber nirgends
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Anfl. II. Band. 32
498
XI. Die allgemeinen Neurosen.
aushalten, die eingeholten Rathschläge gar nicht oder nach Gut-
dünken befolgen. Man sieht solche Kranke,' die alle nur erdenk-
lichen Heilverfahren schon an sich erprobt haben und mit Be-
geisterung jedes neue Arzneimittel schlucken, freilich nur, um nach
kurzer Zeit wieder zu dem allerneuesten überzugehen. „Sie kann
in vielen Stücken ihr Arzt selbst sein,“ schrieb mir der Mann einer
solchen Kranken. Schliesslich fallen sie dann oft genug Cur-
pfuschem in die Hände, die ihren Neigungen entgegenkommen,
ihren Drang nach wunderbaren Curen befriedigen und dadurch er-
staunliche, wenn auch leider nur vorübergehende Erfolge erzielen.
Meine Voraussage, dass die Röntgen strahlen hier alsbald die merk-
würdigsten Heilungen herbeiführen würden, hat sich mit grösster
Pünktlichkeit erfüllt.
Eine sehr gewöhnliche Erscheinung bei Hysterischen ist ferner
das erhöhte Selbstgefühl. Da die eigene Person und deren Zu-
stände für den Kranken eine ganz ungebührliche Wichtigkeit ge-
winnen, so tritt die Rücksicht auf Andere und allgemeine Interessen
in den Hintergrund. Jede kleine Beeinträchtigung seines eigenen
Behagens empfindet er mit krankhafter Lebhaftigkeit, während ihm
die schwersten Opfer von anderer Seite fast selbstverständlich er-
scheinen. Er wird daher ungerecht, unzufrieden, anspruchsvoll, fordert
Beachtung und Auszeichnung von seiner Umgebung, ist sehr ge-
kränkt durch vermeintliche Zurücksetzungen und Vernachlässigungen.
Daraus entwickeln sich ungemein leicht Eifersüchteleien mit nach-
folgenden Gefühlsausbrüchen, langen Aussprachen, endlosen Aus-
einandersetzungen, Versöhnungsscenen, alles aus lächerlich unbe-
deutendem Anlasse.
Aus dem erhöhten Selbstgefühl und der Unbeständigkeit der
Stimmung geht die Begehrlichkeit so vieler Hysterischen hervor. Sie
sind immer unbefriedigt, des Augenblickes überdrüssig, verlangen
nach Neuem, noch nicht Dagewesenem, besonders nach Vergünsti-
gungen, die sie vor Anderen auszeichnen. Immer andere Wünsche
tauchen auf; Veränderungen in der Ausstaff irung des Zimmers, in
der Kleidung, der Nahrung werden vorgenommen, der Verkehr
gewechselt, und in zahllosen Briefen und Kärtchen ergiesst sich
ein Strom von Aufträgen, Bitten, Forderungen, Beschwörungen
und Klagen. Es ist oft erstaunlich, mit welchem Geschicke
Hysterische es verstehen, nach den verschiedensten Richtungen
Hysterisches Irresein.
499
hin Beziehungen anzuknüpfen, kleine und grosse Yortheile zu er-
langen, sich zum wohlbeachteten Mittelpunkte ihrer Umgebung
zu machen. Selbst unbegabte, ja geradezu schwachsinnige Kranke
können diese Fähigkeit in hohem Grade besitzen. In den Familien
pflegen daher Hysterische regelmässig die Herrschaft zu führen
und ihre nächsten Angehörigen in der unglaublichsten "Weise zu
tyrannisiren.
Dabei ist meist das Bestreben erkennbar, interessant zu er-
scheinen, sich in ein besonderes Licht zu stellen, von sich reden zu
machen. Ueberall tritt ihre eigene Persönlichkeit in den Vorder-
grund. Ihre Gefühle, Schmerzen, Wünsche spielen eine wichtige
Rolle; ihre Mittheilungen sind vertrauliche Herzensergüsse oder
unbestimmte Redensarten voll gegenstandsloser Geheimthuerei. In
den Briefen wird die Einförmigkeit der Klagen durch schillernde
Selbstverlachung schmackhaft gemacht. Eine meiner Kranken
nannte sich Dulderin Schmerzensreich, die grosse Närrin, das
Studienobject.
Dem entspricht es, wenn wir bei anderen Kranken an Stelle
der krankhaften Selbstsucht vielmehr eine Neigung zu absichtlicher,
geflissentlicher Hintansetzung der natürlichen selbstsüchtigen Nei-
gungen treten sehen, allerdings mit dem stillen Ansprüche auf be-
sondere Anerkennung der weitgehendsten, ja geradezu thörichtsten
Aufopferung. Viele hysterische Kranke berauschen sich an dem
Gedanken, alles für die Armen zu gehen, in selbstgewählter Er-
niedrigung den Kranken und Elenden zu dienen. Sie möchten etwas
Grosses leisten, eine Thätigkeit haben, der Menschheit nützen. Frei-
lich bleibt es in der Regel bei solchen grossen Gedanken oder
einigen unzweckmässigen einleitenden Schritten. Dennoch unterliegt
es keinem Zweifel, dass die schwärmerische Entsagung des Kloster-
lebens, der Beruf der Krankenpflege von jeher eine grosse Zahl
hysterisch veranlagter Personen besonders angezogen haben.
Auf dem Gebiete des Willens macht sich vor allem die er-
höhte Beeinflussbarkeit bemerkbar. Die Kranken sind leicht be-
stimmbar, allen möglichen Einwirkungen zugänglich, rasch begeistert,
ebenso rasch aber auch wieder abgelenkt. Namentlich das Beispiel
hat für die Handlungen der Kranken eine sehr grosse Bedeutung.
Mit dieser ausserordentlichen Bestimmbarkeit durch die verschieden-
artigsten und unbedeutendsten Anlässe steht in scheinbarem Wider-
32*
500
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Spruche die häufig sehr stark hervortretende launenhafte Eigen -
Willigkeit. Wenn sie sich etwas „in den Kopf gesetzt41 haben, so
kann es ausserordentlich schwer werden, ihren Widerstand zu über-
winden; sie sind dann widerspenstig, hartnäckig, zähe und unlenksam.
Man sieht solche Kranke bisweilen ohne erkennbaren Beweggrund
sich lange Zeit hindurch den peinlichsten Selbstquälereien unter-
ziehen, sich heimlich verletzen, die Nahrung verweigern, auf das
Sprechen verzichten. Mehrfach sind mir junge Mädchen vorge-
kommen, die mit unglaublich geringen Nahrungsmengen Jahr und
Tag an der Grenze des Verhungerns geblieben und zum Skelett ab-
gemagert waren, während der Versuch ergab, dass sie körperlich
nicht im geringsten am ausreichenden Essen verhindert waren. In
Wirklichkeit entspringt dieses widerspruchsvolle Verhalten aus der
Bestimmbarkeit des Willens durch zufällige Einflüsse, seien die-
selben äussere Eindrücke oder eigene Einfälle. Aus der gleichen
Grundstörung erwächst auch die Neigung der Hysterischen zu un-
überlegten, triebartigen Handlungen. Es ist nicht die verstandes-
mässige Verarbeitung der Lebenserfahrungen, welche das Handeln
bestimmt, sondern eine plötzliche Gefühlswallung, ein unvermittelter
Antrieb, ein beliebiger Anstoss. So kommt es, dass die gesammte
Lebensführung der Kranken eine eigenthümlich ungeregelte, sprung-
hafte wird. Die Entschlüsse wechseln rasch, ohne hinreichende Be-
gründung; es entsteht ein wirres Durcheinander von einzelnen,
sich kreuzenden Anläufen, verfehlten Unternehmungen, unüberlegten
Streichen.
Aus diesem Mangel an Einheitlichkeit und innerer Festigkeit
entwickelt sich eine gewisse Unruhe und Unstetigkeit, die oft
in bemerkenswerthem Gegensätze zu der stark betonten Kränklich-
keit und Hülfsbedürftigkeit der Kranken steht. Sie haben den
Drang, etwas zu unternehmen, eine Rolle zu spielen, sich her-
vorzuthun, alles mitzumachen, treiben allerlei Unfug, gehen auf
Abenteuer aus. Auch in ihrem Benehmen macht sich, der Maugel
an innerer Einheitlichkeit und Festigkeit geltend. Die Kranken
schwanken vielfach unvermittelt zwischen herausfordernder Unge-
bundenheit, sprudelnder Lebhaftigkeit, gesuchter Derbheit einerseits,
gezierter Unnahbarkeit, Verschämtheit oder leidseliger Empfindsamkeit
andererseits. Vielfach führt sie die Gewohnheit sehr lebhafter Ge-
fühlsäusserungen zu einer mehr oder weniger unwillkürlichen Ueber-
Hysterisches Irresein.
501
treibung der Ausdrucksbewegungen. Sie haben ihre Ausdrucks-
mittel so verbraucht, dass sie das Bedürfniss nach immer kräftigeren
Kundgebungen fühlen, um die Stärke der inneren Erregung wieder-
zugeben. Darum pflegt der Leidenschaftlichkeit ihres äusseren Gfe-
bahrens meist auch nicht im entfernteste^ die wirkliche Stärke der
Gemiithsbewegung zu entsprechen, die überraschend schnell durch
eine andere, entgegengesetzte Gefühlsschwankung abgelöst werden
kann. Auf diese Weise entwickelt sich bei den Kranken öfters eine
gewohnheitsmässige Neigung zum Missbrauche starker Ausdrücke für
ihre Gefühle, zu einer Art unwahrer Ueberschwänglichkeit. Das
eigene Leid wird als entsetzlich, unsäglich, grenzenlos geschildert;
die Kranken bezeichnen sich als Ausgestossene, Verfluchte, fallen
bei der Erinnerung an die ausgestandenen Seelenqualen in Ohn-
macht oder gebrauchen wenigstens fleissig das Taschentuch. Zugleich
aber ist, im Gegensätze zu wirklich schweren Gemüthserschütterungen,
die Freude an niederen Genüssen recht gut erhalten. Eine Kranke
schloss einen Brief voll der schauerlichsten Selbstverwünschungen
mit der Bitte um Zusendung einiger Makronen. Auf ihr Aeusseres
pflegen die Kranken in der Regel etwas zu halten. Sie putzen sich
möglichst vortheilhaft heraus, bald glänzend, auffallend, bald mit be-
rechneter Einfachheit, haben Sinn für Zierlichkeit und Behaglichkeit,
* sammeln allerlei niedliche Sachen um sich, die sie malerisch aufzu-
bauen lieben. Ihre eigentliche Arbeitsfähigkeit pflegt unter ihrer
Abhängigkeit von Stimmungen und Einfällen empfindlich zu leiden;
die Kranken haben keine Neigung zu ernster, anstrengender Be-
schäftigung, keine Ausdauer, fühlen sich leicht angegriffen, zu
schwach, müssen sich schonen. Trotzdem sie oft viel Geschmack
und Geschick zeigen, vertändeln sie doch ihre Zeit mit allerlei
Nichtigkeiten und Spielereien, zierlichen Handarbeiten, künstlerischem
Dilettantismus.
Das hier in grossen Zügen gezeichnete Bild der hysterischen
Persönlichkeit ist natürlich nur die Zusammenfassung einer Reihe
von ganz bestimmten Erfahrungen. Jeder einzelne Fall kann wieder
seine Besonderheiten und wird vor allem eine gradweise sehr ver-
schiedene Ausbildung der aufgezählten Eigenthiimlichkeiten dar-
bieten. Es ist sogar von angesehenen Forschern die Ansicht ver-
treten worden, dass die hier geschilderte psychische Veränderung an
sich gar nichts mit der Hysterie zu thun habe, sondern dem Bilde
502
XI. Die allgemeinen Neurosen.
des Entartungsirreseins angehöre, das sich mit der Hysterie ver-
binden könne, aber nicht verbinden müsse. Dass sich in der hyste-
rischen Veränderung des gesammten Seelenlebens die Zugehörigkeit
y.nin Entartungsirresein im weiteren Sinne ausdrückt, ist unzweifel-
haft. Gerade weil die Hysterie auf einer krankhaften Veranlagung
und Entwicklung der Persönlichkeit beruht, scheinen mir die Eigen-
tümlichkeiten des psychischen Verhaltens, die wenigstens uns Irren-
ärzten unendlich oft in schärfster Ausprägung begegnen, untrennbar
zu dem ganzen Krankheitsbilde zu gehören. Eine Abgrenzung der
„Entartung“ von der „Hysterie“ ist nur dann möglich, wenn
man das Leiden rein vom neurologischen Standpunkte aus be-
trachtet. Das ist aber gerade hier ein schwerer Fehler. Auch in
ganz leichten Fällen, bei denen zunächst nur die „neurologischen"
Zeichen ins Auge fallen, wird man bei genauerer Betrachtung
schwerlich die Andeutungen der oben geschilderten allgemeinen
psychischen Veränderung vermissen. Dass diese nicht überall ihre
ausgesprochensten Formen erreicht, ist ebenso begreiflich wie die
Thatsache, dass auch die so ungemein kennzeichnende epileptische
Umwandlung der Persönlichkeit in leichten Fällen fast vollständig
fehlen kann.
Von grosser Bedeutung für das Krankheitsbild des hysterischen
Irreseins sind natürlich auch jene körperlichen Functions-
störungen, die wir als die Kennzeichen der allgemeinen Neurose
zu betrachten pflegen („Stigmata“). Namentlich sind es Lähmungen
einzelner Glieder verschiedenen Grades, Gehstörungen (Astasie-
Abasie), Chorea, Ovarie, unüberwindliche Appetitlosigkeit, hartnäckiges
Erbrechen, Athmungsstörungen, Secretionsanomalien, Stimmlosigkeit,
Verlust der Sprache, Sehstörungen, mannigfaltige Empfindungs-
störungen, Globus, Clavus, Singultus, Ohnmachtsanfälle, örtliche oder
allgemeine Krämpfe, Contracturen, welche das Krankheitsbild in
mannigfaltigster Weise begleiten. Besonders häufig sind auch
schwere Beeinträchtigungen des Schlafes. Allen diesen Störungen,
deren Schilderung im einzelnen hier nicht unsere Aufgabe sein
kann, ist der Umstand gemeinsam, dass sie einerseits in ihrer Ge-
staltung nicht den Regeln der anatomischen imd physiologischen
Zusammenhänge folgen, und dass sie in ihrem Auftreten und Ver-
schwinden auf sehr bemerkenswerthe Weise von psychischen Ein-
flüssen abhängig sind. So schliessen sich Kopfschmerzen, Krampf-
Hysterisches Irresein.
503
anfälle an einen Aerger, an die klinische Demonstration, an starkes
Reiben der Augäpfel, ja an irgend einen beliebigen Eingriff an, der
die Kranken beunruhigt. Eine meiner Kranken fühlte eine kalte
Stelle an ihrem Rücken dort, wo sie von einem Schutzmanne gefasst
worden war; dieselbe erwies sich unempfindlich.
Andererseits weichen die Erscheinungen nicht selten dem Drucke
auf das hyperaesthetische Hypogastrium, der kräftigen Anwendung
des faradischen Pinsels oder einer kalten Uebergiessung. Eine
heftige Aufregung, ein kräftiger Befehl vermag die schwersten
Lähmungssymptome plötzlich zum Schwinden zu bringen; das Er-
brechen wird durch Magenausspülungen, die Beibringung von Nähr-
klystiren, durch die Aussicht auf eine Vergünstigung beseitigt.
Kranke, die monate- und jahrelang erbrochen, fast nichts gegessen,
hülflos im Bett gelegen, sich heimlich immer wieder Verletzungen
zugefügt haben, können durch ein einziges Wort, einen plötzlichen
Einfall in ihrem ganzen Verhalten vollständig umgewandelt werden.
Ereilich muss bei dem geschilderten Zustande der Kranken allen
solchen Wirkungen naturgemäss die Nachhaltigkeit fehlen; der
nächste Augenblick schon kann Eindrücke bringen, welche die
Wiederkehr der alten oder das Auftreten neuer, auch ihrerseits
bald wieder von andern abgelöster Störungen herbeiführen. Dem
entspricht durchaus die weitere Erfahrung, dass die Kranken, wenn
sie imbefangen sind und sich unbeachtet glauben, oft alle ihre Be-
schwerden vergessen und in psychischer wie körperlicher Beziehung
(Essen, Gehen) eine bedeutende Leistungsfähigkeit an den Tag legen,
die sofort der alten, Mitleid heischenden Hinfälligkeit Platz macht
und von ihnen vollständig verleugnet wird, sobald sie auf ihre
Krankheit hingewiesen werden oder sich dem Arzte gegenüber
sehen. Ich behandle eine Kranke, die sich seit vielen Monaten als
„blind und taub“ bezeichnet, sich aber mit geschlossenen Augen
ohne die geringste Schwierigkeit zurechtfindet und bei der klini-
schen Vorstellung sofort grosse Reden hält, während sie sonst auf
alle Anreden stumm bleibt und in Gegenwart des Arztes auffällig
herumtastet.
Man hat aus diesen und ähnlichen Beobachtungen nicht selten
den in der That oft verführerischen Schluss gezogen, dass es sich
bei Hysterischen überhaupt nicht um Krankheit, sondern um ganz
gewöhnliche Verstellung handele. Ohne Zweifel werden einzelne
504
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Krankheitszeichen (Geschwüre, Fieber, Blutspeien u. ähnl.) von
Hysterischen willkürlich und zweckbewusst vorgetäuscht, um ihnen
die Theilnahme des Arztes zu sichern und ihm eine möglichst
schlimme Vorstellung von der Grösse ihres Leidens beizubringen.
So kommt es nicht zu selten vor, dass sie vorgeben, nichts gegessen
oder keinen Stuhlgang gehabt zu haben, trotzdem eine geschickte
Beobachtung ergiebt, dass sie mit grösster Schlauheit (in der Nacht,
mit Hülfe anderer Kranker) sich Nahrung zu verschaffen oder ihre
Ausleerungen zu beseitigen wissen, während sie mit .verzweiflungs-
voller Duldermiene oder stillem Trotze an ihrer Behauptung fest-
halten. Auch habe ich es erlebt, dass eine solche Kranke sich mit
einer Scheere heimlich, aber planmässig ziemlich schwere Ver-
wundungen in der Vagina beibrachte, um Uterusblutungen vorzu-
täuschen. Ein Kranker behauptete, eine von einer Lipomausschneidung
herrührende Narbe sei durch einen Bauchschnitt entstanden, den
man bei ihm wegen eines Magengeschwürs vorgenommen habe.
Andere übertreiben wenigstens und suchen ihre Beschwerden in
recht grellen Farben darzustellen. Eine meiner Kranken sah alles
„doppelt und dreifach“. Man darf indessen nicht ausser Acht
lassen, dass uns die Neigung zu einer Art Vortäuschung einzelner
Störungen auch bei einer Reihe von anderen psychischen Erkrankungen
gelegentlich begegnet. Es wäre daher durchaus verkehrt, aus dem
Nachweise einer absichtlichen Täuschung auf den Mangel einer
psychischen Erkrankung überhaupt schliessen zu wollen. Wenn auch
dieses oder jenes von dem Kranken behauptete Symptom in Wirk-
lichkeit nicht vorhanden ist, so fällt doch eben die eigenthiimliche
Neigung zur Täuschung des Arztes und der dem gesunden Menschen
ganz unverständliche Beweggrund selber ohne Zweifel in das Gebiet
des Krankhaften hinein.
Auf der allgemeinen hysterischen Grundlage entwickeln sich sehr
häufig eigenartige, mehr vorübergehende psychische Störungen, von
denen die bekanntesten und wichtigsten die Dämmerzustände sind.
Man bezeichnet mit diesem Namen kürzer oder länger dauernde Anfälle
stärkerer Bewusstseinstrübung, welche sich entweder für sich ein-
stellen oder unmittelbar an Krampfanfälle anschliessen, auch häufig
durch solche beendet oder unterbrochen werden. Als einfachste
Form dieser Dämmerzustände können wir jene Bewusstseinsstörungen
betrachten, welche regelmässig den Krampfanfall kürzere oder längere
Hysterisches Irresein.
505
Zeit überdauern. Die Kranken liegen mit schlaffen Gliedern, in
denen nur gelegentlich noch eine Andeutung tonischer Starre her-
vortritt, ruhig athmend und mit meist verlangsamtem Pulse, die
Augen nach oben und seitwärts gerollt, fast unbeweglich da, rea-
giren aber meist durch Ausweichbewegungen, Zucken, Augenrollen
oder durch plötzliches Zusammenschrecken und Erwachen auf
stärkere Reize, namentlich auf den faradischen Pinsel. In einzelnen
Fällen kann sich dieser Zustand, unterbrochen durch zahlreiche
Krampfanfälle, viele Tage, ja Wochen lang mit geringen freieren
Zwischenzeiten hinziehen. Bisweilen gleichen die Dämmerzustände
ganz dem gewöhnlichen Einschlafen („Schlafanfälle“). Die Gesichts-
züge der Kranken nehmen plötzlich den Ausdruck der Ermüdung
an; die Augen schliessen sich; der Kopf sinkt herab; die Glieder
werden schlaff, und die Kranken scheinen mit tiefen, regelmässigen
Athemztigen zu schlafen. Meist erwachen sie nach kurzer Zeit
von selbst wieder, oder es gelingt, sie durch kräftige Reize zu
erwecken. Sie scheinen dann zunächst noch schlaftrunken, blicken
beim Erwachen verstört um sich und wissen gar nicht, wie alles
gekommen.
Solche Schlafanfälle bilden den Uebergang zu den Erscheinungen
des Nachtwandeins oder Somnambulismus, wie sie bei Hyste-
rischen während des natürlichen Schlafes beobachtet werden. Die
Kranken erheben sich aus ihrem Bette, sehen zum Fenster hinaus,
gehen im Zimmer oder selbst im ganzen Hause herum, verrichten
allerlei, oft ganz geordnete, bisweilen aber auch unsinnige (Zer-
reissen von Kleidern, Verstecken von Gegenständen) und sogar ver-
brecherische Handlungen (Diebstähle, Brandstiftungen), um sich dann
nach einiger Zeit wieder ins Bett zu legen und am anderen Morgen
mit höchst unklarer Erinnerung an das Geschehene zu erwachen.
Nicht selten ist es möglich, die Kranken durch Anreden oder doch
durch stärkere Reize (Kälte, Stechen, Kneifen) aus ihrem Zustande
zu erwecken. Ganz ähnliche Anfälle beobachtet man auch bei Tage,
wo sie sich gewöhnlich im Anschlüsse an einen Krampfanfall, bis-
weilen auch einen Lach- oder Weinkrampf entwickeln. Die Kranken
machen hier ganz den Eindruck von Nachtwandlern, indem sie mit
verschränkten Armen, gesticulirend oder leise und unverständlich
vor sich hinsprechend, auf- und abgehen. Indessen lassen sie sich
meist durch äussere Störungen gar nicht beirren; selbst gewaltsames
506
XL Die allgemeinen Neurosen.
Festhalten oder faradische Ströme genügen häufig nicht, um den
krankhaften Zustand zu beseitigen.
Eine weitere Form der Dämmerzustände schliesst sich an den
deliriösen Abschnitt des grossen hysterischen Anfalles an. Hier
stellen sich bei mässig getrübtem Bewusstsein massenhafte Sinnes-
täuschungen ein, welche die Kranken entweder in unangenehme,
aufregende Lebenslagen oder in Verzückungszustände mit Wonne-
gefühlen und himmlischen Visionen versetzen, Stimmungen, die sich
dann natürlich in dem ganzen Benehmen, den Reden und den Aus-
drucksbewegungen widerspiegeln. Eine meiner Kranken kämpfte in
solchen Zuständen heftig mit einem imaginären Arzte, der ihr, nach
ihren abgerissenen Ausrufen zu schliessen, Gewalt anthun wollte:
eine andere sah ganze Berge von Papier vor sich, durch deren An-
brennen sie die Vernichtung ihres Anwesens und ihres Wohlstandes
herbeiführte.
Endlich beobachtet man, namentlich bei jugendlichen Kranken,
Dämmerzustände mit eigenthümlicher läppischer Erregung.
Die Kranken befinden sich in vorwiegend heiterer, ausgelassener Stim-
mung, in welcher sie ihre Umgebung verkennen, schnippische Re den
führen, ein eigensinniges, albernes Wesen an den Tag legen und
allerlei thörichte oder muthwillige Streiche begehen, schreien, Thier-
stimmen nachalnnen, davonlaufen. Oft tritt hier bei dem ziemlich
besonnenen Benehmen der Kinder die krankhafte Natur der Störung
dem Zuschauer erst dann recht deutlich zu Tage, wenn nach einigen
Minuten oder Stunden ein leichter Krampfanfall die Erregung ab-
schliesst und nun plötzlich bei völligem Mangel der Erinnerung an
das Vorgefallene ein stilles, gedrücktes Wesen an Stelle der früheren
Ausgelassenheit tritt. Die letzteren beiden Formen der Dämmer-
zustände war Ri ege r durch Hypnotisiren künstlich zu erzeugen im
Stande, doch sind sie auch sonst nicht gerade selten.
Die Erinnerung an die Zeit des Dämmerzustandes pflegt sehr
unklar, noch häufiger völlig aufgehoben zu sein. Auch rück-
schreitende Erinnerungslücken, welche die Zeit vor dem Anfalle in
mehr oder weniger weiter Ausdehnung mit umfassen, kommen vor.
In manchen Fällen taucht die Erinnerung an den früheren in einem
späteren gleichartigen Anfalle vollständig wieder auf, während sie in
der Zwischenzeit verloren gegangen war. Es kann auf diese Weise zu
einer Art Verdoppelung der Persönlichkeit kommen, insofern der
Hysterisches Irresein.
507
Kranke abwechselnd zwei ganz verschiedene Zustände darbietet,
deren gleichartige Abschnitte je untereinander in Zusammenhang
stehen. Auch der anscheinende Wechsel von drei oder vier ver-
schiedenen Persönlichkeiten ist gelegentlich beobachtet worden. Die
Kenntnisse und Erfahrungen des einen Zustandes werden nicht in
den anderen hinübergenommen. Bisweilen entspricht der eine Zu-
stand einer ganz bestimmten Altersstufe, ähnlich wie man durch die
Hypnose im Stande ist, Jemanden scheinbar in frühere Abschnitte
seines Lebens zurückzuversetzen. Es muss indessen darauf hin-
gewiesen werden, dass es sich bei derartigen Vervielfältigungen der
Persönlichkeit immer nur um die Wirkung von Autosuggestionen
handelt; der neue Zustand gestaltet sich so, wie der Kranke sich
ihn vorstellt; er wird nicht wirklich geistig zum Kinde, sondern
ahmt dasselbe nur nach, wenn auch unwillkürlich und unbewusst.
Da die Hysterie mit einer Umwandlung der ganzen psychischen
Persönlichkeit einhergeht, werden natürlich auch die verschieden-
artigsten nicht eigentlich hysterischen Psychosen auf dieser Grund-
lage durch Beimischung einzelner besonderer Züge eine eigenartige
Färbung annehmen können. Das gilt besonders für das manisch-
depressive Irresein, von dem wir ja wissen, dass es sich ebenfalls
wesentlich aus krankhafter Veranlagung heraus entwickelt. Auch im
Beginne der Dementia praecox begegnen wir vielfach allerlei hys-
terischen Zügen. Ausserdem aber werden eine ganze Reihe von
Erkrankungen mit dem Beinamen des Hysterischen belegt, die mit
der hier besprochenen Neurose gar keine Beziehungen haben. Meist
will man auf diese Weise das Auftreten von geschlechtlicher Er-
regung kennzeichnen, die in Wirklichkeit bei anderen Formen des
Irreseins weit häufiger und stärker in den Vordergrund tritt, als
gerade bei der Hysterie. Endlich jedoch kommen auch im Verlaufe
der Hysterie gewisse mehr abgegrenzte psychische Störungen zur
Beobachtung, die nur Erscheinungsformen des Grundleidens zu sein
scheinen. Dahin gehören zunächst kürzer oder länger dauernde,
grundlose traurige oder ängstliche Verstimmungen, welche oft
von unbestimmten Versündigungs- und Verfolgungsideen, bisweilen
auch von Sinnestäuschungen begleitet sind. Noch häufiger fast sind
Aufregungszustände aller Art, zumeist in Form zorniger Gereizt-
heit mit heftigen Schimpf anfällen, mit der Neigung, zu zerstören und
selbst zu schmieren, gewöhnlich an irgend einen äusseren Anlass,
508
XI. Die allgemeinen Neurosen.
einen Aerger, eine eifersüchtige Regung und dergl. sich anschliessend.
Alle diese Zustände gehen meist rasch, binnen wenigen Stunden,
Tagen oder höchstens Wochen, wieder vorüber. Sie nehmen im
Gegensätze zu den manischen Geistesstörungen einen ganz unregel-
mässigen, durch Zufälligkeiten beeinflussten Verlauf, wenn sie auch
bisweilen durch die Verbindung mit den Menses in bestimmten
Zwischenzeiten wiederkehren. Ueberdies fehlen den Aufregungen
stets die wichtigen manischen Zeichen der Ideenflucht und des
eigenartigen Beschäftigungsdranges; vielmehr tragen sie durchaus
die Züge lebhafter Gefühlsausbrüche. Ebenso sind die Verstim-
mungen der Hysterischen nicht von der psychomotorischen Hemmung
begleitet, welche die Depressionszustände des manisch-depressiven
Irreseins kennzeichnet.
Die Hysterie ist in der Hauptsache eine Ausdrucksform der
krankhaften Veranlagung. Erbliche Belastung fand sich in 70 — 80 °/0
meiner Fälle. Gewiss ist aber dabei auch der Einfluss der Nach-
ahmung sowie der verkehrten Erziehung mit zu berücksichtigen.
In der Regel waren allerlei Eigentümlichkeiten schon vor dem
Auftreten der eigentlich hysterischen Störungen bei den Kranken
bemerkt worden, Beschränktheit, selbst bis zum Schwachsinn, Eigen-
sinn, Unstetigkeit, Schwatzhaftigkeit, Trägheit, Neigung zum Prahlen,
Schwindeln, zum Deliriren bei geringem Fieber, übertriebene Fröm-
migkeit, namentlich aber grosse gemütliche Reizbarkeit und häufiger,
unvermittelter Stimmungswechsel. Vielfach waren einzelne körper-
liche Anzeichen vorausgegangen, Veitstanz, Schwindelanfälle, Schlaf-
anfälle, Kopfschmerzen, Verlust der Sprache. Hie und da schlossen
sich derartige Vorboten an einen Fall, eine Kopfverletzung, eine
acute Krankheit, eine gemütliche Erregung an.
Wie der Name bereits andeutet (uore^a, die Gebärmutter), ist
die Hysterie so sehr eine Krankheit des weiblichen Geschlechts,
dass man sogar zweifelhaft gewesen ist, ob man überhaupt ein
Recht hat, ähnliche Erkrankungen bei Männern mit derselben Be-
zeichnung zu belegen. Indessen die „männliche Hysterie“ ist heute,
wie wir der Pariser Schule ohne weiteres zugestehen müssen, keine
seltene Krankheit mehr, und es lässt sich nicht in Abrede stellen,
dass eine scharfe Trennungslinie zwischen den allgemeinen Neurosen
der beiden Geschlechter schwerlich gezogen werden kann. Weder
die eigenthüm liehen Krampferscheinungen noch die Charakterver-
Hysterisches Irresein.
509
änderung oder die Dämmerzustände fehlen bei Männern vollständig,
wenn sie auch beim weiblichen Geschlechte eine viel grössere Aus-
dehnung und reichere Entwicklung zu erlangen pflegen. Unter den
von mir beobachteten Hysterischen waren die Männer mit 30 °/0
betheiligt. Recht häufig ist die Hysterie bei Kindern*) bis in die
jugendlichsten Lebensalter herab, bei denen das weibliche Geschlecht
kaum mehr vorwiegt. Freilich sehen wir hier meist nur einzelne
Krankheitserscheinungen auftreten, halbseitige Blindheit, Stummheit,
Reflexkrämpfe, Lähmungen, Schreianfälle, krampfhaftes Husten, läp-
pische Dämmerzustände (Chorea magna). Alle diese Störungen werden
leicht durch körperliche Zufälle, aber auch durch Gemüthsbewegun-
gen, namentlich durch psychische Ansteckung ausgelöst (Schulepi-
deruien). Armuth, Abgeschlossenheit und mangelhafte Bildung be-
günstigen, wie Bruns anführt, die Entstehung derartiger Zufälle.
Aus den angeführten Erfahrungen geht jedenfalls soviel hervor,
dass den überlieferten Beziehungen der Hysterie zum weiblichen
Geschlechtsleben nicht diejenige Unverbrüchlichkeit zukommt, welche
ihnen, selbst bis in die neueste Zeit, vielfach zugeschrieben worden
ist. Ebenso muss uns der Umstand, dass gerade eine Reihe sehr
tiefgreifender Erkrankungen der Geschlechtsorgane zwar recht schwere
körperliche und selbst psychische Störungen zu erzeugen vermögen,
ohne doch dabei die Erscheinungen der Hysterie auszulösen, gegen
die Annahme einer massgebenden Bedeutung der Sexualerkrankungen
immerhin misstrauisch machen. Sehen wir doch ferner hysterische
Störungen schon lange vor dem Eintritte der Geschlechtsreife, sehen
wir sie doch endlich auch bei vollkommen gesunden Geschlechts-
organen in deutlichster Weise sich entwickeln.
Auf der anderen Seite kann nicht geleugnet werden, dass häufig
genug bei Hysterischen der Untersuchungsbefund oder doch die Be-
schwerden auf das Geschlechtsleben als auf die Quelle der Neurose
hindeuten, und dass die Beseitigung kleiner Störungen auf diesem
Gebiete, vielleicht auch einmal die Entfernung der gesunden Fort-
pflanzungsorgane, unter Umständen eine erhebliche Besserung der
hysterischen Leiden herbeizuführen vermag. Aus allen diesen That-
sachen geht mit Sicherheit soviel hervor, dass die eigentliche Ur-
sache der Hysterie, wie früher ausgeführt, in einer krankhaften
*) Bruns, Die Hysterie im Kindesalter. 1897.
510
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Veranlagung des gesamraten Nervensystems gelegen ist, dass wir
aber beim Weibe in den Genitalorganen eine der ergiebigsten Quellen
für jene äusseren Reize und Schädlichkeiten zu suchen haben, welche
nun auf dem vorbereiteten Boden die hysterischen Erscheinungen
auslösen. Nur so erklärt es sich, dass ein und dasselbe greifbare
Leiden in einem Falle fast spurlos verläuft, im zweiten leichte ner-
vöse Beschwerden, im dritten aber die ganze Mannigfaltigkeit der
hysterischen Erscheinungen zu erzeugen im Stande ist.
Die Anschauungen über das Wesen der Hysterie zeigen noch
wenig TJebereinstimmung. Auf der einen Seite ist sogar die ur-
sprüngliche Entstehung des Leidens aus krankhaften Gehirnzuständen
bezweifelt ; worden. Biernacki hat aus seinen Erfahrungen über
das Verhalten des Blutes der Hysterischen geschlossen, dass hier
wie bei der „Neurasthenie“ primäre Oxydationsstörungen vorliegen,
die erst weiterhin die übrigen Krankheitszeichen erzeugen. Aehnlich
betrachtet Vigouroux als Grundlage der Hysterie die gichtische
Stoffwechselstörung, die ja auch zur Erklärung der Epilepsie wie
des manisch-depressiven Irreseins schon hat herhalten müssen. Der-
artige, durch nichts gestützte Anschauungen sind mit unseren sonsti-
gen klinischen und ätiologischen Erfahrungen unvereinbar, da sie
die innigen Beziehungen der Hysterie zu anderen Formen der
psychopathischen Entartung, die angeborene Eigenart der erkranken-
den Personen und die psychische Entstehungsweise der einzelnen
Krankheitszeichen gänzlich ausser Acht lassen. Andere Betrach-
tungsweisen haben unmittelbar an die Verdoppelung der Persönlich-
keit wie an die eigenartigen Lähmungen und Empfindungsstörungen
angeknüpft. Von Charcot und seinen Schülern ist durch scharf-
sinnige Versuche gezeigt worden, dass die anscheinend empfindungs-
losen Theile dennoch Vorstellungen und Bewegungen auslösen kön-
nen, allerdings ohne dass die Eindrücke selbst ins Bewusstsein
gelangen. Es liess sich sogar nachweisen, dass diese Umsetzung
von Reiz in Bewegung rascher vor sich ging, als die willkürliche
und bewusste. Man hat daher von einer „Spaltung“ des Bewusst-
seins gesprochen (Janet) in dem Sinne, dass einzelne, wechselnde
Gebiete der Sinneserfahrung den Zusammenhang mit dem Gesammt-
bewusstsein der Persönlichkeit verlieren könnten. Sollier hat
neuerdings geradezu einen theilweisen Schlafzustand, einen Somnam-
bulismus der Hysterischen angenommen. Aehnlich wie im Schlafe
J
Hysterisches Irresein.
511
mannigfache Eindrücke wohl unsere Träume und unsere Bewegungen
beeinflussen, ohne doch bewusste Empfindungen und Vorstellungen
zu erwecken, so fallen auch für das hysterische Bewusstsein ge-
wisse Gebiete der Sinneserfahrung aus, weil die Himtheile schlafen,
denen die Reize zufliessen; ähnliches gilt für die Lähmungen. Das
sind sicherlich recht; hübsche Gleichnisse, um die klinischen That-
sachen unserem Verständnisse näher zu bringen.
Mit einer höchst merkwürdigen Auffassung der hysterischen
und noch einer Reihe von anderen Störungen sind Breuer und
Freud hervorgetreten. Nach ihren Versicherungen soll die Hysterie
durch ganz bestimmte passive sexuelle Erlebnisse in der frühesten
Kindheit erzeugt werden, die dann in Form unbewusster Erinne-
rungen durch das ganze spätere Leben hindurch fortspuken und in
mannigfaltiger Umformung zur hysterischen „Abwehrneurose“ füh-
ren. War jenes Erlebniss nicht die Duldung, sondern die Begehung
einer geschlechtlichen Handlung, so entstehen auf demselben Wege
Zwangsvorstellungen, ja auch paranoische Krankheitsbilder sollen
ähnlichen Ursprung haben können. Man erfährt alle diese Dinge,
indem man die Kranken in der Hypnose ausfragt. Wir dürfen
nicht bezweifeln, dass man auf diesem Wege noch ganz andere
Dinge herausbringen könnte. Wenn aber unsere vielgeplagte Seele
durch längst vergessene unliebsame sexuelle Erfahrungen für alle
Zeiten ihr Gleichgewicht verlöre, so dürften wir am Anfänge vom
Ende unseres Geschlechts angekommen sein; die Natur hätte ein
grausames Spiel mit uns getrieben! Freilich sollen alle jene Er-
innerungen unschädlich werden, wenn es dem kundigen Arzte ge-
lingt, sie ans Licht zu ziehen und zu bewussten zu machen.
Kurz und gut, die Hysterie ist ein angeborener abnormer
Seelenzustand, dessen Eigentümlichkeit darin liegt, dass, wie
Möbius es ausdrückt, krankhafte Veränderungen des Körpers „durch
Vorstellungen“ hervorgerufen werden. Ich möchte hinzufügen, was
Möbius an anderer Stelle nachholt, dass es gefühlsstarke Vor-
stellungen sind, ja oft Gefühle, deren Vorstellungsinhalt ein sehr
unklarer ist. Dadurch erklärt es sich, dass jene körperlichen Stö-
rungen ihrer Form nach durchaus nicht immer dem Inhalte der
auslösenden Reize und Vorstellungen entsprechen und dass sie Ge-
biete betreffen können, die dem Einflüsse des bewussten Willens
gar nicht zugänglich sind, ja, dass sie bisweilen von den Kranken
512
XI. Die allgemeinen Neurosen.
selbst gar nicht bemerkt werden. Das sind alles Erfahrungen, die
uns von den körperlichen Begleiterscheinungen der Gefühle her wohl
bekannt sind. Die innere Beziehung zwischen Trauer und Thränen
ist nicht verständlicher als diejenige zwischen Schreck und Hemi-
anästhesie. Die Angst kann unsere Darmthätigkeit anregen und
unser Haar bleichen, wie die Hysterie Oedeme und Störungen in
der Herzbewegung erzeugen kann. Auch Bewusstseinstrübungen,
höchste einseitige Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit bei Unem-
pfindlichkeit nach anderen Richtungen begegnen uns unter den
Wirkungen der Gemüthsbewegungen. So wenig ich daher auch
daran denke, etwa die Erscheinungen der Hysterie erklären zu
wollen, komme ich doch zu dem Schlüsse, dass bei ihrem Zustande-
kommen wahrscheinlich gesteigerte Ausgiebigkeit der ge-
müthlichen Erregungen und krankhafte Ausbreitung ihrer
unwillkürlichen Begleiterscheinungen eine wesentliche Rolle
spielen.
Gerade darum aber muss ich Möbius widersprechen, wenn
er die Geistesstörungen der Hysterischen für „Complicationen1, hält.
Sie sind nach meiner Ueberzeugung nichts als Aeusserungen der-
selben Ursache, die den körperlichen Störungen zu Grunde liegt
Die eigenartige Steigerung der gemiithlichen Beeinflussbarkeit wird
man auch in denjenigen Fällen von Hysterie schwerlich vermissen,
in denen schwerere Anzeichen der hysterischen Entartung noch
fehlen. Es ist daher wol kein Zufall, dass wir bei Kindern mit
ihrer grossen gemüthlichen Erregbarkeit auch ohne stärkere erbliche
Belastung einzelne hysterische Störungen auftauchen sehen, die sich
später, mit der Festigung der Persönlichkeit, spurlos wieder ver-
lieren können. Ebenso dürfte sich die grössere Häufigkeit der
Hysterie bei dem leicht erregbaren weiblichen Geschlechte imd die
verhältnissmässig ungünstige Bedeutung der männlichen Hysterie
erklären. Bei der geringen Veranlagung des Mannes zu heftigen
und ausgebreiteten Gefühlsreactionen (Weinen, Schreien, Zittern.
Ohnmächten u. s. f.) werden hier hysterische Erscheinungen im
allgemeinen nur dann zur Ausbildung kommen, wenn tiefgreifende
Veränderungen im psychischen Gesammtverhalten vorliegen.
Wie sich aus den vorstehenden Erörterungen von selber ergiebt,
ist der Verlauf der Hysterie regelmässig ein langwieriger, nicht
selten über Jahrzehnte hinaus sich erstreckender. In manchen Fällen
Hysterisches Irresein.
513
zeigen sich die ersten Andeutungen der Erkrankung, namentlich
beim weiblichen Geschlechte, schon im zehnten bis zwölften Lebens-
jahre und noch früher, ja es sind einzelne Fälle aus dem zweiten
Lebensjahre berichtet worden.
Im Gegensätze zu dem andauernden Fortbestehen des hysteri-
schen Zustandes können die einzelnen Formen psychischer Er-
krankung einen ausserordentlich wechselvollen und verschiedenartigen
Verlauf nehmen. Ja, der rasche und unvermittelte Wechsel der
Erscheinungen ist sogar in hohem Grade dem hysterischen Irre-
sein eigentümlich. Es ist gewissermassen eine Reihe von „Zu-
fällen“, die sich auf der gemeinsamen Grundlage nach einander
abspielen können, und deren Einzeldauer in der Regel einige Monate
nicht überschreitet, häufig aber auch nur einige Tage oder Stunden
beträgt. Immerhin kann sich aus Verstimmungen, Erregungen,
Dämmerzuständen, körperlichen Störungen ein überaus mannig-
faltiges, widerspruchsvolles Krankheitsbild zusammensetzen, welches
Jahr und Tag ausfüllt Bei der Hysterie der Kinder und nament-
lich bei derjenigen der Männer pflegt indessen das Bild ein weit
einförmigeres zu sein. Die Reichhaltigkeit der Störungen im ein-
zelnen Falle ist geringer, und diese letzteren haften, wenn sie sich
nicht rasch und leicht beseitigen lassen, oft Jahre lang ohne merk-
liche Schwankung.
Die Prognose des hysterischen Irreseins ist, was die eigent-
lichen Anfälle psychischer Störung anbetrifft, eine durchweg günstige;
dafür aber wird man fast immer mit Sicherheit beim nächsten An-
lasse eine Rückkehr dieser oder einer anderen Form des Leidens
erwarten dürfen. Nur die Hysterie der Kinder scheint sich mit
fortschreitender körperlicher Entwicklung bis auf eine gewisse Herab-
setzung der psychischen Widerstandsfähigkeit nicht selten völlig zu
verlieren. Bei Erwachsenen ist an eine wirkliche Umänderung der
hysterischen Anlage schwerlich zu denken. Dagegen werden sehr
bedeutende und ans Wunderbare grenzende Heilerfolge bisweilen
in solchen Fällen erzielt, in denen sich äussere Reize (Sexual-
erkrankungen, ungeeignete Lebensweise, schädlicher Einfluss der Um-
gebung) als wesentliche auslösende Ursache der Krankheitserschei-
nungen erkennen lassen. Andererseits giebt es, wie es scheint,
vorzugsweise beim männlichen Geschlecht, schwere Formen der
Hysterie mit hochgradigen hypochondrischen Beschwerden, die sich
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 33
514
XI. Die allgemeinen Neurosen.
dem ärztlichen Eingreifen auf die Dauer nahezu ganz unzugäng-
lich erweisen und eine Art fortschreitenden Verlaufes zeigen mit
stetiger oder schubweiser Verschlechterung des gesammten Krank-
heitsbildes. Sie bilden die Uebergänge zum Entartungsirresein im
engeren Sinne.
Schon die Schwierigkeit einer scharfen Begriffsbestimmung des
hysterischen Irreseins deutet auf die nahen Beziehungen hin, die
dasselbe zu verwandten Krankheitszuständen aufzuweisen hat. Nament-
lich die „männliche Hysterie“ ist es, welche diese Beziehungen am
klarsten hervortreten lässt. Nach der einen Seite hin haben wir zahl-
reiche Uebergänge zum Entartungsirresein zu verzeichnen. Indessen
pflegt dieses letztere Krankheitsbild weit einförmiger zu sein, als die
Hysterie; überdies fehlen ihm die Dämmerzustände und die mannig-
fachen körperlichen Begleiterscheinungen dieser Krankheit. Auch
die Schreckneurose bietet eine viel einförmigere Entwicklung, doch
ähneln die ungünstig ausgehenden Fälle sehr den schweren, fort-
schreitenden Formen der Hysterie. Zwischen der constitutionellen
psychischen Depression und der hysterischen Veranlagung giebt es
fliessende Uebergänge. Auf die Abgrenzung der Hysterie von or-
ganischen Hirnerkrankungen werden wir hier, wo wir es nur mit
den psychischen Erscheinungen zu thun haben, nicht näher einzu-
gehen brauchen. Ich will nur erwähnen, dass ich einen von
seinem Lehrer geohrfeigten Knaben mit hysterischen Anfällen
zu begutachten hatte, bei dem der Arzt eitrige Meningitis mit
voraussichtlich tödtlichem Ausgange angenommen hatte, so dass
der Lehrer wegen schwerer Körperverletzung in Anklage versetzt
wurde.
Dagegen werden wir die Frage nach der Unterscheidung zwischen
hysterischen und epileptischen Krampfanfällen berühren müssen,
weil sie sich sehr wesentlich auf psychologische Kennzeichen stützt.
Beim hysterischen Anfalle ist das Bewusstsein nicht so tief ge-
trübt wie beim epileptischen; es kommt daher auch fast nie zu dem
plötzlichen, rücksichtslosen Hinstürzen, zu ernsthaften Verletzungen
und zum Zungenbiss. Die Kranken merken es meist vorher, wenn
der Anfall kommt; hie und da beobachtet man auch wol Zuckungen,
Steifigkeit einzelner Glieder bei völlig klarem Bewusstsein, was frei-
lich auch in manchen Fällen von Epilepsie vorkommt. Die Pupillen-
starre während des Anfalles, die man früher als wichtiges Erken-
Hysterisches Irresein.
515
nungszeichen der Epilepsie betrachtete, ist neuerdings auch bei der
Hysterie gefunden worden.*) Sie kann sogar bei vereinzelten Kranken
ausserhalb des Anfalles vorhanden sein, besonders während der
Augenuntersuchung; man darf sich also durch sie nicht ohne wei-
teres zu der Annahme einer Paralyse verführen lassen. Weiterhin
pflegt der hysterische Anfall eine viel grössere Mannigfaltigkeit in
seiner Ausbildung zu besitzen, als der fast immer gleichförmige epi-
leptische Insult. Tonische und klonische Muskelzusammenziehungen
am ganzen Körper und einzelnen Theilen, Zwerchfellkrämpfe, Opis-
thotonus („arc de cercle“), Jactation, Herumrollen an der Erde,
Purzelbäume („Clownismus“), ferner Delirien mit lebhaften Aus-
drucksbewegungen („attitudes passioneiles“) wechseln mit einander
ab, selbst bei demselben Anfalle, öfters in verschiedenartiger Weise.
Endlich stehen die hysterischen Krämpfe in besonderem Maasse
unter dem Einflüsse äusserer Einwirkungen. Nicht selten gelingt
es, sie durch Gemüthsbewegungen (ärztliche Visite, klinische Vor-
stellung) hervorzurufen und sie durch sehr lebhafte Reize abzukürzen
oder plötzlich zu beseitigen. Auch schliessen sie sich gern an ganz
bestimmte Anlässe, an das Essen, Aufstehen, den Glockenschlag an ;
sie vereinigen sich zu gehäuften Reihen, um dann plötzlich wieder
gänzlich zu verschwinden.
Recht unsicher kann die Unterscheidung der hysterischen und
epileptischen Dämmerzustände ausfallen. Im allgemeinen lässt sich
nur sagen, dass die letzteren besonders häufig mit sehr heftigen
Angstanfällen, grosser Reizbarkeit und der Neigung zu rohen, gewalt-
tätigen Handlungen einhergehen, während die hysterischen Dämmer-
zustände in der Regel ruhiger, theatralischer, mit geringerer Gemüths-
erschütterung zu verlaufen pflegen. Das Verhalten der Erinnerung
ist in beiden Fällen ein wechselndes. Bei längerer Beobachtung
wird sich übrigens auf Grund anderweitiger Anhaltspunkte, aus dem
Vorhandensein der hysterischen Stigmata, aus der Art der Krampf-
anfälle sowie auch aus dem gesammten psychischen Verhalten der
Kranken regelmässig eine Abgrenzung ermöglichen lassen. Dem
hysterischen Charakter ist die sprunghafte Launenhaftigkeit, der
rasche Wechsel der Stimmung, die Abhängigkeit von äusseren Be-
*) Karplus, Jahrb. f. Psychiatrie, XVH, 1; A. Westphal, Berl. klin.
Wocbenschr. 1897, 47.
33*
516
XI. Die allgemeinen Neurosen.
einflussungen eigenthiiralich, während bei dem Epileptiker die rohe
Zornmüthigkeit, der beschränkte Eigensinn und die selbständige
Periodicität der krankhaften Zufälle, namentlich auch der Verstim-
mungen, in den Vordergrund tritt. Zudem pflegt bei letzterem die
geistige Schwäche meist häufiger und hochgradiger zu sein, als dort.
Eine vorbeugende Bekämpfung der Hysterie hätte bei der
gesundheitsgemässen, auf die körperliche Ausbildung gerichteten,
einfachen Erziehung einzusetzen. Sehr häufig sind gerade die Eltern
gefährdeter Kinder aus nahe liegenden Gründen am wenigsten ge-
eignet, die schlummernden Krankheitskeime an weiterer Entwick-
lung zu verhindern. In solchen Fällen wird man unter Umständen
geradezu die Entfernung der Kinder aus dem Einflussbereiche ihrer
Angehörigen durchzusetzen suchen. Eine weitere Aufgabe wird es
sein, wenigstens die auslösenden Ursachen nach Möglichkeit zu be-
seitigen. Dabei können allerlei körperliche Störungen, namentlich
solche der Verdauungsorgane und der Geschlechtswerkzeuge, in Be-
tracht kommen. Gerade diese letzteren haben von jeher den Haupt-
angriffspunkt der Heilbestrebungen bei der Hysterie gebildet In
der That übt die Beseitigung greifbarer Veränderungen an den Geni-
talien bisweilen einen sehr günstigen Einfluss auf die Krankheits-
erscheinungen aus. Freilich wird man dabei gut thun, sich hin-
sichtlich der Dauer der erzielten Besserungen keinen übertriebenen
Hoffnungen hinzugeben. Andererseits haben die genannten Ein-
griffe durchaus nicht selten entschiedene Verschlechterungen des
Zustandes zur Folge.*)
In neuerer Zeit ist man sogar vor sehr eingreifenden Opera-
tionen, bis zur Castration, nicht zurückgeschreckt, um auf diese Weise
den Hysterischen Hülfe zu bringen. Wie es scheint, ist dieses
schneidige Vorgehen, welches selbst zur Entfernung ganz gesunder
Eierstöcke fortgeschritten ist, in einzelnen Fällen von günstigem
Erfolge gekrönt worden, namentlich dann, wenn die Störungen einen
gewissen Zusammenhang mit der Menstruation darboten. Allerdings
liegen andererseits sichere Anhaltspunkte dafür vor, dass vielfach
der psychische Eindruck der Operation wirksamer war, als die
chirurgische Bedeutung derselben. Endlich aber hat sich gezeigt,
dass nur zu häufig jener Erfolg keinen dauernden Bestand hatte, oder
*) Augelucci e Pieracini, Rivista sperimentale di freniatria, XXIII, 290.
Hysterisches Irresein.
517
dass die Verstümmelung sogar schwere Depressionszustände nach sich
zog. Ich habe Gelegenheit gehabt, eine ganze Reihe von Hysterischen
zu behandeln, welche von der Keilexcision bis zur Castration und
selbst zurüterusamputation die ganze Stufenleiter der gynäkologischen
Eingriffe überwunden hatten. Nur in einem einzigen Falle schien
mir durch das Wegbleiben der sonst immer mit starken Beschwerden
verbundenen Menses eine länger anhaltende Erleichterung des Leidens
erreicht worden zu sein. Meist blieb der Eingriff für die Dauer völlig
wirkungslos; einmal sah ich eine sehr bedeutende Verschlechterung.
Eine sichere und allseitig anerkannte Feststellung der Anzeigen für
die Verschneidung der Hysterischen ist bisher nicht erreicht worden.
Vielmehr scheint die Messerfreudigkeit auf der ganzen Linie bedeu-
tend nachgelassen zu haben.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird man sich darauf
beschränkt sehen, die Erscheinungen des hysterischen Irreseins zu
bekämpfen. Einer besonderen Verbreitung hat sich für diesen Zweck
bei den leichteren hypochondrischen Formen mit Lähmungen, Schlaf-
losigkeit, Verdauungsstörungen und starker Abmagerung die Weir
Mitchell’sche Mastcur*) zu erfreuen gehabt, mit um so grösserem
Rechte, als sie durch Bekämpfung der genannten Zeichen der
Hysterie zum Theil auch gleichzeitig die Quellen verstopft, aus
denen die Krankheit immer wieder neue Nahrung zieht. Die Er-
folge dieser Cur, welche sich allerdings nur für eine gewisse Gruppe
durch den Versuch zu erprobender Fälle eignet, sind ganz ausser-
ordentliche; selbst nach 10 — 20jähriger Dauer schwerer Erscheinungen
gelang es bisweilen, eine durchgreifende Besserung aller der an-
geführten Störungen bis zum völligen Verschwinden derselben her-
beizuführen.
Leider ist jedoch immerhin die Zahl jener Fälle nur allzu gross,
in denen von der Mastcur ein Heilergebniss nicht erwartet werden
kann. Dahin gehören namentlich die Formen mit sehr ausgeprägten
psychischen Störungen, mit denen es der Irrenarzt vor allem
zu thun hat. Abgesehen von denjenigen Massregeln, welche durch
die gelegentlichen psychischen Gleichgewichtsschwankungen selbst
gefordert werden, wird man indessen auch hier auf eine Verbesse-
rung des körperlichen Allgemeinzustandes durch die Sorge für zweck-
*) Burkart, Volkmanns Klinische Vorträge, 245.
518
XI. Dio allgemeinen Neurosen.
massige Ernährung, für ausreichende Bewegung in frischer Luft
und genügenden Schlaf sein Augenmerk zu richten haben. Dem-
selben Zwecke dienen ferner Bäder mit kühlen Ueberriesel ungen
Massage, Gymnastik, allgemeine Faradisation. Yon Arzneien kommt
als Beruhigungs- und Schlafmittel namentlich das Bromkalium in
Betracht, ferner bei der gewöhnlich anaemischen Körperbeschaffen-
heit etwa das Eisen und zur Beseitigung leichterer „Anfälle“ die
Tinctura Yalerianae, Aqua Laurocerasi u. dergl. Ausserdem können
auch noch manche der übrigen Schlafmittel hie und da in Frage
kommen, doch soll man mit letzteren möglichst sparsam sein, da
die Kranken bei der langen Dauer ihres Leidens sehr die Neigung
haben, Arzneien zu missbrauchen. Namentlich das Morphium führt
bei Hysterischen ausserordentlich leicht zur Gewöhnung und muss
daher unter allen Umständen vermieden werden; eine meiner
Kranken hatte auch Chloroform gewohnheitsmässig eingeathmet Die
Krampfanfälle und die Dämmerzustände lassen sich durch kalte
Uebergiessungen oder durch den faradischen Pinsel nicht selten
wesentlich abkürzen.
Den bei weitem wichtigsten Theil der Behandlung Hysterischer
bildet indessen die psychische Einwirkung. Sehr häufig liegen
in der Umgebung der Kranken, wie sie sich von selber oder unter
deren Einflüsse gestaltet hat, oder in der ganzen Lebensführung
Schädlichkeiten, welche immer von neuem das Entstehen der krank-
haften Erscheinungen begünstigen. In allen schwereren Fällen kann
daher eine Cur Hysterischer erfolgreich nur dann durchgeführt
werden, wenn sie vollständig aus ihren bisherigen Verhältnissen
entfernt und bedingungslos in die Hände des Arztes gegeben werden.
Nichterfüllung dieser wichtigsten Voraussetzung führt fast regel-
mässig zu Misserfolgen, während man in anderen Fällen die glän-
zendsten Heilungen in kürzester Frist erleben kann. Für die wei-
tere psychische Einwirkung lassen sich allgemeine Vorschriften kaum
entwerfen, da sie sich in jedem Falle der besonderen Eigentüm-
lichkeit der Kranken anzupassen hat. Man kann den Kranken zart
entgegenkommen , kühn und verwegen Vorgehen („Ueberrumpe-
lungsverfahren“), sich scheinbar gar nicht um sie kümmern („zweck-
bewusste Vernachlässigung“), — man kann auch mit So liier die
einzelnen schlafenden Hirntheile nach und nach erwecken oder mit
Breuer und Freud dio unbewussten geschlechtlichen Erinnerungen
Hysterisches Irresein.
519
der Kindheit in bewusste um wandeln — immer aber wird man die
ganze psychische Persönlichkeit zu berücksichtigen haben, mit der
man es zu thun hat, wenn man die Krankheitserscheinungen be-
kämpfen will. Ohne jeden Zweifel beruhen die Erfolge, welche hier
durch die verschiedensten Methoden, durch elektrische und diätetische
Curen, durch Hydro-, Metallo-, Klimatotherapie, von Naturärzten,
Homöopathen und Magnetiseuren erzielt werden, wesentlich oder voll-
ständig auf dem Glauben der Kranken.
Diese Erfahrung muss die Richtschnur des gesammten ärzt-
lichen Handelns bei Hysterischen bilden. Es ist daher für
den Arzt vor allem nothwendig, sich das unerschütterliche Ver-
trauen und damit die unerlässliche Macht über die Kranken
zu verschaffen, ein Ziel, das nicht durch barsches und recht-
haberisches Entgegentreten, sondern nur durch ruhiges, ernstes,
aber stets wohlwollendes und nicht kleinliches Festhalten an dem
einmal aufgestellten Behandlungspläne erreicht wird. Das feste
Vertrauen der Kranken, dass ihnen geholfen werden wird, ist das
mächtigste Behandlungsmittel in der Hand des Arztes und lässt ihn
oft genug durch die unbedeutendsten, ja scheinbar unsinnigsten Ein-
griffe die weittragendsten Erfolge erringen. Seiner Menschenkennt-
nis und seiner persönlichen Gewandtheit ist somit hier ein Spielraum
überlassen wie bei keiner anderen Form psychischer Erkrankungen.
Dass unter diesen Umständen auch mit Hülfe der hypnotischen
Suggestion gute Erfolge erzielt werden können, liegt auf der Hand,
doch müssen wir leider oft die Beobachtung machen, dass die im
Augenblicke ungemein wirksame Suggestion bei diesen Kranken mit
ihrer geringen inneren Festigkeit schon nach recht kurzer Zeit durch
andere Einflüsse wieder in den Hintergrund gedrängt wird. In an-
deren Fällen entwickelt sich durch das hypnotische Verfahren eine
höchst unerwünschte Abhängigkeit des Kranken vom Arzte, die
eine wirksame Erziehung des eigenen Willens zum Kampfe gegen
die krankhaften Störungen unmöglich macht. Endlich aber erweisen
sich gerade die schwersten Formen der Hysterie dem Suggestivver-
fahren nicht selten nur in beschränktem Maasse zugänglich. Je
grösser die Beeinflussbarkeit, desto leichter bilden sich störende
Eigensuggestionen, und desto rascher wird die Wirkung der ärzt-
lichen Eingebung durch andere, widerstrebende Vorstellungen wieder
vernichtet. Dagegen kann ich, entgegen den Aeusserungen von
520
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Bruns, aus sehr vielfacher Erfahrung mittheilen, dass die Hysterie
der Kinder für die hypnotische Behandlung vielleicht das aller-
günstigste Feld bildet. Ich habe eine ganze Reihe von Kindern mit
umschriebenen hysterischen Krankheitserscheinungen, die zum Theil
von hervorragenden Fachgenossen Monate lang nach allen möglichen
Verfahren ohne Erfolg behandelt worden waren, durch wenige
hypnotische Sitzungen dauernd von ihren Störungen befreien können.
Auch diejenigen Erwachsenen, bei denen einzelne Krankheits-
zeichen gewissermassen als Erinnerungen an frühere Leiden zu-
rückgeblieben sind, lassen sich nach meinen Erfahrungen mit Hülfe
der Hypnose selbst dann überraschend leicht und dauernd heilen,
wenn alle sonstigen Curen schon viele Jahre hindurch vergebens
gewesen sind.
C. Die Schreckueurose.
Das im Folgenden unter dem Namen der Schreckneurose
beschriebene Krankheitsbild ist besonders von Westphal und
seinen Schülern sowie von C har cot genauer studirt und als
„traumatische Neurose“*) oder „traumatische Hysterie“ bezeichnet
worden. Es handelt sich dabei um ein aus mannigfaltigen ner-
vösen und psychischen Erscheinungen zusammengesetztes Krank-
heitsbild, welches sich in Folge von heftigen Gemüthserschiitterungen,
plötzlichem Schreck, grosser Angst ausbildet und daher nach schweren
Unfällen und Verletzungen, besonders nach Feuersbrünsten, Explo-
sionen, Entgleisungen oder Zusammenstössen auf der Eisenbahn
u. dergl. beobachtet wird. Auch manche der nach Selbstmordver-
suchen gelegentlich auf tretenden Störungen sind, wie Möbius wahr-
scheinlich gemacht hat, hierher zu rechnen.
Bei den bis dahin wenigstens anscheinend ganz gesunden
Menschen entwickelt sich im Anschlüsse an den vielfach vorüber-
*) Oppenheim, Die traumatischen Neurosen, 2. Auflage. 1892; Schultze,
Sammlung klinischer Vorträge. N. F. 14 (Innere Medicin No. 6); Deutsche Zeit-
schrift für Nervenheilkunde, I, 5 u. 6, S. 445; Strümpell, Münchner Medici-
nische Wochenschrift, 1895, 49 u. 50; Sänger, Die Beurtheilung der Nerven-
erkrankungen nach Unfall. 1896; Fürstner, Monatsschrift für Unfallheilkunde,
1896, 10.
Schreckneurose.
521
gehende Bewusstlosigkeit erzeugenden Unfall ganz allmählich, in
Wochen oder selbst Monaten, ein Zustand, der sich psychisch durch
traurige Verstimmung mit ängstlichen Befürchtungen der verschie-
densten Art, Herabsetzung der körperlichen und gemüthlichen
Widerstandsfähigkeit wie durch Unfähigkeit zu jeder ernsteren An-
strengung kennzeichnet. Die Kranken erscheinen still, gedrückt,
fassen langsam auf, nehmen wenig Antheil an den Vorgängen in
ihrer Umgebung, sind vielmehr dauernd durch quälende Vorstel-
lungen in Anspruch genommen. Ihr Gedankengang ist in Folge
dessen meist ungemein einförmig und schwerfällig, dreht sich wesent-
lich um den Unfall, der bisweilen mit grossem Wortreichthum ge-
schildert wird. In einzelnen Fällen bestehen ausgeprägte Zwangs-
vorstellungen, Platzangst, Grübelsucht; meist aber treten hypochon-
drische Beschwerden in den Vordergrund. Die Kranken werden
den Eindruck des erlittenen Unfalles nicht mehr los und fühlen
sich durch denselben in ihrem Gesundheitszustände auf das schwerste
geschädigt. Sie sind nicht mehr wie früher, müde und matt, „schwer-
müthig im Geiste“, können nicht mehr arbeiten und beobachten
mit peinlicher Aufmerksamkeit alle Vorgänge an ihrem Körper,
welche ihnen mit ihrem Leiden in Zusammenhang zu stehen
scheinen.
In gemüthlicher Beziehung sind sie auffallend erregbar, ge-
rathen ungemein leicht in Verlegenheit und Verwirrung, können
sich oft nicht zusammenhängend aussprechen und fühlen sich dauernd
durch das Gefühl innerer Beklemmung und Beängstigung in ihrem
Denken und Handeln gehemmt. Auch hier kann sich die Angst
anfallsweise zu heftigeren Ausbrüchen steigern, welche die Kranken
sogar bisweilen zum Selbstmorde führen. Das Gedächtniss ist
trotz der Klagen über Abnahme desselben meist gut, wenn sich
auch eine gewisse Zerstreutheit und Vergesslichkeit, auf dem man-
gelnden Interesse und der Aufmerksamkeitsstörung beruhend, häufig
nachweisen lässt. Die Arbeitsfähigkeit der Kranken wird durch ihre
hypochondrische Willenlosigkeit wie durch die zahlreichen nervösen
Beschwerden stets auf das empfindlichste beeinträchtigt oder ganz
aufgehoben. Regelmässig besteht ungemeine Ermüdbarkeit; die
Kranken erlahmen nach ganz kurzer Zeit, werden ungeschickt, stocken,
begehen Fehler bei einfachen Aufgaben, zeigen in Folge vermehrter
Anstrengung Wallungen zum Kopf, Herzklopfen, Schweissausbrüche.
522
XI. Die allgemeinen Neurosen.
Wir konnten in einem Falle durch planmässige Untersuchung der
geistigen Leistungsfähigkeit die bedeutende Herabsetzung der Ar-
beitsleistung wie die hochgradige Ermüdbarkeit zahlenmässig fest-
stellen. Eine weitere Ausbildung gewinnen die psychischen Stö-
rungen in der Regel nicht; nur hie und da wird das Auftreten
von Dämmerzuständen, acuten hallucinatorischen Aufregungen oder
noch seltener von ausgebildetem Schwachsinn beobachtet. Im
letzteren Falle handelt es sich wol immer um wirkliche Kopfver-
letzungen.
Der Schlaf der Kranken ist regelmässig durch ängstliche Träume
hochgradig gestört, der Appetit gering; das Körpergewicht sinkt
vielfach beträchtlich. Im Kopfe bestehen allerlei krankhafte Em-
pfindungen, Druck, Eingenommenheit, Schwindelgefühl, unangenehme
Bewegungsempfindungen, im Rücken und Kreuz das Gefühl von
Spannung und Steifigkeit, in den vom Unfall betroffenen Theilen
mannigfache Paraesthesien und Schmerzen. Ausserdem wird über
asthenopische Beschwerden, Ohrenklingen und -sausen, Herzklopfen.
Abnahme der Potenz, Erschwerung der Harnentleerung und Stuhl-
verstopfung, bisweilen auch über hartnäckiges Erbrechen geklagt.
Objectiv lassen sich in einzelnen Fällen Empfindungsstörungen in
sehr wechselnder Ausbreitung nachweisen, Analgesie neben hyper-
aesthetischen Stellen, Einschränkung des Gesichtsfeldes, Schwer-
hörigkeit. Auf motorischem Gebiete werden Steigerung der Sehnen-
reflexe, Lähmungserscheinungen der verschiedensten Art, Langsamkeit
und Unsicherheit der Bewegungen, Geh- und Sprachstörungen,
leichtes Zittern beobachtet. Ferner treten öfters fibrilläre Huskel-
zuckungen auf, besonders nach Anstrengungen, bei Einwirkung von
Kälte oder nach dem Auf hören stärkerer faradischer Reize. Nach
lebhaften Muskelbewegungen, gemüthlicher Erregung oder bei Druck
auf schmerzhafte Stellen zeigen sich vielfach der Puls, seltener auch
die Athmung beschleunigt; hie und da kommen Ohnmächten und
selbst ausgebildete epileptiforme Anfälle vor. Alle diese Erscheinungen
weichen in ihrem regellosen Auftreten durchaus von den Störungen
bei organischen Hirn- oder Rückenmarkserkrankungen ab und ver-
rathcn durch ihren Sitz, ihre Ausbreitung, ihr wechselndes Ver-
halten und den verschlimmernden Einfluss gemüthlicher Erregung
ihre psychische Entsteh ungs weise. Fried mann hat ferner noch
auf die geringere Widerstandsfähigkeit der Kranken gegen Anstren-
Schreckneurose.
523
gungen, Alkoholgen uss, Gemüthsbewegungen, Galvanisation des
Kopfes und Oarotidencompression aufmerksam gemacht. Nur ganz
vereinzelt und nur bei wirklichen Kopfverletzungen werden auch
Störungen beobachtet, welche mit Sicherheit auf eine organische
Grundlage hinweisen, so reflectorische Pupillenstarre und Sehnerven-
atrophie.
Die leichteren Fälle von Schreckneurose, die unmittelbar in die
natürliche Ergriffenheit nach aufregenden Erlebnissen übergehen,
können sich rasch wieder ausgleichen. Es giebt indessen auch Fälle
genug mit überaus schleppendem Verlaufe und ungünstiger Prognose.
Freilich kann nach monate- und selbst jahrelanger Dauer des
Leidens noch Heilung oder doch sehr wesentliche Besserung ein-
treten; immerhin aber kommt es nicht selten zu einem langsam
fortschreitenden Siech thum, welches bisweilen mit Entwicklung von
Herzhypertrophie und Arteriosklerose einherzugehen scheint.
Die Deutung dieses Krankheitsbildes hat den Anlass zu aus-
gedehnten und noch heute keineswegs abgeschlossenen Erörterungen
gegeben. Während Westphal und seine Schüler dasselbe anfangs
unter Betonung gelegentlicher objectiver Befunde auf schleichende
organische Veränderungen im Centralnervensysteme zurückführten,
hat Charcot alle diese Fälle der Hysterie zugetheilt. Mit Recht
ist indessen geltend gemacht worden, dass der Begriff der hysteri-
schen Neurose durch diese Erweiterung noch verschwommener und
unklarer wird, als er es leider heute schon ist. Späterhin hat
Charcot die Schreckneurose den hypnotischen Zuständen ver-
glichen, indem er meint, dass während der heftigen Bewusstseins-
erschütterung durch den Schreck das ganze Krankheitsbild auf dem
Wege einer später fest einwurzelnden Eigensuggestion entstehe. An-
dererseits hat Oppenheim die Annahme einer organischen Grund-
lage, abgesehen von gewissen Ausnahmefällen, aufgegeben. Die
wesentlich psychische Entstehungsweise des Leidens darf jetzt
als allgemein anerkannt gelten.
Für diese Ansicht spricht vor allem die Thatsache, dass die
Neurose oft genug auch dann zu Stande kommt, wenn gar keine
wirkliche Verletzung stattgef unden hat, wenn z. B. der drohende
Unfall noch im Augenblicke höchster Gefahr glücklich abgewendet
werden konnte. In anderen Fällen sind die Verletzungen sehr ge-
ringfügige, oder sie betreffen gar nicht den Kopf , sondern irgend
524
XI. Die allgemeinen Neurosen.
ein unwichtiges Glied des Körpers. Meist haben dann die Be-
schwerden gerade in den betroffenen Theilen ihren Sitz, so dass
man auch wol von einer „localen“ traumatischen Neurose gesprochen
hat. So zeigte ein junger Mann, der bei einem Brande zum Fenster
hinausgesprungen war, noch nach Jahren Lähmung und Unempfind-
lichkeit an der ganzen Seite, auf die er damals gefallen war. Natür-
lich ist auch in solchen Fällen von einem umschriebenen Sitze des
Leidens keine Rede. Die eigentliche Grundlage desselben bleibt
immer die allgemeine psychische Veränderung, welche durch die
Gemüthserschütterung herbeigeführt wird. An welchen Punkt des
Körpers die krankhaft erregte Einbildungskraft dann die Störungen
verlegt, ist für das Wesen des Krankheitsbildes ebenso nebensäch-
lich wie etwa der besondere Inhalt der hypochondrischen Vorstel-
lungen eines Paralytikers.
Es ist indessen in neuerer Zeit immer zweifelhafter ge-
worden, ob die Gemüthsbewegung beim Unfälle selbst wirklich
immer als die wesentlichste Ursache der Krankheit angesehen
werden muss. Sehr häufig vergehen zwischen dem Unfälle und
dem Auftauchen der kennzeichnenden Krankheitserscheinungen
mehrere Wochen und selbst Monate, in denen der Verletzte sich
verhältnissmässig gesund fühlt. Sodann aber zeigt sich, dass die
Neurose unter dem Einflüsse des Unfallversicherungsgesetzes nicht
nur rasch an Häufigkeit zunimmt, sondern auch ungünstiger ver-
läuft. Ohne Zweifel kommen die geschilderten Störungen auch ohne
jeden Zusammenhang mit dem Versicherungsgesetze vor, aber sie
scheinen dann in der Regel rascher und leichter überwunden zu
werden. Diese Erfahrungen, die von vielen Beobachtern bestätigt
werden, deuten darauf hin, dass in unserer Gesetzgebung selbst
schädigende Einflüsse liegen, welche die rasche Ausgleichung der
gemüthlichen Erschütterungen nach Unfällen hindern. In der That
dürfte eine solche Schädigung eingreifendster Art in dem Kampfe
um die Rente zu suchen sein, zumal er von Kranken geführt
werden muss, deren Widerstandsfähigkeit zweifellos herabgesetzt ist.
Zu der Aufregung über den Unfall, den Schmerzen, der Sorge für
die Zukunft gesellt sich der Wunsch, eine möglichst hohe Rente zu
erlangen, die Verführung, zu übertreiben, recht lange unthätig zu
bleiben, das Misstrauen Seitens der Berufsgenossenschaften und
Aerzte, die endlosen Begutachtungen, die Ungewissheit über den
Schreckneurose.
525
endlichen Ausgang, vielfach auch drückende Noth in der Zeit bis
zur Entscheidung. Diese Umstände sind es wol in erster Linie,
die den Kranken nicht zur Ruhe kommen lassen, ihn an einer kräf-
tigen Willensanstrengung zur Ueberwindung seiner Beschwerden
hindern und dadurch den schleppenden und ungünstigen Verlauf
des Leidens wesentlich mit verursachen.
Gerade die psychische Entstehung der Schreckneurose hat dazu
geführt, dieselbe ohne weiteres der Hysterie zuzurechnen. Es ist
aber vielleicht doch nützlich, darauf hinzuweisen, dass gewisse kli-
nische Erwägungen immerhin für eine gewisse Sonderstellung der
Schreckneurose sprechen. Zunächst entsteht die Frage, ob wir es
überhaupt mit einer einheitlichen Krankheit zu thun haben. Viel-
fach ist darauf hingewiesen worden, dass nach Unfällen sehr ver-
schiedenartige Störungen entstehen können, und dass man daher
hysterische, neurasthenische, hypochondrische, melancholische Zu-
stände u. dergl. auseinanderhalten müsse. Das ist gewiss richtig.
Wenn ich auch nicht so weit gehen möchte wie die Esten, die
jede beliebige geistige Störung auf einen Schreck zurückzuführen
pflegen, so kann doch eine heftige Gemüthserschütterung ohne
Zweifel einmal eine Melancholie, ein anderes Mal eine hysterische
Störung, endlich die verschiedensten Zufälle des Entartungsirreseins
auslösen, constitutionelle Verstimmung, Grübelsucht, Zwangsvor-
stellungen.
Daraus geht hervor, dass die Wirkung des Schreckes sehr wesent-
lich durch die Eigenart der persönlichen Veranlagung bestimmt wird,
bei der auch der Alkoholmissbrauch eine gewisse vorbereitende
Rolle spielen dürfte. So sehen wir bei grossen Unglücksfällen ja
auch nicht alle Betheiligten, sondern nur vereinzelte Personen an
einer Schreckneurose erkranken. Die gleiche Mannigfaltigkeit, die
wir in den Erscheinungsformen der krankhaften Veranlagung be-
obachten, wird uns daher auch in den Krankheitsbildern entgegen-
treten, welche hier anscheinend durch die gleiche äussere Ursache
hervorgerufen werden. Eine ganz scharfe Umgrenzung des Krank-
heitsbildes der Schreckneurose ist aus diesem Grunde sehr schwierig,
vielleicht sogar unmöglich. Gegenüber der eigentlichen Hysterie
möchte ich besonders auf die Einförmigkeit der Krankheitszeichen
im einzelnen Falle hinweisen. Unseren Kranken fehlt durchaus
der sprunghafte Wechsel der Erscheinungen, die Launenhaftigkeit,
526
XI. Die allgemeinen Neurosen.
der ausgeprägte Stimmungswechsel, die Unternehmungslust der
Hysterischen; allerdings begegnet uns gerade bei der männlichen
Hysterie vielfach eine ähnliche Einförmigkeit. Weiterhin sind die
Unfallskranken nicht im entferntesten so beeinflussbar wie Hyste-
rische, auch nicht vorübergehend; sie erinnern in dieser Beziehung
an gewisse Formen der Hysterie mit einzelnen sehr fest sitzenden
Eigensuggestionen. Zudem begegnen uns hier die kennzeichnenden
Dämmerzustände und Anfälle höchstens in Ausnahmefällen und in
sehr geringer Ausbildung. Wenn man also will, kann man hier von
einer besonderen Form der Hysterie sprechen, die nach Ursache
und klinischem Verhalten durch das zwingende Auftreten einer
ganz bestimmten Eigensuggestion gekennzeichnet ist.
Mit den verschiedenen Formen des Entartungsirreseins finden sich
zahlreiche Berührungspunkte ; die Abgrenzung hat namentlich die plötz-
liche Entstehung der Störung im Anschlüsse an den Unfall und den
immerhin günstigeren Verlauf zu berücksichtigen. Vielfach ist bei
der Würdigung dieser Krankheitszustände die Vermuthung aufge-
taucht, dass doch unter Umständen durch Erschütterungen feinere
Veränderungen in der Hirnrinde zu Stande kommen könnten. In
solchen Fällen würde natürlich von einer psychischen Entstehungs-
weise und von einer Zugehörigkeit zur Hysterie nicht mehr die Rede
sein. Die Versuche an Thieren scheinen in der That darauf hinzu-
deuten, dass mechanische Erschütterungen des Kopfes auch ohne
gröbere Verletzungen bestimmte Veränderungen an den Nerven-
zellen herbeiführen können; von manchen Forschern w-ird im Hin-
blicke auf die vasomotorischen Störungen bei unseren Kranken na-
mentlich auch an feinere Gefässveränderungen gedacht. Wir sind
heute noch nicht im Stande, die hier auftauchenden Fragen mit
Sicherheit zu beantworten; immerhin werden wir in der über-
wiegenden Mehrzahl von Fällen wol mit einer psychischen Ent-
stehungsweise der Krankheitserscheinungen zu rechnen haben. Das
Irresein nach wirklichen Kopfverletzungen wird sich durch die
Zeichen einer schweren Hirnerschütterung, Verworrenheit, Des-
orientirtheit, durch das Auftreten von cerebralen Lähmungen, epi-
leptischen Anfällen, aphasischen Störungen und namentlich durch
den Nachweis einer stärker oder schwächer hervortretenden psychi-
schen Schwäche von den Krankheitsbildern mit rein psychischer
Entstehungsweise unterscheiden lassen. Dabei ist es aber sehr wol
Schreckneurose.
527
möglich, dass sich im einzelnen Falle einmal beide Gruppen von
Krankheitszeichen mit einander mischen.
Die grössten Meinungsverschiedenheiten sind über die Häufig-
keit und den Nachweis der Verstellung entstanden, eine Frage,
die im Hinblicke auf die Unfallsgesetzgebung sehr grosse prak-
tische Bedeutung besitzt. Leider haben sich, wie das in der Natur
der Sache liegt, alle bisher angeführten „objectiven“ Zeichen des
Leidens, die Gesichtsfeldeinschränkung, die Pulsbeschleunigung, die
traumatische Muskelreaction, die Herabsetzung der galvanischen Er-
regbarkeit, die Steigerung der Reflexe, als praktisch wenig brauchbar
erwiesen, um einen zuverlässigen Beweis für das Bestehen des
psychischen Leidens zu erbringen. Wie ich glaube, ist indessen
die Gefahr einer Täuschung wirklich sachverständiger Aerzte viel-
fach bedeutend überschätzt worden. Wir stehen der Neigung zur
Uebertreibung und zur Erfindung seltsamer Krankheitserscheinungen
ja häufig genug auch bei der einfachen Hysterie gegenüber. Hier
wie dort sind alle Einzelvorschriften für die „Entlarvung“ von Simu-
lanten nahezu werthlos; das Massgebende ist überall die Ueberein-
stimmung des klinischen Gesam mtbildes mit einer der bekannten
Erscheinungsformen der krankhaften Veranlagung. Leider ist aller-
dings das Verständniss weiter ärztlicher Kreise für psychische Krank-
heitsbilder noch ein sehr geringes.
Nicht selten giebt übrigens die bequeme Diagnose der „trau-
matischen Neurose“ den Anlass zum Uebersehen wichtiger Krank-
heitszeichen. Namentlich beginnende Paralysen werden bis-
weilen unter jenen Sammelbegriff untergebracht. So behandelte
ich einen Kranken, dessen Beschwerden Monate lang mit einem
Falle auf das Gesäss in ursächliche Verbindung gebracht wurden,
bis ich vor dem Schiedsgerichte nach weisen konnte, dass hier
nicht die traumatische „Neurose“ allmählich in „Psychose“ über-
gegangen sei, wie angenommen worden war, sondern dass es
sich einfach um die Entwicklung einer progressiven Paralyse
handelte, welche mit dem auch an sich geringfügigen Unfälle
in gar keiner Beziehung stand. Neuerdings haben wir in einigen
Fällen versucht, gewisse Beschwerden der Kranken mit Hülfe psycho-
logischer Versuche genauer zu prüfen. Wir kennen jetzt eine ganze
Reihe von Verfahren, die uns gestatten, z. B. über die Auffassungs-
fähigkeit, die Rechengeschwindigkeit, die Uebungsfähigkeit und
528
XI. Die allgemeinen Neurosen.
namentlich die Ermüdbarkeit zahlenmässige Werthe zu gewinnen.
In den zahlreichen Erfahrungen, die schon von gesunden Personen
verschiedensten Bildungsgrades über diese Punkte vorliegen, be-
sitzen wir einen recht brauchbaren Maassstab zur Beurtheilung der
von ünfallskranken gelieferten Zahlen. Zugleich aber dürfte es
selbst für denjenigen, der in solche Untersuchungen auf das ge-
naueste eingeweiht ist, kaum möglich sein, willkürlich die Werthe
zu beeinflussen, ohne dass grobe Unregelmässigkeiten in die hier
überall herrschende feine Gesetzmässigkeit hineingetragen würden.
Wir sind daher, wie ich glaube, auf diesem Gebiete in der Lage,
jede absichtliche Täuschung mit grosser Wahrscheinlichkeit aus den
Ergebnissen des Versuches zu erschliessen. Die wenigen bisher an-
gestellten Prüfungen haben mir diese Vermuthung durchaus bestätigt
Die Behandlung der Schreckneurose hätte vor allem den
Kampf um die Rente möglichst einzuschränken. Man hat nicht
selten gesehen, dass mit der Gewährung der Entschädigung das
Leiden sich rasch besserte, eine Erfahrung, die natürlich nicht für
die Annahme von Verstellung ins Feld geführt werden darf. Jolly
hat empfohlen, den Verletzten in möglichst weitem Umfange eine
schleunige Kapitalabfindung zukommen zu lassen, damit sie nament-
lich über die erste schwere Zeit ohne drückende Sorge hinweg-
kommen, späterhin aber dem Kampfe entrückt sind und kein Inter-
esse mehr an der Aufrechterhaltung ihrer Hülfsbedürftigkeit haben.
Das wichtigste Heilmittel in allen diesen Fällen ist ohne Zweifel die
Beschäftigung, welcher der Kranke durch den Kampf um die Rente
geradezu entzogen wird. Man hat daher gesehen, dass dort, wo die
No th wendigkeit der Weiterarbeit gebieterisch an die Kranken heran-
tritt, die Folgen des Unfalls verhältnissmässig rasch überwunden
werden. Vielleicht sind neben den angeführten gesetzgeberischen
Massregeln die Nervenheilanstalten der Zukunft mit ihrer Erziehung
zur Arbeit ganz besonders berufen, die Willensschwäche und Mut-
losigkeit unserer Kranken zu bekämpfen. Dass man im übrigen mit
allen möglichen kräftigenden oder beruhigenden Mitteln Heilerfolge
erzielen kann, liegt auf der Hand. Es können daher Bäder wie
Massage, Gymnastik, elektrische Behandlung, hypnotische Suggestion,
Bromsalze, Eisen, Ernährungs- und Luftcuren im einzelnen Falle
von Nutzen sein.
XII. Die psychopathischen Zustände.
Bei den psychopathischen Zuständen bildet eine dauernd
krankhafte Verarbeitung der Lebensreize den wesentlichen
Inhalt des gesammten Krankheitsbildes. Wir haben es durchweg
mit krankhaft angelegten Persönlichkeiten zu thun, deren Eigen-
tümlichkeiten nach den verschiedensten Richtungen hin aus der
Gesundheitsbreite heraustreten können. Gemeinsam ist denselben
die krankhafte Unzweckmässigkeit des Denkens, Fuhlens oder Wol-
lens während des ganzen Lebens. Zugleich fällt uns überall die
Mischung von gesunden mit krankhaften Zügen, der Mangel an Ein-
heitlichkeit im Seelenleben auf, den wir früher bereits als Kenn-
zeichen der krankhaften Veranlagung erwähnt haben. Namentlich
sind es Widersprüche zwischen der Klarheit und Folgerichtigkeit des
Denkens einerseits, unvermittelten Stimmungsschwankungen und Ab-
sonderlichkeiten des Handelns andererseits, welche den Eindruck
des Unausgeglichenen, Verschrobenen erwecken.
Wenn irgendwo, so ist hier Berechtigung, von einer „Entartung“
zu sprechen. Man hat daher gerade diese Gruppe von Zuständen
mit dem Namen des Entartungsirreseins im engeren Sinne be-
legt. Im weiteren Sinne freilich umfasst jener Begriff noch eine
Reihe von anderen Geistesstörungen, die wir aus krankhafter Ver-
anlagung hervorgehen sehen, namentlich die allgemeinen Neurosen,
das manisch-depressive Irresein, gewisse Formen des Schwachsinns
und vielleicht auch die Paranoia.
Sehr vielfach weist uns schon die körperliche Anlage auf das
Bestehen einer Entartung hin. Wir finden Zurückbleiben der ge-
sammten Körperentwicklung auf kindlicher Stufe, auffallend jugend-
liches oder frühzeitig gealtertes Aussehen, örtliche und allgemeine
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aofl. n. Band. 34
530
XII. Die psychopathischen Zustände.
Wachsthumshemmungen des Gehirns und Schädels, schiefes Gesicht,
abnorme Zahn- und Kieferstellung, Missbildungen aller Art an Ohren.
Gaumen, Geschlechtstheilen, Händen. Seltener sind die Spuren über-
standener Gehirnkrankheiten. Die klinischen Gestaltungen, in denen
uns das Entartungsirresein entgegentritt, sind trotz gewisser gemein-
samer Grundzüge ausserordentlich mannigfache. Wir wollen uns
indessen hier einstweilen damit begnügen, die constitutioneile
Verstimmung, das Zwangsirresein, das impulsive Irresein
und die contra re Sexualempfindung auseinanderzuhalten. Die
ersten beiden Formen pflegt man auch wol unter der Bezeichnung
der angeborenen Neurasthenie*) zusammenzufassen.
In ihren leichtesten Andeutungen gehen diese Krankheitszu-
stände allmählich in jene mannigfaltigen kleinen Unvollkommen-
heiten der persönlichen Veranlagung über, welche von Koch**)
unter dem Namen der „angeborenen, dauernden psychopathischen
Minderwerthigkeiten“ beschrieben worden sind. Dieselben bilden
ein grosses und ungemein reiches Zwischengebiet zwischen dem
zweifellosen Irresein und der Gesundheitsbreite. Alle die verschie-
denen krankhaften Züge, welche dem Entartungsirresein im engeren
oder weiteren Sinne eigenthümlich sind, können sich in schwächerer
Ausprägung einzeln oder gemischt bei sonst rüstigen, leistungsfähigen,
ja hochentwickelten Persönlichkeiten wiederfinden. Wir sehen daher
in diesen Zuständen vielfach, wie die Entartung unmerklich auch
im kräftigen Stamme ihre Wirkung entfaltet; wir sehen aber wol
auch eben so oft, wie das gesunde Leben allmählich bis auf die
letzten unerheblichen Spuren die krankhafte Entwicklung früherer
Geschlechter zu überwinden vermag.
A. Die constitutiouelle Verstimmung.
Die constitutioneile Verstimmung ist gekennzeichnet durch eine
andauernd trübe Gefühlsbetonung aller Lebenserfahrungen.
Im Bereiche der Verstandesthätigkeit pflegt meist keine auffallendere
*) Saury, etude clinique sur la folie bereditaire (les degeneres). lS8fi;
Binswanger, Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie. 189(3; v. Krafft-
Ebing, Nervosität und neurasthenische Zustände. 1895.
**) Koch, die psychopathischen Minderwerthigkeiten. 1893.
Constitution eile Verstimmung.
531
Störung zu bestehen. Einzelne Kranke sind sogar sehr begabt,
während in anderen Fällen von Jugend auf die geistige Entwicklung
etwas zurückgeblieben ist. Kegelruässig aber scheint grosse Ermüd-
barkeit vorhanden zu sein. Die Kranken sind vielleicht im Stande,
mit Scharfsinn und Geschick eine Arbeit anzugreifen, aber sie er-
lahmen rasch, müssen immer wieder aussetzen, werden von Ab-
spannung, Kopfdruck, unangenehmen Empfindungen, innerer Er-
regung, Schlaflosigkeit befallen, sobald sie sich stärker anstrengen.
Sie sind daher öfters gezwungen, mit vielfachen Unterbrechungen
zu arbeiten, besondere Vorsichtsmassregeln einzuhalten, ihr Leben
peinlich regelmässig einzutheilen, vermögen aber auf diese Weise
bisweilen trotz aller inneren Hindernisse auch auf geistigem Gebiete
Genügendes und selbst Bedeutendes zu leisten. Namentlich der
Zwang der Yerhältnisse kann die sonst unfehlbar auftretenden Hem-
mungen durchbrechen. Ich kannte einen geistig sehr hochstehenden
Gelehrten, der schon nach wenigen Minuten Lesens oder gleichgül-
tigen Gespräches von den peinlichsten Empfindungen im Kopfe
befallen wurde, aber recht wol im Stande war, seine Vorlesung
zu halten oder sonstige wirklich nothwendige geistige Arbeit zu
leisten.
Die Ablenkbarkeit der Kranken ist meist erhöht. Nicht nur
genügen geringfügige äussere Störungen, um ihnen das Festhalten
der Gedanken und die planmässige Arbeit sehr zu erschweren, son-
dern es drängen sich auch leicht allerlei fremde Vorstellungen da-
zwischen, die ihre Aufmerksamkeit abziehen, sie in ihrer Thätigkeit
unsicher machen und sie öfters zwingen, die gleiche Arbeit mehr-
fach zu wiederholen. Oefters besteht die Neigung zu unfruchtbaren,
namentlich hypochondrischen Grübeleien. Das Bewusstsein der
Kranken ist immer völlig klar, der Zusammenhang ihres Denkens
in keiner Weise gestört; sie besitzen ein gutes Verständniss für das
Wesen ihrer Krankheit, oft auch ein äusserst peinliches Gefühl der
Behinderung durch die eigene Unzulänglichkeit.
Die Stimmung ist meist anhaltend gedrückt und muthlos. Die
Kranken haben von Jugend auf eine besondere Empfänglichkeit für
die Sorgen, Miihsale und Enttäuschungen des Lebens. Sie nehmen
alles schwer und empfinden bei jedem Ereignisse die kleinen Un-
annehmlichkeiten weit stärker, als die erhebenden, befriedigenden
Seiten des unbekümmerten, frohen Genusses, der rückhaltlosen Hin-
34*
532
XII. Die psychopathischen Zustände.
gäbe an die Gegenwart; jeder Augenblick der Freude wird ihnen
durch die Erinnerung an trübe Stunden, durch Selbstvorwürfe und
noch mehr durch grell ausgemalte Befürchtungen für die Zukunft
vergällt. Manche Kranke können äusserlich ganz ruhig erscheinen
und offenbaren ihre unglückliche Gemüthsverfassung, ihre Selbst-
quälereien nur ihren nächsten Vertrauten oder dem Arzte; sie sind
bei äusserer Anregung vielleicht ganz heiter, hinreissend liebens-
würdig und selbst iibermüthig, um sich dann, sich selbst überlassen,
mit einer gewissen Befriedigung wieder in das Elend ihres Lebens
hineinzugrübeln. Jede Aufgabe steht vor ihnen wie ein Berg; das
Leben, die Thätigkeit ist eine Last, die sie mit pflichtmässiger Selbst-
verleugnung gewohnheitsmässig tragen, ohne durch die Lust am
Dasein, die Freude am Schaffen entschädigt zu werden. Die Kranken
haben kein Vertrauen zu ihrer eigenen Kraft; sie verzweifeln bei
jeder Aufgabe und werden ungemein leicht ängstlich und verzagt,
fühlen sich unnütz auf der Welt, zu allem untauglich, nervös, krank,
fürchten den Ausbruch eines schweren Leidens, insbesondere einer
Geistesstörung, einer Hirnerkrankung. Sie sind misstrauisch, be-
trachten sich als Stiefkinder der Natur, werden von ihrer Umgebung
nicht verstanden und beschäftigen sich vielfach gern mit Todesge-
danken, sogar schon in den Kinderjahren.
Gewisse Kranke werden dauernd von dem Gefühle gepeinigt,
als hätten sie irgend etwas nicht recht gemacht, als hätten sie sich
etwas vorzuwerfen. Bisweilen sind es wirkliche, aber lange zurück-
liegende oder ganz unbedeutende Vorkommnisse, an die sich diese
quälende Unsicherheit anknüpft. Einer meiner Kranken konnte
mit dem Gedanken an eine vor Jahren begangene sexuelle Verfeh-
lung durchaus nicht fertig werden; ein anderer vermochte die Er-
innerung daran nicht zu überwinden, dass ihm einmal seine Haus-
wirthin gesagt habe, er werde nie sein Examen bestehen. Obgleich
ihm letzteres ohne besondere Schwierigkeit geglückt war, verfolgte
ihn dauernd der Gedanke, dass er ein Waschlappen gewesen sei,
sich so etwas sagen zu lassen; ihm sehe jeder an, dass er kein
rechter Kerl sei, solche Dinge auf sich sitzen lasse. Immer wieder
trieb es ihn, Schritte zu thun, um auf irgend eine Weise sich noch
nach vielen Jahren Genugthuung zu verschaffen und seine vermeint-
lich geschädigte Ehre wieder herzustellen.
Meist wird hier das Gefühlsleben von einer weichlichen Em-
Constitutionelle Verstimmung.
533
pfindsamkeit beherrscht, oft mit ausgeprägten, künstlerischen und
schöngeistigen Neigungen und Fähigkeiten. Die gesammte Lebens-
führung der Kranken wird durch ihr Leiden erheblich beeinflusst.
Sie sind unentschlossen, langsam, gehemmt durch ihre trübe Lebens-
auffassung, bald eigensinnig und hartköpfig, bald wetterwendisch und
bestimmbar; jede Regung von Leichtherzigkeit oder Wagemuth wird
erstickt durch das Zurückschrecken vor Verantwortung, durch die
Furcht vor den entferntesten Möglichkeiten. Quälerische Genauig-
keit und Pünktlichkeit auch in Kleinigkeiten, peinliches Abwägen
aller Umstände und Folgen, strengste Vermeidung aller ungewöhn-
lichen oder gar gefährlichen Handlungen, Selbstbeschränkung, Un-
freiheit, Einförmigkeit pflegen das Handeln der Kranken zu kenn-
zeichnen. Damit kann sich indessen hie und da plötzliche Leiden-
schaftlichkeit und Unbesonnenheit verbinden. Auf der anderen Seite
entwickeln sich nicht selten Schrullen und Eigenheiten, die gewöhn-
lich in irgend einer Beziehung zu der Verstimmung stehen und
Schutzmassregeln bedeuten, durch welche sich der Kranke über die
inneren Schwierigkeiten hinwegzuhelfen sucht. Manche Kranke
spielen fortwährend mit Selbstmordgedanken und sind immer darauf
vorbereitet, beim nächsten Anlasse ihr Leben fortzuwerfen. Wenn
derartige Aeusserungen auch in der Regel nicht sehr ernst zu neh-
men sind, so kommen doch Selbstmorde aus geringfügigem Anlasse bei
diesen krankhaft haltlosen Persönlichkeiten immer noch oft genug vor.
Vielfach haben die Kranken an allerlei nervösen Beschwerden
zu leiden, die ihnen einen Theil ihrer Arbeitsfähigkeit rauben,
Druck oder Schmerzen im Kopfe, unangenehmen Empfindungen
n den verschiedensten Theilen des Körpers, Wallungen, Pul-
siren, Vibriren; nicht selten werden einzelne absonderliche Be-
wegungserscheinungen beobachtet, Grimmassiren , choreatische Un-
ruhe, zwangsmässiges Belecken des Gaumens, Schnalzen mit der
Zunge, plötzliches Schnüffeln oder Gautzen, Muskelzuckungen und
ähnl. Der Schlaf ist meist sehr gestört, zeitweise bis zu fast völliger
Schlaflosigkeit, weniger die Esslust; die Verdauung pflegt träge
zu sein.
Auf der Grundlage der dauernden „nervösen“ Verstimmung können
sich, wie cs scheint, gelegentlich auch länger dauernde Depressions-
zustände ausgeprägterer Art entwickeln, namentlich im Anschlüsse
an eine heftige Gemüthsbewegung, einen Schreck, einen Unglücksfall.
534
XII. Die psychopathischen Zustände.
Diese Zustände erinnern bisweilen sehr an die Schreckneurose.
Es handelt sich um ganz leichte, einfache ängstliche Verstimmungen
ohne Wahnvorstellungen oder Sinnestäuschungen bei vollkommener
Besonnenheit und Krankheitseinsicht. Die Kranken sind niederge-
schlagen, verzagt, kleinmüthig, haben den Schrecken und die Angst
in den Gliedern, müssen immer an ihren Zustand und den Anlass
des Leidens denken, können sich der trüben Gedanken nicht er-
wehren, die in ihnen aufsteigen. Dieselben werden jedoch nicht zu
eigentlichen Wahnideen. „Es ist mir, als ob ich an allem Schuld
wäre, auf das Schaffet müsste“; „ich meine immer, ich könnt’ nie
wieder gesund werden “, sagen solche Kranke. Auch religiöse Grübe-
leien, Befürchtungen für die Zukunft, die oft in peinlichen Einzel-
heiten ausgemalt werden, Selbstmordantriebe stellen sich ein. Den-
noch kommt es nur verhältnissmässig selten zu wirklich ernsthaften
Selbstmordversuchen; bisweilen bitten die Kranken selbst um Ueber-
wachung, um vor ihren finsteren Anwandlungen geschützt zu sein.
Regelmässig besteht ein ausgeprägtes Krankheitsgefühl und ein ent-
schiedenes Trostbedürfniss. Bisweilen hat es den Anschein, als ob
die Beschwerden bei besonderem Zuspruche stärker hervortreten-
„Sie ist ganz munter, so lange sie nicht in Verkehr kommt mit
solchen Frauen, welche auch glauben, krank zu sein,“ schrieb uns
der Mann einer Kranken. Häufig sind Klagen über Druck und
Beklemmung in der Herzgegend, Zusammenschnüren im Halse,
dumpfe Beengung im Kopfe, Unruhe im Leibe. Die Arbeitsfähig-
keit der Kranken ist gering, ihre Esslust meist leidlich, wenn sie
auch keinen „rechten Genuss“ vom Essen haben, die Verdauung
träge. Der Schlaf pflegt schlecht zu sein; das Körpergewicht sinkt
langsam.
Der Verlauf dieser Störung ist meist ein sehr schleppender.
Der Zustand zeigt ganz unregelmässige Schwankungen, bleibt aber
innerhalb gewisser Grenzen ausserordentlich einförmig. Die Dauer
kann eine sehr lauge sein, sich selbst über eine Reihe von Jahren
erstrecken. Der erste Anfall tritt nicht selten schon um das 20. Le-
bensjahr hervor. Anfangs pflegen sich zwischen die Anfälle längere
Zeiten verhältnissmässigen Wohlbefindens einzuschieben; späterhin
aber zeigt das Leiden grosse Neigung zu einer Art Versumpfung,
insofern die Nachlässe immer unvollständiger werden, so dass sich
schliesslich ein dauernder krankhafter Zustand mit geringen Schwan-
Constitutionelle Verstimmung.
535
kungen herausbilden kann. Auch in ihren guten Zeiten jedoch
bieten die Kranken regelmässig die körperlichen und psychischen
Zeichen der Entartung dar. Sie werden vielfach als eigenthüm-
liche Menschen geschildert, als still, scheu, verdriesslich, un-
freundlich, stumpfsinnig, geizig. „Ich kann sagen, ich bin in
der Angst geboren,“ sagte ein solcher Kranker mit riesigem
Schädel.
Ausser den geschilderten, häufigsten Fällen mit vorwiegend
trauriger Verstimmung begegnen uns noch eine Reihe weiterer
Formen des Entartungsirreseins, bei denen andere Färbungen
der Gefühlsregungen in krankhaftem Maasse das Seelenleben
bestimmen. Ihnen ist gemeinsam einerseits die grosse Beeinfluss-
barkeit der gemüthlichen Vorgänge durch geringfügige Anlässe,
andererseits das unvermittelte Auftauchen gewisser Stimmungen
ohne erkennbaren Anstoss, aber auch ohne die Periodicität der
Epileptiker.
Hauptsächlich haben wir einer Gruppe von Fällen zu ge-
denken, bei denen das Gefühlsleben dauernd von einer missmuthig-
gereizten, gallig- verbitterten Stimmung beherrscht wird. Regel-
mässig besteht dabei ein stark erhöhtes Selbstgefühl, oft auch
schroffe Selbstsucht. Die Kranken sind leicht beleidigt, empfindlich,
schwer zu behandeln, misstrauisch, nörgelnd, streitsüchtig und un-
zufrieden; sie sind unbotmässig gegen die Obrigkeit, rechthaberisch,
wollen alles besser wissen und verwickeln sich nicht selten aus
geringfügigstem Anlasse in zahllose Streitigkeiten. Sie werden darum
leicht für Querulanten gehalten, doch fehlt ihnen gänzlich die wahn-
hafte Verarbeitung ihrer Erfahrungen sowie die einheitliche Ent-
wicklung ihrer Klagen aus einem bestimmten Anlasse heraus. Immer^
hin sind auch diese Kranken sehr leidenschaftlich; zeitweise kommt
es zu heftigen Aufregungen, maasslosen Wuthausbrüchen, Schimpfe-
reien und selbst Gewaltthaten. Dabei fehlt der Stimmung ganz die
Gleichmässigkeit und Einheitlichkeit. Die Kranken schwanken oft
haltlos zwischen Missmuth, feindseliger Verbitterung, schwächlicher
Verzagtheit, reuiger Zerknirschung und verzweifelter Selbstquälerei.
In ihrem Handeln sind sie unstet, bald leicht bestimmbar, bald
planlos eigensinnig. Oft besteht krankhafte Empfindlichkeit gegen
den Alkohol.
Bei einzelnen Kranken tritt ganz besonders eine krankhafte
536
XII. Die psychopathischen Zustände.
Zornmüthigkeit in den Vordergrund. Es kommt zu blinden
Wuthanfällen von ausserordentlicher Heftigkeit mit völligem Verluste
jeder Selbstbeherrschung, namentlich unter dem Einflüsse des Alko-
hols. Ich bin jedoch nicht sicher, ob wir es hier nicht mit unaus-
gebildeten Fällen von Epilepsie zu thun haben, mit Formen, bei
denen vielleicht nur die reizbaren Verstimmungen entwickelt
sind, während alle anderen Aeusserungen der Epilepsie fehlen.
Manche Erfahrungen scheinen mir für diese Auffassung zu
sprechen.
Das Krankheitsbild der constitutionellen Verstimmung in seinen
verschiedenen Färbungen und Abstufungen ist nichts, als eine be-
sondere Form der psychopathischen Entartung. Es zeigt daher Ver-
wandtschaft mit manchen anderen Gestaltungen des Entartungsirre-
seins, für die es nicht selten die allgemeinere Grundlage bildet
Auch zur Hysterie führen Uebergänge, doch fehlt den hier be-
sprochenen Zuständen ganz der schillernde Wechsel in Gemüths-
verfassung und sonstigen Krankheitserscheinungen, der die Hysterie
auszeichnet. Grösser ist die Aehnlichkeit mit der Schreckneurose,
wenn wir von der Entstehungsweise und dem stärkeren Ueberwiegen
der hypochondrischen Vorstellungen bei dieser letzteren absehen.
Die anfallsweisen Verschlimmerungen der constitutionellen Verstim-
mung erinnern unmittelbar an gewisse Formen des manisch-depres-
siven Irreseins. Es ist vielleicht möglich, dass hier wirkliche Ueber-
gänge Vorkommen. Immerhin spricht für die Eigenart der hier
geschilderten Zustände der ungemein schleppende Verlauf bei sehr
geringfügigen Krankheitserscheinungen, das Fehlen einer eigent-
lichen psychomotorischen Hemmung und jeder manischen An-
deutung.
Zwischen der constitutionellen Verstimmung und der chronischen
nervösen Erschöpfung bestehen keine scharfen Grenzen. Je mehr
die Unzulänglichkeit der Veranlagung in jenem Krankheitsbilde
hervortritt, desto mehr nähert es sich demjenigen des Entartungs-
irreseins, bei dem eben schon von Hause aus die gewöhnlichen
Lebensreize in krankhafter Weise verarbeitet werden. Abgesehen
daher von dem starken Hervortreten krankhafter Verstimmungen
gegenüber der einfachen Reizbarkeit der Ueberarbeiteten, sehen wir
beim Entartungsirresein die Störungen fortbestehen, auch wenn wir
den Kranken Gelegenheit zu ausgiebigster Erholung gewähren.
Constitutionelle Verstimmung.
537
Bei der Erschöpfung dagegen erweisen sich die Störungen durchaus
abhängig von der Ueberanstrengung; völliges Ausspannen beseitigt
sie. Da bei der constitutione! len Verstimmung krankhafte gemüth-
liche Schwankungen die Hauptrolle spielen, kann gerade angespannte
Arbeit durch die Ablenkung, die sie mit sich bringt, unter Um-
ständen eine entschiedene Besserung, längeres Nichtsthun im Gegen-
theil eine Verschlechterung bewirken.
Die Behandlung der constitutionellen Verstimmung hat ausser
den allgemeinen vorbeugenden Massnahmen nur geringen Spielraum.
Sehr regelmässiges Leben, geschützte Verhältnisse können dem Kranken
die Last bedeutend erleichtern, während Kämpfe und grosse Ver-
antwortlichkeit meist ungünstig wirken. Andererseits pflegt völlige
Ungebundenheit seine Beschwerden zu steigern, da er ohne den
Zwang der Pflicht oft ausser Stande ist, die inneren Hemmungen
zu überwinden und sich die Wohlthat ablenkender Thätigkeit zu
verschaffen. Eigentliche „Curen“ pflegen nicht selten geradezu schlecht
zu wirken. Gerade solche Kranke würden daher von den Nerven-
heilanstalten, wie sie Möbius*) empfiehlt, besonderen Nutzen haben.
Sie bedürfen oft der Arbeit, allerdings in richtiger Abmessung und
Auswahl; sie müssen dazu erzogen werden, ihre geistigen und kör-
perlichen Kräfte in planmässiger, ausdauernder Arbeit allmählich zu
üben, anstatt, wie sie so oft zu thun pflegen, zwischen unsinniger
Ueberarbeitung und wehleidigem Müssiggange hin und her zu
schwanken. Mehr als alle sonstigen Heilversuche, mit Wasser, Elek-
tricität, Massage, Gymnastik, mit Arzneien und Reisen, wird ohne
Zweifel die beständige psychische Beeinflussung durch den Arzt und
namentlich der Segen einer genau der persönlichen Leistungsfähig-
keit angepassten , die Kräfte und das Selbstvertrauen hebenden
Thätigkeit erreichen. In manchen Fällen leistet die hypnotische Be-
handlung gute Dienste, indem sie gewisse Krankheitszeicben, nament-
lich Schmerzen und Schlaflosigkeit, beseitigt. Sie muss lange Zeit
fortgesetzt, aber auch immer wieder abgebrochen werden, damit der
Kranke es lernt, nach Milderung seiner Beschwerden die letzte, ent-
scheidende Hülfe bei sich selbst zu finden.
*) Ueber die Behandlung von Nervenkranken und die Errichtung von Nerven-
heilstätten. 2. Auf!. 1897.
538
XII. Die psychopathischen Zustände.
B. Das Zwangsirresein*).
Mit diesem abgekürzten Namen wollen wir diejenigen Formen des
Entartungsirreseins bezeichnen, bei denen Zwangsvorstellungen
und Zwangsbefürchtungen das Krankheitsbild beherrschen („Anan-
kasmus“). Auch hier kann die Verstandesbegabung der Kranken
eine genügende oder sogar vortreffliche sein. Sie behalten dauernd
ein ausgeprägtes Krankheitsgefühl und meist auch ein recht klares
Verständniss für die Krankhaftigkeit der einzelnen Störungen. Auf
den ersten Blick kann daher das Leiden, das von dem Kranken
selbst als quälender Zwang empfunden wird, den Eindruck einer
umgrenzten Erkrankung machen. Bei genauerer Betrachtung er-
giebt sich jedoch, dass die tieferen Wurzeln des Leidens in der ge-
summten Veranlagung des Kranken liegen, dass in der Regel die
ersten Andeutungen desselben in eine Zeit zurückreichen, in welcher
noch Niemand an die Möglichkeit einer geistigen Erkrankung dachte.
Regelmässig sind es gemüthliche Verstimmungen, welche den
günstigen Boden für das erste Auftreten der Krankheitserscheinungen
abgeben. Gar nicht selten bieten die Kranken geradezu das Bild
der im vorigen Abschnitte gezeichneten constitutionellen Verstim-
mung in mehr oder weniger deutlichen Zügen dar.
Zunächst kann es zur Entwicklung einfacher Zwangsvorstellungen
kommen, die sich dem Kranken gegen seinen Willen aufdrängen und
auf diese Weise die freie Beweglichkeit seines Gedankenverlaufes
beeinträchtigen. Bisweilen sind dieselben an sich ganz gleichgültigen
oder wenigstens nicht aufregenden Inhaltes; nur in der häufigen
Wiederholung liegt das Peinigende des Vorganges. Ich kannte einen
Arzt, dem sich bei jeder Gelegenheit die Vorstellung eines Abtrittes
in quälendster Weise aufdrängte. Hie und da verknüpfen sich die
Vorstellungen mit hallucinatorischen Bildern, die dem Kranken in
grosser sinnlicher Deutlichkeit vorschweben. Löwenfeld berichtet
von einer Kranken, die immer eine riesige Gespensterhand vor sich
sah, von der sie in einem Romane gelesen hatte. Auch Gerüche,
Melodien können den Kranken in ähnlicher Weise verfolgen. Be-
sonders peinlich werden solche Vorstellungen, wenn sie einen
*) "Westphal, Archiv f. Psychiatrie, VIII, S.7S7; Kaan, Der neurasthenische
AngstafTect bei Zwangsvorstellungen und der primordiale Grübelzwang. 1893.
Zwangsirresein.
539
schmutzigen, namentlich geschlechtlichen Inhalt annehmen. So em-
pfinden manche Kranke den Zwang, die Genitalgegend der Personen
ihrer Umgebung betrachten, sich dieselben nackt in schlüpfrigen
Stellungen vorzustellen. Andere müssen sich allerhand hässliche
Situationen ausmalen, oder sie haben beim Stuhlgang das Gefühl
des Beschämenden und Unanständigen; sie vermeiden denselben
daher so viel wie möglich, beschränken ihre Nahrungsaufnahme.
In einer zweiten Gruppe von Fällen tritt der Zwang zum Nach-
denken über bestimmte Dinge in den Vordergrund. Besonders gern
knüpft sich derselbe an die Personennamen an („Onomatomanie“*),
die schon dem gesunden Gedächtnisse häufig genug Schwierigkeiten
bereiten. Die Kranken fühlen sich genöthigt, sich einen beliebigen
Namen, den sie in der Zeitung, auf einem Schilde gelesen, zufällig
gehört haben, ins Gedächtniss zurückzurufen. Sobald sie sich des-
selben nicht zu entsinnen vermögen, grübeln sie tagelang, werden
schlaflos und machen die verzweifeltsten Anstrengungen, um auf
irgend eine Weise zum Ziele zu kommen. Die unerträgliche Span-
nung weicht erst dann, und zwar ganz plötzlich, wenn ihnen der
Name wieder einfällt. Andeutungen dieses peinlichen Zustandes
sind uns aus dem gesunden Leben genugsam bekannt. Bei dem
Kranken führt derselbe aber dazu, dass er anfängt, sich alle Namen,
die ihm Vorkommen, aufzuschreiben. So bekritzelte eine meiner
Kranken die ganzen Wände der Abtkeilung mit den Namen ihr
ganz fernstehender Personen, um sie in ihrer Noth jederzeit leicht
wiederfinden zu können. Manche Kranke fühlen sich schliesslich
gezwungen, sich nach den Namen der Leute zu erkundigen, die
ihnen begegnen, an ihnen vorüberfahren, um sie ihren Heften ein-
zuverleiben ; andere gehen im Gegentheil mit gesenktem Blicke durch
die Strassen, um nicht die Firmenschilder ansehen und die Namen
sich merken zu müssen, ziehen sich ganz aus dem Verkehr mit
anderen Menschen zurück. Auch der Zwang, sich die Gesichter,
Tracht und Haarfarbe fremder Personen, bestimmte Bilder zu mer-
ken, wird beobachtet. Baillarger berichtet von einem Kranken,
der sich bei jeder Frauensperson zwangsmässig darüber Rechenschaft
geben musste, ob sie hübsch oder hässlich sei, und selbst Reisen
machte, um ein Versäumniss in dieser Beziehung nachzuholen.
*) Magnan, Psychiatrische Vorlesungen, Deutsch von Möbius, HeftlY. u. V.
540
XII. Die psychopathischen Zustände.
Eine sehr ergiebige Anknüpfung für das Zwangsdenken pflegen
ferner Zahlen zu liefern („Arithmomanie“). Die Kranken müssen
sich mit der Nummer ihrer Droschke, ihres Gastzimmers beschäftigen,
prüfen, ob und durch welche Zahlen sie theilbar ist; sie zählen
zwangsmässig die Personen einer Tafelrunde, die Messer, Teller,
Gläser auf dem Tische, die Bretter auf einer Brücke, die Wieder-
holungen des Tapetenmusters. Auch von grossen Rechenkünstlern
(Dahse) wissen wir, dass sie zwangsmässig alle ihnen aufstossenden
Gegenstände, die Worte eines Trauerspiels, die Buchstaben eines
gehörten Gedichtes zählen, mit allen ihnen vorkommenden Zahlen
umfangreiche Rechnungen ausführen mussten, ohne sich davon los-
machen zu können. Magnan erzählt von einem Kranken, der
20 Kirschen gegessen hatte, aber nur 19 Kerne auffand und nun in
der grössten Aufregung alles, auch seine eigenen Ausleerungen durch-
suchte, bis er in letzteren endlich den fehlenden Kern gefunden
hatte und damit beruhigt war.
Nicht selten nehmen die Zwangsvorstellungen die Form von
Fragen an, die sich an beliebige Eindrücke anknüpfen. Schon aus
dem gesunden Leben ist uns die Neigung einzelner Personen be-
kannt, bei jedem Vorfall sogleich zu erörtern, wie das nur so hat
kommen können. Einer meiner Kranken fing an, über die Her-
kunft einer Neujahrskarte nachzudenken ; dann waren es gleichgül-
tige Zeitungsnachrichten, denen er „auf den Grund gehen“ musste,
was dies und jenes zu bedeuten habe, woran Dieser und Jener ge-
storben sei; ihm war, „als müsse er alles wissen“. Auf diese Weise
können in förmlichen „Anfällen“ massenhafte, zwecklose, unlösbare,
ja gänzlich alberne Fragen auftauchen, die sich der Kranke ver-
geblich zu unterdrücken bemüht. Der Inhalt dieser Fragen nimmt
nicht selten eine allgemeine, metaphysische Richtung und beschäftigt
sich namentlich gern mit der Entstehung und Entwicklung der Dinge
(„Schöpfungsfragen“), indem sich immer eine ganze Kette derselben
aneinander knüpft: Was ist Gott? Wie ist er? Woher ist er ge-
kommen? Giebt es überhaupt einen Gott? Wie ist die Welt, der
Mensch entstanden? Einer meiner Kranken empfand namentlich,
wenn er von Hause fort war, das Bediirfniss, „über die Unendlich-
keit“ nachzudenken, „weil alles so auf ihn drückte“. Bisweilen sind
es auch irgend welche Gegenstände der zufälligen Umgebung, auf
die der Blick gerade fällt, welche den Anknüpfungspunkt für die
Zwangsirresein.
541
Zwangsfragen abgeben: Warum steht dieser Stuhl so und nicht so?
Warum nennt man ihn gerade Stuhl? Warum hat er vier Beine,
nicht mehr, nicht weniger? Warum ist er braun, warum nicht höher,
nicht niedriger? Man bezeichnet diese Form der Störung gewöhn-
lich mit dem Namen der Grübelsucht.*) Grashey hat daran er-
innert, dass ein ähnlicher Fragedrang auf gewissen Entwicklungsstufen
des kindlichen Seelenlebens als Ausdruck der ungesättigten Wiss-
begierde aufzutreten pflegt. Die eigentliche Grundlage des krankhaften
Denkzwanges sind jedoch Angstgefühle, wenn sie auch zunächst
nur unklar ins Bewusstsein treten. Sie werden aber sofort deutlich,
wenn der Kranke versucht, dem Zwange zu widerstehen. Er geräth
dann in lebhafte Erregung und kommt meist nicht früher wieder
zur Ruhe, bis er nachgegeben hat, ja, sein Widerstand pflegt sogar
die Macht des Zwanges noch zu erhöhen.
Diese Erfahrungen zeigen uns die Verwandtschaft des Denk-
zwanges mit den sogenannten „Phobien“, den Angstzuständen,
die sich bei unseren Kranken an bestimmte Eindrücke, Handlungen
oder Absichten anzuknüpfen pflegen. Sie sind verbunden mit
dem allgemeinen Gedanken an irgend eine grosse Gefahr, trotzdem
der Kranke darüber völlig im klaren ist, dass ihm in Wirklichkeit
nichts zustossen kann. Heftiges Herzklopfen, Blässe, Beklemmungs-
gefühle stellen sich ein, Zittern, kalter Schweiss, Uebelkeit, Meteoris-
mus, Durchfälle, Polyurie, Schwäche in den Beinen, Ohnmachts-
anwandlungen, so dass der Kranke vollständig die Herrschaft über
seine Glieder verliert und unter Umständen einfach zusammenbricht.
Diese Zustände erinnern sehr an die Angstgefühle, die auch dem
gesunden Menschen Angesichts einer peinlichen Lage oder einer
ernsten Gefahr die Ruhe der Ueberlegung und die Sicherheit der
Bewegung rauben können.
Die Anlässe, bei denen solche Angstanfälle sich im einzelnen
Falle einstellen, sind sehr verschiedene, doch begegnen uns gewisse
Formen der Störung mit merkwürdiger Regelmässigkeit immer wieder,
nicht selten eine ganze Anzahl bei demselben Kranken. Am be-
kanntesten ist vielleicht die Platzangst**; (Agoraphobie) geworden.
Es handelt sich hier um die Unfähigkeit, allein über einen grossen,
*) Griesinger, Archir f. Psychiatrie I, S. 626; Berger, ebenda VI, S. 217.
**) Westphal, Archiv f. Psychiatrie III, 138; Cordes, ebenda III, 521;
X, 48.
542
XII. Die psychopathischen Zustände.
menschenleeren Platz oder durch eine lange, weite Strasse zu
schreiten; bei jedem Versuche dazu überfällt den Kranken jene
namenlose Angst, die es ihm unmöglich macht, weiter zu gehen.
Die Begleitung eines Knaben, das Hinterhergehen hinter einem
anderen Menschen oder einem Wagen, das Festhalten an den
Häusern genügt oft schon, um die lähmende Angst vollständig zu
überwinden. In den höheren Graden ist der Kranke überhaupt
nicht im Stande, auf die Strasse zu gehen, das Zimmer zu ver-
lassen, ja es kann so Aveit kommen, dass er sich kaum oder doch
nur mit grösstem Unbehagen aus dem Schutze seines Bettes heraus-
wagt. Andererseits kann sich die Furcht vor dem Alleinsein hinzu-
gesellen. Ich kannte einen durch langwierige Verdauungsstörungen
sehr heruntergekommenen Herrn, der Monate lang Tag und Nacht
immer Jemanden um sich haben musste. Später, mit der Besse-
rung des körperlichen Zustandes, verlor sich diese Erscheinung,
aber die Platzangst bestand in allmählich abnehmender Stärke fort
Schliesslich konnte der Kranke auch diesen Zuständen Vorbeugen,
indem er sich stets bei seinen Ausgängen mit einem Priessnitz’-
schen Umschläge und einem Fläschchen Valerianatinctur versah.
Obgleich er von beiden Mitteln nie Gebrauch machte und sich der
Unsinnigkeit seiner Massregel bewusst war, genügte dieselbe doch,
das sonst unfehlbare Auftreten der Angst zu verhindern.
Der Platzangst nahe verwandt ist die auch bei gesunden Menschen
in verschiedenen Graden sehr häufige Höhenangst, das Gefühl
stärksten ängstlichen Unbehagens beim Stehen auf hohen Thürmen,
am Rande von Abgründen, beim Gehen über Brücken, selbst wo
nicht die mindeste wirkliche Gefahr eines Herabfallens vorhanden
ist. Auch können sich bei unseren Kranken Angstzufälle in grossen,
weiten Räumen, in Kirchen und Theatern, in grossem Gedränge,
beim Alleinsein in der Dunkelheit (Nyktophobie), bei geschlossenen
oder geöffneten Thtiren (Claustrophobie und Claustrophilie), auf
freiem Felde, beim Fahren auf dem Wasser oder in der Eisenbahn,
besonders durch Tunnels, einstellen. Manche Kranke sind daher
ausser Stande, Vergnügungen, Gesellschaften, den Gottesdienst zu
besuchen, oder sie müssen sich Avenigstens ein Plätzchen au der
Ecke, nahe bei der Thüre sichern, um sich durch die Möglichkeit
einer schleunigen Flucht zu beruhigen. Andere können sich über-
haupt nicht Aveit von Hause entfernen, theils des\A7egen, weil ihnen
Zwangsirresein.
543
die Benutzung der Verkehrsmittel unmöglich ist, theils darum, weil
sie auf Schritt und Tritt die Angst verfolgt, dass ihnen in der Ferne
irgend etwas zustossen könnte. Sobald sie ihr Heim wieder erreicht
haben, ist sofort alle Beunruhigung verschwunden.
Der gesunden Erfahrung begreiflicher erscheinen die Angst-
zustände, welche sich dann einstellen, wenn die Kranken die all-
gemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet wissen, be-
sonders bei öffentlichen Reden, Gerichtsverhandlungen, Vorträgen.
Sie fürchten, sich zu blamiren, etwas recht Dummes zu sagen, stecken
zu bleiben. Diesen Zuständen entspricht der hindernde Einfluss,
den überall die „Befangenheit“ auf die Sicherheit von Leistungen
auszuüben pflegt, die sonst mit der grössten Leichtigkeit von Statten
gehen, jenes Gefühl völligen Schwindens aller Gedanken, welches
den ungeübten Redner bisweilen plötzlich auf das peinlichste in dem
Flusse seines Trinkspruches unterbricht.
Solche Kranke werden unsicher und linkisch im Verkehr, weil
sie nicht unbefangen sein können, sondern immer daran denken
müssen, welchen Eindruck sie wol machen. Sie haben namentlich
mit den allergrössten Schwierigkeiten zu kämpfen, um Prüfungen
zu bestehen. Trotzdem sie vielleicht den Stoff längst vollkommen
beherrschen, zwingt sie das Examensfieber, vorher in der unsinnigsten
Weise Tage und Nächte zur letzten Vorbereitung zu benutzen; so-
bald aber der entscheidende Augenblick gekommen ist, wird die
Angst so stark, dass sie alle anderen Rücksichten vergessen und
plötzlich noch zurücktreten, auch wol ohne weiteres davon reisen.
So mancher sonst gut begabte, derart veranlagte junge Mann schei-
tert in anscheinend unbegreiflicher Weise an der Klippe krankhafter
Examensangst. Ich habe wiederholt Gelegenheit gehabt, mit Hülfe
einfacher oder hypnotischer Beeinflussung solche Kranke durch die
Fährnisse der hochnothpeinlichen Prüfung in das ruhigere Fahr-
wasser einer geregelten Berufsthätigkeit hinüberzuretten. In den
höchsten Graden des Leidens sind die Kranken nicht im Stande, zu
schreiben, zu gehen, zu essen, Urin zu lassen, auf den Abtritt zu
gehen, sobald sie sich beobachtet wissen, während sie sonst keinerlei
Störungen des Handelns darbieten. Ein Postbeamter lebte in be-
ständiger Furcht, seine Stellung zu verlieren, weil er nicht einmal
seinen Namen zu schreiben vermöge, wenn man ihm zusehe; sonst
könnte er eigentlich so recht glücklich und sorgenfrei sein.
544
XII. Die psychopathischen Zustände.
Ganz eng an die geschilderten Zustände schliesst sich die F urcht
vor dem Erröthen an (Erythrophobie). Die Kranken erröthen unge-
mein leicht und gerathen gerade dadurch in eine Verlegenheit, die
ihr Leiden immer mehr steigert. Bei jedem beliebigen Anlasse, wenn
Jemand ins Zimmer tritt, wenn ihr Name genannt, wenn von pein-
lichen Vorkommnissen gesprochen wird, tritt ihnen das Blut ins
Gesicht Daran knüpft sich die Befürchtung, dass man -wegen ihres
Erröthens glauben könnte, sie hätten sich etwas zu Schulden kom-
men lassen, seien an dem Diebstahl, dem Sittlichkeitsvergehen, von
dem gerade gesprochen wurde, irgendwie betheiligt, hätten über-
haupt kein gutes Gewissen. Ihre Unsicherheit im Verkehr mit der
Umgebung steigert sich dadurch nicht selten bis zur vollkommenen
Menschenscheu und zum Lebensüberdrusse. Im Dunkeln und nahen
Bekannten oder eingeweihten Personen gegenüber bleibt das Er-
röthen aus.
Andere Kranke werden den Gedanken nicht los, irgend etwas
Auffallendes oder Lächerliches an sich zu tragen, eine merk-
würdig geformte Nase, krumme Beine zu haben und dadurch die
Aufmerksamkeit und den Spott der Begegnenden hervorzurufen,
ihrer Umgebung unangenehm zu sein. Ein Arzt wurde in seiner
Untersuchung auf das Empfindlichste durch die Vermuthung ge-
stört, dass es den Kranken zuwider sei, wenn er sie ansehe. Noch
Andere fürchten, sich unpassend zu benehmen, auf dem Abtritte
beobachtet, in peinlicher Lage von Harndrang oder Blähungen über-
fallen, von einem Betrunkenen belästigt zu werden, ja sie fürchten
sich schliesslich vor ihren eigenen, sie in ihrer Bewegungsfreiheit
hochgradig beeinträchtigenden Befürchtungen.
Ebenfalls in diese Gruppe von Störungen gehört die hie und da
beobachtete Kleiderangst. Wie der Gesunde sich bisweilen in
einem neuen Anzuge zunächst nicht recht wohl fühlt, so entsteht
hier, namentlich beim erstmaligen Tragen eines Kleidungsstückes,
ein sehr lebhaftes Unbehagen, welches sich mit bestimmten körper-
lichen Empfindungen verbinden kann. Die Kranken merken deutlich,
dass die Aermel drücken, die Taille nicht ganz gerade sitzt, der Schuh
zu kurz ist — aber trotz zahlloser Aenderungen bleibt alles beim
Alten, so dass die Kranken schliesslich überhaupt neue Kleidungs-
stücke nicht mehr ertragen können, immerfort an dieselben denken
müssen und erst dann aufathmen, wenn sie die gewohnten Kleider
Zwangsirresein.
545
wieder haben. In einzelnen Fällen kann es dahin kommen, dass
die Kranken, wenn ihre Kleider zu sehr verschlissen sind, allen
Ernstes dauerndes Bettliegen als einzigen Ausweg ins Auge fassen,
obgleich sie über die Lächerlichkeit dieses Auskunftsmittels völlig
im Klaren sind.
Wenn sich alle diese Erscheinungen als krankhafte Ueber-
treibungen jener zweckmässigen leisen Gefühlsregungen darstellen,
welche auch das gesunde Handeln fortgesetzt begleiten, so haben
wir in gewissen Befürchtungen abergläubischen Inhalts ver-
zerrte Aeusserungen der mystischen Neigungen des Menschen vor
uns. Entsprechend der verbreiteten Furcht vor der Zahl 13, vor
der Unheil verkündenden Begegnung mit alten Weibern u. s. f. be-
gegnen wir bei Kranken der Angst vor einzelnen Gegenständen,
Wochentagen, Worten, Farben und namentlich Zahlen, der Idee,
durch ein bestimmtes Thun oder Lassen Unheil heraufzubeschwören.
Natürlich werden sie durch solche Besorgnisse zu allerlei Sicher-
heitsmassregeln veranlasst. Es kommt auf diese Weise zu den
mannigfachsten eigen thümlichen Gewohnheiten, welche für den Kranken
eine Art übertragener Bedeutung gewinnen und ihm Beruhigung
verschaffen, auch wenn er ihre Unsinnigkeit durchaus anerkennt.
Dahin gehört das anscheinend sinnlose Wiederholen oder Unterlassen
gleichgültiger Handlungen, das geflissentliche Vermeiden oder Auf-
suchen und Aussprechen einzelner Zahlen oder Worte, die Ausfüh-
rung bestimmter, an sich zweckloser Bewegungen, das Innehalten
der gleichen Reihenfolge bei gewissen Beschäftigungen, Antreten mit
einem bestimmten Fusse, das zwangsmässige Beachten hergebrachter
oder selbsterfundener Vorbedeutungen.
So vielseitig die Gefahren, die den Menschen bedrohen können,
so mannigfaltig sind die Anlässe, an die sich Angstzustände an-
knüpfen. Das unmittelbare körperliche Wohl und Wehe liefert
die mächtigsten Gefühlsschwankungen. Ungemein häufig be-
gegnet uns daher die Furcht, in schwere Krankheit zu verfallen.
Die Kranken haben das Gefühl, nichts Rechtes mehr leisten zu
können, halten sich für unfähig, aufzufassen, zu begreifen, klar zu
denken und sich verständlich auszudrücken. Namentlich pflegt auch
der Schlaf sehr gestört zu sein. Ich kannte eine Dame, die zunächst
nicht schlafen konnte, wenn sie am nächsten Tage irgend etwas Be-
sonderes vorhatte, in Gesellschaft gehen, einen Ausflug machen
Kraepelin, Psyobiatrie. 6. Aufl. U. Band. 35
546
XII. Die psychopathischen Zustande.
wollte. Allmählich genügte schon die geringste Kleinigkeit, um sie
in eine Spannung zu versetzen, die ihr den Schlaf raubte, bis es
durch hypnotische Beeinflussung gelang, ihr die Angst vor der
Schlaflosigkeit zu benehmen. Manche Eiranke spüren allerlei merk-
würdige Empfindungen an ihrem Körper, die sie beunruhigen. Na-
mentlich beim Einschlafen erscheint ihnen der Kopf riesengross, die
Arme und der Leib zusammengeschrumpft; auch die Gegenstände
im Zimmer werden bald klein, bald gross, nähern sich oder rücken
in unendliche Ferne, Empfindungen, die auch dem Gesunden im
Halb wachen nicht ganz fremd sind. Andere haben das unangenehme
Gefühl des Harnträufelns, oder als wenn Käfer aus den Körper-
öffnungen herauskröchen, als wenn der Körper schief wäre. Sie
fürchten daher geisteskrank, paralytisch zu werden, einen Schlag-
anfall zu bekommen, an ,, Vaguslähmung“ zu Grunde zu gehen; ein
EAanker telegraphirte plötzlich an seine Angehörigen, dass er am
Herzschlag sterbe. Andere glauben an Syphilis zu leiden, von einem
tollen Hunde gebissen worden zu sein. Ein Kranker, der seit langer
Zeit von dieser Zwangsbefürchtung heimgesucht war, bat mich um-
gehend um Nachricht, ob nicht ein Mann, dessen Namen er in der
Klinik gehört hatte, einmal von einem Hunde gebissen worden sei:
sein ganzes Lebensglück hänge an dieser Auskunft.
Alle diese Kranken kommen immer und immer wieder zum Arzte.
Obgleich sie es gewöhnlich lernen, ihre krankhaften Zustände in ihrem
Innern zu verschliessen, haben sie doch das dringende Bedürfniss, hie
und da sich einmal darüber auszusprechen, und fühlen sich jedesmal
für einige Zeit wesentlich beruhigt. Da sie etwas zu vergessen fürchten,
so erscheinen sie beim Arzte mit einer Menge von Aufzeichnungen, mit
einem Fragebogen, überreichen ihre schriftliche Krankengeschichte,
weil sie zweifeln, ob sie bei der mündlichen Erzählung alles in
rechter Ordnung und im Zusammenhänge würden Vorbringen können.
Vielfach fallen sie Quacksalbern in die Hände. Ein Schuhmacher-
geselle kaufte sich für lü Mark ein Elektrophor, um seine Nerven-
kraft zu regeneriren. Andere wägen auf das genaueste ihre Speisen
ab, versuchen sich in den verschiedenartigsten Curen.
An die hypochondrischen Befürchtungen reiht sich die Angst,
vom Blitze erschlagen (Reuters „Dorchläuchting“), scheintodt be-
graben zu werden. Die Kranken suchen daher alle möglichen Yor-
sichtsmassregeln zu treffen, damit sie sicher sterben, hinterlegen
Zwangsirresein.
547
überall genaue Bestimmungen über die Behandlung ihrer Leiche.
Einzelne haben eine unsinnige Angst vor Schlangen, Katzen, Fröschen;
sie fürchten, dass ihnen Käfer ins Ohr kriechen, dass sie sich ver-
brennen könnten. Auch ganz harmlose Gegenstände können solche
unangenehmen Erregungen hervorrufen. Ich kannte einen sonst ganz
verständigen Kranken, der um keinen Preis dazu zu bringen war, in
einen Spiegel zu sehen. Anderen drängt sich auf der Strasse
zwangsmässig der Gedanke auf, dass ein Stein, ein Mensch vom Dache
auf sie fallen werde; ob es wol ein Mann oder eine Frau sein wird?
Ein sehr ergiebiges Feld für Zwangsbefürchtungen liefern auch
die geschlechtlichen Beziehungen. Dahin gehört die Furcht vor der
Impotenz, die so häufig wirklich den Geschlechtsact vereitelt. Bei
jungen Bräuten führt die krankhafte Angst, den Mann nicht glück-
lich machen zu können, ihn nicht recht zu lieben, nicht selten zum
Yerzichte auf die Ehe. Auch die zwangsmässige Eifersucht ist hier
zu nennen, die den Kranken veranlasst, gegen seine Ueberzeugung
immer wieder nach neuer Sicherheit für die Treue seiner Gattin zu
suchen. Im Gegensätze zu dem Eifersuchtswahne wünscht und er-
wartet der Kranke hier nicht ihre Untreue, sondern ihre Zuver-
lässigkeit nachzuweisen, um den quälenden Zweifel immer von neuem
zu entwaffnen.
Eine sehr weite Verbreitung hat ferner die Furcht vor Schmutz
(Mysophobie), Ansteckung und Vergiftung, vor Nadeln und Glas-
scherben aufzuweisen, namentlich beim weiblichen Geschlechte. Neuer-
dings pflegen sich diese Befürchtungen gern an die modernen Vor-
stellungen von der Ansteckung durch mikroskopische Krankheits-
erreger anzuknüpfen. Der Kranke merkt überall „schlechte Luft“,
reisst alle Fenster auf; er fürchtet sich, Messing oder Kupfer (Thiir-
klinken, Geld) wegen der Gefahr der Grünspan Vergiftung zu be-
rühren, kann nichts zu sich nehmen, ohne es immerfort auf Nadeln
und Glasscherben zu untersuchen, die er etwa mit verschlucken, in
seinen Kleidern verschleppen könnte. Er schrickt zusammen, wenn
er Glas klirren hört, flieht vor allen Flüssigkeiten, die nach seiner
Ansicht Gift enthalten könnten, und fühlt sich keinen Augenblick
sicher, ob er nicht irgendwo durch Anstreifen einen gefährlichen
Ansteckungsstoff aufge fangen habe, der sich nun auch noch weiter
auf andere Personen übertragen könnte. Er hätte auf einen glän-
zenden Punkt im Essen aufmerksam machen sollen, der möglicher-
35*
548
XII. Die psychopathischen Zustände.
weise eine Stecknadel war und nun vielleicht einem Menschen den
Tod gebracht hat. Auch Bücher sind ihm sehr verdächtige An-
steckungsträger.
Nicht selten beobachtet man auch die Befürchtung, irgend
etwas Werthvolles zu vernichten oder zu verschleppen.
Eine junge Dame, die ich kannte, wurde von der Angst verfolgt,
möglicherweise wichtige Briefe, namentlich Testamente, ins Feuer zu
werfen oder auszukehren, ja sie glaubte, das schon ungezählte Male
gethan zu haben. In Folge dessen hatte sie eine unüberwindliche
Scheu vor allem Papier, schliesslich sogar vor gedruckten Büchern.
Jedes noch so kleine Fetzchen Papier bewahrte sie auf das sorg-
fältigste auf und war erst beruhigt, wenn sie es mir übergeben hatte.
Sie war dabei vollständig klar und besonnen, frei von sonstigen
Wahnideen, aber von Hause aus wenig begabt. Ein anderer Kranker
hatte bemerkt, dass im Gottesdienst ein kleines Blättchen aus seinem
Gebetbuche herausgefallen war, das er aufhob und in die Tasche
steckte. Alsbald beschäftigte ihn die Möglichkeit, dass er aus Ver-
sehen ein kleines Stück Hostie mitgegriffen haben könne. Diese Vor-
stellung wurde durch das Tragen des damals benutzten Rockes immer
wieder wachgerufen, späterhin auch durch andere Röcke, die mit
jenem ersteren im gleichen Schranke gehangen hatten. Es hätte
möglich sein können, dass feine Theile des Hostienstückchens beim
Umkehren und Ausstauben der Taschen auch in die anderen Röcke
gelangt wären. Selbst der geistliche Zuspruch vermochte nur für
kurze Zeit Beruhigung zu bringen. Noch Andere fürchten, in ihren
Haaren, mit dem Staube in ihren Kleidern, mit dem Schmutze an
ihren Absätzen irgend etwas Werthvolles zu verschleppen und zu
veruntreuen.
Diese letzteren Gestaltungen der Zwangsbefürchtungen führen uns
hinüber zu denjenigen Formen, in denen der Kranke nicht für
sich, sondern für Andere fürchtet und so zu unendlichen Selbst-
quälereien getrieben wird. Der Inhalt seiner Vorstellungen erhält
hier eine gewisse äusserliche Aehnlichkeit mit dem Versündigungs-
wahn. Nach jeder Unterredung, namentlich bei wichtigeren Anlässen,
taucht dem Kranken der Gedanke auf, dass er sich vielleicht nicht
ganz klar ausgedrückt habe, missverstanden sein könne. Er setzt
sich dann hin, um schriftlich noch diese oder jene seiner Aeusse-
rungen genauer zu erläutern; kaum aber ist der Brief abgesandt,
Zwangsirresein.
549
so erhebt sich von neuem der Zweifel, ob nunmehr auch jedes Miss-
verständnis ausgeschlossen sei. Dabei entwickelt sich eine peinliche
Aufrichtigkeit, die den Kranken zwingt, unter allen Umständen
durchaus die Wahrheit zu sagen und auch auf die kleinen gesell-
schaftlichen Lügen zu verzichten. Jedes Wort wird so lange herum-
gedreht, bis keine Möglichkeit einer falschen Auslegung mehr vor-
handen ist und ihm die Absicht einer Zweideutigkeit nicht mehr
untergeschoben werden kann. Freilich entdeckt der Kranke nach-
träglich immer noch Punkte, an denen man ihm den Vorwurf der
Ungenauigkeit und Unzuverlässigkeit machen könnte. Er ist un-
sicher, ob er nicht einen beleidigenden Ausdruck gebraucht, etwas
Anstössiges oder Zweideutiges gesagt hat, lässt daher seine Briefe
stets erst von Anderen durchlesen, zieht zu jeder Unterredung
Zeugen herbei, die er nachher befragen kann.
Jede verantwortliche Aussage wird daher für ihn zu einer
Quelle der peinigendsten Selbstquälereien. Besonders die Berührung
mit den Gerichten bringt eine starke Steigerung der Beschwerden.
Ich kannte einen Kranken, der im Anschlüsse an eine Vernehmung
als Zeuge von einem länger dauernden, schweren Depressionszustande
befallen wurde; er versicherte mir, dass er sich lieber einsperren
lassen werde, als noch einmal diese Qualen zu überstehen. Ein anderer
konnte vor Gericht nicht vereidigt werden, weil er im Hinblicke auf die
Tragweite seiner Aussage in die grösste Aufregung gerieth. Ein Richter
wurde immer von der Befürchtung verfolgt, dass vielleicht ein Haft-
befehl aus Versehen nicht aufgehoben worden sei. Immer wieder
musste er sich persönlich davon überzeugen, dass die betreffenden
Gefangenen wirklich entlassen seien.
Alle Berührungen mit fremdem Eigenthume pflegen ähnliche
gemüthliche Stürme hervorzurufen. Die Kranken versehen ihre
Schirme, Hüte, Ueberröcke mit möglichst auffallenden Kenn-
zeichen, um sich nicht achtlos an fremden Sachen zu vergreifen,
fürchten aber auch dann noch, dass doch vielleicht irgend
Jemand auf ähnliche Bezeichnungen habe verfallen können. Beim
Bezahlen wird jedes Geldstück erst auf das genaueste geprüft,
ob es nicht etwa falsch oder minderwerthig ist; zudem erhebt sich
nachher der Zweifel, ob nicht der Verkäufer zu viel herausgegeben
habe und so geschädigt worden sein könne. Vielleicht war über-
haupt das Geld nicht auf ganz ehrliche Weise erworben. Stets ist
550
XII. Die psychopathischen Zustände.
für den Kranken nur der Gedanke an die mögliche Uebervortbeilung
Anderer quälend, während er den eigenen Schaden mit Gleichmuth
erträgt, ja ihn geflissentlich herbeizuführen sucht, um die stillen
Selbstvorwürfe im Entstehen zu unterdrücken. Einer meiner Kranken
verlor einige Geldstücke aus seiner Tasche. Nach dem Aufsammeln
kam ihm der Gedanke, dass möglicherweise auch schon ein Anderer
dort Geld verloren haben könne, das er sich jetzt widerrechtlich
aneigne. Er wurde nicht eher ruhig, bis er die ganze Summe an
die Armen gegeben hatte. Ein äusserst empfindliches Gebiet ist
endlich das religiöse. Die Kranken quälen sich mit dem Gedanken.
nicht ausreichend gebeichtet zu haben, nicht mit ganz reinem Herzen
das Abendmahl genommen zu haben.
In manchen Fällen nehmen die Befürchtungen einen ziemlich
unsinnigen Inhalt an. Die Kranken können sich trotz besseren
"Wissens des Gedankens nicht erwehren, dass sie an irgend einem
Unglücke, einem Todesfälle, ja einer Missernte schuld seien, irgend
ein Verbrechen begangen hätten. Sie könnten doch Jemanden er-
mordet, den Lehrer erstochen haben. Eine Kranke erzählte mir, sie
habe einen Brand angelegt, ihrem Grossvater Gift gegeben, nicht
recht gebeichtet, das Versprechen gegeben, ihre zukünftigen Kinder
sollten ins Kloster gehen. Sie wisse nicht recht, ob das alles wirk-
lich sei, aber es könnte doch möglich sein, dass so etwas geschehen
wäre. Ein Offizier meinte immer, er mache seinen Leuten unsittliche
Anträge, und probirte den ganzen Tag, ob es wol möglich sei, dass
die in ihm aufsteigenden peinlichen Gedanken von Jemandem gehört
werden könnten, ob er sie nicht unwillkürlich laut ausspreche.
Eine Kranke Donaths konnte die Befürchtung nicht loswerden,
sich möglicherweise mit irgend einem fremden Menschen geschlecht-
lich zu vergehen, und trug daher eine eng anliegende, mit einem
Schloss versehene Leinwandhose, die ihr nicht einmal die Ent-
leerung des Harnes gestattete, so dass sie denselben eigens mit
einem Tuche auffangen musste.
Die ganze Gruppe der hier kurz geschilderten Erscheinungen
pflegt man nach dem Vorgänge von Legrand du Saulle*) als
Zweifelsucht („folie du doute“) zu bezeichnen. Bisweilen sind es
nur einige Gebiete, auf denen die Zweifel sich erheben; in schweren
Fällen können sie schliesslich den Kreislauf der Tagesbeschäftigungen
*) La folie du doute. 1875.
Zwangsirrpsein. 551
fast unablässig begleiten. Der Kranke hätte vielleicht lieber das
Glas Wasser nicht trinken sollen, hat sich möglicherweise durch das
Essen jener Speise geschadet oder durch das Einnehmen dieser
Arznei seine Genesung vereitelt. Wäre er nicht von Hause gereist,
so wäre es besser gewesen ; so ist vielleicht dort ein Unglück ge-
schehen, Jemand krank geworden, Feuer ausgebrochen. Es wird
ihm schliesslich ganz unmöglich, sich bündige Beruhigung darüber
zu verschaffen, ob er eine Thür wirklich gehörig geschlossen, einen
abgesandten Brief zugeklebt, ihn nicht verwechselt, ob er einen
Auftrag richtig gegeben oder ausgerichtet, alle Lichter zuverlässig
gelöscht habe u. s. f.
Im Zusammenhänge mit den Zwangsbefürchtungen entwickelt
sich regelmässig bei unseren Kranken eine gewisse Unentschlossenheit
und Willenlosigkeit, da sie auf Schritt und Tritt durch die auf-
tauchenden Zweifel in der thatkräftigen Durchführung ihrer Ent-
schlüsse gehemmt werden. Zugleich stellt sich mit Notlnvendigkeit
eine immer wachsende Peinlichkeit in allen kleinen Verrichtungen
des täglichen Lebens ein. Durch allerlei Merkzeichen, abschliessende
Geberden, schriftliche Buchung und ähnliche Kunstgriffe sucht der
Kranke sich dauernd die Möglichkeit einer rückschauenden Prüfung
aller irgend wichtigen Handlungen zu erhalten, ohne doch dabei wirk-
licheBeruhigung zu finden, da er sich ja auch geirrt haben könnte. Beim
Schliessen jedes Schlosses versichert er sich wiederholt, dass dasselbe
wirklich zugesperrt ist, reisst den Umschlag wieder auf, um zu sehen,
ob der richtige Brief hineingelegt, ob nicht Unterschrift oder Datum
vergessen wurde, zählt jede Summe zehn, zwanzig Mal, bevor er
sie abgiebt, macht nächtliche Runden durchs Haus, um sich zu
überzeugen, dass nirgends mehr ein Funke glimmt, dass sich kein
Dieb eingeschlichen hat.
Aus der Besorgniss, etwas zu verschleppen, sich zu verunreinigen,
entspringt die Berührungsfurcht, das „ddlire du toucher“. Alle
Nadeln werden aus dem Hause verbannt; es darf nicht mehr genäht
werden; Niemand darf die Wäsche anrühren; die Fenster werden
nicht mehr geputzt, da sie sonst zerbrechen und zum Ausstreuen
von Splittern Veranlassung geben könnten. Der Kranke entwickelt
eine peinliche, alle anderen Rücksichten in den Hintergrund drän-
gende Reinlichkeitsliebe, die sich im Anfänge vielleicht noch inner-
halb der hier sehr dehnbaren Gesundheitsgrenzen hält, später aber
552
XII. Die psychopathischen Zustände.
nicht selten eine derartige Ausdehnung annimmt, dass sie ihm selbst
und noch mehr seiner Umgebung das Leben aufs äusserste verbittert
Mit der grössten Sorgfalt sucht der Kranke alle Berührungen,
namentlich die unmittelbaren, zu vermeiden, giebt nicht die Hand,
öffnet die Klinken mit dem Ellenbogen, fasst alles mit Papierläpp-
chen an, trägt möglichst Handschuhe. Hat aber doch eine Berührung
stattgefunden, so werden sofort nach einem oft sehr durchdachten
Plane die umfangreichsten Waschungen vorgenommen, die sich nicht
nur auf die Hände, sondern auf den ganzen Körper, sogar auf Möbel
und Kleidungsstücke erstrecken können. Bisweilen sind es nur
Berührungen bestimmter Art, welche diese Handlungen hervorrufen,
während andere den Kranken gleichgültig lassen, ja, die Kranken
sind trotz ihrer Angst vor dem Schmutze öfters sogar ziemlich un-
sauber, tragen ihre Wäsche, die sie selber reinigen, bis zum Aeussersten.
Natürlich wird durch die ganz ins Ungeheuerliche gehenden
Waschungen mehr und mehr die gesammte Zeit des Kranken in
Anspruch genommen, so dass er schliesslich zur Erfüllung seiner
sonstigen Pflichten vollständig unfähig wird. Eine Kranke Tambu-
rinis bedurfte täglich je 3 — 4 Stunden zum Aus- und Ankleiden,
verbrauchte beim Waschen 20 Handtücher und musste sich schon
waschen, wenn sie nur die Verkäufer auf der Strasse ihre schmutzigen
Waaren ausrufen hörte. Ein wenigstens ungefähres Yerständniss
für die Unsinnigkeit dieses Treibens ist trotz der Unmöglichkeit,
davon abzulassen, regelmässig vorhanden.
In einer letzten Reihe von Fällen sehen wir die Zwangsbefürch-
tungen anscheinend die Form von Antrieben gewinnen. Dem
Kranken drängt sich die Frage auf: Was würde geschehen, wenn
du diese oder jene Handlung unternehmen, mit dem daliegenden
Messer einen Menschen, dein Kind tödten, dem dich trauenden
Geistlichen plötzlich eine Ohrfeige geben, im Theater mit einem
Male auf die Bühne springen würdest? u. dergl. Daraus entspringt
dann die Furcht vor allen äusseren Anlässen, welche derartige An-
triebe wachrufen könnten. Die Kranken wagen es nicht mehr,
Feierlichkeiten beizuwohnen, gerathen in äusserste Angst vor allen
gefährlichen Werkzeugen. Einer meiner Kranken, ein überaus gut-
müthiger, weichherziger Mensch, musste schon von weitem allen
Arbeitern aus dem Wege gehen, die Aexte, Sägen u. dergl. trugen,
weil ihm deren Anblick immer die Befürchtung aufdrängte, er könnte
Zwangsirresein.
553
vielleicht Jemanden umbringen. Andere Kranke denken daran, dass
sie Kindern Nadeln in den Kopf bohren, ihnen den Hals abschneiden,
das Tafelsilber stehlen, sich selbst oder Anderen den Bauch auf-
schlitzen müssten. Meist sind es gerade geliebte Personen, an die
sich diese Gedanken anknüpfen. Bisweilen gesellen sich auch ein-
zelne Täuschungen hinzu; die Kranken sehen ein blutiges Messer
vor dem Auge schweben, glauben den Schrei zu hören, den sie ver-
meintlich in der Kirche ausgestossen haben. Manche Kranke lassen
sich einschliessen, festbinden, um diesen Antrieben widerstehen zu
können. Thatsächlich kommt es jedoch hier niemals zu Handlungen;
wir haben es einfach mit Befürchtungen zu thun, die sich gegen
die vermeintlich aus dem eigenen Innern drohenden Gefahren
richten. Höchstens kann es Vorkommen, dass die Kranken einmal
der Versuchung nicht zu widerstehen vermögen, bei besonders feier-
licher Gelegenheit zu fluchen oder im Gebete an Stelle der beab-
sichtigten Worte gotteslästerliche oder obscöne Wendungen zu setzen
(„Koprolalie“).
Das Bewusstsein aller dieser Kranken ist dauernd vollkommen
klar. Sie behalten auch fast immer ein gutes Verständniss für die
Krankhaftigkeit ihres Zustandes und haben den Wunsch, aber nicht
die Kraft, sich aus demselben zu befreien. Sie wissen ganz genau,
dass ihnen keine wirkliche Gefahr droht, dass sie nichts be-
gangen haben, aber die „Angst vor der Angst“ ist doch
so mächtig, dass sie immer wieder überwältigt werden. Ihr
gänzlicher Mangel am Selbstvertrauen zeigt sich deutlich in der
hülflosen Abhängigkeit, in der sie so oft von den Vertrauens-
personen stehen, die ihnen immer und immer wieder die Grund-
losigkeit ihrer Befürchtungen versichern und dadurch die Be-
ruhigung geben müssen, zu der sie aus eigener Kraft nicht gelangen
können.
Den Grundton ihrer Stimmung bildet die krankhafte Aengst-
lichkeit, die bisweilen in auffallendem Widerspruche mit ihrem
Muthe bei wirklichen Gefahren steht. Vielfach sind aber die Kranken
von jeher sehr weiche, unselbständige, willensschwache Naturen, die
gewohnt waren, sich auf Andere zu stützen. In ihrem Benehmen
und Handeln bieten die Kranken meist nichts Auffallendes, zumal
sie sich Fremden gegenüber oft vorzüglich zu beherrschen wissen.
Erst in den schwereren Gestaltungen des Leidens wird das tägliche
554
XII. Die psychopathischen Zustände.
Handeln und damit die Fähigkeit zu selbständiger Lebensführung
stärker ^Mitleidenschaft gezogen. Die Schutzmassregeln des Kranken
zur Bekämpfung seiner Angst können dann seine ganze Aufmerk-
samkeit derart in Anspruch nehmen, dass er alles Andere darüber
verwahrlosen lässt. Er kann sie um seiner Kühe willen nicht unter-
lassen, auch wenn er sich ihrer Lächerlichkeit und Abgeschmacktheit
klar bewusst ist. In weit vorgeschrittenen, veralteten Fällen kann
sich der Kranke schliesslich auch derart in sein Leiden einleben,
dass er die ganze Ungeheuerlichkeit seines Treibens nicht mehr recht
übersieht.
Eine gemeinsame Eigenthiimlichkeit fast aller Arten von ..Phobien"
sind die „Krisen“. Sobald man den Kranken zwingt, das von ihm
Gefürchtete zu thun, oder ihn daran hindert, jene Schutzmassregeln
zu treffen, welche ihn beruhigen, entwickeln sich die oben geschil-
derten ängstlichen Aufregungszustände. Nicht selten verbindet sich
damit aber auch eine Art Zorn mit rücksichtsloser Empörung wider
den von aussen gegen die krankhaften Erscheinungen gerichteten
Zwang. Es ist oft ganz erstaunlich, wie der bis dahin einsichtige
und selbst die Befreiung von seinem Leiden herbeisehnende Kranke
plötzlich vollkommen umgewandelt erscheint und sich auf das leiden-
schaftlichste gegen den Helfer auflehnt, sobald derselbe versucht,
wirklich den Kampf mit der psychischen Störung aufzunehmen.
Gelingt es trotzdem, den Widerstand des Kranken zu überwinden
und ihn zum steten Kampfe mit seinen krankhaften Neigungen zu
zwingen, so bemächtigt sich seiner oft eine tiefe, andauernde De-
pression, ein Druck, der erst dann dem Gefühle der Erleichterung
weicht, wenn der Kranke im Stande war, sich nach seiner eigenen
Art Ruhe zu verschaffen. Freilich geht dann regelmässig in dem
fruchtlosen Kampfe mit der Krankheit ein gutes Theil der geistigen
und körperlichen Arbeitsfähigkeit verloren.
Der Verlauf der hier beschriebenen Störungen ist im ganzen
ein schwankender. Völliges Verschwinden der Krankheitszeichen
kommt selten und immer nur vorübergehend vor. Dagegen werden
erhebliche Nachlässe und ebenso rasche Verschlimmerungen vielfach
beobachtet. Die Entstehung des Leidens pflegt bis in die Jugendzeit
oder doch ins Entwicklungsalter zurückzureichen. Ungemein häufig
giebt irgend ein äusserer Anlass, eine Gemüthsbewegung, ein hin-
geworfenes Wort, eine auffallende Lebenserfahrung den ersten An-
Zwangsirresein.
555
stoss zum Auftauchen der Krankheitserscheinungen. Bei einer meiner
Kranken begann die „Waschmanie“ nach dem Samariterunterricht,
in welchem eindringlich die Gefahren der Wundansteckung be-
sprochen worden waren. Ein Kranker mit Furcht vor "tollen Hunden
war in seiner Jugend einmal von einem Hunde angefallen worden.
In anderen Fällen treten die Störungen bei irgend einem körperlichen
Unwohlsein, nach einer fieberhaften Erkrankung, einer Entfettungscur,
im Wochenbett, während der Lactation, in Folge von Ueberarbeitung
zum ersten Male hervor. Ganz besondere ursächliche Wichtigkeit
wird von manchen Aerzten dem Congressus interruptus. ferner der
ODanie beigelegt. Gerade die Geringfügigkeit und Verschieden-
artigkeit solcher äusseren Anlässe zeigt deutlich genug, dass die
wesentliche Ursache der eigenartigen Krankheitserscheinungen aus-
schliesslich in der besonderen Veranlagung der gesammten Per-
sönlichkeit zu suchen ist. Regelmässig lässt sich hier bei einzelnen
oder mehreren Familiengliedern die Neigung zu peinlicher Ordnungs-
liebe, übertriebener Aengstlichkeit oder Schwarzseherei nachweisen,
selbst wenn ausgebildetere Psychosen nicht vorgekommen sind. Auch
die Kranken selber pflegen von Jugend auf schon die Andeutungen
jener Eigen thümlichkeiten darzubieten, als deren Zerrbild sich die
spätere Störung auffassen lässt.
Die Prognose des Zwangsirreseins ist im allgemeinen eine
ungünstige. Zwar gelingt es nicht selten, namentlich bei den ein-
fachen Zwangsvorstellungen, der Platzangst und den verwandten
Erscheinungen, die krankhaften Störungen für kürzere oder längere
Zeit zum Schwinden zu bringen, aber die Gefahr von Rückfällen ist
bei der tief wurzelnden Grundursache stets eine ausserordentlich
grosse. Man wird daher gut thun, gegen die nicht selten berich-
teten Heilungen des Zwangsirreseins etwas misstrauisch zu sein.
Immerhin giebt es so manche Fälle, in denen auffallendere Störungen
vielleicht nur einmal unter besonders ungünstigen Bedingungen auf-
treten und demnach auch dauernd beseitigt werden können. Bei
der Grübelsucht, der Zweifelsucht, der Berührungsfurcht scheinen die
Aussichten auf Besserung sehr geringe zu sein; hier wird sogar
häufiger ein im ganzen fortschreitender Verlauf beobachtet. Dagegen
kommt ein Uebergang des Leidens in andere Geistesstörungen, wie
ihn die Kranken immer befürchten, nicht vor.
Die Erkennung dieser Zustände bietet in ausgeprägten Fällen
556
XII. Die psychopathischen Zustände.
keinerlei Schwierigkeit. Die leichteren Formen gehen allmählich
in entsprechende, auch dem gesunden Leben bekannte Erscheinungen
über. Andererseits können die Zeichen des Zwangsirreseins vor-
übergehend auch bei einer Reihe von anderen Geistesstörungen auf-
treten, ganz besonders in den Depressionszuständen des manisch-
depressiven Irreseins, seltener im Beginne einer Paranoia oder auch
der Paralyse. In allen diesen Fällen pflegen die Erscheinungen
auffallend plötzlich einzusetzen und nicht jenen innigen Zusammen-
hang mit dem gesammten Denken und Fühlen aufzuweisen wie
beim eigentlichen Zwangsirresein. Ueberdies zeigt hier der weitere
Verlauf überall immer deutlicher die Besonderheiten der erwähnten
Krankheitsvorgänge.
Die Behandlung kann vielleicht schon mit der vorbeugenden
Berücksichtigung der krankhaft veranlagten Kinder, mit rechtzeitiger
und ausgiebiger Förderung der körperlichen Entwicklung, Be-
kämpfung der bedrohlichen Eigenthümlichkeiten durch eine ver-
nünftige Erziehung einsetzen. Späterhin werden alle Einflüsse nach
Möglichkeit abzuweisen sein, welche die körperliche und geistige
Widerstandsfähigkeit schwächen. Gegen die eigentlichen Krankheits-
erscheinungen hilft, soviel ich sehe, nur eine ausdauernde, geduldige
Erziehung, welche allmählich das stark gesunkene Selbstvertrauen
wieder zu heben und den Kranken Schritt für Schritt zum Siege
über den krankhaften Zwang zu führen sucht. Es ist nützlich, den
Kranken über die Eigenart seines Leidens und die Bedeutung der
einzelnen Störungen möglichst sachlich aufzuklären. Man wird ihn
dabei auf die Nothwendigkeit hinweisen, der Macht des psychischen
Zwanges nicht durch besondere Willensanspannung, die das Uebel
nur zu vergrössern pflegt, sondern durch Ablenkung zn begegnen.
Gelegentliche Besprechungen mit einem verständnisvollen Arzte pflegen
den Kranken sehr zu beruhigen und ihm Kraft zu neuem Kampfe
mit seiner krankhaften Veranlagung zu geben. Zur Unterstützung,
namentlich in den Krisen, dient zweckmässig die hypnotische Sug-
gestion, doch hilft sie nur vorübergehend und versagt in schweren
Fällen vielfach. Vor der Anwendung stark wirkender Arzneimittel,
ganz besonders des Morphiums, ist wegen der Gefahr der Gewöhnung
dringend zu warnen. Auch mit dem Alkohol sei man aus diesem
Grunde vorsichtig, obgleich kleine Gaben öfters dem Auftreten der
Angst in vorzüglicher Weise Vorbeugen.
Das impulsive Irresein.
557
C. Das impulsive Irresein.
Unter der vorläufigen Bezeichnung des impulsiven Irreseins
wollen wir alle diejenigen Formen des Entartungsirreseins zusammen-
fassen, denen die Entwicklung krankhafter Neigungen und
Triebe eigenthümlich ist. Dieselben können entweder dauernd
den 'Willen beherrschen oder nur zeitweise, in einzelnen Anwand-
lungen hervortreten. Der Kranke handelt dabei ohne klaren Be-
weggrund, einfach, weil er den unwiderstehlichen Antrieb in
sich fühlt, zu handeln. So kommt es denn, dass seine Willens-
äusserungen vielfach den Stempel des Unvorbedachten, des Zweck-
losen, ja des Widersinnigen tragen, weil sie eben nicht durch einen
zielbewussten Plan, sondern durch einen plötzlich auftauchenden und
sofort zur Ausführung drängenden, häufig sehr unklaren Antrieb
hervorgerufen werden.
Der Inhalt solcher „Zwangshandlungen“ ist vielfach ein gleich-
gültiger, und zahlreiche Menschen mit „absonderlichen Einfällen“,
unvermittelt hervortretenden und ebenso rasch wieder verschwinden-
den Antrieben bilden die Uebergänge von den schweren, unzweifel-
haft krankhaften Formen des impulsiven Irreseins zum gesunden
Verhalten. Maudsley berichtet von einem Herrn, der wochenlang
von dem Antriebe geplagt wurde, zwei oben auf einer Mauer liegende
Steine herabzuwerfen und sich schliesslich Nachts hinschlich, um
sich durch Ausführung dieser unsinnigen Handlung Ruhe zu ver-
schaffen. Eine sehr ernste Bedeutung gewinnen diese Krankheits-
zustände jedoch dadurch, dass die aufsteigenden Antriebe ungemein
häufig die Umgebung oder das eigene Leben und Wohlergehen ge-
fährden.
Die klinische Erfahrung lehrt, dass im einzelnen Falle
oft nur eine bestimmte Richtung der krankhaften Antriebe her-
vortritt. Wahrscheinlich am häufigsten ist die Neigung zur Brand-
stiftung, wie sie besonders bei jugendlichen Personen weiblichen
Geschlechtes vor und während der Pubertätsentwicklung beobachtet
wird. Bisweilen geht die krankhafte Freude am flackernden Feuer
und der unbezähmbare Wunsch, sich diesen Anblick zu ver-
schaffen, bis in die Kindheit zurück. In einem berühmt gewordenen
Falle, in welchem ein Student zahllose Brände in immer genau
558
XII. Die ps3’c.boitathi8chen Zustände.
derselben Weise angelegt hatte, Hess sich feststellen, dass die
Ausführung dieser Handlungen regelmässig unter dem Einflüsse
des Alkohols erfolgt war. Vielleicht handelte es sich jedoch hier
um Epilepsie.
Eine zweite Hauptrichtung der krankhaften Antriebe ist die
dauernde oder vorübergehende Neigung, gelegentliche, unsinnige
Diebstähle zu begehen. Solchen Anwandlungen begegnen wir
ebenfalls am häufigsten beim weiblichen Geschlechte, und zwar vor-
zugsweise in der Zeit geschlechtlicher Umwälzungen (Menstruation,
Schwangerschaft). Die Krankhaftigkeit dieser Handlungen zeigt sich
darin, dass denselben jeder verständige Beweggrund fehlt. Die ge-
stohlenen Gegenstände sind vielfach gänzlich oder doch für den
Thäter werthlos, oder sie werden auch später dem Eigenthümer ein-
fach wieder zugestellt. In anderen Fällen richtet sich die Begierde
des Einzelnen gerade auf eine ganz bestimmte Art von Dingen, die
ohne erkennbaren Zweck in grossen Mengen zusammengestohlen
werden; hier lassen sich bisweilen Beziehungen zum Geschlechts-
triebe nachweisen. Wie es scheint, ist diesen Neigungen die krank-
hafte Kauflust und Sammelwuth nahe verwandt, die sich nicht selten
auf ganz werthlose Dinge erstreckt. So giebt es Kranke, welche
gewisse Abfälle ihres eigenen Körpers, abgeschnittene Haare, Nägel,
Hautschüppchen, Ohrenschmalz, sammeln und in sorgfältiger Ver-
packung aufbewahren. Bei anderen ist zwar das Ziel der Sammel-
wuth vernünftiger, aber die Leidenschaftlichkeit derselben führt die
Kranken zu gänzlicher Vernachlässigung aller anderen Rücksichten,
unter Umständen sogar zum Verbrechen.
Weitere Aeusserungen einer Entartung des gesunden Trieb-
lebens sind die unsinnige Liebe zu Thieren, die unwidersteh-
liche Neigung zum Spiel, die krankhafte Steigerung des Ge-
schlechtstriebes und zahllose ähnliche Abweichungen. Auch ge-
wisse, plötzlich auftauchende sehnsüchtige Zuneigungen zu be-
stimmten Personen gehören vielleicht hierhin. Hecker erzählt
von einem 60 jährigen Herrn, der auf der Reise von überwältigen-
der Sehnsucht nach einer gleichalterigen Dame erfasst wurde, die
er im Bade kennen gelernt hatte. Er musste sofort umkehren und
zu ihr reisen, obgleich er sich der Unsinnigkeit seines Handelns
klar bewusst war. Möglicherweise liegen in solchen Fällen, wie
Hecker annimmt, verkappte Angstzustände zu Grunde, die sich
Impulsives Irresein. 559
dann in die Form der Sehnsucht kleiden, ähnlich dem „Heimweh“
der Melau choliker.
Von ganz hervorragender praktischer Bedeutung ist ferner der
krankhafte Antrieb, zu verletzen oder zu tödten. Eine be-
sondere Gruppe bilden hier die triebartigen Angriffe junger Mädchen
auf die ihrer Obhut übergebenen Kinder. Ich behandelte eine schon
von Emminghaus*) kurz erwähnte Kranke, die im Alter von drei-
zehn Jahren zwei ihrer Pflege anvertraute Kinder, darunter ihr
eigenes Brüderchen, einfach erstickte, aus keinem anderen Beweg-
gründe, als „weil ihr die Lust dazu kam“. Auf diesem Gebiete des
impulsiven Irreseins tritt uns am deutlichsten die häufige Verbin-
dung krankhafter Antriebe mit dem Geschlechtstriebe entgegen. Ge-
rade von dem letzteren aus scheinen sich bei psychisch wenig wider-
standsfähigen Menschen verhältnissmässig leicht alle jene zwangs-
mässigen Beeinflussungen des Fiihlens und Handelns geltend zu
machen, die wir früher als Sadismus, Masochismus, Fetischismus u. s. f.
eingehend geschildert haben. Die Mädchenstecher und Zopfabschneider,
manche Exhibitionisten und Lustmörder, die Kranken, die aus ge-
schlechtlichen Gelüsteu Schuhe oder weibliche Wäsche stehlen,
Kleider zerschneiden oder beschmutzen, dürften hierher zu rechnen
sein, soweit es sich nicht um Epileptiker handelt, die in Dämmer-
zuständen ähnliche Thaten begehen können. Endlich aber gehört
hierher auch jene Umwandlung der geschlechtlichen Neigungen,
welche wegen ihrer klinischen Eigenart im folgenden Abschnitte
einer gesonderten Besprechung unterzogen werden soll.
Die geistige Begabung unserer Kranken braucht keine schärfer
hervortretenden Störungen aufzuweisen, doch findet sich in schweren
Fällen meist ein höherer oder geringerer Grad von Schwachsinn.
Auch bei leichteren Abweichungen wird eine genaue Prüfung wol
selten die Anzeichen einer gewissen Beschränktheit oder Zerfahren-
heit und Verschwommenheit, namentlich aber ein Zurückbleiben der
gesammten geistigen Ausbildung hinter der durch das Lebensalter
geforderten vermissen lassen. Noch deutlicher pflegen die Störungen
auf gemüthlichem Gebiete hervorzutreten; nach dieser Richtung
haben wir es regelmässig mit schwachen, haltlosen, oft auch mit
*) Die psychischen Störungen im Kindesalter, 1887, S. 241.
560 XII. Die psychopathischen Zustände.
kindisch eigensinnigen oder rohen, menschenscheuen, verschlossenen
Naturen zu thun.
Trotzdem das impulsive Irresein auf Entartung, also auf dauern-
den Veränderungen der psychischen Persönlichkeit beruht, sehen wir
die klinischen Erscheinungen desselben öfters nur während bestimmter
Lebensabschnitte, namentlich in den Entwicklungsjahren, hervortreten.
Diese Erfahrung entspricht der schon bei verschiedenen Gelegenheiten
besprochenen Thatsache, dass es im Verlaufe des menschlichen Da-
seins gewisse Zeiten giebt, in denen die allgemeine Widerstands-
fähigkeit auf körperlichem und seelischem Gebiete besonders gering
ist. Gerade der Widerstreit dunkler Gefühle und Antriebe während
der Geschlechtsentwicklung wird daher auch günstige Bedingungen
für das Anwachsen krankhafter Willensregungen schaffen können,
welche im späteren Leben durch das gesunde Wollen einfach in den
Hintergrund gedrängt werden. Mit der vollen Ausbildung und
Festigung der Persönlichkeit kann sich in einzelnen Fällen eine
überraschend weitgehende Besserung der Störungen heraussteilen.
Hie und da beobachtet man eine gewisse Periodicität der Krankheits-
erscheinungen.
Ausser dem gemeinsamen Ursprünge aus einer krankhaften Ver-
anlagung theilt das impulsive Irresein mit anderen Formen der Ent-
artung manche äussere Eigenthümlichkeiten. So kann man die unaus-
rottbare Rückfälligkeit des sittlich unfähigen Gewohnheitsverbrechers
mit der zwangsmässigen Wiederholung der gleichen verbrecherischen
Handlungen durch unsere Kranken verwechseln. Auch der sittlich
Schwachsinnige legt Feuer an, tödtet und stiehlt, aber er thut es
aus selbstsüchtigen Beweggründen, zu irgend einem bestimmten
Zwecke oder, um zu schaden, während hier einzig der gebieterische
Antrieb den Kranken gegen seinen eigentlichen Willen zur Begehung
der That zwingt. Sehr häufig ist dabei sogar ein deutliches Gefühl
von der Widersinnigkeit, Unnatürlichkeit und Krankhaftigkeit der
Handlungsweise vorhanden. Nach einer andern Seite hin nähert
sich das impulsive Irresein gewissen Formen des Zwangsirreseins.
Allein jene Kranken wollen durchaus nicht die ihnen vorschwebenden
Handlungen begehen; sie haben vielmehr einen lebhaften Abscheu
davor und fürchten nur, dass sie möglicherweise unterliegen könnten,
was thatsächlich nicht geschieht. Hier dagegen, beim impulsiven
Irresein, verknüpft sich die Vorstellung der krankhaften That mit
Impulsives Irresein.
561
dem Gefühle einer gierigen Wollust, welche dem Kranken für die
Ausführung volle und ausgiebige Befriedigung verspricht, so dass
er nicht ruhen kann, bis er gehandelt hat. Unmittelbar nach der
That folgt eine deutliche Erleichterung, beim Misslingen das Be-
dauern über den Misserfolg. Von Reue ist oft gar keine Spur vor-
handen, oder sie kommt doch nur bei geringergradigem sittlichem
Defect und erst dann, wenn nach der Aufregung der That jene
Gegenvorstellungen auftauchen, welche bis dahin durch die alles
beherrschende Begierde zurückgedrängt worden waren. Es ist
daher klar, dass wir es hier mit wirklich krankhaften Trieben,
dort dagegen nur mit einfachen Zwangsbefürchtungen zu thun
haben.
Die Thatsache des impulsiven Irreseins hat auf einer früheren
Entwicklungsstufe der Psychiatrie als Grundlage der Lehre von den
„Monomanien“ eine wichtige Rolle gespielt. Jetzt ist die für unser
wissenschaftliches Verständniss gefahrdrohende Annahme umschrie-
bener krankhafter Triebe in der klaren Erkenntniss untergegangen,
dass man es hier überall mit einer angeborenen, allgemeinen psy-
chischen Invalidität zu thun hat, deren schwächster Punkt gerade in
dem Mangel einer Herrschaft über die allerdings vielfach in krank-
hafter Stärke und Richtung entwickelten Triebe gelegen ist. Das
italienische und spanische Strafgesetzbuch nimmt auf das impulsive
Irresein Rücksicht in der Anerkennung einer „forza irresistibile“
(unwiderstehlichen Gewalt), welche unter Umständen den Willen
des Thäters vollständig fortreissen und damit als Strafausschliessungs-
grund gelten soll. Möglich, dass plötzliche Antriebe von unbezwing-
licher Stärke bei den heissblütigen Völkern des Südens häufiger
sind, als bei uns; jedenfalls vermag jene Fassung vielfachen „Miss-
bräuchen“ im Sinne der Rechtspflege Thür und Thor zu öffnen. Wie
ich glaube, sollte man das Bestehen des impulsiven Irreseins nur
dort annehmen, wo wirklich der triebartige Ursprung des Handelns
ohne klares, vernünftiges Ziel deutlich hervortntt, und wo auch im
übrigen Bereiche des Seelenlebens die Anzeichen einer krankhaften
Veranlagung erkennbar sind.
Die Behandlung des impulsiven Irreseins sieht sich naturgemäss
wesentlich auf eine sorgfältige, die körperliche Entwicklung nach
Möglichkeit berücksichtigende und im übrigen der Lage des ein-
zelnen Falles angepasste Erziehung beschränkt. Sehr wichtig er-
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. U. Band. 36
562
XII. Die psychopathischen Zustände.
scheint es mir, bei diesen Kranken von vorn herein dauernde, völlige
Enthaltsamkeit vom Alkohol zu erstreben, der ihnen nachweislich
so schweren Schaden bringt. Eine ganze Reihe der Kranken, nament-
lich der hier zahlreich vertretenen Gemeingefährlichen, wird noth-
wendiger Weise der Anstaltspflege anheimfallen, unter deren Schutze
sie meistens noch zu einem verhältnissmässig nützlichen und für sie
selbst befriedigenden Leben erzogen werden können.
D. Die conträre Sexualempfindnng.
Die verschiedenartigen Verirrungen des Geschlechtstriebcs,
denen wir auf dem Gebiete des impulsiven Irreseins begegnet sind,
bilden in mancher Beziehung einen Uebergang zu jener eigenartigen
Umwandlung der geschlechtlichen Neigungen, welche Westphal
nach ihrem wichtigsten Zeichen als „conträre Sexualempfindung“
bezeichnet hat. Es handelt sich hier um eine meist in früher
Jugend bereits hervortretende geschlechtliche Zuneigung
zu Personen desselben Geschlechts („Homosexualität“), während
das andere Geschlecht dem Kranken in dieser Hinsicht gleichgültig
bleibt oder sogar Abscheu und Ekel einflösst. Die Aufmerksamkeit
der Irrenärzte wurde auf diese wahrscheinlich uralte, mit der Knaben-
liebe der Griechen und Römer in Beziehung stehende Verirrung
hauptsächlich durch Casper gelenkt; später haben namentlich West-
phal und v. Krafft-Ebing unser Wissen über diesen Gegenstand
gefördert, der in neuester Zeit gleich eine ganze Reihe eingehendster
Bearbeitungen erfahren hat*).
In der Mehrzahl der Fälle scheint die Störung Männer zu be-
treffen, oder sie ist doch bei ihnen den Aerzten leichter und häufiger
bekannt geworden; fast immer ist angeborene, häufig ererbte psycho-
pathische Veranlagung vorhanden. Der Geschlechtstrieb pflegt sich
früh und kräftig zu entwickeln und führt sehr häufig zu einer leb-
haft betriebenen Onanie. In manchen Fällen bestehen zunächst ge-
sunde, „heterosexuelle“ Neigungen, die erst später durch den stärker
*) Westphal, Archiv f. Psychiatrie, II, 1; v. Krafft-Ebing, Psycho-
pathia sexualis. 10. Auflage. 1897; Moll, Die conträre Sexualempfindung. 1891;
v. Schrenk-Notzing, Die Suggestionstherapie bei krankhaften Erscheinungen des
Geschlechtssinnes. 1892.
Conträre Sexualempfindung.
563
anwachsenden krankhaften Trieb überwältigt werden. Meist aber
beziehen sich die wollüstigen Begleitbilder der geschlechtlichen Er-
regung im Wachen und Träumen von vorn herein auf das gleiche
Geschlecht, und alle Versuche natürlichen Geschlechtsverkehrs miss-
glücken vollständig oder gewähren doch wenigstens keine Befrie-
digung. Gerade diese Erfahrungen sind es, welche dem Kranken,
der oft längere Zeit über sich selbst im Unklaren ist, die Eigenart
seines Geschlechtslebens enthüllen. Entscheidend ist für die weitere
Entwicklung die Bekanntschaft mit irgend einer Person gleichen Ge-
schlechts, die entweder einfach durch ihre körperlichen und geistigen
Vorzüge die Sinnlichkeit des Kranken mächtig erregt oder geradezu
die gleichen Neigungen hat und ihn „verführt“ oder sich von ihm
verführen lässt. Es kommt zu einem leidenschaftlichen „Freund-
schaftsbündnisse“ mit allen Ueberschwänglichkeiten eines Liebes-
spiels, schwärmerischen Briefen, Blumensendungen, Geschenken,
Eifersuchtsausbrüchen, brünstigem Küssen und Händedrücken. Meist
schreitet dasselbe zu wollüstigen Umarmungen, gegenseitiger Mastur-
bation und allen möglichen andern „beischlafähnlichen Handlungen“,
seltener zu wirklicher Paederastie fort.
Ganz wie bei den Beziehungen verschiedener Geschlechter be-
stehen solche „Verhältnisse“ bisweilen längere Zeit, selbst viele Jahre
hindurch fort. Weit häufiger ist jedoch ein Wechsel der Neigungen
oder sogar grosse Unbeständigkeit. Meist sind beide Theile homo-
sexual, doch giebt es manche Kranke, die gerade nur mit gesund
fühlenden Personen geschlechtlich zu verkehren lieben. Standes-
unterschiede scheinen, genau wie im gewöhnlichen Geschlechtsleben,
hier eine weit geringere Rolle zu spielen, als etwa beim rein gesell-
schaftlichen Verkehr. Einzelne Kranke der besseren Stände fühlen
sich sogar am meisten zu Fabrikarbeitern, Kutschern, Lastträgern
u. dergl. hingezogen. Einer besonderen Beliebtheit erfreuen sich
auch hier die Soldaten. Aus allen diesen Umständen erklärt es sich,
dass in grösseren Städten gewöhnlich auch eine männliche Prostitution
mit allem Zubehör zu bestehen pflegt, die sich nicht nur aus homo-
sexualen, sondern auch aus geschlechtlich normalen Personen zu-
sammensetzt. Andererseits werden neben den körperlichen Reizen
meist auch zusagende Eigenschaften des Gemüths und des Verstandes
gefordert, mit denen aber die Einbildungskraft des Homosexualen
den Gegenstand seiner Liebe ebenso freigebig ausstattet wie der
36*
564
XII. Die psychopathischen Zustände.
gewöhnliche Licbcsrausch. Der Unbefangene begegnet in seinem
ganzen Leben nicht einer solchen Schaar von „hochgebildeten“,
„edeldenkenden“, „charaktervollen“ Männern, wie wir sie in der
Schilderung eines einzigen Freundeskreises solcher Kranker anzu-
treffen pflegen.
Natürlich bleibt die überwiegende Mehrzahl der Homosexualen
unvermählt. Dennoch gehen einzelne Kranke trotz ihres Wider-
willens gegen das andere Geschlecht die Ehe ein, theils in der
Hoffnung, sich dadurch von ihrem ungesunden Triebe zu heilen,
theils in dem Wunsche, Kinder zu besitzen. Nicht immer sind diese
Ehen unglücklich, da die Kranken bisweilen, abgesehen vom ge-
schlechtlichen Verkehre, mit grosser Pflichttreue ihre eigenthümliche
Stellung auszufüllen verstehen. Ja, es gelingt denselben sogar, Nach-
kommenschaft zu erzeugen, allerdings nur, wenn sie sich während des
Geschlechtsactes mit Aufbietung ihrer Einbildungskraft in die Arme
einer jungen und schönen Person gleichen Geschlechtes zu versetzen
vermögen. Daneben unterhalten sie vielfach noch gelegentlichen oder
regelmässigen homosexualen Yerkehr.
Gewöhnlich besteht ausser der conträren Sexualempfindung noch
eine Reihe anderweitiger Züge, welche auf eine krankhafte Veran-
lagung hindeuten. Dahin sind zunächst alle jene vielgestaltigen
körperlichen Entartungszeichen zu rechnen, die wir früher kennen
gelernt haben. Der Verstand der Kranken ist meist normal ent-
wickelt, doch macht sich häufig neben guter Auffassungsgabe grosse
Ermüdbarkeit, geringe Ausdauer bei geistiger Arbeit und Neigung
zu Träumereien geltend. Die Einbildungskraft pflegt stark über die
Fähigkeit zu rein verstandesmässiger Thätigkeit zu überwiegen. Gar
nicht selten beobachtet man auch wirklichen Schwachsinn. Am auf-
fallendsten ist gewöhnlich die erhöhte Erregbarkeit im Gemüths-
leben. Die Kranken sind empfindlich, von Stimmungen und Ein-
drücken in besonderem Maasse abhängig, schöngeistig und künstle-
risch, besonders musikalisch veranlagt, zu Schwärmerei und Ge-
fühl sausbrüchen geneigt, manchmal auch auffallend schüchtern und
unsicher. Meist haben sie, namentlich bei sonstiger geistiger Be-
gabung, ein lebhaftes Gefühl für ihre eigenartige Stellung. Wenn
sie auch nicht geneigt sind, sich für eigentlich krank zu halten, viel-
mehr an sich ihr Trieb ihnen als etwas ganz Natürliches erscheint,
so empfinden sie doch sehr tief und schmerzlich den Druck, mit
Conträre Sexualempfindung.
565
•welchem Gesetz und Sitte sie belastet, und sind unglücklich darüber,
keine Familie gründen zu können. Ihr Charakter ist meist weich, lenk-
sam, unselbständig, oft sogar schlaff und haltlos. Ihre Lebensführung
weist daher häufiger eine gewisse Zerfahrenheit und Abenteuerlichkeit
auf. Unzuverlässigkeit, Mangel an Wahrheitsliebe, Neigung zum Prahlen
und kleinliche Eitelkeit sind gewöhnliche Untugenden. Die geschlecht-
lichen Beziehungen spielen vielfach eine, namentlich für Männer,
ganz merkwürdig wichtige und entscheidende Rolle in ihrem Leben,
können sie längere Zeit vollkommen in Anspruch nehmen, an jeder
geregelten Thätigkeit hindern, sie verbummeln lassen, ihre Schick-
sale in durchaus massgebender Weise beeinflussen. Bisweilen ge-
sellen sieb zu der homosexualen Neigung die früher besprochenen
Verirrungen der Algolagnie und des Fetischismus ebenso hinzu wie
zum heterosexualen Triebe. Hie und da treten auch Andeutungen
anderer Perversitäten auf; ich kannte einen jungen Kaufmann, der
nicht nur Knaben beim Harnlassen zu beobachten suchte, sondern
auch den Schnee aufsog, der mit ihrem Urin getränkt war.
Während der Entwicklung der conträren Sexualempfindung lässt
sich sehr häufig das gelegentliche Auftauchen heterosexualer Regungen
feststellen. Ich erinnere mich eines von Hause aus krankhaft ver-
anlagten jungen Mannes, der zunächst zweifellose sinnliche Be-
ziehungen zu Mädchen besass, später aber sich ausschliesslich durch
Manustupration von Knaben befriedigte. Nicht selten bestehen
Neigungen zu beiden Geschlechtern nebeneinander, bald als Ueber-
gangstadium, bald dauernd. Freilich pflegt meist die eine Richtung
mit stärkerer Befriedigung verknüpft zu sein. Man spricht hier von
einer „psychischen Hermaphrodisie“.
Bei ausgeprägter Homosexualität zeigt sich häufiger eine Ver-
änderung der ganzen Lebensführung im Sinne des entgegengesetzten
Geschlechtes. Der Mann wird weibisch in seinen Bewegungen, seinem
Gange, seiner Haltung, seiner Geschmacksrichtung. Er zeigt ein süss-
liches, geziertes Wesen, wird eitel, gefallsüchtig, legt grossen Werth
auf Aeusseres, kleidet sich mit besonderer Sorgfalt, nach der Mode,
trägt Blumen im Knopfloch, parfümirt, schminkt sich, lässt sieb
frisiren, schreibt zierliche Briefe auf duftendem Papier, schmückt
seine Zimmer nach Art der weiblichen Boudoirs aus. Vielfach be-
steht die Neigung, sich mit weiblichen Handarbeiten zu be-
schäftigen, weibliche Kleidung (Corsett!) zu tragen, Busen und
566
XII. Dio puyehopathiscben Zustände.
Hüften auszustopfen, in Fistelstimme zu sprechen, kurz sich in allen
Stücken auch äusserlich möglichst der erwünschten geschlechtlichen
Stellung zu nähern. Andererseits sehen wir homosexuale Frauen
durch ihre Neigung zu männlichem Auftreten, zum Rauchen und
Trinken, zu übermüthigen Streichen, zu männlicher Kleidung und
Haartracht, zu männlichem Sport und männlichen Berufsarten auf-
fallen. Diese Veränderungen bezeichnet v. Krafft-Ebing als
Effeminatio und Viraginität. Nicht selten gehen die ersten
Spuren derselben schon bis in die Kinderjahre zurück und geben
vielleicht günstige Vorbedingungen für die Ausbildung der conträren
Sexualempfindung ab; in anderen Fällen vollzieht sich die ganze
Umwälzung erst späterhin, anscheinend wesentlich unter dem Einflüsse
jener letzteren.
Es giebt endlich eine kleine Gruppe von homosexual ver-
anlagten Personen, bei denen auch der körperliche Bau gewisse
Abweichungen vom Geschlechtstypus in der Richtung des anderen
Geschlechts aufweist. Dahin gehören die bartlosen Männer mit
weiblicher, hoher Stimme, glatter, weisser Haut, stärkerem Fett-
polster, entwickelten Brustdrüsen, schlanker Taille und breiten
Hüften, die Frauen mit Bartanflug, grobem Knochenbau, tiefer,
rauher Stimme, männlichem Becken, erstere von v. Krafft-Ebing
als Androgyne, letztere als Gynandrier bezeichnet. Wirkliche
Zwitterbildung bei conträrer Sexualempfindung ist bisher niemals
beobachtet worden.
Der Verlauf des Leidens ist stets ein äusserst langsamer.
Der vollen Entwicklung, die sich meist gegen Ende des zweiten
oder im Anfänge des dritten Lebensjahrzehntes vollzieht, können
lange Zeiten des Kampfes oder der Heterosexualität voraufgehen,
wenn auch andererseits bisweilen eine einzige Lebenserfahrung
plötzlich bestimmend sein kann. In einzelnen Fällen hat man ein
periodisches Auftreten der homosexualen Neigungen beobachtet, mit
oder ohne Verbindung mit allgemeinen Erregungszuständen. Zwei-
mal sah ich acut Verfolgungsideen bei den sonst ganz besonnenen
Kranken auftreten. Sie fürchteten, entdeckt, belauscht zu werden,
hörten über sich sprechen, waren äusserst ängstlich und nur theil-
weise und vorübergehend einsichtig. Leider habe ich den weiteren
Verlauf nicht beobachten können.
Die conträre Sexualempfindung ist nach den Versicherungen
Conträre Sexualempfindung.
567
aller derartiger Kranker keineswegs selten, obgleich die bisher vor-
liegende Casuistik aus begreiflichen Gründen nur wenige hundert
Fälle umfasst. Dennoch ist die Angabe von Ulrichs, der in einer
Reihe von Schriften diesen Zustand aus eigener Erfahrung behandelt
hat, wahrscheinlich beträchtlich übertrieben; er nimmt nämlich auf
200 Männer je einen „Urning“ an, wie er die geschilderten Kranken
nennt. Auf Grund dieser Angabe verlangt jener Schriftsteller sogar
die staatliche Anerkennung der conträren Sexualempfindung und
namentlich die Gestattung dauernder, förmlicher Ehebündnisse. In
gewissen Ständen, namentlich bei den mehr weiblichen Berufsarten,
finden sich Homosexuale besonders häufig, unter den Decorateuren,
Tapezierern, Kellnern, Damenschneidern; auch unter den Schau-
spielern scheinen sie viel vertreten zu sein. Moll behauptet, dass
Damenkomiker regelmässig homosexual seien. Meistens wird hier
wol überall die Berufswahl schon durch die ursprüngliche, zum
Weiblichen neigende Veranlagung beeinflusst werden; namentlich
das letzte Beispiel spricht dafür.
Die Erkennung der conträren Sexualempfindung ist in den
Fällen mit starker Umwandlung der geistigen oder gar körperlichen
Persönlichkeit vielfach sehr leicht, obgleich auch trotz jener Um-
wandlung völlig gesunde geschlechtliche Neigungen vorhanden sein
können. Sonst ist die ärztliche Diagnose nur aus den eigenen Mit-
theilungen des Kranken möglich. Alle Angaben der Urninge über die
Schnelligkeit und Unfehlbarkeit ihres Erkennens sind Prahlereien.
Neben der krankhaften conträren Sexualempfindung giebt es auch
eine künstlich gezüchtete. Beide, die übrigens wieder von der ein-
fachen Ausübung homosexualer Acte ohne homosexuales Fühlen
wol zu unterscheiden sind, gehen in einander über und können nur
nach den im einzelnen Falle vorliegenden Angaben über die Ent-
stehungsweise auseinandergehalten werden.
Es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass die con-
träre Sexualempfindung auf dem Boden einer krankhaft ent-
arteten Persönlichkeit erwächst. Dagegen ist es fraglich, ob die
eigentümliche Verkehrung des Geschlechtstriebes als solche schon
angeboren ist, oder ob sie nur eine der vielen Erscheinungsformen
krankhafter Triebe darstellt, -welche bei geringer gemiithlicher Wider-
standsfähigkeit durch äussere Lebenserfahrungen grossgezogen werden
können. Man ist meist der gewichtigen Ansicht v. Krafft-Ebing’s
568
XII. Die psychopathischen Zustände.
zu Gunsten der ersteren Möglichkeit gefolgt, und die vielen Selbst-
schilderungen von Urningen behaupten fast ausnahmslos sehr be-
stimmt, dass die homosexualen Neigungen angeboren seien. Auch die
Erfahrung eines Zusammenhanges nicht nur der ganzen Gemüths-
art, sondern auch gewisser körperlicher Eigentümlichkeiten mit der
conträren Sexualempfindung schien kaum anders, als im Sinne eines
angeborenen Zwiespaltes zwischen der Bildung der Geschlechtsorgane
und der geschlechtlichen Veranlagung der eigentlichen Persönlichkeit
gedeutet werden zu können. Ulrichs hatte geradezu von einer
„anima muliebris in corpore virili inclusa“ gesprochen, und man
durfte wenigstens daran denken, dass bei der erst spät erfolgenden
Differenzirung der beiden Geschlechter die gewöhnliche Ueberein-
stimmung der körperlichen und geistigen Gesammtrichtung mit den
äusseren Geschlechtskennzeichen möglicherweise einmal nicht zu
Stande kommen könne.
Gegenüber diesen Annahmen ist v. Schrenk-Xotzing mit
schwerwiegenden Beweisen für eine häufigere Entstehung der con-
trären Sexualempfindung aus mehr zufälligen Anregungen einge-
treten. Mit Recht hat er darauf hingewiesen, dass bei unseren ge-
sellschaftlichen Einrichtungen die meist lange vor dem eigentlichen
Entwicklungsalter sich einstellenden ersten geschlechtlichen Regungen
fast mit Noth wendigkeit sich an Erlebnisse mit dem eigenen Ge-
schlechte anknüpfen müssen (nackte Knaben beim Baden, Ringen,
Verführung durch Mitschüler). Thatsächlich sind ja lebhaft sinnlich be-
tonte Freundschaften zwischen Schulkindern des gleichen Geschlechts,
die noch nichts von den Geschlechtsunterschieden wissen, ganz un-
gemein häufig.
Bei gesunden Personen sind die Nebenumstände, unter denen
die ersten sinnlichen Gefühle auf tauchen, für die spätere Richtung
des Geschlechtstriebes gleichgültig. Dagegen können dieselben bei
krankhafter Veranlagung, bei der ohnedies das Erwachen des Triebes
früher und heftiger zu erfolgen pflegt, von grosser Bedeutung werden.
Dafür sprechen vor allem gewisse Erfahrungen bei Fetischisten, deren
geschlechtliche Neigungen ihr ganzes Leben hindurch unter dem
Banne eines bestimmten Eindruckes stehen bleiben. Auch an die
dauernde Herrschaft einzelner, von aussen her angeregter Vor-
stellungskreise und Antriebe bei der Schreckneurose wie beim
Zwangsirresein darf hier erinnert werden. Wie der Fetischist nur
Conträre Sexualempfindung.
569
unter ganz bestimmten Umständen geschlechtlichen Genuss findet,
so könnte dieser letztere beim Homosexualen an die Wiederkehr
jener Eindrücke sich knüpfen, welche zum ersten Male oder in
besonders aufregender Weise den Geschlechtstrieb weckten; das
würden hier die Kennzeichen des gleichen Geschlechtes sein. Dass
dieser ursprüngliche Zusammenhang später häufig vergessen wird
und nur das anscheinend räthselhafte Endergebniss zu Tage liegt,
kann in beiden Fällen geschehen. Doch liegen für Fetischisten
wie für Homosexuale genügend zahlreiche Beobachtungen vor,
welche mit Bestimmtheit auf die hier angedeutete Entstehung hin-
weisen.
Gegen das Angeborensein der Störung spricht ferner die That-
sache der häufigen psychischen Hermaphrodisie. Yerhältnissmässig
selten sind jene Personen, bei welchen niemals eine Spur von
heterosexualen Regungen vorhanden gewesen ist. Wie beim ge-
sunden Menschen die ursprünglich vielleicht am häufigsten auf das
eigene Geschlecht sich richtenden sinnlichen Neigungen später ein-
fach von mächtigeren Trieben unterdrückt werden, so wird dort die
gesunde Regung von dem homosexuellen Triebe überwuchert, der
sich schon lange vorher auf dem krankhaft empfänglichen Boden
üppig entwickelte. Daher die entscheidende Bedeutuug der ersten
geschlechtlichen Misserfolge, daher aber auch die sonst einfach un-
erklärliche, später zu besprechende Möglichkeit einer Heilung der
Kranken auf psychischem Wege! Das Krankhafte liegt also, wie
ich mit y. Schrenk-Notzing glaube annehmen zu müssen, häufig
oder regelmässig nicht in einem ursprünglich verkehrt entwickelten
Triebe, sondern es liegt in der eigentkiimlicben, auf Entartung be-
ruhenden Bestimmbarkeit des überdies früh erwachenden Trieb-
lebens. Durch sie wird in dem jugendlichen Gemiithe die erste
Anregung der Sinnlichkeit massgebend für die dauernde Gesammt-
richtung derselben.
Allerdings spricht gegen diese Auffassung der obenerwähnte
Zusammenhang der geistigen und namentlich der körperlichen Eigen-
schaften mit der Geschlechtsumwandlung. Indessen der Werth dieser
Thatsachen ist unter dem Einflüsse der Ulrichs ’schen Anschauung
überschätzt worden. Alle jene körperlichen Eigenthümlichkeiten
treffen wir gelegentlich bei beliebigen Entarteten, ohne Andeutung
yon conträrer Sexualempfindung. Zudem sind sie bei unseren
570
XII. Die psychopathischen Zustände.
Kranken selbst durchaus nicht häufig; im Gegentheil besitzt die über-
wiegende Mehrzahl derselben vollständig alle körperlichen Eigen-
schaften ihres Geschlechtes. Ebenso ist im allgemeinen die auf-
fallende geistige Veranlagung zu beurtheilen. Wir sind derselben
schon bei manchen anderen Formen der krankhaften Entartung, bei
der Hysterie, bei gewissen Schwachsinnsformen u. s. w. begegnet,
ohne alle Verbindung mit Homosexualität. Umgekehrt kenne ich
Kranke genug, die jene Züge durchaus nicht besitzen. Immerhin
wäre es wol möglich, dass bestimmte Charaktereigenschaften wegen
der gesummten Stellung, die sie dem Einzelnen in seiner Umgebung
anweisen, von vornherein die Entstehung homosexualer Neigungen
begünstigten. Endlich aber ist ein Theil derselben, sind namentlich
die Lebensgewohnheiten einfach die Folge der einmal bestehenden
geschlechtlichen Richtung. Es giebt übrigens auch zahlreiche sexuell
völlig gesund veranlagte Männer, die ausser jeder Beziehung zu
ihrem Berufe eine überraschende Kenntniss der weiblichen Kleidung,
der Küche, ja sogar grosse Fertigkeit in weiblichen Arbeiten be-
sitzen, während andererseits unsere „emancipirten“, rauchenden,
reitenden, schriftstellernden. studirenden Damen keineswegs die
Männerliebe zu verschmähen pflegen.
Durch die hier vertretene Auffassung, welche vielleicht nicht
für alle, doch aber für die Mehrzahl der Fälle von conträrer Sexual-
empfindung gelten dürfte, wird die Prognose dieser Störung eine
weit günstigere, als man früher annehmen konnte. Die Erfahrung
hat im Laufe der letzten Jahre gezeigt, dass bei nicht wenigen
Kranken eine sehr weitgehende Besserung und sogar Heilung mög-
lich ist.
Die Behandlung besteht wesentlich in dem Verfahren der
hypnotischen Suggestion, die bei diesen Kranken, wie bei so manchen
anderen Gelegenheiten, Heilerfolge erzielt, wo alle sonstigen Behand-
lungsarten machtlos sind. Die Suggestion richtet sich zuerst gegen
die so häufig betriebene Masturbation und die gesteigerte geschlecht-
liche Erregbarkeit überhaupt. In zweiter Linie wird Unempfindlich-
keit gegen das eigene Geschlecht, Verblassen der betreffenden
Phantasiebilder, in dritter Anregung durch das andere Geschlecht,
Neigung zum heterosexualen Verkehr vorgeschrieben. Meist ist diese
hypnotische Erziehung, da es sich um schon tief eingewurzelte Ge-
wohnheiten handelt, eine äusserst mühsame und langwierige; gelegent-
Conträre Sexualempfindung.
571
liehe Rückfälle sind nicht selten. Den grössten Werth legt v. Schrenk-
Notzing auf regelmässigen natürlichen Geschlechtsverkehr, der zwar
bei Männern verhältnissmässig leicht zu beschaffen ist, aber, wie seine
Fälle zeigen, auch manche Gefahren mit sich bringt. Ein Glück,
dass für Mädchen die Behandlungsfrage weniger brennend ist! Vor
übereilten Coitusversuchen muss gewarnt werden, da ihr Misslingen
das Selbstvertrauen tief zu schädigen geeignet ist. Andererseits
kann ein Erfolg in dieser Richtung anscheinend raschen Umschlag
der Stimmung und sogar die Selbsttäuschung völliger und end-
gültiger Heilung bewirken. Unterstützt wird die Behandlung durch
Massnahmen, welche sich gegen den allgemeinen nervösen Zustand
des Kranken richten, Brom, diätetische Vorschriften, gymnastische
Hebungen und ähnliches. Das Endergebniss wird natürlich auch
nach dem allmählichen Schwinden der homosexualen Neigungen
eine krankhaft entartete Persönlichkeit sein. Mehrere der so ge-
heilten Kranken haben geheirathet.
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
Wenn wir in den psychopathischen Zuständen die verschiedenen
Ergebnisse einer krankhaften Richtung der Entwicklung kennen ge-
lernt haben, so bleibt uns nun noch übrig, auch diejenigen Ge-
staltungen der psychischen Persönlichkeit ins Auge zu fassen, welche
durch eine unvollkommene oder frühzeitig unterbrochene
Ausbildung des Seelenlebens zu Stande kommen. Wir bezeichnen
sie im Gegensätze zu den Erzeugnissen der Entartung als psychische
Entwicklungshemmungen. Es ist jedoch selbstverständlich, dass die
beiden hier auseinandergehaltenen Vorgänge sich in der Wirklichkeit
auf die mannigfaltigste Weise mit einander verbinden müssen. In
der That sehen wir auch vielfach klinisch die Erscheinungen des
Entartungsirreseins auf dem Boden unzulänglicher Entwicklung zum
Vorschein kommen; bald überwiegt im Gesammtbilde mehr die
Verschrobenheit, bald die Schwäche.
Die Ursache der psychischen Entwicklungshemmungen kann in
unvollkommener Ausbildung der Hirnrinde oder, weit häufiger, in
Krankheitsvorgängen liegen, welche vor der Geburt oder in den
ersten Lebensjahren die Leistungsfähigkeit der Träger unseres
Seelenlebens empfindlich beeinträchtigen. Vielleicht würde die
Scheidung der klinischen Krankheitsformen unter diesem Gesichts-
punkte die meiste Berechtigung haben. Bei dem heutigen Stande
der Frage ist jedoch der Versuch einer solchen Eintheilung noch
aussichtslos. Wir Averden uns vielmehr damit begnügen müssen,
einfach die verschiedenen Grade der vorliegenden Störung aus-
einanderzuhalten. Die leichteren Formen pflegen wir als angeborenen
SchAvachsinn, besser als Imbecillität, die sclnvereren als Idiotie
zu bezeichnen.
Imbecillität.
573
A. Die Imbecillität.
Das gemeinsame Kennzeichen aller derjenigen Zustände, die
wir im Bereiche der Imbecillität antreffen, ist ein mässiger Grad
von Unzulänglichkeit der psychischen Leistungen. In der Regel ist
diese Unvollkommenheit auf den verschiedenen Gebieten des Seelen-
lebens in annähernd gleichem Maasse ausgesprochen; es giebt aber
auch gewisse Formen, bei denen die gemiithlichen Regungen auf-
fallend viel stärker von der Entwicklungshemmung betroffen sind,
als die Verstandestbätigkeit. Man hat daher der Imbecillität im
engeren Sinne als besonderes klinisches Bild noch den morali-
schen Schwachsinn gegenübergestellt.
Im Bereiche der eigentlichen Imbecillität begegnen uns haupt-
sächlich zwei Gruppen von klinischen Bildern, welche sich durch
den Grad der geistigen Regsamkeit der Kranken von einander
unterscheiden. Wir wollen sie als stumpfe und lebhafte (aner-
getische und erethische Formen) bezeichnen. Den Grundzug der
ersteren Gruppe bildet die Stumpfheit und Unempfänglichkeit. Den
Kranken fehlt die Fähigkeit, eine grössere Zahl von Eindrücken
und Lebenserfahrungen in sich aufzunehmen und weiter zu ver-
arbeiten. Ihre Erkenntniss der Aussenwelt beschränkt sich auf das
unmittelbar Gegebene und Nächstliegende; was darüber hinausgeht,
liegt ausserhalb des geistigen Gesichtskreises und bleibt daher un-
bemerkt. Vielleicht ist die wesentliche Ursache dieser „Beschränkt-
heit“ darin zu suchen, dass die Vorstellungen ihre sinnlichen Formen
behalten, dass keine Verschmelzung der Einzelerfahrungen zu All-
gemeinvorstellungen stattfindet. Bei unseren Kranken geht nur das
Einzelne und Kleinliche in den Erfahrungsschatz ein, ohne begriff-
liche Verarbeitung, ohne Auffassung allgemeinerer Verhältnisse, ohne
Gewinnung grösserer Gesichtspunkte. Das Wesentliche trennt sich
nicht ab von jdem Zufälligen; grundsätzliche Uebereinstimmungen
und Unterschiede werden nicht erkannt, sondern durch gelegent-
liches Beiwerk verdeckt. Neue Eindrücke finden keinen Widerhall
in ähnlichen Erlebnissen der Vergangenheit; unvermittelt, ohne innere
Beziehungen zu gewinnen, ohne sich übersichtlich zu ordnen, reihen
sich die einzelnen Wahrnehmungen aneinander. Es fehlt eben jene
574
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
psychische Resonanz, welche beim Gesunden die führende Melodie
des Vorstellungsverlaufes beständig mit den leisen, immer wechseln-
den Anklängen früherer Erinnerungen begleitet.
So kommt es, dass der gesammte Vorstellungskreis der Kranken,
abgesehen von einer gewissen Beherrschung der alltäglich aufge-
nommenen Wahrnehmungen, ärmlich bleibt und sich meist in den
gleichen Bahnen bewegt. Der Gedankengang ist unbeholfen und,
wie Buccola durch Messungen nachgewiesen bat, verlangsamt. Das
Urtheil der Kranken ist bei ihrer Unfähigkeit zu selbständiger Be-
griffsbildung ein sehr beschränktes, unsicheres, und wird vielfach
durch äusserlich angelernte Ergebnisse fremden Nachdenkens („Schlag-
worte“) entscheidend beeinflusst. EinUeberblick über den Zusammen-
hang der Lebensereignisse, eine weitergehende Voraussicht der Folgen
eigener und fremder Handlungen wird nicht erreicht; die Einbildungs-
kraft, die Fähigkeit zu willkürlicher Wiedererweckung und freier
V erknüpf ung gewonnener V orstellungen, ist sehr unvollkommen aus-
gebildet.
Das Gedächtniss der Kranken pflegt nur in den gröbsten
Zügen treu zu sein. Manche ganz unwichtige Einzelheiten werden
bisweilen mit grosser Zähigkeit festgehalten, während andere, be-
deutungsvolle Thatsachen einfach vergessen sind. Die Erzählungen
der Kranken sind daher häufig sehr unzuverlässig, weil sie Manches
auslassen, Anderes verwechseln, noch Anderes hinzufügen. Die ver-
schiedenen Berichte über dasselbe Erlebniss stimmen untereinander
entweder ganz wörtlich überein, oder sie zeigen mannigfache sach-
liche Widersprüche. In beiden Fällen ist es schwierig, sich ein Ur-
theil darüber zu bilden, nicht nur wie der Vorfall sich wirklich ab-
gespielt hat, sondern öfters auch darüber, ob der Kranke absichtlich,
fahrlässig oder in gutem Glauben falsch aussagt. Meist sind die
Kranken gedankenlos, zerstreut, vergesslich. Sie pflegen sich daher
auch nur sehr geringe Kenntnisse anzueignen, die zudem nach der
Schulzeit rasch wieder verloren gehen. Viele wissen weder Monats-
namen noch die Reihenfolge der Wochentage, erkennen Münzen nur
nach der Grösse, können höchstens mit Hülfe der Finger etwas zu-
sammenzählen, haben keine Ahnung von Fürst oder Landeshaupt-
stadt. Um solche Dinge hätten sie sich nie bekümmert; das brauchten
sie nicht zu wissen.
Das Bewusstsein der Kranken ist dauernd ungetrübt; sie
Imbecillität.
575
erkennen ihre Umgebung, fassen die an sie gerichteten Fragen auf
und geben besonnene, wenn auch meist sehr unzulängliche und müh-
selige Auskunft. Häufig kehren in ihren Aeusserungen stehende
Redensarten und .Kraftworte, auch wol Bibelsprüche wieder. Yon
einer Krankheitseinsicht ist keine Rede; sie halten sich für ganz
gesund, verlangen hie und da ihre Freiheit, um sich nunmehr allein
fortzubringen, sind den Belehrungen über ihre Lage nur in sehr
geringem Maasse zugänglich.
Wegen der Beschränktheit des Gesichtskreises gewinnen die Zu-
stände und Angelegenheiten der eigenen Persönlichkeit eine ganz
unverhältnissmässige Wichtigkeit für den Kranken. Je ärmer die
Erfahrung, desto grösser ist die Rolle, welche das Ich in derselben
spielt. So kommt es, dass sich hier stets eine mehr oder weniger
scharf ausgeprägte selbstsüchtige Richtung des Gedankenganges
und weiterhin auch der Gefühle ausbildet. Das körperliche Wohl
und Wehe, das alltägliche Thun und Treiben, die Befriedigung der
unmittelbarsten Wünsche, Essen und Trinken, der Besitz begehrens-
werth erscheinender Dinge bleiben dauernd Mittelpunkt des gesammten
geistigen Lebens. Alle Erfahrungen, die nicht augenfällig an diesen
Mittelpunkt anknüpfen, lassen den Kranken gleichgültig, erregen
keinerlei Theilnahme bei ihm und gehen daher spurlos an ihm vor-
über. Vielfach fehlen ihm sogar die natürlichsten Gefühlsbeziehungen
zu seinen nächsten Angehörigen. Ihr Wohlergehen erweckt höchstens
seinen Neid, und das oberflächliche Bedauern über den Verlust etwa
der Eltern wird schon durch den Pomp des Leichenbegängnisses
und die Freude über die neuen Trauerkleider rasch ausgelöscht. Noch
stumpfer steht der Kranke fremdem Leide gegenüber. Daher die
rohe Gefühllosigkeit beim Anblicke von Noth und Unglück, daher
die naive Grausamkeit, welche unsere Kranken so häufig bei ihren
Thierquälereien wie bei ihren verbrecherischen Handlungen an den
Tag legen. Einer meiner Kranken, der zugleich an ererbter Chorea
litt, versuchte am hellen Tage seine alte, aufopfernd für ihn sorgende
Mutter mit dem Holzbeile zu erschlagen, um in den Besitz ihres
Sparkassenbuches zu gelangen. Er wurde dabei gestört und zu einer
langjährigen Zuchthausstrafe verurtheilt, nach deren Verbüssung er
endlich in die Irrenanstalt wanderte.
Die Stimmung der Kranken ist gleichmiithig, theilnahinlos,
häufig aber auch von einer eigenthümlich leeren, kindischen Heiter-
576
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
keit. Gelegentlich indessen kommt es auch einmal zu plötzlichen
Ausbrüchen leidenschaftlicher Heftigkeit, namentlich wenn sie ge-
reizt werden und sich benachtheiligt oder gekränkt glauben. In
ihrem Benehmen sind sie meist harmlos, lenksam, guten, aber auch
schlechten Einflüssen zugänglich, launenhaft, zeitweise eigensinnig
und querköpfig. Schlechte Behandlung macht sie widerspenstig
und gewaltthätig. Zu einer selbständigen Thätigkeit sind sie in
der Regel nicht fähig, beschäftigen sich aber unter Anleitung, frei-
lich auch ohne rechten Eifer und ohne tieferes Verständniss. Nur
in einzelnen Fällen wird wol auch eine hervorragende einseitige
technische Fertigkeit, Anlage zur Musik, zum Zeichnen beobachtet,
allerdings stets ohne die Fähigkeit zu werthvollerer Arbeit selbst auf
diesen Gebieten.
Leichtere Formen dieses Schwachsinns sind recht häufig, werden
jedoch ungemein leicht verkannt; sie gehen ohne scharfe Grenzen
in die Dummheit der Gesundheitsbreite über. Die praktische Be-
deutung der geistigen Unfähigkeit wächst natürlich mit den An-
forderungen, die das Leben an den Einzelnen stellt. In einfachen
Verhältnissen vermögen sich die Kranken trotz der Beschränktheit
ihres Urtheils und Gesichtskreises doch vielfach noch leidlich gut
zurechtzufinden, ohne dass man sie gerade für krank hält, weil sie
rein gedächtnissmässig eine gewisse Summe von Erfahrung zu be-
herrschen wissen und den gewohnten Kreislauf ihrer Beschäftigungen
mit mechanischer Sicherheit regelmässig durchlaufen. Freilich darf
sich dann auch in den äusseren Bedingungen nichts ändern. Eine
meiner EAanken, die mit Mühe und Noth in einer Gasthausküche etwas
kochen gelernt hatte, schlug für 3 oder 4 Personen zum Pfannkuchen
ebensoviel Eier in die Pfanne, wie sie früher für die grosse Tafelrunde
hatte nehmen müssen. Sobald eine mächtige Gemiithsbewegungi
eine Entscheidung, eine Versuchung an sie herantritt, wo die Sach-
lage Umsicht, Thatkraft und Selbständigkeit des Handelns erfordert,
tritt sofort ihre ganze geistige und gemütbliche Unfähigkeit zu Tage,
um allerdings dann meist nicht sowol unter dem Gesichtspunkte der
Krankheit, als unter dem der sittlichen Schlechtigkeit beurtheilt zu
werden. Namentlich die gesteigerten Anforderungen des militärischen
Dienstes decken nicht selten den wahren Umfang des Schwachsinns
auf, wie er sich in der Unfähigkeit, zu lernen, in der Halsstarrigkeit
und Unbotmässigkeit kundgiebt. Schwere und hartnäckige Gehorsams-
Imbecillität.
577
Verweigerung, Fahnenflucht, thätliche Angriffe auf Vorgesetzte,
bisweilen auch Selbstmordversuche sind nicht ganz selten die Folge
einer falschen Beurtheilung und Behandlung solcher Zustände.
Die Entwicklung der hier beschriebenen Störung kündigt sich
meist schon frühzeitig an. Dem verspäteten Auftreten der ersten
geistigen Regungen, des Lächelns, der Nachahmung, der Sprache,
folgt das Zurückbleiben in der Schule, wenn auch vielleicht die
Unfähigkeit zu selbständiger geistiger Verarbeitung zunächst noch
durch einfache Gedächtnissleistungen eine Zeit lang verdeckt wird.
Die Kinder sind träge, faul, gedankenarm, verständnisslos und werden
wegen ihrer geringen Begabung zum Spott ihrer Mitschüler. Nur
nothdiirftig eignen sie sich einige Fertigkeit im Schreiben, Lesen,
weniger im Rechnen an, lernen mühselig eine Anzahl von Sprüchen,
geographischen oder geschichtlichen Thatsachen auswendig, um sie
bald wieder zu vergessen, da der todte Stoff für sie keine Ver-
knüpfung mit den Erfahrungen des wirklichen Lebens eingeht. Viel-
fach sind sie störrisch, schwer zu erziehen, haben Neigung zu
schlechten Streichen (Spielen mit Feuer, kleine Diebstähle), zu ge-
schlechtlichen Ungehörigkeiten, müssen in Rettungs- und Erziehungs-
häusern untergebracht werden. In den Entwicklungsjahren tritt die
geistige Schwäche gewöhnlich deutlich hervor, sei es, dass diese
Krüppel sich bei den gesteigerten Anforderungen nunmehr von ihren
gesunden, fortschreitenden Kameraden schärfer abheben, sei es, dass
unter Umständen hier wirklich nicht nur ein Stillstand, sondern
sogar eine theilweise Rückbildung der geistigen Entwicklung ein-
tritt Fälle der letzteren Art, wie ich sie mehrfach gesehen zu
haben glaube, würden vielleicht als Uebergang zu gewissen Formen
der Dementia praecox aufgefasst werden dürfen. Die weiteren
Schicksale unserer Kranken pflegen verschiedenartige, immer wieder
an der geistigen Unfähigkeit scheiternde Anläufe zu einer Berufs-
wahl zu sein, endlich thatenloses Dahinleben in Familienpflege, noch
häufiger vielleicht der Uebergang zum Gewohnheitsbettel und zur
Landstreicherei. Eine Menge derartiger Kranker findet sich nament-
lich in den Arbeitshäusern und Gefängnissen, wo sie wegen ihrer
Unverbesserlichkeit der Schrecken der Beamten und Aufseher sind,
bis sie endlich wenigstens zum Theil spät noch in die Irrenanstalten
gelangen.
Zu diesen stumpfsinnigen Schwächezuständen stehen die lebhaften
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 37
578
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
Formen nach mancher Richtung in einem gewissen Gegensätze. An
Stelle der Schwerfälligkeit zeigt sich eine krankhafte Beweglich-
keit der Aufmerksamkeit und der Einbildungskraft Die
Kranken sind empfänglich für neue Eindrücke, machen zahlreiche
Wahrnehmungen, werden durch jeden frischen Reiz angezogen, ver-
mögen aber nicht, planmässig und ausdauernd ihre Aufmerksamkeit
einem bestimmten Gegenstände zuzuwenden. Sie begnügen sich
überall mit dem ersten Anschein, schweifen sofort ab, sind mit der
Betrachtung fertig, bevor sie noch recht angefangen haben. Der
flüchtig und oberflächlich erfasste Inhalt ihrer Erfahrungen ist daher
in hohem Maasse von zufälligen Einflüssen abhängig und bietet
nur ein sehr lückenhaftes, stark verzerrtes Bild der Aussen weit
Aus diesen Bestandtheilen setzen sich dehnbare, verschwommene,
vielfach verfälschte Begriffe zusammen, welche die Grundlage für
schiefe und halbrichtige TJrtheile sowie für abenteuerliche Analogie-
schlüsse abgeben. Dem ganzen Denken der Kranken, sobald es sich
über das unmittelbar sinnlich Gegebene erhebt, fehlt die feste Grenz-
linie klar und scharf ausgeprägter Allgemeinvorstellungen, wie sie
überall das Spiel der leicht beweglichen Einbildungskraft in die
geordneten Bahnen des logischen Gedankenganges zwingen. Die
Lebens- und Weltanschauung der Kranken wird auf diese Weise
in auffallendem Maasse unabhängig von der Wirklichkeit Wichtige
und massgebende Thatsachen haben für sie gar kein Gewicht, üben
auf ihre Ueberlegungen nicht den geringsten Einfluss, während sie
andererseits ernsthaft mit Verhältnissen rechnen, die nur in ihrer
Einbildung bestehen. Ein derartiger Kranker begründete seine an-
gebliche tiefe Kenntniss der hohen Politik mit der Angabe, dass ein
Verwandter von ihm Aufseher auf einem Gute Herbert Bismarcks
sei; er wollte nach seiner Entlassung aus der Anstalt geheimer
Polizist werden, trotzdem er bereits mehrfach wegen aller möglichen
Schwindeleien längere Freiheitsstrafen verbüsst hatte.
Diese unbekümmerte Vernachlässigung der Wirklichkeit, die
Freiheit von dem unbequemen Ballaste der Bedenken und Ueber-
legungen, giebt dem Gedankengange etwas eigenthiimlick Unstetes
und Widerspruchsvolles. Ohne Zögern entwickelt der Kranke heute
diese, morgen jene Anschauungen und Pläne, stützt sich im gleichen
Satze auf Gründe, die einander ausschliessen, fertigt Einwände sieges-
gewiss mit ganz unzutreffenden Schlagworten ab. Auch hier ist in
Imbecülitiit.
579
der Regel trotz aller anscheinenden geistigen Beweglichkeit die
häufige Wiederkehr bestimmter hochtrabender Redensarten und
schwülstiger Gemeinplätze sehr deutlich. Der innere Zusammen-
hang zwischen allen diesen, meist mit grosser Geläufigkeit vor-
gebrachten Ausführungen ist stets ein lockerer. Der Kranke ver-
liert rasch den Faden, bringt die verschiedensten Dinge durch-
einander, berauscht sich förmlich an seinen eigenen klingenden
Phrasen und schliesst plötzlich unvermittelt mit einer rednerischen
Frage oder einer sonstigen, besonders schlagenden Wendung. Trotz-
dem pflegt die Zungengewandtheit der Kranken und der tönende
Wortschwall, mit dem sie den Zuhörer überschütten, häufig genug
den Unerfahrenen über die Inhaltlosigkeit ihrer Reden zu täuschen,
so dass sie nicht als schwachsinnig, sondern sogar als besonders
schlau angesehen werden. „Den nehmen wir mit; der ist gescheidter,
als wir,“ sagte eine Gemeindeabordnung, welche gekommen war, um
sich selbst von dem Zustande eines derartigen, in der Anstalt fest-
gehaltenen Kranken zu überzeugen. Freilich brachten sie ihn schon
nach kurzer Zeit wieder zurück.
Aus den bisher besprochenen psychischen Eigenthümlichkeiten
unserer Kranken erklärt es sich, dass wir bei ihnen häufig der
Neigung begegnen, ihre Erinnerungen mit frei erfundenen Zügen
auszuschmücken, die Darstellung früherer Erlebnisse derartig zu
färben und zu verdrehen, dass man die Grenze absichtlicher Schwin-
delei und fahrlässigen Fabulirens nicht mehr zu erkennen vermag.
Ein 10 jähriger Knabe ging eines Tages plötzlich in eine Kaserne,
gab sich für den Sohn des Obersten aus und nahm als solcher
mehrere Tage lang Reitstunde, anstatt in die Schule zu gehen; ein
anderes Mal erzählte er zu Hause fälschlicherweise, dass er ein
werthvolles Schmuckstück gefunden und auf die Polizei gebracht
habe. Bisweilen bringt erst die actenmässige Verfolgung des Vor-
lebens Klarheit in den Wust von Wahrheit und Dichtung; in
anderen Fällen lässt uns die plumpe Abenteuerlichkeit der Er-
findung über den Ursprung derselben nicht im Zweifel. Stets aber
pflegen die Kranken trotz der schlagendsten Gegenbeweise an der
Richtigkeit ihrer noch dazu vielfach wechselnden, sich selbst wider-
sprechenden Erzählungen festzuhalten und mit der Miene der ge-
kränkten Unschuld jede weitere Erörterung abzulehnen. Diese
Erfahrung mahnt zur Vorsicht namentlich gegenüber den häufigen
37*
580
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
schweren Beschuldigungen, die von den Kranken gegenüber ihren
Angehörigen, den Mitpatienten oder dem Wartpersonal vorgebracht
werden.
Die wirklichen Kenntnisse sind bei diesen Kranken meist etwas
ausgedehnter, als bei den stumpfsinnigen Formen. Manche verfügen
sogar über ein ziemlich gutes Gedächtnisswissen, geographische,
geschichtliche Thatsachen, Citate aus Dichtern und selbst Yocabeln
aus fremden Sprachen. Sie sind auch bis zu einem gewissen Grade
im Stande, Neues zu lernen, sich in ungewohnte Verhältnisse ein-
zuleben, sich zurechtzufinden, werden rasch mit ihrer Umgebung
bekannt, da sie sich um alles kümmern, fragen, sich überall ein-
mischen.
Der oberflächlichen, sprunghaften Regsamkeit des Verstandes
entspricht bei unseren Kranken ein leicht bewegliches Gemüths-
leben. Jeder äussere Eindruck ist von lebhafter, aber rasch ab-
klingender Gefühlsbetonung begleitet. Die Stimmungen schwanken
vielfach unvermittelt hin und her und gehen leicht ins Maasslose
und Ueberschwängliche. Niedergeschlagenheit und Uebermuth, Ver-
zweiflung, Schwärmerei und Begeisterung werden durch die gering-
fügigsten äusseren Anlässe ausgelöst. Häufig wechseln die Gefühls-
regungen gegenüber dem gleichen Anstosse in ganz regelloser Weise.
Was heute Zorn und Entrüstung hervorruft, ist morgen willkommen;
der „Ehrenmann“ wird für sie bald zum niederträchtigen Schurken,
dann wieder zum einzigen Freunde auf der weiten Welt. Alle diese
Schwankungen der Stimmung erscheinen trotz ihrer augenblick-
lichen Heftigkeit doch meist oberflächlich, aufgebauscht, theaterhaft
Die Kranken gefallen sich geradezu in stürmischen Ausdrucks-
bewegungen, in gespreizten und übertriebenen Gefühlsausbrüchen,
sind aber auch rasch wieder abzulenken und zu beruhigen. Im ganzen
sind sie gutmüthig und lenksam, doch fehlt niemals eine gewisse
Reizbarkeit und Empfindlichkeit. Namentlich Eingriffe in die
persönlichen Ansprüche pflegen mit lebhaften Erregungen beantwortet
zu werden.
Regelmässig besitzen die Kranken ein ungemein gesteigertes
Selbstgefühl. Sie zeigen keine Spur von Krankheitsbewusstsein,
halten sich vielleicht sogar für geistig hochbegabt, ja genial, prahlen
in aufdringlichster Weise mit ihren Familienverbindungen, der aus-
gezeichneten Erziehung, die sie genossen haben, ihren glänzenden
Imbecillität.
581
Kenntnissen und Aussichten. Die Schuld für ihre augenscheinlichen
Misserfolge schieben sie ohne weiteres auf widrige Zufälligkeiten,
mangelhafte Unterstützung oder Feindseligkeit der Angehörigen u. s. f.
Bei solchen Erzählungen lassen sie sich sehr leicht zu ganz un-
sinnigen Uebertreibungen hinreissen, selbst dann, wenn deren
Wahrbeitswidrigkeit sich auf der Stelle darthun lässt. Mehrere
meiner Kranken behaupteten mit Nachdruck, eine Reihe von
Sprachen in Wort und Schrift vollkommen zu beherrschen, während
die Probe ergab, dass sie nur über einige wenige Brocken derselben
verfügten.
In ihrem Benehmen sind die Kranken launenhaft, anspruchs-
voll, streitsüchtig. Sie sprechen viel und gern, blicken auf ihre Um-
gebung herab, drängen sich an den Arzt heran, suchen mit ihren
Kenntnissen, ihrer Bildung und ihren Fähigkeiten zu glänzen, kleiden
sich auffallend, arbeiten mit sehr wechselndem Eifer. Auch in ihrer
ganzen Lebensführung tritt ihr Schwachsinn deutlich hervor. Sie
gelten in ihrer Jugend häufig für begabt, aber flatterhaft, leichtsinnig
und lügnerisch, fangen später alles Mögliche an, halten nirgends
lange aus, springen unstät von einer Beschäftigung zur andern über,
reisen planlos herum, spielen die grossen Herren, verschwenden,
geben sich unsinnigen Ausschweifungen hin, werden Spieler, Trinker,
Morphinisten, bauen Luftschlösser und gerathen durch ihre Unüber-
legtheit, Haltlosigkeit und Vielgeschäftigkeit häufig in schwere Kämpfe
mit dem Leben. Auffallend ist öfters die Schnelligkeit, mit der
sie andere ähnliche Naturen auf finden und sich an sie anschliessen.
Eine ganze Anzahl von Prostituiiten scheint dieser Gruppe anzu-
gehören. Ferner findet man derartige Personen zahlreich unter den
unverbesserlichen Hochstaplern und Schwindlern; die noch niedriger
stehenden enden als Bummler und Landstreicher.
Man kann zweifelhaft sein, ob die hier geschilderten Zustände
zweckmässig der Imbecillität zugerechnet werden. Offenbar
haben wir es wesentlich mit Erscheinungsformen der Entartung
zu thun. Immerhin pflegen doch die Zeichen der tiefgreifenden
geistigen Unzulänglichkeit trotz aller oberflächlichen Regsamkeit so
deutlich hervorzutreten, dass die nahe Verwandtschaft mit der
Stumpfheit und Beschränktheit nicht wird bezweifelt werden können.
Gudden pflegte daher auch solche Zustände scherzweise als
,, höheren Blödsinn“ zu bezeichnen. Sie werden leicht verkannt, weil
582
XIII. Dio psychischen Entwicklungshemmungen.
ihre Lebhaftigkeit und ein gewisser Schatz von Vorstellungen die
Kranken weit weniger schwachsinnig erscheinen lassen, als sie wirk-
lich sind. Unter Umständen können auch leichtere Formen der
Dementia praecox ein ganz ähnliches Bild darbieten. Die Unter-
scheidung hat sich hauptsächlich auf die Entstehungsgeschichte,
ferner auf das Bestehen oder Fehlen von katatonischen Zeichen,
Sinnestäuschungen, ausgeprägteren Wahnbildungen, wie auf das Ver-
hältnis der früher erworbenen Kenntnisse zu der augenblicklichen
geistigen Leistungsfähigkeit zu stützen. Sie ist deswegen nicht ohne
praktische Wichtigkeit, weil sich die hebephrenischen Schwäche-
zustände öfters noch erheblich bessern, während die Imbecilütät im
wesentlichen unverändert bleibt. Auch mit der Hysterie bestehen
sehr vielfache Berührungspunkte; einzelne Hysterische bieten sogar
neben den Zeichen ihrer Neurose geradezu den hier geschilderten
Schwachsinn dar. Andererseits besteht dieser letztere sehr häufig
ohne alle hysterischen Andeutungen; zudem ist sein Bild ein viel
einförmigeres und zeigt die geistige Unfähigkeit weit deutlicher, als
dasjenige der Hysterie. Nach der Gesundheitsbreite zu finden sich
alle möglichen Uebergänge. Dahin gehören jene schwachen und
oberflächlichen, leichtgläubigen Naturen, die von Vielem etwas und
nichts gründlich lernen, dio alles Neue mit Begeisterung ergreifen,
ohne irgend etwas zu Ende zu führen. Ein geringfügiger Anstoss,
eine auftauchende Idee, ein schlechter oder guter Rath genügt, um
sie, die jeder Verführung widerstandslos zugänglich sind, zu leicht-
sinnigen, unüberlegten, ja schlechten Streichen und Ausschreitungen
aller Art hinzureissen. So führen sie, sich selbst überlassen, ein
wechselreiches Dasein in steten Kämpfen mit sich selbst und ihrer
Umgebung, oft abenteuerlich und romanhaft, voller Unbegreiflichkeiten
und Widersprüche.
Auf der Grundlage der Imbecillität können sich vorübergehend
oder dauernd allerlei andere psychische Krankheitserscheinungen ent-
wickeln, namentlich jene Zufälle, die wir beim Entartungsirresein kennen
gelernt haben. Auch periodische Erregungszustände und V erstimmungen
sind nicht selten ; dieselben tragen öfters vollkommen die Züge manisch-
depressiver Anfälle. Ferner werden vereinzelte schwachsinnige Ver-
folgungs- oder Grössenideen beobachtet, seltener vorübergehende
Sinnestäuschungen. Vielfach begegnen uns auffallend frühe oder
verspätete Entwicklung des Geschlechtstriebes, öfters auch absonder-
Imbecillität.
583
liehe geschlechtliche Neigungen. Erbliche Veranlagung zu Geistes-
störungen ist fast überall nachzuweisen; oft stammen die Kranken
aus völlig entarteten Familien. Sehr häufig sind körperliche Ent-
artungszeichen vorhanden, Schädelverbildungen, steiler Gaumen,
missgestaltete Ohren, kindliches Aussehen, Chorea u. s. f.
Bei der zweiten Hauptform des angeborenen Schwachsinns,
dem moralischen Irresein (folie morale, moral insanity) ist es
die Störung im Bereiche des Gemüthes, die vor allem ins Auge
fällt. Es handelt sich hier um Mangel oder Schwäche der-
jenigen Gefühle, welche der rücksichtslosen Befriedigung
der Selbstsucht entgegen wirken. Der Verstand dieser
Kranken ist innerhalb der Grenzen des praktischen Lebens leidlich
entwickelt. Sie fassen gut auf, sammeln eine gewisse Summe
von Kenntnissen und Erfahrungen, die sie, vielfach mit schlauer
Berechnung, zu ihrem Vortheil zu verwerthen wissen, zeigen
keine Gedächtnisslücken und keine groben Verstösse in der Folge-
richtigkeit ihres Denkens. Dennoch fehlt ihnen meist die Fähigkeit,
allgemeine Gesichtspunkte zu gewinnen, höhere Geistesarbeit zu
leisten, sich eine zusammenhängende Lebens- und Weltanschauung
zu bilden.
Auf sittlichem Gebiete zeigt sich oft schon von früher Jugend
an der Mangel des Mitgefühls in grausamen Thierquälereien, bos-
haften Neckereien und tückischen Misshandlungen der Spielgefährten,
in der Unzugänglichkeit gegen jede gemüthliche Beeinflussung.
Daraus entwickelt sich weiterhin unverhülltes Hervortreten der aus-
geprägtesten Selbstsucht sowie Fehlen des Ehrgefühls und jeglicher
Anhänglichkeit an Eltern und Geschwister. Hierher gehören jene
ungeheuerlichen Kinder, die schon im zartesten Alter ihre An-
gehörigen zu ermorden trachten, um deren Kleider zu besitzen, und
dann mit stumpfer Selbstverständlichkeit über die Einzelheiten ihres
Planes berichten, unter ausdrücklichem Bedauern darüber, dass er
misslungen sei. Alle erziehlichen Einwirkungen bleiben fruchtlos,
weil eben die werthvollsten Hiilfsmittel derselben, Liebe und Ehr-
geiz, hier keinen Anknüpfungspunkt finden. Nur die einfache Ver-
gewaltigung vermag noch die Aeusserungen einer wilden Selbstsucht
zu unterdrücken. Ihr wird aber sehr bald durch Falschheit, schlaue
Verschlagenheit, Hinterlist, durch Verstocktheit, unbändigen Trotz,
Neigung zu Lug und Trug begegnet. Dabei schreitet die selbst-
584
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
süchtige Ausbildung der Persönlichkeit immer weiter fort. Das
gehobene Selbstgefühl äussert sich in prahlerischer Eitelkeit, Gross-
thuerei, launenhaftem Eigensinn, rohen Gewaltthaten, die Genusssucht
in Arbeitsscheu, Ausschweifungen, unsinniger Verschwendung. In
der Eegel besteht auch geringe Widerstandsfähigkeit gegen Ver-
führungen und plötzliche Antriebe, grosse gemüthliche Reizbarkeit,
Rachsucht, Planlosigkeit und Zerfahrenheit der gesammten Lebens-
führung, Empfindlichkeit gegen Alkohol.
Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Veranlagung mit
einer gewissen Nothwendigkeit in die Verbrecherlaufbahn hinein-
treiben muss. In der That finden wir unter den unverbesserlichen
Gewohnheitsverbrechern nicht wenige, welche die Erscheinungen des
moralischen Schwachsinns, den vollständigen, unausfüllbaren Mangel
der sittlichen Gefühle, in ausgeprägter Form darbieten. Freilich
pflegt man derartige Personen gewöhnlich als sittlich „verwahrlost“
und nicht als krank zu betrachten. Richtig ist, dass eine mangel-
hafte oder schlechte Erziehung, uneheliche Geburt, Aufwachsen unter
ungünstigen Bediuguugen die volle Ausbildung der sittlichen Ge-
fühle hindert. Allein einerseits sind jene Einflüsse selbst nicht
selten einfach der Ausdruck familiärer Entartung, andererseits kann,
wie schon früher dargelegt, weniger die Entstehungsweise, als die
Grösse des sittlichen Mangels für die ärztliche Beurtheilung mass-
gebend sein. Endlich aber lässt sich in wirklich ausgebildeten
Fällen wol immer die angeborene sittliche Unfähigkeit nachweisen.
Gerade hier begegnen wir nicht selten einer ausserordentlichen
Nachhaltigkeit und Festigkeit des verbrecherischen Willens, der
durch keinerlei Lebenserfahrungen aus seiner Bahn gelenkt werden
kann, hier aber auch jener merkwürdigen Einseitigkeit und Ein-
förmigkeit des Handelns, -welche zur Entwicklung der bekannten,
immer wiederkehrenden „Speciali täten“ des Verbrecherthums führt.
Es ist das Verdienst der italienischen Psychiatrie*), zuerst die
Beziehungen des moralischen Schwachsinns, der krankhaften Gemüth-
losigkeit, zum Verbrecherthum, und zwar zu bestimmten Formen
desselben, nachgewiesen zu haben. Der „geborene1,1 Verbrecher
*) Lombroso, Der Verbrecher, Deutsch von Frankel. 1887; Kurelia, Natur-
geschichte des Verbrechers. 1893; Bär, Der Verbrecher in anthropologischer Be-
ziehung. 1893; Bleuler, Der geborene Verbrecher. 1896.
Imbecillität.
585
(delinquente nato) kann wissenschaftlich nicht wol anders, als unter
dem Gesichtspunkte einer unvollkommenen Veranlagung aufgefasst
werden. Gerade diese Betrachtungsweise hat zum mindesten
die eine segensreiche Folge gehabt, dass sie auch den Verbrecher
wie andere Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft endlich
einmal zum Gegenstände einer einfach naturwissenschaftlichen
Forschung gemacht hat. Schon jetzt ist die junge Wissenschaft der
Criminalpsychologie nicht ohne Erfolg bemüht, mit Hülfe der Statistik
die allgemeinen Entstehungsbedingungen des Verbrechens aufzuklären
und weiterhin auf dem Wege anthropologischer Messungen wo mög-
lich auch bestimmte körperliche Begleiterscheinungen kennen zu
lernen, welche den verschiedenen Formen des geborenen Verbrechers
eigenthiimlich sein und gewissermassen die Einordnung derselben in
einzelne klinische Gruppen ermöglichen sollen. Wir müssen ab-
warten, zu welchem Ziele diese letzteren Bestrebungen einmal ge-
langen werden. Für jetzt wird uns, wie ich glaube, die Criminal-
anthropologie wesentlich nur darüber belehren können, dass auch
beim Verbrecher, namentlich beim „geborenen“, mit auffallender
Häufigkeit jene functionellen und anatomischen Merkmale zu finden
sind, die wir mit mehr oder weniger Recht als den Ausdruck all-
gemeiner Entartung anzusehen pflegen.
Jedenfalls sind wir von der Möglichkeit einer Erkennung des
sittlichen Schwachsinns aus körperlichen Zeichen noch recht weit ent-
fernt, und selbst bei genauer Kenntniss des ganzen klinischen Krank-
heitsbildes hat die richtige Auffassung desselben häufig genug ihre
Schwierigkeiten. Auf der einen Seite führt der moralische Schwach-
sinn durch das Zwischengebiet der angeborenen verbrecherischen
Veranlagung allmählich in solche Zustände hinüber, die zweifellos
der Gesundheitsbreite angehören. Wegen dieser Uebergänge be-
gegnet insbesondere der Richter der Feststellung eines moralischen
Schwachsinns mit starkem Misstrauen. Praktisch wird hier nament-
lich das Zurückreichen der sittlichen Unfähigkeit bis in die frühe
Jugend bei genügender Verstandesbildung, ferner die völlige Un-
zugänglichkeit für alle auf das Gemüth wirkenden Einflüsse für
die Annahme einer krankhaften Persönlichkeit sprechen. Anderer-
seits darf die erworbene Schwächung des sittlichen Willens, wie
sie durch chronische Vergiftungen mit Alkohol, Morphium, Cocain,
anscheinend auch bisweilen durch Kopfverletzungen und andere
586
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
schwere Schädigungen erzeugt wird, nicht mit dem hier besprochenen
moralischen Schwachsinn verwechselt werden. Abgesehen von den
besonderen Kennzeichen jener Krankheitszustände, wird hier der
Nachweis einer Veränderung der Persönlichkeit von einem be-
stimmten Zeitpunkte ab die Unterscheidung ermöglichen. Endlich
soll noch darauf hingewiesen werden, dass manche unserer Kranken
in der Zucht und im Schutze des Gefängnisses oder der Anstalt
kaum auffallendere Störungen darbieten, sondern die ganze Grösse
ihrer sittlichen Unfähigkeit erst dann deutlich zeigen, wenn sie sich
selbst überlassen und den mannigfachen Verlockungen des Lebens
haltlos preisgegeben sind.
Die Behandlung des angeborenen Sclrwachsinns besteht der
Hauptsache nach in einer zweckmässigen Erziehung, welche unter
Umständen durch möglichste Entwicklung der vorhandenen Fähig-
keiten noch ziemlich befriedigende Erfolge zu erzielen vermag. Die
Aufgabe ist überall, von Jugend auf die Kranken an eine geregelte
Beschäftigung zu gewöhnen, die ihren Kräften und ihrer Eigenart
angemessen ist. Die Wege, die zu diesem Ziele führen, sind daher
sehr mannigfaltige; immer aber wird grosse Geduld, gleichmässige,
zielbewusste Festigkeit und warmherziges Verständniss für die ein-
zelne verkümmerte Persönlichkeit die Hauptarbeit thun müssen. Von
grosser Wichtigkeit ist es, die gefährdeten Kinder rechtzeitig in die
Hände sachverständiger Erzieher zu geben*). Der gewöhnliche
Schulbetrieb kann auf sie wegen der übrigen Schüler nicht ge-
nügende Rücksicht nehmen; zudem sind die schwachsinnigen Kinder
nur allzuleicht dem Spotte und der Missachtung ihrer Genossen aus-
gesetzt. In einer ganzen Reihe von Städten sind daher schon be-
sondere Klassen für Schwachbefähigte entstanden, in denen die Aus-
bildung solcher geistiger Halbkrüppel in langsamerem Zeitmaasse
und mit Hülfe besonderer Unterrichtsverfahren weit besser erreicht
wird, als in den gewöhnlichen Klassen. Die Kinder, die auch so
noch nicht vorwärts kommen, finden am besten Unterkunft in den
besonderen Unterrichtsanstalten für zurückgebliebene und schwer zu
erziehende Kinder, die zugleich unter der Aufsicht eines Irrenarztes
stehen. Vor dem Alkohol ist dringend zu warnen, da er unberechen-
*) Kalischer, Was können wir für den Unterricht und die Erziehung
unserer Schwachbegabten und schwachsinnigen Kinder thun? 1897.
Idiotie.
587
bare Schädigungen nach sich ziehen kann. Bei den erwachsenen
Kranken wird vielfach, wenn die häuslichen Verhältnisse ungünstig
sind oder gefährliche Neigungen hervortreten, die dauernde Unter-
bringung in der Irrenanstalt nothwendig.
B. Die Idiotie.
Unter dem Namen der Idiotie*) pflegt man alle jene hoch-
gradigeren psychischen Sch wächezustände zusammenzufassen,
deren Entstehungszeit vor die Geburt oder in die ersten
Lebensjahre fällt. Die psychische Ausbildung der Idioten lässt eine
grosse Zahl von verschiedenen Formen erkennen, deren Abgrenzung von
einander wegen des Ineinan derfliessens derBilder erhebliche Schwierig-
keiten darbietet. Als Eintheilungsgrund hat man zumeist das Ver-
halten der Sprache (gänzlicher Mangel, Vorhandensein einzelner
Worte, stufenweise reichere Entwicklung derselben) benutzt, weil ja
in der That die Entfaltung der Verstandesthätigkeit in sehr nahen
Beziehungen zur Lautsprache steht. Allein die Fähigkeit des Sprechens
deckt sich durchaus nicht immer mit der weit wichtigeren des Ver-
stehens. Es scheint mir daher zweckmässiger, bei einer Betrachtung
dieser Zustände an das Verhalten der grundlegenden psychischen
Leistung, der bewussten Wahrnehmung der Aussenwelt, an-
zuknüpfen. Freilich wird es auch dabei ohne eine gewisse Willkür
nicht abgehen, da die Störungen natürlich auf den verschiedenen
Gebieten des Seelenlebens in verschiedenem Grade ausgebildet sein
können. Derselbe Einwand trifft auch den sonst sehr einleuchtenden
Vorschlag Wildermuths, die einzelnen Stufen der gesunden kind-
lichen Entwicklung zur vergleichenden Kennzeichnung der idiotischen
Verkümmerung heranzuziehen. Wildermuth unterscheidet zwei
Hauptgruppen, deren erste dem Zustande vor oder in den ersten
Tagen nach der Geburt entspricht, während die zweite jene Formen
enthält, die auf den verschiedenen Stufen der eigentlichen Kindheit
stehen bleiben.
*) Emminghaus, Die psychischen Störungen des Kindesalters, S. 243 f.;
Sollier , Der Idiot und der Imbecille, Deutsch von Brie. 1891; J. Yoisin,
’idiotie. 1893.
5S8
XIII. Die pßycbiscben Entwicklungshemmungen.
In den niedersten Formen der Idiotie ist die Erfassung eines
Eindruckes durch die Aufmerksamkeit gänzlich unmöglich. Es ge-
lingt nicht, durch irgend einen Reiz Theilnahme zu erwecken, so
dass es oft schwer ist, festzustellen, ob die Sinnesorgane überhaupt
erregbar sind. Die Kranken sammeln keine Erfahrungen, lernen
ihre Umgebung nicht kennen und sind unfähig, irgend welche klare
Vorstellungen, Urtheile oder Schlüsse zu bilden; ebensowenig kann
von einem eigentlichen Selbstbewusstsein die Rede sein. Das Ge-
fühlsleben bleibt auf den Wechsel dunkler Gemeingefühle beschränkt,
und die durch sie hervorgerufenen Handlungen, die sich höchstens
noch auf die Nahrungsaufnahme beziehen, machen den Eindruck
des Triebartigen. Die Kranken sind gemüthlich meist gänzlich un-
erregbar. Sie lächeln nicht, erschrecken nicht, äussem kein Un-
behagen bei Verunreinigungen, keine Freude bei den Vorbereitungen
zur Mahlzeit oder bei kleinen Geschenken. Höchstens drückt sich
das Wohlbehagen in pendelnden Bewegungen, Zappeln, Schnurren,
Hunger oder stärkerer körperlicher Schmerz in eintönigem, gellendem
Schreien, Herumwälzen am Boden, Gesichterschneiden aus. Sie
treffen keine Auswahl beim Essen, verschlingen vielmehr oft gierig
auch Steine, Kalk, Kleidungsstücke, Holz, Metalltheile, ja ihre eigenen
Ausleerungen, zeigen kein Verlangen, sich Gegenstände anzueignen,
greifen nicht zu, spielen nicht und schreien nicht, wenn man ihnen
ein Spielzeug aus der Hand nimmt. Zu den einfachsten zweck-
mässigen Handlungen sind sie unfähig, vermögen z. B. nicht den
zufällig zwischen die eigenen Zähne gerathenen Zeigefinger in Sicher-
heit zu bringen, Aveichen nicht aus, Avenn man sie immer wieder an
derselben Stelle mit der Nadel sticht, trotzdem sie vielleicht die
Miene verziehen und schreien. Der Gesichtsausdruck bleibt meist
stumpf und leer, kann aber bei erworbener Idiotie trotz tiefsten
Blödsinns ein aufgeweckter sein.
Von einer SprachentAvicklung ist keine Spur vorhanden. Das
Gehen und Stehen sogar wird erst spät oder gar nicht erlernt; alle
Bewegungen bleiben ungeschickt und plump. Bisweilen zeigen die
Kranken eine geAvisse Unruhe, planloses Herumrennen und Betasten,
Kreischen, hartnäckiges Schmieren mit Speichel, Nägelkauen, Zupfen
an Haaren und Kleidern, triebartiges Masturbiren. Häufig sind auch
einförmige, jahraus, jahrein oft rhythmisch sich Aviederholende Zwangs-
bewegungen, Händeklatschen, Blasen und Schnauben, Hin- und Her-
Idiotie.
589
wiegen des Körpers im Sitzen oder Stehen. Manche Kranke schlagen
sich mehrmals taktmässig derb ins Gesicht und weinen dabei vor
Schmerz, um wenige Minuten später das gleiche Spiel zu wiederholen,
wenn man sie nicht daran verhindert. Die gesammte körperliche
Entwicklung dieser tiefstehenden Idioten pflegt erheblich zurück-
zubleiben. Die Kinder lernen nicht gehen oder stehen, ja vielleicht
nicht einmal sitzen, hängen wie ein schlaffes Bündel vom Arme,
wenn sie aufgenommen werden. Das Zahnen vollzieht sich spät
und unregelmässig; Krampfanfälle sind häufig. Sie gehen ohne die
liebevollste Pflege, die für ihre Fütterung, Reinhaltung u. s. f. un-
ermüdliche Sorge trägt, rasch zu Grunde.
Ein etwas höherer Stand des Seelenlebens ist dort erreicht, wo
wenigstens durch besonders auffallende Eindrücke die Aufmerksam-
keit des Kranken für einige Zeit erregt werden kann, wenn auch
eine selbständige Lenkung derselben nach inneren Beweggründen
noch nicht stattfindet. Hier werden einzelne deutliche Sinneswahr-
nehmungen dem Bewusstsein zugeführt und wol auch eine beschränkte
Anzahl von einfachen Vorstellungen gebildet, allein dieselben sind
doch vielfach sehr unvollständig und entbehren des inneren Zu-
sammenhanges. Das Gedächtniss zeigt, namentlich was die Schnelligkeit
der Aufnahme anbelangt, eine äusserst geringe Leistungsfähigkeit.
Galton fand, dass selbst besser begabte und zu aussergewöhnlichen
Gedächtnissleistungen befähigte Idioten nur Reihen von höchstens
3 — 4 langsam ihnen vorgesagten Buchstaben sofort richtig wieder-
holen konnten, während gesunde, gleichalterige Kinder ohne Schwierig-
keit sogar 7 — 8 Buchstaben nachzusprechen vermochten. Die Fähig-
keit zur Auffindung gemeinsamer Bestandtheile in verschiedenen
Wahrnehmungen, wie sie die Grundlage der Begriffsbildung aus-
macht, bleibt mangelhaft; es kommt nicht zur Ausbildung einer ge-
schlossenen psychischen Persönlichkeit.
Die Sprache wie das Verständniss, und damit der geistige Ver-
kehr mit der Umgebung, ist meist wenig entwickelt; sie bleibt iu
der Unvollkommenheit der Satzbildung, der Einmischung unver-
standener Flickwörter, der Unbeholfenheit des Ausdrucks, der Aerm-
lichkeit des Wortschatzes auf kindlicher Stufe stehen. Der beim ge-
sunden Kinde so sehr in den Vordergrund tretende Nachahmungs-
trieb und die damit zusammenhängende Neigung, zu spielen, sich
selbst zu beschäftigen, fehlt ganz oder bis auf schwache Andeutungen.
590
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
Die Kranken ermüden ungemein leicht, vermögen keiner Anregung
längere Zeit hindurch zu folgen. Sie denken nicht nach, machen
keine Pläne für die Zukunft, haben keine Sorgen, leben unbekümmert
in den Tag hinein. Selbstsüchtige, grobsinnliche Gefühle beherrschen
die Stimmung und liefern die Antriebe für ein nur auf Befriedigung
augenblicklicher Gelüste gerichtetes Handeln. Obgleich die Bevor-
zugung oder der Besitz Anderer ihren Neid erregen kann, haben sie
doch gar kein Gefühl für die eigene Unzulänglichkeit und Unselb-
ständigkeit. Tiefere Zuneigung zu einzelnen Personen kommt nicht
zu Stande, höchstens eine gewisse hündische Anhänglichkeit; die
Kranken sind nicht dankbar für Wohlthaten, empfinden kein Heim-
weh bei der Trennung von ihren Angehörigen, grämen sich nicht
über den Tod der Personen, zu denen sie Zuneigung gezeigt hatten.
Bei ungeeigneter, rauher Behandlung kann sich grosse Reizbarkeit
und ein verstocktes, bösartiges, rachsüchtiges Wesen entwickeln. Ge-
legentlich kommt es zu plötzlichen, unbändigen Wuthausbrüchen, wo die
eigenen Wünsche durchkreuzt werden; die Kranken drohen mit Feuer-
anlegen, suchen aus geringfügigem Anlasse gefährlichen Schabernack
zu spielen, heimlich zu zerstören, kleine Kinder zu erdrosseln. Der
Geschlechtstrieb fehlt ganz, oder er tritt auch wol schon in den
ersten Lebensjahren hervor und kann zu eifrig betriebener, rücksichts-
loser Masturbation führen. Nicht ganz selten besteht auch die
Neigung zu geschlechtlichen Angriffen, besonders auf Kinder. Viel-
fach sind die Kranken gefrässig, schmieren beim Essen, verzehren ihre
Nahrung in einem Winkel, greifen mit den Fingern in die Schüssel.
In ganz vereinzelten Fällen entwickeln sich gewisse einseitige Fähig-
keiten, namentlich auffallendes mechanisches Wort-, Zahlen-, Klang-
gedächtniss oder technische Fertigkeiten einfacher Art; einer meiner
Kranken, der sonst sehr unbeholfen war, schnitt recht geschickt mit
der Scheere aus und sah gern Bilder von Bauten und Maschinen.
.Manche Idioten lieben leidenschaftlich Musik.
Je nach der Leichtigkeit, mit welcher die Aufmerksamkeit an-
gezogen und abgelenkt werden kann, lassen sich zwei, allerdings
nur in den ausgeprägtesten Fällen von einander abgegrenzte Formen
unterscheiden, die stumpfe (anergetische, apathische) und die er-
regte (erethische, versatile). Die Kranken der ersten Gruppe sind
nur schwer aus ihrem dumpfen Hinbrüten aufzurütteln; der Ge-
dankengang bleibt langsam und schwerfällig; die Erinnerung ist
Idiotie.
591
-wegen der Armuth des Vorstellungsschatzes und bei dem Mangel an
Anknüpfungspunkten dürftig und bewegt sieb meist in einzelnen
gewohnheitsmässigen Bahnen. Die Kranken zeigen in ihrem Ver-
halten eine peinliche Gründlichkeit, wiederholen dieselben Fragen
mehrfach, kommen nicht zum Abschlüsse, vermögen öfters auch Un-
verstandenes mit grosser Treue wiederzugeben. Die Stimmung ist
meist farblos, gleichgültig, zeigt bisweilen eine gewisse schwerfällige
Gutmüthigkeit Bei den erregten Formen wandert die Aufmerksam-
keit, bald hier, bald dort angezogen, planlos hin und her und erfüllt
das Bewusstsein mit buntem, innerlich zusammenhangslosem und
daher rasch vergessenem Inhalte. Die Bildungsfähigkeit pflegt hier
im allgemeinen geringer zu sein, als bei den schwerfälligen Formen.
Rascher, oberflächlicher Wechsel der Stimmung, Unlenksamkeit und
eine äusserliche, ziellose Unruhe und Beweglichkeit, die sich in
Händeklatschen, Zappeln, Herumspringen, lebhaften Geberden, Lachen
und Schreien kundgiebt, vervollständigen das Bild. Körperlich sind
die Kranken oft wohlgebildet, aber von kindlichem, schlankem
Gliederbau.
Selbstverständlich giebt es nicht nur zwischen den hier ge-
zeichneten Gegensätzen alle möglichen Uebergangsformen, sondern
die einzelnen Fälle zeigen auch sonst in ihren geistigen und ge-
müthlichen Eigenthiimlichkeiten vielfach persönliche Züge. In den
schwersten Formen der Idiotie dagegen wird man bisweilen durch
die weitgehende Uebereinstimmung mancher Kranker in ihrem psychi-
schen und körperlichen Gesammtverhalten überrascht. Manchmal
entwickeln sich auf der idiotischen Grundlage mehr vorüber-
gehende Störungen des psychischen Gleichgewichts, namentlich
manisch-depressive Anfälle, reizbare oder seltener traurige Ver-
stimmungen. Nach Wildermuths Angaben scheinthier eine ganz
ähnliche Periodicität vorzukommen, wie wir sie bei den Endzuständen
der Dementia praecox beobachten. Auch Zwangsvorstellungen, Zwangs-
antriebe, sinnloses Fortlaufen, Angstanfälle, gelegentlich mit starker
Selbstmordneigung, sind nicht selten. Ich sah einen Knaben, der
bei den Wörtern „Affe“ und „Watte“ in die lebhafteste Angst gerieth.
Vor einem Wattebäuschchen lief er davon und flehte ganz beweglich,
man möge es wieder fortthun. Hie und da finden sich kindische
Verfolgungs- oder Grössenideen.
Bei der Verschiedenartigkeit der Zustände, welche wir unter
592
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
dem Sammelnamen der Idiotie zusammenfassen, kann es uns nicht
Wunder nehmen, wenn wir auch auf körperlichem Gebiete
eine grosse Mannigfaltigkeit der Krankheitszeichen antreffen. Durch-
schnittlich findet sich ein geringeres Längenwachsthum, sogar bis
zum Zwergwuchse; damit verknüpft sich ein Zurückbleiben der ge-
sammten Körperentwicklung, kindlicher Habitus, Ausbleiben des
Bartes und der Schamhaare, geringe Ausbildung der Genitalien,
Kryptorchismus, Fehlen der Menstruation, späte, unregelmässige
und mangelhafte Zahnbildung. Die Sinne, besonders das Gehör,
aber auch Geschmack und Geruch, erscheinen oft ausserordentlich
stumpf, zum Theil gewiss wegen der Aufmerksamkeitsträgheit der
Kranken.
Ferner beobachtet man in grösserer oder geringerer Häufigkeit
jene kleinen Entwicklungsstörungen, welche man als Entartungs-
zeichen anzusehen pflegt, Missbildungen an Augen, Ohren, Gaumen.
Nase und an den Knochen des Gesichtsskeletts, namentlich falsche
Stellung der Kiefer und Zähne. Wildermuth konnte derartige
Abweichungen in 80 °/0 der Fälle nachweisen. Ausserdem bestanden
vielfach noch Steigerung oder Fehlen der Sehnenreflexe sowie
Coordinationsstörungen an den unteren Extremitäten, den Augen-
muskeln (Nystagmus), namentlich aber beim Sprechen: Abstossen
der Endsilben, stockendes, stossweises Sprechen, Stottern, mangelhafte
Articulation einzelner oder der meisten Consonanten mit Ver-
stümmelung und Verunstaltung der Wörter*), ferner auffallend oft
Spiegelschrift, besonders bei Mädchen, Plumpheit und Ungeschicklich-
keit in allen Bewegungen, unüberwindliche Mitbewegungen, Saugen
an der Zunge, Wiederkäuen, Speichelfluss, Bettnässen, Unreinlichkeit.
Häufig sind auch Anzeichen, welche auf vorangegangene Hirn-
erkrankungen hin weisen, halbseitige Lähmungen und Paresen, Con-
tracturen, Spasmen (in einzelnen Fällen brettartige Steifigkeit des
ganzen Körpers), örtliche Wachsthumshemmungen, Krämpfe ver-
schiedenster Art, choreatische, atheto tische Bewegungen, gewolmheits-
mässiges Zähneknirschen, Aphasie. Als wichtigste Begleiterin des
Krankheitsbildes der Idiotie ist endlich die Epilepsie zu nennen,
die sich nach Wildermuth ’s Mittheilungen in etwa 30 °/0 der Fälle
findet. Nicht selten, besonders bei Knaben, treten epileptische An-
) Berkhan, Ueber Störungen der Sprache und der Schriftsprache. 18S9.
Idiotie.
593
fälle verschiedener Art, von ausgeprägten Krämpfen bis zu den
leichtesten Erscheinungsformen, bereits in den ersten Lebensjahren
auf und müssen dann als prognostisch sehr ungünstiges Zeichen be-
trachtet werden. Entwickelt sich die Epilepsie erst in späterer Zeit,
so ist ihre Bedeutung eine weit geringere.
Unter den Ursachen*) der Idiotie scheint, soweit es sich um
einfache Entwicklungshemmungen handelt, die erbliche krankhafte
Belastung eine gewisse Rolle zu spielen. Wir haben ja schon früher
gesehen, dass die Idiotie, und wol nicht ohne Berechtigung, als das
letzte Glied iu der Kette der familiären Entartung aufgefasst
worden ist. Wildermuth fand in 70 °/0 der Fälle erbliche Be-
lastung. Eine wesentliche Rolle spielt die Trunksucht der Eltern,
wie auch durch Demme’s früher mitgetheilte Erfahrungen darge-
than wird; Bourneville fand unter 1000 Fällen 471 mal Trunksucht
des Vaters, 84 mal der Mutter, 65 mal beider Eltern. Weiterhin
soll auch Berauschtheit der Eltern während des Zeugungsactes sowie
nahe Verwandtschaft derselben das Entstehen der Idiotie begünstigen.
Dieser letztere Punkt darf keineswegs als erwiesen gelten. Schwere
Erkrankungen und heftige gemüthliche Erschütterungen der Mutter
während der Schwangerschaft werden ebenfalls unter den Ursachen der
Idiotie angegeben. Piper hat auf die Häufigkeit der Tuberculose
in den Familien der Idioten aufmerksam gemacht. Bei den nach
der Geburt erworbenen Formen der Idiotie, deren Zahl auf etwa
V3 — 2/4 aller Fälle zu veranschlagen ist, spielen ohne Zweifel die
ursächliche Hauptrolle Infectionskrankheiten, Typhus, Blattern, Schar-
lach, seltener Diphtherie, Masern und Erysipel. Ausserdem giebt es
sicherlich noch eine Reihe von Schädigungen des jugendlichen Hirns,
welche Idiotie erzeugen können; wenigstens sind die Erscheinungen
von Hirnreizung bei kleinen Kindern (Delirien, Krämpfe) bekannt-
lich ungemein häufig. In der Regel pflegen sie freilich keine
schwereren Folgen zu hinterlassen. Ferner dürfte hier die ererbte
Syphilis, auch wol die Rhachitis in Betracht kommen. Von grosser
ursächlicher Wichtigkeit ist der frühzeitige Missbrauch des Alkohols,
sodann länger dauernde Asphyxie während und nach der Geburt.
In ganz auffallender Häufigkeit sind unter den Idioten die Erst-
geborenen vertreten; 4 — 5 °/0 sind Zwillinge.
*) Piper, Zur Aetiologie der Idiotie. 1803.
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aofl. n. Band.
38
594
XIII. Die psychißchen Entwicklungshemmungen.
Eine zweite grosse Gruppe von Ursachen bilden die Kopf-
verletzungen, Compression des Kopfes durch ein enges Becken
oder die Zange, vielleicht auch Ueberhitzung des Kopfes. Als mittel-
bare Ursachen reihen sich ihnen alle die allgemeinen und persön-
lichen Schädigungen der Gesundheit an, welche vorzugsweise die
niederen Volksschichten treffen und nach dieser oder jener Rich-
tung hin das Fortpflanzungsgeschäft oder die Entwicklung des
Fötus in krankhaftem Sinne zu beeinflussen vermögen. Wulff hat
darauf hingewiesen, dass bei Idioten häufig ein Missverhältnis
zwischen der Grösse des Herzens und derjenigen des übrigen
Körpers beobachtet wird. Die Deutung dieser Thatsache muss aller-
dings einstweilen wol noch unsicher bleiben. Dass männliche Ge-
schlecht überwiegt bei den Idioten erheblich; vielfach stammen sie
aus kinderreichen Familien, in denen dann gewöhnlich mehrere Ge-
schwister gleichzeitig schwerere oder leichtere Entwicklungsstörungen
darbieten; ich sah eine Mutter mit 3 idiotischen und noch mehreren
gesunden Kindern.
Eine ganz besondere Bedeutung hat man früher dem Einflüsse
der Nahtverknöcherung am Schädel auf die Ausbildung des
Gehirns zugeschrieben, indem man vorzeitige Knochen Verwachsungen
als die Ursache abnormer Kleinheit oder asymmetrischer Gestaltung
desselben ansah. Durch neuere Untersuchungen hat sich indessen
herausgestellt, dass, in der Regel wenigstens, die Entwicklung des
Schädels wesentlich durch die Wachsthumsverhältnisse des Gehirns
bestimmt wird und nicht umgekehrt. Die Gesetze, welche diesen
letzteren zu Grunde liegen, sind noch zum grössten Theile ebenso
unklar wie die Wachsthumsbedingungen überhaupt; es scheint je-
doch, dass die Weite der Blutgefässe, die Menge, namentlich aber
auch die Beschaffenheit der zugeführten Ernährungsstoffe von einigem
Einflüsse sein kann. Natürlich ist die Berücksichtigung der Schädel-
form, wenn man in ihr auch nicht die Ursache der Hirnstörungen
sieht, dennoch bisweilen von grossem Werthe, insofern sie bis zu
einem gewissen Grade einen Rückschluss auf die Art dieser letzteren
gestattet.
Thatsächlich finden sich Verbildungen des Schädels bei Idioten,
wie Wilder muth gezeigt hat, in etwa der Hälfte der Fälle. Mikro-
cephalisehe Formen überwiegen bedeutend, entweder als gleich-
mässige Verkleinerung aller Durchmesser oder, seltener, als sog.
Kraepelin. Psychiatrie, 6. Anfl. TAFEL VIII.
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig.
:
Idiotie.
595
Aztekentypus mit fliehender Stirn und abgeflachtem Hinterhaupte.
Auf der Tafel VIII, die in der Idioten austalt Mosbach aufgenommen
wurde, finden sich eine Reihe von Kindern mit mehr oder weniger
hochgradiger Mikrocephalie vereinigt. Solche Bildungen sind natür-
lich nothwendig mit krankhafter Kleinheit des Gehirns verbunden,
die durch gleichzeitigen Hydrocephalus noch beträchtlicher ausfallen
kann, als der Augenschein vermuthen lässt. Stets zeigen aber der-
artige Hirne ausser ihrer Kleinheit noch mannigfache sonstige Ent-
wicklungsstörungen. Ferner findet äch regelmässig gerade hier keine
Verknöcherung der Nähte, sondern sogar vielfach Offenbleiben solcher
Nähte, die sich sonst frühzeitig schliessen. Eine kleinere Gruppe
von Idioten zeigt ferner auffallend grosse Köpfe, entweder eine
gleichmässige Vergrösserung in allen Durchmessern oder hydro-
cephalische Formen mit vorgebauchter Stirn und grosser Breite
zwischen den Scheitelhöckern. Hier finden sich öfters ausserordent-
liche Schmächtigkeit der Glieder, lange, dürre Arme und Finger,
ferner allerlei Zwangsbewegungen, örtliche Zuckungen, Herabsetzung
des Sehvermögens bis zu völliger Blindheit.
Da die Schädelnähte verwachsen, sobald der Gegendruck des
Hirns an einer Stelle nachlässt, so lassen sich aus der Schädelbildung
gewisse allgemeine Schlüsse auf die verhältnissmässige Entwicklung
der einzelnen Hirntheile ziehen. Verkürzung des Schädelgrundes
(Tribasilarsynostose) geht mit einer Verkümmerung der nach unten
gelegenen Hirnpartien einher; Verkleinerung der Schädelkapsel nach
irgend einer Richtung mit vorzeitiger Verknöcherung der auf letzterer
senkrecht stehenden Nähte deutet auf eine geringe Ausbildung der
betroffenen Rindengegend hin.
Allein es können sich bei diesen begrenzten Störungen nach
anderen Richtungen hin ausgleichende Verschiebungen sowol
des Schädels wie des Gehirns entwickeln, die eine völlig genügende
Entfaltung aller einzelnen Hirntheile ermöglichen. In der That
finden sich nicht so selten ziemlich hochgradige Verbildungen des
Schädels bei geistig durchaus gesunden, ja hochstehenden Menschen,
so dass wir jene Befunde im allgemeinen mehr als eine Hindeutung
auf die Möglichkeit gleichzeitiger anderer Veränderungen, denn als
die nothwendige Ursache krankhafter Functionsstörungen selbst an-
sehen dürfen. Jedenfalls bieten sie einstweilen ein weit grösseres
anthropologisches und anatomisches, als eigentlich psychiatrisches
36*
596
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
Interesse, zumal die Versuche, sie zu bestimmten klinischen Bildern
in Beziehung zu bringen, bisher noch wenig erfolgreich gewesen
sind. Nur scheint die Verkümmerung des Schädelgrundes mehr mit
den tieferstehenden, stumpfen Formen der Idiotie in Zusammenhang
zu stehen, während man bei krankhafter Kleinheit der Schädelkapsel
mit fliehender Stirn meist die erregten Formen beobachtet, häufig
begleitet von Epilepsie.
Die pathologische Anatomie der Idiotie*) zeigt uns in
einer ersten Reihe von Fällen wirkliche Entwicklungshemmungen
und Missbildungen, Heterotopien der Hirnsubstanz, Fehlen des
Balkens, des Kleinhirns, Ungleichheit der beiden Hemisphären,
Windungsarmuth oder Windungsanomalien, Mikrogyrie, Kleinheit
oder Wucherung des ganzen Grosshims u. s. f. Bisweilen wird
hier ein Stehenbleiben auf embryonaler Entwicklungsstufe oder
Rückschlag zur Thierähnlichkeit wahrscheinlich, oder aber es handelt
sich um einfache Abnormitäten unbekannten Ursprungs. Auch dort,
wo diese Verbildungen nicht unmittelbar die Hirnrinde betreffen,
lassen sie doch einen Rückschluss auf die krankhafte Natur der
Gesammtanlage zu. Ungleich häufiger aber scheinen wirkliche
Krankheitsvorgänge zu sein. Huer sind namentlich encephalitische,
meningitische und hydrocephalische Erkrankungen, seltener auch einmal
Tumoren zu nennen, die theilweise Zerstörungen (z. B. Porencephalie)
und Veränderungen in der Hirnrinde oder allgemeine Atrophie der-
selben durch Steigerung des Druckes im Schädel herbeiführen
können. Vielleicht sind sogar manche der oben angeführten Verände-
rungen, insbesondere der Balkenmangel und die Hirnwucherung,
öfters nicht Missbildungen, sondern Folgen derartiger Krankheits-
vorgänge. Auch Gefässveränderungen scheinen eine gewisse Rolle
zu spielen. Wildermuth erwähnt häufige Endarteriitis; Thrombosen
und Embolie können porencephalische Zerstörungen bewirken.
Blutungen bei der Geburt oder durch sonstige Traumen führen hie
und da zum Druckverschluss der Gefässe mit nachfolgender Er-
weichung; ich sah Atrophie beider Schläfenlappen durch alte, von
mächtigen Schwarten umgebene Ohrenabscesse.
Die allerdings erst in ihx-en ersten Anfängen stehende mikrosko-
*) Hammarberg, Studien und Klinik und Pathologie der Idiotie, Deutsch
von W. Berger. 1895; Pfleger und Pilcz in Obersteiners Arbeiten, HeftV.
raepelin, Psychiatrie. 6. Auf I
Tafel IX
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3. Jdiofie durch Entwicklungshemmung.
I Rindenveränderung 2 Jdiotie durch Krankheitsvorgang
beim Altersblddsinn. fZellausfall.)
^.Grosse Spinnenzelle.
Idiotie.
597
pische Durchforschung der Idiotengehirne hat das wichtige Ergebniss
geliefert, dass wir zunächst mindestens zwei Hauptgruppen von Formen
auseinanderzuhalten haben. In der ersten Gruppe sehen wir, dass auch
die histologische Ausbildung der Hirnrinde hier auf niederer Stufe
stehen geblieben ist. In einigen von Hammarberg untersuchten
Fällen, die im Leben tiefsten Blödsinn dargeboten hatten, entsprach
der Zustand der Rinde etwa demjenigen im 6. Fötalmonate. Die
Zahl der Nervenzellen war eine ungemein geringe, ihre Form und
ihr innerer Bau noch ganz unentwickelt. Nicht immer ist die Ent-
wicklungshemmung in allen l'heilen des Gehirns gleich ausgesprochen;
vielmehr sieht man neben stark zurückgebliebenen Gebieten solche,
die weiter vorgeschritten, vielleicht sogar ziemlich gut entwickelt
sind. Wir geben auf Tafel IX in Figur 3 einen Durchschnitt durch
die Rinde einer erwachsenen Idiotin, welche den Stillstand auf embryo-
naler Stufe vortrefflich zeigt. Die Rinde ist kaum halb so breit wie eine
gesunde ; die Zellen stehen in ganz dicht gedrängten, regelmässigen
Reihen, weil weder die Fasern noch das graue Netz zwischen ihnen
zur gehörigen Entwicklung gelangt ist. Dieser Bau entspricht voll-
kommen demjenigen nicht nur beim Embryo, sondern auch bei
niederen Säugethieren. Die verschiedenen Schichten lassen sich,
ebenfalls wie beim Thiere, nicht deutlich von einander abgrenzen
Die Unterschiede in Bau und Grösse der Zellen sind, was sich
allerdings erst bei starker Yergrösserung erkennen lässt, kaum an-
gedeutet; die einzelnen Zellen haben noch ihr blasses, rundliches,
embryonales Aussehen behalten.
Ein ganz anderes Bild bietet dagegen die Figur 2, die von
einem jugendlichen Idioten stammt. Die Breite der Rinde und die
Anordnung der Zellen entspricht vollkommen dem gesunden Ver-
halten. Die Schichtung ist deutlich ausgesprochen; die einzelnen
Zellen zeigen sehr verschiedene Grösse und gleichen vollständig den
gewöhnlichen Bildern. Dagegen lässt sich erkennen, dass grosse
Lücken in den Zellenreihen vorhanden sind, die auf den Unter-
gang zahlreicher Rindenbestandtheile hindeuten. Während wir es
also in der Figur 3 mit einem einfachen Zurückbleiben auf
früher Entwicklungsstufe zu thun hatten, scheint hier in das schon
einigermassen ausgebildete Gehirn ein Krankheitsvorgang eingegriffen
zu haben, der einen gewissen Theil des Rindengewebes nachträglich
zerstört hat. Es ist natürlich auch denkbar, dass sich unter Um-
598
XIII. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
ständen beide Veränderungen, Stillstand und Untergang, in dem-
selben oder in verschiedenen Hirntheilen mit einander verbinden.
Vielfach lassen sich Gliawucherungen als Spuren früherer Zer-
störungsvorgänge nachweisen, bald örtlich umgrenzt, bald ausgedehnt;
gerade die hypertrophische Sklerose scheint regelmässig auf unge-
heurer Gliavermehrung zu beruhen, wie wir sie uns wol als Begleit-
und Folgeerscheinung ausgebreiteten Unterganges von Bindengewebe
zu denken haben. Welcher Art die Schädigungen sind, die zu den
verschiedensten Zeiten, bis in die ersten Lebensjahre hinein, die
Ausbildung der Hirnrinde an irgend einem Punkte unterbrechen
können, lässt sich aus den bisher vorliegenden Erfahrungen noch
nicht erkennen. Bei den krankhaften Zerstörungen liegt es wol nahe,
an Infectionen oder Vergiftungen zu denken.
Die Prognose der Idiotie ist, dem Wesen der Krankheit ent-
sprechend, im allgemeinen eine durchaus ungünstige; der Idiot wird
niemals im Stande sein, die geistige Reife des gesund entwickelten
Menschen zu erreichen. Gleichwol ist es eine Frage von grosser
praktischer Bedeutung, im einzelnen Falle darüber klar zu
werden, wie weit der bestehende Zustand die Möglichkeit einer
psychischen Fortentwicklung zulässt, wie weit der Kranke bildungs-
fähig ist oder nicht. In der ersten Kindheit lässt sich darüber in
der Regel ein sicheres Urtheil kaum gewinnen; wird doch oft von
den Angehörigen das Bestehen einer Störung im dritten oder vierten
Lebensjahre überhaupt erst bemerkt. Auch späterhin ist eine pro-
gnostische Aussage ohne längere Beobachtung häufig nicht leicht.
Die Möglichkeit einer Fesselung der Aufmerksamkeit des Kindes für
einige Zeit, das längere Haften einer Erinnerung (Wiedererkennen
von Gegenständen, Sträuben gegen früher erfahrene unangenehme
Einwirkungen), der Nachweis eines Verständnisses für die Sprache
können als günstige Anzeichen angesehen werden, während das
frühzeitige Auftreten der Epilepsie die Prognose sehr trübt. In
mindestens der Hälfte solcher Fälle kommt es nach Wildermuths
Angabe zur Entwicklung tiefsten Blödsinns. Auch sonst aber stellt
sich nicht selten im Entwicklungsalter ein deutlicher Rückgang der
bis dahin erreichten geistigen Leistungsfähigkeit ein. In einzelnen
Fällen sehen wir auf der idiotischen Grundlage geradezu hebephreni-
sclie oder katatonische Krankheitsbilder entstehen. Die durchschnitt-
liche Lebensdauer der Idioten ist eine verhältnissmässig kurze. Während
Idiotie.
599
ein Theil derselben an den Folgen und gelegentlichen Nachschüben
der Gehirnerkrankungen zu Grunde geht, erliegen andere den zahl-
reichen Schädlichkeiten, denen sie wegen ihrer geistigen und körper-
lichen Unbehülflichkeit ausgesetzt sind, und endlich scheint ihnen
auch noch im allgemeinen eine geringere Widerstandsfähigkeit gegen-
über zufälligen Erkrankungen und ungünstigen Lebensverhältnissen
zuzukommen.
Die Erkennung der Idiotie bietet nur in der frühen Kindheit
erheblichere Schwierigkeiten. Allerdings können auch jetzt schon
einzelne Anzeichen, Unempfindlichkeit gegenüber äusseren Einflüssen
und Anregungen, Fehlen der gewöhnlichen Gefühlsäusserungen bei
Hunger und Nässe, beim Anlegen au die Brust, bei Annäherung der
Mutter, oder fortwährende planlose Unruhe, Mangel der Aufmerk-
samkeit, des Lachens und Weinens, Beibehaltung der fötalen Glieder-
stellung, weiterhin aber die Erscheinungen von Hirnerkrankungen,
Krämpfe, Lähmungen und dergl. die Vermuthung einer Idiotie nahe
legen. Sicherheit wird aber erst der weitere Verlauf der Ent-
wicklung, verspätetes Gehenlernen und vor allem das gänzliche
oder theilweise Ausbleiben der Sprachbildung und des ^Sprach-
verständnisses zu geben vermögen. Auf der anderen Seite wird die
Abgrenzung der Idiotie von den leichteren Formen des Schwach-
sinns immer bis zu einem gewissen Grade willkürlich sein; man
pflegt im allgemeinen alle diejenigen Kranken der ersten Gruppe
zuzurechnen, deren geistige Entwicklung seit den frühen Kinder-
jahren höchstens nach der Seite des Gedächtnisses, nicht aber nach
derjenigen des Urtheils und des Welt Verständnisses Fortschritte ge-
macht hat.
Die Vorbeugung der Idiotie wird ausser dem auch unter
diesem Gesichtspunkte unabweislichen Kampfe gegen den Alkohol
kaum Angriffspunkte finden. Dagegen bedarf ein erheblicher Theil
der etwa 60000 Idioten, die es nach Kurellas Schätzung in Deutsch-
land giebt, besonderer Fürsorge*). Diese Fürsorge wird in der
Hauptsache immer eine pädagogische sein müssen, selbstverständlich
unter steter Berücksichtigung der für jeden einzelnen Fall in Be-
*) Shuttleworth, Mentally deficient chüdren, their treatment aud training.
1893; Bourneville, Assistance, traitement et education des enfants idiots et
degeneres. 1894.
600 XIU. Die psychischen Entwicklungshemmungen.
tracht kommenden ärztlichen Grundsätze. Sich selbst überlassen
oder in ungünstiger, roher Umgebung, pflegen Idioten rasch zu ver-
kommen und zu verthieren, auch bösartig zu werden. Ich erinnere
mich ferner an einen kleinen harmlosen Idioten, den sein Vater in bester
Absicht deswegen an eine Kette legte, weil er die Neigung hatte,
davonzulaufen, und bei seinen Irrfahrten in allerlei Gefahren gerieth,
namentlich durch die Misshandlungen und Scherze seiner Nachbarn.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine ganze Anzahl jener ver-
wilderten Menschen, die man zu verschiedenen Zeiten in Wäldern
aufgefunden und als besondere Abart des Menschengeschlechts
(„homo sapiens ferus“) beschrieben hat, verirrte Idioten waren.
So habe ich einen aus den Wäldern Ungarns stammenden zerlumpten
Landstreicher gesehen, dessen eigentümlicher, hochgradiger Blöd-
sinn sehr wahrscheinlich bis in die früheste Jugend zurückreichte.
Auch die häusliche Pflege tiefstehender Idioten bringt nicht selten
schwere Nachtheile mit sich, namentlich bei den erregten Formen.
Die mühselige Erziehung solcher Kinder erfordert einen derartigen
Aufwand von Liebe, Geduld und namentlich auch Sachkenntnis,
wie er in der Familie fast niemals erreichbar ist. Ausserdem aber
können die Kranken durch schlimme Beeinflussung der Geschwister,
durch Gewalttätigkeiten, unvermutete Fahrlässigkeiten, Brand-
stiftungen, geschlechtliche Angriffe gelegentlich in nicht geringem
Grade gefährlich werden.
Mit vollem Rechte hat man daher mehr und mehr die Behand-
lung der Idioten, die zu einem besonderen Berufszweige ausgebildet
worden ist, in eigens für die Bedürfnisse dieser Kranken eingerichtete
Anstalten verlegt. Die tief Verblödeten finden hier ihre Pflege,
während die Bildungsfähigen unter ihres Gleichen in besonderer
Weise erzogen werden. Geregelter Unterricht in möglichst leicht
fasslicher Form, von den einfachsten Kenntnissen und Fertigkeiten
beginnend, freundliche, liebevolle Pflege der gemüthlichen Regungen,
sorgfältige Förderung der körperlichen Ausbildung, alles unter ge-
nauer Beachtung der kleinen persönlichen Eigentümlichkeiten des
Einzelnen, sind die hauptsächlichsten Hiilfsmittel, mit denen die
Idiotenerziehung arbeitet. Ganz planmässig wird dabei zuerst das
Erlernen des Gehens, des Gebrauches der Hände in Angriff ge-
nommen; die Thätigkeit der einzelnen Sinne, die Aufmerksamkeit
wird geübt. Dann geht es an den eigentlichen Unterricht in An-
Idiotie.
601
schauung, Unterscheidung, einfachsten Urtheilen, die Ausbildung der
Sprache, die Einprägung von Kenntnissen, die Einübung von Fertig-
keiten, wie sie als Grundlage für eine spätere Erwerb sthätigkeit
dienen können. Die Erfolge dieser aufopferungsvollen Arbeit sind
zwar der Natur der Sache gemäss keine glänzenden und in die
Augen springenden, aber sie sind doch weit grösser, als man von
vornherein denken sollte. Eine ansehnliche Zahl geistiger Krüppel
verlässt alljährlich die Idiotenanstalten, wenn auch nicht geheilt, so
doch derart erzogen, dass sie in bescheidenem Kreise dauernd eine
nutzbringende Thätigkeit zu entfalten im Stande sind. Das ist um
so erfreulicher, als unerzogene Idioten in der Regel geistig und
körperlich rasch zu verkommen pflegen. Freilich bedürfen auch
diese Entlassenen noch dauernd einer gewissen Fürsorge, da ihre
Fähigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden, ihre Kenntnisse zu
verwerthen, regelmässig in einem auffallenden Missverhältnisse zu
ihrem angelernten Wissen steht. Hier hätte der Schutz durch
Vereine, unter Umständen auch die Unterbringung in Familienpflege
oder in einfachen Pfründen einzutreten.
Dass die Idiotenbehandlung auch auf körperlichem Gebiete noch
allerlei Aufgaben zu lösen hat, bedarf nur kurzer Erwähnung. Die
so häufigen allgemeinen Ernährungsstörungen werden zu beseitigen
sein; durch Besserung des Schlafes, Bekämpfung der Masturbation
(Reinlichkeit, Beseitigung örtlicher Reize), angemessene Bewegung
im Freien ist die körperliche Ausbildung nach Kräften zu fördern.
Auch die möglichste Beseitigung epileptischer Anfälle durch Brom-
kalium, Bromkampher (Bourneville), Atropin, Ueberosmium säure
(Wildermuth) wird man anstreben, um so wenigstens das Fort-
schreiten des psychischen Verfalles bis zu einem gewissen Grade zu
hindern. Der thörichte Vorschlag, bei Mikrocephalie auf chirurgischem
Wege den Schädel zu öffnen, um dem vermeintlich zusammen-
gepressten Gehirne Raum zu schaffen, beruht auf einer so gründlichen
Verwechselung zwischen Ursache und Wirkung, dass er hoffentlich
kein längeres Leben haben wird, als die Kranken, die ihm bisher
zum Opfer gefallen sind.
Register.
A.
Anankasmus 538.
Aberglaube 545.
Absence der Epileptiker 464.
Abstinenzerscbeinungen 59.
„ beim Morphinis-
mus 112.
Abwebrneurose 511.
Aequivalente, psychisch-epileptische 485.
„ beim manisch-depressiven
Irresein 406.
Agoraphobie 541.
Agrammatismus bei Hirnerkrankungen
312.
Alkoholabstinenz 74.
Alkoholepilepsie 69. 475.
Alkoholische Geistesstörungen 60.
Alkoholismus, chronischer 63.
Alkohol, Kampf gegen denselben 75.
Alkoholneuritis 69.
Alkoholparalyse 100.
Alkoholwahnsinn 93.
Alkoholwirkung, psychische 60.
Altersblödsinn 348.
Amentia 37.
Ammonshornveränderungen bei Epilepsie
480.
Amnesie der Epileptiker 471.
Amok 470.
Androgyne 566.
„ bei Dementia praecox 145.
Anfälle, epileptische 463.
„ hysterische 514.
„ paralytische 229.
Angstmelancholie 327.
Aortenatherom bei Paralyse 283.
Apoplektisches Irresein 311.
Are de cercle 515.
Arithmomanie 540.
Arteriosklerose bei Schreckneurose 523.
Arteriosklerotische Hirnentartung 308.
Astasie-Abasie 502.
Asthenopie, neurasthenische 47.
Atropindelirium 59.
Attitudes passioneiles bei Hysterie 515.
Aura der Epileptiker 464.
Aztekentypus bei Idiotie 595.
B.
Balkenmangel bei Idiotie 596.
Basedow’sche Krankheit mit Geistes-
störung 58. 125.
Beeinträchtigungswahn, praeseniler 342.
Befehlsautomatie bei Dementia praecox
145.
Berauschtheit während der Zeugung als
Ursache der Idiotie 593.
Berührungsfurcht 551.
Beschäftigungsdelirium der Alkoholdeli-
ranten 81.
Beschäftigungsdrang der Manischen 366.
Beschränktheit 573.
Besessenheitswabn 193.
Bewegungsdrang bei Dementia praecox
168.
Bewegungsstereotvpen der Katatoniker
168.
Bewusstsein, Spaltung dess. bei Hysterie
510.
Bielefeld, Epileptikeranstalt 491.
Blödsinn s. Dementia.
„ höherer 581.
Brandstiltungstrieb 557.
Bromopiumcur bei Epilepsie 491.
Register.
603
C.
Castration bei Hysterie 516.
Charakter, epileptischer 458.
„ hysterischer 494.
Chloroformdelirium 58.
Chorea bei Paralyse 239.
Chorea magna 509.
Choreatisches Irresein 58.
Classification s. Eintheilung.
Claustrophilie 542.
Claustrophobie 542.
Clownismus bei Hysterie 515.
Cocainismus 117.
Cocainwahnsinu 119.
Collapsdelirium 31.
Cretinismus, endemischer 131.
„ sporadischer 135.
Criminalanthropologie 585.
Criminalpsychologie 585.
Cyclothymie 416.
D.
Dämmerzustand, epileptischer 463.
„ hysterischer 504.
Decubitus s. Druckbrand.
Delinquente nato 585.
Delire chronique ä evolution systematique
199.
Delire du toucher 551.
Delirium acutum 36.
„ ängstliches, der Epileptiker 468.
* „ bei Infectionskrankheiten 15.
„ besonnenes der Epileptiker 471.
„ blandes 13.
„ febriles 12.
„ im üunkelzimmer 354.
„ mussitirendes 13.
„ periodisches 382.
„ seniles 353.
„ transitorium 486.
„ tremens 76.
„ „ der Morphinisten 112.
„ der Paralytiker 263.
„ „ febrile 85.
Dementia s. Schwachsinn.
„ acuta 30.
„ paralytica s. Paralyse, progres-
sive.
„ paranoides 182.
„ praecox 137.
„ senilis 348.
„ simplex 137.
Demenza primitiv 137.
Denkhemmung beim manisch-depressiven
Irresein 364.
Depressionszustände, periodische 407.
„ senile 353.
Dipsomanie 476.
Doppelbewusstsein bei Hysterie 506.
Doppeldenken 192.
Druckbrand bei Paralyse 241.
„ Behandlung desselben 304.
E.
Echolalie 145. 167.
Echopraxie 145. 167.
Effeminatio 566.
Eifersuchtswahn der Cocaiuisten 120.
„ „ Trinker 98.
,. ., Paralytiker 251.
„ praeseniler 342.
Eintheilung der Seelenstörungen 1.
„ ätiologische 3.
„ klinische 4.
,, pathologisch-anatomische 2.
„ symptomatische 3.
Eklampsie 484.
Embolien, Irresein bei denselben 311.
Encephalitis subcorticalis progressiva
chronica 309.
Entartungsirresein 529.
Entschlussuntähigkeit beim manisch-de-
pressiven Irresein 369.
Entwicklungshemmungen, psychische 572.
Entziehungscur bei Alkoholismus 74.
„ „ Cocainismus 123.
„ ,. Morphinismus 113.
Epilepsia senilis 479.
„ tarda 479.
Epilepsie, alkoholische 69.
„ bei Idiotie 592.
„ genuine 483.
„ psychische 463.
„ symptomatische 483.
Epileptisches Irresein 456.
Erregung, katatonische 163.
„ manische 366.
Erschöpfung, chronische nervöse 45.
Erschöpfungsirresein 30.
Erythrophobie 544.
Existenz minimm der Morphinisten 114.
j Fabuliren der Greise 332.
Faserschwund beim Altersblödsinn 356.
604
Register.
Faserschwund bei Delirium tremens 87.
„ ,, Paralyse 277.
„ „ Polyneuritis 29.
Fieberdelirien 12.
Folie du doute 550.
„ morale 583.
„ raisonnante 374.
Forza irresistibile 561.
Fragesucbt, krankhafte 540.
G.
Geburt, protrahirte, als Ursache der Idio-
tie 593.
Gefässerkrankungen bei Paralyse 280.
Gehirn s. Hirn.
Gehirnerschütterung, Irresein in Folge
von 314.
Gehirnerweichung s. Paralyse, progressive.
Geistesstörung s. Irresein.
Geschlechtstrieb, Perversitäten dess. 562.
Geschwülste des Hirns 310.
Gliaveränderungen hei Katatonie 181.
„ „ Paralyse 278.
Gliose der Hirnrinde 307.
„ perivasculäre 309.
Gothenburger System 75.
Greisenirresein 348.
Grössenwahn bei Paralyse 253.
., hei Verrücktheit 434.
Grübelsucht 541.
Gynandrier 566.
H.
Haematom der Dura hei Paralyse 273.
Haesitiren hei Paralyse 235.
Haschischdelirium 58.
Hebephrenie 149.
Hemmung, einfache beim manisch-de-
pressiven Irresein 386.
., psychomotorische beim
manisch-depressiven Irresein
369.
Hermaphrodisie, körperliche 566.
., psychische 565.
Heterotopien hei Idiotie 596.
Hirnabscesse, Irresein in Folge ders. 311.
Hirnatrophie der Greise 356.
Hirnblutung, Irresein in Folge ders. 311.
Hirnerkrankungen, Irresein hei dens. 307.
Hirngeschwülste, Irresein hei dens. 310.
Hirnsklerose, diffuse 308.
Höhenangst 542.
Homo sapiens ferus 600.
Homosexualität 562.
Hydrocephalus bei Idiotie 596.
Hyperostose des Schädels bei Paralyse
272.
Hyperpyrexie bei Fieberdelirien 13.
Hypnose bei conträrer Sexualempfindung
570.
Hypochondrie 49.
„ der Entarteten 545.
„ der Hysterischen 495.
Hypomanie 374.
Hysterie bei Alkoholisten 70.
,. bei Genitalleiden 509.
„ bei Kindern 509.
„ männliche 508.
„ traumatische 520.
Hysterisches Irresein 492.
I. J.
Ideenflucht hei Manie 363.
Idiotenanstalten 600.
Idiotie 587.
„ anergetische 590.
„ apathische 590.
„ erethische 590.
„ versatile 590.
Imbecillität 573.
„ anergetische 573.
„ erethische 573.
„ lebhafte 578.
„ moralische 583.
„ stumpfe 573.
Infectiöses Irresein 11.
Infectiöse Schwächezustände 19.
Infectionsdelirien 15.
Initialdelirium 15.
Intentionszittern bei Paralyse 239.
Intermittenspsychosen 15.
Intoleranz der Epileptiker gegen Alkohol
475.
Intoxikationen s. Vergiftungen.
Intoxikationsdelirium 57.
Iodothyrin bei Myxödem 130.
Irresein, circuläres 359. 402.
„ degeneratives 529.
„ epileptisches 456.
„ hysterisches 492.
„ impulsives 557.
„ inrectiöses 11.
„ manisch-depressives 359.
„ manisches 374.
„ menstruelles 418.
„ moralisches 588.
„ myxödematöses 125.
Register.
605
Irresein, periodisches 359. 401.
„ polyneuritisches 25.
,, postepileptisches 464.
„ praeepileptisches 464.
., thyreogenes 125.
„ transitorisches bei Neurasthenie
487.
Jugendirresein 201.
K.
Kachexia strumipriva 129.
Katalepsie bei Katatonie 167.
Kataraktoperationen, Irresein nach den-
selben 854.
Katatonie 159.
Klangassociationen bei Manie 368.
Kleiderangst 544.
Kleptomanie 558.
Knabenliebe der Alten 562.
Koma 13.
„ vigil 13.
Kopfverletzungen, Irresein nach 314.
Koprolalie 553.
Krampf, epileptischer 463.
„ hysterischer 505. 514.
Krisen beim Entartungsirresein 554.
Kropf hei Cretinen 132.
Kropfbrunnen 134.
L.
Leichenbefund bei Paralyse 272.
„ beim Altersblödsinn 356.
,. bei Idiotie 596.
Lethargie 13.
Logoklonie bei Paralyse 234.
Lues hereditaria tarda, Schwachsinn bei
ders. 308.
Lyssadelirium 15.
Masturbation, gemeinschaftliche bei con-
trärer Sexualempfindung 563.
Megalomanie der Paralytiker 253.
Melancholie 317.
„ active 327.
„ einfache 327.
„ periodische 407.
„ senile 323.
„ simplex 327.
Mikrocephalie der Idioten 594.
Mikrogyrie bei Idioten 596.
Mikromanie der Paralytiker 247.
M mderwerthigkeiten, psychopathische
Mischzustände im manisch-depressiven
Irresein 394.
Monomanie 561.
Moral insanity 583.
Mordtrieb 559.
Morphinismus 101.
Morphiococainismus 115.
Morphiumabstinenz 112.
Mutacismus der Katatoniker 163.
Mysophobie 547.
Myxödematöses Irresein 125.
N.
Nachtwandeln 466. 505.
Nathverknöcherung bei Idiotie 594.
Negativismus der Katatoniker 144.
Nervenheilanstalten 537.
Neurasthenie, angeborene 530.
„ erworbene 45.
Neuritis, alkoholische 69.
„ multiple, Irresein bei ders. 25.
„ bei Paralyse 283.
Neuroglia s. Glia.
Neurosen, allgemeine 455.
Neurose, traumatische 520.
„ „ locale 524.
Nyktophobie 542.
M.
0.
Mässigkeitsvereine 75.
Malaria s. Intermittens.
Mania 359.
„ mitis 374.
„ mitissima 374.
„ periodica 402.
„ simplex 359.
„ sine delirio 374.
Mania transitoria 486.
Manieren der Katatoniker 175.
Mastcur bei Hysterie 517.
Ohnmacht, epileptische 464.
Onomatomanie 539.
Opiumrausch 58.
Othämatom bei Paralyse 241.
Ovarie 502.
I Paederastie 563.
| Papierangst 548.
606
Register.
Paralyse, agitirte 2ßl.
„ alkoholische 100.
„ ascendirende 239.
,, circulare 260.
„ classische 253.
„ demente 264.
„ depressive 246.
„ expansive 252.
„ galoppirende 262.
,, hypochondrische 246.
„ jugendliche 285.
„ progressive 215.
„ weibliche 284.
Paranoia s. Verrücktheit.
„ completa 199.
„ periodische 402.
„ senile 354.
Petit mal 463.
Phantasiren 12.
Phobien der Entarteten 541.
Phosphoricterus, Delirium bei dems. 58.
Physiognomie, epileptische 474.
Platzangst 541.
Pockendelirium 15.
Polyneuritische Geistesstörung 25.
Porencepbalie bei Idiotie 596.
Praecordialangst 332.
Praeseniler Beeinträchtigungswahn 342.
Processkrämer 445.
Pseudoparalyse, alkoholische 101.
Psychose s. Irresein.
Q.
Quartalsäufer 478.
Quecksilberbehandlung bei Paralyse 303.
Querulanteuwahn 445.
R.
Randgliose bei Epilepsie 480.
Raptus melancholicus 327.
Rausch 60.
Rauschzustände, krankhafte 62. 475.
Rededrang der Manischen 368.
Reflexepilepsie 488.
Reflexkrampf, saltatorischer 240.
Remissionen bei Katatonie 179.
„ bei Paralyse 269.
Rente, Kampf um dieselbe bei Schreck- j
neurose 524.
Rippenbrüche bei Paralyse 241.
Rückbildungsirresein 317.
Rückenmarksveränderungen bei Paralyse
283.
s.
Sammelwuth, krankhafte 558.
Santonindelirium 58.
Scandiren der Paralytiker 235.
Scbilddrüsenerkrankung bei Kretinismus
135.
„ „ Myxödem 129.
Schlaf'anfälle bei Epilepsie 464.
„ „ Hysterie 505.
Schmiercur bei Paralyse 303.
Schmutzangst 547.
SchnauzkTampf der Katatoniker 166.
Schreckneurose 520.
Schriftstörungen bei manisch - depressi-
vem Irresein 371.
„ derAlkoholdeliranten84
„ der Paralytiker 236.
Schriftstücke bei Dementia praecox 155.
171.
Schulepidemie, hysterische 509.
Schwachsinn s. Dementia und Imbecillität-
„ angeborener 573.
„ bei organischen Himerkran.
kungen 307.
„ epileptischer 456.
„ hebephreniseher 156.
„ impulsiver 557.
„ katatonischer 175.
„ moralischer 583.
„ vorzeitiger 137.
Schwindelanfalle, epileptische 463.
„ paralytische 229.
Sehstörung der Paralytiker 227.
Senile Verwirrtheit 351.
Senium praecox 355.
Sexualempfindung, conträre 562.
Silbenstolpern der Paralytiker 235.
Sklerose, diffuse 308.
„ multiple 309.
Somnambulismus s. Nachtwandeln.
Spiegelschrift bei Idioten 592.
Spinnenzellen bei Paralyse 279.
,, Dementia praecox 155.
170.
Sprachstörung der Alkoholdeliranten 77.
„ ,, Idioten 592.
„ Paralytiker 2SS.
Sprachverwirrtheit 176.
Stehltrieb 558.
Stereotypen der Katatoniker 144. 168.
Stickstoffoxyduldelirium 59.
Stigmata, hysterische 502.
Stupor, epileptischer 467.
,. im manisch-depressiven Irresein
388.
Register.
607
Stupor katatonischer 163.
„ manischer 396.
„ paralytischer 250.
Syphilis bei Paralyse 286.
T.
Tabes bei Paralyse 239.
Tangentialfasern, Schwund ders. bei Pa-
ralyse 277.
Tangentialfasern, Schwund ders. bei Po-
lyneuritis 29.
Telepathie 191.
Tetanie, Irresein bei 58.
Thyreogenes Irresein 125.
Thyreoidin bei Myxödem 130.
„ ., Cretinismus 136.
Tobsutht 879.
Transformation des Wahns 198.
Tremor, alkoholischer 69. 84.
., seniler 350.
Tribasilarsynostose bei Idiotie 595.
Triebhandlungen der Katatoniker 168.
Trinkerasyle 73.
Typhusdelirium 15.
u.
Umständlichkeit der Epileptiker 457.
Unfallspsychosen 520.
Uraemisches Delirium 58.
Urning 567.
V.
Yarioladelirium 15.
Veränderung, acute der Rindenzellen 274.
„ schwere der „ 274.
Verbigeration der Katatoniker 171.
Verblödungsprocesse 137.
Verbrecher, geborener 584.
Verfolgungswahn bei Melancholie 321.
„ „ Paralyse 248.
„ „ Verrücktheit 432.
„ physikalischer 191.
,, seniler 354.
„ praeseniler 342.
Vergiftungen, Irresein bei dens. 57.
,. acute 57.
„ chronische 59.
Verrücktheit 426.
„ acute 427.
„ confabulirende 444.
, erotische 435.
Verrücktheit originäre 443.
„ phantastische 188.
„ primäre 426.
„ secundäre 426.
Verstimmung, constitutioneile 530.
Verstimmungen der Epileptiker 460.
Versündigungswahn der Melancholiker
318.
Verwirrtheit, acute 37.
„ asthenische 39.
„ hallucinatorische 39.
,, ideenflüchtige 364.
,, senile 351.
Vesania typica circularis 416.
Viraginität 566.
W.
Wahn, nihilistischer der Greise 324.
Wahnsinn, depressiver 323.
n hallucinatorischer der Trinker
93.
„ hallucinatorischer der Cocai-
nisten 119.
Waschmanie 552.
Willenssperrung bei Dementia praecox
144.
Windungsanomalien bei Idiotie 696.
Windungsarmuth bei Idiotie 596.
Wöchnerinnen, hallucinatorisches Irresein
ders. 38.
z.
Zangengeburten als Ursache der Idiotie
594.
Zellerkrankungen bei Paralyse 274.
Zellschwund 275.
Zellsklerose 275.
Zornmüthigkeit, krankhatte 535.
Zustände, psychopathische 529.
Zwangsantriebe 557.
Zwangsdenken 539.
Zwangshandlungen 557.
Zwangsirresein 538.
Zwangsvorstellungen 638.
., beim manisch-de-
pressiven Irresein
387.
Zweifelsucht 550.
Zwitter, körperliche 566.
„ psychische 565.
LIBRARY
Drude von C. Grnmbach in Leipzig.
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